Gesamtes Protokol
Einen herzlichen
guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-
zung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich der Kollegin Brigitte Lange,
die am 6. November ihren 60. Geburtstag feierte, die be-
sten Glückwünsche des Hauses aussprechen.
In der letzten Woche habe ich mitgeteilt, daß für den
ausgeschiedenen Kollegen Peter Jacoby der Abgeord-
nete Albrecht Feibel die Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag erworben hat. Heute darf ich den Kollegen
hier herzlich begrüßen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih-
nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD: Medienberichte über Zuwendungen im
Zusammenhang mit Rüstungsexporten im
Jahr 1991
2. Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Beratung des
Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt,
Monika Griefahn, Heinz Schmitt , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Angelika Beer, Matthias Ber-
ninger, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Förderung der Friedens- und Konfliktfor-
schung – Drucksache 14/1963 –
3. Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zweite unddritte Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses – Drucksache 14/2038 –Berichterstattung:Abgeordnete Alfred HartenbachSusanne TiemannRainer Funke 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derF.D.P.: Pläne der Bundesregierung zur Erhö-hung der Erbschaftsteuer 5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undF.D.P.OSZE-Gipfel in Istanbul – für eine Stär-kung der Handlungsfähigkeit der OSZE– zu dem Antrag der Fraktion der PDS Neueeuropäische Sicherheitsarchitektur– Drucksachen 14/1959, 14/1771, 14/2063 –Berichterstattung:Abgeordnete Gert Weisskirchen
Andreas SchockenhoffRita GrießhaberWalter HircheWolfgang Gehrcke 6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-nung zu dem Antrag der Abge-ordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. KlausGrehn, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Kindergelderhöhungauch für Kinder im Sozialhilfebezug – Druck-sachen 14/1308, 14/2033 –Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte LangeVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll,soweit erforderlich, abgewichen werden.
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Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs-punkt 9, Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, undden für Freitag vorgesehenen Tagesordnungspunkt 13,Strafverfahrensänderungsgesetz 1999, abzusetzen. SindSie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich hö-re keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 eauf: a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-deskanzlers zum Stand der deutschen Einheit b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahresbericht 1999 der Bundesregierung zumStand der deutschen Einheit– Drucksache 14/1825 –
chael Luther, Dr.-Ing. Paul Krüger, Günter Noo-ke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUWeiterführung des Jahresberichtes der Bun-desregierung zum Stand der deutschen Einheit– Drucksache 14/1715 –
richts des Ausschusses für die Angelegenheitender neuen Länder
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie wirtschaftliche Stärkung der neuenLänder – Voraussetzung für die Gestaltungder deutschen Einheit– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MichaelLuther, Dr. Angela Merkel, Gerda Hassel-feldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUAufbau Ost endlich wieder richtig machen– zu dem Antrag der Abgeordneten JürgenTürk, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derF.D.P.Aufbau Ost muß weitergehen– zu dem Antrag der Fraktion der PDSFahrplan zur Angleichung der Lebensver-hältnisse und zur Herstellung von mehrRechtssicherheit in Ostdeutschland –„Chefsache Ost“– Drucksachen, 14/1210, 14/1277, 14/1542, 14/1551, 14/2032 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias SchubertDr. Michael LutherWerner Schulz
Jürgen TürkGerhard Jüttemann e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- undWohnungswesen
– zu dem Antrag der Abgeordneten NorbertOtto , Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSURealisierung des Verkehrsprojektes „Deut-sche Einheit“ Nr. 8 Schienenneu-baustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leip-zig–Berlin– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaPieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, HorstFriedrich, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ müs-sen zügig realisiert werden– Drucksachen 14/1208, 14/1543, 14/2047 –Berichterstattung:Abgeordnete Eduard OswaldHeide MattischeckEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derF.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache dreieinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Verehrter HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DerEntschlossenheit und den mutigen Initiativen der ost-deutschen Bürgerbewegungen, die von Hunderttausen-den in Leipzig, Berlin und anderen Städten der damali-gen DDR aufgenommen wurden, haben wir es zu ver-danken, daß wir heute hier, wenige Meter von einernicht mehr sichtbaren Sektorengrenze entfernt, in einemgesamtdeutschen Parlament über den Stand der deut-schen Einheit debattieren können.Durch die gewaltlose Revolution des Jahres 1989 istDeutschland ein souveräner und gleichberechtigter Part-ner in einem zusammenwachsenden Europa geworden.Präsident Wolfgang Thierse
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Zugleich sind die Erwartungen an das vereinteDeutschland gestiegen, Verantwortung in Europa unddarüber hinaus in der Welt zu übernehmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 10. No-vember 1989, einen Tag nach der Öffnung der Mauer,begann Willy Brandt seine Rede vor dem SchönebergerRathaus mit den Sätzen – ich zitiere sie – :Dies ist ein schöner Tag nach einem langen Weg,aber wir befinden uns erst an einer Zwischenstati-on. Wir sind noch nicht am Ende des Weges ange-langt, es liegt noch eine ganze Menge vor uns.Inzwischen liegen zehn Jahre seit den bewegendenEreignissen des Revolutionsherbstes hinter uns, und dieheutige Debatte zum Stand der deutschen Einheit gibtmir die Möglichkeit einer Zwischenbilanz des gemein-samen Weges.Die erste und wichtigste Erkenntnis meiner Be-standsaufnahme lautet: Wir haben unbestreitbar großeErfolge beim Aufbau Ost erzielt. Diese Erfolge sindebenso unbestreitbar zuallererst das Resultat der Lei-stungen der Ostdeutschen selbst.[Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)Zweifellos waren und – ich füge hinzu – bleiben dieSolidarität der Westländer und die Leistungen des Bun-des weiter wichtig. Sie waren und sie sind oftmals Initi-alzündung und Katalysator; aber vollbracht wurde dasbisher Geleistete vor allen Dingen von den Menschen inOstdeutschland.Die Voraussetzungen der bisherigen Erfolge sollenhier benannt werden:Zum einen ist es ostdeutscher und westdeutscherUnternehmergeist. Heute existieren in Ostdeutschlandmehr als 500 000 mittelständische Unternehmen; einDrittel arbeitet bereits profitabel, ein weiteres Drittel istauf dem Weg dorthin. Das Bruttoinlandsprodukt proErwerbstätigem ist zwischen 1991 und 1998 von 31Prozent auf 60 Prozent des westdeutschen Vergleichsni-veaus gewachsen. Die Bruttowertschöpfung im verar-beitenden Gewerbe hat sich im gleichen Zeitraum mehrals verdoppelt. Das sind Steigerungsraten von jährlich10 Prozent.Auch die Investitionsquote ist in Ostdeutschland nochimmer höher als in Westdeutschland. Dies wäre nichtmöglich gewesen ohne die Flexibilität, ohne die Mobi-lität und vor allen Dingen ohne die Qualifikation und dieLeistungskraft der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer.
Nur eine Zahl zur Illustration: Etwa 30 Prozent aller ost-deutschen Beschäftigten arbeiten heute in einem anderenals in ihrem erlernten Beruf. Die große Offenheit gegen-über neuen Technologien hat vielen ostdeutschen Unter-nehmen Startvorteile verschafft. Die neuen Länder ver-fügen heute über das modernste KommunikationsnetzEuropas. In einigen Zukunftstechnologien wie der Bio-technik, der Informatik und der Halbleiterforschungnehmen ostdeutsche Unternehmen Spitzenplätze ein. In-novative Formen des Technologietransfers – etwa zwi-schen Fachhochschulen und kleinen und mittleren Un-ternehmen – sind beispielhaft für ganz Deutschland ge-worden.Zugleich ist in vielen Bereichen die erfolgreiche An-knüpfung an gute Traditionen gelungen: Die Qualitäts-uhren der Ruhlaer Glashütte, die maritime Wirtschaftetwa um die Kvaerner Werft am alten WerftenstandortWarnemünde, wo inzwischen wieder 1 300 Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind, oder Jenoptikstehen beispielhaft hierfür.Vor allem aber: Die Leistungsfähigkeit und die Lei-stungsbereitschaft der Menschen sind der Anreiz für In-vestitionen in den neuen Ländern. Die Qualifikation derAutobauer in Eisenach etwa hat es ermöglicht, daß dortEuropas modernstes und zugleich eines der effiziente-sten Autowerke von General Motors mit heute wiedermehr als 4 000 Mitarbeitern produziert.Noch eindrucksvoller zeigt sich ostdeutsche Lei-stungskraft in mittelständischen Unternehmen mit oftlanger Tradition. Mit großem persönlichen Engagementder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch derFirmenleitungen, mit hoher Innovationsbereitschaft undeinem guten Produkt konnten sich viele am Marktdurchsetzen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den De-batten über den Stand der deutschen Einheit haben sichRegierung und Opposition immer wieder gegenseitigvorgeworfen, sie hätten in den Jahren 1989 und 1990gezaudert, sich geirrt oder falsche ökonomische Ent-scheidungen getroffen. Ich will diese Debatte hier nichtnoch einmal eröffnen. Wir können es uns nicht leisten,uns in Rechthaberei oder Selbstgerechtigkeit zu ergehen.
Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, die Problemebeim Aufbau Ost zu lösen und endlich die Angleichungder Lebensverhältnisse in Ost und West voranzubringen.
Die Aufbausituation seit der Vereinigung stand untereinem ganz anderen Vorzeichen als die Zeit des Wirt-schaftswunders in den 50er Jahren oder auch die Ein-gliederung des Saarlandes in den Jahren nach 1957. Esgab keine wirtschaftliche Sonderzone Ostdeutschlandund kaum Übergangsregelungen oder Schutzklauseln fürostdeutsche Unternehmen. Unternehmer und Arbeit-nehmer mußten sich über Nacht auf eine neue Wirt-schaftsordnung einstellen. Die Märkte für ostdeutscheProdukte in Ost- und Mitteleuropa sind vielfach wegge-brochen. An den westeuropäischen Märkten waren dieUnternehmen unvermittelt einer starken westlichenKonkurrenz ausgesetzt.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Die zweite Feststellung zur Zwischenbilanz lautetdeshalb: Die Revolution von 1989 brachte zwar allendemokratische Freiheiten und in der Folge vielen auchmateriellen Wohlstand. Aber der Übergang von der so-zialistischen Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft verliefnicht bruch- und auch nicht reibungslos. Für viele Men-schen war er mit herben Einbußen und tiefen Einschnit-ten verbunden. Das betrifft vor allen Dingen den Ar-beitsmarkt. Millionen von Arbeitsplätzen gingen verlo-ren. Sie konnten durch die hohe Zahl der neugeschaffe-nen Arbeitsplätze bei weitem noch nicht ausgeglichenwerden. Die Folge: Die Arbeitslosenquote in Ost-deutschland ist auch heute noch immer etwa doppelt sohoch wie die in Westdeutschland. 44 Prozent der in Ost-deutschland im Jahr 1990 Beschäftigten sind heute ent-weder in Rente oder arbeitslos.Viele Betriebe sind dem Strukturwandel zum Opfergefallen. Heute ist sich die Mehrheit der Fachleute inPolitik und Wirtschaft über Parteigrenzen hinweg einig:Man hat in den ersten Jahren nach 1990 – so hat esKlaus von Dohnanyi jüngst formuliert – „die Weisheitdes Marktes überschätzt“. Statt unbeirrt an der reinenLehre des freien Marktes festzuhalten, wäre es erforder-lich gewesen, die Bildung ostdeutschen Eigentums imProduktionsbereich zu vereinfachen und ostdeutschenAnbietern zumindest zeitweise lokale Standortvorteilezu gewähren.
Selbst der BDI forderte 1993 – zu Recht, aber vergeb-lich – eine steuerliche Wertschöpfungspräferenz für dasverarbeitende Gewerbe. Natürlich war es die SED-Herrschaft – dies gilt es festzuhalten –, die für den de-solaten Zustand des Wirtschaftsraumes OstdeutschlandEnde der 80er Jahre verantwortlich gewesen ist. Darinund nirgendwo anders liegen die wesentlichen Ursachenfür die ökonomischen Folgen der Vereinigung.
Ebenso unbestreitbar ist aber, daß nach zehn Jahrenin Ostdeutschland das Gefühl der Entfremdung und derEnttäuschung noch immer sehr deutlich zu spüren ist.Diese Empfindungen werden auch von Menschen ge-teilt, die vom Schicksal der Arbeitslosigkeit verschontwurden und ihren privaten und beruflichen Weg unterneuen Verhältnissen erfolgreich gegangen sind. Dafürlassen sich objektive wie subjektive Ursachen ausma-chen, die allesamt zu tun haben mit 40 Jahren getrennter,aber auch mit zehn Jahren gemeinsamer, aber unter-schiedlich erlebter Geschichte.Zu den objektiven Ursachen gehören die einschnei-denden und alle Lebensbereiche umfassenden Verände-rungen im persönlichen Umfeld. Die Veränderungslei-stung, die den Ostdeutschen nach der Vereinigung ab-verlangt wurde, war ohne Frage ungleich größer als dieihrer westdeutschen Landsleute. Mit der Industrie- undGewerbestruktur ging häufig die soziale und auch diekulturelle Infrastruktur verloren. Aber vor allem wurdemit dem Verlust der Arbeit für viele der wichtigste so-ziale Bezugsrahmen zerstört. Mit den sozialen Struktu-ren und den gesellschaftlichen Bindungen ging wieder-um ein Teil des Identitätsgefühls verloren.Viel schwerer wiegen darum die subjektiven Ursa-chen: Viele Ostdeutsche schmerzt das als zu geringempfundene Interesse der Westdeutschen an ihrer Ge-schichte und auch an ihrer Heimat. Sicher ist: MehrNeugier auf Ostdeutschland, seine Geschichte und seineMenschen würde das Verständnis zwischen Ost undWest fördern.
Auch manches undifferenzierte Urteil über die Ge-sellschaft der DDR und damit über die Lebensleistungder Menschen dort wird zu Recht als unfair, gelegentlichauch als anmaßend empfunden.
In Ostdeutschland mußten die Menschen ihr Leben unterungleich schwierigeren Bedingungen meistern. Sie ha-ben deshalb Anspruch auf Respekt vor dieser Lebenslei-stung wie jeder andere.
Noch mehr muß der oft zu vernehmende Vorwurfkränken, die meisten Ostdeutschen seien Mittäter oderMitläufer einer Diktatur gewesen. Auch hier rate ich zuVorsicht und zu Demut: In guter rechtsstaatlicher Tradi-tion erlaubt erst die Feststellung persönlicher Schuld inKenntnis der besonderen Umstände ein faires Urteil. Je-des pauschale Verdikt ist von vornherein unangebracht.
Nur die gerichtliche Aufarbeitung individuellen Un-rechts und die politisch-historische Aufarbeitung derGeschichte beider deutscher Staaten als gemeinsameNachkriegsgeschichte ermöglichen Rechtsfrieden undgesellschaftliche Versöhnung.
Unter diese Aufarbeitung darf allerdings kein wie immergearteter Schlußstrich gezogen werden.Eines sollten wir nicht vergessen: Meine Generationhat die Demokratie von den Westmächten gleichsam alsGeschenk bekommen; die Menschen in der DDR habensich ihre demokratischen Freiheitsrechte in einerfriedlichen Revolution erkämpft.
Die Demokratie im Osten war gerade kein Westimport,sondern das Verdienst der erfolgreichen gewaltlosenRevolution.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, viel ist ge-rade in den letzten Monaten vom angeblichen Auseinan-derdriften der Ost- und der Westdeutschen geredet undin den Medien national wie international verbreitet wor-den. Dazu stelle ich zunächst einmal fest, daß es so et-was wie einen einheitlichen deutschen Nationalcharakterglücklicherweise immer nur als Klischee in der Karika-tur gegeben hat. Deutschland war immer von verschie-denen Kulturen geprägt und hat seinen Reiz gerade inden regionalen Besonderheiten. Gleichwohl sind sichOst- und Westdeutsche in vielen Bereichen bereits vielnäher gekommen, als man es gelegentlich hören und le-sen kann.
Dennoch bleiben Unterschiede. Das kann nach 40Jahren der Teilung und nach zehn Jahren sehr unter-schiedlich erlebter Einheit nicht überraschen. Darinspiegeln sich die Realitätsunterschiede in Ost- und inWestdeutschland, und darin spiegeln sich auch die ganzverschiedenen gesellschaftlichen Erfahrungen, die dieMenschen in unterschiedlichen politisch-sozialen Zu-sammenhängen gemacht haben, wider. Für die weitereschrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse benö-tigen wir dringend diese unterschiedlichen Erfahrungenaus Ost- und Westdeutschland; denn die Vielfalt der An-schauungen ist für eine offene, wirklich plurale Gesell-schaft unverzichtbar.Vielfalt erfordert Toleranz und verdient Toleranz.Auf eines allerdings will und muß ich hinweisen: Frem-denhaß und fremdenfeindliche Gewalt verdienen dieseToleranz nicht. Gegenüber Intoleranz gibt es keine Tole-ranz.
Meine Damen und Herren, Einheit heißt nicht Ein-heitlichkeit. Einheit heißt Gleichwertigkeit unterschied-licher Lösungen und Wege, heißt auch Wettbewerb,heißt aber vor allen Dingen Chancengleichheit. Hierinliegt der Grund, daß die Bundesregierung im Oktober1998 mit einem klaren Ziel angetreten ist. Dieses Zielheißt Innovation und Gerechtigkeit.Nur eine Politik der gerechten Modernisierung wirdden von vielen Ostdeutschen noch immer empfundenenWiderspruch – einerseits Freude über demokratischeFreiheiten und individuelle Selbstbestimmung, anderer-seits die Erfahrung von Ungerechtigkeit, existentiellenVerlusten und gelegentlich auch dem Gefühl sozialerKälte – überwinden können. Mit dem Jahresbericht zurdeutschen Einheit haben wir eine ehrliche Bilanz derbisherigen Aufbauleistung vorgelegt. Diese Bilanz über-höht nichts, und sie beschönigt nicht die noch vor unsliegende Wegstrecke.Jede Bundesregierung hätte unverantwortlich gehan-delt, wenn sie auf Kosten der Zukunft dieses Landes diePolitik der Schuldenexplosion, der Stagnation und desReformstaus fortgesetzt hätte.
Wer die einzelnen Entscheidungen unter den Ge-sichtspunkten betrachtet, ob sie gerecht waren und obdie Interessen des Ostens berücksichtigt wurden, derwird zugeben müssen: Gerade die Entscheidungen desersten Jahres unserer Regierungszeit haben das Verspre-chen, Gerechtigkeit zu schaffen, eingelöst.Ich nenne drei Beispiele: Der bis 1996 geltendeKündigungsschutz wurde wiederhergestellt. Alle Ar-beitnehmer erhalten im Krankheitsfall wieder 100 Pro-zent ihres Arbeitsentgelts.
– Darüber würde ich übrigens nicht lachen. Auch Siebekommen diese 100 Prozent. Warum wollen Sie es Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorenthalten?
Exakt das was Sie hier aufführen, ist es, was als un-erträgliche Arroganz den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern gegenüber empfunden wird.
Um Lohn- und Sozialdumping dauerhaft zu bekämp-fen, wurde die Befristung des Arbeitnehmer-Entsende-gesetzes aufgehoben.Ein wesentlicher Schwerpunkt lag in diesem erstenJahr beim Aufbau Ost. An dieser Stelle will ich nur zweisehr bedeutende Beispiele ins Gedächtnis rufen: Mehrals 40 Prozent der mehr als 180 000 Ausbildungs-, Qua-lifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Rah-men des Sofortprogramms zum Abbau der Jugendar-beitslosigkeit entfielen auf die neuen Länder.
Besonders erfreulich ist der überdurchschnittlicheRückgang der Arbeitslosigkeit bei jungen Menschenunter 25 Jahren.
Im Oktober sank die Zahl arbeitsloser Jugendlicher nocheinmal um rund 50 000.Auch in den ostdeutschen Ländern nahm die Jugend-arbeitslosigkeit spürbar ab. Insgesamt ist die Arbeitslo-senquote bei Jugendlichen in Deutschland von 10,8 Pro-zent im September auf 9,7 Prozent im Oktober zurück-gegangen. Ich halte das für einen wirklich großen Er-folg.
Wenn wir es schaffen, den Jugendlichen im Westen,aber eben auch vor allen Dingen im Osten eine Perspek-tive in Ausbildung und Arbeit zu geben, dann werdenBundeskanzler Gerhard Schröder
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wir es auch schaffen, sie von Rechtsradikalismus undGewalt fernzuhalten.
Auch mit dem Entwurf zur Novelle des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes löst die Regierung ihreZusage ein, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Die Ver-besserung der Entschädigung und Rehabilitierung vonOpfern des SED-Unrechts ist von uns auf den Weg ge-bracht worden.
Auf Dauer Vertrauen gewinnen – dies lehrt die Erfah-rung – wird nicht der, der nur den einfachen Weg geht.
Wer die Vielzahl von Verbands- und Klientelinteressen,mit denen wir jetzt konfrontiert werden, erlebt, wer ih-nen weit entgegenkommt, der wird sehen, daß alle Re-formprojekte versanden.
Innovation und Gerechtigkeit, das sind die Ziele, diein drei Dimensionen wirken müssen, um auf Dauer er-folgreich zu sein: Zum ersten in der Breite der Gesell-schaft. Das heißt, wir müssen gerade angesichts derHerausforderung der Globalisierung für Bedingungensorgen, unter denen jeder Mensch eine Chance hat, seineFähigkeiten zu entwickeln und sein Leben eigenverant-wortlich zu gestalten.Dazu gehört vor allem eine Ausbildungschance fürjeden Jugendlichen, für jeden, der sie wahrnehmen kannund wahrnehmen will. Bei dieser gesamtgesellschaftli-chen Aufgabe hat uns der Ausbildungskonsens, den wirmit den Tarifpartnern im „Bündnis für Arbeit“ geschlos-sen haben, einen wesentlichen Schritt vorangebracht.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Sonderprogrammselber einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet. Trotzaller finanziellen Enge wird dieses Programm im Jahr2000 fortgesetzt werden.
Innovation und Gerechtigkeit müssen auch in derTiefe der Zeit wirken. Das heißt: Wir müssen die so-zialen Sicherungssysteme, also Alters- und Gesund-heitsvorsorge, so gestalten, daß die gerechtfertigtenAnsprüche und die notwendigen Bedürfnisse der heu-tigen Leistungsempfänger gesichert sind, ohne daß diesallein zu Lasten der nachwachsenden Generationen ge-hen darf, für deren Sicherheit wir ebenso Verantwortungtragen.
Aus dem gleichen Grund müssen wir die finanzielleBewegungsfreiheit des Staates zurückgewinnen und diegroßen Hypotheken abbauen, die in den letzten Jahrenauf Kosten der nächsten Generation aufgehäuft wurden.
Will der Staat den Anspruch nicht aufgeben, sowohl derGarant für Chancengerechtigkeit als auch für sozialenSchutz der Schwachen zu sein, dann muß er sich auchund gerade als Anwalt der zukünftigen Generation ver-stehen.Schließlich müssen diese Ziele in die Fläche des Lan-des wirken. Das heißt, wir werden die innere Einheit indem Maße vollenden, wie sich West- und Ostdeutschemit ihren Stärken, Schwächen und Eigenheiten gegen-seitig respektvoll annehmen. Wir werden in dem Maßeerfolgreich sein, wie wir mit dem gemeinsamen ProjektAufbau Ost in den neuen Ländern selbständige europäi-sche Regionen schaffen, die sich aus eigener Kraft be-haupten können. Wir halten deshalb an der Gleichwer-tigkeit der Lebensverhältnisse als einem vorrangigenZiel dieser Regierung fest.Es gibt zum ausgehenden Jahrhundert kaum einwichtigeres, lohnenderes und erfolgversprechenderesProjekt als die Herstellung der inneren Einheit.
Dieses gemeinsame Ziel ist nicht allein eine solidarischeVerpflichtung des ganzen Landes. Nein, von seinem Er-folg hängt auch ab, wie gut Deutschland seiner Ver-pflichtung als Motor der europäischen Einigung nach-kommen kann und wie gut Deutschland im globalenWettbewerb bestehen wird.Der Erfolg wird auf vier Säulen ruhen, zum ersten aufdem Solidarpakt. Er ist das finanzpolitische Rückgratfür die Finanzausstattung der neuen Länder. Er hebt diegemeinsame Verantwortung des Bundes und der Länderfür den Aufbau Ost hervor. Er stärkt den Föderalismusals wichtiges strukturelles Element.
Deshalb wird sich die Bundesregierung für eine Nach-folgeregelung ab 2005 einsetzen. Mit zunehmender Dif-ferenzierung der wirtschaftlichen Entwicklung müssendie ostdeutschen Länder noch stärker in die Lage ver-setzt werden, eine regionalisierte Wirtschafts- undStrukturpolitik zu betreiben.
Die zweite Säule ist das Zukunftsprogramm der Bun-desregierung. Es schafft die finanzpolitische Vorausset-zung dafür, daß der Aufbau Ost auf hohem Niveau fort-geführt werden kann. Durch die Reformen der Sozialsy-steme und das Steuerentlastungsgesetz werden die Rah-menbedingungen für Wirtschaftswachstum und fürWettbewerbsfähigkeit in ganz Deutschland verbessert.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Im übrigen: Die hohe Schuldenlast, die uns zwingt,fast jede vierte Mark des Bundeshaushaltes für Zinsenund Tilgung auszugeben, ist nicht nur eine Umvertei-lung von Ost nach West, sondern auch eine von untennach oben. Sie ist zugleich eine Umverteilung zu Lastender nachwachsenden Generation.Die dritte Säule ist schließlich die Verankerung derBundesrepublik in Europa und die aktive Gestaltung deseuropäischen Einigungsprozesses. Dabei sind die Be-schlüsse der Agenda 2000 von elementarer Wichtigkeitauch und gerade für die neuen Länder. Sie bleiben biszum Jahr 2006 Ziel-1-Fördergebiet. Für den Ostteil Ber-lins besteht eine angemessene Übergangsregelung.Ohne Michail Gorbatschows Reformpolitik, ohne dieFrauen und Männer der Solidarnosc und ohne die Weit-sicht der tschechischen und der ungarischen Regierungim Umgang mit den Botschaftsflüchtlingen bis hin zurGrenzöffnung hätte es im Jahre 1990 keine deutscheEinheit gegeben.
Dies gilt übrigens auch für die Solidarität der westlichenAlliierten.Nur mit einer Europapolitik, die den mittel- und osteu-ropäischen Staaten eine verläßliche Perspektive für denBeitritt zur Europäischen Union sichert, kann der Baudes europäischen Hauses vollendet werden. Deutschlandwird diesen Prozeß als ein Anwalt der mittel- und osteu-ropäischen Interessen begleiten und befördern – ausDankbarkeit, aus Solidarität, aber, meine Damen undHerren, auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse.
Schließlich bietet eine vierte und zugleich die wich-tigste Säule die Gewähr für den Erfolg des gemeinsamenProjektes der deutschen Einheit. Diese wird durch die„typisch ostdeutschen“ Fähigkeiten, die die Menschen inden neuen Ländern auch in den letzten zehn Jahren unterBeweis gestellt haben, repräsentiert: Tatkraft, Kreativi-tät, Veränderungsbereitschaft sowie Anpassungs- undKooperationsfähigkeit.Ausgangspunkt unseres Konzeptes für den AufbauOst ist die Erfahrung, daß sich Entwicklungserfolge dorteingestellt haben, wo aus der Region heraus eine spezifi-sche Profilbildung gelungen ist. Gelungen ist dies insbe-sondere dort, wo die Grundsätze von Kommunikationund Kooperation beherzigt wurden: Netzwerksbezie-hungen zwischen Unternehmen mit dem Ziel der sinn-vollen Ergänzung von Produktionen und Dienstleistun-gen; Vereinbarungen der Wirtschaft mit Berufsschulenund Hochschulen über Ausbildungskooperationen undTechnologietransfer; Verabredungen mit der öffentli-chen Verwaltung über den zielgenauen Ausbau der In-frastruktur, über anforderungsgerechte und zeitnaheUmschulung des erforderlichen Personals sowie dierichtige Fort- und Weiterbildung der vorhandenen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter. Viele Regionen in Ost-deutschland haben sich auf diese Weise bereits zu Kom-petenzzentren entwickelt. Andere Regionen benötigennoch Unterstützung, aber Potentiale sind in allen Regio-nen Ostdeutschlands vorhanden.Wir haben vier Zukunftsfelder definiert, auf die wiruns besonders konzentrieren wollen:Erstens: Investitionen in die regionalen Stärken. Dazuführt die Bundesregierung ständig intensive Gesprächemit den Ländern auf allen Ebenen, unter anderem imRahmen gemeinsamer Kabinettsausschußsitzungen. Umvorhandene regionale Kompetenzen freizulegen, habenwir neue Förderprogramme aufgelegt, zum Beispiel dasForschungsförderungsprogramm Inno-Regio. In Zu-sammenarbeit von Unternehmen, Forschungseinrichtun-gen und Wirtschaftsförderungsgesellschaften werden inden nächsten Jahren 25 konkrete regionale Entwick-lungsvorhaben angestoßen, für die der Bund500 Millionen DM bereitstellt.Zweitens: Investitionen in Ausbildung und beruflicheKompetenz und eine Offensive gegen den Mangel anFachkräften im Bereich der Informationstechnologien.Das erfolgreiche Sofortprogramm zum Abbau der Ju-gendarbeitslosigkeit wird – ich sagte es bereits – im Jahr2000 fortgeführt.Drittens: Investitionen in unternehmerische Eigenin-itiative, zum Beispiel durch ein neues Startgeldpro-gramm der Deutschen Ausgleichsbank für kleine Exi-stenzgründungen – damit wird die Kreditbeschaffung fürviele Existenzgründer konkret erleichtert – oder durcheine verbesserte Eigenkapitalausstattung für innovativeUnternehmen im Rahmen des ERP-Investitionspro-gramms.Viertens: Investitionen in die Infrastruktur. Wir habenein zusätzliches Verstärkungsprogramm „Verkehrsinfra-struktur in den neuen Bundesländern“ mit einem Um-fang von 3 Milliarden DM aufgelegt. Damit können zumBeispiel notwendige Autobahnanschlüsse finanziertwerden. Die weitere Verbesserung des Wohnumfeldesunterstützen wir durch das neue Programm „Die sozialeStadt“. Schließlich wird durch das „AufbauprogrammKultur“ die Kulturförderung für die neuen Länder ver-doppelt, sie beträgt allein im Jahre 1999 267 MillionenDM. Dadurch werden die Länder und Kommunen beider Modernisierung ihrer Kultureinrichtungen unter-stützt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dergroßen Mehrheit aller Deutschen sind wir stolz darauf,daß 1989 vom deutschen Boden eine friedliche Revolu-tion ausgegangen ist, eine Revolution, die dieses Landvereint hat.
Gemeinsam müssen die Deutschen nun den Anforde-rungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden und zu-gleich den Prozeß der friedlichen Vereinigung unseresLandes vollenden, den die Männer und Frauen in Ost-deutschland vor zehn Jahren auf den Weg gebracht ha-ben. Die bisherigen Leistungen beim Aufbau Ost lassendie Erwartung zu, daß entscheidende Anstöße für dieBundeskanzler Gerhard Schröder
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6110 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Bewältigung dieser Herausforderungen auch in Zukunftaus Ostdeutschland selbst kommen werden. Die Einheitunseres Landes ist eben noch nicht vollendet. Die weite-re schrittweise Angleichung der Lebensverhältnissebleibt für die nächsten Jahre eine dringliche Aufgabe.Daran mitzuwirken, sind alle aufgerufen, in Ost undWest.
Wir wollen deshalb bisher Trennendes überwinden.Wir wollen nicht mehr nach der Herkunft, nicht nachOst und West unterscheiden, sondern im Engagementfür unsere gemeinsame Zukunft eine Chance für unserLand und eine Chance für Europa erkennen. DieseChance, meine Damen und Herren, wollen und werdenwir nutzen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat der Kollege Arnold Vaatz das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Rede des Bundeskanzlers ent-hielt nicht allzuviel Neues.
Aber, Herr Bundeskanzler, Sie haben sich immerhin be-deutend verbessert, wenn man sich daran erinnert, daßSie noch im Jahre 1996 zitiert wurden mit den Worten:Wir können die ja schließlich nicht an Polen abtreten.Und weiter: Man wünscht den Südkoreanern eine Wie-dervereinigung mit dem Norden, damit sie auf denWeltmärkten etwas schwächer werden.Meine Damen und Herren, es gibt einen grundlegen-den Unterschied zwischen Ihrer und unserer Auffassung.Dieser besteht darin, daß wir meinen, daß Deutschlanddurch die Wiedervereinigung nicht schwächer, sondernstärker wird, und zwar in jeder Hinsicht.
Meine Damen und Herren, wir reden heute über denJahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand derEinheit. Von einem solchen Jahresbericht erwartet manetwas Besonderes. Er ist nahezu ein rhetorisches Feuer-werk – im Gegensatz zu Ihrem Vortrag, Herr Bundes-kanzler.
In diesem Jahr hatten wir ein rundes Jubiläum, denzehnten Jahrestag des Mauerfalls. Auch deshalb ist es zubegrüßen, daß – anders als Ihre Rede – der Bericht derBundesregierung sehr eindringlich an die Opfer derSED-Gewaltherrschaft erinnert und daß er sich bei-spielsweise zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und zumFortbestand des Amtes des Bundesbeauftragten für dieUnterlagen des Staatssicherheitsdienstes bekennt. MeineDamen und Herren, Sie schreiben, zu den geistigenGrundlagen einer innerlich gefestigten Demokratie ge-hört ein von der Gesellschaft getragener antitotalitärerKonsens – so steht es in dem Bericht: Warum koaliertdann die SPD in Mecklenburg-Vorpommern mit derPDS, und warum lassen Sie sich in Sachsen-Anhalt vonihr tolerieren?
Es müßte Ihnen doch aus der deutschen Geschichte be-kannt sein, daß Wahlerfolge einer Partei bei demokrati-schen Wahlen keine hinreichende Bedingung für derendemokratischen Charakter sind.
Oder werten Sie die Standortbestimmung, wonach diePDS systemoppositionell sei, diese Gesellschaft als einDurchgangsstadium betrachte, als ein Bekenntnis zurgewaltenteiligen Ordnung? Das frage ich Sie. Ich haltedas nicht für ein solches Bekenntnis.
Sie haben, meine Damen und Herren – Sie könnenschimpfen, wie Sie wollen –, den antitotalitären Kon-sens, den Sie in Ihrem Bericht beschwören, schon seitJahren aufgegeben. Die Verzweiflung darüber geht bistief in Ihre Reihen. Fragen Sie zum Beispiel einmal denKollegen Hilsberg.
Ich fände es gut, wenn es Ihnen gelänge, die Entschä-digungsbeträge im Rahmen der Rehabilitierung derSED-Opfer aufzustocken. Ich habe die Regelung, diedamals unter schwierigen Randbedingungen eines Neu-anfangs von der von uns getragenen Regierung gefundenwurde, niemals für zureichend gehalten. Aber ich warneSie vor der Illusion, man könne sich das Einverständnisder SED-Opfer für eine Umarmung der PDS durch hö-here Entschädigungssummen erkaufen. Das wird fehl-schlagen.Ihre Bilanz der letzten zehn Jahre fällt sehr nüchternund buchhalterisch aus.
Die Ereignisse von 1989 bleiben seltsam unreflektiert.Mir wird manchmal die Frage gestellt: Haben sich IhreBundeskanzler Gerhard Schröder
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Ideale von 1989 nach zehn Jahren erfüllt? Ich antwortedann immer: Es ging mir gar nicht um Ideale. Mir ginges damals um die Rückkehr zur Selbstverständlichkeit:um die Rückkehr zur Freiheit des Wortes und der Wahldes Aufenthaltes, um die Rückkehr zu freien Wahlen,zum Rechtsstaat und zur Gewaltenteilung. Ich wollte,daß keine Partei mehr ihren Machtanspruch direkt in derVerfassung festschreiben darf, daß niemand mehr Bü-cher, die in Buchläden in der ganzen Welt zu kaufensind, aus Paketen konfiszieren darf. Ich wollte nicht, daßdie Kinder weiter gezwungen werden, verlogene undanmaßende Sätze, wie zum Beispiel „Die Partei hat im-mer recht.“ und „Der Charakter unserer Epoche bestehtim weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozia-lismus.“ nachzusprechen. Die Rückkehr zu diesenSelbstverständlichkeiten ist uns nahezu vollständig ge-lungen. Die Grundrechte sind heute selbstverständlicheRechte. Wir tun in Ostdeutschland zuweilen so, als hät-ten wir nie andere Zeiten gekannt.
Mehr, als man damals erwarten konnte, geschah iminfrastrukturellen Bereich. Auch Sie, Herr Bundeskanz-ler, haben das bestätigt. Wir haben in den 80er Jahrengesehen, mit welcher Geschwindigkeit die Städte undWohnungen verfielen. Wir haben die Weigerung derFührung erfahren, diese Mißstände überhaupt wahrzu-nehmen. Was sich aus dieser eigentlich aussichtslosenLage im Rahmen der gesamtdeutschen Solidarleistungentwickelt hat, lag – im positiven Sinne – jenseits vonall dem damals Vorstellbaren.
Der vielgeschmähte Begriff „blühende Landschaften“ istkeine Übertreibung; er ist eine massive Untertreibungfür das tatsächlich Stattgefundene.
Wenn Sie den Aufschwung denunzieren, indem Sie sa-gen, daß dafür eine erhöhte Nettokreditaufname not-wendig war, dann wird dadurch Ihr nach wie vorvorhandenes Nichtwissen oder auch vorgetäuschtesNichtwissen über die wirkliche Lage in der DDR offen-bart.
Herr Bundeskanzler, Sie sind auf das Bruttosozial-produkt pro Kopf in Ostdeutschland eingegangen. Esliegt im Augenblick bei 60 Prozent des westdeutschenBruttosozialprodukts. Es ist notwendig, diese Zahl durchzwei andere Zahlen zu ergänzen. Die Löhne betragenin Ostdeutschland außerhalb des öffentlichen Dienstesim Augenblick durchschnittlich 75 Prozent der West-löhne. Im öffentlichen Dienst betragen sie 86,5 Pro-zent. Es ist also festzustellen, daß nach wie vor Löhneund Produktivität in Ostdeutschland entkoppelt sind.Wenn Sie angesichts dieses Problems das Anliegen, wiewir in Zukunft mit dieser Schere zu Rande kommen,nicht zu einem Ihrer wichtigsten Anliegen machen, dannbegeben Sie sich in Gefahr, eines Tages vorgehalten zubekommen, daß Sie die Realität nicht wahrnehmenwollten.
Herr Bundeskanzler, Sie haben recht, wenn Sie in er-ster Linie die Leistungskraft der ostdeutschen Arbeit-nehmer hervorheben. Diese kann man gar nicht genugbetonen. Aber es gab noch einen anderen wichtigenGrund für diesen Aufschwung. Ich glaube nämlich nicht,daß unsere tschechischen und polnischen Nachbarn soviel fauler und dümmer als wir Ostdeutschen sind. DieseArbeitnehmer verdienen aber heute für ihre Arbeit – dasist keine Sozialhilfe – im Durchschnitt 500 bis 700 DMim Monat. Das entspricht ungefähr 15 bis 20 Prozent derLöhne in Ostdeutschland. Aber nichts kostet in Polenoder in Tschechien – ein Liter Benzin kostet dort ebennicht 40 Pfennig – nur 15 oder 20 Prozent von dem, wases in Ostdeutschland kostet. Daran muß man sich ab undzu erinnern. Das heißt, daß der Aufbau in Ostdeutsch-land eine andere Dimension hat als das, was in Polenoder in Tschechien gegenwärtig geschieht, und das ver-danken wir der deutschen Einheit.
Hier scheint mir Ihr Grundproblem zu liegen, HerrBundeskanzler. Den Einigungsvertrag verdanken wirmaßgeblich der Arbeit von Wolfgang Schäuble undGünther Krause.
– Sie waren alle nicht dabei. – Dieser Vertrag war, ge-messen an der kurzen Zeit, die bis zu seiner Verabschie-dung zur Verfügung stand, ein überragender Erfolg.
Herr Bundeskanzler, Sie und Ihr damaliger saarländi-scher Ministerpräsidentenkollege, Lafontaine, habendiesen Vertrag seinerzeit im Bundesrat abgelehnt.
Wenn sich alle so verhalten hätten wie Sie, dann wäre esIhnen gelungen, die deutsche Einheit nicht nur zu verzö-gern, sondern zu verhindern.
Denn wir alle wissen, wie schnell sich nach dem Jahr1990 die weltpolitische Lage gewandelt hat. Gorba-tschow stürzte im Sommer 1991. Jetzt denken Sie, Siekönnten in Ihrer Rede denjenigen, der Sie daran erinnert,der Rechthaberei und der Selbstgerechtigkeit bezichti-gen. Umgekehrt möchte ich Ihnen sagen: Sie versuchen,die Geschichte, die Sie selbst mit verursacht haben, un-geschehen zu machen. Das ist das Problem.
Arnold Vaatz
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6112 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Herr Bundeskanzler, Sie haben sich – das hat man anIhrer Rede gemerkt – die innere Kälte gegenüber derdeutschen Einheit bewahrt.
Das steht völlig in der Kontinuität dessen, was Sie undIhre Partei in den 80er Jahren von sich gegeben haben.Schon 1985 war es für Sie selbstverständlich, die Staats-bürgerschaft der DDR zu respektieren, wie man im„Neuen Deutschland“ nachlesen konnte.
– Nehmen Sie das nur einmal zur Kenntnis; so ist es ge-wesen. – Hätten wir den Art. 23 des Grundgesetzes imJahre 1990 nicht gehabt, dann wäre diese deutsche Ein-heit so nicht gekommen.
Es ist den vernünftigen Menschen im Deutschen Bun-destag zu verdanken, daß dieser Artikel Bestand gehabthat.
Sie, Herr Bundeskanzler, möchte ich in diesen Danknicht einschließen.
Ich sage Ihnen noch mehr. Ich bin ein gläubigerMensch und danke Gott und dem deutschen Wähler, daßim Jahre 1989/90 nicht Sie Bundeskanzler waren, son-dern Helmut Kohl.
Heute können Sie die deutsche Einheit nicht mehr ver-hindern. Sie können sie nur noch zur Chefsache machen,was immer das bedeuten mag.
Ich weiß nicht, wie andere es halten, aber ich bin denMenschen in Westdeutschland dankbar dafür, daß siebereit waren, uns mit einer so beispiellosen Unterstüt-zung aus dem Loch herauszuhelfen,
in das wir durch die aberwitzige Anmaßung der Kom-munisten gefallen waren. Ich finde übrigens, Dankbar-keit ist kein Zeichen von Naivität oder Bigotterie,
sondern Dankbarkeit hat etwas mit Menschlichkeit undEinsicht in menschliche Grenzen zu tun, also mit Reifeund Erwachsensein.
Ich bedaure – vielleicht holt die Regierung das ja imJahre 2000 nach –, daß in diesem Bericht 1999 nichteinmal der Vergleich mit unseren ehemals sozialisti-schen Nachbarstaaten, also der Vergleich von Ost-deutschland mit Polen, Tschechien usw., herausgear-beitet worden ist. Bei fortdauernder Zweistaatlichkeit inDeutschland wären ähnliche Entwicklungen auch inOstdeutschland zu erwarten gewesen.Freilich lastet auf uns Ostdeutschen ein nahezuschmerzhafter Umorientierungsdruck. Dieser Druck istaber nicht deshalb so schmerzhaft, weil die neue Ord-nung so erbarmungslos wäre, sondern deshalb, weil diealte so falsch war.
Ich höre oft den Klagegesang: Unsere sozialistische Ge-borgenheit, wo ist sie hin? Es heißt: In der DDR warnicht alles schlecht. Dieser Satz ist im übrigen richtig.Aber ich erinnere mich an meine Haftzeit: Auch im Ge-fängnis war nicht alles schlecht. Was denken Sie! Es gabdort einen Koch, der verhaftet worden war und der ausnichts etwas gemacht hat, was hervorragend schmeckte.Aber es war eben Knast.
Auch in der DDR war nicht alles schlecht. Das ist derrhetorische Anlauf zu den Nostalgiearien, die auch Siein Ihrem Bericht beklagen.
Leider gehen Sie der Frage nicht ausreichend nach, war-um das so ist. Die Beantwortung dieser Frage ist aberwichtig. Viele trauern der Geborgenheit in der DDRnach. Diese Geborgenheit ähnelte aber eher einer Kaser-nenhofgeborgenheit. Die Geborgenheit eines Kasernen-hofes mag zwar klären, was es zum Frühstück gibt undwie die Marschordnung lautet.
Arnold Vaatz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6113
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Sie mag unter Umständen auch die Beschäftigungslo-sigkeit wegorganisieren. Aber Exerzieren und Produzie-ren sind eben zweierlei. Beides ist anstrengend; das istwahr. Aber es ist notwendig, etwas zu produzieren, dasauf dem Markt zum Herstellungspreis verkauft werdenkann. Alles anderes hat mehr mit Exerzieren zu tun alsmit Produzieren.
Meine Damen und Herren, leider ist nicht jeder fal-sche Satz, den wir im Staatsbürgerkundeunterricht ge-lernt haben, so leicht als Schwachsinn zu erkennen wieder Satz: Die Partei hat immer recht.Es gab auch andere Sätze – das, Herr Bundeskanzler,hätten Sie einmal aufgreifen können –: In Ostdeutsch-land gibt es ein schwerwiegendes Grundmißverständnis.Viele meinen, daß der Satz, der Wert einer Ware bestehein der zu ihrer Herstellung notwendigen gesellschaftli-chen Arbeitszeit, nach wie vor Bedeutung habe. Wennman diesen Satz ernst nahm, dann konnte man darüberverzweifeln, für welche Preise teilweise die Produkti-onsanlagen in Ostdeutschland über den Ladentisch ge-gangen sind. Aber wenn man deutlich macht, daß in derMarktwirtschaft ein Dritter durch das, was er für eineWare zu geben bereit ist, über den Wert dieser Wareentscheidet, wenn man also den Begriff des Wertes einesProduktes auch in Ostdeutschland genügend präsentmacht, dann hat man, so glaube ich, einen großen Teilder Nostalgie an der Wurzel bekämpft.Herr Bundeskanzler, ich bedaure es, daß Sie diesenbegrifflichen Verwirrungen nicht auf den Grund gegan-gen sind. Ich halte die Zweisprachigkeit in Ostdeutsch-land und in Westdeutschland für die nach wie vorschwerwiegendste Ursache der Mißverständnisse zwi-schen den beiden Teilen unseres Landes.
Herr Bundeskanzler, Sie haben die Aufgabe, dieserZweisprachigkeit auf den Grund zu gehen, die darauserwachsenen politischen Mißverständnisse aufzuhebenund darauf unsere Zukunft aufzubauen.
Sie haben nicht die Aufgabe, Platitüden abzuarbeiten,die wir schon zwanzigmal gehört haben, und sich damitaus Ihrer schlechten Rolle herauszureden, die Sie in derVergangenheit gespielt haben.
Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen eines: Ich findees gut, daß Sie Willy Brandt zitiert haben. Da kann nichtviel passieren. Das hat Sie der Arbeit enthoben, sich sel-ber zu zitieren.
Als nächstes rate ich Ihnen: Lesen Sie Ihre Rede nach,und klopfen Sie sie darauf ab, was man daraus in zehnJahren noch zitieren könnte. Ich fürchte: Null!
Ich erteile das Wort
nun dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Peter Struck.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vaatz, ichhabe mir zum einen im Bundestagshandbuch Ihre Bio-graphie angesehen. Zum anderen habe ich 1989 und1990 auf der Basis meiner eigenen politischen ErfahrungIhr damaliges Wirken in Dresden für das Neue Forummitverfolgen können.
Angesichts der Leistungen, die Sie zweifellos für diefriedliche Revolution in Dresden und anderswo erbrachthaben, muß ich sagen: Die Rede, die Sie soeben gehal-ten haben, ist für mich eine einzige Enttäuschung. Siedesavouiert Sie selbst.
Sie haben ganz offenbar mit persönlichen Angriffen ge-gen den Bundeskanzler eine bestimmte Linie haltenwollen, die objektiv so nicht zu halten war. Sie habensich in das gefährliche Fahrwasser von manch anderemRedner Ihrer Fraktion begeben.
Wenn Sie die Rede, die Sie eben gehalten haben, in zehnJahren nachlesen werden, dann wird davon nur ein Wortübrigbleiben, Herr Vaatz, nämlich das Wort „Null“.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, erlaubenSie mir zu Beginn eine sehr persönliche Bemerkung: Fürmich ist es noch immer ein Ereignis besonderer Art,wenn ich morgens am Brandenburger Tor vorbei inmein Büro in Unter den Linden fahre. Für mich ist dieAlltäglichkeit, aus meinem Büro auf das BrandenburgerTor zu schauen, ungebrochen Anlaß zu staunen.
Machen wir uns nichts vor – damit meine ich zumindestviele Kolleginnen und Kollegen aus den alten Ländern –:Wir verstehen erst jetzt so richtig, was die Einheit be-deutet; wir realisieren es erst jetzt vollends. 1989 warenwir freudig gerührt. Dann waren wir mit der Vollendungder Einheit befaßt. Jetzt, in Berlin, sind wir im wahrstenSinne des Wortes berührt.Arnold Vaatz
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6114 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Für mich, der ich in Göttingen groß geworden bin,war die DDR, der Ostblock keine ferne Drohung. DieGrenze war in unmittelbarer Nähe. Ich war nicht ein-gesperrt; meine Erfahrungen sind nicht mit den Erfah-rungen jener zu vergleichen, auch vieler in meinerFraktion, die im Osten leben mußten. Aber ich habedie Teilung des Landes als Alltagserfahrung realisiert:Der Sonntagsausflug, die Klassenfahrt, die Schulwan-derung – all das endete immer an der Grenze im Eichs-feld. Die widersinnige, unnatürliche Grenze war faßbar.Deshalb war der 9. November 1989 für mich ein Erleb-nis tiefer innerer Befriedigung. Am Dienstag ist diesesDatum in diesem Hause umfassend und, wie ich finde,in hervorragender Weise gewürdigt worden – ich schlie-ße alle Redner, die an diesem Tag gesprochen haben,ein.
Mir wird die Sitzung des Deutschen Bundestagesam 9. November 1989, in der die Meldung kam: „DieMauer ist offen!“, immer im Gedächtnis bleiben, auchdie Tatsache, daß wir, die wir im Plenum waren, spontandie Nationalhymne gesungen haben.
– Herr Kollege Glos, das ist wieder einmal typisch fürSie. Ich sage Ihnen: Anläßlich dieses Ereignisses habenwir, ich und viele andere Mitglieder meiner Fraktion, dieNationalhymne mitgesungen. Das ist doch dummes,parteipolitisches Geschwätz. Sie sollten sich für IhreHaltung schämen.
– Diesen Zwischenruf, Herr Kollege Glos, gebe ich ger-ne an die Menschen, die zusehen und mich hören kön-nen, weiter: Sie haben gerade gesagt, wir hätten die In-ternationale gesungen. Schämen Sie sich, Herr Glos!Schämen Sie sich!
Wir erinnern uns, wenn wir an den 9. November 1989denken – das ist vorgestern in der Berichterstattungdeutlich geworden –, an den Mut und an die unerhörteZivilcourage, durch die die Revolutionäre dieses Ereig-nis möglich gemacht haben. Ich will an dieser Stelle nurein Mitglied meiner Fraktion, ohne anderen Unrecht tunzu wollen, besonders hervorheben: Ich nenne meinenFreund Markus Meckel, der als Mitbegründer der dama-ligen SDP und späteren SPD in der DDR einen großenAnteil an der friedlichen und demokratischen Entwick-lung in diesem Teil unseres Landes hatte.
Heute, zehn Jahre danach, geht es darum, diese Ein-heit endlich realistisch zu erfassen und sie in unseremInnern endgültig zu gestalten. Das kann nur gelingen,wenn aus Bilanzen und Analysen zu richtigen, zu-kunftsweisenden Konzepten, zu Entscheidungen derVernunft gekommen wird.Der Einigungsprozeß und der Aufbau Ost vollziehensich politisch, gesellschaftlich und ökonomisch unterimmer wieder neuen, völlig anderen Rahmenbedingun-gen; denn inzwischen – das sehen wir jeden Tag – istleider ein großer Teil der überschäumenden Freude ausdem friedlichen Revolutionsherbst 1989 in unseremVolk verlorengegangen. Darüber können auch die un-mittelbaren Eindrücke aus dem Erleben der letzten Tagenicht hinwegtäuschen.Im Osten ist vielfältige, manchmal auch irrationaleEnttäuschung an die Stelle fast euphorischer Erwartun-gen getreten. Sie reicht zum Teil bis zur Bitterkeit. ImWesten ist die anfängliche erfreuliche und weit verbrei-tete Hilfs- und Opferbereitschaft einer bisweilen sehrmißmutigen Stimmung gewichen. Sie schließt unge-rechtfertigte Vorwürfe an die Menschen in den östli-chen Bundesländern ein.Zum Thema Vereinigung und Aufbau Ost gab undgibt es eine Menge Konsens in diesem Haus. Über das,was jetzt im einzelnen zu tun ist, werden und müssenwir streiten. Jetzt ist vor allen Dingen wichtig, darübernachzudenken, was not tut und danach zu handeln, an-statt einseitig und allein Fehler der Vergangenheit zubeklagen.Dafür gibt es ein einfaches Rezept: Es gilt, die Reali-tät nicht zu schönen oder sie zu verzerren, sondernnüchtern mit ihr umzugehen. Dafür bietet der vorliegen-de Jahresbericht der Bundesregierung eine hervorragen-de Grundlage.
Ich halte es für richtig und wichtig, den konkretenZahlen, Daten und Fakten noch einmal die politisch-historischen Rahmenbedingungen des Vereinigungspro-zesses voranzustellen. Es gab bis zu diesem Zeitpunkt inder Geschichte kein Beispiel, daß ein Land aus zweiauseinandergerissenen Zeithälften neu zusammengesetztwurde. Das bedeutete für die Ostdeutschen die radikaleUmwälzung ihrer Lebensbedingungen, ihrer Sicherhei-ten und Gewohnheiten, und das alles in einer brutal kur-zen Zeit.Bei allen Brüchen, die dieser Prozeß fast zwangsläu-fig mit sich brachte, gilt aber auch: Diese schwierigenErfahrungen werden eines Tages auf der Haben-Seiteder Menschen in den neuen Bundesländern stehen. DieFlexibilität, die Anpassungsfähigkeit, die BereitschaftDr. Peter Struck
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und die Mobilität, die abverlangt wurden, sind eine un-geheure Lernerfahrung.Vor über 30 Jahren hat einer meiner Vorgänger imAmt des Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestags-fraktion, Fritz Erler, gesagt:Wir sind ein Volk, und da trage jeder des anderenLast.Ich denke, das muß auch heute noch gelten.
In der Tat: Wir haben heute Lasten zu tragen, mit denendie meisten 1989 und 1990 nicht gerechnet haben, weilsie Illusionen von einem Wirtschaftswunder binnen we-niger Jahre gehabt haben.Diese Illusionen hat die Regierung Kohl damalsvollmundig verbreitet und herbeigeführt. Es war falsch,meine Damen und Herren, den neuen Bundesbürgernblühende Landschaften zu versprechen und die altenBundesbürger in dem Glauben zu wiegen, der Eini-gungsprozeß werde sie gänzlich ungeschoren lassen.
Rüdiger Pohl, der Hallenser Wirtschaftswissen-schaftler, hat vor einigen Tagen in einem Artikel der„Berliner Zeitung“ seine kenntnisreiche Analyse, die ichnicht in allen Punkten nachvollziehe, mit einem Gedan-kenspiel begonnen, das ich sehr reizvoll finde. Ich zitie-re ihn:Stellen Sie sich vor, es gibt einen großen Knall, undwir finden uns im Jahre 1990 wieder – aber mitdem Wissen von 1999.Ich frage also: Wie würden wir den Vereinigungspro-zeß nun neu und anders gestalten? Hätten wir dannSkepsis und Ernüchterung, Mißverstehen und Mißver-gnügen vermeiden können?Was die Fehler angeht, so dürfen sie nicht allein be-trachtet werden. Sie dürfen nicht die Aktivposten ver-drängen, die im Zuge des bisherigen Einigungsprozessesund des Aufbaus Ost zu verbuchen sind. Das reicht vonden demokratischen und bürgerlichen Freiheiten, demWiedererstehen der Länder, dem solidarischen Kraftaktvon Ostdeutschen und Westdeutschen bis zu einem er-staunlichen Aufbau einer neuen Infrastruktur. Der Bun-deskanzler hat darüber gesprochen.Im Vergleich zur Ausgangslage 1989/90 haben wir inder Angleichung der Lebensverhältnisse große Fort-schritte gemacht, wenngleich wir noch nicht an unseremZiel angelangt sind. Lassen Sie uns aber nicht vergessen:Mehr als die Hälfte der Wohnungen in den neuen Län-dern sind saniert oder modernisiert worden. 650 000Wohnungen wurden neu gebaut. Fast 1 200 KilometerStraße und 5 400 Kilometer Schiene wurden saniert, und– der Bundeskanzler hat es erwähnt – Ostdeutschlandhat das modernste Telefonnetz Europas. Wir sind beimAufbau eines lebenswichtigen Mittelstandes deutlich vo-rangekommen. Es gibt in den neuen Ländern etwa550 000 kleine bis mittelständische Betriebe mit3,2 Millionen Beschäftigten.
In den letzten Jahren ist ein großer Teil dieser Betriebeim Forschungssektor entstanden. Die Umweltbelastun-gen wurden drastisch reduziert. Zwar hat dazu auch dieStillegung zahlreicher Betriebe und veralteter Kraftwer-ke beigetragen, aber das Ergebnis ist auch eine bessereWasser- und Abwasserqualität, eine bessere Abfallwirt-schaft und eine bessere Luft in den neuen Ländern. Dassind die positiven Daten.
Dem stehen natürlich auch Defizite und Fehlent-scheidungen gegenüber, die sowohl den Bereich derwirtschaftlichen wie auch der sozialen und emotionalenEinigung betreffen. Ich nenne die Übernahme der nochvon der Modrow-Regierung geschaffenen Treuhandkon-struktion und die damit praktizierten Privatisierungsvor-haben. Der erste Chef der Treuhandanstalt, DetlevRohwedder, hat ein „entschlossenes Privatisieren undbehutsames Sanieren“ gefordert. Davon ist nur dieHälfte mit lange nachwirkenden Folgen realisiert wor-den.Bis heute ist die ostdeutsche Wirtschaft weit davonentfernt, den Bedarf der eigenen Bevölkerung zu dek-ken. Das Defizit an Arbeitsplätzen wird auf 25 Prozentgeschätzt. Die wirtschaftsnahe Forschung wurde gerade-zu auf Null gebracht. Weniger als 10 Prozent des Pro-duktivvermögens gingen über die Treuhandanstalt inostdeutsche Hände, über 90 Prozent gingen an West-deutsche und Ausländer.Ich nenne als weiteren schwerwiegenden Fehler dieVermögensregelung nach dem unseligen Prinzip Rück-erstattung vor Entschädigung.
Ich spreche Sie, Herr Kollege Schäuble, in diesem Punktauch persönlich als denjenigen an, der für die damaligeBundesregierung mit Herrn Krause verhandelt hat. Icherinnere mich auch an die Diskussionen, die wir überdieses Prinzip und darüber geführt haben, welche Kon-sequenzen es gehabt hätte, wenn wir statt des PrinzipsRückerstattung vor Entschädigung den umgekehrtenWeg gegangen wären.Ich weiß nicht, wie Sie das bewerten. Ich glaubeallerdings, daß wir dieses Prinzip damals tatsächlichnicht hätten wählen sollen. Dieses Prinzip hat der Be-wirtschaftung jahrelang Milliardenwerte entzogen undso zu Investitionshemmnissen,
zu Haß und Feindschaft zwischen Alteigentümern undNutzern geführt. Wir wissen: Auch heute sind noch im-mer 10 Prozent oder fast 200 000 Ansprüche unerledigt.Dr. Peter Struck
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Der Zwischenruf von der PDS – „Da habt ihr zuge-stimmt!“ – gibt natürlich die Wahrheit wieder. Wir ha-ben dem Einigungsvertrag zugestimmt, obwohl wir zumBeispiel in diesem Punkt eine andere Position vertretenhaben. Aber für uns Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten war immer klar: Der Einigungsvertragmußte vom Deutschen Bundestag und auch vom Bun-desrat beschlossen werden, weil er – ungeachtet man-cher Unterschiede im einzelnen – Voraussetzung aufdem Weg zur deutschen Einheit war.
Als weiteren Fehler nenne ich die Aufbauförderungüber Abschreibungen für Ostinvestitionen. Dem habenwir auch zugestimmt. Ich weiß das.
– Gut, dann nehme ich das Prinzip. Das Prinzip hatte alsKonsequenz eine westliche Kapitalbildung und das Ent-stehen kapitalintensiver, aber menschenleerer Produkti-onsstätten. Wir sehen das heute, wenn wir durch dieneuen Länder fahren. Jetzt zeigt sich, daß wir vielleichtandere Wege als den hätten gehen sollen, der dort überdie Steuergesetzgebung gegangen worden ist.Die Bundesregierung und die sie tragenden Koaliti-onsfraktionen haben innerhalb des letzten Jahres eineFülle von Fehlentwicklungen korrigiert und neue Ak-zente für den Aufbau Ost gesetzt. Ich hätte mir ge-wünscht, Herr Kollege Vaatz, daß Sie nicht eine polemi-sche und flache Rede gehalten hätten, sondern auf diesePunkte eingegangen wären.
Ich will sie noch einmal nennen: die Erleichterungbeim Altschuldenhilfegesetz, die Verlängerung der In-vestitionsvorrangregelung, der Risikostrukturausgleichzugunsten der ostdeutschen Krankenkassen. Das ist einThema, das uns jetzt auch wieder beschäftigen wird.
Wir lassen die Krankenkassen im Osten und ihre Mit-glieder nicht im Regen stehen, wie unser Gesetzentwurfzeigt. Wir werden ja sehen, was bei den Verhandlungen– wenn es Verhandlungen gibt – dazu von Ihrer Seite zusagen sein wird. Ferner nenne ich ganz besonders dieBeseitigung von Ungerechtigkeiten bei der Entschädi-gung der Opfer von SED-Unrecht – eine Leistung, aufdie die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio-nen stolz sein können.
Wir haben hier eine moralische Pflicht erfüllt.Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt nennen,der mich persönlich in den letzten zwei Wochen beson-ders bewegt hat, weil es um ein Thema geht, das – dasist meine Sicht – lange Zeit nicht angemessen behandeltworden ist. Wir kennen das Problem der Hepatitis-C-geschädigten Frauen aus der ehemaligen DDR.
Es sind 2 600 Frauen, die durch eine falsche Behandlungder damaligen DDR-Behörden und eines damaligenDDR-Unternehmens schwer gelbsuchtgeschädigt sind.Ich sage das auch an die Adresse all derjenigen, die hiervon Nostalgie reden. Fragen Sie die Frauen, was manmit ihnen gemacht hat! Sie sind isoliert worden; man hatsie in ihrem Schicksal allein gelassen. Sie wußten nichtdavon, daß auch andere durch solche Behandlungsfehlervon der gleichen schweren Krankheit betroffen sind. Esgab einen unwürdigen Streit über die Frage, wie diesearmen Frauen zu entschädigen sind; es war ein Streitüber die Frage, wer das denn bezahlen soll. Man hat sichdann auf eine Entschädigungssumme bzw. Rentenzah-lungssumme für diese Frauen von insgesamt 10 Millio-nen DM für alle geeinigt, wobei der Bund und die Län-der jeweils die Hälfte tragen. Das hat lange Zeit ge-braucht.
Die berechtigte Forderung der betroffenen Frauen, ihnenauch über eine Einmalzahlung zu helfen – um das, wasman ihnen angetan hat, wenigstens teilweise angemes-sen zu entlohnen –, ist aus finanziellen Gründen abge-lehnt worden. Ich will dem Bundestag mitteilen, daßmeine Fraktion zusammen mit der Fraktion der Grünenheute in der Bereinigungssitzung des Haushaltsaus-schusses einen Antrag durchsetzen wird, wonach diesenFrauen eine Einmalentschädigung – für alle zusammen –in Höhe von 15 Millionen DM zusätzlich bewilligt wird.
Soviel dann auch zu dem Thema „Wie schön war esdoch in der damaligen DDR“, an die Adresse derjenigengerichtet, die ganz links in diesem Hause sitzen. Siebrauchen ja nur einmal mit den Frauen zu reden; siewerden Ihnen dann schon sagen, wie „schön“ es war.
Zur Beseitigung sozialer Spannungen und menschli-cher Irritationen, die wir zweifellos im Verhältnis zwi-schen Ost und West feststellen müssen, gehört mehr. Ichkann verstehen, daß unsere ostdeutschen Landsleute zu-nehmend betroffen reagieren, wenn sich bei ihnen derEindruck verfestigt, daß Ostbiographien überhaupt kei-ne Chance auf differenzierte Beurteilung haben. Ich ha-be auch Verständnis, daß im Osten kritisch registriertwird, wenn überwiegend westdeutsche Historiker, Pu-blizisten und leider auch Politiker nicht nur DDR-Geschichte und DDR-Biographien interpretieren, son-dern auch noch Werturteile fällen. Deshalb mag ich diePharisäer nicht, die in westlichen Lehnstühlen Predigtendarüber verbreiten, wie man sich in der SED-Diktaturhätte verhalten sollen. Ich mag sie nicht.
Dr. Peter Struck
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Der Aufbau Ost als politisches Vorrangprojekt wirduns noch weit ins kommende Jahrtausend begleiten.Kein Deus ex machina, keine der noch so oft beschwo-renen Selbstheilungskräfte des Marktes werden etwasdaran ändern, daß das Zeit, Geld, Ideen, Stehvermögen,Solidarität und Zuversicht braucht. Die sozialdemokrati-sche Bundestagsfraktion jedenfalls ist bereit, dieseschwierige Wegstrecke zu meistern.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, dem Vorsitzenden
der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Neulich hat Fritz Stern, dergroßartige Historiker, den Friedenspreis des Börsenver-eins des Deutschen Buchhandels erhalten. Er hat uns inseiner Rede einiges zum Zustand, zu den Fragen der in-neren Einheit gesagt. Er hat das im übrigen mit einemgroßartigen Humor getan. Er hat von einem berühmtendeutschen Philosophen erzählt, der sich beklagt habensoll, daß er kaum mehr zu vertieftem Nachdenken kom-me, weil seine Frau soviel rede. Dann ist er gefragt wor-den: Worüber redet die denn? Darauf hat er geantwortet:Das sagt sie nicht.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind. – Dasbeschreibt manchen Dialog, den wir in Deutschland mit-einander führen. Wir reden unendlich viel.
– Das hier ist ein typischer Fall, daß, wenn jemand mitausgesprochen guter Laune ans Rednerpult tritt, Zwi-schenrufe aus verkniffenen Gesichtern kommen.
Ich will damit nicht mehr und nicht weniger sagen, alsdaß wir unendlich viel miteinander debattieren, über diedeutsche Einheit reden,
große Programme auflegen, zu Chefsachen erklären,Produktionskennzahlen oder die Zahl der mittelständi-schen Betriebe, die entstehen, benennen.Aber anscheinend sagen wir uns nicht das Richtige;denn für jeden ist spürbar – das sagt auch Fritz Stern – :Es ist ganz merkwürdig, die Deutschen kommen mit ih-ren Nachbarn außerordentlich gut zurecht, nur im Innernhaben sie das anscheinend noch nicht so richtig bewäl-tigt. Das ist einfach wahr. Es geht nicht um die Frage,wie sich ein Standort wirtschaftlich entwickelt hat. Mirgeht es um mentale Fragen des Zusammenlebens.Sie waren doch genauso wie ich von den Worten be-eindruckt, die Joachim Gauck an uns gerichtet hat. Mirfehlen im Grunde viele Joachim Gaucks, die ihrenLandsleuten mit derselben Biographie viel entspannterals wir sagen könnten, welche Chancen es für diesesLand wirklich gibt. Wir haben nämlich große Chancen.
Wir haben eine große, klare, freiheitliche und patrioti-sche Substanz in Deutschland. Das Beste, was wir ha-ben, ist unsere freiheitliche Verfassung.
Sie steckt zutiefst in großen europäischen Traditionen;aus ihr kann eine Kraft zur Erneuerung kommen.Joachim Gauck hat das hier vor wenigen Tagen vor-getragen. Das Grundgesetz, das eine zivile Gesellschaftherausgebildet hat, hat endlich diese Phase in Deutsch-land beendet, in der jedem anerzogen worden ist, nurDienst im Glied zu versehen. Vielmehr soll man vonseinen Freiheitsrechten Gebrauch machen. Das darfdoch nicht verschüttgehen.Es gibt eine unendlich große demokratische Sub-stanz – das haben wir noch vor wenigen Tagen gehört;anscheinend ist das heute wieder in Vergessenheit gera-ten; wenn Feierstunden stattfinden, sollte man sich daranerinnern –, auf die wir aufbauen können, von denen, diesich auch in der Zeit des Naziterrors anständig verhaltenhaben und die ihr Leben eingesetzt haben, um Freiheits-rechte zu erkämpfen und zu erhalten.
Es ist dann zu Recht gesagt worden – darauf kannman stolz sein; man muß doch nicht immer ängstlichmeinen, die anderen seien die Sieger –,
daß Hunderttausende von Bürgern der früheren DDR,ohne daß sie wußten, ob das friedlich ausging – manhätte ja auch mit Ereignissen wie auf dem Platz in Pe-king rechnen können – , auf die Straße gegangen sindund mutig die Freiheit errungen haben. Warum wir dar-über als gemeinsames Paket der Freiheit und unsererGrundverfassung nicht reden, ist mir schleierhaft. Dar-auf kommt es doch an, um eine Zukunft herauszubilden.
– Ich spreche als freier Abgeordneter des DeutschenBundestages zu meinen Kolleginnen und Kollegen.
Dr. Peter Struck
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6118 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Warum muß hier denn so elend in parteipolitischenGrenzen diskutiert werden, Herr Poß? Ich spreche dasganz normal an.
Jedes Volk hat einen bestimmten Prozentsatz vonMenschen, die wirklich als abschreckendes Beispieldienen können. Der ist in Deutschland nicht höher als inanderen Ländern auch. Aber wahr ist: Die Fairen, die-jenigen, die vernünftig miteinander umgehen, die ihr hi-storisches Gedächtnis mobilisieren, sind in der Mehr-heit.
– Ja, aber dann sollten wir sie auch eher sprechen lassenund das deutlich sagen. – Wenn es die Fairen gibt, danndürfen sie auch sagen: Es gab nicht nur die, die im Zugeder deutschen Einigung andere über den Tisch gezogenhaben. Es gab nicht nur die, die Betriebe aufgekauft ha-ben und sie dann wieder geschlossen haben. Es gab auchdie, die ihre ganze Kraft in Betriebe hineingesteckt ha-ben.
Es gab auch Manager der Treuhand, die über all ihreKräfte hinaus gearbeitet haben. Und weil immer dasBild gezeichnet wird, die Treuhand habe die Wirtschaftder DDR ruiniert, sage ich: Es gab in den Reihen derTreuhand nicht im entferntesten die Spitzbuben, die esin der Truppe von Schalck-Golodkowski gab.
Das muß vorurteilsfrei festgestellt werden. Im übrigenist es einfach wahr, daß nicht die Treuhand die Wirt-schaft der DDR ruiniert hat, sondern die SED. Sie hatdie Betriebe ausgeplündert, den Kapitalstock vernichtetund die Menschen seelisch zerstört.Es ist falsch, in Abscheu vor einem oberflächlich ver-standenen westlichen Stil eine eigene Art zu verklären.Fritz Stern sagt – damit vermeide ich Zwischenrufe; diekämen, wenn ich es sagte; wenn ich Fritz Stern zitiere,haben wir eine ruhige Kulisse –:Das einfache, wenn auch unfreie Leben im Gegen-satz zum freien und hektischen Leben des westli-chen Kapitalismus, das darf schon gar nicht dazuführen, daß der Wert demokratischer Freiheit er-neut vergessen wird.Die Privatisierung der alten Heilslehren, so sagt FritzStern, ist kein Gewinn.Das ist eine sehr deutliche Aussage, die sich ganzeindeutig gegen eine Mentalität richtet, auf deren Welledie PDS erfolgreich ist. Dieser Mentalität muß klar ent-gegengetreten werden.
Wenn wir in Deutschland eine gemeinsame Zukunft ha-ben wollen, darf die Vergangenheit nicht so verklärtwerden.Wir müssen unseren Mitbürgern im Westen sagen,daß zwar auch sie einen schwierigen Anfang hatten, daßihnen dabei aber geholfen worden ist. Es ist wahr: Unse-re Mitbürgerinnen und Mitbürger im Osten hatten dieungleich schwierigere Aufgabe. Auch bei der Grundent-scheidung für die Marktwirtschaft wäre es nicht zu einerArt Wirtschaftswunder gekommen, wenn wir im Westenamerikanische und andere internationale Hilfe nichtgehabt hätten.
Unser Weg war chancenreicher, aber einfacher, unddeshalb müssen wir lernen, mit Entfremdung – denn inDeutschland gibt es eine solche Distanz – umzugehen.Das schaffen wir aber nur, wenn wir ehrlich miteinanderkommunizieren.Es gibt in Deutschland ein großes Bedürfnis nach so-zialer Sicherheit. Vielleicht ist das Austarieren vonForderungen an den Staat in Ostdeutschland auf Grundder Biographie der Menschen dort noch viel ausgepräg-ter als in der alten Bundesrepublik. Aber soziale Ge-rechtigkeit kann nicht bei falschen Gleichheitsvorstel-lungen erreicht werden. Es gibt eben Menschen, diedurch eigenes Können größere Talente entfalten undmehr zustande bringen als andere. Der Präsident derMax-Planck-Gesellschaft, ein hochkarätiger Wissen-schaftler, sagt, die Menschen seien zwar jeder für sicheinzigartig, aber die meisten seien „einzigartig durch-schnittlich“ und nur wenige „einzigartig begabt“. Wenneine Gesellschaft nicht in der Lage ist, Neidgefühle zu-rückzudrängen und den einzigartig Begabten Förderungangedeihen zu lassen und sie als zum Wohle aller zuverstehen, dann hat sie ein falsches Gleichheitsverständ-nis. Denn Gerechtigkeit besteht auch darin, besondereBefähigungen reüssieren zu lassen und ihnen Anerken-nung entgegenzubringen.
Ich spreche das deshalb an, weil wir Deutsche oft mitfalschen Begriffspaaren arbeiten. Solidarität ist ebennicht ausschließlich eine Forderung an andere. Die eige-ne Leistung zum Wohle aller einzusetzen ist die größteSolidarität, die man in einer Gesellschaft ausdrückenkann.
Leistung ist auch keine Kategorie einer Ellbogengesell-schaft, sondern sicherer Bestandteil der Lebensführungvon Menschen. Wir müssen diese Punkte ansprechen.Sonst sehe ich die Gefahr, daß wir in Deutschland einevöllig falsche Diskussion über Gleichheit, Gerechtigkeitund Freiheit führen.
Das kann nicht alles auf Kosten des anderen abgearbei-tet werden.Dr. Wolfgang Gerhardt
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Seit dem ersten Auftreten Michail Gorbatschows, sohat Hans-Dietrich Genscher damals gesagt, hat sich allesverändert. Vielleicht haben wir zuerst geglaubt, es ände-re sich nur etwas für die Menschen in den früheren War-schauer-Pakt-Staaten. Jetzt haben wir gemerkt: Es ändertsich für alle.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärunggesagt, den ostdeutschen Anbietern hätten zumindestzeitweise lokale Standortvorteile gewährt werden müs-sen. Das ist richtig, Herr Bundeskanzler. Ich habe, alsSie das gesagt haben, überlegt: Wo waren Sie denn, alswir ein Niedrigsteuergebiet Ost vorgeschlagen haben,
als wir eine Wertschöpfungspräferenz für ostdeutscheProdukte gefordert haben? Ich kann Ihnen die Reihe Ih-rer Kollegen im Amt des Ministerpräsidenten nament-lich benennen, die dagegen waren, weil sie nicht diedeutsche Einheit und den Aufbau Ost im Auge hatten,sondern den 20 Kilometer breiten Streifen westlichesZonenrandgebiet in ihrem Land, der dann vielleichtzeitweilig ins Hintertreffen geraten wäre. Das sind dieTatsachen.Sie haben vorhin Klaus von Dohnanyi zitiert, einenhochangesehenen Mann, der gesagt hat: Der Markt istnicht immer weise. Das ist richtig. Ich füge noch einweiteres Zitat von ihm hinzu: Unsere Systeme der so-zialen Sicherung haben sich zu einer Barriere gegen Be-schäftigung entwickelt. Dohnanyi hat Sie dringlichstaufgefordert, einige Reformen auf den Weg zu bringen,weil er wie ich der Meinung ist: Die größte Sicherheit inDeutschland ist ein Arbeitsplatz und nicht die Höhe dersozialen Begleitmaßnahmen zur Beschäftigungslosig-keit. Deshalb kommt es im Kern darauf an, eine Politikzu verfolgen, die mehr Beschäftigung in Deutschlandinitiiert.
Die soziale Kompetenz einer Gesellschaft zeigt sich ausder Sicht der Freien Demokraten an der Fähigkeit, Ar-beitsplätze zu schaffen. Dies ist die Priorität. Alles ande-re ist sekundär. Deshalb müßte Ihre Politik auf diesePriorität ausgerichtet sein. Sie müßte Hindernisse bei-seite räumen. Wenn ich nur die Überschriften des Pa-piers lese, das Sie gemeinsam mit Herrn Blair erarbeitethaben, dann weiß ich, daß Sie diese Hindernisse genau-so gut wie ich kennen. Nur, ziehen Sie endlich die Kon-sequenzen daraus.Trotz allem, was noch verbessert werden muß, hatunser Land auf Grund seiner großartigen Infrastruktur,seines hervorragenden Bildungswesens, seiner föderati-ven Grundverfassung und seines großen Garanten fürdie Unabhängigkeit der Rechtsprechung, des Bundesver-fassungsgerichts, alle Chancen, im weltweiten Wettbe-werb zu bestehen, nicht nur wirtschaftlich, sondern auchmental. Aber wir müssen zu Energieleistungen fähigsein, die sich nicht nur auf materielle Anreize konzen-trieren. Ich glaube, daß die Zukunft unserer Gesell-schaft, unseres Volkes auf Grund der deutschen Einheitfür die nachfolgenden Generationen mehr Chancen,mehr Freiheit und mehr Optionen bereithalten wird alsfür jede andere Generation, die in Deutschland gelebthat. Für uns kommt es darauf an, dies beim Wechsel indas nächste Jahrtausend zu stärken, zu untermauern,nach vorne zu bringen und nicht zurückfallen zu lassen.Es besteht die Notwendigkeit, Herr Bundeskanzler,einiges in unserem Bildungssystem zu reformieren, weildie Qualifizierungsfrage d i e soziale Kernfrage desnächsten Jahrtausends ist. Sie müßten Ihren an derLösung dieser Frage beteiligten Genossen klarmachen,daß sie in den Ländern den Ernstfall im deutschenSchulwesen nicht immer hinausschieben können und siesich ein Beispiel an den kürzeren Schulzeiten in denneuen Bundesländern nehmen sollten.
Wir müssen die Kraft haben, den Hochschulen wirklicheAutonomie zu geben, einschließlich Autonomie über dasDienstherrenrecht. Wir müssen in den beruflichen Sy-stemen auch denjenigen, die den hohen theoretischenAnsprüchen in der Berufsausbildung nicht gerecht wer-den, eine Art Zertifikat geben, damit sie überhauptChancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Wir müssen die Tarifvertragsparteien auffordern,über Lohnspreizungen nachzudenken, und zwar nicht,um Lohndumping zu betreiben, sondern um denen, dienicht soviel wie andere können, einen Arbeitsplatz zurVerfügung zu stellen, der für deren Würde besser ist alsSozialhilfe.
Es würde sich lohnen, unseren Arbeitsmarkt zu flexi-bilisieren und die Tarifverträge zu öffnen. Das Tarif-kartell sollte dies schon längst gemacht haben. Sie wis-sen doch, daß in Ostdeutschland eine Verbandsfluchteingesetzt hat, nämlich daß kleine und mittlere Betriebedie Verbände verlassen, weil die Zeiten vorbei sind, indenen Krupp, Hoesch, Thyssen und Daimler-Chryslerbestimmen konnten, welche Löhne zum Beispiel imErzgebirge zu zahlen sind. Die kleinen und mittlerenBetriebe können nicht dieselben Löhne zahlen wie diegroßen. Deshalb muß man ihnen entgegenkommen.
Dies gilt im übrigen auch für Westdeutschland. Es istkein ostdeutsches Problem. Der kleine und mittlere Be-trieb kann heute nicht mehr die Tarifabschlüsse umset-zen, die die großen an ihren Tischen verhandelt haben.Aber der kleine und mittlere Betrieb bildet die meistenJugendlichen aus, zahlt die meisten Steuern, schafft diemeisten Arbeitsplätze und bietet die größten sozialenSicherheiten in Deutschland. Diese Betriebe muß diePolitik begünstigen.
Sie betreiben Privatisierungspolitik zurückhaltend.Sie kritisieren sie eher. Wir sind der Meinung, daß derDr. Wolfgang Gerhardt
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Staat eine solche Politik fördern muß. Eine Privatisie-rungspolitik ist eine Chance für Ostdeutschland. Eineandere sehe ich nicht. In Ostdeutschland gibt es nurdann Arbeitsplätze, wenn dort Leute investieren. Wirmüssen deshalb die Leute einladen, dort zu investieren.Der Staat soll Menschen zum Wettbewerb befähigen.Aber er soll in der Wirtschaft nicht selber als Wettbe-werber auftreten. Darauf kommt es politisch an.
Es geht nicht nur um betriebswirtschaftliche Kennt-nisse, wenn man ein Unternehmen führt. Jeder weißdies. Auch die ökologische Dimension muß notwendi-gerweise bewältigt werden, und zwar nicht am Ende derEntscheidungen; vielmehr muß sie Bestandteil der Ent-scheidungen von Unternehmensführungen sein.Aber auch die Unternehmensführung selbst muß ausdiesem alten Gegensatz von Arbeit und Kapital heraus-treten. Warum haben wir – das gilt auch für die Tarif-vertragsparteien – eigentlich die einzigartige Chance inDeutschland versäumt, den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern in Ostdeutschland von Anfang an eine Ge-winnbeteiligung anzubieten,
um ihnen zu signalisieren, daß es nicht um den altenGegensatz von Arbeit und Kapital geht
und daß sie, wenn sie jetzt Lohnzurückhaltung üben,später beteiligt werden, sobald die Unternehmen Gewin-ne machen? Das wäre doch ein Angebot gewesen, dasdie alte Spaltung in jenem Denken überwindet, das dieGewerkschaften noch heute pflegen. Die Tarifvertrags-parteien sollten sich nicht nur auf eine Reform von Tari-fen verständigen, sondern eine komplette mentale Inno-vation hinsichtlich ihrer bisherigen Verhaltensweisenvornehmen. Es geht darum, Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern eine Perspektive eigener Verantwortungauch in den Unternehmen zu eröffnen.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß es unsgemeinsam gelingen kann, einen erfolgreichen Aufbauin den neuen Ländern herbeizuführen. Das wird dannnicht nur ein Erfolg der neuen Länder, sondern aucheine großartige Chance für uns alle sein. Diese Aufgabekönnen wir bewältigen. Unsere Gesellschaft ist dochnicht dumm. Wir sind zu technischer Höchstleistung fä-hig. Wer will, kann sich in unserem Land bis zur Spitzehin qualifizieren. Wir sind ein verläßlicher Bündnispart-ner. Wir haben eine klare innere Verfassung. Wir stül-pen doch niemandem die Erfolgsgeschichte der altenBundesrepublik Deutschland über, wenn wir 17 Milli-onen Menschen aus Ostdeutschland einladen, ein Stückdieser Erfolgsgeschichte neu zu schreiben.
Meine Damen und Herren, ich habe mit einem Hin-weis von Fritz Stern begonnen. Daran anknüpfend stelleich fest: Wir alle sind zutiefst davon überzeugt, daß derAufbau gelingen kann. Aber warum laufen wir eigent-lich immer dann, wenn es darum geht, diesen Aufbauvoranzubringen, mit betrübten Gesichtern, so verkniffenherum?
Warum sind wir denn nicht in der Lage, den Menschen,die Schwierigkeiten haben, ein Stück Optimismus undZuversicht mitzugeben? Das gehört auch zum politi-schen Umgang in Deutschland.
Nachdem wir nun eine Reihe von Feierlichkeiten undJahrestagen hinter uns gebracht haben, sollten wir – je-der für sich – verabreden, zuversichtlicher, optimisti-scher und verantwortungsbereiter in die Zukunft zugehen und diesen Optimismus auf die Mitmenschenzu übertragen. Sie erwarten das von uns. Wir solltendas auch deshalb tun, weil wir ihnen sagen müssen,daß die Zeiten vorbei sind, in denen von der Politikalles erhofft wurde. Wir haben uns in manchem ver-hoben. Wir wollen ihnen nicht den Eindruck vermitteln,wir könnten alles lösen. Wir schaffen das nur zusam-men. Aber dann müssen wir es auch gemeinsam an-packen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wortnun dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grü-nen.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Das ist eine frohe Aufforderung am Vormittag.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenin diesem Parlament schon viele Debatten zur deutschenEinheit geführt. Auch der vorliegende Bericht ist nichtder erste seiner Art.
Doch ist heute etliches anders; denn die heutige Opposi-tion ist die Regierung von gestern,
und die heutige Regierung war die Opposition. Dassollte eigentlich in einer Demokratie normal sein. Den-noch ist es ein Novum in der Geschichte der Bundesre-publik.Dr. Wolfgang Gerhardt
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Die Ostdeutschen haben zu diesem Regierungswech-sel durch Wahlen wesentlich beigetragen.
Das hat gute Gründe, von denen ich in Ihrer Rede aberleider nichts gehört habe.
Ein bißchen kritische Selbstreflexion würde schon gut-tun. Deswegen sage ich hier ganz deutlich – darüberbrauchen wir uns nicht zu streiten –: über die Grund-linien der Politik des Aufbaus Ost besteht in diesemHaus Konsens, und das ist gut so.Arnold Vaatz, wir haben ja eine vergleichbare Vita.Meinst du ernsthaft, ich stünde auf einer Seite, die derartpolemische Kritik rechtfertigte? Auch im Interesse derStreitkultur wäre es gut, mit Worten nicht das einzurei-ßen, was man mit Taten aufbauen will.
Es ist das erste Mal, daß wir den Bericht zur deut-schen Einheit hier in Berlin, sozusagen mitten im Leben,wenn ich Ihre Devise aufgreifen darf, debattieren. Wirhaben hier die Probleme direkt vor Augen. Deutschlandist wiedervereinigt, und die Nation hat schlechte Laune,heißt eine gängige These, die sich jetzt endlos durchTalk-Shows zieht und in abstrusen Büchern auf denMarkt dringt.Ich finde, zehn Jahre nach der friedlichen Revolutiongibt es keinen Grund für Verdruß und Mißmut.
Trotz kapitaler Anfangsfehler und Verfehlungen, trotzaller Mißtöne und Enttäuschungen ist die Entwicklungfür die Deutschen in Ost und West insgesamt erfolgreichverlaufen.
Weder die glühenden Optimisten noch die ,,Mezzo-giorno!“ rufenden Pessimisten haben recht behalten.
Das muß man sehen. Die deutsche Einheit ist stabil.Niemand will ernsthaft die DDR wiederhaben, selbstdiejenigen nicht, die sie verklären oder im nachhineinschön reden.
Daß sich manche in provozierender Weise die Mauerzurückwünschen, daß solch eine Frage in unseren Medi-en überhaupt immer wieder gestellt wird, finde ich, ehr-lich gesagt, pervers und gedächtnislos.
Wir Ostdeutschen haben in den letzten Jahren Enor-mes geleistet. Das war möglich, weil uns die Westdeut-schen mit Rat, Tat und Geld geholfen haben. Ich binimmer davon ausgegangen, im Gegensatz zu manch an-deren, daß dieser Aufholprozeß eine ganze Generationin Anspruch nehmen wird. Daran gemessen ist der Auf-holprozeß gut vorangekommen, vielleicht aus der Sichtmancher Ostdeutscher noch zu langsam. Aber auf deranderen Seite, aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet, eilendie Löhne und Einkommen der Leistungsfähigkeit vor-aus.Die Befürchtung, ein national aufgeblasenes, groß-spuriges Deutschland könnte entstehen, hat sich nicht er-füllt. Im Gegenteil: Es besteht eher Erleichterung dar-über, daß wir uns im vollen Umfang den europäischenVerpflichtungen stellen und uns in die internationaleVölkergemeinschaft eingebettet haben.
Von außen betrachtet erscheint Deutschland heute alsleistungsstark, wohlhabend und leicht neurotisch. Nichtnur Michail Gorbatschow, sondern auch andere Osteu-ropäer müssen uns gelegentlich daran erinnern, daß sieuns die Sorgen gern abnehmen würden, um mit ihren zutauschen. Das sollte uns zumindest zu denken geben.Das heißt: Wir könnten zufrieden sein. Dennoch sind esoffenbar nicht alle. Dafür gibt es Gründe. Das stellt aberauch ein produktives Potential dar, das es zu nutzen gilt.Niemand hatte 1989 mit der Einheit gerechnet. DerBundeskanzler hat es in seiner Rede nochmals betont: Inder DDR waren wir eher damit beschäftigt, dieses Kür-zel der drei Buchstaben wahrheitsgemäß auszufüllen.Das heißt, um das klar zu sagen: Auch die Bürgerrecht-ler hatten damals die Mauer im Kopf. Sie schien näm-lich u.a. überwindbar. Niemand hat vorhergesehen, wasdann passiert ist. Auf der westdeutschen Seite hatte manein Ministerium für innerdeutsche Fragen, aber keinesfür gesamtdeutsche Antworten. Auch das muß man sicheinmal vergegenwärtigen.
Vielleicht liegt es daran, daß dieser plötzliche Freu-dentaumel nicht in einen Bewußtseinswandel umge-schlagen ist. Heute ist aus diesem Wahnsinn – mit dreioder vier a geschrieben –, diesem plötzlichen Glücksfall,Alltag geworden mit all seinen Mühen, den kleinen Ner-vereien und natürlich auch den kleinen Freuden.Daß sich für die einen so gut wie nichts verändert hatund für die anderen so ziemlich alles, mag manche derSpannungen zwischen Ost und West erklären. Selbstglückliche, chancenreiche Situationen können eben zumenschlicher Überforderung führen. Was angeblich anWerner Schulz
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Jammern und Klagen aus dem Osten gehört wird, istoftmals nichts anderes als Stöhnen unter diesem großenAnpassungsdruck.Nach wie vor gehen im Osten Lage und Stimmungauseinander. Den meisten geht es heute materiell besser.Sie fühlen sich politisch frei, doch sozial unsicher. Diedemokratischen Grundwerte gehören zur Grundaus-stattung. Die Freude darüber wird jedoch getrübt, weildie alten sozialen Sicherheiten weg sind und die neuennoch nicht so recht greifbar oder gewiß sind.Es wurden aber auch sehr schmerzhafte, tiefschnei-dende Erfahrungen gemacht. Nachdem die Ostdeutschenfür einen kurzen historischen Moment ihr Geschick indie eigenen Hände genommen hatten, mußten sie späte-stens nach der Währungsunion feststellen, daß wiederanderenorts über ihr Schicksal entschieden wurde. VieleVorgänge der Treuhand blieben so undurchsichtig wiedie Vorgänge in der Staatlichen Plankommission.
Viele Hoffnungen gingen nicht auf, zum Beispielkonnte eine größere Zahl industrieller Kerne nicht in dieMarktwirtschaft gerettet werden. Es kam an vielen Stel-len völlig anders. Kein Großkonzern hat heute seinenSitz in einem ostdeutschen Land. Die Dresdner Bankblieb am Main, die Gothaer Versicherung in Köln – ichkönnte die Reihe endlos fortsetzen.Ich will mich über den Ausdruck „blühende Land-schaften“ nicht streiten. Ich möchte nur Hans D. Barbiervon der „FAZ“ zitieren. Er spricht von Landschaften imZwielicht. Er meint: Es gibt weder flächendeckendeblühende Landschaften noch ausgeweitete Sozialbra-chen. Der Osten ist in einer ambivalenten Situation:Einerseits hat er eine materielle Verbesserung erlebt,andererseits ist die Wirtschaftsstruktur noch nicht indem Maße ausgebaut, wie es sein müßte.Wie gespalten unser Land noch ist, zeigt uns eigent-lich tagtäglich die Arbeitslosenstatistik. Solange wir imOsten noch eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit haben,erleben wir, wie prekär das Problem ist. Dort fehlen et-wa 2 Millionen Arbeitsplätze. Ich sage das, um uns dieDimension des Aufbaus Ost immer wieder vor Augen zuführen.
Es gibt keinen Grund, beim Aufbau Ost einen Gangzurückzuschalten. Die Bundesregierung wird den Auf-bau Ost stetig und verläßlich auf hohem Niveau undauch mit neuer Qualität weiterführen.
– Selbstverständlich, worauf sollten Sie sonst Hoffnungbegründen? – Es hätte wenig Sinn, die Grundlinien die-ser Förderung zu verändern. Wie gesagt, beim AufbauOst stehen Kontinuität und Verläßlichkeit im Vorder-grund. Neue Akzente sind beispielsweise durch das Pro-gramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ge-setzt worden. Der Bundeskanzler hat betont, daß diesesProgramm dem Osten überproportional – zu über 40Prozent – zugute kommt. Es hat dazu beigetragen, daßman die Jugendarbeitslosigkeit und auch die Perspek-tivlosigkeit in der Ausbildung angegangen ist.Ich spreche bewußt auch den Inno-Regio-Wettbe-werb an. Es handelt sich dabei um eine wirklich hervor-ragende Initiative, an der sich über 400 Regionen betei-ligt haben. 25 Regionen sind in der letzten Woche prä-miert worden. Aus den Regionen sind kreative Poten-tiale gekommen. Traditionelle Bereiche sind revitalisiertworden. Wie die Aufbauförderung neu angegangen wer-den kann, ist eine ganz tolle Sache.
In diesen Tagen, in denen wir den Mauerfall feiern,will ich deutlich machen, daß eine virtuelle, eine unterHochspannung stehende Barriere gefallen ist. Ich meineden geteilten Strommarkt, den es in diesem Land nochimmer gab. Die sogenannte Lex VEAG bedeutete, daßman im Osten höhere Strompreise als im Westen erhe-ben konnte. Wir haben jetzt eine Lösung gefunden, diesowohl die Zukunft der VEAG als auch die des ostdeut-schen Braunkohletagebaus sichert. Die damit verbunde-nen Wettbewerbsnachteile für den Standort Ost stam-men nicht von der SED; vielmehr sind sie von der altenBundesregierung geschaffen worden. Es ist eine wirk-lich großartige Leistung der jetzigen Regierung, dieseWettbewerbsnachteile beseitigt zu haben.
Man muß den Ostdeutschen nicht erzählen, wasMarktwirtschaft ist; vielmehr werden sie durch die Be-seitigung der Wettbewerbsnachteile an der Marktwirt-schaft beteiligt. Sie erleben Wettbewerb nicht nur in derZeitung oder auf Plakaten, auf denen gelber oder grünerStrom angeboten wird; vielmehr können sie sich unmit-telbar beteiligen.Offensichtlich möchte sich jetzt der Kollege Lutherbeteiligen.
Kollege Schulz, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Luther?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja.
Sehr geehrterKollege Schulz, ich möchte Ihnen eine Zwischenfragestellen, die sich auf den Strommarkt bezieht. Sie habender alten Bundesregierung soeben in die Schuhe gescho-ben, daran schuld zu sein, daß die VEAG momentanWettbewerbsnachteile erleidet. Meines Erachtenskommt es jetzt durch die hohen Investitionen und durchdie Modernisierung der Kraftwerke zu einem verstärktenAbschreibungsdruck. Das ist der wesentliche Grund fürdie derzeitigen Probleme, die in wenigen Jahren gelöstWerner Schulz
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sein werden. Ich glaube, daß die alte Bundesregierunggenau richtig gehandelt hat. Die Kraftwerke mußten sa-niert werden. Die geleistete Hilfe ist schon gut. WertenSie das genauso?Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Kollege Luther, ich bestreite den Investiti-onsbedarf der VEAG und die sich daraus ergebendenSchwierigkeiten nicht. Bloß rechtfertigt das andererseitsheute überhaupt nicht mehr, daß man im Osten höhereStrompreise bezahlen muß. Höhere Strompreise sind ingewisser Weise auch eine Investitionsbarriere.
Wenn ich in Ihren Anträgen lese, daß Sie die Öko-steuer für den Osten abschaffen möchten und damit imOsten im Grunde genommen ein Sondergebiet einrich-ten wollen, dann frage ich mich, warum Sie sich nichtdarüber freuen, daß wir dieses Sondergebiet nivellieren,daß wir Wettbewerb und einen einheitlichen Strommarktin Deutschland schaffen. Das Erreichen dessen, was Sieacht Jahre nicht geschafft haben, liegt doch eigentlich inIhrem Interesse.
Ich will auch der Behauptung entgegentreten, daß dasSparpaket zu Lasten des Ostens geschnürt worden sei.Dies kann man in gar keiner Weise belegen, weil derAufbau Ost auch für die jetzige Bundesregierung Prio-rität hat und von ihr als eine vorrangige Aufgabe ange-sehen wird. Gerade im Interesse von Ostdeutschlandliegt es, daß dieses Zukunfts- und Sparprogramm durchden Bundesrat kommt. Ich hoffe, daß auch dieCDU/CSU-geführten Bundesländer im Osten sich dieserVerantwortung bewußt sind und ihm zustimmen. DerWesten kann besser mit einer Ablehnung leben, weil dieanspringende Konjunktur und die Exportstärke ihm eherals dem Osten die Chance geben, von der Weltkonjunk-tur zu profitieren.Auch wenn darüber kritisch diskutiert wird, steht fest:Dem Staatsminister Schwanitz ist es mit der Neuformu-lierung der Systematik zur Ostförderung endlich ge-lungen, beim Aufbau Ost Äpfel und Birnen auseinan-derzuhalten; die alte Bundesregierung hat immer alleszusammengezählt, um möglichst hohe Transfersummenauszuweisen. Wir haben zum erstenmal wirklich eineklare, übersichtliche, ehrliche und wahrheitsgemäße Sy-stematik
und wissen, was wirklich in den Aufbau Ost fließt.
Im Rahmen der anstehenden Neuordnung der Finanz-beziehungen zwischen Bund und Ländern werden wirdie finanziellen Grundlagen für die weitere Angleichungder Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sichern. DieBundesregierung und die sie tragenden Fraktionen wer-den rechtzeitig eine Anschlußregelung für das FöderaleKonsolidierungsprogramm beschließen.Heute wird das Bundesverfassungsgericht über dieKlagen von Baden-Württemberg, Hessen und Bayernzum Finanzausgleich entscheiden. Unabhängig davon,wie das Urteil ausfallen wird, besteht beim Länderfi-nanzausgleich über die Anschlußregelung für den Soli-darpakt hinaus Handlungsbedarf. Das Verhältnis zwi-schen Solidarität und Wettbewerb zwischen den Län-dern muß neu austariert werden. Es gibt schon langeZweifel daran, ob die Bundesländer in ihrer jetzigenGröße und Form auf mittlere Sicht in der Lage sind, ihreAufgaben auch und gerade in finanzieller und wirt-schaftlicher Hinsicht zu erfüllen.Ost und West befinden sich längst in einem gemein-samen Wirtschaftskreislauf. Auch im Westen – selbstwenn das einem nicht immer bewußt ist – ist man daraufangewiesen. Ein dauerhaftes Zurückbleiben des Ostenswürde zu Überlastungen des Westens führen. Umge-kehrt gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen,daß eines Tages die modernen Wirtschaftsregionen desOstens einen Beitrag zur Sanierung der alten Industrie-regionen im Westen leisten könnten.Im Osten vollzieht sich ein Strukturwandel, den derWesten erst noch vor sich hat. Dazu gehört die Umge-staltung von Industriebereichen, die keine staatlichenSubventionen mehr retten können. Hier vollzieht sichanschaulich der Übergang in die Dienstleistungs-, Wis-sens- und Informationsgesellschaft. Es ist sicherlich keinZufall, daß gerade in Ostdeutschland verstärkt die Frageauftaucht, weshalb ein Ladenschlußgesetz, das völligüberflüssige Vorschriften enthält, nicht einfach abge-schafft oder zumindest gelockert werden kann. Wie fitist ein Land für die Zukunft, das seinen Bürgern dieEinkaufszeiten vorschreibt, aber generelle Geschwin-digkeitsbegrenzungen auf Autobahnen für unnötig er-achtet?
Ich möchte auf die Themen innere Einheit und so-ziale Gerechtigkeit eingehen, die man nicht mit soziali-stischer Gleichheit verwechseln sollte. Da irrt sich Gre-gor Gysi gewaltig. Er hat im Bundestag schon des öfte-ren sein Zielfoto der inneren Einheit vorgestellt, dasauch bei seinen Zuhörern gut ankommt. Er sagte, die in-nere Einheit sei erst dann abgeschlossen, wenn es aufSylt genauso viele ostdeutsche Millionäre wie west-deutsche Millionäre auf Rügen gebe. Das klingt phanta-stisch, man kann darüber lachen. Es schließen sich daranallerdings einige Fragen an: Warum gibt es eigentlichkaum ostdeutsche Millionäre? Als einziger fällt mirSchalck-Golodkowski ein; der residiert allerdings nichtauf Sylt, sondern am Tegernsee.
Aber möchte Gregor Gysi wirklich, daß es in Ost-deutschland vergleichbar viele Millionäre wie in West-deutschland gibt? Ist er wirklich bereit, eine Wirtschafts-Dr. Michael Luther
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und Sozialpolitik mitzutragen, die vielen Ostdeutschendie Chance gibt, Millionär zu werden? Ist das die Formvon sozialer Gerechtigkeit, die uns die PDS demnächstverkünden wird? Oder möchte er sein Ziel durch kon-fiskatorische Besteuerung der westdeutschen Millionäreerreichen?All diese flotten Agitpropsprüche, die dem Ostenweismachen sollen, man sei der Verlierer der Einheit,ziehen nicht so richtig. Denn jeder weiß doch, wie dieVerhältnisse in Ostdeutschland damals ausgesehen ha-ben. Die Leute mußten heiraten, um eine Wohnung zubekommen. Heute würde man vielleicht einen Trabi be-kommen, wenn man 1989 eine Anmeldung abgegebenhätte, statt die Mauer zu beseitigen.
Wir sollten das nicht vergessen. In der Bankrotterklä-rung der Staatlichen Plankommission vom 27. Oktober1989 steht:Allein ein Stoppen der Verschuldung würde imJahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregier-bar machen.Man muß sich merken, in welchem Zustand die DDRwar. Zehn Jahre später will nämlich die PDS den Leutenim Osten einreden, sie hätten quasi einen Rechtsan-spruch auf Westlöhne. Es liegt doch auf der Hand, daßjedes Prozent Lohnangleichung die Wettbewerbsfähig-keit des Ostens vermindert und es schwerer macht, dieArbeitslosigkeit zu bekämpfen. Für die PDS ist dies na-türlich kein Problem. Sie pumpt neues Geld in denzweiten Arbeitsmarkt. Das wiederum holt sie sich vonden Millionären auf Rügen oder Sylt. So kommt mander sozialen Gerechtigkeit und möglicherweise auch denalten Zuständen wieder näher.
Natürlich ist es für viele schwer zu verstehen und zuakzeptieren, warum im öffentlichen Dienst noch Unter-schiede gemacht werden, wo Kollegen aus Ost und Westdenselben Arbeitgeber haben, am selben Ort die gleicheArbeit machen. Dennoch ist es eine Zeitlang nötig,glaube ich, mit diesen Widersprüchen zu leben. Sie sindweitaus erträglicher als Unterschiede, die wir früher er-tragen mußten.Es ist nämlich demagogisch, zu behaupten, daß dieOstdeutschen Bürger zweiter Klasse sind. Bürger zwei-ter Klasse gab es zu SED-Zeiten.
Da war fast ein halbes Volk Bürger zweiter Klasse,nämlich diejenigen, die kein Westgeld hatten, um inden Intershops einzukaufen, die keinen Reisepaß inder Tasche hatten, um das Land gelegentlich zu ver-lassen und nach Westberlin zu gehen. Das waren alldiejenigen, die benachteiligt waren, die waren tatsäch-lich Bürger zweiter Klasse. Ich habe nie so einschnei-dende Privilegien erlebt wie die in der DDR für die No-menklatura.
– Ich weiß, daß es Ihnen nicht gefällt, aber ich denke,Sie wollen sich mit Ihrer Vergangenheit auseinanderset-zen. Nun helfe ich Ihnen und gebe Ihnen ein paar Stich-worte; jetzt ist Ihnen das auch wieder nicht recht.
Während die PDS das Lied singt, es sei nicht allesschlecht gewesen – darüber kann man diskutieren –, ha-be ich eine neue Melodie in den Medien gehört. Diekommt von Wolfgang Schäuble, der sagt: Es ist nichtalles gut gelaufen, was wir im Zuge des Einigungsver-trages gemacht haben. Das ist spannend, das finde ichhochinteressant. Herr Schäuble, vielleicht hätten wirdarüber schon früher reden können. Damals habe ich nurKrauses Zeug verstanden und gehört.
Wenn es noch ernsthaft eine Möglichkeit gäbe, überDinge zu reden, was man einfach nur übergestülpt hatteund welche Folgen es hatte, wenn wir dann nicht nurbeim grünen Pfeil und dem seligen Andenken an Poli-kliniken landen – Angela Merkel, wir müssen uns danicht agitieren.
– Es gibt natürlich Erfahrungen, die wir hätten nutzenkönnen, zum Beispiel die Diskussion, die wir jetzt in derRentenversicherung führen. Es gab im Osten durchausdas Bewußtsein dafür, daß man einen privaten Anteilerbringen muß, wenn man eine bessere Altersfürsorgehaben will. Der freiwillige Zusatz zur Rentenversiche-rung ist zumindest eine Sache, die im Kopf war. Ichnenne auch die Lohnangleichung im Krankheitsfall –
Das sind Probleme – ich bin da vollkommen offen –,über die man reden muß. Man muß aber auch über dieAbschaffung kirchlicher Feiertage zum Zwecke derSozialpolitik sprechen. Die DDR hat nämlich, um diearbeitsfreien Samstage einzuführen, die kirchlichen Fei-ertage abgeschafft. Daß ich erleben mußte, daß das imWesten aus sozialpolitischen Gründen noch einmal ge-schah, hat mich doch leicht geschockt.
– Sachsen hat es anders gemacht. Aber die Bundesre-gierung, Wolfgang Schäuble, haben Sie damals gestellt.
Werner Schulz
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Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäu-
ble?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Bitte.
Herr KollegeSchulz, nur um der historischen Wahrheit willen will ichfragen: Sind Sie bereit, zuzugestehen, daß bei der Ein-führung der Pflegeversicherung die damalige Bun-desratsmehrheit, bestehend aus SPD-regierten Ländern– teilweise haben die Grünen mitregiert –, jede andereKompensation als die Streichung von Feiertagen abge-lehnt hat
und daß wir zweitens als Bundesgesetzgeber den Lan-desgesetzgebern die Wahl gelassen haben,
ob sie Feiertage abschaffen oder ob sie die Beitragsbela-stung durch die Pflegeversicherung zwischen Arbeitge-bern und Arbeitnehmern hälftig verteilen wollen? Ihreeben getroffene Aussage, es sei der Bundesgesetzgeberund damit die damalige Mehrheit gewesen, die die Fei-ertage im Westen abgeschafft haben, ist falsch.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Sie haben den Bundesländern natürlich die Wahlgelassen; anderenfalls hätten wir ja keine unterschied-liche Regelung. Daß beispielsweise Sachsen diesemWeg nicht gefolgt ist, finde ich in Ordnung – überhauptkeine Frage. Aber daß Sie als Christlich DemokratischeUnion die Abschaffung von kirchlichen Feiertagen alsKompensation ins Spiel gebracht haben, ist für mich ei-ne Enttäuschung, die Sie bei mir auch mit einer weiterenZwischenfrage nicht tilgen können.
Wenn wir schon über solche Fragen reden, dann müs-sen wir auch darüber sprechen, wie wir die Einheit vo-rangetrieben haben.
Nach wie vor fehlt unserem vereinten Volk ein konsti-tutioneller Grundakt, eine gemeinsam erfahrene Grund-legende. Ich glaube, es wäre besser gewesen, wir hättendie Wiedervereinigung nicht in Form eines Beitrittesdurchgeführt, sondern so, wie es Art. 146 des Grund-gesetzes immer schon vorgesehen hatte, nämlich daßsich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eineVerfassung gibt. Das hätte uns auch politisch näher zu-sammengebracht.
Weil uns diese Erfahrung fehlt, bleibt sozusagen einWebfehler im vereinten Deutschland.Bei aller Einheit in Vielfalt – ich schätze diesenReichtum an Vielfalt in unserer Gesellschaft; wir brau-chen ihn – müssen wir aufpassen, daß wir das Feld derNation nicht denen überlassen, die es schon zweimal indiesem Jahrhundert in einen Blutacker verwandelt ha-ben. Wenn man sich die Rechtsradikalen anschaut, diemit ihrem nationalistischem Gehabe versuchen, sich anjunge Menschen heranzumachen, dann müssen wir imHinblick auf die nationale Identität aufpassen; dennneben der durch die Vereinigung gewonnenen formalenund staatlichen Souveränität brauchen wir in einer ge-wissen Weise auch eine nationale Identität. Aber wirbrauchen keinen nationalen Überschwang und auch kei-ne Flucht nach Europa. Früher gab es den „Bericht zurLage der Nation“. Vielleicht kommen wir wieder dahin,daß wir das vereinte Deutschland als Nation – und zwarals Nation in Europa – begreifen.Für mich war nicht das fehlende Glockengeläut an-läßlich der Vereinigung ärgerlich, sondern eher das feh-lende Gespür für demokratische und für nationale Sym-bole und deren einheitsstiftende Wirkung. Das fängt beider Nationalhymne an; ich teile Ihre Bevorzugung,Herr Bundeskanzler. Auch mir wäre ein einheitlicherText lieber gewesen, anstatt daß die Rechten mittler-weile die erste Strophe und die Demokraten in diesemLand die dritte Strophe singen. „Anmut sparet nichtnoch Mühe“ wäre auch ein gutes Motto für unsere Re-gierung.
– Die Mühe machen wir uns, und an Mut fehlt es auchnicht.Daß uns die Geschichte nicht losläßt und sogar wie-der einholt, können wir doch auch an der im Vorfeld sokritisch diskutierten Veranstaltung zum 9. Novembererkennen. Eigentlich ist der 9. November der Tag derWiedervereinigung – als nämlich die Deutschen in Ost-und Westberlin die Mauer gestürmt haben. Dieser Tagund nicht der 3. Oktober ist in den Herzen und in denKöpfen der Menschen als der Tag der Einheit.
Daß wir eine vorgezogene Einheitsfeier hatten, hängtdoch damit zusammen, daß wir diese beiden Tage per-manent verwechseln. Der 9. November ist unser eigent-licher Schicksalstag; er zieht sich von 1848 bis 1989 mitall seinen trüben und schlimmen Kapiteln, aber auch mitseinen freudigen Momenten durch unsere Geschichte.Wir werden möglicherweise nie eine Nation wie die
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Franzosen werden, die auf den Straßen tanzt. DiesesVerhalten geben unsere Mentalität und unsere Geschichtenicht her. Aber wir haben Grund zur Freude und zurHoffnung. Vielleicht gelingt es uns doch noch, diesen Tagzu einem nationalen Gedenkfeiertag zu machen.
Ich will zum Abschluß meiner Rede noch einen Ge-danken äußern. Mich stört der Begriff von der Mauerim Kopf. Ich halte davon nicht viel. Ich habe das ein-gangs erwähnt: Die Mauer im Kopf war etwas anderes;sie hatte etwas mit dem realen Bestand dieser Mauer zutun. Heute geht es mehr um das Brett vor dem Kopf, ha-be ich den Eindruck.
Wenn man sich das genauer anschaut, ist das eine dop-pelseitige Pinnwand, auf der beiderseits die Vorurteileund Vorwürfe angeheftet werden. Wir haben die wirkli-che Mauer abgetragen, jetzt sollten wir auch diese Zettelherunterreißen. Wir sollten wieder mehr miteinander insGespräch kommen.
Die Deutschen in Ost und West haben in einer Ni-schengesellschaft gelebt. Die Zeit dieser Abschottung istvorbei; die Zeit vor und hinter der Mauer ist Vergangen-heit. Wir bekommen das in Berlin deutlich zu spüren.Die politische Generation des Mauerfalls muß es lernen,mit den heutigen Problemen und Konflikten zu lebenund sie zu lösen. Heute geht es nicht mehr nur darum,die innere Einheit zu vollenden, sondern wir müssen unseine gemeinsame Zukunft erarbeiten. Das ist die Aufga-be, vor der die jetzige Bundesregierung, aber auch dieOpposition steht und die wir lösen müssen. Wir müssendaher den Dialog wiederbeleben. In der Gesellschaft undder Politik ist es besser, miteinander als übereinander zusprechen. Vielleicht war die erweiterte Redeliste am 9.November ein bescheidener Anfang dazu.
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Zunächst, Herr Vaatz, zu Ihrer Redeeine Bemerkung. Ich finde, daß Sie in der DDR eineBiographie hatten, die Respekt fordert und keine Häme,auch nicht in diesem Hause.
Ich finde aber andererseits, daß Sie inhaltlich eine Redegehalten haben, die uns in der Frage der Einheit wirklichnicht voranbringt.
Ganz im Gegenteil: Sie war durch das Denken des kal-ten Krieges und durch zum Teil unbegründete Vorwürfe,übrigens in alle Richtungen der Gesellschaft, geprägt.Das bringt eigentlich nie etwas.Herr Struck, Sie haben uns vor Nostalgie gewarnt.Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Wir nehmen dieseWarnung auch an. Wir haben uns allerdings in Wirk-lichkeit von Anfang an für einen differenzierten Um-gang mit der Geschichte, für eine Anerkennung auchder Lebensleistung der Ostdeutschen ausgesprochen.Das hat auch der Bundeskanzler heute hier getan unddamit übrigens eine Uraltforderung der PDS aufgenom-men.Wenn Sie hier den Fall der impfgeschädigten Frauenerwähnen, ist das aus zwei Gründen ungerecht. Erstensist die Art ungerecht, wie Sie das gemacht haben. Siehaben nämlich so getan, als ob ein solcher Impfschadennur in der DDR hätte entstehen können. Das ist natürlichfalsch; das wissen Sie. Den gibt es in allen Ländern,auch in der Bundesrepublik. Ich will gar nicht an Con-tergan etc. erinnern.Schlimmer ist, daß damit nicht offen und öffentlichumgegangen wurde und daß die Entschädigungen vielzu gering waren. Das ist das, was man scharf kritisierenmuß. Deshalb haben sich diese Frauen übrigens auch andie PDS gewandt. Wir haben diesbezüglich ganz ent-schieden ein Handeln der alten Bundesregierung gefor-dert.Herr Gerhardt, bei Ihnen ist mir etwas aufgefallen,worüber man in Zukunft wirklich gründlich diskutierenmuß. Sie haben von der Freiheit und der Unbequem-lichkeit der Freiheit gesprochen und davon, daß mansich auf bestimmte Sicherheiten nicht so verlassen kön-ne wie in einer nicht freien Gesellschaft. Ich denke, esist ein Kernproblem, daß Sie das alternativ behandeln.Das hat auch die DDR gemacht, natürlich in umgekehr-ter Richtung. Sie hat immer gesagt, eine bestimmte so-ziale Sicherheit, eine bestimmte soziale Gerechtigkeitverhindere nun einmal eine bestimmte Freiheit, die dieLeute sich vorstellten. Sie sagen den Leuten nun, einebestimmte Freiheit verhindere nun einmal eine be-stimmte soziale Gerechtigkeit und eine bestimmte so-ziale Sicherheit, die die Leute sich vorstellten.
Ich finde es schon im Ansatz falsch, das alternativ zudenken.
Im Grunde genommen geht es darum, soziale Gerech-tigkeit, soziale Sicherheit und Freiheit miteinander zuverbinden, statt sie einander gegenüberzustellen.
Er hat auch noch gesagt, unsere Gesellschaft müsse inder Lage sein, einzigartige Begabungen zu fördern. Aber– das müssen Sie zugeben – darin war die F.D.P. in denletzten Jahren auch kein Vorbild.
Ich räume aber ein, daß das durchaus eine Aufgabe ist.Werner Schulz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6127
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Herr Schulz, nun zu Ihnen: Erstens. Was flotte Agit-prop-Sprüche betrifft, würde ich mit Ihnen nie die Kon-kurrenz aufnehmen. Ich finde, da sind Sie führend.
Zweitens. Sie verklären die DDR. Sie haben doch be-hauptet, wenn einer 1989 einen Antrag auf einen Tra-bant gestellt hätte, würde er ihn heute bekommen. Siemeinen also im Ernst, daß er ihn nach zehn Jahren hätte.Da kennen Sie die Fristen der DDR nicht. Die lagenimmer zwischen 14 und 16 Jahren.
– Selbst in Berlin dauerte es länger.Das eigentliche Problem ist etwas anderes: Sie stellensich hier allen Ernstes hin – Sie müssen sich einmalüberlegen, was Sie da erzählen –, ziehen ein Zitat vonmir heran und lassen natürlich die beiden anderen Aus-sagen von mir weg. Ich habe nämlich damals im Bun-destag gesagt, Voraussetzung für die Einheit ist, daßman für die gleiche Leistung den gleichen Lohn be-kommt und daß man es als normal und nicht als absurdempfindet, daß auch einmal ein Ostdeutscher bzw. eineOstdeutsche Ministerpräsident bzw. Ministerpräsidentinin einem alten Bundesland wird und nicht nur der umge-kehrte Vorgang denkbar ist. Das waren zwei wichtigeAussagen.
Dann – das gebe ich zu – habe ich den von Ihnen zi-tierten flotten Spruch mit Sylt gemacht, wobei es mirnicht um das Einkommen ging, sondern darum, deutlichzu machen, welche sozialen Unterschiede bestehen. Sieaber behaupten hier allen Ernstes, es gebe in dieser Ge-sellschaft keine Menschen zweiter Klasse, die habe esin der DDR in großem Umfang gegeben. Unter welchemRealitätsverlust leiden Sie eigentlich inzwischen, HerrSchulz?
Glauben Sie im Ernst, daß die alleinerziehende Sozi-alhilfeempfängerin in Kreuzberg mit zwei oder dreiKindern wirklich glaubt, sie lebe in derselben Klassewie der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank?Welche naiven Vorstellungen haben Sie eigentlich? Hiergibt es wirklich riesige Unterschiede. Wenn Sie die nichtmehr wahrnehmen können, dann tut es mir wirklich leid.
Herr Bundeskanzler, zu Ihrer Rede möchte ich sagen:Ich fand sie im Unterschied zu früheren Reden eines an-deren Bundeskanzlers im Zusammenhang mit der deut-schen Einheit sehr viel differenzierter. Ich habe vielesgehört, dem ich zustimmen kann, zweifellos aber nichtallem. Ich muß auch sagen: Sie sind überall dort, wo esnotwendig gewesen wäre, sehr konkret zu werden, sehrallgemein geblieben. Der Umgang mit dem von IhnenGesagten wird dadurch schwierig, weil bestimmteGrundsatzerklärungen, wie man die Dinge sehen sollte,noch auf ihren Gehalt geprüft werden müssen, wenn esum die konkrete Umsetzung geht.Sie haben gesagt, wir sollten nicht zurückschauen,sondern in erster Linie nach vorne, haben dann aber sel-ber zurückgeschaut. Ganz wird man dies auch nichtvermeiden können.Über eines freue ich mich: Ich finde, daß die Jubilä-umsveranstaltung, die wir hier am 9. November 1999hatten, von der Gesamttendenz her den Eindruck ver-mittelt hat, als ob die Mauer in Moskau, in Washingtonund in Bonn geöffnet worden ist. Sie haben das heute inIhrer Rede richtiggestellt. Das war meines Erachtensdringend notwendig.
Im Zusammenhang mit der deutschen Einheit möchteich aber auf ein Problem hinweisen, das so nie benanntworden ist und das den Unterschied zu den osteuropäi-schen Ländern ausmacht. Dort sind die sozialen undwirtschaftlichen Bedingungen viel schwieriger. Die rei-che Bundesrepublik konnte in den neuen Bundeslän-dern eine Menge abfangen. Das alles ist wahr. Dieosteuropäischen Länder mußten aber mit den vor-handenen Strukturen, mit der vorhandenen Wirt-schaft, der vorhandenen Elite und der vorhandenenLandwirtschaft, umgehen. Sie haben auf dieser Basisihre Reformen eingeleitet. Als die DDR zur Bundes-republik kam – das werfe ich niemanden vor; das ist ei-ne Tatsache –, brauchte die Bundesrepublik Deutschlandaus der DDR existentiell nichts. Das ist ein riesiges Pro-blem gewesen.
Damit ist man, wie ich finde, nicht besonnen genugumgegangen. Denn wenn ein anderes Land aus der DDRexistentiell nichts brauchte, dann ist die Folge davon,daß vieles dichtgemacht wird und daß man im Hinblickauf das, was erhalten bleibt, immer das Gefühl hat – dasist ein psychologisches Problem –, es sei ein Akt derGnade, aber keine Notwendigkeit, nach dem Motto:Kinder, wir können denen jetzt nicht auch noch dieHumboldt-Uni dichtmachen, also lassen wir sie beste-hen. Aber die Akademie der Wissenschaften und andereEinrichtungen wurden natürlich geschlossen. Das istwirklich ein Problem, das ich aber niemandem vorwerfe.Wir sind damit jedoch nie richtig umgegangen.Das hatte natürlich Folgen. In den osteuropäischenLändern sind die künstlerischen, die wirtschaftlichen,die technischen und die wissenschaftlichen Eliten über-nommen worden. Die meisten Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler der DDR sind entlassen worden. Undsoweit Einrichtungen nicht dichtgemacht worden sind,sind die Führungskräfte fast alle durch Führungskräfteaus den alten Bundesländern ersetzt worden – nicht nurin der Politik, auch in der Wissenschaft. Die, die ge-kommen sind, waren nicht immer erste Klasse. Es warauch eine Menge Mittelmaß dabei, Leute, für die mankeine richtige Verwendung mehr hatte. Ich habe ja Ver-ständnis dafür: Es gab in der alten Bundesrepublik einDr. Gregor Gysi
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Problem der angestauten Kader, das partiell über dieneuen Bundesländer gelöst wurde.
All das muß man der Ehrlichkeit halber hinzufügen.
Es sind viele Unternehmen dichtgemacht worden, dieam Markt sicherlich keine Chance gehabt hätten. Aberviele sind eben auch aus Konkurrenzgründen oder ein-fach aus Nachlässigkeit dichtgemacht worden. DieWahrheit besteht hier nie aus nur einer Aussage; manmuß immer mehrere Dinge betrachten.Ich habe über den Wissenschafts- und den Kulturbe-reich gesprochen. Lassen Sie mich noch etwas zur Kul-tur sagen: Sie müssen verstehen, daß in Ostdeutschlandandere Fragen gestellt werden. Gerade wenn man hierim Bundestag jeden Tag erklärt, wie verschuldet dieDDR war und wie marode ihre Wirtschaft war, dann istes sehr schwer, den Leuten zu erklären, wieso diese ma-rode DDR noch in der Lage war, in Suhl ein Sympho-nieorchester zu finanzieren, während sich die reicheBundesrepublik Deutschland außerstande sieht, dies zutun.
Die Leute werden doch wenigstens nachfragen dürfen.Natürlich hängt das auch damit zusammen, daß dieStruktur anders war; das ist mir schon klar. Aber für unsbedeutet das, daß solche Probleme gelöst werden müs-sen.Herr Struck, das, was Sie hier zum Prinzip „Rückga-be vor Entschädigung“ gesagt haben, gefällt mir über-haupt nicht. In anderen Punkten des Einigungsvertrages,die der SPD sehr wichtig waren – ich nenne nur dasVermögen von Parteien und Massenorganisationen –,sind Sie zum damaligen Bundeskanzler gegangen undhaben gesagt: Wenn das nicht geändert wird, dannstimmen wir dem Einigungsvertrag nicht zu. Aber in be-zug auf das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ sindSie nicht zum Bundeskanzler gegangen, sondern habennur eine Protokollerklärung dazu abgegeben. Sie habendies durchgehen lassen, und deshalb haften Sie für die-ses Prinzip genauso wie die damaligen Koalitionsfrak-tionen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie möchten,daß in Zukunft niemand mehr fragt, ob jemand aus demOsten oder dem Westen komme, sondern daß jeder nachseiner Leistungsfähigkeit, nach seiner Bereitschaft be-wertet wird – in der Gesellschaft, in der Wirtschaft undin der Politik. Ich halte dies für einen guten Ansatz, wei-se Sie aber darauf hin, daß wir davon noch meilenweitentfernt sind.Ich will ein Beispiel nennen – dafür sind Sie nichtverantwortlich –, um das Problem deutlich zu machen:Wenn Sie sich heute in Bayern für den öffentlichenDienst bewerben, bekommen Sie einen Fragebogen.Danach müssen Sie zunächst mitteilen, ob Sie irgend-wann in Ihrem Leben einmal einer linksextremistischenPartei oder Organisation angehörten. Durch eine kleineZahl werden Sie auf eine Anlage verwiesen, in der Ihnenmitgeteilt wird, welche linksextremistischen Organisa-tionen es gibt, in denen Sie gewesen sein könnten. Diesmüssen Sie ausfüllen, und dann sind Ihre Chancen fak-tisch gleich Null; denn unter Mitgliedschaft in einerlinksextremistischen Organisation – darüber würdenselbst Sie sich wundern, Herr Vaatz – fällt auch die Zu-gehörigkeit zum FDGB, also zum Freien DeutschenGewerkschaftsbund der DDR, und zum Verband derKleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter. Sie müssenankreuzen, wenn Sie jemals dort Mitglied waren. Dannkönnen Sie Ihre Bewerbung als Archivar aber gleichvergessen.
Das ist keine Gleichbehandlung, sondern das heißt:Du bist einfach chancenlos. Es mag zwei, drei DDR-Bürger gegeben haben, die nun wirklich in keiner dieserOrganisationen waren. Aber das ist wirklich eine solcheMinderheit, daß Sie das im Grunde vergessen können.Wenn jemand einen solchen Fragebogen liest, sind fürihn ganz viele Fragen schon beantwortet. Er hat plötz-lich das Gefühl: Es geht gar nicht um die politische Eli-te, sondern um mich, um die Diskreditierung meinesLebens, und das allein, weil ich im FDGB oder im Ver-band der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter war.Man muß sich einfach einmal überlegen, was das be-deutet. Ich könnte Ihnen noch weitere solcher Beispielenennen.Das Problem der Bezahlung im Osten wird immernegiert. Es geht doch nicht nur darum, daß das Ver-hältnis von Lohn, Gehalt und Einnahmen mit demder Preise übereinstimmen müsse. Niemand hat dochdie Entwicklung der Preise gestoppt. Die Preise imOsten betragen 100 bis 110 Prozent, die Einnahmenbetragen aber eben 60 bis 80 Prozent; im industriellenGewerbe nur 65 Prozent. Da nutzen auch keine Ver-gleiche mit anderen Ländern. Es ist doch ganz logisch,daß die Leute in erster Linie im eigenen Land Verglei-che anstellen, vor allem wenn es um die innere Einheitgeht.
Ich habe einmal eine Arztrechnung mitgebracht; diesemacht es ganz deutlich. Wenn meine Tochter im OstteilBerlins zur Kinderärztin geht, dann bekomme ich eineAbrechnung, in der die Kosten aufgelistet sind. Daruntersteht: abzüglich 14 Prozent Ostrabatt. In jede Rechnungmuß die Ärztin schreiben: Da ich aus dem Osten bin, istmeine Leistung 14 Prozent weniger wert.Ein weiteres Beispiel: Zwei Rechtsanwälte sitzen sichim Gericht gegenüber – es tut mir leid, daß ich diesesBeispiel bringe –, kämpfen im Prozeß leidenschaftlich,setzen genauso viele Schriftsätze auf und zeigen dasgleiche Engagement. Sie gehen aus dem Gericht, undder Streitwert wird festgestellt. Dann muß der eine we-sentlich geringere Gebühren abrechnen als der andere,weil er aus dem Osten kommt. Die beiden sind aller-dings nicht unbedingt mein Problem, weil sie nicht soschlecht verdienen.Dr. Gregor Gysi
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Verstehen Sie aber, was es bedeutet, wenn jemand injeder Rechnung mitteilen muß seine Leistung ist weni-ger wert als die Leistung des entsprechenden Kollegenoder der Kollegin aus dem Westteil der Stadt oder ausden alten Bundesländern? Das ist ein mentales Problem,das man nicht einfach wegwischen kann.Das blödeste Argument ist die Berechnung auf Grunddes Produktivitätsdurchschnitts. Erstens. Bei Anwäl-ten und Ärzten ist dieses Argument Quatsch. Sie könnenmir aber auch nicht sagen, wieso ein Archivar in Pots-dam weniger leistet als ein Archivar in Bonn, und auchwenn wir die Arbeit der Polizistinnen und Polizisten alsBeispiel heranziehen, stimmt das nicht.Zweitens. Wie kommen Sie überhaupt darauf, einenGesamtdurchschnitt für die neuen Bundesländer zu be-rechnen? Das kann doch nur einer machen, der noch inden Grenzen der alten DDR denkt. Normalerweise gehtdas nach Branchen.
Das geht nach allem möglichen, aber doch nicht nachalten Staatsgrenzen. Das ist doch ein absurder Vorgang.Wenn das nicht mehr vermittelbar ist, können wir unsnicht mit Zahlen herausreden, dann müssen wir das Pro-blem lösen.Es ist immer wieder betont worden – auch ich habedas übrigens gemacht –, daß die Infrastrukturent-wicklung in den neuen Bundesländern in den letztenJahren hervorragend gewesen ist. Ich nenne als Bei-spiele den Straßenbau, die Telekommunikation und dieSanierung von Stadtzentren. Jeder, der ehrlich ist – auchin den neuen Bundesländern –, akzeptiert, daß die DDR,so wie sie strukturiert war, in den nächsten 40 Jahrennicht das geschafft hätte, was hier in 10 Jahren aufge-baut wurde. Das zu sagen gehört zur Ehrlichkeit dazu.
Man darf aber auch das nicht einseitig sehen; denn esist auch Infrastruktur beseitigt worden, zum BeispielKrippen, Kindergärten und ein dichtes Netz an Jugend-und Kulturklubs. Daneben darf man das dichte Netz anPostdienstleistungseinrichtungen und in anderen Berei-chen nicht vergessen, bei denen sich die generellen Re-formen der Bundesrepublik entsprechend in den neuenBundesländern auswirken.Dazu gehört auch das Streckennetz der Bahn. DieDDR hatte immerhin das am weitesten verzweigteStreckennetz Europas. Es war zweifellos nicht das beste;das muß man dazu sagen.
– Das sage ich doch gerade. Bei mir können Sie sichimmer darauf verlassen, daß ich das hinzufüge. Die Ein-seitigkeit kommt immer von Ihnen.
Das Streckennetz zu erneuern war dringend erforder-lich. Aber die Kürzungen, die dabei vorgenommen wor-den sind, die Menge von Kilometern, die dabei vernich-tet worden ist, sind nicht Ausdruck von Zukunftspolitik;denn wenn wir den Straßenverkehr stückweise auf dieSchiene verlagern wollen, dann hätte man dieses Strek-kennetz nutzen sollen, anstatt es quantitativ auf das Ni-veau der alten Bundesländer zu senken. Das heißt, auchhier müssen wir die Dinge differenziert beurteilen.Ich möchte nun auf die Zukunft zu sprechen kommenund etwas zum Transfer sagen. Ich bin dem Staatsmini-ster für eines wirklich dankbar: Er hat jetzt ehrlichereZahlen angeführt. Ich habe bei der alten Regierung nieverstanden, wieso sie beim Transfer immer falscheZahlen angegeben hat. Die Zahlen waren in dem Sinnefalsch, daß sie mit einem Transfer, wie ihn die Bürge-rinnen und Bürger verstehen, nichts zu tun hatten. DieFinanzierung einer Bundeswehrkaserne wurde zum Bei-spiel immer als Transferleistung, also zum Nachteil desEinigungsprozesses, ausgegeben. Wenn ich die Trans-ferleistungen so darstelle, dann demütige ich die Ost-deutschen und pflege bei den Westdeutschen das Vor-urteil, der Transfer sei einfach zu teuer. Es ist kein edlesMotiv, das dahintersteckt.Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel, das besonders är-gerlich ist – ich weiß gar nicht, ob Sie das wissen –: DieGehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ausden alten Bundesländern, die in den neuen Bundeslän-dern Dienst tun, wurden als Transferleistungen berech-net. Das heißt, das Gehalt von Biedenkopf galt alsTransferleistung, das von Stolpe und Ringstorff nicht.Aber selbst wenn ein Ostdeutscher Ministerpräsident inSachsen wäre, hätte er ein Gehalt beziehen müssen. Reinrechnerisch war also die Berechnung der Transferlei-stungen Quatsch.Das gilt nicht für die Zulage. Sie ist aber ein mentalesProblem. Wenn Sie einem Menschen aus den alten Bun-desländern sagen, daß er, wenn er im öffentlichen Dienstin den neuen Bundesländern arbeitet, eine Zulage erhält,und die Ossis diese Zulage sofort Buschzulage nennen,dann ist klar, was damit auf beiden Seiten zum Aus-druck gebracht werden soll.Schauen Sie sich doch die Verhältnisse an! Was ha-ben wir uns hier im Hause darüber gestritten, wie wirden Angestellten und Beamten der Bundesministerienund der Bundestagsverwaltung den Umzug von Bonnnach Berlin erleichtern können. Was haben wir da fürRegelungen eingeführt! Sie reichen von der Bezahlungder regelmäßigen Fahrt nach Bonn bis zu Mietzuschüs-sen oder zur vollständigen Übernahme der Mietkostenfür zwei Jahre. Fragen Sie doch einmal die MillionenOstdeutschen, die ihren Job verloren haben und danach300 oder 400 Kilometer zu ihrem neuen Job fahrenmußten. Kein Mensch ist auf die Idee gekommen, ihnendie Fahrt dorthin oder gar die Miete vor Ort zu bezahlen.
Das heißt, für uns lassen wir natürlich immer ganz ande-re Maßstäbe gelten. Das führt dann zu Verdruß, über denman sich auch nicht wundern darf.In diesem Zusammenhang haben Sie auch das Spar-paket gelobt. Dieses Lob kann ich nun überhaupt nichtteilen, und zwar aus mehreren Gründen; nicht nur des-Dr. Gregor Gysi
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halb, weil ich sowieso Bedenken habe, die ich aber jetztnicht aufführen muß. Sie kürzen die Mittel für denOsten. Deshalb formulieren Sie vorsichtig und sagen,Sie wollten die Förderung auf hohem Niveau fortsetzen.Das heißt in Wirklichkeit: Sie erfolgt eben nicht auf hö-herem und nicht auf gleich hohem, sondern auf niedrige-rem Niveau. Diese auf niedrigerem Niveau fortzusetzenheißt, weniger Ergebnisse zu erzielen. Das steht vonvornherein fest.
Herr Kollege
Gysi, denken Sie bitte an die Zeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, ich bin sofort fertig.
Außerdem – das ist das schlimmste – geht die Ent-
wicklung bei Rente, Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-
hilfe in Ost und West wieder auseinander. Sie ging unter
der früheren Regierung – wenn auch nur ein wenig –
immerhin zusammen. Jetzt geht sie wieder auseinander.
Das ist ein großes, auch mentales, Problem.
Deshalb noch einmal meine Bitte: Wenn wir die Ein-
heit wollen, müssen wir uns stärker füreinander interes-
sieren, müssen wir stärker miteinander reden, müssen
wir uns in unserer Unterschiedlichkeit akzeptieren und
zugleich Gleichwertigkeit der Lebenschancen in sozia-
len und anderen Fragen herstellen. Wir brauchen regio-
nal funktionierende Wirtschaftsstrukturen. Dazu gehört
auch ein lebendiges Feld für kleine und mittelständische
Unternehmen. Genau dorthin darf man die Ökosteuer
dann eben nicht übertragen und Ansätze damit kaputt-
machen.
Herr Kollege
Gysi!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man muß vielmehr die
Sondersituation begreifen.
In diesem Sinne wünsche ich mir eine stärkere sozia-
le, wirtschaftliche und kulturelle Politik für die Einheit.
Was wir brauchen, Herr Bundeskanzler, ist ein klarer
Fahrplan dafür, in welchen Fristen und in welchen
Schritten die Angleichung erfolgen soll.
Das Wort hatjetzt der Herr Ministerpräsident des Landes Mecklen-burg-Vorpommern, Harald Ringstorff.
ehrten Damen und Herren! Es gibt Ereignisse, die sichim Rückblick von ihren historischen Bezügen lösen undüber den konkreten Zusammenhängen gleichsam zuschweben beginnen. Sie sind der Stoff, aus dem Mythenund Legenden gesponnen werden. Zu diesen Ereignissengehört der Fall der Berliner Mauer vor zehn Jahren.Viele – äußere und innere – Faktoren kamen imHerbst 1989 zusammen: die Politik Gorbatschows, dieKommunismusverweigerung der Polen, die ungarischeReformpolitik mit der Öffnung des Eisernen Vorhanges,dazu die wirtschaftliche Zerrüttung der DDR und dieunerträglich gewordene Verkrustung des Herrschaftssy-stems. Erinnern muß man auch an die Wirkungen derEntspannungspolitik, eingeleitet von Willy Brandt. DieMechanismen des kalten Krieges funktionierten nichtmehr wie gewohnt. Der SED kam der äußere Todfeindabhanden: die angeblichen imperialistischen Kriegstrei-ber. Damit verlor sie den ideologischen Knüppel, mitdem sie bislang ihre Bürger diszipliniert hatte.Wie lange, meine Damen und Herren, konnte da dieMauer noch Bestand haben? Hier komme ich auf denGlücksfall zurück, von dem so oft gesprochen wird, aufdas Geschenk, das unserem Volk nach dieser Lesartüberreicht wurde. Wer soll eigentlich wem Geschenkegemacht haben: die Ostdeutschen den Westdeutschenoder umgekehrt, ein den Deutschen gnädiges Schicksal,die Geschichte? Was ist das, die Geschichte? Waren esdie Amerikaner, die Sowjetunion gar? Eine gemeinsameAntwort steht bis heute aus.Die regierende Koalition in Bonn erfaßte damals in-tuitiv, daß die deutsche Wiedervereinigung ohne Verän-derungen in Westdeutschland zu haben war, wenn siedenn rasch erfolgte. Bundeskanzler Kohl vollzog denWillen der Deutschen zur Wiedervereinigung und er-füllte den Wunsch der Westdeutschen: keine Experi-mente, auch nicht in diesem Falle. Daher die anfänglichePolitik, die Kosten aus der Portokasse bezahlen zu wol-len.Die Nacht des Mauerfalls war auch die Nacht, in derdie Euphorie begann. Ein rauschhafter Zustand machtesich breit, Illusionen bestimmten das Handeln. Der Blickauf die realen Möglichkeiten der Bundesrepublik warverstellt. Der Souverän delegierte sein Recht auf Selbst-bestimmung auf die Parteien und Parteienbündnisse, de-ren Funktionieren ihm fremd war.Meine Damen und Herren, ich beklage mich nicht;ich gebe Eindrücke wieder. Ich war dabei.Geschenke verpflichten zur Dankbarkeit, und Glückverpflichtet zur Demut. Wer den Umbruch und die Wie-dervereinigung als Glück und Geschenk darstellt,wird den Ostdeutschen nicht gerecht, ja mehr noch: Erwird ihre Empfindungen als Ausdruck von Undank defi-nieren. Machen wir Schluß mit diesem Interpretations-muster!
Dann gewinnen wir allesamt, die Menschen in Bayern,in Nordrhein-Westfalen, in Mecklenburg-Vorpommernund hier in Berlin.
Dr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6131
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Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich bin glücklichdarüber, daß wir die SED-Herrschaft überwunden habenund die Einheit hergestellt haben.
Aber Glück ist keine politische Kategorie und schon garkeine Kategorie zur Beurteilung historischer Prozesse.
Jede Revolution ist begleitet von Hoffnungen – ja, sieist Hoffnung – und jede Revolution bringt Erwartungenhervor. Ideale sollen so Gestalt annehmen, wie man siesich erträumte oder in Sonntagsreden geschildert bekam.Doch Erwartungen sind zu einem guten Teil auchSelbsttäuschungen. Viele Ostdeutsche – ich schließemich ein – glaubten damals, Teile des Erbes der DDRkönnten Grundlage für den Neubeginn sein. Darf manuns das verdenken? Wir haben 40 Jahre lang fleißig ge-arbeitet und, denke ich, auch manche Entbehrung aufuns nehmen müssen. Konnte das alles umsonst gewesensein? Nein, es war nicht alles umsonst. Ich wehre michgegen diese Urteile und bitte Sie alle, die Erfahrungen,die wir gemacht haben, und die Ostdeutschen als Berei-cherung zu verstehen.
Wir müssen für Gesamtdeutschland nutzbar machen,was nutzbar ist: das Konzept der Polikliniken zum Bei-spiel, die Idee, den Schülern die Wirtschaft in der Wirt-schaft nahezubringen – ich füge vorsorglich hinzu: ichmeine die Methode und nicht den sozialistischen In-halt –, die Einfachheit vieler Gesetze und vieles anderemehr.
Seit 1990 wird den Ostdeutschen vorgehalten, siehätten erst noch zu lernen, was Demokratie ist. Das hältman Menschen vor, die im Oktober 1989 in Leipzig de-monstrierten, massiv bedroht durch Sicherheitskräfte;das hält man Menschen vor, die am 4. November 1989hier, auf dem Alexanderplatz, gerufen haben: Wir sinddas Volk. Das waren in Berlin 500 000, in Rostock,Leipzig, Magdeburg und überall sonst in Ostdeutschlandinsgesamt mehrere Millionen Bürger. Denen sollte mannicht länger sagen: Das war lobenswert, aber Demokra-tie ist etwas ganz anderes.
Das verletzt, und genau das gibt der PDS Argumente indie Hand.Die PDS ist auf Grund der Fehler des Vereinigungs-prozesses ein politischer Faktor in den neuen Bundes-ländern; das ist inzwischen eine Binsenwahrheit.
Wenn daraus jedoch die Schlußfolgerung gezogen wird,es stehe die Machtergreifung alter Kader ins Haus, dannist das blanker Unsinn.
Die PDS in Mecklenburg-Vorpommern folgt den Ge-boten des Grundgesetzes und der Landesverfassung.Meine Damen und Herren, wenn über die Lage inDeutschland gesprochen wird, so sollten nicht nur dieMilliardensummen, die vom Westen in den Osten flie-ßen, rühmend hervorgehoben werden. Ich wünsche mir,daß viel nachdrücklicher als bisher ins Bewußtsein allerDeutschen dies gerückt wird: Die Bundesrepublikbraucht die Lebenserfahrung der Ostdeutschen, ihreSensibilität, ihr Wirgefühl und ihre Kompetenz. Investo-ren aus den alten Bundesländern, die in Mecklenburg-Vorpommern tätig sind, heben mir gegenüber immerwieder drei Dinge hervor: erstens die günstigen Förder-bedingungen, dann die Qualifikation und Motivation derMenschen und drittens die Innovationsfähigkeit ihrerMitarbeiter. Ich wünsche mir, daß davon künftig öfterdie Rede ist.
Wenn ich es recht bedenke, sind sich Ostdeutscheund Westdeutsche viel ähnlicher, als wir glauben. InDeutschland setzt man auf Beständigkeit. Doch dieseTugend kann sich, wenn Europa und die Welt in Bewe-gung sind, als selbstzerstörerisches Moment erweisen.Mich erinnert heute manches an die DDR. Auch dawurde aus Furcht vor Veränderung immer wieder Kon-tinuität beschworen. Es gibt Aufgaben in Deutschland,die wir gemeinsam anpacken und gemeinsam lösenmüssen.
Gelingt uns das nicht, so nehmen wir gemeinsam Scha-den.Die Probleme Mecklenburg-Vorpommerns sind auchProbleme der alten Länder. Die Bewohner der Beletageeines Hauses unterliegen einem Irrtum, wenn sie glau-ben, die Folgen vernachlässigter Sanierung in den ande-ren Etagen beträfen sie nicht.
Alle Etagen müssen saniert werden, und alle müssen da-zu ihren Beitrag leisten. Hier liegt für mich der tiefereGrund dafür, daß auch die neuen Bundesländer ihrenTeil zur Konsolidierungspolitik der Bundesregierungbeizutragen haben.Meine Damen und Herren, zehn Jahre Einheit, zehnJahre Marktwirtschaft sind eine lange Zeit. Trotzdem:Es sind zuwenig Jahre für die Herausbildung eines robu-sten Mittelstandes, zuwenig Jahre für die Akkumulationdes notwendigen Kapitals, zuwenig Jahre für die virtuo-se Handhabung der Marktregeln. Aber die Situation beiuns verbessert sich fortlaufend. Es wächst eine Genera-tion heran, die unbefangen und selbstbewußt ist und dieMinisterpräsident Dr. Harald Ringstorff
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6132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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darauf brennt, zu zeigen, was sie zu leisten vermag. Ichbin voller Zuversicht, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich abschließend noch eines feststellen:Die viel zitierten Kosten der Einheit sind Kosten derSpaltung. Im Grund handelt es sich bei jeder Transfer-zahlung um eine Neuverteilung der Kriegsfolgelasteneinschließlich der Lasten des kalten Krieges, der erst1989 endete. Diese Kosten sind noch längst nicht abge-tragen.Deshalb muß der Aufbau Ost auf hohem Niveauweitergeführt werden. Ich freue mich darüber, daß dieBundesregierung, daß der Bundeskanzler ganz klar ge-sagt hat, daß dieser Aufbau Ost auf hohem Niveau fort-gesetzt wird.
Wer sich dem zu entziehen versucht, ganz gleich, mitwelcher Begründung, der entzieht sich seiner nationalenVerantwortung.Warum ist eigentlich in diesem Zusammenhang sowenig vom Vaterland die Rede? „Deutschland einigVaterland“ hieß es 1990. Was passiert, wenn diesesWort von anderen mit ganz anderen Zielsetzungen miß-braucht wird? Kurzum: Wirtschafts- und Sozialgemein-schaft, allein verbunden durch Geschichte, ist mir zuwe-nig. Es gibt Dinge im Leben eines Volkes, die jenseitsvon Bilanzen und Transfersummen angesiedelt sind.Ohne gerechten Ausgleich zwischen West und Ost gerätdie Stabilität der ganzen Bundesrepublik Deutschland inGefahr.Dort, wo sich Gerechtigkeit bisher nicht durchgesetzthat, muß sie herbeigeführt werden, und dort, wo sie inFrage gestellt wird, müssen wir gegensteuern. Es gehtnicht um Opfer für die neuen Bundesländer; es geht umGerechtigkeit und Versöhnung in Deutschland.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Wolfgang
Schäuble.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in denletzten Tagen eine Reihe von bedenkenswerten Redenaus Anlaß der Tatsache, daß vor zehn Jahren in Berlindie Mauer gefallen ist, gehört. Wenn diese Debatte heuteim Bundestag einen Sinn haben soll, dann sollten wiraus meiner Sicht versuchen, zu klären, wo wir stehenund wie wir weiterkommen. Ich finde, daß uns die De-batte insofern ein Stück vorangebracht hat – der KollegeSchulz hat darauf hingewiesen –, als wir heute zum er-stenmal in unterschiedlicher Verantwortung diskutieren:Vorher waren die einen Regierung und die anderen Op-position, jetzt ist es andersherum.Wenn ich die Regierungserklärung des Bundeskanz-lers sowie die Reden von Herrn Struck, von HerrnSchulz und sogar von Herrn Ringstorff richtig verstan-den habe, ist in den zehn Jahren für den Aufbau Ost of-fenbar eine Menge geleistet worden.
Das klang vor einem Jahr anders, unabhängig von derFrage – darauf komme ich noch –, auf welchem Niveauman den Aufbau Ost fortführt, ob auf hohem oder höhe-rem Niveau. Wenn man ihn „auf hohem Niveau fort-führt“, dann heißt das, daß wir in diesen zehn Jahrenbeim Aufbau Ost ein hohes Niveau hatten. Das war dieLeistung der Regierung von Helmut Kohl und der Ko-alition von CDU/CSU und F.D.P.
Natürlich haben wir viele Probleme. Dazu wird kei-ner etwas ganz Neues sagen können. Mir ist in der De-batte heute und schon in den Debatten dieser Tage, auchvorgestern, immer wieder aufgefallen – bei Herrn Ring-storff eben war es besonders deutlich: Viele haben dasElement der Einheit nicht richtig bewertet. MichailGorbatschow hat vor zwei Tagen von dieser Stelle ausgesagt: Nehmt doch unsere Probleme und wir die euren!– Das ist doch die eigentliche Schwierigkeit: Die Men-schen in Frankfurt/Oder vergleichen ihre Lage heute –wer wollte es ihnen verdenken? – nicht mit ihrer Lagevor zehn Jahren, sondern mit der Lage der Menschen inFrankfurt am Main. Aber die Menschen in Prag, War-schau und anderswo sagen: Eure Probleme möchten wirhaben.Und das ist das spezifisch Deutsche? Das kam in Ih-rer Rede, Herr Ringstorff, überhaupt nicht vor.
Es ist die Tatsache, daß aus Freiheit und Selbstbe-stimmung Einheit wurde. Die Freiheit, so hat HelmutKohl wieder und wieder in Regierungserklärungen zurLage der Nation im geteilten Deutschland gesagt, ist derKern der deutschen Frage. Aber wir waren ganz sicher,daß sich die Menschen, wenn sie überall in DeutschlandFreiheit und Selbstbestimmung haben, für die Einheitentscheiden würden. So ist es gewesen.Nur damit wir uns nicht durch Geschichtsklitterungdie Chance verbauen, richtig zu argumentieren: Die daswollten, waren niemand anders als die Menschen in derdamaligen DDR, vielleicht nicht die Mehrheit der Bür-gerbewegung, aber jene, die dann zu Hunderttausendenauf der Straße waren, und ganz sicher die Mehrheit beider Volkskammerwahl am 18. März 1990. Denn mitVerlaub: Bei der Wahl zur Volkskammer am 18. Märzhaben diejenigen, die bei der Wahl die Mehrheit be-kommen haben, vor der Wahl für den Beitritt nach Ar-tikel 23 des Grundgesetzes Wahlkampf geführt – undgewonnen. Wenn Demokratie in Deutschland geltensoll, darf man das nicht kleinreden.
Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff
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Es ist nichts übergestülpt worden, sondern die Menschenhaben so entschieden.Deswegen, Herr Kollege Schulz, mußte es auch soschnell gehen. Wir können ja heute – mir jedenfalls gehtes so – entspannter diskutieren als vor zehn Jahren. Vorknapp zehn Jahren hat Lafontaine, damals Kanzlerkan-didat der SPD, gesagt: Das wird furchtbar teuer und gehtviel zu schnell. Wir sollten erst einmal über zehn Jahregetrennte Währungsgebiete anstreben usw. – Meine sehrverehrten Damen und Herren, ich bin ganz sicher – dasist übrigens am Dienstag von vielen, die noch berufenerwaren, gesagt worden –: So wäre es nicht gelungen. Eswäre, wenn wir uns mehr Zeit gelassen hätten, geschei-tert.Aber auf diese Frage kommt es gar nicht an. DieMenschen in der damaligen DDR wollten nicht längerwarten, sondern sie wollten die Einheit gleich und jetzt.Damit hatten sie die Einheit in Deutschland. Das unter-scheidet die Revolution in Deutschland von der in Polen,in Ungarn, in der damaligen Tschechoslowakei undüberall in Osteuropa einschließlich der damaligenSowjetunion. Das ist das große Glück der Deutschenund ihre Chance, aber daraus haben sich auch mancheProbleme und Schwierigkeiten ergeben, über die wirheute sprechen. Wer daran vorbeiredet, wer darüberhinwegtäuscht, verstellt sich den Blick für die Lösungder Probleme.Ohne die Leistung derer, die damals die Demonstra-tionen auf den Weg gebracht haben, die dafür gesorgthaben, daß Gewalt vermieden wurde – was eine unge-heuer große Leistung war: „Kerzen statt Steine“ –,schmälern zu wollen, füge ich hinzu: Ohne die Über-siedler wäre das gar nicht in Gang gekommen. Das alleswar zunächst die Antwort auf den dramatischen Anstiegder Übersiedlerzahlen. Das hat die Menschen auf dieStraße gebracht, die zunächst gesagt haben, sie bliebenzwar hier, aber so gehe es nicht; sie wollten bessereVerhältnisse. Deswegen, Herr Bundeskanzler, gehört esschon zur historischen Wahrheit: Wenn wir nicht – dafürsind wir von Ihnen und Ihren Parteifreunden als kalteKrieger verschrien worden –
trotz des Drängens insbesondere der Sozialdemokratenan der einen deutschen Staatsangehörigkeit festgehaltenhätten, dann wäre die deutsche Geschichte anders undweniger glücklich verlaufen.
Herr Kollege Struck, ich möchte gar nicht darüberstreiten, wer am 9. November 1989 was gesungen hat.Ein solcher Streit wäre albern. Aber es gehört schon zurhistorischen Wahrheit, daß am Tag danach die Fraktionder Grünen – Sie, Herr Schulz, waren nicht dabei; aberich sage Ihnen, es war so – das Singen der dritten Stro-phe des Deutschlandlieds als „nationalistische Entglei-sung“ ausdrücklich verurteilt hat.
Die Fraktion der Grünen hat dazu eine offizielle Presse-erklärung herausgegeben. Dies ist die Wahrheit. Einbißchen muß man in der Wahrheit leben, auch inDeutschland, nicht nur in Tschechien.
– Nein, nicht Ihre Geschichte.Jetzt möchte ich auf den Einigungsvertrag und aufdie schwierigen Fragen eingehen, die sich aus der Be-schleunigung der Ereignisse und aus der Notwendigkeitergeben haben, dem Wunsch der Menschen, die in derDDR eingesperrt waren, nachzukommen. Die Grenzerhaben damals gesagt: Es wird geflutet. Wenn Menschen,die rund 28 Jahre eingesperrt waren, ein Spalt in Rich-tung Freiheit geöffnet wird, dann sind sie nicht mehraufzuhalten. Es geht dann immer schneller. Deswegenmußten wir schnell handeln und reagieren. Die Mehrheitder Menschen hat sich für den Beitritt nach Art. 23 desGrundgesetzes entschieden.
– Entschuldigung, natürlich! Sie haben ja bei der Volks-kammerwahl nicht so erfolgreich abgeschnitten, wie Siegeglaubt hatten.Mir scheint, Sie machen es sich ein bißchen zu leicht.Wir sollten in der Einschätzung der Ereignisse vor zehnJahren miteinander fairer umgehen. Ich glaube, es war inder damaligen Lage ein richtiges und angemessenes An-gebot der damaligen Bundesrepublik Deutschland, zusignalisieren: Wir sind bereit, in einem Vertrag, dem Ei-nigungsvertrag, die Bedingungen des Beitritts vor eurerEntscheidung einvernehmlich zu regeln. Man hätte auchabwarten können, bis die DDR beigetreten wäre, umdann als gesamtdeutscher Gesetzgeber entsprechendeRegelungen zu treffen. Dies wäre viel weniger bere-chenbar gewesen.Ihr Urteil über die Leistungen der damaligen Ver-handlungsdelegationen, auch der aus der DDR, ist übri-gens aus meiner Sicht ungerecht. Ich räume ein, daß sichüber manches streiten läßt. Aber eines können Sie, HerrKollege Schulz, nicht machen: Sie können nicht auf dereinen Seite die staatsrechtliche Einheit, also eine Staats-bürgerschaft, haben wollen und dann auf der anderenSeite, wenn die Einheit vollzogen ist, so tun, als hättedie Wertordnung des Grundgesetzes für die Zeiten derdeutschen Teilung überhaupt keine Bedeutung. Die Ei-gentums- und Vermögensfragen waren deshalb vielkomplizierter, als Sie es heute dargestellt haben. Ob esder richtige Weg war und ob er vielleicht zu einfachwar, darüber läßt sich trefflich streiten. Aber man kanndas eine nicht ohne das andere haben. Die Vorzüge ha-ben überwogen.
Ich könnte noch eine Reihe weiterer Punkte dazu anfüh-ren, möchte jetzt aber nicht zu lange zurückblicken.Die deutsche Einheit war ein Glücksfall. Für mich istes noch immer ein Wunder, daß das Weltreich der So-Dr. Wolfgang Schäuble
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wjetunion und der kalte Krieg mit atomarem Pattund atomarer Abschreckung friedlich – ohne einenSchuß – zu Ende gingen und dies Frieden, Freiheit undEinheit für Deutschland, für Berlin und für Europa be-deutete.
Dieser Tatsache verdanken wir unendlich viel. Es istgut, wenn wir daraus das Richtige machen und wennalle Fraktionen des Hauses anerkennen: Es ist in denletzten zehn Jahren schon eine Menge geleistet worden.Es wird auch weiterhin viel geleistet werden.Während dieser Debatte hat das Bundesverfassungs-gericht seine Entscheidung zum Länderfinanzaus-gleich, über die wir jetzt nicht im einzelnen diskutierenmüssen, gefällt. Das Bundesverfassungsgericht hat aus-drücklich festgestellt, daß die ostdeutschen Länder auchin den kommenden Jahren einen Anspruch auf eine vor-rangige Förderung im Rahmen des Länderfinanzaus-gleichs und durch Bundesergänzungszuweisungen ha-ben. Damit sind wir auf einem verfassungsrechtlich si-cheren Boden. Wir sollten alles daran setzen, eine ver-nünftige Anschlußregelung für den Solidarpakt zustandezu bringen, der im Jahr 2004 ausläuft. Wir sind jeden-falls dazu bereit.
– Herr Kollege Meckel, ohne den großen Beitrag derChristlich-Sozialen Union zu der Politik, die ich nurin groben Zügen beschrieben habe und die letztenEndes auch Voraussetzung für die deutsche Einheitwar, wären wir heute auch nicht hier. Lassen Sie alsodoch denjenigen, von denen mehr Solidarität gefordertwird – –
– Nehmen wir doch einmal dankbar zur Kenntnis, daßdie Bereitschaft zur Solidarität bei den wirtschaft-lich erfolgreicheren Bundesländern in Westdeutschlandungebrochen vorhanden ist, und tun wir alles, um sieweiter zu stützen und zu fördern. Aber sagen wir gele-gentlich auch ein Wort der Dankbarkeit und des Re-spekts!
Ich will heute gar nicht darüber streiten – das werdenwir spätestens in zwei Wochen bei der Haushaltsdebattewieder machen –, füge aber folgende Bemerkung an,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rate dazu, verläßlicher zu sein,als Ihre Regierung im ersten Jahr ihrer Arbeit war, wasden Vorrang des Aufbaus Ost anbetrifft. Dafür nenne ichIhnen zwei Beispiele.Was Sie mit der Ökosteuer gemacht haben, war einegezielte und systematische Benachteiligung der Men-schen in den ostdeutschen Bundesländern.
Sie haben längere Entfernungen von der Wohnung zurArbeitsstätte und sind also durch die Erhöhung der Ben-zinsteuer spezifisch mehr betroffen, haben aber wegendes niedrigeren Lohnniveaus von der Beitragsentlastungspezifisch weniger. Beides zusammen stellt keinen Vor-rang für den Aufbau Ost, sondern das Gegenteil dar.
Bei der Rentenanpassung ist es entsprechend.
– Herr Kollege Schlauch, bei Ihnen weiß ich nicht ein-mal, ob Sie wissen, was Glatteis ist.Herr Ministerpräsident Ringstorff, wenn ich sehe, wieSie in Mecklenburg-Vorpommern Genossensolidaritätvor die Interessen des Landes stellen – –
– Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Was glauben Sie, wel-chen Ärger ich in meinem Heimatland Baden-Württemberg hatte, weil ich immer gesagt habe, es seirichtig, daß sich Bundeskanzler Helmut Kohl dafür ein-setzt, daß der Airbus A3XX, sofern wir ihn überhauptnach Deutschland bekommen, in Rostock-Laage gebautwird. Natürlich würden wir ihn auch gern in Baden-Württemberg bauen, aber gesamtdeutsche Solidaritätheißt, daß wir miteinander dafür eintreten, daß er nachRostock-Laage kommt. Da haben Sie versagt.
Gerade weil die einen mehr Veränderungen aushaltenmüssen als die anderen, brauchen wir Solidarität undVerläßlichkeit. Die deutsche Einheit stellt auch eineChance, eine Bereicherung dar. Die Menschen aus demOsten haben nicht nur für uns alle eine geglückte Frei-heitsrevolution eingebracht – darauf können sie stolzsein –, sondern ihre Bereitschaft, Veränderungen in ei-ner Welt, die sich so ungeheuer schnell entwickelt, zuertragen und zu gestalten, ist auch eine Erfahrung, vonder wir überall in Deutschland gar nicht genug profitie-ren können. Deswegen bin auch ich dafür – da hat HerrKollege Gerhardt aus meiner Sicht das Richtige ausge-sprochen –, kein so miesepetriges Gesicht zu machen.Vielmehr sollten wir sagen: Nicht nur vor zehn Jahrenwar es ein großes Glück, sondern noch heute ist es einegroße Chance.In diesem Zusammenhang war es bemerkenswert,Herr Kollege Schulz, daß Sie die Lohnfortzahlung hiererwähnt haben. Sie hatten damit ja völlig recht; aber ichfrage mich, in welcher Koalition Sie sitzen. In der DDRgab es keine hundertprozentige Lohnfortzahlung.Dr. Wolfgang Schäuble
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Zur Pflegeversicherung muß ich schnell noch etwasin Ordnung bringen: Die Wahrheit ist, daß wir eine ganzandere Kompensation für die Einführung der Pflegever-sicherung wollten; das wissen Sie. Die einzige Kompen-sation, die möglich war, ohne daß die Mehrheit im Bun-desrat die Pflegeversicherung verhinderte, war schließ-lich die, die gefunden worden ist und die ich in meinerZwischenfrage beschrieben habe. In Sachsen hat mandiese Kompensation nicht angewandt. In Baden-Württemberg – das ist mein Heimatland, was man ja anmeiner Sprache hört; die Baden-Württemberger könnenalles außer Hochdeutsch, das ist ja der neue Slogan –hatten wir damals eine große Koalition, Herr Parteivor-sitzender Schröder. Der Ministerpräsident Erwin Teufelwollte ebenfalls nicht den Buß- und Bettag abschaffen.Wer Erwin Teufel kennt, versteht das sofort. Er wolltevielmehr dieselbe Regelung wie in Sachsen. Die SPDhat gedroht, die große Koalition in Baden-Württembergzu sprengen, wenn Baden-Württemberg das machenwürde. Machen Sie hier keine falschen Geschichten!Bleiben Sie bei der Wahrheit! Sie und niemand andershaben es erzwungen.
Herr Ministerpräsident Ringstorff, ich würde die PDSnicht an der Regierungsverantwortung beteiligen. Vonallen anderen Gründen abgesehen gibt es für mich dafüreinen entscheidenden Grund: Wenn wir die Herausfor-derungen des kommenden Jahrhunderts bewältigenwollen, wenn wir den Aufgaben zehn Jahre nach diesengrandiosen Veränderungen in der Welt und in Deutsch-land gerecht werden wollen, brauchen wir mehr Verän-derungsfähigkeit, dann müssen wir die Innovationsfä-higkeit stärken, dann müssen wir schneller anpassungs-fähiger werden und weniger Besitzstände verteidigen.Ich habe es in der letzten Woche bei der Gesund-heitsdebatte dem Kollegen Dreßler gesagt: Ich bin ganzsicher, daß wir der Dynamik solcher Entwicklungenniemals durch zentralistische Regelungen gerecht wer-den können. Deswegen haben Sie den falschen Grund-ansatz. Trauen Sie doch den Menschen mehr an Fähig-keiten, an Verantwortung und auch an der Bereitschaftzur Solidarität zu. Entmündigen Sie nicht immer dieMenschen wie in Ihrer unsäglichen Gesundheitsreform,bei der alles reglementiert werden muß.
Es waren doch die Menschen, die vor zehn Jahren diefriedliche Revolution gemacht haben. Wir können dochaus der Geschichte der Deutschen am Ende dieses Jahr-hunderts das Vertrauen schöpfen: Die Menschen selbersind, wenn man sie nur fördert und fordert, zu viel grö-ßeren Leistungen bereit als jede zentralistische, büro-kratische Reglementierung erreichen kann.
Das können Sie mit den alten Kadern und den altenSozialisten niemals machen. Deswegen sind Sie auf demHolzweg: in Magdeburg wie in Schwerin und wo immerSie die Finger davon nicht lassen können. Das ist einGrund. Es gibt noch viele andere Gründe.Deswegen haben Sie in Ihren praktischen politischenEntscheidungen den falschen Ansatz. Sie trauen denMenschen zuwenig zu. Geben Sie ihnen mehr Freiheit.Geben Sie ihnen mehr Chancen zur Eigengestaltung.
Betreiben Sie Vorsorge für solidarische Regelungen,aber nehmen Sie die Menschen in die Pflicht und in dieVerantwortung. Reglementieren Sie nicht alles underdrücken Sie nicht dadurch Initiative wie soziale Ver-antwortung. Das ist der eigentliche Unterschied.
Wir diskutieren so oft und so viel in Feuilletons undsonstwo, daß die Unterschiede bei den praktischen Lö-sungsansätzen vielleicht gar nicht so groß seien. Vomgrundsätzlichen Ansatz her ist es auf dem sozialistischenWeg, egal ob neu oder alt, ob New Labour oder nur La-bour – bei dem internationalen Sozialistentreffen in Pa-ris war es gerade wieder ein bißchen komplizierter –oder bei der Politik der Bundesregierung immer dassel-be: Wenn man genau hinschaut, wollen Sie die Ergeb-nisse immer durch Gesetze, durch Reglementierung,durch die Einengung des freien Entscheidungsspiel-raums der Menschen erreichen.Wir wollen die Verantwortung der Menschen stärken.Deswegen sind für uns Werte wichtiger. Deswegen ste-hen wir für eine wertegebundene Politik, eine Politik,die Fundamente hat. Wir haben eine Politik, die denMenschen zutraut, aus der Chance der Freiheit etwas zumachen, was der Verantwortung für Gerechtigkeit ent-spricht. Das ist der Weg der Deutschen im kommendenJahrhundert.
Ich erteile jetzt
dem Herrn Staatsminister Rolf Schwanitz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Schäuble, es gehört zu den guten Tra-ditionen in diesem Haus, daß man auch bei Debatten, beidenen etwas Feierliches mitschwingt, nicht alle Auffas-sungen teilen muß. Dabei gibt es auch harte Kontrover-sen und Auseinandersetzungen. Aber ich sage zu Beginnganz ausdrücklich: Persönliche Diffamierungen solltenunterbleiben. Ich weise das entschieden zurück.
Ich kann mir auch drei inhaltliche Bemerkungen nichtverkneifen.
Erstens. Ihre Aussage, wir hätten die Ökosteuer ge-zielt zur Benachteiligung der Ostdeutschen – quasi vor-sätzlich zu diesem Zweck – eingeführt, ist völlig abstrus.Ich hätte mir gewünscht, daß Sie sich einmal GedankenDr. Wolfgang Schäuble
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über die Auswirkungen Ihrer Politik auf die Ostdeut-schen gemacht hätten, als Sie in den acht Jahren IhrerRegierungstätigkeit nach der Herstellung der deutschenEinheit eine Explosion der Lohnnebenkosten erzeugthaben. Das wäre angebracht gewesen.
Zweitens. Herr Dr. Schäuble, ich stimme Ihrer nach-denklichen Bemerkung über den Vergleich Ostdeutsch-lands immer nur mit dem Westen, nicht mit den früherenRGW-Ländern Osteuropas, zu. Sie haben das als spezi-fisch deutsch bezeichnet. Sie haben aber vergessen, auchzu erwähnen, daß gerade Ihre Partei und die damaligeBundesregierung die ersten waren, die im Jahr der deut-schen Einheit genau diesen Vergleich in die Auseinan-dersetzungen des Wahlkampfs 1990 eingebracht haben.
Drittens. Zwar gab es von Ihnen auch nachdenklicheTöne; aber ich will Ihnen folgenden Hinweis nicht er-sparen: Wir hätten gut daran getan, Klischees wie „kal-ter Krieger“ auf der einen Seite oder „Einheitsgegner“auf der anderen Seite endlich einmal zu den Akten zulegen.
Vielleicht wird das auch noch geschehen.Ich sage das übrigens zutiefst aus der Sicht eines Ost-deutschen. Ich habe 1990, als wir in den ersten gesamt-deutschen Bundestag gekommen sind, schmerzlich er-lebt, daß wir diese alten Schlachten und Debatten wiedervorgefunden haben, die wir als Ostdeutsche via Fernse-hen jahrzehntelang gesehen haben. Damit muß zehn Jah-re nach der friedlichen Revolution endlich Schluß sein.
Vor genau einem Jahr hat der Bundeskanzler seineerste Regierungserklärung nach dem Regierungswechselabgegeben. Diese Regierungserklärung stand unter derÜberschrift: Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen.Deutschlands Kraft, das ist vor allem die Kraft der Men-schen im vereinigten Deutschland, ihre Leistungsfähig-keit, ihre Kreativität und nicht zuletzt ihre Bereitschaftzur Solidarität.Leistungsfähigkeit, Kreativität und Solidaritätsind auch die Schlüsselbegriffe für die großen Aufbau-leistungen, die vor allem von den Menschen in den neu-en Ländern in den letzten Jahren erbracht worden sind.Die Fortsetzung des Prozesses der Angleichung derLebensverhältnisse in ganz Deutschland ist deshalbeine lohnende Investition in die Zukunft des gesamtenvereinigten Landes.Die Bundesregierung läßt sich an dem messen, wassie versprochen hat. Versprochen haben wir: Der Auf-bau Ost hat Priorität. Dieses Versprechen haben wir ein-gelöst.
In den Bundeshaushalten 1999 und 2000 werden derwirtschaftliche und infrastrukturelle Aufbau und die ak-tive Arbeitsmarktpolitik stärker als unter der RegierungKohl gefördert. Die Kassandrarufe der Opposition, dieArbeitsmarktpolitik werde zusammengestrichen und zu-sammengekürzt, sind widerlegt. Im Gegenteil: Nach1999 haben wir die Leistungen für den Osten im näch-sten Jahr noch einmal gesteigert. Unser Ziel ist, dafürmehr als 21 Milliarden DM bereitzustellen.Das bedeutet konkret: Das Auf und Ab der Arbeits-marktpolitik der Regierung Kohl ist endgültig beendet.Die Förderzahlen in den Bereichen der Arbeitsmarkt-maßnahmen, der ABM und der Strukturanpassungsmaß-nahmen, liegen im Jahresdurchschnitt selbst über denZahlen des Wahlkampfjahres 1998. Das ist verantwor-tungsvolle Politik für arbeitslose Menschen. Das istSicherheit statt Wechselbäder.
Wir haben, wie versprochen, die Förderpräferenzenfür die neuen Länder gesichert und die Förderung ziel-genauer gestaltet, um mit gleichem oder weniger Geld inden unterschiedlichen Segmenten mehr bewirken zukönnen.
Die Stichworte dafür lauten: 40 Prozent der Mittel desSofortprogramms gegen Jugendarbeitslosigkeit fließenin die neuen Länder. Ich werde dafür sorgen, daß dasauch im nächsten Jahr so bleibt.
Das Ergebnis ist, daß der im Rahmen des „Bündnissesfür Arbeit“ vereinbarte Ausbildungskonsens, jedem aus-bildungsplatzsuchenden Jugendlichen eine Perspektivezu bieten, kein leeres Versprechen bleibt; die jugendli-chen Menschen können vielmehr die Auswirkungen un-serer Politik selber erfahren.Wir haben im Rahmen der Verhandlungen über dieFinanzverteilung in der Europäischen Union erreicht,daß die Förderpräferenzen für die neuen Länder imeuropäischen Vergleich nicht nur gesichert, sondern dieMittel sogar um 700 Millionen DM pro Jahr aufgestocktwerden. Wir haben die Interessen der ostdeutschenLandwirtschaft bei diesen schwierigen Verhandlungenin einem Umfang gewahrt – ich schaue jetzt einmal zuIhnen, Herr Ministerpräsident Ringstorff, zur Bundes-ratsbank –, wie es selbst viele Regierungen in den neuenLändern nicht erwartet hatten.
Ein letztes Beispiel, meine Damen und Herren: DerInfrastrukturausbau bei Verkehr, Wohnen und Städte-bau wurde von uns für die nächsten Jahre auf eine siche-re und planbare Grundlage gestellt.
Staatsminister Rolf Schwanitz
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An die Stelle der Luftbuchungen im Verkehrswegeplantritt ein verläßliches und in der Finanzierung abgesi-chertes Investitionsprogramm Verkehr. Rund 50 Prozentder gesamten Mittel fließen in die neuen Länder. Darinenthalten ist ein Sonderprogramm Ost, damit für dieWirtschaft der neuen Länder besonders wichtige Pro-jekte zeitlich beschleunigt und früher, als ursprünglicherwartet, fertiggestellt werden können.Zu Ihrer Zeit haben Sie, meine Damen und Herren,eine Altschuldenhilferegelung für die ostdeutschenWohnungsunternehmen – ich erinnere mich noch sehrgut – erst nach sehr langem Zögern verabschiedet. Wirhaben nach dem Regierungswechsel durch notwendigeErleichterungen bereits 1000 ostdeutschen Wohnungs-unternehmen einen Freistellungsbescheid erteilt, damites weitergehen kann mit den Investitionen – wohnungs-politisch bei der Erneuerung des Bestandes, ökologischbei der Modernisierung – und vor allen Dingen auch dieBeschäftigung im Baugewerbe gesichert werden kann.Das ist wirklich eine Erfolgsbilanz, auf die man stolzsein kann.
Die Beispiele ließen sich fortsetzen: vom Aufbaupro-gramm Kultur bis zur Sportförderung. All das schütteltman doch nicht aus dem Ärmel. Sie aber fragen in derheutigen Debatte wieder: Was ist eigentlich aus derChefsache geworden? Meinen Sie etwa, daß das ange-sichts des von Ihnen ruinierten Bundeshaushaltes allesSelbstverständlichkeiten und quasi Selbstläufer wären?
Einsparungen im Haushalt 2000 in Höhe von30 Milliarden DM, wie wir sie vornehmen, damit dieStaatsfinanzen wieder gesunden, müssen in jeder Re-gierung durchgeboxt werden. Das wissen Sie von derCDU/CSU und die übrige Opposition sehr genau; daswissen übrigens auch die ostdeutschen Wirtschaftsmi-nister, die auf ihrer letzten Konferenz ausdrücklich –und dankbar – festgestellt haben, daß der Aufbau Osttrotz dieser schwierigen Lage Priorität behalten hat. Ge-nau das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
Die Menschen in den neuen Ländern können sichdarauf verlassen, daß wir auch weiterhin ein Aufbau-konzept umsetzen, das den besonderen Problemen derneuen Länder gerecht wird, sie aufgreift und Antwor-ten auf Zukunftsfragen gibt. Ostdeutschland ist nachzehn Jahren mittlerweile ein integraler Teil der ge-samtdeutschen Wirtschaft. Deswegen liegt die Ant-wort auf die wirtschaftlichen und auf die sozialen Pro-bleme des Ostens in einer Doppelstrategie: Einerseitsmüssen die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen, diezu mehr Wachstum und Beschäftigung führen, verbes-sert werden; dieses haben wir im Zukunftsprogramm2000 ja auch vorgesehen. Und sie besteht andererseitsin einer besonderen Politik im Interesse der Zukunft desOstens.Das Zukunftsprogramm 2000 schafft nicht nur diefinanziellen Voraussetzungen für eine weitere Unterstüt-zung des Ostens in den nächsten Jahren. Die von unsvorgesehene Unternehmensteuerreform, die Absenkungder Lohnnebenkosten und auch die Entlastung von Fa-milien und von kleineren und mittleren Einkommensbe-ziehern sind gerade auch für Ostdeutschland wichtig.All dies eröffnet zusätzliche Spielräume für Investitio-nen in den ostdeutschen Unternehmen und schafft zu-sätzliche Nachfrage bei der Bevölkerung. Dies liegt zu-tiefst im Interesse der Menschen in den neuen Bundes-ländern, meine Damen und Herren.
Neben dem Zukunftsprogramm 2000 steht unserAufbaukonzept für Ostdeutschland. Es verbessert in-frastrukturelle Bedingungen, gleicht Standortnachteileaus und verbessert die Innovationsfähigkeit der Wirt-schaft. In den ostdeutschen Städten und Gemeinden,zum Beispiel bei der Innenstadtsanierung und der Mo-dernisierung der Wohnungssubstanz, gibt es in dennächsten Jahren noch viel zu tun. Deshalb ist es richtig,daß das zentrale Förderinstrument für die Sanierungdes Wohnungsbestandes, das KfW-Wohnraummoder-nisierungsprogramm – anders als von der Vorgängerre-gierung ursprünglich geplant – nicht in diesem Frühjahrausgelaufen ist. Die Bundesregierung hat dieses Pro-gramm 1999 mit 9 Milliarden DM fortgesetzt. Wir wer-den es mit einer Summe von 10 Milliarden DM – übri-gens gemeinsam mit den neuen Ländern – auch in dennächsten Jahren fortführen.
Dies bedeutet übrigens auch eine Stabilisierung vonTausenden von Arbeitsplätzen in der ostdeutschen Bau-wirtschaft und beim ostdeutschen Handwerk. Dieserpolitische Einsatz war nicht nur richtig, meine Damenund Herren. Er war und ist auch eine gute Entscheidungim Interesse des Ostens.
Unsere Entscheidung, bei der Investitionszulagekünftig zwischen der Erst- und Ersatzinvestition zu un-terscheiden, schafft in Brüssel freie Fahrt für dieseswichtige Gesetz – etwas, was eigentlich die Vorgänger-regierung hätte leisten müssen, aber in den ganzen vierJahren seit Verabschiedung des Gesetzes nicht geschaffthat. Im übrigen, meine Damen und Herren, durch dieseVeränderung und durch die damit verbundene Erhöhungder Investitionszulage für Erstinvestitionen um 25 Pro-zent werden auch Mitnahmeeffekte verringert. Aber vorallem setzen wir damit stärkere Anreize für Zukunftsin-vestitionen, für Investitionen in neue Erzeugnisse, neueTechnologien und Verfahren. Gerade das, meine Damenund Herren, braucht der Osten in dieser Zeit.Von zentraler Bedeutung für die Zukunft des Ostensist aber noch etwas anderes, nämlich die regionale Pro-filbildung für den weiteren Aufbau Ost, die stärkereFörderung und Entwicklung regionaler Entwicklungs-potentiale. Viele Regionen Ostdeutschlands haben sichStaatsminister Rolf Schwanitz
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über besondere Profilbildung in den letzten Jahren zuKompetenzzentren entwickelt. Der Raum Potsdam istheute ein Synonym für ein Netzwerk zukunftsorientier-ter Unternehmen der Medien- und Telekommunikati-onswirtschaft. Allein auf dem ehemaligen Gelände derDEFA arbeiten mittlerweile wieder mehr Mitarbeiter alsvor 1990, weit über 3 000 Fachkräfte. In Dresden undFreiberg sind neue Hochtechnologiestandorte der Mi-kroelektronik entstanden, die bis heute 350 neue, inno-vative Unternehmen angezogen haben. Um das thüringi-sche Institut für Textil- und Kunststofforschung in Ru-dolstadt/Schwarza haben sich bereits 50 innovative Un-ternehmen niedergelassen. Solche und ähnliche regio-nale Entwicklungsprofile zu schaffen und Innovations-potentiale vor Ort zusammenzuführen, das ist dieeigentliche Aufgabe der Zukunft. Deshalb investierenwir in die regionale Stärke.
Auch dies ist eine richtige Entscheidung.Dafür ist unser neues Programm „Inno-Regio“ – esist heute schon mehrfach erwähnt worden – nicht nur einneuer Förderansatz, der sich durch seinen Wettbewerbs-charakter vom früheren Gießkannenprinzip verabschie-det und eine enorme Multiplikatorenwirkung erzeugt,bezogen auf lokale und regionale Initiativen und inno-vative Prozesse. Nein, wir zielen damit auch und geradeauf die Grundvoraussetzung für die Entwicklung derostdeutschen Unternehmen, die vor allem aus den klei-nen Betriebsstrukturen erwächst, nämlich auf den Auf-bau von Netzwerken und hilfreichen Verbindungen undKooperationen untereinander. Gerade diese Netzwerke,die das Engagement von Unternehmen, von Hochschu-len, von öffentlicher Verwaltung und von privaten In-itiativen zusammenführen, sind für kleine und mittel-ständische Unternehmen in der Zukunft geradezu le-bensnotwendig. Wir werden deshalb in den nächstenJahren 25 Modellprojekte voranbringen und setzen dafürrund eine halbe Milliarde DM ein. Das ist gut verwen-detes Geld; denn es ist Geld, das in die Zukunft derMenschen und der ostdeutschen Unternehmen investiertwird.
Genau aus demselben Grund investieren wir auch inAusbildung, in die Hochschulen und in die Zukunft derRegionen. Ebenso wichtig ist es uns, die Gründung vontechnologieorientierten Unternehmen zu fördern. Des-halb werden wir das von der alten Bundesregierung nurbis 1999 vorgesehene, aber wichtige und gut funktionie-rende Programm FUTOUR bis zum Jahr 2003 verlän-gern. Dies ist eine wichtige und für die Betriebe guteNachricht in dieser Debatte.
Dafür, daß die Bundesregierung seit 1998 die richti-gen Schritte gegangen ist und sich auf dem richtigenKurs befindet, spricht übrigens auch das Herbstgutach-ten der Wirtschaftsinstitute. Sie haben das Wachstumder gesamtwirtschaftlichen Produktion in Ostdeutsch-land für das nächste Jahr zum erstenmal wieder so hochvorhergesagt wie das Wachstum in den alten Bundes-ländern. Diese Entwicklung ist ein großer Schritt nachvorn, nachdem die Wirtschaft im Osten in den Jahren1997 und 1998 langsamer als die im Westen gewachsenist und sich der ökonomische und soziale Spalt zwischenOst und West wieder geöffnet hat.Ich nehme die Aufforderung der Institute an die Bun-desregierung gerne auf, an unserem bisherigen Kurs ge-genüber Ostdeutschland festzuhalten. Diese Aufforde-rung ist ein Beleg für die richtige Richtung, die wir hin-sichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung eingeschla-gen haben. Wir sind auf dem richtigen Weg, den wirdeshalb entschlossen fortsetzen werden.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesre-gierung zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls – wirmeinen, dem eigentlichen Tag der deutschen Einheit –hat für uns Liberale eine besondere Bedeutung. DerWille zur deutschen Einheit ist in der 50jährigen Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland – rückblik-kend betrachtet – immer der rote Faden liberaler Politikgewesen. Die Namen Theodor Heuss, Reinhold Maier,Wilhelm Külz, Thomas Dehler, Walter Scheel undHans-Dietrich Genscher sprechen für sich.
Für uns ist die deutsche Einheit ein Glücksfall für diedeutsche Geschichte.Wenn wir heute in den ausländischen Tageszeitungenlesen, daß die deutsche Einheit nach zehn Jahren eineErfolgsstory sei, dann denke ich, daß uns das ein biß-chen stolz machen sollte. Die deutsche Einheit ist näm-lich eine Grundvoraussetzung dafür, daß wir im europäi-schen Einigungsprozeß vorankommen, was ein besonde-res Anliegen – wir werden es immer wieder hier zumThema machen – von uns Liberalen ist.
Von Anfang an ist es Kredo liberaler Politik seit derdeutschen Einheit, der politischen Einheit auch die wirt-schaftliche und soziale Einheit folgen zu lassen.Es ist unbestritten, daß in den letzten zehn Jahren desgemeinsamen Weges enorme Leistungen von den Deut-schen sowohl im Osten als auch im Westen erbrachtworden sind. Die Ostdeutschen haben ja nicht nur Mutbewiesen, indem sie auf die Straße gegangen sind undfür die Freiheit gekämpft haben. Sie haben auch Mutbewiesen und Aufopferungsbereitschaft gezeigt, indemsie sich auf eine vollkommen neue Lebenssituation ein-gestellt haben.
Staatsminister Rolf Schwanitz
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Die Deutschen im Westen haben mit ihrer Leistung,der Schaffung eines stabilen Wirtschaftssystems, dieGrundlagen für die Finanzierung des Aufbaus Ost ge-legt. Nach meiner Auffassung ist im Vereinigungspro-zeß auch deutlich geworden, daß wirtschaftliche und ge-sellschaftliche Freiheit zwei Seiten einer Medaille sind,die einander bedingen. Bereits am Vorabend des Mauer-falls, am 8. November 1989, hat der damalige Außenmi-nister, Hans-Dietrich Genscher, im Bericht zur Lage derNationen gesagt – Frau Präsidentin, ich zitiere mit IhrerGenehmigung –:Nach dem, was in der DDR geschieht, wird nichtsmehr so sein, wie es war: nicht dort, auch nicht beiuns und nirgendwo in Europa.So ist es gekommen. Der Strukturwandel im Osten istvollzogen. Ihm muß aber noch so manche Reform inGesamtdeutschland folgen. Aber Reformen, wie Sie siemachen und verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Regierungskoalition, sind nicht die Reformen,die wir in Deutschland brauchen.
Ich komme noch einmal auf Ihr Gesetz zur Ökosteu-erreform zurück. Wenn Sie in diesem Gesetz vorsehen,die Gaskraftwerke zu begünstigen, wird sich die Situati-on für die Braunkohle im Osten dramatisch verschärfen.Damit gefährden Sie nicht nur den bei der Stromerzeu-gung bestehenden Energiemix, sondern Sie gefährdendarüber hinaus Arbeitsplätze in einer wettbewerbsfähi-gen Branche. Dies ist, Herr Staatsminister Schwanitz,wahrlich kein guter Beitrag zum Aufbau Ost. Dessenkönnen Sie sich nun wahrlich nicht rühmen.
Und da reden Sie, Herr Schulz, von der Zukunft der ost-deutschen Braunkohle! Ich glaube, das ist eine Verdre-hung der Tatsachen.Heute, nach zehn Jahren, ist der Strukturwandel imOsten vollzogen. Die Besorgnis über die in den neuenLändern immer noch doppelt so hohe Arbeitslosigkeitwie in den alten Ländern bleibt. Allerdings sind in die-sem Punkt Differenzierungen angebracht. So gibt es imOsten moderne Unternehmen mit gleich hoher Produkti-vität wie in den alten Ländern, und es gibt auch im We-sten strukturschwache Regionen mit gleich hoher Ar-beitslosenquote wie im Osten.Fakt ist: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hatseit der Wiedervereinigung zwischen Ostsee und Erzge-birge kräftig zugenommen. Das reale Bruttoinlandspro-dukt stieg zwischen 1991 und 1998 um insgesamt45 Prozent. Erfreulich sind ebenso die Zuwachsraten inder Industrie, auch wenn die industrielle Basis insgesamtnoch zu schwach ist. Fakt ist aber auch, daß sich derAufholprozeß seit Mitte der 90er Jahre deutlich verlang-samt hat. Wie schon 1998 wird das Wirtschaftswachs-tum in den neuen Bundesländern mit 1,9 Prozent auch indiesem Jahr um gut ein Viertel hinter dem der altenBundesländer zurückbleiben. Vor allen Dingen die Ex-portwirtschaft kommt nicht voran. Die Exportquote istmit knapp 18 Prozent nach wie vor nur halb so hoch wiein den alten Bundesländern. Darum, meinen wir, müssenin Zukunft die Förderinstrumente für die neuen Bun-desländer viel straffer, gezielter und effizienter einge-setzt werden. Dabei kommt es vor allem darauf an, Prio-ritäten auf eine stärkere Förderung von Innovation undInfrastrukturausbau zu setzen.
Hier, meine Damen und Herren von der rotgrünenRegierungskoalition, haben Sie im wahrsten Sinne desWortes die Weichenstellungen falsch vorgenommen.Bei Ihrem sogenannten Investitionsnotprogramm sindzwar die neuen Bundesländer im Verhältnis zu den altengut weggekommen. Allerdings schwebt über diesemProgramm angesichts einer globalen Minderausgabe inHöhe von 5 Milliarden DM das Damoklesschwert dervöllig unsoliden Finanzierung.
Angesichts dieser investitionspolitischen Keule geratendann auch die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit inBedrängnis oder werden, sollte ich vielleicht lieber sa-gen, gleich aufs Abstellgleis geschoben. Dabei denke ichan die geplante ICE-Strecke Berlin–Leipzig/Halle–Nürnberg. Damit, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, ist ein großer Teil der neuenBundesländer vom zukünftigen Hochgeschwindigkeits-schienennetz in Europa abgekoppelt. Somit sind dieneuen Bundesländer auch in ihrer wirtschaftlichenEntwicklung benachteiligt.Gleiches gilt auch für die Steuerpolitik. Es wurdeschon gesagt: Wir haben als Liberale Anfang der 90erJahre bewußt ein Niedrigsteuergebiet für die neuenBundesländer gefordert. Wäre man dem gefolgt, wärenwir auf dem gemeinsamen Weg der Angleichung derLebensverhältnisse heute vielleicht schon weiter. Wirfordern jetzt niedrige Steuersätze in ganz Deutschland.Was aber machen Sie? Sie erhöhen die Steuern für dieBürger und die kleinen und mittelständischen Unter-nehmen.
Der Schwung für den Aufbau Ost darf nicht nachlas-sen, und das Verfassungsgebot, einheitliche Lebensver-hältnisse in ganz Deutschland zu schaffen, bleibt beste-hen. Deshalb entlassen wir die Bundesregierung nichtaus ihrer Pflicht, den Aufbau Ost zum zentralen Ziel ih-rer Politik zu machen. Nur, dieses, Herr Bundeskanzler– ich sehe ihn jetzt leider nicht –, vermissen wir nach ei-nem Jahr Ihrer Regierung. Bisher hat Ihre Politik, geradein den neuen Ländern, nur zur Verunsicherung der Bür-ger beigetragen.
Heute tun Sie so, als seien Sie der Kanzler der deutschenEinheit. Damals jedoch sind Sie als Ministerpräsidentvon Niedersachsen im Bundesrat sowie in öffentlichenReden der Bremser der deutschen Einheit gewesen.
Cornelia Pieper
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Frau Kollegin,
denken Sie daran, daß Sie Ihre Redezeit schon um eine
Minute überzogen haben.
Selbstverständlich, Frau
Präsidentin. – Erlauben Sie mir einen letzten Satz: Sie,
Herr Bundeskanzler, müssen sich heute – selbst wenn es
Ihnen unangenehm ist – mit dieser Sache auseinander-
setzen und mit ihr konfrontieren lassen.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Markus Meckel.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Der Saal ist etwas leerer ge-worden. Trotzdem muß ich feststellen: Für mich ist esetwas Besonderes, das erste Mal hier in Berlin an diesemPult zu stehen. Auch Peter Struck hat das heute früh fürsich schon gesagt. Ich bin – anders als er – in Ost-Berlinaufgewachsen, habe jetzt mein Büro „Unter den Linden“und überspringe gewissermaßen jeden Tag die Mauer,indem ich durch das Brandenburger Tor hierher gehe. Daschließt sich für mich ein Kreis. Ich glaube schon, daßdas auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer nicht nureine ganz wichtige persönliche Angelegenheit ist. Nein,wir sollten schon deutlich machen, daß dies für uns alsDeutsche ein ganz zentraler Punkt ist.Jeder von uns kann anläßlich bestimmter historischerDaten vermutlich sagen, wo er sich jeweils aufhielt.Dies kann sicherlich jeder im Hinblick auf den9. November 1989 sagen, als er die Nachricht erhielt,daß die Mauer gefallen sei. Ich selber kann es auch inbezug auf den Mauerbau 1961 sagen. – Ich war knappneun Jahre alt, als ich erfuhr, daß die Mauer gebautwird. – Und ich kann es übrigens auch im Hinblick aufden Tag im Jahre 1968 sagen, an dem ich erfuhr, daß dieSowjets in Prag einmarschiert sind. Das sind Daten, dieman nicht vergißt und die das eigene Leben prägen.Ich finde es wichtig, daß wir, wenn wir über die deut-sche Einheit sprechen, solche persönlichen Erinnerun-gen mit konkreten Wertungen und Zusammenhängenzusammenzuführen und einander zuhören. Es ist wich-tig, darüber zu sprechen. Denn nur auf diese Art undWeise kommen wir zu einem öffentlichen Gedenken.Mir scheint, gerade da haben wir noch Schwierigkeiten.Erst öffentliche Festakte machen das Selbstverständniseines Gemeinwesens insgesamt deutlich. Ich denke, dahaben wir noch viel zu lernen. Aber das ist ja nichtsNeues.Lassen Sie uns betrachten, auf welche unterschiedli-che Art und Weise in Deutschland im Laufe der Jahr-zehnte zum Beispiel das öffentliche Gedenken des20. Juli 1944, des Attentates auf Hitler, gestaltet undbewertet wurde: In den 50er Jahren wurde es nicht seltenals Verrat an Deutschland begriffen. Heute verstehenwir es als eine Tat, die unser demokratisches Selbstver-ständnis wesentlich mitträgt.Auch heute, wie gesagt, haben wir Schwierigkeitenmit öffentlichen Festakten. Die Debatte, die wir überden Festakt am letzten Dienstag geführt haben, machtdas deutlich. Alle gehaltenen Reden waren wichtig.
Trotzdem möchte ich sehr deutlich feststellen: Wir ha-ben diesen Tag gefeiert, als wäre es der 3. Oktober 2000.Dies ist schon oft so angesprochen worden. Ich nehmedas nicht übel. Denn nach allgemeinem Selbstverständ-nis ist die gesamte Zeit des Umbruchs, sind diese14 Monate zusammengeflossen, was dann oft mit demBegriff „Wende“ bezeichnet worden ist. Das heißt, so-wohl die Revolution der Freiheit, die Zeit des RundenTisches, die Zeit der frei gewählten Volkskammer unddie Vollendung der deutschen Einheit auf der staatlichenEbene, all das fließt in diesen einen Begriff zusammen.Daß dann einzelne darauf kommen, dies an einem Tagfeierlich zu begehen, nehme ich nicht übel.Aber ich halte es trotzdem für falsch. Zum einen stelltes uns vor die Schwierigkeit, festzulegen, wie wir den3. Oktober des nächsten Jahres feiern. Herr Gorbat-schow und Herr Bush waren schon hier. Wir müssen unsnoch einmal genau überlegen, wie wir diesen Tag bege-hen sollten. Mein Vorschlag wäre: Wir sollten dieStaatsoberhäupter aller unserer Nachbarländer, und zwardie der kleinen und der großen, einladen, um gemeinsammit ihnen diesen Tag feiern. Vielleicht gibt es noch an-dere Vorschläge. Ich glaube aber, dies wäre eine guteSache, um deutlich zu machen: Nicht nur die großenNachbarländer waren daran beteiligt, sondern auch diekleinen, die auch so manche Sorge hatten.
Die Veranstaltung hier im Deutschen Bundestagwar des Ereignisses würdig. Ich habe aber oft gesagtbekommen: Das ist nicht unsere Erfahrung am 9. No-vember. Bei den Ostdeutschen herrschte weitgehend dasGefühl der „Enteignung“ des eigenen Feiertages vor.Die Leute wollten feiern, und sie haben gefeiert. Ichfand, es war ein tolles Fest. Aber sie fragten: Warumsind auf den Bildschirmen immer Helmut Kohl und Prä-sident Bush zu sehen? Was haben die beiden konkret mitdiesem Datum zu tun? Gewiß, sie haben mit der Einheitzu tun. Aber von den Ereignissen am 9. November 1989haben sie genauso überraschend erfahren wie wir alle.
Der Mauerfall am 9. November gehört in den Kontextdes revolutionären Herbstes. Übrigens ist die Mauernicht geöffnet worden – viele reden von „Maueröff-nung“ –, sie ist überrannt worden. Sie ist gefallen imAnsturm der Herbstrevolution. Wenn es in den Wochenund Monaten zuvor nicht die Demonstrationen gegebenhätte, bei denen nicht geschossen wurde – das war un-sere Erfahrung vom 9. Oktober –, dann wäre die Mauerauch nicht plötzlich von innen aufgedrückt worden. DieOstdeutschen haben damit ein weltweites Symbol für
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das Ende der Teilung Europas geschaffen, und zwarnicht nur zur Freude aller Deutschen. Kann es aber sein,daß wir es noch nicht gelernt haben, als Nation ein Festzu begehen, bei dem die Ostdeutschen im Mittelpunktstehen und nicht die westdeutschen Politiker? Ich habemanchmal diesen Eindruck.Ich hätte mir gewünscht, diesen Tag gemeinsam mitden Polen zu feiern, die viele Jahre zuvor aufgestandensind – das ist glücklicherweise oft erwähnt worden –,mit den Ungarn, die schon an anderer Stelle praktischdie Mauer durchbrochen hatten, mit den Tschechen, denSlowaken und den Rumänen, die alle ihre Revolutionhatten, jeweils in unterschiedlicher Weise. Das wäre gutgewesen. Für künftige Feste am 9. November sollten wiran diesen Kontext stärker denken, als wir es diesmalgetan haben, indem wir nicht nur über diese Völker re-den, sondern sie beteiligen.
Die große Politik war gewiß nötig: Zwei-plus-Vier-Vertrag, Einbindung in internationale Organisationen,Integration in die Europäische Union, europäische Si-cherheitsstruktur. Dessen aber sollten wir am 3. Oktober2000 und an den entsprechenden künftigen Feiertagengedenken. Und dann haben Helmut Kohl und all die, diehier geredet haben, natürlich Wesentliches zu sagen.Offensichtlich haben wir aber nicht nur damitSchwierigkeiten, sondern überhaupt mit dem Verhältnisvon Freiheit und Einheit. Wir alle empfinden Freude,daß erstmalig in unserer Geschichte beides möglich war:Freiheit und Einheit. Ich empfinde das als wirklich gro-ßes Geschenk. Aber als Theologe sage ich: Auch wennman etwas geschenkt bekommt, heißt das nicht, daß manuntätig war. Viele haben dazu beigetragen.Es geht aber auch um den inneren Zusammenhangvon Freiheit und Einheit. Ich habe einmal in Bonn vondiesem Pult aus jemanden sagen hören, daß er sichfreue, daß 16 Millionen Deutsche durch die Einheit dieFreiheit erhalten haben. Damit waren die Ostdeutschengemeint. Damals habe ich nicht bemerkt, daß jemanddagegen gesprochen hätte. Ich glaube, die Ereignissewaren genau andersherum: Durch die Freiheit wurde dieEinheit möglich. Freiheit wurde durch die Aktivität derpolitischen Opposition, der Gruppen und neuen Parteien,die sich bildeten, möglich. Diese aber konnte überhauptnur wirksam werden, weil es den Druck auf den Straßengegeben hat. Beides war notwendig. Ich halte es daherauch für notwendig, beides zu benennen. Mich ärgert es,wenn man die Ostdeutschen immer nur auf die hundert-tausend Menschen reduziert, die auf die Straße gegan-gen sind, und sagt: Ihr habt es durch eure Demos ge-schafft!
Das ostdeutsche Handeln ist nicht nur auf die Demon-strationen zu beziehen, sondern auch auf das konkretepolitische Handeln. Aber das politische Handeln derGruppen war eben nur erfolgreich, weil es den Druckauf der Straße gab. Deshalb, so glaube ich, muß künftigbeides genannt werden. Mit dem ostdeutschen Handelnsind durchaus auch Namen verbunden. Eine Reihe vondenen, die damals gehandelt haben, sitzt übrigens in al-len Parteien. Ich fand es auch sehr wichtig, daß JochenGauck sie am 9. November genannt hat.Natürlich dürfen wir nicht vergessen, daß auch dieAusreisenden zu diesen Ereignissen wesentlich beige-tragen haben – auch wenn ich selbst ihnen recht kritischgegenüberstand. Sie hatten die Nase voll und sagten:Wir wollen unseren Weg woanders gehen. Sie hattenkeine Perspektive in diesem Land oder sahen zumindestfür es keine Zukunft mehr.Ich finde es sehr bezeichnend, daß in diesem Jahr vonder Rolle der Kirchen im Herbst 1989 überhaupt nichtmehr die Rede war. Ich denke, diese Rolle ist nach wievor wichtig. Dabei gibt es Unterschiede. Ausschlagge-bend waren nicht unbedingt die Kirchenleitungen.
Herr Kollege
Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Rönsch?
Wenn sie mir nicht ange-
rechnet wird, ja.
Ich
möchte Sie, Herr Kollege Meckel, fragen, wie Sie die
Situation hier im Plenum beurteilen. Wir debattieren
über den Aufbau Ost – der Kanzler hat ihn zur Chef-
sache gemacht –, und kein Minister sitzt auf der Regie-
rungsbank.
Ich kann Ihnen bestätigen,daß mich das nicht freut. Da ich aber nicht weiß, welcheTermine sie haben, kann ich sie auch nicht schelten.
Ich komme nun zu meiner Rede zurück. Ich habe be-reits ausgeführt, daß ich es für wichtig halte, daß wir,wenn wir künftig über solche Themen und Zusammen-hänge reden, deutlich machen, daß die Perspektiven derAbläufe andere waren, als wir in unseren Festtagsredenoft aufzeigen. Deshalb will ich noch einmal darauf hin-weisen, daß wir Ostdeutsche nicht nur diejenigen waren,die die Freiheit erkämpft haben, sondern daß wir in denMonaten danach auch durchaus etwas gestaltet haben.Sehen wir uns die Reden zum 3. Oktober an. Seit1990 wird Herr Kohl mit Recht genannt. Ebenso ist vonHerrn Bush und Herrn Gorbatschow – die Reihenfolgewar in den verschiedenen Jahren unterschiedlich; das istinteressant – die Rede. Hans-Dietrich Genscher wird jenach Redner – auch das ist interessant – erwähnt odernicht. Daneben wird dann immer nur noch von denHunderttausenden von Ostdeutschen auf den Straßen ge-sprochen.Markus Meckel
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Wenn es so gelaufen wäre, hätte die Geschichte an-ders verlaufen müssen. Dann hätte die alte Volkskam-mer nach dem 9. November, offensichtlich vor Schreck,rasch den Beitritt nach Art. 23 des Grundgesetzes be-schließen müssen, und alles wäre entsprechend andersgelaufen. So war die Geschichte aber nicht, und das wirdoft vergessen.
Ich möchte an die runden Tische erinnern, an denenHunderte, ja Tausende von Menschen, die nicht nur aufder Straße waren, konkret versuchten, Strukturen imTransformationsprozeß zu verändern. Ich möchte nichtnur an den zentralen runden Tisch erinnern, sondernauch an die in den Bezirken und Kommunen; denn auchdort wurde konstruktiv gearbeitet.
Ich halte das für eine ganz wesentliche Sache und hättemich sehr gefreut, wenn der Bundestag in einer eigenenVeranstaltung dessen gedacht hätte.
Ich denke an die Volkskammer, die eine ganz we-sentliche Rolle im Einigungsprozeß gespielt hat. Ichmöchte mich durchaus bei Herrn Schäuble dafür bedan-ken, daß er das heute deutlich ausgesprochen hat. Leidermuß ich feststellen: Bis heute – zehn Jahre danach – gibtes keine Bände mit den Protokollen der Sitzungen derfrei gewählten Volkskammer als Teil der Dokumenteder parlamentarischen Geschichte des heute vereintenDeutschlands und seiner Vorgeschichte. Ich halte das fürein großes Desiderat und möchte den Ältestenrat bitten,die Initiative zu ergreifen, um – vielleicht schaffen wires bis zum 18. März; die Texte sind ja vorhanden – einesolche Ausgabe herauszugeben. Das wäre wichtig.
Ich möchte den Ostdeutschen sagen, daß sich mancheLarmoyanz, die ich in unseren Regionen erlebe, fürfalsch halte. Ich glaube, daß es viel wichtiger ist, zu er-kennen, welche Möglichkeiten wir in diesem geeintenDeutschland haben und welche Partizipationsmöglich-keiten es gibt. Auch der Weg in die deutsche Einheit warnicht so einseitig. Das verschütten wir leider, wenn wirimmer nur die Namen westlicher Politiker in diesemProzeß nennen. Ich behaupte: Der Weg zur deutschenEinheit war der institutionelle Weg der Selbstbestim-mung der Ostdeutschen.
Wie hätte sich dieser Prozeß anders und besser voll-ziehen können? Honecker ist ja bei uns gestürzt worden.Die Macht des Politbüros war dann futsch. Modrowübernahm die Macht für den Übergang. Dann gab es denrunden Tisch, der den Übergang organisierte und dasWahl- und Parteiengesetz formulierte. Es gab eine vonOstdeutschen frei gewählte Volkskammer, eine frei ge-wählte Regierung, die die entsprechenden Verträge mitausgehandelt hat. Die frei gewählte Volkskammer hatden Beitrittsbeschluß gefaßt und das Datum entspre-chend festgelegt. Was hätte an diesem institutionellenAblauf besser sein können? Wir sind als Ostdeutsche er-hobenen Hauptes und tatkräftig in die deutsche Einheitgegangen und nicht wie ein fauler Apfel in die alte Bun-desrepublik gefallen.
Herr Kollege
Meckel, denken Sie bitte an die Zeit.
Ich komme zum Schluß. Ich
halte es für wichtig, daß wir heute im vereinten
Deutschland dem Selbstbewußtsein entsprechend, das
auf Grund des historischen Prozesses gewachsen ist,
mitarbeiten und mitgestalten sollten. Die wichtigste Bot-
schaft, die ich gerade in Richtung Ostdeutschland habe,
ist: Organisiert eure Interessen, und macht euch deutlich,
daß der Aufbau Ost und alles das, was wir hier beschlos-
sen haben – übrigens auch die frühere Bundesregierung –,
davon abhängen, daß in diesem Haus Verständnis für die
Sonderprobleme geweckt wird, die wir in Ostdeutsch-
land haben!
Herr Kollege
Meckel, bitte.
Wir müssen unsere Kollegen
davon überzeugen. Das war für Paul Krüger in der frü-
heren Zeit nicht einfach. Auch wir werden jetzt im Lau-
fe unserer Regierungszeit zu kämpfen haben. Aber wir
werden uns durchsetzen. Dadurch, daß uns dies gelingt
und daß Verständnis geweckt wird, wird es eine Per-
spektive für unser vereintes Deutschland geben.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katherina Reiche.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Vor zwei Tagen haben wir indiesem Hause den zehnten Jahrestag des Mauerfallswürdig begangen. Ich finde es wichtig und vor allemselbstverständlich, daß wir in dieser Woche über denStand der deutschen Einheit debattieren. Keine andereEntscheidung wäre der Bedeutung dieses Ereignisses ge-recht geworden. Der Mauerfall war der erste Schritt zurWiedervereinigung unseres Vaterlandes, und die Mauerfiel von Ost nach West.Markus Meckel
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Zehn Jahre danach sind die innere Einheit Deutsch-lands und die Herstellung gleicher wirtschaftlicher Le-bensverhältnisse nach wie vor die Herausforderung füruns, für die Politik und für die Gesellschaft. Garant undTräger für das stabile und dauerhafte Zusammenwach-sen von Ost und West ist die junge Generation, die Ge-neration, die entweder die Mauer nur noch vom Hören-sagen kennt oder die die Diktatur erlebt hat, aber nichtvon ihr verformt wurde. Sie muß den Anspruch, den wiran Deutschland im nächsten Jahrhundert haben, erfüllen,nämlich ein Deutschland schaffen, das seinen BürgernFrieden, Wohlstand und Freiheit sichert und mit seinenNachbarn in Europa und in der Welt harmonisch koope-riert.
Meine Damen und Herren, die junge Generation, alsomeine Generation, muß diesen hohen Anspruch in derZukunft erfüllen. Wir müssen heute die Voraussetzun-gen dafür schaffen, daß dies erreicht werden kann. Die-ser Herausforderung müssen wir uns stellen.Die innere Vereinigung kann eines nicht zum Zielhaben: den Einheitsdeutschen. Er ist nach den Wortenvon Roman Herzog eine Schreckensvision. Roman Her-zog sagte in seiner Antrittsrede 1994:Deutschland ist … nicht nur größer und bevölke-rungsreicher geworden, es ist auch bunter, wider-sprüchlicher und sogar konfliktreicher geworden.
Hinter dem Wort von der „Mauer in den Köpfen“steckt die Idee des Einheitsdeutschen, und das istetwas in jedem Sinne des Wortes Unmögliches.Der Einheitsdeutsche ist eine Schreckensvision.Landsmannschaftliche Vielfalt hingegen ist eine Kraft,nicht das – wie Ministerpräsident Ringstorff vorhin ge-sagt hat – diffuse ostdeutsche Wir-Gefühl, das es nichtgibt. Es ist die Kraft, die wir aus unserer föderalenGrundordnung ziehen und die uns so viel stärkermacht als einen zentralistischen Staat.
Bei aller Vielfalt dürfen wir auf eines nicht ver-zichten, meine Damen und Herren, nämlich auf denkleinsten gemeinsamen Nenner unserer Gesellschaft:die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Viele jun-ge Menschen in den neuen Ländern sind in der Bun-desrepublik angekommen, haben ihre Freiheit ange-nommen, gehen selbstbewußt und aufrecht ihren Weg.Wer hätte noch vor zehn Jahren geglaubt, daß man inden Vereinigten Staaten, in England oder gar in Austra-lien studieren könnte? Wer hätte daran gedacht, einkleines Unternehmen zu gründen oder sich in einerPartei politisch zu engagieren, die man sich selbst aus-gewählt hat?Aber Zahlen belegen, daß nach 40 Jahren SED-Diktatur leider noch nicht alles so ist, wie wir es unswünschen. Das Wahlverhalten der jungen Menschen inden neuen Ländern gibt Anlaß zur Sorge. Bei der letztenBundestagswahl 1998 erhielten extremistische Parteienam linken und am rechten Rand 32 Prozent der Stimmenvon ostdeutschen Wählern zwischen 18 und 25 Jahren.Zählt man die Nichtwähler hinzu, schenken nur 50 Pro-zent der jungen Wähler ihr Vertrauen den demokrati-schen Parteien. Eine Zeitschrift, die in diesem Jahr eineUmfrage gestartet hat, ermittelte, daß nur 38 Prozent derMenschen in den neuen Ländern das Modell der sozia-len Marktwirtschaft befürworten. 32 Prozent sprachensich strikt dagegen aus. Infratest dimap hat ermittelt, daßnur 45 Prozent der Ostdeutschen das politische Systemder Bundesrepublik als dem der DDR überlegen ein-schätzen.Das beunruhigt. Diese Zahlen müssen von uns positivverändert werden, und dabei spielt die Schule eine ganzbesondere Rolle.
Wir müssen an den Schulen drei wichtige Lehrinhalteverbindlich vermitteln. Erstens geht es um eine umfas-sende Behandlung beider Diktaturen im 20. Jahrhundertauf deutschem Boden. Beide haben unseren höchstenVerfassungsgrundsatz „Die Würde des Menschen ist un-antastbar“ schändlich verletzt. Ihrer nachträglichenMythisierung ist Einhalt zu gebieten. Die Herrschafts-und Sozialgeschichte sowie ihre Wechselbeziehungenmüssen vermittelt werden. Nur so kann verhindert wer-den, daß im nachhinein zum Beispiel Honeckers trügeri-sche und unmündige soziale Sicherheit auch noch imnächsten Jahrhundert als angebliche Errungenschaft ge-lobt wird.
Ich habe vor kurzem mit dem Bildungsminister vonMecklenburg-Vorpommern diskutiert. Er hat mir rechtgegeben: Es gibt nur Rahmenpläne – es gibt keine Lehr-pläne – für das Fach Geschichte. So kann es passieren,daß ein Schüler sein Abitur macht, ohne jemals vomkalten Krieg oder von der deutschen Einheit gehört zuhaben. Das ist in meinen Augen ein Ding der Unmög-lichkeit.
Nun hat es der Minister aber auch nicht besonders leicht;er muß – aber das ist seine eigene Schuld – mit einerPartei in Mecklenburg-Vorpommern zusammen regie-ren, die sich die Systemopposition und die Überwindungunserer demokratischen Grundordnung zur Maxime ge-macht hat – eine Kröte, die schwer zu schlucken ist.Zweitens. Eine profunde und lebendige Darstellungder Funktionsweisen der parlamentarischen Demokratie,der sozialen Marktwirtschaft, der Europäischen Unionund der wichtigsten internationalen Organisationen wieNATO und UNO, denen Deutschland angehört, ist inder Schule äußerst wichtig. Denn die VerankerungDeutschlands in der westlichen Wertegemeinschaft wareine ganz wesentliche Voraussetzung für das Zustande-kommen der Einheit. Während des Kosovo-Konfliktshabe ich bei Diskussionen an vielen Schulen noch dieKatherina Reiche
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alten SED-Sprüche von der „imperialistischen NATO“hören müssen.
Der dritte Punkt. Religionsunterricht an Schulen istein sehr wichtiges Instrument, um christliche Werte wieToleranz, Mitmenschlichkeit und Eigenverantwortungzu vermitteln und unsere abendländischen kulturellenWurzeln zu betonen. Aber nach der brutalen Entchri-stianisierung durch die SED im Osten besteht hier eingroßer Nachholbedarf. So sind Kürzungen für konfes-sionelle Schulen und Privatschulen in Sachsen-Anhaltdas Gegenteil von dem, was wir wollen.
Es gibt immer noch junge Menschen in den neuen Län-dern, die noch nie eine Kirche besucht haben, die nichtwissen, warum wir eigentlich Weihnachten, Ostern oderPfingsten feiern.
Diese drei Komponenten sind die Conditio sine quanon unseres Staates. Sie müssen die Jugendlichen in Ostund West als Rüstzeug für ihre Zukunft mit auf den Wegbekommen. Wenn wir Demokratie, Rechtsstaat und so-ziale Marktwirtschaft als unersetzliche Grundlagen un-seres Gemeinwesens in der Jugend in Ost-, aber auch inWestdeutschland verankern, haben wir bereits sehr vielerreicht.Das ist aber noch nicht genug. Vor gut neun Jahrenkonnte die äußere Einheit Deutschlands nur durch diebereits bestehende feste Einbindung der Bundesrepublikin die westliche Wertegemeinschaft erreicht werden. Ichweiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Der Bundes-kanzler hat es in seiner Ansprache am 9. November1999 versäumt, auf die europäische Bedeutung der deut-schen Einheit einzugehen.
Einzig Helmut Kohl ist auf die europäische Dimensioneingegangen.
Das ist in Anbetracht der Tatsache, daß die jetzige Bun-desregierung eine jämmerliche Figur auf europäischerEbene abgibt, kein Wunder.
Jean Monnet sagte in diesem Zusammenhang: Wennich heute den Aufbau Europas in Angriff nehmen müßte,würde ich mit der Kultur beginnen. – Europa ist also vorallem eine Aufgabe von Bildung und Erziehung. Diesgilt besonders für die junge Generation in den neuenLändern, die eine Brücke zur Generation in den zukünf-tigen Beitrittsstaaten in Mittel- und Osteuropa bildet. Ichhabe die begründete Hoffnung, daß die Brücken zwi-schen Berlin und Warschau und Berlin und Prag baldebenso tragfähig sein werden wie die schon bestehendeBrücke zwischen Bonn und Paris.
Dazu müssen wir an unseren Schulen im Geschichtsun-terricht die Grundlage für ein europäisches Geschichts-bewußtsein legen, ein Geschichtsbewußtsein, das denGedanken des Europas der Vaterländer ebenso betontwie die historische Selbstverständlichkeit der Einbezie-hung des mitteleuropäischen Kulturkreises.Wenn ich über meine Forderungen mit den Bürgerndiskutiere, dann höre ich oft den Satz, daß eine positiveHinwendung zu den Grundwerten unserer Gesellschaftdoch nur dann auf fruchtbaren Boden fallen kann, wenndie junge Generation in den neuen Ländern eine gesi-cherte wirtschaftliche Perspektive hat. Mit anderenWorten: Ein arbeitsloser Jugendlicher oder einer, der fürseine Arbeit die Heimat verlassen muß, will von Demo-kratie und Europa wenig hören. Dieser Einwand ist nichtvöllig von der Hand zu weisen. Aber auch dafür hatteund hat nicht nur der Bund, sondern haben vor allem dieLänder die Verantwortung. So ist es nicht verwunder-lich, daß es in einem Land, das rotrot regiert wird, näm-lich Mecklenburg-Vorpommern, die geringste Industrie-dichte, die zweithöchste Arbeitslosenquote und Insol-venzen in großem Umfang gibt; letztere nehmen inzweistelligen Prozentraten zu.
Rotrot tut den Ländern nicht gut, und das haben dieMenschen nicht verdient.
Was dazu in wirtschaftlicher Hinsicht geschehenmuß, wurde bereits ausgeführt.Aber es gibt auch hier eine bildungspolitische Kom-ponente. In der DDR wurden wirtschaftliche Selbstän-digkeit und Unternehmertum nicht zugelassen. DiesesDenken hat sich bis heute in vielen Bildungseinrichtun-gen gehalten. Unternehmertum ist aber die Grundlage,auf der der Aufbau Ost gelingen wird – wenn er dennnicht durch eine völlig verfehlte Steuer- und Verkehrs-politik von Rotgrün abgewürgt wird.Schätzungsweise 70 Prozent der Jugendlichen halteneine selbständige Tätigkeit für erstrebenswert; das isteine positive Zahl. Deshalb ist es außerordentlich wich-tig, daß entsprechende Neigungen bereits früh erkanntund gefördert werden. Schulen und Hochschulen müssenThemen wie Existenzgründungen und unternehmerischeSelbständigkeit praxisnah im Unterricht oder auch imSeminar vermitteln. Sonst laufen sie gerade im OstenGefahr, den Jugendlichen eine Angestelltenmentalität zuvermitteln, bei der eine Beschäftigung im öffentlichenDienst – immer noch streben 50 Prozent aller Schulab-gänger in den öffentlichen Dienst – das Maß aller Dingeist. Gleichzeitig wird den Schülern so vermittelt, daß derStaat nicht für alles sorgen kann.Natürlich werden Ausbildungs- und Beschäftigungs-programme in den neuen Ländern – auch in den alten –mittelfristig noch eine Rolle spielen. Den JugendlichenKatharina Reiche
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muß aber klarwerden, daß dies nur ein Übergang seinkann.
Es gilt also, das Unternehmertum in den neuen Län-dern bereits in jungen Jahren zu fördern. Wir schaffen somehr selbständige Existenzen, die wiederum denjenigen,die das nicht leisten können – nicht jeder ist der gebore-ne Unternehmer – , einen Arbeitsplatz anbieten können.So entstehen Arbeitsplätze in den Regionen. Die Ju-gendlichen können in ihrer Heimat – ich betone: in ihrerHeimat – eine Existenz aufbauen und entwickeln so ihrlandsmannschaftliches Selbstwertgefühl.
Wenn Werteorientierung und wirtschaftliche Per-spektive vorhanden sind, gibt es nach meiner Ansicht fürdas Zusammenwachsen von Ost und West im nächstenJahrhundert gute Aussichten. Dann wird es unerheblichsein, ob einer diesseits oder jenseits der Elbe wohnt. Aufdiesen Tag, meine Damen und Herren, freue ich michsehr.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Kollegen! Auch ich gehöre zu denen, die das Staunendarüber, daß der Bundestag und die Bundesregierungnun mitten in Berlin sind und daß wir täglich durch dasBrandenburger Tor fahren, radeln oder gehen können,einfach nicht lassen kann. Ich finde das großartig.
Deswegen ist es mir wichtig, daß wir heute eine Dis-kussion der Nachdenklichkeit führen – das ist in denmeisten Beiträgen auch gelungen – und uns parteiüber-greifend darüber verständigen, wo wir heute, zehn Jahrenach dem Mauerfall, stehen, was gelungen ist, was Fehl-entscheidungen waren und – das ist mir vor allem wich-tig – welches die aktuellen Aufgabenschwerpunkte seinmüssen. Ich glaube auch, daß wir bei diesem Themanicht gegeneinander, sondern miteinander über die rich-tigen Wege diskutieren und streiten sollten. Denn wiralle haben weder damals, 1989 und 1990, ein Monopolauf die richtigen Rezepte gehabt; noch haben wir sieheute.Mir ist auch wichtig, daß wir um ein paar Aspekte derGegenwart ringen. Wir müssen mehr als bisher lernen,die Instrumente, über die wir hier diskutieren und dannentscheiden, unter den unterschiedlichen Blickwinkelnzu betrachten: West und Ost. Wir neigen oft zu sehr da-zu, alles unter dem West-Blickwinkel zu diskutieren.Aber den Ost-Blickwinkel, der inzwischen teilweise sehrdifferenziert ist, halte ich für genauso wichtig. Diesensollten wir gerade hier von Berlin aus in Zukunft stärkerentwickeln und die Diskussion darüber intensivieren.
Ich möchte meinen Blick nicht zurückwenden, son-dern auf neue Aufgaben zu sprechen kommen, die wirbisher zuwenig in den Blick genommen haben. Wir ha-ben – ich bin Baupolitikerin – schon sehr viel für denAufbau Ost im Bereich des Städtebaus und des Woh-nungswesens getan; Herr Schwanitz hat das bereits dar-gestellt. Auch die Vorgängerregierung hat dort viel ge-tan; das sollte man überhaupt nicht wegdiskutieren. Dasist eine großartige historische Leistung.Trotzdem stehen wir vor folgendem Konflikt: DieArbeitslosigkeit, das Zusammenbrechen der Industrieund der hohe Bevölkerungsrückgang in den Städten de-stabilisiert die Städte zur Zeit in einer neuen Form. Zwi-schen dem, was geschaffen wurde und wird, und derTatsache, daß die Probleme trotzdem weiter voran-schreiten, erwächst eine neue Aufgabe, die wir nochnicht gelöst haben, die wir hier noch nicht einmal disku-tiert haben. Deshalb möchte ich dafür werben, daß wirneben all den schon getroffenen Entscheidungen undden Initiativen für eine verläßliche Fortsetzung des Auf-baus Ost, neben der Wirtschaftsförderung, der Erneue-rung und dem Ausbau der Infrastruktur, der Umvertei-lung von Lasten der Sozialversicherungssysteme und derKulturförderung – was wir alles schon diskutiert haben– diese Frage in Zukunft in neuer Weise – da reichenunsere bisherigen Instrumente nicht aus – stellen: Wiegehen wir um mit dem Bevölkerungsrückgang in einerReihe von Städten und Regionen in Ostdeutschland?
Die Abwanderung – teilweise ins Umland, teilweisein strukturschwache Regionen – und die massive Verla-gerung des Einzelhandels auf die grüne Wiese schwä-chen die Städte. Die Sonderabschreibung Ost hat dieseTendenz gefördert. Um der Konkurrenz des Umlandesund dem Bevölkerungsrückgang zu begegnen, verschul-den sich viele Städte enorm: für Investitionen der Stadt-erneuerung – in der Innenstadt, in den Großsiedlungen –und für die Eigenheimerschließung. Damit sind sie über-fordert. Von daher werbe ich dafür, daß wir uns diesemThema neu stellen.Ich will meine Aussagen mit ein paar Zahlen belegen:Hoyerswerda verzeichnet seit 1996 einen Rückgang derEinwohnerzahl um 26 Prozent, eine Arbeitslosenquotevon 28 Prozent und einen Wohnungsleerstand von fast15 Prozent. Die Einwohnerzahl von Wolfen in Sachsen-Anhalt ist um 22 Prozent zurückgegangen, die Arbeits-losigkeit beträgt 31 Prozent, der Wohnungsleerstand15,5 Prozent. Als letztes Beispiel Wittenberge: Rück-gang der Einwohnerzahlen um 17 Prozent, 22,5 ProzentArbeitslose und 19 Prozent Wohnungsleerstand allein inder Stadt.Dies kennzeichnet Aufgaben, die wir auch in der Zu-kunft diskutieren müssen. Insofern werbe ich dafür, daßsich das ganze Haus, daß sich aber auch die Koalition,die Länder und die Kommunen dieser Aufgabe in neuerIntensität stellen und nicht nur nach hinten, sondernKatharina Reiche
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auch nach vorne schauen. Wir haben noch viel zu tun.Wenn es stimmt, daß wir die Lasten gemeinsam tragenwollen, dann sollten wir das für die Zukunft als Auffor-derung an uns sehen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Nooke.
Frau Präsidentin! Sehrverehrte Damen und Herren! Es ist schon etwas Schö-nes, bei einer solchen Debatte hier im Reichstag re-den zu können. Aber das will ich jetzt gar nicht vertie-fen.Wenn Herr Gysi noch da wäre, hätte ich ihm direktantworten können: Sein Beispiel mit den Ärzten, die14 Prozent Ostrabatt abschreiben müssen, stimmt ein-fach nicht. Es ist doch Ihre Klientel, es sind doch diekleinen Verwaltungsangestellten, die Arbeitslosen, dieSozialhilfeempfänger, die davon profitieren. Das istdoch ein Beispiel von Umverteilung. Jetzt machen Siesich Gedanken um die Anwälte und die Ärzte im Osten.Das funktioniert so nicht. Geben Sie doch zu, daß wirnicht mehr bezahlen können, als wir erwirtschaften! Dashat schon einmal nicht geklappt.
Wir befinden uns im zehnten Jahr der deutschen Ein-heit. Wie die Debatte über den Bericht zum Stand derdeutschen Einheit zeigt, reden wir fast ausschließlichvon Ostdeutschland: über die letzten zehn Jahre, überdie 40 Jahre SED-Diktatur davor und über deren Folgen.Aber die deutsche Einheit geht uns alle an.Ich erlaube mir deshalb einen anderen Blickwinkel– ich zitiere –:Es ist das geschichtliche Leid der Deutschen, daßdie Demokratie nicht von ihnen erkämpft wurde,sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Le-gitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn derStaat in Katastrophen und Kriegen zusammenge-brochen war. Dies ist die Last, in der der Beginnnach 1918, in der der Beginn mit uns steht, dasFertigwerden mit den Vergangenheiten.Mit diesen Worten bedauerte der erste Bundespräsidentder Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, am12. September 1949, wie selten sich in der deutschenGeschichte demokratische Ereignisse aus ihrem eigenenTun legitimieren. Der Beginn der ersten deutschen De-mokratie, der Weimarer Republik, und der Anfang derzweiten Demokratie, der bundesdeutschen Demokratie1948/49, waren durch verlorene Kriege konditioniert.Dieses im Vergleich zu anderen westlichen Demokratiennicht unwesentliche Defizit der gesamtdeutschen Ge-schichte haben im Herbst 1989 die Ostdeutschen beho-ben. Es ist also nicht wenig, woran wir mit unserer heu-tigen Diskussion erinnern.
Heute dagegen, zehn Jahre nach der friedlichen Re-volution der Ostdeutschen, wird in der Öffentlichkeitauffallend oft über Defizite bei den Ostdeutschen ge-sprochen. Ich kann mich manchmal des Eindrucks nichterwehren, als stellten manche in dieser Diskussion denOstdeutschen den Typus eines Superdemokraten entge-gen, den es aber bei unvoreingenommenem Hinsehenauch im Westen nie gegeben hat.
Es wird in Tausenden mehr oder weniger gescheitenAbhandlungen darüber nachgesonnen, wie lange dieMenschen in den neuen Ländern benötigen, um richtigeDemokraten zu werden: eine Generation, zwei Genera-tionen oder noch länger. Der Maßstab, der angelegtwird, ist eine theoretische Konstruktion, nach der Men-schen auf bestimmte Fragen ganz bestimmte Antwortengeben müssen. „Ist Freiheit wichtiger als soziale Sicher-heit?“ ist eine der beliebtesten Fragen, die die Demo-skopen bei ihren Frage-Antwort-Spielen stellen. So, alsob beide Elemente voneinander isoliert werden können,attestiert man denjenigen, die aus dem Bauch heraus sa-gen, soziale Sicherheit sei ihnen ein hohes Gut, Freiheitsei ihnen offenkundig nicht so wichtig. Dies sei, so dieweitere Schlußfolgerung, ein Zeichen von noch nicht er-reichter Demokratiefähigkeit. Ich bin skeptisch, ob derStand der inneren Einheit an Hand solcher Befunde undInterpretationen überhaupt gemessen werden kann.Auch für mich bleibt es unannehmbar, wenn einerStimmung nachgegeben wird, die einen Wertekanon inFrage stellt, der von unveräußerlichen individuellenMenschenrechten ausgeht. Freiheit ist für mich das ersteMenschenrecht. Die Ostdeutschen wollten Freiheit undhaben sie sich im Herbst 1989 endgültig erkämpft.Für mich bleibt weiterhin unerträglich, wenn einevermeintlich umzäunte Kuscheligkeit des Lebens in derSED-Diktatur gegenüber dem Leben im offenen Gelän-de der Demokratie favorisiert wird. Hier werden doch –lax gesprochen – Äpfel mit Birnen verglichen.Was für Debatten haben wir in der alten Bundesrepu-blik und in den letzten zehn Jahren geführt, wenn einergesagt hat, daß NS-Diktatur und SED-Diktatur zumin-dest strukturell vergleichbar sind! Damit wollte niemanddiese beiden Diktaturen gleichsetzen. Aber wir habenüber totalitäre Systeme gesprochen. Wie unzulässig istes erst, wenn wir versuchen, das Leben in einem totalitä-ren System mit dem in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zu vergleichen und die Be-findlichkeiten gegeneinander aufzurechnen!Gleichwohl glaube ich aber auch, daß wir als Politi-ker nicht an Stimmungen in der Bevölkerung vorbeire-den dürfen, selbst dann nicht, wenn wir für negativeTrends nicht allein verantwortlich sind. Ich hielte es fürfalsch, wenn wir bei der Beurteilung bestimmter östli-cher Verhaltensweisen jeden zutage tretenden Unter-schied zu den Westdeutschen gleich dramatisierten. Istes verwunderlich, daß Menschen, die meinen, in einerFranziska Eichstädt-Bohlig
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unsicheren Zeit zu leben, und die in viel stärkerem Maßevon Arbeitslosigkeit betroffen sind, auf eine entspre-chende Frage soziale Sicherheit als nächstliegendenWunsch angeben? Dies muß nicht zwangsläufig eineMißachtung des Grundwertes Freiheit sein. Wer vomtheoretischen Standpunkt aus sagt, wer die Freiheit ge-ringer schätze als die soziale Sicherheit, der sei nochnicht in der Demokratie angekommen, macht es sichmeiner Meinung nach zu einfach.Das politische System des Westens wurde zu einemZeitpunkt akzeptiert, als durch Wohlstand das Gefühlsozialer Sicherheit hergestellt werden konnte. Mehrheit-lich anerkannt wurde das politische System in der altenBundesrepublik von der dortigen Bevölkerung erst zirka15 Jahre später, nämlich zu Beginn der 60er Jahre. Wür-de jemand ernsthaft behaupten, den Westdeutschen der50er Jahre sei deshalb Freiheit nicht wichtig gewesen?Wenn man das in Rechnung stellt, wird man nicht um-hinkönnen, heute, zehn Jahre nach dem Mauerfall, einedurchaus gute Bilanz im Hinblick auf die innere Einheitzu ziehen.
Wenn wir dann noch die Umfrage der „LeipzigerVolkszeitung“ vom vergangenen Dienstag hinzuziehen,wonach 87 Prozent der Ostdeutschen mit ihrem Lebenzufrieden seien – im Vergleich dazu waren es 199467 Prozent und 1996 72 Prozent –, dann sollte auch indieser Debatte davon einiges rüberkommen.
Wäre das Verhältnis von Freiheit und sozialer Si-cherheit einfach, müßte auch die Prioritätensetzung hin-sichtlich notwendiger Reformen in unserer Gesellschaftviel leichter durchzusetzen sein. Das bezieht sich danninsbesondere auf die westdeutsche Bevölkerung. Diedemokratischen Parteien brauchten dann nur zu sagen:Leute, wir müssen aus zwingenden Notwendigkeitenheraus Reformen des Rentensystems, der Sozial- undArbeitslosenversicherung und des Gesundheitssystemsdurchführen. Ihr werdet dabei als Individuen etwas mehrin die Pflicht genommen, weil der Staat nicht mehr allesregeln kann. Aber bitte schön, ihr habt ja die Freiheit,soziale Verantwortung und das, was unter sozialer Si-cherheit zu verstehen ist, unter veränderten Rahmenbe-dingungen vor Ort und in euren Familien selbst zu re-geln.Wäre es tatsächlich so einfach, daß in unserer Gesell-schaft Freiheit, losgelöst von sozialer Verantwortung,der alleinige Maßstab für gute Demokraten wäre, dannmüßten Reformvorschläge ohne größere Widerständeauf schnellstem Wege durchgesetzt werden können.Aber machen wir nicht gerade die Erfahrung, daß dieseben nicht so ist? Machen wir nicht gerade die Erfah-rung, daß beispielsweise soziale Sicherungssysteme, de-ren Grundlagen in den 50er, 60er und 70er Jahren ge-schaffen wurden, für die moderne Gesellschaft des aus-gehenden Jahrhunderts nicht hundertprozentig geeignetsind?Es ist hoffentlich nicht notwendig, zu betonen, daßich nicht der Abschaffung der Prinzipien der sozialenMarktwirtschaft das Wort reden will. Aber die Diskussi-on und der politische Meinungsstreit um das Wie sozial-politischer Reformen zeigt, daß unser Gemeinwesenvom engen Zusammenhang von Freiheit und sozialerVerantwortung geprägt ist. Ich hoffe, es ist nicht anma-ßend, wenn ich die Frage nach Zukunftsfähigkeit undWeiterentwicklung unserer Demokratie auch den West-deutschen stelle.So gesehen, haben auch die in Freiheit und imWohlstand sozialisierten Westdeutschen Ballast in diedeutsche Einheit eingebracht; denn auch sie müssen sichfragen, ob der Halt, den sie in nunmehr 50 Jahren wohl-funktionierender Strukturen gefunden haben, unter denBedingungen globalen Wettbewerbs für die Zukunft auf-rechtzuerhalten ist,
um weiterhin Freiheit und Verantwortung füreinander zupraktizieren.Wenn man zehn Jahre nach dem Mauerfall danachfragt, was den Ostdeutschen 40 Jahre lang auf Grund desSED-Regimes an Freiheit und Wohlstand vorenthaltenwurde, dann kommt man an folgender Feststellung nichtvorbei – sie ist ja schon oft getroffen worden –: Für siehat sich über Nacht alles geändert, faktisch alle Lebens-bezüge. Aber vielleicht ist dadurch die Freiheit, die sichdie Ostdeutschen erkämpft haben, sogar konsequenterund radikaler als die Gewöhnung der Westdeutschen andas Bewährte und Vertraute ihrer alten Bundesrepublik.Angesichts dessen halte ich es nicht für unwahr-scheinlich, daß schon bald die Ostdeutschen in einer Zu-kunft leben, die den Westdeutschen erst noch bevorsteht.Damit könnte vielleicht auch eine Art Westnostalgienach der alten Bundesrepublik verbunden sein.Aber ich will damit nicht schließen. Da heute der11.11. ist, sollte hinzugefügt werden: Ich lade Sie alleherzlich ein, ein bißchen rheinischen Frohsinn in diesemanchmal etwas griesgrämige Stadt Berlin zu bringen.Dann ist die Sehnsucht nach dem alten Rhein nicht ganzso schlimm.Danke schön.
Herr Kollege, Sie
weisen zu Recht darauf hin, daß heute der 11.11. ist. Als
Kölner Abgeordnete kann ich das gut nachempfinden.
Auch mischt sich ein bißchen Trauer hinein, weil der
Karneval weiter als vorher entfernt ist.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Kaspe-
reit das Wort.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich in meinemDebattenbeitrag im Wissen um die vielen Facetten derdeutschen Einheit auf zwei Dinge beschränken, die ichfür ganz besonders wichtig halte: einerseits auf ein Plä-Günter Nooke
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doyer dafür, den Aufbau in den neuen Bundesländern alswichtigste nationale Aufgabe zu sehen.
Andererseits möchte ich auch für ein bißchen mehr Ehr-lichkeit plädieren.Wir haben es heute in vielen Debattenbeiträgen ge-hört: Die objektive Lage ist einfach besser als die sub-jektive Wahrnehmung. Wir sind uns im ganzen Hause– zumindest mehrheitlich – einig: Die DDR ist nicht vonallein zusammengebrochen. Sie ist nicht als wirtschaftli-cher Pleitefall in die Liquidation gegangen. Sie ist kei-nen außen- und bündnispolitischen Umbrüchen zum Op-fer gefallen.Beeindruckend war für mich die Dokumentation derARD am letzten Donnerstag: Während das Politbüronoch tagte und nach Lösungen à la SED suchte, habendie Bürgerinnen und Bürger mit den Füßen beendet, wasdie Bürgerbewegung in den Köpfen in Bewegung ge-setzt hatte.
Was hat denn die Bürgerinnen und Bürger der DDRbewogen, diesen Staat nicht mehr zu wollen? Sie hattendie staatliche Gewalt und Repression satt. Sie hatten essatt, in allen Lebenslagen bevormundet und gegängelt zuwerden. Sie hatten es satt, auf alles zu warten, sich füralles anzustellen und alles zuteilen zu lassen, in eineSchattentauschwirtschaft ausweichen zu müssen.Wer kann das Gefühl vergessen, auf die Westver-wandtschaft angewiesen zu sein, wenn man einmal„echte“ Jeans oder gar „richtiges“ Geld haben wollte,das oft genug erst die Tür zu Dienstleistungen oder demIntershop öffnete? Wer im Osten kennt nicht das demü-tigende Gefühl der Zurücksetzung in den Bruderländerngegenüber Reisenden mit Westgeld?Die Menschen wollten frei von Angst und frei vonstaatlicher Gewalt leben, ihr Leben selbstbestimmt undohne Bevormundung gestalten. Sie wollten besser lebenund wünschten sich, zu reisen, wohin sie wollten. Daswollten die Menschen in der ehemaligen DDR. Das ha-ben sie erreicht.Was die Ostdeutschen überwunden haben, solltensich auch alle die vergegenwärtigen, die meinen, durchLegendenbildung ihre eigene Verstrickung verschleiernzu können, wie Herr Krenz dies in unerträglicher Weiseerst kürzlich getan hat.
Die Vergangenheitsbeschöniger und Populisten vonder PDS, die sich nach meinen Erfahrungen noch immerallzuviel von der alten DDR zurückwünschen, habennichts gelernt.
Die deutsche Einheit ist sicher nicht nur eine Erfolgs-geschichte, sondern auch eine Geschichte von Täu-schungen und Enttäuschungen. Da ist einerseits dieSelbsttäuschung, mit dem Fall der Mauer ins Paradies zugelangen, wie Joachim Gauck das so schön gesagt hat.Viele Ostdeutsche haben den Westen nur durch dasGuckfenster Fernsehen erlebt. Werbung hat Konsumbe-dürfnisse geweckt, genauso wie das Durchschnittsein-kommen eines Arbeitnehmers ungläubiges Staunen her-vorrief. Ich verdiente als Fachzahnärztin doch gerademal 1 700 Ostmark.Da ist andererseits die Selbsttäuschung, daß die DDRschließlich eines der führenden Industrieländer sei. AmTag der Maueröffnung, am 9. November 1989, erklärteder Leiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZKder SED, Günter Ehrensperger – ich zitiere –, „daß wirmindestens seit 1973 über unsere Verhältnisse gelebthaben!“ Er fährt dann fort:Und wenn wir aus dieser Situation herauskommenwollen, müssen wir 15 Jahre mindestens hart ar-beiten und weniger verbrauchen, als wir produzie-ren!Und Ehrensperger schlußfolgert: Wenn das bekanntwird, „dann laufen uns die letzten Leute weg!“. Wierecht er hatte! Das war die Lage im Herbst 1989 aus derSicht eines Mitarbeiters des ZK der SED. Ich bin dem„Stern“ dankbar, daß er diese Zitate ausgegraben hat.Sie entlarven die ganze Verlogenheit, mit der die Altka-der der PDS gegen die Wiedervereinigung Front ma-chen.Die Wahrheit ist, daß die Wiedervereinigung die ost-deutsche Bevölkerung vor einem wirtschaftlichen undsozialen Absturz bewahrt hat. Versetzen wir uns docheinmal logisch in die Zeit zurück. Was waren denndie Perspektiven der DDR im Herbst 1989? Durchdie Geschehnisse in Polen, Ungarn, Rumänien, derCSSR und Bulgarien waren die RGW-Märkte bereitsweitgehend weggebrochen. Übrigens: Die UdSSR warpleite. Die DDR hätte sich dem internationalen Wett-bewerb stellen müssen, um an Devisen zu kommen. Dasheißt, der Wechselkurs der Ostmark hätte die reale Lei-stungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft widerspiegeln müs-sen.Damit wäre der Produktivitätsrückstand der ostdeut-schen Wirtschaft mit einem Schlag ans Licht gekommen– mit all seinen Folgen für die Menschen: Abbau derÜberbesetzung in den Betrieben; jede verfügbare Markin Investitionen. Der ohnehin bescheidene Lebensstan-dard wäre dramatisch gefallen, so wie es in den anderenLändern des ehemaligen RGW noch heute zu besichti-gen ist. Das waren die realen Perspektiven der DDR,und die SED-Führung wußte das. Brachland und Kahl-schlag, die Sie, Herr Kollege Jüttemann beklagen, warendas Ergebnis 40jähriger SED-Politik.Daß auch Fehler beim wirtschaftlichen Aufbau undim Einigungsvertrag gemacht wurden, steht außer Frage.Dies will ich nicht leugnen. Doch es ist ein Gebot derRedlichkeit, Ursache und Wirkung zu unterscheiden undSabine Kaspereit
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festzuhalten, bei wem die Verantwortlichkeit für dieschwierige Lage in den neuen Ländern liegt.
Eine große Täuschung und eine noch größere Enttäu-schung war das Wort von den „blühenden Landschaf-ten“. In dem kenntnisreichen Buch „Sternstunden derDiplomatie“ von Zelikow und Rice ist ein Auszug auseinem Gesprächsprotokoll vom 3. Dezember 1989 zufinden. Auf die Frage von George Bush, der sich nachden Möglichkeiten einer schnellen Wiedervereinigungerkundigt, erhält er von dem damaligen BundeskanzlerKohl sinngemäß die Antwort – ich zitiere –:Kissingers Voraussage, daß die Einheit schon inzwei Jahren erfolgen könne, sei augenscheinlichunmöglich. Das wirtschaftliche Gefälle zwischenden beiden deutschen Staaten sei zu groß.Trotz dieser Einschätzung, aber mit dem Wissen, inAnbetracht der Entwicklung der Ereignisse oft nur nochreagieren und nicht mehr agieren zu können, kam es zuder berühmten Fehlprognose von den „blühenden Land-schaften“. Aus Kalkül wurden unerfüllbare Erwartungengeweckt, denen die Enttäuschungen auf dem Fuße fol-gen mußten. An den Spätfolgen dieses Vertrauensverlu-stes leiden wir noch immer.
Lassen Sie uns zur Gegenwart zurückkommen. BeiUmfragen in den neuen Ländern fällt die Bilanz vonzehn Jahren ohne Mauer – ich sage bewußt „ohne Mau-er“, nicht „nach dem Mauerfall“ – im wesentlichenpositiv aus. Der großen Mehrheit der Ostdeutschen gehtes heute besser denn je; aber es ist unbestritten einNachteil, in den neuen Ländern zu leben: niedrigeresEinkommen, schlechtere Infrastruktur, geringes Eigen-kapital, kaum Anteil am Produktivvermögen, hohes Ar-beitsplatzrisiko. Gerade das Problem der hohen Ar-beitslosigkeit überdeckt die positive Bilanz und trägt da-zu bei, das Gefühl der Unzufriedenheit zu nähren.Politik kann sicherlich nicht alle Probleme lösen.Aber dort, wo sie es kann, muß sie es auch tun. Ich binfroh darüber, daß wir die Akzente so setzen: Der Auf-bau Ost muß fortgesetzt werden, auch im Interesse deralten Länder. Wir brauchen Ehrlichkeit bei der Benen-nung der geleisteten Finanztransfers. Wir brauchen dieWirtschaftsförderung nicht nur zum Strukturausgleich,sondern auch zur Verbesserung der Wettbewerbsfähig-keit. Wir brauchen die Hilfen auf dem Arbeitsmarkt vorallem zur Bekämpfung von Jugend- und Langzeitar-beitslosigkeit. Wir brauchen die Entwicklung der Ver-kehrsinfrastruktur. Diese Bedingungen kann die Politikbeeinflussen.Politik kann aber nicht den Respekt vor dem Mut undder Leistung der Ostdeutschen verordnen, ebensowenigwie sie die Würdigung der solidarischen Leistungen derWestdeutschen anordnen kann. Politik kann auch nichtdie gegenseitige Fremdheit nach 40 Jahren höchst unter-schiedlicher Entwicklungen politischer und gesell-schaftlicher Art auf dem Verordnungswege beenden.Diese Aufgabe müssen alle gesellschaftlichen Kräfte imDialog miteinander, nicht übereinander lösen.
Vorurteile, Unwissen und Geringschätzung dürfennicht ein Bild vom jeweils anderen zeichnen, das diesemnicht gerecht wird. Ist Ihnen nicht auch schon aufgefal-len, daß wir so tun, als sei die deutsche Einheit ein insich abgeschlossener, eher mißlungener Versuch gewe-sen? Es ist aber ein sehr dynamischer Prozeß, der trotzder unstrittigen Notwendigkeit zu Verbesserungendurchaus positiv zu bewerten ist. Daran sollten wir gele-gentlich denken, bevor wir wie bei einem Kranken inWunden herumstochern und über Symptome reden. Ichbin sicher: Der Patient wird wieder, weil er einen un-bändigen Lebenswillen und eine sehr gute Heilungsten-denz hat. Wir alle in diesem Hause kennen die Ursachenfür seine Probleme und haben den guten Willen, ihmauch zu helfen.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Dr. Michael Luther.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heuteüber den Bericht zum Stand der deutschen Einheit. Wirtun dies in einer Woche, die von historischer Bedeutungist: Vor zehn Jahren fiel hier in Berlin die Mauer. Alle,die diese Zeit bewußt miterlebt haben, verbinden mitdiesen Tagen ihre eigenen Erinnerungen.Vielleicht darf ich einmal meine persönlichen Erinne-rungen an diese Tage einflechten. Ich möchte mit demDatum 7. Oktober 1989 beginnen. Ich vergesse dasnicht und kann deshalb auch die damalige Zeit nichtvergessen. Ich hatte damals eine Kerze ins Fenster ge-stellt. Ich hatte fürchterliche Angst und einen großenStreit mit meinem Vater, der noch sehr genau wußte,was am 17. Juni geschehen war und welche Folgen dasmit sich gebracht hatte. In diesen Herbsttagen handeltenviele, auch die Bürgerrechtler, vor denen ich den Hutziehe, weil sie mit Mut auf die Straße gegangen sind, imsicheren Wissen darum, daß die Staatssicherheit in die-sem repressiven Staat präsent war und es auch ganz an-ders hätte ausgehen können. Es waren ja Lager vorbe-reitet. Das, was am 17. Juni geschehen war, hätte inqualifizierterer und anderer quantitativer Form vielleichtauch damals passieren können.Es ist damals gut ausgegangen: Der 9. November1989 war ein Tag der Befreiung. Das war wunderbar. Sorichtig freuen über das, was vor zehn Jahren geschehenist, konnten sich die meisten erst, nachdem sie etwasAbstand dazu gewonnen hatten. Erst dann hatten sie ge-lernt, was für eine Chance es für uns alle gewesen ist.Damals war es ein ganz besonderes Ereignis. Gerade dieBerliner haben in dieser Woche gezeigt, daß man sichSabine Kaspereit
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6150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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über den Fall der Mauer vor zehn Jahren wirklich vonHerzen freuen kann.
Meine Damen und Herren, wir werden auch in dennächsten Wochen und Monaten der Ereignisse von vorzehn Jahren gedenken. Wir werden an die Wahlen zurVolkskammer denken und an die Währungs-, Wirt-schafts- und Sozialunion; wir werden darüber nachden-ken, ob alles richtig war oder ob man es hätte bessermachen können. Wir werden an den Beitritt, der am23. August um 2.30 Uhr in der Volkskammer beschlos-sen wurde – ich vergesse das Ereignis nicht, denn auchich bin damals Mitglied der Volkskammer gewesen –,und an den Tag der deutschen Einheit am 3. Oktoberdenken.Sie, Frau Kaspereit, haben in Ihrer Rede sehr aus-führlich zu dem Thema „blühende Landschaften“Stellung genommen. Ich möchte Ihnen einmal sagen,was ich von diesem Bild, das Bundeskanzler HelmutKohl damals gezeichnet hatte, halte und warum ich esfür so wichtig gehalten habe. Gerade angesichts der gro-ßen Aufgabe, die vor uns gelegen hat, nämlich der Ge-staltung der deutschen Einheit,
bestand für mich die Frage, ob man den Menschen Mutmachen soll, das gemeinsame Haus Deutschland zu bau-en, oder ob man Pessimismus verbreiten und damit zuDepressionen beitragen soll. Lafontaine hat damals da-vor gewarnt, daß alles ganz schlimm und furchtbar wer-de. Helmut Kohl hat gesagt: Liebe Leute, wir schaffendas, und wir werden blühende Landschaften bekommen.Ich bin ihm noch heute dankbar dafür, daß er uns diesenMut gemacht hat. Wir haben die Chance ergriffen undsind so in die deutsche Einheit gegangen.
Meine Damen und Herren, Herr BundeskanzlerSchröder hat heute früh eine Regierungserklärung ab-gegeben. Das, was er am Anfang gesagt hat, hat mirvom Grundsatz her gefallen. Er hat nämlich gesagt, daßdie letzten Jahre deutsche Einheit eine Erfolgsstory sind.Von einem niedrigen Wirtschaftsstand von 30 ProzentBruttosozialprodukt 1991 sind wir immerhin auf60 Prozent gekommen. Es ist viel passiert in dieser Zeit.Er hat auch ganz deutlich die Leistungen der Menschenin den letzten acht, neun Jahren hervorgehoben. Ichdenke, es ist auch richtig, daß man dies an dieser Stelleerwähnt. Die deutsche Einheit wäre allein von Politikernnicht gestaltbar gewesen. Ganz wichtig ist, daß die Men-schen mitgemacht haben, daß ihnen Mut gemacht wur-de, daß sie sich auf den Weg gemacht haben, daß sie so-lidarisch waren, daß sie mitgeholfen haben. Deswegenhaben wir den heutigen Stand erreicht, deswegen kön-nen wir uns heute so sehr über den Fall der Mauerfreuen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, eines wundert mich allerdings immer: WennSie die Regierungserklärung des Bundeskanzlers heutefrüh gehört haben, werden Sie gemerkt haben, daß er diedeutsche Einheit wieder mit den Begriffen „Schulden-explosion“ und „Schuldenlast“ in Verbindung gebrachthat.
Ich frage mich immer: Welche Botschaft wollen uns derBundeskanzler und diese Bundesregierung damit ver-mitteln?
– Ich sage Ihnen, welche Botschaft bei den Menschenankommt. – Sie fördern mit dieser Diskussion, die Sieimmer wieder einflechten, nur eines, nämlich Mißgunstund Ablehnung. Sie wollen damit den Deutschen dieFreude an der deutschen Einheit vergällen, anstatt denDeutschen Mut zu machen, das Geschenk der Ge-schichte an die Deutschen tatsächlich mit frohem Herzenanzunehmen.
Ich meine – Gott sei Dank ist das so –, die Mehrheit derDeutschen fühlt anders. Sie steht hinter der deutschenEinheit. Oder wollen Sie das bezweifeln? Die Mehrheitder Menschen ist solidarisch, und sie weiß, daß man dasgemeinsame Haus deutsche Einheit bauen kann und sollund daß dazu viel notwendig ist. Deswegen, glaube ich,hat man sich vorgestern in eindrucksvoller Weise vordem Brandenburger Tor über das, was in der Vergan-genheit geschehen ist, gefreut.Ich habe in dieser Woche den Reden von Bundes-kanzler Schröder gelauscht, auch heute früh wieder. Ichmuß allerdings eines konstatieren,
– das ist Ihre Einschätzung, meine ist eine andere –:Immer, wenn er über die deutsche Einheit redet, stelleich fest, er redet herzlos darüber.
Das liegt daran, daß er die deutsche Einheit eigentlichnicht wollte. Das spürt man noch heute ganz deutlich.
Ich gebe zu, Sie wollten mit der Bundestagswahl vondiesem Image wegkommen. Deswegen haben Sie schoneinen ganz klugen Trick angewandt. Sie haben nämlichgesagt: „Aufbau Ost ist Chefsache.“ Die Stimmungslagein der Bevölkerung hat aber gezeigt: „Aufbau Ost istChefsache“ blieb leeres Gerede. Im Gegenteil: DieserSatz wird an vielen Stellen eher als Drohung empfun-den.
Dr. Michael Luther
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6151
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Meine Damen und Herren, ich sage deutlich zur Fra-ge der Finanzierung der deutschen Einheit: Mir tut keineMark leid, die in die Renovierung und die General-instandsetzung des Ostflügels des gemeinsamen Hau-ses Deutschland gesteckt wurde. Jede Mark war eswert.
Wenn wir heute über den Stand der deutschen Einheitreden, dann müssen wir auch darüber reden, wie eseigentlich weitergeht, welche Signale beim Aufbau Ostgesetzt werden. Wir wissen, daß die Wirtschaftsprogno-sen und die Arbeitsmarktdaten im Jahre 1999 nicht be-sonders gut sind. Ich glaube, das hat wesentlich damit zutun, was in diesem Jahr an Politik geleistet worden ist.Gestaltung der deutschen Einheit heißt für mich: Manmuß teilungsbedingte Nachteile abbauen.Ich stelle mir manchmal die Frage: Wie würdeDeutschland aussehen, wenn es die deutsche Teilungnicht gegeben hätte? Dazu möchte ich sagen: Wenn esdie deutsche Teilung nicht gegeben hätte – entschuldi-gen Sie dieses Beispiel; ich komme aus Sachsen –, dannwäre Audi ein sächsisches Unternehmen und der Bun-desgerichtshof hätte seinen Sitz in Leipzig. Die Flug-zeugindustrie würde ihre zentrale Stelle wahrscheinlichin Rostock haben.
Es gäbe noch viele andere Beispiele.Man darf jetzt aber nicht auf die Idee kommen undsagen: Teilungsbedingte Nachteile sind dann beseitigt,wenn wieder der ursprüngliche Zustand hergestellt ist.
– Auch ich behaupte das nicht. Hören Sie mir einmaleinen Moment zu, Frau Kaspereit! Ich habe bei Ih-nen ebenfalls zugehört. – Es zeigt sich doch ganz klar,wo die Defizite liegen: Wir brauchen in den neuenBundesländern eine neue und eigenständige Wirtschaft.Das gelingt eben nur durch Ansiedlung von neuen in-dustriellen Kernen und durch die Entwicklung einesneuen und leistungsfähigen Mittelstandes. Dazu sindMittel für Wirtschafts- und für Innovationsförderungnotwendig.In der Vergangenheit haben die Menschen in denneuen Ländern ihre Chancen genutzt. Sie haben Enor-mes geleistet, was in der Regierungserklärung des Bun-deskanzler heute morgen zu Recht festgehalten wordenist. Es ist aber auch festzustellen, daß 60 Prozent Wirt-schaftskraft eine zu schmale Basis sind. An diesemPunkt müssen wir also ansetzen.In diesem Zusammenhang frage ich mich aber: War-um handelt die Bundesregierung angesichts dieser Tat-sache nicht entsprechend? Sie reduziert zum Beispiel dieGA-Mittel, ein sehr wichtiges Mittel für die Förderungvon Unternehmensansiedlungen, oder sie senkt durchdie Hintertür das Fördervolumen für Investitionszulagenum rund 1 Milliarde DM. Wir haben im Ausschuß fürdie Angelegenheiten der neuen Länder darüber gespro-chen. Sie stoppt zum Beispiel auch das Programm FU-TOUR, das innovative Unternehmensentwicklungen inder Vergangenheit sehr erfolgreich unterstützt hat.
Dies ist eine falsche Politik. Deswegen bitte ich Sie:Wenn Sie den Aufbau Ost ernsthaft fortsetzen wollen,dann stocken Sie die GA-Mittel auf das vorjährige Ni-veau, auf mindestens 300 Millionen DM, wieder auf.Wenn es bestimmte Vorgaben durch die EU-Kommission gibt, auf Grund derer das Investitionszula-gengesetz geändert werden muß, dann schreiben Sie daseingesparte Geld anderen Bereichen gut – zum Beispieldem Bereich der Wirtschaftsförderung oder der Ver-kehrsinfrastruktur.
Lassen Sie mich noch ein zweites Beispiel nennen:Verkehrsinfrastrukturnetze. Wer diese Netze von Ostund West im Zeitraum von 1945 bis 1989 vergleicht, derweiß, was 40 Jahre DDR bewirkt haben und welcherNachholbedarf besteht. In der Vergangenheit sind des-wegen die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ in Ganggesetzt worden. Sie waren genauso wichtig wie zumBeispiel das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsge-setz. Wir hatten nämlich einfach keine Zeit, 20 Jahrelang zu planen und zu genehmigen. Es mußte vielmehrsofort etwas geschehen.
Die Antwort der Bundesregierung ist aber das Strei-chen des Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ Nr. 8.Wer heute behauptet, daß der Ausbau der Eisenbahnver-bindung von Erfurt nach Leipzig nur zeitlich verschobenwird, der muß ehrlicherweise konstatieren, daß aufGrund der planungsrechtlichen Situation dieses Ver-kehrsprojekt letztendlich ad acta gelegt werden kann.
Sie beklagen eine Unterfinanzierung des Verkehrs-wegeplanes. Wie antworten Sie aber auf diese Unterfi-nanzierung? Sie senken die Mittel für den Verkehrswe-geausbau.Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Ihre Ge-nossen in NRW, geschädigt durch ihre Bundesregierung,können im Wahlkampf ungestraft Ost und West gegen-einander ausspielen. Sie fordern nämlich mehr Mittel fürden Verkehrswegeausbau in Nordrhein-Westfalen zuLasten der neuen Länder. Das ist keine Politik zur Ge-staltung der deutschen Einheit. Ich sage ganz klar: DieVerkehrsinfrastruktur in Ost und West muß ausgebautwerden. Dazu muß man die richtigen Signale setzen.Das heißt, man muß in diesem Bereich mehr und nichtweniger Geld ausgeben.
Ich möchte noch eine Bemerkung hinzufügen. WennSie schon die Ökosteuer kassieren, dann lassen Sie siewenigstens zum Teil den Autofahrern, die täglich imStau stehen, zugute kommen. Bauen Sie Straßen!Ich habe heute noch etwas Neues gelernt. Für das zu-sätzliche Programm Verkehrsinfrastruktur in den neuenDr. Michael Luther
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Ländern wird ein Finanzvolumen von 3 Milliarden DMeingeräumt. Ich finde das gut. Denn diese Mittel gehennicht zu Lasten des Haushalts. Bei diesen Mitteln han-delt es sich um EFRE-Mittel, also um europäischeMittel, die Sie allerdings dem Deutschen Bundestag alsgroße Leistung der Bundesregierung präsentieren, ob-wohl sie von Europa kommen und, wie ich glaube,wahrscheinlich gar nicht für diesen Zweck eingesetztwerden sollen. Ich finde es gut, daß es diese Mittel gibtund daß sie für den Straßenbau eingesetzt werden. Aberdas als besonderen Erfolg der Bundesregierung zu ver-kaufen, halte ich für relativ absurd.
Wenn man von der deutschen Einheit spricht, ist zuvielem etwas zu sagen. Man müßte zum Beispiel etwaszur sozialen Angleichung sagen. Ich glaube, daß dabeiin den letzten Jahren große Schritte gemacht wordensind. Jetzt sind wir in der Situation, daß die Angleichungder Lebensverhältnisse durch Ihre Gesundheitsreform,Ihre Rentenkürzung und anderes gestoppt wird.Man müßte auch über die Arbeitsmarktförderinstru-mente reden. Sie sorgen für eine Stabilisierung deszweiten Arbeitsmarktes, anstatt zu überlegen, wie Men-schen aus der Arbeitslosigkeit in den ersten Arbeits-markt kommen können. Die entsprechenden Instru-mente, wie zum Beispiel das Instrument Strukturanpas-sungsmaßnahmen Ost für Wirtschaftsunternehmen, ha-ben Sie gestrichen und damit einiges zerstört.
– Richtig. – Ich glaube, auch das sollte an dieser Stelledeutlich gemacht werden. Ich habe das Gefühl, im Jahr1999 ziehen Sie von der Baustelle deutsche Einheit dieBaukräne ab.Lassen Sie mich meinen letzten Gedanken formulieren.
Eigentlich ist Ihre
Redezeit abgelaufen, Herr Kollege.
Mein letzter Ge-
danke. – 1989 sind mutige Männer und Frauen in Dres-
den, Leipzig und Berlin auf die Straße gegangen und
haben die Mauer niedergerissen. Mutige Männer und
Frauen haben in den letzten Jahren die große Aufgabe
deutsche Einheit in die Hand genommen. Ob die Ge-
schichte schreiben wird: „Mutige Männer und Frauen
haben die deutsche Einheit nach 1998 weitergeführt“,
wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, man wird in bezug
auf diese Zeit beim Aufbau Ost eher von Zauderern und
Dilettanten reden. Ich hoffe, nach 2002 gibt es wieder
mutige Menschen, die den Aufbau Ost und die innere
Einheit Deutschlands vollenden.
Danke.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Frank Hempel, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich
muß eingangs etwas zu dem sagen, was der Oppositions-
führer, Herr Schäuble, heute morgen hier gesagt hat. Er
hat starke Vorwürfe in Richtung Landesregierung
Mecklemburg-Vorpommern bezüglich der Ansiedelung
des Airbus A3XX erhoben.
Auch die Bundesregierung ist hier angegriffen worden.
Dazu möchte ich folgendes in Erinnerung rufen. Ge-
rade gestern hatten wir im Ausschuß für Angelegenheiten
der neuen Länder eine Anhörung. Ich möchte Ihnen vor-
tragen, wie die Medien die Ergebnisse dieser Anhörung
beurteilen. Der „Nordkurier“ schreibt: Dabei lobt Airbus-
Manager Dieter Stratmann die Schweriner gar in höchsten
Tönen. Die Landesregierung hat im Vergleich zu ande-
ren Standorten eine glänzende Bewerbung abgeliefert.
Hört! Hört!
Dasa-Manager Gerhard Puttfercken sagte: Jawohl, die
Präsentationen der Staatskanzlei in den letzten Monaten
haben den Standort Rostock-Laage bekanntgemacht, ins
Bewußtsein von Entscheidern gerückt.
Der Kollege Krüger
möchte eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zu-
lassen?
Momentan nicht. Ich möchtedas im Zusammenhang vortragen.Außerdem erinnere ich an Ihren Exwirtschaftsmi-nister Herrn Seidel, der als Sachverständiger geladenwar. Er hat eine wesentlich differenziertere Beurteilungabgegeben als Herr Schäuble heute vormittag. Er hat ge-sagt: Sowohl die alte Landesregierung wie auch die neueLandesregierung hat alles mögliche für die Ansiedlungdes Airbus A3XX getan.
– Moment, Herr Krüger. Auch darauf haben wir eineAntwort. Sie sagen immer, was der Altkanzler hier allesgetan hätte. In welcher Form hat er sich denn dazu ge-äußert? In den Papieren der Staatskanzlei findet sich le-diglich ein anderthalbseitiger Brief, ansonsten – auchgestern nicht – keine Bestätigung von seiten der Indu-strie, daß der Altkanzler einmal mit Dasa-Airbus-Industrie gesprochen hätte.
Dr. Michael Luther
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Jetzt noch einmal zur CDU in Mecklenburg-Vorpommern: Sie hielt dieses Thema für nicht sehrhochrangig; sie hat es in ihrem Wahlprogrammschlichtweg unterschlagen.Jetzt möchte ich zu dem übergehen, was ich eigent-lich sagen wollte: Wir erinnern uns in diesen Tagen andie friedliche Revolution vor zehn Jahren im Herbst1989. Sie war der Ausgangspunkt für alle folgendendramatischen und historischen Ereignisse. Die Men-schen im Osten Deutschlands gingen damals auf dieStraße, um Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlich-keit einzufordern. Die Erinnerung daran, so scheintmir, verblaßt mehr und mehr. Der Fall der Mauer warder Auftakt zur staatlichen Einheit. Die Wiederher-stellung der staatlichen Einheit erweist sich heute we-sentlich leichter als die große Herausforderung, vor derwir jetzt stehen, nämlich die, die innere Einheit zuvollenden.Die Ziele, für die die Bürger der DDR damals auf dieStraße gingen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit, haben wir längst erreicht. Dennoch ist bei vie-len Menschen – ob in West oder Ost – eine gewisse Er-nüchterung eingetreten. Für diese Entwicklung gibt eseine Reihe von objektiven Gründen. Das betrifft zum ei-nen den Verlust des Arbeitsplatzes und die Belastungvieler Bürger, sich in einem radikal gewandelten Wirt-schafts-, Rechts- und Verwaltungssystem zurechtzufin-den.Hinzu kommen zum anderen die im Durchschnittnoch immer geringeren Einkommen der Bürger in denneuen Ländern. Wohl wahr! In den alten Ländern sindmittlerweile viele Bürger der Meinung, daß der AufbauOst zulange dauert. Sie sind deswegen ungeduldig. Mit-unter gewinnt man aber auch den Eindruck, daß dieSchere zwischen Ost und West wieder weiter auseinan-derklafft.Meine Damen und Herren, dann gibt es aber auchviele positive Beispiele der gemeinsamen Entwicklung.Es gibt kaum noch Unterschiede im Freizeitverhalten,zum Beispiel bei den Urlaubszielen. Auch die Auto-marken unterscheiden sich nicht mehr. Man muß langesuchen und die Augen weit aufsperren, will man nocheinen Trabbi auf den Straßen entdecken. Viele Men-schen aus den neuen Bundesländern sind in die altenBundesländer gezogen – und umgekehrt. Sie haben mit-einander Freundschaften geschlossen.Die Politik ist aufgefordert, den gesellschaftlichenZusammenhalt zu stärken. Gewiß, sie hat sich in derVergangenheit bemüht, durch die finanzielle Absiche-rung des Aufbau Ost dazu einen Beitrag zu leisten.Aber – Herr Luther, in diesem Zusammenhang muß ichauf Ihre Rede zurückkommen –, die Menge der Mittelist nicht das Entscheidende. Vielmehr geht es um dieQualität.
Die Verwirklichung der inneren Einheit, so meineich, beinhaltet im übrigen mehr als finanzielle Hilfenund wirtschaftliches Wachstum. Die innere Einheitbraucht in erster Linie ein gemeinsames Zusammenge-hörigkeitsgefühl und eine soziale Verantwortung.
Die Menschen in den neuen Ländern wollen spüren, daßMarktwirtschaft trotz Wettbewerb und Konkurrenz nichtzu Entsolidarisierung führt. Sie wollen, daß wir die un-terschiedlichen Biographien aus der Vergangenheit ak-zeptieren. Dies ist auch schon deshalb notwendig, umgemeinsam in die Zukunft gehen zu können.Als hinderlich bei der Verwirklichung der innerenEinheit erweist sich eine Gesellschaft, die auf lange Zeitin ihren wirtschaftlichen und sozialen Bezügen großeUnterschiede aufweist. Ein Zusammengehörigkeitsge-fühl kann sich so nur schwer entwickeln. Daher sageich: Wir müssen den Menschen in den neuen Länderneine Perspektive geben, was die Angleichung der Le-bensverhältnisse betrifft. Ich bin mir dabei sehr wohlbewußt, daß das kurzfristig nicht zu erreichen ist. Aberdennoch meine ich, wir müssen einen überschaubarenZeitraum anstreben.
Seit der Wiedervereinigung sind, was die Anglei-chung der Lebensverhältnisse betrifft, beachtlicheFortschritte erreicht worden.
Die Einkommen in den neuen Ländern sind deutlich ge-stiegen. Die Rentenbezüge haben sich innerhalb kürze-ster Zeit sogar verdreifacht. Die Infrastruktur ist erheb-lich ausgebaut worden, und, was die Telekommunika-tion betrifft, haben wir mittlerweile das modernsteSystem in Europa.
Trotz dieser guten Entwicklung bestehen noch immerunterschiedliche Einkünfte zwischen Ost und West.Wohl wahr! Zu beachten ist allerdings, daß wir stets diespezifischen wirtschaftlichen Voraussetzungen im Augebehalten müssen. Nicht jede Lücke kann geschlossenwerden. Das Gebot der Gleichwertigkeit der Lebensver-hältnisse in ganz Deutschland schließt doch nicht aus,daß es hier und da regionale Differenzierungen gebenmuß. Das hat damit zu tun, daß es in verschiedenen Re-gionen eine spezifische wirtschaftliche Leistungskraftgibt.Für die neuen Bundesländer ist vor allem wichtig,daß die Produktivität ihrer Wirtschaft und ihrer Unter-nehmen wächst. Die Verwirklichung der sozialen Ge-rechtigkeit steht in einer engen Wechselbeziehung zurEntwicklung der wirtschaftlichen Leistungskraft und derBeschäftigung. Die Förderung der wirtschaftlichen Ent-wicklung in den neuen Ländern hat für uns daher einehohe Priorität. Dabei ist wichtig, daß die Rahmenbedin-gungen in Deutschland stimmen.Das Bundeskabinett hat mit der umfassenden Haus-haltskonsolidierung und dem Steuerreformpaket dieFrank Hempel
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Voraussetzung auch für die Entwicklung der Wirtschaftin Ostdeutschland verbessert. Für die neuen Länder hatdas Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe-werbsfähigkeit generell eine große Bedeutung. Bundes-regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften haben sichdarauf verständigt, im Rahmen des Bündnisses auf einenAbbau der Arbeitslosigkeit hinzuarbeiten und die Wett-bewerbsfähigkeit zu stärken. Behandelt wird in diesenGesprächen unter anderem die Förderung des überregio-nalen Absatzes von ostdeutschen Produkten, die Verbes-serung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit derostdeutschen Wirtschaft sowie die Verbesserung derZahlungsmoral.Gerade in bezug auf den letzten Punkt haben wir ge-handelt. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt,
der im Rahmen einer Anhörung debattiert worden ist.Die Ergebnisse dieser Anhörung werden in dem Gesetz-gebungsverfahren Eingang finden.
Damit wollen wir den vielen, von der schlechten Zah-lungsmoral betroffenen Baufirmen in Ostdeutschlandhelfen.Wir stärken aber auch Forschung und Innovation.
Bereits im laufenden Haushalt haben wir die Zukunfts-investitionen in Bildung und Forschung um fast1 Milliarde DM erhöht.
Im Zukunftsprogramm 2000 haben wir festgelegt, daßForschung und Bildung in Deutschland wieder Prioritäthaben müssen.
Im Jahr 2001 und in den kommenden Jahren werdendie Investitionen jeweils um 1 Milliarde DM erhöht.Und mit dem neuen Fördermodell Inno-Regio habenwir in Ostdeutschland eine Vielzahl von innovativenIdeen in regionalen Netzwerken ausgelöst. Sage undschreibe über 400 Bewerbungen in den unterschiedli-chen Regionen der Länder haben zu einer Aufbruch-stimmung geführt: Viele Projekte, die nicht in die engereWahl des Bundes gekommen sind, werden zur Förderfä-higkeit weiterentwickelt.Für die neuen Länder ist die Förderung der Ver-kehrsinfrastruktur von großer Bedeutung; das isthier schon angeklungen. Dabei bleibt für uns der Vor-rang der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit unveränderterhalten.Ein großes Problem besteht in der Tatsache, daß dervon der alten Regierung aufgestellte Bundesverkehrs-wegeplan völlig unterfinanziert war.
Wir sind deshalb gezwungen, neue Prioritäten zu setzen.Dabei ist im übrigen zu berücksichtigen, daß sich imJahre 9 nach der deutschen Einheit auch die Verkehrs-ströme etwas verändert haben, gerade in bezug auf Polenund Tschechien.Frau Pieper und Herrn Luther möchte ich sagen: DasVerkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 8, die Strek-ke Nürnberg–Erfurt–Berlin, ist nicht aufgehoben, son-dern lediglich aufgeschoben. Auch der Abschnitt zwi-schen Erfurt und Arnstadt wird fertiggestellt. Im übrigenhält die Strecke einer Wirtschaftlichkeitsprüfung imMoment nicht stand. Das müssen wir berücksichtigen,wenn wir neue Prioritäten setzen.
Mit dem Investitionsprogramm für die Jahre 1999 bis2002 haben wir bis zum Abschluß des überarbeitetenBundesverkehrswegeplans die notwendige Planungssi-cherheit gegeben.Meine Damen und Herren, die Regierungskoalitionnimmt ihre soziale Verantwortung sehr ernst, um denvielen Menschen zu helfen, die in Ostdeutschland be-dingt durch den Strukturwandel unverschuldet in Ar-beitslosigkeit geraten sind. Unabdingbar ist – das habendie Partner im Bündnis für Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsfähigkeit anerkannt –, daß die aktive Ar-beitsmarktpolitik auf hohem Niveau fortgesetzt werdenmuß.Die Mittel werden wir in diesem Zusammenhang ge-nauer auf die Zielgruppen konzentrieren. Um den künf-tigen Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktesbesser zu entsprechen, werden die Industrie- und Han-delskammern sowie die Handwerkskammern den künf-tigen Bedarf an Fachkräften verstärkt aufklären. Wir ge-ben für aktive Arbeitsmarktpolitik in diesem Jahr6,3 Milliarden DM mehr aus als noch im Haushaltsjahr1998 unter Ihrer Führung.Wir haben uns nicht mit der hohen Zahl von arbeits-losen Jugendlichen abgefunden, sondern haben ein So-fortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit in die-sem Jahr mit 2 Milliarden DM aufgelegt, wovon40 Prozent den Jugendlichen in den neuen Ländern zu-gute kommen.
Die Union hat im übrigen kürzlich gefordert, dieseserfolgreiche Programm wieder einzustellen.
Ihr – so ist zu vermuten – ist die Lage der jungen Men-schen, die ohne Ausbildungschancen sind, völlig egal.
Frank Hempel
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Sie sollten sich allerdings einmal mit den Jugendlichenunterhalten, die durch unser Programm eine Perspektivebekommen haben.
– Frau Rönsch, wir sind von der Richtigkeit dieses Pro-gramms überzeugt,
und wir werden das im nächsten Jahr fortsetzen.
Werte Kollegen, meine Damen und Herren, die neuenLänder bedürfen der Förderung auf hohem Niveau übereinen langen Zeitraum hinweg. Sie können in einemföderalen Wettbewerb nur dann bestehen, wenn dieAusgangslage für sie annähernd die gleiche ist wie die inden alten Bundesländern.
Es kommt jedoch für die Zukunft darauf an, daß dieMittel wirklich zielgerichtet eingesetzt werden. Dabeimüssen wir die traditionell strukturschwachen Regio-nen Ostdeutschlands besonders fördern. Ich habe mei-nen Wahlkreis in einer solchen strukturschwachen Re-gion, in Vorpommern. Ich weiß aber auch, es gibt ande-re neue Bundesländer, die ähnlich strukturell unterent-wickelte Gebiete haben.Vieles bleibt in Ostdeutschland noch zu tun. Der Wegbleibt steinig, aber ich meine, wir haben die Weichen fürden weiteren Aufbau Ost in die richtige Richtung ge-stellt. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich nocheinmal ausdrücklich für die Arbeit und das Engagementunseres Staatsministers Rolf Schwanitz.
Es gibt für mich keinen Grund zum Pessimismus. DieMenschen in Ostdeutschland haben in der Vergangen-heit gezeigt, daß sie sich radikaler Veränderung sehrwohl flexibel anpassen können. Ich meine: Das ist einPfund, das die neuen Länder in eine Wirtschaft, die im-mer globaler wird, einzubringen haben.Ich bedanke mich.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Krüger. Bitte
sehr.
Herr Hempel,ich bin Ihnen eigentlich dankbar, daß Sie das ThemaA3XX angesprochen haben. Ich wollte Sie nur daraufhinweisen, daß die alte Bewerbung, die gestern in derAnhörung als exzellente Bewerbung bezeichnet wurde,von der alten Landesregierung vorbereitet wurde. Inso-fern hat die neue Landesregierung von Herrn Ringstorffdiese Bewerbung nur abgegeben.Was heute morgen von Herrn Schäuble angesprochenworden ist, war der Umstand, daß sich der alte Bundes-kanzler, obwohl die Entscheidung damals noch nichtfeststand – wir befanden uns noch in der Vorbereitungs-phase der Bewerbung –, ganz klar für Endmontage desA3XX in Rostock ausgesprochen hat. Was wir heute mitSicherheit annehmen können, ist, daß sich Helmut Kohlin der aktuellen Phase der Bewerbung, also heute, wei-terhin massiv auf internationalem Parkett dafür einge-setzt hätte, daß im Zuge der deutschen Einheit in demtraditionsreichen Flugzeugbauland Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich wieder ein Flugzeugbaustand-ort belebt wird. Davon bin ich fest überzeugt.Herr Schäuble hat Herrn Ringstorff heute morgenvorgeworfen, daß er sich überhaupt nicht dafür einsetzt,daß Herr Schröder ein solches Machtwort zugunsten desStandorts Rostock-Laage spricht. Daß hier überhauptkein Druck auf Herrn Schröder stattfindet, halte ich füreinen politischen Skandal. Wir haben gestern in der An-hörung erfahren,
– ich weiß, das ist unbequem für Sie zu hören –, daß mitSicherheit 30 000 Arbeitsplätze in Deutschland im Zu-sammenhang mit dem A3XX entstehen werden.Was wir fordern und wofür wir kämpfen – ich hatteeigentlich immer den Eindruck, daß Sie mitkämpfen –ist, daß von diesen 30 000 Arbeitsplätzen einige Tau-send in den neuen Ländern entstehen, insbesondere andem Standort Mecklenburg-Vorpommern. Bisher habensich dazu weder der Bundeskanzler noch Herr Schwa-nitz jemals geäußert. Wir haben bisher keinerlei Unter-stützung bei der Ansiedlung von Arbeitsplätzen im Zu-sammenhang mit dem A3XX in den neuen Ländern er-halten.Wir haben uns im Ausschuß seit längerer Zeit damitbeschäftigt. Die Anträge, die vorliegen, lauten, daß wirdie Bundesregierung auffordern, sich endlich für diesenStandort einzusetzen. Es geht hier um 5000 oder mehrArbeitsplätze in den neuen Ländern. Die Endmontage istin der Tat derjenige Teil der Work-Share, der am bestengeeignet wäre, dort Arbeitsplätze zu schaffen, weil mannicht eine Vielzahl von Standorten fördern und nicht beiNull anfangen müßte.Daß wir gestern gehört haben, daß die DASA imMoment nicht beabsichtigt, etwas für diesen Standort zutun, bedeutet für dieses Parlament, die Bundesregierunganläßlich der Debatte zum Thema „Zehn Jahre nach demMauerfall“ klar und deutlich aufzufordern, nun endlichetwas zu tun, damit von diesem größten Infrastruktur-projekt,
Frank Hempel
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6156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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von diesem größten Wirtschaftsprojekt Europas endlichetwas für die neuen Länder abfällt. Ich werfe der Bun-desregierung vor, daß sie dafür bisher keinen Fingerkrumm gemacht hat und Herr Ringstorff zwar herum-reist –
Herr Kollege, be-
achten Sie bitte, daß Ihre Redezeit jetzt um ist.
– und so tut, als
würde er sich dafür einsetzen, er aber in Wahrheit bisher
nichts in dieser Richtung bewegt hat.
Jetzt ist Schluß, und
Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.
Ich halte das für
einen politischen Skandal.
Herr Kollege Hem-
pel, wollen Sie antworten? Ich bitte aber darum, daß die
Drei-Minuten-Frist eingehalten wird.
Ich glaube, ich brauche nicht
so lange. Herr Krüger, das, was Sie hier gesagt haben,
ist schlichtweg unwahr.
Es wird Ihnen mit Ihren Ausführungen nicht gelingen,
eine andere Einschätzung des Ausgangs der gestrigen
Anhörung herbeizuführen.
Ich meine, die Experten haben sich gestern dazu ein-
deutig geäußert. Ich weiß, was Sie am liebsten gehabt
hätten: daß hier gestern eine Verurteilung von seiten der
Experten und auch von seiten der Industrie erfolgt wäre.
Das hat es nicht gegeben; ganz im Gegenteil. Man hat
Mecklenburg-Vorpommern eine ganz exzellente Bewer-
bung bescheinigt. Nehmen Sie das zur Kenntnis.
Im übrigen tun wir alles für die Ansiedlung des Airbus
A3XX in Rostock-Laage.
Ich schließe dieAussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Ausschusses für Angelegenheitender neuen Länder zu dem Antrag der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur wirtschaft-lichen Stärkung der neuen Länder, Drucksache 14/2032,Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Druck-sache 14/1551 anzunehmen. Wer stimmt dieser Be-schlußempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? Gegen die Stimmen von F.D.P., CDU/CSUund PDS ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-ses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem An-trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „AufbauOst endlich wieder richtig machen“, Drucksache14/2032, Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/1210 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlußempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthal-tungen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-empfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten derneuen Länder zu dem Antrag der F.D.P. mit dem Titel„Aufbau Ost muß weitergehen“, Drucksache 14/2032,Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Druck-sache 14/1542 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlußempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltun-gen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen jetzt zu der Beschlußempfehlung desAusschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zudem Antrag der Fraktion der PDS zur Angleichung derLebensverhältnisse und zur Herstellung von mehrRechtssicherheit in Ostdeutschland, Drucksache 14/2032, Nr. 4. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/1277 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlußempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlußempfeh-lung angenommen worden.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu demAntrag der Fraktion der CDU/CSU zur Realisierungder Schienenneubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin; das ist Drucksache 14/2047, Nr. 1. DerAusschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/1208 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluß-empfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlußempfehlung an-genommen worden.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem An-trag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Verkehrs-projekte Deutsche Einheit müssen zügig realisiert wer-den“; das ist Drucksache 14/2047, Nr. 2. Der Ausschußempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1543 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlußempfehlung an-genommen.Dr.-Ing. Paul Krüger
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/1825 und 14/1715 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,wobei die Vorlage auf Drucksache 14/1825 zusätzlichan den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft undForsten und den Ausschuß für Wirtschaft und Technolo-gie und die Vorlage auf Drucksache 14/1715 zusätzlichan den Sportausschuß überwiesen werden sollen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. zur Regierungser-klärung auf Drucksache 14/2039 an den Ausschuß fürAngelegenheiten der neuen Länder zu überweisen. Gibtes dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Nun rufe ich Punkt 4 der Tagesordnung auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenMaria Eichhorn, Hannelore Rönsch ,Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSULebenssituation von Seniorinnen und Seniorenin der Bundesrepublik Deutschland– Drucksachen 14/679, 14/1717 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
– Eigentlich ist es ein spannendes Thema, liebe Kolle-ginnen und Kollegen. Sie können gerne hierbleiben.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im „InternationalenJahr der Senioren“ an die Bundesregierung eine GroßeAnfrage zur Lebenssituation von Seniorinnen und Se-nioren in der Bundesrepublik Deutschland gerichtet. Wirwollten wissen: Wie ist die tatsächliche Situation? Wiesind die Lebensumstände? Wie wirkt das, was wir in denvergangenen Jahrzehnten für die Senioren in unseremLande erreicht haben? Was müssen wir verbessern? Wosind Veränderungen angesagt?Wir wollten mit dieser Großen Anfrage der Senio-renministerin im „Internationalen Jahr der Senioren“endlich einmal die Gelegenheit geben, Stellung zurPolitik für die älteren Menschen, für die ältere Generati-on, für die Senioren zu nehmen, da in diesem „Interna-tionalen Jahr“ von Regierungsseite bisher noch garnichts unternommen wurde.
Die einzige Großveranstaltung, die angesagt war, wur-de aus politischen Gründen zwei Tage vorher abgesagt,und etwa 500 Experten und Senioren aus ganz Deutsch-land wurden schlichtweg ausgeladen, weil wohl derKanzler wieder ein Machtwort sprechen wollte. Die Se-niorenministerin hat sich in die Rente verabschiedet, be-vor sie angefangen hat, überhaupt zu arbeiten.
Dabei kann Politik für ältere Menschen, für Seniorenein sehr weites Feld und ein sehr spannendes Arbeitsge-biet sein. Diese Große Anfrage hat uns bestätigt, daß dieLebenssituation der älteren Menschen, der Senioren vonihnen selbst allgemein als gut beurteilt wird.Wir werden in Deutschland alt und älter; die demo-graphische Entwicklung zeigt dies auf. Sie wird auchfür uns in der Zukunft eine ganz besondere Herausforde-rung sein. Im Jahre 2030 wird über ein Drittel der Ge-samtbevölkerung über sechzig Jahre alt sein. Teilweiseleben schon heute fünf Generationen im Familienver-band. Das ist Freude, aber das ist auch Arbeit für diePolitik.Hier ist ganz besonders die Bundesregierung gefor-dert. Warum haben wir eigentlich eine Seniorenministe-rin, wenn an keiner Stelle irgendwelche Initiativen er-griffen werden – ich komme nachher darauf zurück, wasan Seniorenpolitik von wem veranlaßt wurde – undwenn man sich nicht um die Generation der Menschenüber sechzig Jahre – das ist die größte Bevölkerungs-gruppe –, kümmert?Unsere älteren, unsere alten Menschen betrachtenAlter durchaus als Chance. Sie haben eine gute Ausbil-dung, und sie wollen sich in der Gesellschaft beteiligen.Sie stehen mitten im Leben, mitten in der Gesellschaft.Sie sind selbständig, aktiv und selbstbewußt. Sie wollensich selbst, aber auch die Welt entdecken. Und sie wol-len ihr Wissen, ihre Lebenserfahrung an die nachfolgen-den Generationen weitergeben.Ein Großteil beteiligt sich ehrenamtlich. Wir habendies seinerzeit als Bundesregierung aufgegriffen und ha-ben mit dem Bundesaltenplan und mit den Senioren-büros, die wir Deutschland modellhaft in den alten undneuen Bundesländern eingerichtet haben, den Senioren,die sich aktiv in die Gesellschaft einbringen wollen, dieChance eröffnet, dies auch zu tun. Unsere Seniorenübernehmen wertvolle Aufgaben in unserer Gesell-schaft, und dabei sollten wir sie unterstützen.Erstaunlich ist für mich, daß die älteren Menschen,die Senioren, sich ihrer Stärke in der Gesellschaft zumBeispiel auf Grund ihrer Kaufkraft noch nicht so be-wußt geworden sind. Sie sind ein Wirtschaftsfaktor unddamit ein Machtfaktor, der in der Politik ernst genom-men werden will und der auch in der Politik sein Wortmachen will.Wir müssen uns für die Zukunft überlegen, ob dieSeniorenbeiräte in den Kommunen immer nur beratendtätig sein können oder ob sich Senioren nicht wesentlichaktiver in die Politik einbringen sollten und müßten, umihre eigenen Interessen zu vertreten.Vizepräsidentin Anke Fuchs
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6158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Ich sagte schon: Es leben heute innerhalb einer Fami-lie teilweise fünf Generationen. Es gibt die jungen Al-ten, die älteren Alten und die Senioren. Jeder Personen-kreis braucht sein eigenes Politikfeld und braucht seineeigene Zuwendung. Im Bundesaltenplan der vorigenBundesregierung ist dies sehr deutlich geworden.Ältere Menschen und Senioren brauchen aber ganzbesonders Sicherheit für die finanzielle, für die sozialeAbsicherung ihres Alters. In dieser Beziehung sind sievon der neuen Bundesregierung komplett allein gelassenworden. In jedem Feld – ich nenne hier die Gesund-heitspolitik und die Gesundheitsreform, und ich nenneganz besonders die Rentenpolitik – werden diese Men-schen verunsichert, und sie wissen nicht, wie die näch-sten Lebensjahre und Lebensjahrzehnte aussehen.
In der Antwort auf die Große Anfrage erklärt die FrauMinisterin zu den Rentenstrukturreformen: Wir habenein wegweisendes Konzept vorgelegt, und bis Ende1999 werden die Eckpunkte vorliegen. Wir hören per-manent etwas von Eckpunkten. Jedes Kabinettsmitgliedhat da seine eigenen Vorstellungen. Das Schöne daranist: Sie werden immer lauthals draußen vorgetragen. Ichselbst habe in meinem Wahlkreis ein Kabinettsmitglied,das sogar handschriftlich an einen besorgten Rentnerschrieb, daß man selbstverständlich Garant für die net-tolohnbezogene Rente sei und daß sich der Bundes-kanzler persönlich dafür verbürge.Nun hat sich dieser bei den Rentnern schon entschul-digt; die Kabinettskollegin hat es bisher noch nicht ge-tan. Aber sie hat noch die Chance, ihren Irrtum in die-sem Punkt einzugestehen.Ich bitte Sie: Nehmen Sie die Sorge, nehmen Sie dieAngst von den Rentnern weg, und beenden Sie die Viel-stimmigkeit, die im Kabinett herrscht. Denn unsere älte-ren und alten Menschen brauchen eines: Sie brauchenVerläßlichkeit, und sie brauchen Sicherheit.
In der Großen Anfrage haben wir verschiedene Fra-gen zur Wohnsituation der Älteren gestellt.
– Wissen Sie, von wem der initiiert wurde? – Von deralten Bundesregierung! Herzlichen Dank für diesesStichwort.Wir müssen uns Gedanken über die Wohnsituationder älteren Menschen machen; denn sie verbringen vierFünftel des Tages in ihrer Wohnung. Wir werden beiguter Gesundheit alt und älter. Trotzdem sollte dieseBundesregierung verstärkt dafür werben – wie es schondie Vorgängerregierung getan hat –, daß man sich bei-zeiten und bei guter Gesundheit bereits auf die nächsteLebensphase einrichtet. Es sollte sichergestellt sein, daßdann, wenn die Mobilität abnimmt, die Wohnung schonentsprechend umgestaltet ist oder die Möglichkeit einesUmzugs in ein Altenheim, das in der Nähe sein mag, be-steht.Noch die alte Bundesregierung hat ein Modellpro-gramm „Selbstbestimmtes Wohnen im Alter“ aufgelegtund ermöglicht, daß dessen Erkenntnisse in einer Daten-bank festgehalten werden können. Ich wünsche mir, daßdieses Modellprogramm der alten Bundesregierung aus-gebaut wird und die Erkenntnisse, die in der Datenbankgesammelt werden, an die Bundesländer bzw. an dieKommunen weitergegeben werden.Ich habe eben schon die Altenheime und Pflegeein-richtungen angesprochen. Diese sind bestimmt für dieMenschen, die nicht mehr selbstbestimmt leben undwohnen können und zu Hause nicht mehr durch Ver-wandte oder Bekannte versorgt werden können. In denAltenheimen und Pflegeeinrichtungen sind heute 67Prozent der Menschen über 80 Jahre alt. Dieser Anteilan Hochbetagten in den Pflegeeinrichtungen, von denenein großer Teil demenzkrank sind, wird noch zunehmen.Diese Tatsache ist bedingt durch die Pflegeversicherungund kennzeichnet einen guten Prozeß. Heute wird einGroßteil der hilfsbedürftigen Alten zu Hause von Ver-wandten, Bekannten und über die Sozialstationen ge-pflegt. Die Inanspruchnahme eines Pflegeheimes ist einevernünftige Sache, wenn eine Versorgung zu Hausenicht möglich ist.
– Ich finde es immer besonders pikant, wenn von derPDS Zwischenrufe kommen, wenn es um Pflegeein-richtungen geht. Ich selbst habe 1991 das erstemal Gele-genheit gehabt, Altenpflege- und Behinderteneinrich-tungen der ehemaligen DDR zu besuchen. Ich mußtebitter erkennen, daß dieses alte System jeden „entsorg-te“, der nicht mehr produktiv war.
Man nahm überhaupt keine Rücksicht darauf, ob es sichum geistig Behinderte, Alkoholkranke oder alte pflege-bedürftige Menschen handelte.Seinerzeit war ich verantwortlich für 1 400 Pflegeein-richtungen. Mittlerweile bin ich, Frau Hanewinckel, inden unterschiedlichen Regionen der neuen Bundesländerin vielleicht 250 Einrichtungen gewesen. Ich weiß, wo-von ich rede. Ich weiß nicht, warum Sie von der SPD,Frau Hanewinckel, das alte DDR-Regime verteidigen.Ich hätte Ihnen gewünscht – –
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hanewink-
kel?
Ichhätte zwar gerne noch den Satz beendet, aber selbstver-ständlich.
Hannelore Rönsch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6159
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Jetzt besteht der
Wunsch nach zwei Zwischenfragen. Dann zuerst die
Kollegin von der PDS.
Nein, der PDS gestatte ich keine Zwischenfrage.
Also erteile ich das
Wort zu einer Zwischenfrage der Kollegin Hanewinckel.
Frau Rönsch, Sie ha-
ben sich dazu geäußert, daß es in den Altenpflegeheimen
der DDR zum Teil sehr schlimme Zustände gab. Das
weiß ich selber; denn ich habe zwölf Jahre lang in Halle
an der Saale als Pastorin für Klinikseelsorge auch dort
gearbeitet. Sind Sie bereit, den Begriff „Entsorgung“,
der vor allen Dingen Frauen trifft, die in den Altenhei-
men der DDR gearbeitet haben, zurückzunehmen, weil
Sie damit unterstellen, daß die Pflegekräfte offensicht-
lich nicht bereit und in der Lage waren, sich um alte
Menschen nach bestem Wissen und Gewissen zu küm-
mern? Letzteres haben sie nämlich getan.
Dies ist keine Entschuldigung für die schlechten bauli-
chen Zustände und für andere Mißstände. Diese waren
nur ein Spiegelbild von dem, wie es sonst in der DDR
aussah.
Sehr
verehrte Frau Kollegin Hanewinckel, ich empfehle Ih-
nen, die entsprechende Stelle im Protokoll sehr genau
nachzulesen.
– Bei Ihnen bezweifle ich dies, weil Sie die meiste Zeit
im Parlament schreien.
Von der Frau Kollegin Hanewinckel hätte ich schon
erwartet, daß sie genau hinhört, weil es sich um eine
sehr sensible Stelle handelt. Ich wiederhole, daß das alte
DDR-System Menschen, die nicht mehr produktiv wa-
ren, „entsorgt“ hat. Ich habe hohen Respekt vor den
Männern und Frauen, die Pflegearbeit unter schwersten
Bedingungen und in Häusern geleistet haben, die als
Pflegeeinrichtungen – teilweise – überhaupt nicht geeig-
net waren.
Frau Hanewinckel, ich weiß, wovon ich rede. Ich ha-
be, wie gesagt, eine große Anzahl von Behinderten- und
Altenpflegeeinrichtungen in den neuen Bundeslän-
dern besucht. Ich habe erlebt, daß schwerstbehinderte
Kinder Bett an Bett mit 82jährigen und 84jährigen Frau-
en lagen, die selber schwerstpflegebedürftig waren. Ich
habe erlebt, daß Alkoholkranke mit alten, pflegebedürf-
tigen Männern Bett an Bett lagen. Ich hätte mir für die-
jenigen, die die Pflegearbeit geleistet haben und auch
noch heute leisten, andere bauliche Voraussetzungen
gewünscht.
– Hat jemand gerade gerufen, wir hätten zehn Jahre
nichts gemacht? Frau Kollegin, ist Ihnen bewußt, daß
aus der Pflegeversicherung 800 Millionen DM pro
Jahr über acht Jahre für Pflegeeinrichtungen in den neu-
en Bundesländern vorgesehen oder in diese geflossen
sind?
Haben Sie eine Ahnung, wie die Häuser heute aussehen?
Haben Sie schon einmal etwas von der Stiftung „Da-
heim im Heim“ gehört, in der sich Menschen aus der
alten Bundesrepublik organisiert haben, weil sie sich
verpflichtet fühlten, den Pflegeeinrichtungen in den
neuen Bundesländern zu helfen? Wenn Sie sich darum
einmal kümmern, dann werden Sie solche Zwischen-
rufe nicht mehr machen.
Ich möchte noch ganz kurz – auf Grund der vielen
Zwischenfragen kann ich darauf nicht mehr ausführ-
licher eingehen – auf die Situation der ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Bundesrepublik
eingehen. Es gibt heute 500 000 ältere und alte Men-
schen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen in unser
Land gekommen sind. Über 90 Prozent dieser Menschen
hatten die Rückkehroption im Kopf. Deshalb haben sie
sich weder kulturell noch sprachlich bei uns integrieren
können und wollen. Aber jetzt sind sie bereit, in der
Bundesrepublik Deutschland zu bleiben, weil hier meh-
rere Generationen, ihre Kinder und ihre Enkel, leben.
Das Problem besteht nun darin, daß das Verhalten der
jüngeren Generationen der ausländischen Mitbürger dem
junger Deutscher entspricht. Sie leben in einer Drei-
zimmerwohnung und haben überhaupt keine Chance
mehr, den alten Menschen, der irgendwann aus dem fer-
nen Anatolien nach Deutschland gekommen ist, aufzu-
nehmen. Hier gibt es also ein großes Problem. Die alte
Bundesregierung –
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
– ja –hat begonnen, diesen älteren Menschen durch entspre-chende Modellprojekte eine Perspektive in Deutschlandzu geben. Ich bitte Sie eindringlich: Kümmern Sie sichum diese Menschen, weil sie besonders einsam sind.Auch die alte Bundesregierung hat für diese MenschenModellprojekte auf den Weg gebracht. Ich würde mirwünschen, Frau Staatssekretärin, daß Sie mir vier oderfünf Modelle nennen, die während Ihrer Regierungszeitentstanden sind; denn Seniorenpolitik ist mehr als dasWeiterschreiten auf alten Wegen. Auch die Kreativitätdieser Regierung ist gefragt.
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6160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Grehn das Wort.
Frau Kollegin Rönsch, Sie
haben sich einer Fragestellung aus der PDS verweigert
und waren nicht bereit, zu sagen, was Sie mit „Entsor-
gung“ meinen. Dieser Begriff ist eindeutig belegt. Ich
weise daher die Anwendung dieses Begriffes auf die
Alteneinrichtungen der ehemaligen DDR zurück. Sie
haben damit die Altenheime der Kirche genauso wie
die funktionierenden Einrichtungen, die staatlicherseits
betrieben worden sind, diffamiert. Ich selber war lange
genug ehrenamtlich in solchen Einrichtungen tätig.
Zweitens fordere ich Sie auf, zur Kenntnis zu neh-
men, daß es in den Alteneinrichtungen der Stadt Mün-
chen Fälle gab, in denen die Bewohner dieser Heime
kurz vor der Austrocknung standen, und daß wir dies
nicht als einen systembedingten Fehler, sondern als das
angesehen haben, was es ist: Gott sei Dank in aller Re-
gel ein Ausnahmefall, den es in der DDR sicher auch
gab.
Frau Kollegin
Rönsch, Sie wollen antworten? – Bitte sehr.
Ich
habe durch diese Kurzintervention zur Kenntnis ge-
nommen, daß sich dieser Kollege der PDS offensichtlich
zu all dem bekennt, was die SED angerichtet hat.
Jetzt erteile ich der
Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
das Wort. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Das Internationale Jahr derälteren Menschen ist eine gute Gelegenheit, im Deut-schen Bundestag über die Situation der Seniorinnen undSenioren zu debattieren.Wir haben die Große Anfrage so beantwortet, daß einumfassendes Bild der Lebenssituation älterer Menschenin Deutschland entstanden ist. Die Gruppe der60jährigen und Älteren hat heute einen Anteil von guteinem Fünftel an der Bevölkerung; dieser Anteil wird imJahr 2030 über ein Drittel betragen. Wir wissen nicht,was im Jahr 2030 sein wird. Aber das ist auch nicht diewesentliche Frage; denn der demographische Wandelist nicht nur eine zukünftige Entwicklung. Nein, wir sindheute schon mittendrin, und das nicht erst, Frau Rönsch,seit Rotgrün regiert. Das war auch vorher schon so.
Insofern ist der Vorgang, daß die aus der Regierungs-verantwortung abgewählte Fraktion der CDU/CSU einpaar Monate nach dem Regierungsverlust diese umfang-reichen Fragen an die neue Bundesregierung stellt,schon bemerkenswert. Ihre Fragen zeigen nämlich, daßSie die Defizite gut kennen.
Sie haben mit großer Sorgfalt alle Probleme ältererMenschen zusammengetragen. Die Probleme sind Ihnenalso wohl bewußt. Allerdings bleibt dann die Frage,warum Sie während Ihrer 16jährigen Regierungszeitkeine Abhilfe geschaffen haben.
Ich möchte es jedoch positiv wenden: Ihre Fragendrücken eine gewisse Neugier darauf aus, wie wir dieProbleme, die uns die alte Bundesregierung hinterlassenhat, nun wohl angehen werden.Eine erfreuliche Ursache des demographischen Wan-dels ist die Steigerung der Lebenserwartung. Hierausergibt sich auch eine entscheidende Veränderung inder Bevölkerungsstruktur: die Zunahme der Zahl derHochbetagten, also derer, die 80 Jahre alt und älter sind.Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nimmt überpro-portional zu. Allein von 1970 bis 1997 hat sich der An-teil der zwischen 80 und 90 Jahre alten Personen von 1,8Prozent auf 3,2 Prozent erhöht, der Anteil der über90jährigen von 0,1 Prozent auf 0,5 Prozent. Mehr alszwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner in Alten-und Pflegeheimen sind bereits 80 Jahre alt und älter.Diese Zahlen machen deutlich, wie groß die Spanneder Lebensphase „Alter“ ist. Die Lebenssituation eines60jährigen ist nicht mit der einer 90jährigen zu verglei-chen. Auch wenn man die 70jährigen miteinander ver-gleicht, stellt man fest, daß sie hinsichtlich ihrer Mög-lichkeiten und Erwartungen höchst unterschiedlich sind.Daraus folgt, daß wir es mit einem sehr differenziertenAltersbild zu tun haben. Das ist die wahre Herausforde-rung für eine gute Seniorenpolitik.
Nehmen wir einmal die aktiven Seniorinnen und Se-nioren. Unsere Gesellschaft tut gut daran, ihr Engage-ment zu suchen, ihr Erfahrungswissen und ihre Qualifi-kationen zu nutzen. Dazu gehören das Ehrenamt, Mög-lichkeiten zur Teilhabe, zur Partizipation ebenso wie derSenior-Experten-Service. Ältere Menschen wollen sichnicht zurückziehen. Ich denke, sie sollen sich auch nichtzurückziehen. Die Wirtschaft und insbesondere die so-ziale Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft könnenvon diesem Engagement nur profitieren.Interessant finde ich in diesem Zusammenhang dieFrage der CDU/CSU, ob die Bundesregierung hinsicht-lich des Senior-Experten-Services das Arbeitsförde-rungsrecht ändern wird, weil – da haben Sie vollkom-men recht – bei Arbeitslosen die zulässige Tätigkeit den
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Umfang von 15 Stunden nicht übersteigen darf. DieEinsatzzeit von älteren Arbeitslosen, die sich beim Seni-or Expertenservice engagieren, ist in der Regel längerals 15 Stunden.Wir haben es also mit einer gesetzlichen Regelung zutun, die das Engagement älterer Arbeitsloser nicht för-dert, sondern eher behindert. Aber, meine Damen undHerren von der Opposition, ich finde diese Frage ausIhren Reihen schon mehr als erstaunlich. Schließlichwar es die Kohl-Regierung, die 1997 die zulässigeStundenzahl von 18 auf 15 Stunden reduziert hat, ohnean die besonderen Belange des Senior Expertenserviceszu denken. Sie rügen mit dieser Frage Ihre eigene Poli-tik.
Weil Sie wissen wollen, wie es weitergeht: Wir wer-den es sein, die im Rahmen der großen SGB-III-Reformdiese überfällige Änderung vornehmen. Das ist einewichtige Maßnahme, um Rahmenbedingungen zu schaf-fen, die es den Älteren ermöglichen, sich und ihr Erfah-rungspotential aktiv in unsere Gesellschaft einzubringen.Das nutzt der Gesellschaft. Das nutzt aber auch den älte-ren Menschen selbst. Sie haben so Gelegenheit, ihre Fä-higkeiten bis ins hohe Lebensalter zu stärken und damitauch zu erhalten.Obwohl die Älteren beim Eintritt in die dritte Le-bensphase heute gesünder, besser ausgebildet und mate-riell bessergestellt sind, ist es eben nicht allen Menschenmöglich, ohne fremde Hilfe und Pflege zu leben. Derzeitsind zirka 8 Prozent der über 60jährigen pflegebedürftig.Aus demographischen Gründen wird in den nächstenzehn bis 20 Jahren die Zahl der Pflegebedürftigenüberproportional steigen. Da muß unser Augenmerk ins-besondere den Demenzkranken gelten.Pflegearbeit geschieht zu Hause und in den Heimen.Wenn ich an die Pflegeleistungen in den privaten Haus-halten denke, die wertvoll und wichtig sind, möchte ichgerne in Erinnerung rufen, daß die Pflegepersonen zuHause zu fast 80 Prozent die Frauen sind: Lebenspartne-rinnen, Töchter und Schwiegertöchter. Ich erwähne dies,weil dies täglich in den Wohnungen stattfindende Enga-gement meines Erachtens nicht genügend öffentlicheAnerkennung findet. Das will ich ausdrücklich tun.
Der zunehmende Pflegebedarf wirft natürlich auchFragen nach der Qualität, der konzeptionellen Weiter-entwicklung von Alten- und Pflegeheimen auf. LassenSie mich aus aktuellem Anlaß etwas zu Ihren Fragennach den Zivildienstleistenden in den Alten- und Pfle-geheimen sagen.Wir haben Ihnen geantwortet, daß 16 673 Zivildienstlei-stende in Alten- und Pflegeheimen eingesetzt sind. Ichbitte Sie, diese Zahl von 16 673 zur Kenntnis zu neh-men, weil es nämlich aufhören muß, daß Sie als Oppo-sition anstehende strukturelle Veränderungen im Zi-vildienst – Verkürzung der Dauer und Steuerung derEinberufungszahlen – fahrlässigerweise immer wiederbenutzen, um die älteren Menschen zu verunsichern.
Auch im nächsten Jahr werden im Jahresdurchschnitt,Frau Eichhorn, 124 000 Zivildienstleistende einberufen.Damit gibt es immer genügend Zivildienstleistende fürden sozialen Bereich und erst recht für die Alten- undPflegeheime.
Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie das, was Siejetzt schwarz auf weiß als Antwort auf die Große Anfra-ge vorliegen haben, überall so vertreten würden.
Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Pflegewird die Sicherung ihrer Qualität weiterhin ein wichtigesThema sein. Wenn es bezüglich der Politik für ältereMenschen einen Reformstau auf Grund der Politik deralten Bundesregierung gibt, dann genau in diesem Be-reich.Ich bin sicher, daß wir in den meisten Heimen einegute Pflegequalität vorfinden, aber dennoch hören, se-hen und lesen wir immer in den Medien, daß es zumTeil erhebliche Pflegemängel gibt. Hier wird man dieSpreu vom Weizen trennen müssen.
Die Rahmenbedingungen für eine gute Pflege hängenauch von unseren politischen Vorgaben ab. Die Situati-on der Träger und die Situation des Personals sind davonabhängig.Gerade in diesem Zusammenhang hat sich die alteBundesregierung große Versäumnisse vorzuwerfen.
Seit über zehn Jahren reden wir davon, daß wir einenanerkannten Beruf des Altenpflegers/der Altenpfle-gerin brauchen und daß wir die Qualität der Ausbildungbundesweit sichern müssen. Aber ein entsprechendesAltenpflegegesetz hat die Kohl-Regierung nie vorgelegt.Wir brauchten den Regierungswechsel, um die notwen-dige bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung auf denWeg zu bringen.
Sie wissen: Die erste Lesung des Altenpflegegesetzeshat bereits stattgefunden. Wer erinnert sich nicht, daßSie nahezu handstreichartig versucht haben, die Fach-kraftquote zu kippen, als ob die Qualität der Pflege inden Heimen unabhängig von der fachlichen Qualität desPersonals in den Heimen wäre! Ausreichend bemesse-nes, gut qualifiziertes Personal ist die notwendige Vor-aussetzung, um gute Pflege zu leisten.
Edith Niehuis
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6162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Wir wollen und wir brauchen verläßliche und diffe-renzierte Kriterien für die Bemessung des Personalbe-darfs in Heimen entsprechend der jeweils unterschiedli-chen Pflegesituation. Darum bildet die Erprobung vonVerfahren zur Pflegezeit- und Personalbedarfsermittlungin vollstationärer Pflege einen Schwerpunkt der Projekt-förderung des Bundesministeriums für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend in dieser Legislaturperiode, FrauRönsch. – Sie hört nicht zu.
Eine von mehreren Möglichkeiten ist das in Kanadaund der Westschweiz bereits eingesetzte „PLAISIR“-Verfahren zur Pflegezeit- und Personalbedarfsermittlungin der vollstationären Pflege. Wir werden dieses Verfah-ren in Deutschland modellhaft erproben, weil es ein be-merkenswertes Konzept ist, das die Bedürfnisse derMenschen in den Vordergrund stellt.Um die Bedürfnislage und den Schutz der Heimbe-wohnerinnen und Heimbewohner geht es auch imHeimgesetz. Es stammt aus dem Jahre 1974 und wardas früheste Qualitätssicherungsgesetz im Bereich Pfle-ge. In diesen 25 Jahren hat sich die Situation der Heim-bewohnerinnen und Heimbewohner, aber auch der Hei-me verändert. Insofern ist es schon längst überfällig,dieses Heimgesetz zu novellieren, Qualitätsstandardsanzupassen und Rechtsverordnungen zu aktualisieren.Die alte Bundesregierung hat sich dieser Aufgabenicht gestellt, und wir werden dies nun tun müssen. Inder Tat ist die Novellierung des Heimgesetzes eine not-wendige, wenn auch eine anspruchsvolle Aufgabe, weilviele Bereiche voneinander abgegrenzt oder miteinanderverzahnt werden müssen. Gerade die Nachrichten überPflegemängel erfordern, daß wir die staatliche Aufsichtüber die Pflege intensivieren. Wer kann das besser alsdie im Heimgesetz verankerte Heimaufsicht – als eineunabhängige und nicht interessengeleitete Institution –tun? Wir werden das Heimgesetz im Sinne einer Ver-besserung des Verbraucherschutzes und der Qualitätssi-cherung novellieren müssen.
Leider haben Sie selbst wenig zur Verbesserung derQualität der Pflege beigetragen. Sie haben zwar in derTat viele Modellprojekte auf den Weg gebracht, aber andie Gesetze sind Sie selten, wenn nicht sogar nie heran-gegangen. Da auch Sie sich in Ihrer Großen AnfrageSorgen um die Qualität der Pflege machen, lade ich Sieein, diese politische Arbeit mit uns zusammen zu leisten.Danke schön.
Nun hat die Kollegin
Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Meine Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Die Seniorinnen und Se-nioren erleben heute ihre dritte Lebensphase sehr aktiv.Die Seniorinnen und Senioren sind heute Bürger, die ihrLeben selbst in die Hand nehmen, gestalten und sehreigenwillig und sehr selbstbestimmt leben. Das wissenwir alle. Ältere Menschen – ich hoffe, daß mir auch dieRegierungskoalition zustimmt – erwarten aber auch Ak-zeptanz ihrer Lebensleistung, Achtung und Anerken-nung von uns allen. Es ist sehr wichtig, daß wir das heuteim Bundestag den Seniorinnen und Senioren sagen.
Wir besprechen heute die Große Anfrage derCDU/CSU. Die F.D.P. bewertet es sehr positiv, daß die-ses Thema einmal grundsätzlich im Bundestag erörtertwird. Die Daten und Fakten, die wir bekommen haben,sind eine gute Grundlage für die weitere Arbeit in die-sem Bundestag. Die Zahlen belegen – das wissen wiralle –, daß der Anteil der älteren Menschen immer wei-ter steigt. Für unsere sozialen Sicherungssysteme ist dasein Problem. Die Bürger erwarten von uns gewähltenVertreterinnen und Vertretern natürlich auch handfesteLösungen und nicht nur Reden.Die F.D.P. ist der Ansicht, daß zum Beispiel ein65jähriger, der nicht mehr im Berufsleben steht, aber fürsein Alter finanziell vorgesorgt hat und sich guter Ge-sundheit erfreut, keine direkten Hilfen des Staates benö-tigt. Für die Rahmenbedingungen der staatlichen Alters-versorgung ist natürlich der Staat, dieses Parlament, ver-antwortlich. Hier hat leider – das sage ich gerade alsOppositionspolitikerin – die rotgrüne Mehrheit denRentnerinnen und Rentnern mehr Unsicherheit als Si-cherheit gebracht.
Wie oft werde ich gefragt: Ist meine Rente eigentlichnoch sicher? Die heutigen Rentner kann ich da nur beru-higen, weil ein neues Rentenreformgesetz, wenn es dennkommen sollte, natürlich erst in zehn oder fünfzehn Jah-ren greifen wird.
Meine Damen und Herren, die Verantwortung desStaates und besonders unsere Verantwortung als Parla-mentarier liegt darin, daß wir Lösungen finden, mit de-nen wir unsere sozialen Sicherungssysteme und auch dieRente zukunftsfest machen können. Die F.D.P. als libe-rale Partei will mehr Vielfalt und Eigenverantwortungund dadurch auch mehr Sicherheit in das System brin-gen. Neben den Regelungen für bisher aktive Seniorin-nen und Senioren müssen wir auch an Alte und Schwa-che in unserer Gesellschaft denken, für die andere Ge-setze sehr wichtig sind. Die F.D.P. hat 1995 für die Ein-führung der Pflegeversicherung gestimmt. Diese ge-setzliche Regelung hat auch Wirkung gezeigt: Zumeinen bleiben mehr pflegebedürftige Menschen in ihrenFamilien, zum anderen nehmen Pflegebedürftige aufGrund der Leistungen der Pflegeversicherung seltenerLeistungen der Sozialhilfe in Anspruch. Vor dem Hin-tergrund, daß viele alte Menschen Probleme undSchwierigkeiten damit haben, Sozialhilfe in AnspruchEdith Niehuis
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6163
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zu nehmen, erfüllt die Pflegeversicherung auch hier einewichtige Aufgabe.Auch die F.D.P. weiß natürlich, daß auf Grund derdemographischen Entwicklung der Anteil der Pflegebe-dürftigen langfristig steigen wird und wir auf Grund sin-kender Zahlen von Arbeitnehmern rückläufige Bei-tragseinnahmen in der Pflegeversicherung verzeichnenwerden. Aus der Sicht der F.D.P. müssen auch hierrechtzeitig die Weichen für eine ergänzende Eigenvor-sorge in Form der Kapitaldeckung gestellt werden. DieF.D.P. wird sich in dieser Legislaturperiode noch mitdiesem Thema beschäftigen.
Meine Damen und Herren, ich komme zu einemwichtigen Punkt, den auch eine meiner Vorrednerinnenangesprochen hat. Die eigene Wohnung ist für Seniorenund Seniorinnen besonders wichtig, denn Seniorenverbringen mehr Zeit in ihren eigenen vier Wänden alsjunge Menschen. Die Bundesrepublik Deutschland hataber in bezug auf altengerechtes Wohnen keine Vor-bildfunktion. Wenn man sich Dänemark und Hollandzum Vergleich ansieht, dann kann man einfach nur fest-stellen, daß diese weiter sind. Soweit mir bekannt ist,werden in Dänemark die Wohnungen im Erdgeschoßgrundsätzlich barrierefrei gebaut. Dort stehen mehr älte-ren Menschen und auch Behinderten die Türen offen.Von daher sehe ich auch hier Handlungsbedarf.
Ich komme nun zu neuen Wohnformen im Alter. Wirsollten ein hohes Augenmerk auf private Wohngemein-schaften legen. Sie müssen mehr propagiert und geför-dert werden. Dazu müssen in diesem Bereich einigerechtliche Rahmenbedingungen geändert werden. Beiuns gibt es ja das Bundesforum „GemeinschaftlichesWohnen im Alter“, das dazu bereits wegweisende Vor-schläge gemacht hat. Ziel der F.D.P. ist es, daß alteMenschen im Alltag selbstbestimmt wohnen und lebenkönnen. Das ist von elementarer Wichtigkeit. Dafür set-zen wir uns ein.
Seit vielen Jahren – ich komme jetzt auf einen weite-ren Punkt zu sprechen – drängt die F.D.P. auf ein Al-tenpflegegesetz. Deshalb begrüßen wir es, daß im Deut-schen Bundestag nun ein neuer Anlauf unternommenwird, die fast unendliche Geschichte dieses Gesetzeszum Abschluß zu bringen. Seit Mitte der 80er Jahre wirdversucht, ein Altenpflegegesetz zu verabschieden. Ichhabe gehört – ich bin ja neu in den Bundestag gekom-men –, daß die Blockadehaltung Bayerns das verhinderthabe. Ich habe eben aber auch gehört, daß ebenso dieBlockadehaltung Hessens dazu beigetragen habe.
– Sie können gerne – das habe ich eben von der CDUgehört – etwas dazu sagen. Aber ich bleibe dabei: Bay-ern hat vieles verhindert. Wir werden uns das Altenpfle-gegesetz genau ansehen müssen. Ich hoffe, daß wir inden Ausschüssen nicht betonmäßig – hier die Regierung,dort die Opposition – über dieses Gesetz beraten, son-dern daß es auch Vorschläge der Opposition gibt, dievon Ihnen freundlicherweise, wenn Sie sie für gut hal-ten, unterstützt werden.
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal kurzauf die Altersvorsorge zu sprechen kommen. Ich habein der Antwort der Bundesregierung auf die Große An-frage mit Freude gesehen, daß in der Tabelle 7 auf Seite12 sehr deutlich gezeigt wird, daß die Menschen für ihrAlter schon heute auf vielfältige Art und Weise vorsor-gen. Neben der gesetzlichen Rente, neben der Beamten-versorgung und der Zusatzversorgung im öffentlichenDienst haben sie sich schon immer ein Standbein ge-sucht. Das ist einmal ein zusätzliches Erwerbseinkom-men – aus welchen Gründen auch immer; es muß nichtimmer das Finanzielle sein –, das sind die Einkünfte ausVermietung und Verpachtung und andere Einkünfte. DieTabelle zeigt, daß hier schon zu einem großen Teil vor-gesorgt wurde. Hier zeigt sich, daß die Menschen diedritte Säule der Altersversorgung, die private Vorsorgeneben der staatlichen, als sehr wichtig ansehen.Jetzt möchte ich noch einmal auf die Regierung unddie These der F.D.P. zu sprechen kommen, daß die Frei-räume auch in Zukunft gegeben sein müssen, daß jederfür seine Altersvorsorge in vielfältigster Art und Weiseselber sorgen muß. Ich muß sagen, diese Koalition mar-schiert da in die falsche Richtung.
Sie haben die Einschränkungen bei Vermietung undVerpachtung, die Neubewertung des Wohneigentums imErbschaftsteuerrecht vor, Sie wollen die Gewinnanteileder Lebensversicherungen mit Kapitalwahlrecht ver-steuern. Sie wissen alle, daß wir bei 80 Millionen Le-bensversicherungsverträgen eine in der dritten Säulewirklich wichtige Art der privaten Vorsorge haben. Ichfinde es nicht gut, wenn Sie den Menschen einen ganzbestimmten Vorsorgestempel aufdrücken. Sie solltennoch einmal darüber nachdenken, wie bei der Absiche-rung aller Bürger in der Bundesrepublik die Vielfalt er-halten bleiben kann.Wir als F.D.P. sind immer für Vielfalt und zeigenauch in unserem Konzept
die liberalen Grundzüge für eine dauerhafte, zukunftsfe-ste Alterssicherung auf. Ich will mich dabei etwas kurzhalten und nur sagen, daß nach unserem Konzept dieteilweise Ablösung der umlagefinanzierten gesetzlichenRentenversicherung zugunsten des Ausbaus der Vermö-gensbildung natürlich auch eine Entlastung schaffen soll,damit der demographischen Entwicklung und der verän-derten Arbeitsbiographien Rechnung getragen wird.
Ina Lenke
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6164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Wir wollen – das wollen Sie sicher auch – die betriebli-che und natürlich auch die private Altersvorsorge zuechten Säulen der Alterssicherung machen.Ich denke, daß auf das Parlament im Zusammenhangmit der künftigen Rentenreform schwierige Aufgabenzukommen, um einen gerechten Ausgleich zwischenden Generationen zu schaffen. Ich höre von vielen Ju-gendlichen, daß sie hinsichtlich der gesetzlichen Rentedas Gefühl haben, zu kurz zu kommen, und daß aufihrem Rücken auch künftige Rentner finanziert werden.Da müssen beide Teile erreichen, daß es zu keinem Ge-nerationenkonflikt kommt. Hier müssen wir wirklicheiniges tun.
– Ja, Herr Niebel sagt es. Dann will ich auch noch kurzdazu kommen.Sie haben einen Antrag der F.D.P.-Bundestagsfrak-tion vorliegen, in dem die Vorlage einer Generationen-bilanz gefordert wird. Wir wollen erstens, daß die Re-gierung jährlich eine Generationenbilanz vorlegt, um dieLasten abzuschöpfen, die sich aus der Finanzwirtschaftdes Staates für gegenwärtig und zukünftig lebende Ge-nerationen ergeben. Zweitens. Wir wollen alle wichtigensteuer- und sozialpolitischen Reformvorhaben hinsicht-lich ihrer Nachhaltigkeit mit Hilfe dieses Konzeptesüberprüfen.
Drittens. Wir wollen diese Bilanz in die offizielle Haus-haltsstatistik des Bundes aufnehmen, um damit einenlangfristigen Indikator für die gegenwärtigen und zu-künftigen Zahlungsverpflichtungen des Staates und sei-ner Bürgerinnen und Bürgern zu erhalten.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zumSchluß eine persönliche Bemerkung. Ich will mich imNamen der F.D.P.-Fraktion bei allen Seniorinnen undSenioren bedanken, die sich in unserer Gesellschaft eh-renamtlich, auch politisch, engagieren.
Ich hatte das Glück, in einem Mehr-Generationen-Haushalt aufzuwachsen. Unsere Gesellschaft ist dochauf die Lebenserfahrungen unserer älteren Mitbürgerangewiesen. Wir brauchen diese Erfahrungen. Ich sageden Seniorinnen und Senioren: Lassen Sie uns gemein-sam die Zukunft gestalten!
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Abgeordneten Niehuis.
Frau Kollegin Lenke, da-
mit dieser sachliche Fehler nicht im Bundestagsproto-
koll stehenbleibt, möchte ich folgende Anmerkung ma-
chen. Sie haben zu Recht gesagt, daß die bundeseinheit-
liche Altenpflegeausbildung seit mehr als zehn Jahren
überfällig ist. Sie haben ebenfalls zu Recht gesagt, daß
dies daran lag, daß der Freistaat Bayern Regelungen für
eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung massiv
verhindert hat. Sie haben weiterhin gesagt, daß Sie vom
Hörensagen wissen, auch das Land Hessen hätte daran
einen Anteil. Dies ist aber falsch, weil die rotgrüne Lan-
desregierung Hessens Gesetzentwürfe zur bundesein-
heitlichen Regelung der Altenpflegeausbildung im Bun-
desrat eingebracht hat. Seit Hessen einen Regierungs-
wechsel hatte und nicht mehr sozialdemokratisch regiert
wird, hat sich dies leider geändert.
Ich bin mir daher nicht sicher, ob Hessen weiterhin ein
Gesetz zur bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung
will.
Frau Kollegin
Rönsch will antworten. Bitte sehr.
Ich
will gar nicht antworten. Ich möchte eine Kurzinterven-
tion machen.
Richtig, nur Frau
Lenke kann antworten.
Frau Kollegin Rönsch hat jetzt das Wort zu einer
Kurzintervention. Bitte sehr.
Ichhabe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil dieFrau Staatssekretärin über die Historie dieses Gesetzeshinsichtlich der Altenpflege offensichtlich falsche Aus-künfte gibt. Es bedarf also einer Richtigstellung.Es trifft zu, daß ich in meiner Amtszeit vollmundigerklärt habe, daß ich dieses Gesetz auf den Weg bringenwürde. Ich bin einmal an Bayern gescheitert, weil Bay-ern seine Kulturhoheit betonte und der Meinung war,daß dort besser als anderswo ausgebildet werde. Deshalbwar Bayern gegen eine Vereinheitlichung.
Ich bin zum anderen an Hessen gescheitert. Das war1993, Frau Staatssekretärin. Bitte hören Sie zu, damitSie diese Tatsache das nächste Mal wissen! Der damali-ge Ministerpräsident Eichel hat bei einem Kaminge-spräch, das offensichtlich immer vor Bundesratssitzun-gen stattfindet, seine Zustimmung plötzlich zurückgezo-gen. Bayern stand mit seiner Ablehnung nicht mehr al-Ina Lenke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6165
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leine da, sondern wurde von der alten Landesregierungunter Hans Eichel in diesem Punkt unterstützt.
Eigentlich hätte jetzt
Frau Kollegin Lenke das Wort zur Erwiderung. Aber sie
will nicht.
Es ist jetzt etwas am Rande der Geschäftsordnung,
aber wir vereinbaren, daß Frau Niehuis noch einmal
antworten darf.
Ich könnte zu der Geschichte der Altenpflegeausbil-
dung übrigens auch selbst etwas sagen. Ich könnte zum
Beispiel sagen, wer alles dagegen und daß kaum jemand
dafür war; ich darf es aber nicht, weil ich in dieser De-
batte Präsidentin bin.
Frau Kollegin Niehuis, bitte sehr.
Frau Präsidentin, ich ma-
che es ganz kurz. Ich beziehe mich nicht auf irgendwel-
che Kamingespräche hinter verschlossenen Türen, son-
dern auf eine Drucksache des Bundesrates aus der letz-
ten Legislaturperiode, die einem entsprechenden Antrag
des Landes Hessen enthält. Ich kann also nachweisen,
was ich hier behaupte.
Nun hat das Wortdie Kollegin Irmgard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/DieGrünen.
Kollegen! Frau Rönsch, ich war über die Große Anfrageder CDU/CSU schon ziemlich erstaunt, weil ich derMeinung war, in dem 900 Seiten umfassenden Berichtder Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“,dessen Vorsitzender Herr Link aus Ihrer Fraktion war,standen all die Ergebnisse, die jetzt zusammengetragenwurden. Deshalb fragte ich nach der Motivation. Mir fielin diesem Zusammenhang nur ein, daß es ein Beschäfti-gungsprogramm für die Regierung sein könnte. Oderwas sollte das sonst sein?
Die Lebenssituation der alten Menschen in unsererGesellschaft zeigt ein sehr differenziertes Bild. Da gibtes zum einen die große Zahl von Jet-settern, die ihreWintertage auf dem sonnigen Mallorca verbringen. Zumanderen gibt es aber auch Menschen, die nicht wissen,wie sie über die Runden kommen sollen. Billige Wurst-und Fleischkonserven gehören zu ihren Tagesrationen.Ihre Renten reichen gerade zum Überleben. Den Gangzum Sozialamt scheuen viele. Scham und die Furcht,daß ihre Kinder zahlen müssen, sind die Gründe dafür.Glücklicherweise – das zeigt auch dieser Bericht –nimmt ihre Zahl ab. Trotzdem ist es ein Gebot der Stun-de, den Menschen, deren Rente unter dem Existenzmi-nimum liegt, eine Grundsicherung für das Alter zu ge-währen. Dies werden wir noch in dieser Legislaturperi-ode verwirklichen, damit die verschämte Armut endlichein Ende findet.
An dieser Stelle möchte ich auch ausdrücklich diehier lebenden Migrantinnen und Migranten erwähnen,von denen in zehn Jahren – Frau Rönsch hat es ange-kündigt – über 1 Million hier in Rente gehen werden.Für diese brauchen wir ganz dringend eine soziale Si-cherung, damit auch sie ihre Würde im Alter behalten.
Das ausdifferenzierte Bild der heutigen alten Men-schen wird sich um ein Vielfaches potenzieren, wenn diedemographische Veränderung weiter Fuß faßt und diedurchschnittliche Lebenserwartung, wie wir wissen, je-des Jahr um ein Vierteljahr steigt. Neue Lebensstile, Le-bensformen und auch Handlungsfelder entstehen. Wün-schen und Bedürfnissen der älteren Generation ist dannmehr Rechnung zu tragen.Aber auch die Jungen dürfen in diesem quantitativenUngleichgewicht nicht zu kurz kommen. Denn sie wer-den in einer alternden Gesellschaft zahlenmäßig unterle-gen sein. Schon in der Rentenversicherung zeigt sichdies deutlich. Während heute über den Generationen-vertrag 27 Beitragszahlende zehn Rentner und Rentne-rinnen finanzieren, werden es in 35 Jahren nur noch 13Zahler und Zahlerinnen sein. Allein diese Zahl zeigt,daß ein solidarisches Miteinander der Generationen undeine Generationengerechtigkeit das zentrale Anliegender Politik sein müssen. Die alten Menschen sind dazudoch auch bereit. Viele unterstützen schon jetzt ihre En-kelkinder. Hieran sollten wir anknüpfen.Dabei finde ich es, ehrlich gesagt, sehr schäbig, wennSie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ver-suchen, die alten Menschen zu verunsichern und zu äng-stigen.
Die demographische Entwicklung stellt aber auch ei-ne große Herausforderung hinsichtlich der angemesse-nen Versorgung älterer Menschen mit Wohnraum undPflegediensten dar. Die bestehenden Formen des alters-gerechten Wohnens müssen weiter ausgebaut werden,da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Frau Lenke. DasBeispiel Dänemark ist ein Vorbild für uns. Ich begrüßedaher auch das Modellprojekt „Selbstbestimmt Wohnenim Alter“, das Ministerin Bergmann auf den Weg ge-bracht hat.
Hannelore Rönsch
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6166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Dieses Vorhaben wird es uns erleichtern, eine Vielzahlvon individuellen Wohnformen und Pflegemöglichkei-ten zu schaffen. Das Modell des klassischen Altenheimsmuß endlich der Vergangenheit angehören. Alte Men-schen wollen in ihrer gewohnten und angestammtenNachbarschaft wohnen bleiben.
– Frau Präsidentin, ich kann hier sehr schlecht reden; esist sehr laut.
Es war schon lauter.Aber Sie haben recht.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie zuzuhörenund die Gespräche zu unterlassen. Es ist auch unhöflich,wenn insbesondere die Herren der Schöpfung der Kolle-gin nicht zuhören.Bitte sehr, Frau Kollegin.
Wenn ein Umzug notwendig wird, dann möchten die-se alten Menschen in ihrer eigenen Häuslichkeit bleiben.Hierzu bedarf es einer Reihe von Hilfen im Bereich derWohnraumberatung oder auch Wohnraumanpassung.Aber wir benötigen auch neue Pflege- und Betreuungs-formen für alte Menschen und Möglichkeiten des gene-rationenübergreifenden Wohnens. Wohngruppen undbetreutes Wohnen gehören zu den zukunftsfähigenWohnprojekten. Der Umzug in eine stationäre Einrich-tung der Altenhilfe sollte nur als Ultima ratio angesehenwerden.Neue Wohnformen müssen künftig viel stärker geför-dert werden, beispielsweise im Rahmen des sozialenWohnungsbaus. Damit ältere Menschen mit jüngeren ei-ne Sozialwohnung beziehen können bzw. zwei Frauenoder zwei Männer ihre Wohnberechtigungsscheine zu-sammenlegen können, um eine größere Sozialwohnungzu erhalten, ist es notwendig, daß wir den konservativenEhe- und Familienbegriff endlich mit dem Restmüll ent-sorgen.
Es ist nicht einzusehen, warum nur Eheleute ein Anrechtauf eine gemeinsame Sozialwohnung haben sollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Wohn-geldnovelle der rotgrünen Bundesregierung wird dieLeistungsfähigkeit des Wohngeldes noch in dieser Le-gislaturperiode insgesamt verbessert.
Damit werden zukünftig mehr bedürftige Rentnerinnenund Rentner Wohngeld in ausreichendem Maße erhal-ten.
Aber auch in den Heimen muß sich eine Menge än-dern. Dazu gehört, daß die meines Erachtens menschen-unwürdigen Vorschriften in der Heimmindestbauver-ordnung geändert werden: 12 Quadratmeter pro Person,das ist ein Skandal. Das kann so nicht bleiben.
Auch entsprechend qualifiziertes Personal ist drin-gend notwendig. Mit dem Vorhaben, eine bundesein-heitliche Altenpflegeausbildung zu verankern, kommtdie Bundesregierung diesem Schritt ein ganzes Stücknäher.Das gilt im übrigen auch für die Novellierung desHeimgesetzes. Diese hat zum Ziel: eine bessere Zu-sammenarbeit zwischen Pflegekassen und Heimaufsicht,eine bessere Heimüberwachung, auch durch unangemel-dete Kontrollen – dann kann das, was in Bayern passiertist, nicht mehr passieren –, mehr Transparenz bei Ent-gelten und Leistungen des Heimes und eine verstärkteMitwirkung der Heimbewohner.Durch die zunehmende Zahl alleinlebender Menschenohne Angehörige – das werden im Jahre 2030 13 Mil-lionen sein – nimmt die Zahl derjenigen zu, die einePflege außerhalb der Familie benötigen. Die Antwortder Bundesregierung hat gezeigt, daß bis heute diehäusliche Pflege alter Menschen überwiegend von Frau-en erbracht wird, von Lebenspartnerinnen, Töchternoder Schwiegertöchtern. Fast zu 80 Prozent werden diein privaten Haushalten erbrachten Pflegeleistungen vonFrauen durchgeführt. Viele Frauen zwischen 50 und 65Jahren erbringen diese Leistung nach dem sogenanntenSandwichsystem. Das heißt, sie pflegen die Generationvor ihnen und die Generation nach ihnen, die Eltern unddie Enkelkinder. Diese Doppel- und Dreifachbelastungdürfen wir nicht länger auf den Schultern der Frauenabladen. Hier brauchen sie unsere Unterstützung.
Durch die vermehrte Erwerbstätigkeit junger Frauenkann künftig nicht mehr darauf vertraut werden, daßFrauen weiterhin die ihnen zugewiesenen familiärenPflichten in diesem Ausmaß erledigen. Pflegedienstewerden noch weit mehr zum Einsatz kommen müssen.Deshalb müssen wir schon jetzt an einen Ausbau sozia-ler Dienste und professioneller Hilfen denken. Das wirdsich natürlich nicht ohne Auswirkung auf die Pflegever-sicherung machen lassen. Von daher sind alle Forderun-gen der Opposition, der Pflegeversicherung die Rückla-gen zu entnehmen oder deren Beitragssätze zu senken,unseriös und werden von uns abgelehnt.
Nun zu einer weiteren Gruppe alter Menschen, dieunserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, zu denDemenzkranken. Was die ganzheitliche Betreuungdemenzkranker Menschen betrifft, geht der Bedarf weitüber das hinaus, was im Rahmen der Pflegeversicherungals Leistung gewährt wird.
Irmingard Schewe-Gerigk
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6167
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Es wird unerläßlich sein, eine Nachbesserung der Pfle-geversicherung in bezug auf die Einteilung der Pflege-stufen sowie in bezug auf die Definition des Pflegebe-griffes vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundes-regierung hat ein umfassendes Bild über die Situationder alten Menschen in dieser Gesellschaft gezeichnet.Dort, wo Handlungsbedarf ermittelt wurde, hat die Bun-desregierung erste Maßnahmen eingeleitet, die in denkommenden Monaten hier im Plenum beraten werden.Trotzdem können wir uns nicht zufrieden zurücklehnen.Denn die Verwirklichung einer Gesellschaft, die allenBevölkerungsgruppen und allen Generationen gerechtwird, ist ein ständiger Auftrag für alle, auch für die Po-litik.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Kurz bevor es zu Ende geht, führt derBundestag eine Debatte zum Jahr der Seniorinnen undSenioren durch. Ich finde das wichtig und gut. Die Bot-schaft, die von dieser Debatte ausgehen sollte, ist, daßMenschen in jedem Lebensalter aktiv an der Gesell-schaft teilhaben können und, wenn sie dafür entspre-chende Hilfe brauchen, diese von der Gesellschaft be-kommen.Leider muß ich sagen, daß es bei Kollegin Rönsch aufden Zwischenruf hin, daß sie doch wisse, daß die Pfle-geversicherung für demente Menschen überhaupt nichtaufkomme, zu einer Entgleisung kam, die ich so nichtstehenlassen kann. Sie hat gesagt, daß Menschen, dienicht produktiv gewesen seien, in der DDR „entsorgt“worden seien. Sie hat auch mehrfach gesagt, daß sie beidieser Aussage bleibe.Die Mißstände, die sie angeprangert hat, habe ichschon zu DDR-Zeiten kritisiert. Menschen wurden un-freiwillig in einem Zimmer untergebracht, zum Beispieljunge behinderte und alte demente Menschen. Das warnicht in Ordnung; das ist keine Frage. Aber von „Ent-sorgung“ zu sprechen, einen Begriff der Nazis zu benut-zen, die Juden vergast und Menschen im Rahmen einesEuthanasieprogramms getötet haben, ist diesem Hauseund der Sache, um die es ihr ging, in keiner Weise an-gemessen.
Lassen Sie mich zum eigentlichen Thema dieser De-batte zurückkommen. Die Menschen jeden Alters, vomkleinsten Kind bis zur ältesten Seniorin, zum ältestenSenior, haben das Recht, aktiv und inmitten der Gesell-schaft leben zu können und am Leben der Gesellschaftso teilzuhaben, wie sie es sich wünschen. Insofern spie-len Seniorinnen und Senioren keine Sonderrolle. Sie ha-ben nur eine andere Lebenserfahrung als Jüngere. DieseLebenserfahrung, dieser große Schatz, den einzubringensie bereit sind und um den anzunehmen wir uns regel-recht drängeln sollten, ist eine Chance für uns.Ich habe kein Verständnis dafür, daß das öffentlicheBild, zum Beispiel durch die Werbung, von einem Ju-gendkult geprägt ist, daß so getan wird, als sei es eineSchande, alt zu sein.
Im Gegenteil: Sehen Sie sich doch einmal an, wie dasLeben wirklich ist! Enkel und Großeltern haben häufigein wesentlich besseres Verhältnis als Kinder und El-tern.
– Das ist seit Generationen so; ich nehme an, daß esauch noch Generationen so sein wird. – Nutzen wir dochdie Chance der aktiven Teilhabe von Menschen im jun-gen und im hohen Alter am Leben unserer Gemein-schaft!Ich hatte eigentlich nicht vor, über die strukturelleGewalt auch gegen Menschen im Alter zu reden. Abernach diesem Verlauf der Debatte muß ich es leider dochtun. Es ist noch kein halbes Jahr her, seit in Bonn imRahmen der Aktion gegen Gewalt in der Pflege die Si-tuation in den westlichen Altenheimen angeprangertwurde; die Kollegin Schewe-Gerigk hat dies gerade an-gesprochen. Unter anderem in München werden Men-schen mit „pflegeerleichternden Maßnahmen“ gepeinigt.Wenn jemand nicht weiß, was das ist, will ich es erklä-ren: Zum Beispiel werden ihnen Pampers angezogen,damit sie nicht so oft auf die Toilette gebracht werdenmüssen. Ihnen wird nicht genügend zu trinken gegeben,so daß sie austrocknen. Dies ist in diesem Land passiert,nicht in der untergegangenen DDR.
Wir müssen die strukturelle Gewalt in den großenEinrichtungen verhindern. Wenn also in Alten- undPflegeeinrichtungen investiert werden soll, dann bitte inkleine, überschaubare Einrichtungen, Einrichtungen miteinem Regime, das in jeder Hinsicht transparent und of-fen ist sowohl für Besucherinnen und Besucher als auchfür die Bewohnerinnen und Bewohner, wo sie hinaus –und hineinkönnen, wann immer sie wollen, wenn nötig,auch mit Hilfe.
Die Situation älterer Menschen ist durch zwei Fakto-ren gekennzeichnet: Zum einen wird die Gesellschaft alsGanzes im Durchschnitt älter – das ist statistisch nach-weisbar –, zum anderen werden einzelne Menschen äl-ter. Sie empfinden sich nicht als Teil des Durchschnitts,sondern als Individuen. Diese Individuen finden im Al-ter vielfältige Möglichkeiten der aktiven Teilhabe amgesellschaftlichen Leben.Irmingard Schewe-Gerigk
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6168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Hier ist schon mehrfach über das Ehrenamt gespro-chen worden. Das ist eine sehr wichtige Form dieserTeilhabe. Ich finde aber: Wir dürfen das Ehrenamt nichtdazu verkommen lassen, daß Menschen die Arbeit um-sonst leisten, die sich der Staat nicht mehr leisten will.Wenn Ehrenamt, dann, bitte schön, soll dessen Wahr-nehmung auch denjenigen älteren Menschen möglichsein, die eine geringe Rente beziehen und die es sichnicht leisten können, einen Teil ihres geringen Einkom-mens in die ehrenamtliche Arbeit zu stecken. Auf-wandsentschädigungen, Telefonkosten, Reisekosten unddergleichen mehr müssen angemessen bezahlt werden.Ich finde, wir bräuchten ein Gesetz über das Ehrenamt,das die Erstattung solcher Aufwendungen für Menschenin hohem wie in niedrigem Alter regelt.
– Ich will das Ehrenamt nicht verstaatlichen. Ich willdenjenigen, die es ausüben, die Chance geben, das zutun, auch wenn sie nicht so reich sind wie die meistenKlienten der F.D.P.
– Ich denke, ihr wollt das so. Aber das ist jetzt nicht dasThema.
– Eben, aber ihr habt doch dazwischengerufen.Geben Sie den älteren und auch den jüngeren Men-schen, die nicht im Besitz eines Arbeitsplatzes sind, dieChance zur aktiven Teilhabe am Leben der Gemein-schaft, damit die Gesellschaft als Ganzes davon profitie-ren kann. Unter „profitieren“ verstehe ich nicht, daßman mehr Geld verdient, sondern reicher wird an Kul-tur, an Lebenserfahrung, an Miteinander menschlicherArt, ohne daß man Generationen oder Geschlechter ge-geneinander ausspielt.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,daß wir bei der Diskussion wirklich zu einer sachlichenAuseinandersetzung kommen oder dabei bleiben, woimmer es geht.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Arne Fuhrmann.
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen, liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Auch wenn sich mein Vorredner schon dar-
auf eingelassen hat, möchte ich sagen: Frau Rönsch, in
der damaligen DDR wurden Kadaver entsorgt, wurde
Müll entsorgt, und es wurde sicherlich hin und wieder
auch Schrott entsorgt, wobei man damit teilweise behut-
sam umgegangen ist. Aber auch unter grundsätzlich an-
deren Voraussetzungen, als sie bei uns teilweise ge-
herrscht haben mögen, sind alte Menschen in Heimen
gepflegt und betreut und teilweise liebevoll behandelt
worden.
Den Begriff –
– Sie sind nicht dran; Sie haben 109 dusselige Fragen
gestellt, und jetzt sind Sie nicht dran –
der Entsorgung im Zusammenhang mit alten Menschen,
egal, wo immer sie leben, weise ich im Namen meiner
Fraktion mit aller Entschiedenheit zurück.
Nun kommen wir zum Kern der Sache; denn das war
eigentlich so überflüssig wie ein Kropf.
– Wenn Sie so weitermachen, springt Ihren Kollegen der
Draht aus der Mütze, weil Sie nicht recht haben, Frau
Rönsch.
Es ist erstaunlich: Sie sitzen hier im Parlament in Ihrer
Fraktion und schwafeln dummes Zeug und haben den-
noch nicht recht.
Herr Kollege Fuhr-
mann, – –
Wollen Sie den Begriff der
Entsorgung alter Menschen anders bezeichnen als dum-
mes Zeug? Wenn ich es anders bezeichnen würde, wür-
de ich möglicherweise noch darauf eingehen wollen.
Herr Kollege Fuhr-mann, ich muß Sie unterbrechen. Ich möchte daraufhinweisen, daß es verschiedene Formen des unparla-Dr. Ilja Seifert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6169
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mentarischen Verhaltens gibt. In einer oder in zwei Mi-nuten die Ausdrücke „Geschwafel“, „dummes Zeug“und ähnliche zu verwenden ist parlamentarisch nichtüblich.
Bitte fahren Sie fort.
Dafür, daß ich mich unpar-
lamentarisch benommen habe, bitte ich diejenigen, die
sich in diesem Hause als Parlamentarier bezeichnen, um
Entschuldigung. Ich glaube allerdings nicht, daß sich im
Protokoll an dem, was ich gesagt habe, vom Inhalt her
an irgendeiner Stelle etwas ändern wird.
Herr Kollege Fuhr-
mann, ich bitte Sie, nicht in eine Diskussion mit dem
Präsidenten einzutreten, sonst muß ich Sie zur Ordnung
rufen.
Acht Jahre lang hat dieCDU/CSU-Fraktion unter Frau Rönsch und danach un-ter Frau Nolte geglaubt, sie seien die Heilsbringer in derSeniorenpolitik in diesem Land.
Kaum haben Sie die Macht in diesem Land verloren,setzen Sie sich hin und machen einen Fragenkatalog mit109 Fragen. Nachdem ich allerdings Frau Rönsch gehörthabe, ist es so, daß diese 109 Fragen völlig überflüssigwaren, denn Sie beantworten eigentlich alles in eigenerVollkommenheit.Das Entscheidende dabei und das, was mir zu denkengibt, ist, daß Sie zwar sagen, Rentner und alte Menschenin der Bundesrepublik leben selbstbestimmt. Aber, FrauRönsch, Sie werden es nicht glauben: Die Herrschaften,die sich zu den Seniorinnen und Senioren rechnen, den-ken auch selbstbestimmt. Daher bin ich mir absolut si-cher,
daß die Antworten auf den Katalog der Fragen, den Sieeingereicht haben und den meine Kollegin bereits als„Aufgabenstellung für die neue Regierung“ tituliert hat,zum Nachschlagewerk für all diejenigen werden, diesich ernsthaft mit der Altenpolitik in dieser Republikauseinandersetzen.Ich habe allerdings bei der Durchsicht der einzelnenFragen an der einen oder anderen Stelle schon so etwaswie das kalte Grausen bekommen. Beispiel: Sie fragen,wie sich zum Beispiel das Rentenalter, aufgelistet nachFrauen und Männern, bei den Regelaltersrenten und denvorzeitigen Altersrenten in der gesetzlichen Rentenver-sicherung und das Pensionsalter in der Beamtenversor-gung seit 1975 entwickelt haben. Das fragen Sie heute.Sie haben vor einem Jahr unter Hinzuziehung desdemographischen Faktors eine Rentenreform vorge-schlagen, und jeder, der daran beteiligt war, hätte dieseFrage eigentlich aus dem Effeff beantworten könnenmüssen. Sonst hätte er sich an Ihrer Reform nicht betei-ligen dürfen.
Das zweite, was mir an Ihren Fragen auffällt, ist: Ichweiß nicht, wie Sie in Ihrem Reformvorschlag – offen-sichtlich unbesehen – dazu kommen, das Rentenniveauauf 64 Prozent abzusenken. Sie stellen nämlich die Fra-ge, wie sich die Höhe der durchschnittlichen Altersren-ten der gesetzlichen Rentenversicherung bzw. die Höheder Beamtenpensionen seit 1975, differenziert nachMännern und Frauen in den alten und neuen Bundeslän-dern, entwickelt hat.
Um Himmels willen: Wie konnten Sie dann, wenn Siedas nicht wußten, einer Reform zustimmen, bei der Sieunbesehen das Rentenniveau auf 64 Prozent absenkenwollten?
Hier drängt sich wirklich die Frage auf, unter welchemAspekt Sie diese 109 Fragen eigentlich zusammenge-schrieben haben.Bei einem Teil der Fragen gerieren Sie sich so, alshätten Sie acht Jahre lang das Ehrenamt gepachtet ge-habt, obwohl seit acht Jahren ein Ministerium besteht, indem – nicht ausschließlich, aber auch – die Zuständig-keit für die ältere Bevölkerung eine Rolle spielt. Siestellen Fragen, aus denen ganz deutlich hervorgeht, daßbei Ihnen acht Jahre lang das Ehrenamt gerade in dieserAltersgruppe offensichtlich vor sich hingedümpelt ist.Anders kann ich mich zu diesen Fragen gar nicht äu-ßern.
In Frage 28 haben Sie beispielsweise Ihr totales Un-wissen über die Rundfunkräte und deren Zusammen-setzung dokumentiert.
Sie fragen die Bundesregierung, ob sie auf die Rund-funkanstalten dahingehend einwirken wolle, Senioren-räte und Seniorenbeiräte in die Rundfunkräte aufzuneh-men. Ich frage mich hier: Wo, bitte schön, ist Ihr Staats-verständnis? Es gibt Gesetze und Staatsverträge, die dasregeln, allerdings auf Landesebene.
Vizepräsident Rudolf Seiters
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6170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Warum haben Sie die vier Jahre, in denen Sie, FrauRönsch, tätig waren, nicht genutzt, um in diesem Bereicheine Zusammenarbeit mit den Ländern zu erreichen?
Sie haben die Fragen zu einem Zeitpunkt gestellt, alses die Regierung Schröder/Fischer ein halbes Jahr gab.
Innerhalb eines halben Jahres sollen dann meine Staats-sekretärin und meine Ministerin alles das auf die Reihebekommen, was Sie im Laufe von vielen Jahren nicht ge-schafft haben. Obwohl ich überzeugt davon bin, daß sieviel können und vieles besser können, muß ich sagen: Ichgebe ihnen ein bißchen Zeit, damit sie sich mit solchenDingen auseinandersetzen können. Es gibt nämlich etwas,das noch wichtiger als die Rundfunkbeiräte ist.
Die Frage 32 bezieht sich auf die Hochschulpolitik.Sie fragen, ob es von seiten des Bundes Möglichkeitengibt, Einfluß im Hinblick auf das Seniorenstudium zunehmen. Dazu kann ich auch wiederum nur sagen: Wer,bitte, hat die Kulturhoheit? Natürlich kann der Bunddaran mitwirken, daß sich die Universitäten möglicher-weise noch mehr öffnen, als sie es bisher tun. Aber dar-über haben die Länder zu entscheiden,
und das hat mit den Studiengängen und mit den einzel-nen Studienorten mittel- und unmittelbar etwas zu tun.Frau Schewe-Gerigk hat schon gesagt: Wenn mansich mit den Fragen beschäftigt, hat man den Eindruck,als sei das eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für dieseRegierung gewesen.
Auch ich unterstelle das. Es ist das gute Recht einer Op-position, der Regierung Arbeit zu verschaffen. Nur, Siehaben einen Fehler gemacht: Sie haben die Entwick-lungsschwierigkeiten, die Fehler und die Nachlässig-keiten, die Sie in 16 Jahren zu verantworten hatten, ineinen Fragenkatalog gekleidet, an dem sich möglicher-weise – man kann es so interpretieren – die Unfähigkeitder derzeitigen Regierung erweisen sollte, weil sie nichtin der Lage sei, Ihnen das vernünftig zu beantworten.
Natürlich können sie das. Im Gegensatz zu den Verfas-sern dieser Fragen haben sich nämlich die Regierungs-mitglieder auch mit den zwei Zwischenberichten derEnquete-Kommission auseinandergesetzt, in denen imPrinzip – auch darauf ist Frau Schewe-Gerigk eingegan-gen – jede Ihrer Fragen differenziert und gut beantwortetwurde. Die Regierung hat das also gemacht, und sie hatdarüber hinaus noch etwas getan: Sie hat einen exzel-lenten Katalog von möglichen Schritten und Handlun-gen aufgestellt, die in der nächsten Zeit mit dieser Re-gierung und von dieser Regierung in Angriff genommenwerden.
– Ich denke, die Fehler, die Sie 16 Jahre lang gemachthaben, können Sie dieser Regierung an der Stelle zu-mindest nicht anlasten. In anderen Bereichen versuchenSie es ja immer wieder.
Ich komme zum Schluß – mir fehlen ja zwei Minuten,deshalb muß ich das alles ein bißchen abkürzen –: Siehaben viel Wind gemacht.
Aber Sie haben trotz des Windes eine gute Ernte einge-fahren, weil die Antworten der Regierung als exzellentzu bewerten sind.
Dies sehe nicht nur ich so; das sehen auch diejenigen so,die sich in der Wissenschaft damit auseinandersetzen.Ich bedanke mich bei der Regierung für die Arbeit, diesie da getan hat.
Ich kann Ihnen als der Opposition nur wärmstensempfehlen – dies tue ich noch einmal mit allem Nach-druck –:
Ich bin dafür – bei allen Diskussionen und allen Debat-ten, die wir in der Zukunft in diesem Hohen Hause füh-ren; aus diesem Grunde bitte ich, meine aufgeregten er-sten zwei Minuten richtig zu werten und zu verstehen –,die Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich bin dafür, Futterbei die Fische zu geben, wenn es darum geht,
auch in bezug auf die ehemalige DDR die Dinge tat-sächlich aufzuklären, die es aufzuklären gilt. Aber in un-serem Sprachschatz sollten wir uns nicht auf ein Niveaubegeben, das wir Jahrzehnte – weil es diese DDR gabund weil es ein Naziregime gab – bekämpft und das wiraus unseren Köpfen verbannt haben.In diesem Sinne danke ich Ihnen.
Das Wort für dieCDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Gerald Weiß, Groß-Gerau.Arne Fuhrmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6171
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Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! HerrFuhrmann, die, wie Sie gesagt haben, aufgeregten erstenzwei Minuten sehen wir Ihnen nach. Aber daß Sie dannaußer Beleidigungen und Platitüden in den übrigen achtMinuten nur geredet und nichts gesagt haben, das neh-men wir Ihnen schon ein bißchen übel.
Sie haben zum Beispiel von den „dusseligen“ 109Fragen der CDU/CSU-Fraktion gesprochen. Die Ant-worten auf diese 109 „dusseligen“ Fragen hat „Ihre“Staatssekretärin – Sie haben hier gesagt: „meine Staats-sekretärin“, besitzanzeigendes Fürwort – als ein „umfas-sendes Bild der Lebenssituation älterer Mitbürgerinnenund Mitbürger“ dargestellt. Dann haben sich die Fragendoch eigentlich schon gelohnt.Allerdings muß dann das „umfassende Bild“, dasauch Frau Schewe-Gerigk – momentan ins Gesprächvertieft – bestätigt hat, auch zu politischen Folgerungenführen. Nach einem Jahr der Existenz der neuen Bundes-regierung darf man schon fragen, ob das zu politischenFolgerungen geführt hat. Da fällt die Bilanz ziemlichdünn aus,
wenn man sich hier nur mit Modellvorhaben der FrauRönsch und der Frau Nolte schmücken kann und nichtsEigenes auf den Weg gebracht hat.
Frau Staatssekretärin, Sie sprechen von einem „um-fassenden Bild der Lebenssituation der älteren Mitbür-gerinnen und Mitbürger“. Noch entlarvender ist es dann,daß Sie in Ihrer Stellungnahme hier kein Wort zum zen-tralen Feld der Zukunft unserer Alten geäußert haben.Ich meine die Frage nach der Alterssicherung – FrauRönsch hat sie hier in die Debatte gebracht –, die Fragenach der Rente. Dazu haben Sie kein Wort gesagt.Wenn man sich das vergegenwärtigt – auch den Tat-bestand, daß Sie und nicht die Ministerin heute gekom-men sind –, kann man sehr schnell darauf schließen,wie es um die Anwaltsfunktion dieser Ministerin undihrer Staatssekretärin in Sachen Rentenpolitik, um dieAnwaltsfunktion für die älteren Mitbürgerinnen undMitbürger bestellt ist; ich glaube: sehr traurig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Politik istnicht dazu da, Lebenspläne zu verordnen. Aber dafür,daß die Lebenspläne älterer Menschen und ihre Bedürf-nisse eine Chance haben, können Politik und Staat sehrviel tun. Politik und Staat können aber auch sehr vielverderben. Was die rotgrüne Politik in einem einzigenJahr verdorben hat, ist, für sich gesehen, schon wiedereine Leistung.
Das gilt insbesondere für die Rentenpolitik.Ganz besonders wichtig ist die Alterssicherung. Indiesem Bereich haben Sie nach einem Jahr einen beab-sichtigten manipulativen Eingriff in die Rentensystema-tik vorzuweisen, wie wir ihn noch nicht erlebt haben.
Das verunsichert die Seniorinnen und Senioren nichtnur, sondern schadet ihnen auch massiv. Jetzt klage ich noch einmal die Anwaltsfunktion ein:Wo war denn die Stimme der Familienministerin oderihrer Vertreterin zu hören, als sich dieser unglaublicheEingriff anbahnte?
Rente ist doch keine Sozialleistung. Sie ist eine Sozi-alversicherungsleistung. Das ist etwas ganz anderes.
Rente ist doch kein gnadenvoller Gewährungsakt derPolitik. Rente ist ein verbriefter Anspruch, gedecktdurch Leistung und Beitrag.
Es wäre so schön gewesen, wenn Sie dazu Stellung ge-nommen hätten.Man kann doch die Lohndymanik – das ist die Basisunseres Rentensystems seit der großen Reform von 1957gewesen –, die Lohnbezogenheit in der Rentenanpas-sung, nicht wie einen Fernsehapparat beliebig abschal-ten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wer den-noch so handelt, verletzt den Generationenvertrag. DieseWertung können wir Ihnen nicht ersparen.
Herr Fuhrmann, Sie haben ins Feld geführt, daß dieCDU/CSU auf dem Feld der Rentenpolitik viele Refor-men gemacht hat und auch viele schwierige Reformenmachen mußte. Ganz besonders eine haben Sie diffa-miert – und damit den Konsens in der Rentenpolitik auf-gekündigt –, die Einführung des demographischenFaktors in der Rente. Höhere Lebenserwartung, länge-rer Rentenbezug, mehr Rente – das ist ja alles erfreulich,aber die daraus erwachsenden Lasten kann man dochnicht einfach Betrieben und Beitragszahlern auferlegen.Wenn man das hätte laufen lassen, wäre der Rentenver-sicherungsbeitrag auf 26 bis 28 Prozent gestiegen.
– Unser demographischer Faktor ist auf Grund Ihresverleumderischen Wahlkampfes als Rentenkürzung an-gekommen. Das hat uns schon zu schaffen gemacht.Dennoch war unsere Politik richtig.
Ältere Menschen haben sehr wohl ein Gespür für Ge-rechtigkeit, auch für Gerechtigkeit zwischen den Ge-nerationen. Wenn man die Chance gehabt hätte, ihnen
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6172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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klarzumachen, daß die Berücksichtigung der Lebenser-wartung in der Rentenformel bedeutet, daß die Rentneran der Last durch das Mehr an Rente beteiligt werdenmüssen, damit die Jungen und die Betriebe nicht allesalleine schultern müssen, und daß die Minderung derRentenanpassung – keine Rentenkürzung – um den so-genannten demographischen Faktor über eine langeZeitspanne hinweg Verläßlichkeit und Sicherheit in derRente bedeutet hätte, dann hätten sie das sehr wohl ak-zeptiert. Da bin ich mir ganz sicher.
Heute muten Sie den Rentnerinnen und Rentnern die-sen unglaublichen manipulativen Akt der Kopplung derRentenanpassung an die Inflationsrate zu, und zwar ineinem Moment, wo sie von der Lohnkopplung hättenprofitieren können. Es ist wahr: Die Rentenanpassungwar vorher – dies ist der Generationenvertrag – nichtsehr hoch, einfach deshalb, weil – gute Zeiten, schlechteZeiten – auch die Löhne nicht sehr stark gestiegen sind.Aber jetzt, wo die Menschen qua Lohnkopplung höhereRenten hätten bekommen können, schaffen Sie das ab.Das ist der Vertrauensbruch gegenüber der älteren Gene-ration, den Sie zu verantworten haben.
Respektvoller mit diesen Rentenansprüchen umzugehen,das ist das, was wir einfordern. Frau Staatssekretärin, eswäre ganz nett gewesen, wenn Sie zu dieser zentralenFrage der Seniorenpolitik hier etwas gesagt hätten.Jetzt kommt die Frage, wie es eigentlich weitergeht.Nach einem Jahr kann man durchaus einmal fragen:Was ist Ihr Konzept? – Nichts! Ständig werden neue Re-formtrümmer in die Landschaft gesprengt. Reformirr-lichter geistern durch die politische Szene. Eine Saunach der anderen wird durch das Dorf getrieben, undkeiner weiß, wohin es wirklich geht. Das ist doch skan-dalös, meine sehr verehrten Damen und Herren, was Siehier in der Rentenpolitik machen!
Leistungsgerechtigkeit in der Rente – das ist in derDebatte bereits angesprochen worden. Auf einem Sektorsind wir diesbezüglich noch sehr entwicklungsbedürftig:Es ist ein Skandal, daß diejenigen, die wegen Kinderer-ziehung aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, nach-her ein geringeres Durchschnittsalterseinkommen habenals diejenigen, bei denen das nicht der Fall war.
– Die CDU hat doch mit der Anrechnung der Erzie-hungsjahre auf die Rente angefangen. In Ihrer Regie-rungszeit – unter Schmidt und vorher Brandt – ist dochauf dem Sektor gar nichts passiert. Das haben wir docherst in den 80er Jahren angestoßen.
Dies ist eine perverse Korrelation: Diejenigen, dieKinder großgezogen haben, haben ein geringeres Al-terseinkommen. Wir reden hier ja über Perspektiven.Das macht Sie nervös, wenn von Folgerungen und Per-spektiven die Rede ist.
Dennoch müssen wir an diesen Punkt herangehen.Wir müssen auch an folgenden Punkt herangehen: Esist ein Erfolgsbeweis unserer Rente, daß die Sozialhilfe-abhängigkeit der Rentenbezieher so gering ist. Aber sieist in einzelnen Teilen der Bevölkerung – bei Auslände-rinnen und Ausländern – hoch. Auch das muß man an-gehen.Jetzt sind die Zahlen ganz gut aufbereitet worden.Das ist etwas. Aber die Regierung hat keine Antwort aufdie Frage gegeben, wie es weitergehen soll. Auf demWeg Ihrer Rentenpolitik liegen bislang nur Trümmer.Daß das eine miserable Bilanz ist, müssen wir Ihnen lei-der bescheinigen.Danke.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Kurt Bodewig, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe als Parlamentsneuling hier eben
gelernt, daß „Geschwafel“ unparlamentarisch ist, aber
„Entsorgung“ von Menschen nicht. Dies war eine Urer-
fahrung.
Herr Kollege Bo-
dewig, ich möchte Sie unterbrechen. Ich rufe Sie zur
Ordnung,
weil Ihre Äußerungen eine eindeutige Kritik an der Sit-
zungsleitung des amtierenden Präsidenten darstellen. Ich
bin mir absolut sicher, daß dies im gesamten Präsidium
so gesehen wird.
Bitte fahren Sie fort.
Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ich möchte mich nicht irritieren lassen. Ich befassemich jetzt mit der Großen Anfrage der CDU/CSU undder Antwort der Bundesregierung darauf. Man ist ge-neigt, den Fragestellern erst einmal ein Fleißkärtchen zugeben. Eine Unzahl von Fragen wurde gestellt, wichtigeund unwichtige. Der Kollege Fuhrmann hat dies schonbeschrieben. Doch mir stellt sich eine andere Frage: Aufwelcher Basis haben Sie von den Oppositionsparteien inder Vergangenheit eigentlich Politik gemacht? Sie wa-ren 16 Jahre in der Regierung. Aber erst jetzt werdenGerald Weiß
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Basisdaten erhoben, die schon vorher hätten ermitteltwerden müssen. Dies ist aber nicht verwunderlich; denndie Bemerkung von Frau Rönsch auf die Zwischenfragehat sehr deutlich gemacht, daß es mit der Kenntnis derMaterie nicht weit her ist. Frau Rönsch, ich möchte Sienur beruhigen: Die Pflegeversicherung existiert nichtseit acht Jahren, sondern erst seit 1995. Aber auch Sieals ehemalige Familienministerin können noch dazuler-nen. Es ist nur konsequent, sich zumindest in der Oppo-sitionszeit fitzumachen. Dieses Recht möchte ich Ihnennicht nehmen.Die Fakten sind interessant. Ein zentrale Aussage inder Antwort der Bundesregierung ist, daß Altersarmutnicht mehr das Armutsrisiko in unserer Gesellschaft ist.Dies ist eine gute Entwicklung. Hieran ist erfreulicher-weise gearbeitet worden. Aber ich möchte hinzufügen,daß jetzt die Anzahl der Kinder eher zu einem Armutsri-siko wird. Wir haben mit der Kindergelderhöhung undmit den Kinderbetreuungsfreibeträgen wichtige Schrittegemacht. Auch im Rahmen des Rentensystems werdenKindererziehungszeiten bewertet. Dies ist der richtigeWeg.
Sie haben die Frage gestellt, wie hoch die Einkünfteim Alter sein werden. Darauf antworte ich Ihnen: DasBruttoeinkommen der Menschen ab 60 Jahren beträgtnach der Antwort der Bundesregierung 4 160 DM. Da-von stammen etwa 63 Prozent aus der gesetzlichenRentenversicherung oder aus gleichgelagerten Syste-men. Aber um diese Zahl geht es eigentlich nicht; viel-mehr geht es darum, daß die Renten von Männern undFrauen immer noch über 1 000 DM auseinanderliegen.Deswegen ist die Grundsicherung – Ihre Frage, HerrWeiß, zielte auf die Perspektiven ab; ich kann Sie beru-higen, wir haben Perspektiven – ein ganz wichtigesElement in unserem Rentenkonzept. Sie liegt gerade imInteresse der Seniorinnen und Senioren.
Aus der Antwort der Bundesregierung auf Frage 15wird deutlich, daß ein Teil der alten Menschen trotz An-spruchs aus Angst vor Stigmatisierung in der Gesell-schaft, aus Angst davor, daß die Kinder in Regreß ge-nommen werden könnten, und aus Scham keine Sozial-hilfe bezieht. Mit unserem Rentenkonzept wollen wir si-cherstellen, daß alte Menschen in Zukunft nicht mehrgezwungen sind, trotz Rente ergänzende Sozialhilfe zubeziehen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt für alteMenschen.
Nun möchte ich auf die Debatte über die Aussetzungdes demographischen Faktors eingehen. Lassen Sie michetwas ganz deutlich sagen, was schon in vielen Debattengesagt worden ist: Der demographische Faktor be-deutet nichts anderes als die systematische Abkopplungder Renten von der Nettolohnentwicklung, und zwar un-abhängig vom Inflationsausgleich. Sie hätten per Gesetzdas Rentenniveau auf 64 Prozent des Nettoeinkommensbegrenzt.
– Keine Angst, darauf komme ich gleich zurück. Ichwerde dem nicht aus dem Weg gehen.Es gibt noch einen weiteren Punkt. Sie haben in derVergangenheit die Leistungen systematisch gekürzt.Dies hat dazu geführt, daß die Renten gesunken sind.
Für junge Menschen macht sich die Reduzierung der an-erkannten Ausbildungszeiten von sieben auf drei Jahredeutlicher bemerkbar als die Tatsache, daß die Rentennicht mehr an die Entwicklung der Nettolöhne gekoppeltsind. Wir wollen etwas anderes.
Wir bitten die Rentner, für zwei Jahre auf eine Kopp-lung der Renten an das Nettolohnniveau zu verzichten.Die Rentner erhalten einen Ausgleich in Höhe der Infla-tionsrate. Damit wird das gegenwärtige Rentenniveaubeibehalten. Es gibt keine Kürzung. Damit erhalten dieRentner etwas, was es in den letzten zehn Jahren nichtgegeben hat, nämlich einen Ausgleich in Höhe der In-flationsrate.
Herr Kollege Bo-
dewig, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Reinhardt?
Ich lasse die Zwischenfrage
gerne zu.
– Das ist üblich.
Herr Kollege, stim-
men Sie mir zu,
daß Ihre auf zwei Jahre angelegte Abkopplung von der
Nettolohnentwicklung das Rentenniveau auf 65 Prozent
absenkt, während bei der CDU/CSU der demographi-
sche Faktor innerhalb von 16 Jahren zu einer Absenkung
auf 64 Prozent geführt hätte?
Ich kann Ihnen leider nichtzustimmen, weil Ihre Berechnung hinsichtlich der16 Jahre durch die aktuellen Zahlen längst überholt ist.Zum zweiten stimmen auch die 65 Prozent, die Sie un-terstellen, nicht. Wir kommen geringfügig unter67 Prozent und werden dauerhaft ein Niveau von67 Prozent erreichen.
Kurt Bodewig
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Dies werden wir erreichen, weil unser Konzept dreiElemente hat. Erstens stabilisieren wir die Renten da-durch, daß wir in diesen beiden Jahren ein Fundamentfür die Zukunft schaffen. Zweitens finanzieren wir mitder Ökosteuer
sowohl die Beitragssätze als auch bestimmte Aufgabenin der Rente; eine davon habe ich eben schon angespro-chen. Drittens streben wir eine Eigenvorsorge an.Ich verstehe die Aufgeregtheit bei Ihnen nicht. AmDienstag habe ich gemeinsam mit Herrn Glos und HerrnWesterwelle eine Podiumsdiskussion bestritten, auf derdiese beiden Herren ein Modell bejubelt haben, das dazuführen würde, daß das Nettorentenniveau auf 52 Prozentabsinkt und dann erst durch den Kapitalstock strukturellwieder aufgebaut wird. Daran sieht man die Doppelbö-digkeit Ihrer Argumentation.
Ich sage das so deutlich, weil ich glaube, daß die Renteauf Vertrauen basieren muß. Dieses Vertrauen erhaltenwir, und wir zeigen ein Konzept auf, das sich umsetzenläßt und eine dauerhafte Perspektive beschreibt.
– Sie brauchen es ja nicht zu glauben, Frau Lenke. Imübrigen ist das keine Frage des Glaubens, sondern vonFakten, die Sie nachlesen können.Das Thema Generationenbilanz ist nach meinerMeinung zweifellos sehr wichtig. Die von Ihnen vorge-schlagene Methode des „generational account“ ist dage-gen höchst manipulierbar und hat in den Ländern, in de-nen dieses Thema systematisch angegangen worden ist,den Begriff der Generationenbilanz diskreditiert. Es wä-re besser, wenn wir unsere Wertschätzung für die Le-bensleistung älterer Menschen in diesem Hause dadurchbezeugten, daß wir alle gemeinsam an einem Rentensy-stem arbeiteten, das zukunftssicher ist und das nicht vonMythen, sondern von Fakten bestimmt ist.Vielen Dank.
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin KatrinGöring-Eckardt.
Die Situation der Seniorinnen und Senioren diskutierenwir vor dem Hintergrund – das hat die Antwort auf dieGroße Anfrage gezeigt – einer relativ wohlhabendenRentnergeneration. Das gilt für den Durchschnitt imWesten, aber auch im Osten. In Ostdeutschland habenRentnerinnen und Rentner vor allem dann, wenn sienicht allein leben, eine verhältnismäßig gute soziale Ab-sicherung. Das entspricht der Lebensleistung dieser Ge-neration, die beide Teile dieses Landes entsprechend denjeweiligen Rahmenbedingungen aufgebaut hat. Dennochlassen Sie mich auf drei Dinge hinweisen, die von dieserallgemeinen Bemerkung nicht abgedeckt sind.Erstens. Herr Bodewig hat gerade darüber gespro-chen, daß es nach wie vor Altersarmut gibt. Besondersdramatisch ist dabei die verschämte Altersarmut. Andieser Stelle kann ich die Arroganz, die Sie heute hierzum Ausdruck gebracht haben, nicht verstehen.
Gerade in der Vergangenheit war dies auch zahlenmäßigein riesiges Problem. Eine unbekannt große Zahl vonMenschen hat sich in Ihrer Regierungszeit geschämt,auch nur das in Anspruch zu nehmen, was ihr zusteht.Das hat sicherlich zwei Gründe: Der eine waren die ge-setzlichen Rahmenbedingungen, die wir ändern. Ichdenke da etwa an die Unterhaltsverpflichtungen vonKindern gegenüber ihren Eltern. Der andere war Ihr Ge-rede von der „sozialen Hängematte“, mit dem Sie auchdie armen Alten gemeint haben müssen.Meine Damen und Herren von der Opposition, Siemüssen sich daher fragen lassen, inwieweit Sie zu einerVerschärfung der Altersarmut beigetragen haben, indemSie Menschen als würdelos abgestempelt haben. Daswar alles andere als verantwortungsvoll und hat nichtsmit dem zu tun, wovon Sie uns heute hier glauben ma-chen wollen, daß Sie es in Ihrer Regierungszeit getanhätten.
Wir machen damit Schluß. Mit einer bedarfsorientiertenMindestabsicherung – pauschal ausgezahlt, nicht vomSozialamt und ohne Anrechnung einer Unterhaltsver-pflichtung von Kindern gegenüber ihren Eltern – gebenwir den Menschen ihre Würde zurück. Das haben Sienicht geschafft. Wir tun es.
Zweitens. Wir wissen – auch das bestätigt die Ant-wort auf die Große Anfrage – um die demographischeEntwicklung. Da will ich auf einiges eingehen, was hiergesagt worden ist. Sie behaupten, daß es ein Riesen-skandal sei, daß diese Regierung die Rentenanpassungmit der Kaufkraft Schritt halten läßt.
Das haben Sie in den vergangenen Jahren nicht einmalgeschafft. Sie sollten einmal in aller Ehrlichkeit einge-stehen, daß auch Ihr demographischer Faktor nichts an-deres getan hat; auch er hat einerseits Lohnbezogenheitgewährleistet, soweit es eben ging, und andererseits mitder Einbeziehung der demographischen Entwicklung ei-Kurt Bodewig
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ne Abkopplung von genau dieser Nettolohnbezogenheitbewirkt.
Wir brauchen – ich glaube, darauf hat diese Gesell-schaft einen Anspruch – eine Antwort auf die doppelteFrage nach Gerechtigkeit, nämlich zum einen nach Ge-rechtigkeit innerhalb einer Rentnergeneration – geradefür diejenigen, die Kinder großgezogen haben und durchunstete Erwerbsbiographien keine vernünftige eigen-ständige Altersabsicherung aufbauen konnten –, aberzum anderen auch nach Gerechtigkeit zwischen Alt undJung. Wir wissen – und das wissen auch Sie –, daß dieBereitschaft gerade der älteren Generation dazu ziemlichgroß ist. Deswegen wollen wir einerseits eine Stabilisie-rung der Beiträge, andererseits aber auch eine klare Op-tion für die heute Jüngeren auf eine adäquate, ihrer Le-bensleistung entsprechende Altersversorgung. Deswe-gen nimmt diese Regierung dieses Problem, das Sie seitJahren vertuscht und verschoben haben, endlich ernst.Inzwischen haben es sogar einige von Ihnen eingesehen.Wenn man Herrn Storm oder Herrn Wulff hört, hat manden Eindruck: Es bewegt sich tatsächlich auch etwas,auf der rechten Seite dieses Hauses.
Bündnis 90/Die Grünen sind der Meinung, daß dieseLangfristoption gewährleistet werden kann, wenn manneben der Lohnbezogenheit der Rente einen Generatio-nenfaktor einführt, der einerseits die steigende Lebens-erwartung und andererseits die geringere Geburtenrateabbildet.
Das bedeutet keine Abkopplung von der Lohnentwick-lung, sondern eine zusätzliche Komponente, die dieDemographieentwicklung ernst nimmt.
Dafür stehen wir.
Wir brauchen darüber hinaus dringend eine eigen-ständige Absicherung von Frauen im Alter und eineBesserstellung derjenigen, die Kinder erzogen haben.Wir stellen also nicht, wie es in der Vergangenheit ge-wesen ist, einzig und allein darauf ab, ob jemand verhei-ratet gewesen ist oder nicht.Lassen Sie mich noch ein Drittes sagen – ich glaube,auch das gehört in diese Debatte –: Angesichts der neu-en Situation – gestiegene Lebenserwartung und ein grö-ßerer Anteil von Seniorinnen und Senioren an der Be-völkerung – ist es zwingend notwendig, darüber zu re-den, wie die gesundheitliche Versorgung abgesichertund zukunftsfest gemacht werden kann. Was Sie uns da-zu in der letzten Woche angeboten haben, wird dem inkeiner Hinsicht gerecht. Sie tun so, als ob Sie mit einerneuen Zuzahlungswelle die Krankenversicherung zu-kunftsfähig machen könnten. Tatsächlich verursachenSie damit neue Verunsicherung. Tatsächlich ist das dieklare Option auf eine Zweiklassenmedizin.
Das werden Sie mit uns nicht machen können. Ihre Vor-schläge waren ziemlich platt und hatten wenig Inhalt.Sie haben auf Maßnahmen hingewiesen, wegen denenSie abgewählt worden sind.Meine Damen und Herren, diese Regierung hat denGestaltungsauftrag, dafür zu sorgen, daß die Generatio-nen zusammenhalten und nicht auseinanderdividiertwerden, daß neue Gerechtigkeit in diesem Land entsteht.Das tut diese Regierung. Helfen Sie dabei konstruktivmit! Verunsichern Sie nicht die Jungen und die Alten!Sie würden es Ihnen vielleicht am Ende danken.Schönen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Renate Diemers.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Zänkisch, verschroben,quengelig, nörgelnd, hilflos und gebrechlich – dies sindwohl auch heute noch die gängigsten Vorurteile gegenMitmenschen in unserer Gesellschaft, die oftmals einanstrengendes Arbeitsleben, Erziehungsarbeit und denWiederaufbau unseres Landes geleistet haben: unsereeigenen Eltern und Großeltern.Es heißt – das wurde schon heute morgen deutlich –,den Wert einer Gesellschaft erkenne man daran, wie siemit den Alten und den Schwächeren in ihrer Mitte um-geht.
Das Miteinander der Generationen ist in diesemZusammenhang ein wichtiger Begriff. Einer der interes-santesten Aspekte ist die Beziehung zwischen den altenund den ganz jungen Menschen. Großeltern sollenGroßeltern sein dürfen – ich bitte Sie, über diese Aussa-ge einmal nachzudenken. Großeltern sollen eben nichtdie ureigenen Aufgaben der Eltern übernehmen und denErziehungsauftrag ausführen müssen; vielmehr solltensie ganz einfach nur Großeltern – Opa und Oma – seindürfen.Großeltern haben oft die Aufgabe – dies kennen si-cherlich viele aus der eigenen Familie –, die Vermittler-rolle zwischen Eltern und Kindern zu spielen. Das tunsie gerne; denn ältere Menschen verstehen die jungenMenschen manchmal besser als die dazwischenliegendemittlere Generation. Die Gemeinsamkeiten überraschenuns von Zeit zu Zeit.Junge Menschen kämpfen um ihre Eigenständigkeit.Das ist richtig und natürlich. Ältere Menschen müssen inunserem Land leider wieder oft darum kämpfen, ihreKatrin Göring-Eckardt
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Eigenständigkeit zu behalten. Jugendliche sollten alsoeigentlich eine Ahnung davon haben, warum ältereMenschen ihre Eigenständigkeit verteidigen, ihre eigeneWohnung, ihren selbstgestalteten Lebensrhythmus undihren erarbeiteten Lebensstandard bewahren möchten.Hieran wird besonders deutlich, daß es von äußersterWichtigkeit ist, für die eigenständige soziale Sicherungim Alter einzutreten.Wenn ich in diesem Zusammenhang die Rentenbio-graphien der Frauen sehe, dann erkenne ich: Wir müs-sen uns vehement dafür einsetzen, daß die Altersversor-gung nicht zugunsten anderer Leistungen zurückbleibt.
Transferleistungen für die Familien während der Erzie-hungszeit sind wichtig und müssen auch weiter ausge-baut werden. Das darf aber nicht zuungunsten der Al-tersversicherung geschehen. Das heißt, wir müssen ander zweigleisigen Familienförderung festhalten: an derfinanziellen Förderung während der Erziehungszeit undan der Anerkennung der Kindererziehungszeiten imRentenrecht.
Ältere Menschen im Ruhestand, in Rente, brauchennicht weniger Geld – ich selbst habe das als jungerMensch oft geglaubt –, nur weil sie alt sind, keine be-rufsbedingten Ausgaben für Kleider, Fachliteratur etc.und angeblich auch keine großen Bedürfnisse mehr ha-ben. Vielmehr brauchen ältere Menschen sogar mehrGeld; denn Ältere sind nicht automatisch pflegebedürf-tig und haben damit auch keinen Anspruch auf Pflege-geld. Sie brauchen Geld, um sich Leistungen, die sie injungen Jahren nicht benötigten, kaufen zu können, zumBeispiel, wenn sie Hilfe im Haushalt benötigen, wennsie den Einkauf nicht mehr allein bewältigen, wenn siedie Straße nicht mehr kehren, die Treppe im gemeinsa-men Treppenhaus nicht mehr putzen und den Mülleimernicht mehr an den Straßenrand stellen können.Ältere Menschen wollen auch nicht unbedingt ineine kleinere Wohnung, nur weil ihre Kinder aus demHaus sind. Seniorinnen und Senioren haben den berech-tigten Anspruch auf ihre alte, geräumige Wohnung, undsie brauchen den Platz. Sie brauchen Platz, damit sichandere Personen, zum Beispiel ihre Kinder, Freunde,Pflegedienstleistende usw., länger – auch mit Über-nachtung – in der Wohnung aufhalten können, was diesedann auch gerne tun.Ein anderer Fall liegt vor, wenn ältere Menschen,zum Beispiel wegen Arbeitserleichterung, von sich auseinen Wohnungswechsel vornehmen wollen. Dann mußeine entsprechende altengerechte Wohnung mit demeventuell notwendigen Sozial- und Dienstangebot zurVerfügung stehen. Frau Rönsch hat schon darauf hinge-wiesen.Eigentlich sollte es uns doch nicht wundern, wennältere Menschen, insbesondere in den Heimen, aucheinmal aggressiv reagieren, wenn man sie im übertrage-nen und auch – leider – im eigentlichen Sinne entmün-digen will. Dazu gehört beispielsweise auch der Zwang,um 19.00 Uhr schlafen zu gehen, nur weil abends keinPflegepersonal mehr da ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wünschen Sie sich,daß Ihnen jemand vorschreibt, wann Sie schlafen gehenoder fernsehen sollen, wenn Sie sich zum Beispiel aufGrund eines Schlaganfalls nicht mehr mündlich artiku-lieren können? Ich höre quasi in Gedanken Ihr lautesNein. Diesen Blickwinkel müssen wir bei der Erarbei-tung unserer Gesetze berücksichtigen.In diesem Zusammenhang kritisiere ich noch einmalausdrücklich die Koalition, die die Gelder für Zivil-dienstleistende, die auch und gerade im Pflegebereichunverzichtbar sind, deutlich reduzieren möchte.
Die „Zivis“ können nicht die notwendigen Pflegekräfteersetzen, aber sie können sie in ihrer Arbeit unterstützen.Außerdem hat der Einsatz von Zivildienstleistendenpositive Auswirkungen für alle Seiten. Ich verstehe dar-unter zum Beispiel, daß der überwiegende Teil der jun-gen Männer anschließend die ältere Generation mit grö-ßerem Verständnis sieht und manchmal mit verändertenWertvorstellungen ins Berufsleben geht.Viele ältere Menschen, die nach Jahren einer aktivenErwerbs- und Familientätigkeit, in der sie ihre persönli-chen Bedürfnisse oft zurückstellen mußten, nun wiedermehr Zeit zur Verfügung haben, nutzen diese Zeit, umwieder verstärkt am gesellschaftlichen Leben teilzuneh-men.Die Bedeutung des Sports für das allgemeine Wohl-befinden von Älteren, für die Erhaltung von Mobilitätund die Selbständigkeit hat die Bundesregierung ja so-eben in der Antwort auf unsere Große Anfrage bestätigt.Ich finde es auch gut und richtig, wenn Ältere Zeitund Möglichkeiten nutzen, um verschiedene Formen desTourismus wahrzunehmen. Wir sollten uns weiter ver-stärkt dafür einsetzen, daß interessante, seniorengerech-te, barrierefreie Reisemöglichkeiten in Deutschland an-geboten werden.
Nach meiner Definition ist die Fahrt mit dem Bus desÖPNV, der schräg gegenüber der eigenen Haustür ab-fährt, auch schon eine Reise.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig:Eine der Stärken der älteren Generation sind ihre Erfah-rung und ihr Wissen. Trotz neuer Medien, Internet, dasheißt, trotz aller neuen Technologien, profitiert die jün-gere Generation, wenn sie diesen Schatz an Erfahrungund Wissen nutzt. Ich denke an die Einbindung von Se-niorinnen und Senioren in ausgewählte Bereiche desSchulunterrichts in Form eines Großeltern-Services aufGrund verwandtschaftlicher Verhältnisse oder alsDienstleistung, an Patenschaften von alten und älterenMenschen für Kindergärten und Kindertagesstätten und– umgekehrt – auch an Patenschaften von Schulen undSchulklassen mit Altenheimen. Ich denke an Gesprächs-kreise der Generationen über Kultur, Geschichte oderPolitik, an Hilfestellungen von Mittelständlern im Ruhe-stand für Existenzgründer. Ein anderes Beispiel sind dieRenate Diemers
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sogenannten Senioren-Handwerker-Dienste e. V. ausHagen, die 1967 als „Kompanie des guten Willens“ ge-gründet wurden.
Dies ist das älteste Modell des aktiven Ruhestands sei-ner Art in Deutschland. Die Mitglieder übernehmenHandwerkeraufgaben für gemeinnützige Einrichtungen.Auch hier müßten wir übrigens einmal über Fördermittelnachdenken.Damit wird zugleich ein anderes, sehr großes Pro-blem aufgegriffen. Viele ältere Menschen haben zwarviele Lebensjahre, aber sie fühlen sich nicht alt und ge-brechlich, wollen und können noch weiterarbeiten undam gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Sie wollennicht auf dem Abstellgleis landen – schon gar nichtautomatisch mit 60. Aber dies werden wir an andererStelle noch ernsthaft zu diskutieren haben.Mir ist der menschenverbindende Aspekt im Zusam-menhang mit dem Begriff des Generationenvertragesgenauso wichtig wie eine gute Altersversorgung. Allei-nige Meßlatte für die soziale Wärme in unserem Landdarf nicht nur die Höhe der sozialen Leistungen sein,sondern auch der Umfang unserer Bereitschaft zur Mit-menschlichkeit muß berücksichtigt werden.Herr Fuhrmann, Sie sind auf den umfangreichen Fra-genkatalog in unserer Großen Anfrage eingegangen.Selbstverständlich hätten wir die Antwort auf die eineoder andere Frage nachlesen können. Aber zum einenwollen wir mit unseren Fragen die Probleme im Rahmender Seniorenpolitik noch einmal öffentlich erörtern unddie Menschen – insbesondere uns selbst – für diesesThema sensibel machen. Zum anderen möchten wir vonder Regierung hören, welche Maßnahmen sie ergreift,um weitere Verbesserungen auf den Weg zu bringen.
Denn wir, meine Damen und Herren von der Koalition,haben gute Gesetze gemacht und Ihnen gute Vorlagenfür weitere Verbesserungen hinterlassen.Danke schön.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Christa Lörcher, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Als letzte Red-nerin in dieser Debatte möchte ich meine große Betrof-fenheit ausdrücken, daß in diesem Haus das Wort „ent-sorgen“ im Zusammenhang mit Menschen gefallen ist.Ich schäme mich dafür.
– Ich schäme mich für die Kollegin, die Verantwortungfür alte Menschen getragen hat und so etwas sagt.Zur Großen Anfrage: Sie dokumentiert ein breitesInteresse an der Situation der älteren Menschen bei uns:Alters- und Vermögensstruktur, Aktivitäten und Enga-gement, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, Wohnsituationvon Älteren, Gewalt gegen Ältere, Altern in der Fremdeund Alternsforschung. Diese Anfrage ist erfreulich, weilsie uns allen Gelegenheit gibt, zu den wichtigen Themender Altenpolitik Stellung zu beziehen: Welchen Stellen-wert haben Ältere in unserer Gesellschaft? Wie sind ihreLebensbedingungen? Wie haben diese Bedingungen sichentwickelt, wie werden sie sich voraussichtlich weiter-entwickeln? Welchen Handlungsbedarf gibt es in Politikund Gesellschaft?Die Große Anfrage ist aber auch verwunderlich, weilsie manches offenbart. Sie zeigt – wie meine Kollegenschon gesagt haben –, daß ein großer Teil der intensivenArbeit in der Enquete-Kommission „DemographischerWandel“ an den damaligen Regierungsparteien fastspurlos und ohne Gewinnung von Erkenntnissen vorbei-gegangen ist. Und sie zeigt – es mag für Sie in der Op-position schwierig sein das zu akzeptieren –, daß Stra-tegien und Handeln für eine solidarische und zukunfts-orientierte Altenpolitik während Ihrer Regierungsjahrenicht stattfanden.
Ich will zu einigen Bereichen der Anfrage aufzeigen,wo es interessante Daten und Informationen gibt und wonicht erst seit heute dringender Handlungsbedarf besteht.Die Fragen 1 und 2 der Großen Anfrage beziehensich auf die demographische Entwicklung und verlangenAuskünfte zu Veränderungen der Altersstruktur mit be-sonderem Augenmerk auf die Älteren in unserer Bevöl-kerung. Bei der Frage der Altersstruktur – das wissenwir – ist nicht nur die Situation der Älteren wichtig,sondern auch, wie sich die Zahl der Jüngeren entwickelt,wie ihre Lebenssituation ist. Und weil die Geburten-quote bei uns und in anderen Industrienationen ziemlichbeständig auf einem niedrigen Niveau verharrt, könnenwir froh sein über Familien mit Kindern, die zu unskommen, sei es aus der Türkei, sei es aus Kasachstanoder aus anderen Teilen der Welt. Wie also entwickelnsich Daten und Fakten zu Migration und Integration inunserem Land?Ich bin froh, daß in der Enquete-Kommission „De-mographischer Wandel“ dazu sehr ausführlich und diffe-renziert recherchiert und diskutiert wurde und damitGrundlagen für die nötigen Schlußfolgerungen gelegtwurden. Diese wollen wir gemeinsam in politischesHandeln umsetzen.Zur Vermögenssituation der älteren Menschen beiuns hat der Kollege Kurt Bodewig schon einiges gesagt.Ich will nur zwei sehr persönliche Bemerkungen anfü-gen. Ich bin dankbar, daß von dieser Regierung endlichdie immer weiter auseinandergehende Schere zwischenArm und Reich unter die Lupe genommen und ein Be-richt erstellt wird, der über Armut und Reichtum in un-serem Land Auskunft geben soll.
Renate Diemers
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Und: Ich freue mich, daß endlich die große Kluft zwi-schen dem Einkommen von Männern und Frauen imAlter zumindest abgemildert werden kann: zum einendurch die verschiedenen Modelle für die eigenständigeAlterssicherung der Frau, zum anderen durch die ge-plante Grundsicherung, die den Gang zum Sozialamt er-sparen soll.
Dazu eine kleine Geschichte aus dem Alltag einerSeniorin: Als ich vor rund zehn Jahren in einer Sozial-station auf der Alb tätig war, traf ich eine alte Frau, dievon 90 DM im Monat – ich habe keine Null vergessen –gelebt hat: im Hause ihrer Eltern, mit einem für dasÜberleben äußerst wichtigen Garten, in den Kleidernihrer Großmutter. Nie wäre dieser Frau in den Sinn ge-kommen, zum Sozialamt zu gehen. Dies als konkretesBeispiel zu Frage 15 und zu den Möglichkeiten, ver-schämte Altersarmut zu bekämpfen.Zu dem Fragenkomplex Aktivitäten und Engage-ment der Älteren in unserer Gesellschaft drei Anmer-kungen: Unabhängig von der Güte der bisherigen Datenwissen wir, daß ohne die ehrenamtliche Mitarbeit vonälteren Menschen in Vereinen, Parteien, Sport- undWohlfahrtsverbänden, Bildungs- und sozialen Einrich-tungen, Hilfsorganisationen und kirchlichen Gruppenvieles an Ideen, Verständigung, Hilfe, Solidarität undMenschlichkeit fehlen würde. Deswegen mein Dank analle, die sich für eine solidarische und humane Gesell-schaft einsetzen.
Daß eine Enquete-Kommission zur Förderung desEhrenamtes in dieser Legislaturperiode ihre Arbeit auf-nehmen wird, ist ein positives Signal, das von diesemParlament ausgeht.Daß mehr Frauen als Männer ehrenamtlich aktiv sind,ist nicht überraschend. Längst ist bekannt, daß Frauen ander unbezahlten Arbeit stärker und weit weniger an derbezahlten Arbeit beteiligt sind. Dies ist eine der Ursa-chen für die geringere Absicherung im Alter. Eine ge-rechtere Verteilung von bezahlter und unbezahlter Ar-beit ist eine der uralten Forderungen von uns Frauen inder SPD.Eine interessante Information enthält die Antwort aufdie Frage 55. In einer Studie der Universität Erlangen-Nürnberg im Rahmen des Forschungsprojektes „Mög-lichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung inprivaten Haushalten“ wurde festgestellt, daß es deutlicheUnterschiede zwischen alten und neuen Bundesländernbei der Beteiligung von Frauen und Männern an derhäuslichen Pflege von Angehörigen gab. In den östli-chen Bundesländern beteiligten sich signifikant mehrMänner als in den westlichen. Dafür gibt es sicherlichviele Gründe, unter anderem die höhere Arbeitslosigkeit.Trotzdem empfinde ich diese höhere Beteiligung derMänner an der häuslichen Pflege als ein positives Si-gnal.Damit bin ich beim nächsten Bereich, nämlich derHilfs- und Pflegebedürftigkeit im Alter. Es fällt auf,daß sehr viel an Daten zur Pflegeversicherung abgefragtwird: Pflegesätze, Entgelte und monatliche Differenzen.Sicher ist eine ausreichende finanzielle Ausstattung fürPflegebedürftige, Pflegende und die nötigen Institutio-nen eine Grundvoraussetzung für eine menschenwürdigePflege. Die Finanzierung allein macht aber noch keinemenschenwürdige Pflege und Betreuung aus. Zu denBedürfnissen und der Lebensqualität der zu Betreuendenhabe ich in der Großen Anfrage keine Frage gesehen.Die Fragen zu Demenzerkrankungen sind insoferninteressant, als sie nochmals auf die Große Anfragemeiner Fraktion in der letzten Legislaturperiode zur Si-tuation der Demenzkranken aufmerksam machen. Posi-tiv ist, daß Untersuchungen und Forschungsprojektezum Thema Demenzerkrankungen auch bei uns inDeutschland verstärkt angegangen werden und daß so-wohl Grundlagen- wie auch Versorgungsforschung„einen hohen Stellenwert haben“ – so die Bundesregie-rung in ihrer Antwort.Auch die Tatsache, daß es immer mehr Selbsthilfe-gruppen für Angehörige von Alzheimerkranken gibt unddaß inzwischen verschiedene Institutionen und Verbän-de speziell für Demenzkranke und für ihre Angehörigenda sind, ist sehr erfreulich.Entscheidend für die Qualität von Pflege und Be-treuung ist, daß Pflegende kompetent sind für ihre Ar-beit mit Menschen. Qualifikation ist nötig für Qualität.Deshalb werbe ich, wie vor sechs Wochen bei der De-batte zur Altenpflegeausbildung, für eine bundeseinheit-liche Altenpflegeausbildung auf hohem Niveau und fürgute Rahmenbedingungen bei dieser anspruchsvollenund oft schwierigen Arbeit.
Frau Kollegin Lör-
cher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordne-
ten Reinhardt?
Bitte.
Frau Kollegin Lör-
cher, ich stimme Ihnen zu, daß das Thema Demenzer-
krankung eine wesentliche Rolle spielt und daß es hierzu
im Bereich der Pflege dringend einer Verbesserung be-
darf. Sind Sie bereit, in der Regierungskoalition dafür
Sorge zu tragen, daß es auf diesem Gebiet eine Verbes-
serung gibt?
Danke für diese Frage, FrauKollegin Reinhardt. Das Problem von Demenzerkran-kungen ist nicht erst heute aufgetaucht, sondern diesesgab es schon während Ihrer Regierungszeit.
Christa Lörcher
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Sie wissen sehr wohl, daß wir in der Koalition der Mei-nung sind, daß geprüft werden muß, woher das Geld fürVerbesserungen der Leistungen in der Pflegeversiche-rung kommen kann. Ich bin ganz sicher, daß wir bei denVerbesserungen Schritt für Schritt so weitermachenwerden, wie wir angefangen haben.
Gestatten Sie eine
weitere Zwischenfrage?
Bitte.
Frau Kollegin Lör-
cher, Sie haben natürlich meine Frage nicht beantwortet.
Ich wollte konkret wissen, ob Sie bereit sind, für eine
Verbesserung im Bereich der Demenzerkrankung ein-
zutreten.
Ich habe Ihnen gesagt, das
wird geprüft. Selbstverständlich sind wir bereit, Verbes-
serungen vorzunehmen, wenn wir die Mittel dafür haben
und uns das möglich ist.
Ein vielfach tabuisiertes Thema, das auch in der Gro-
ßen Anfrage angesprochen worden ist, ist die Gewalt
gegen ältere Menschen. Alles zu erforschen, was diese
Frage beinhaltet, und Maßnahmen zur Prävention und
Intervention zu ergreifen ist im Hinblick auf Menschen in
jedem Alter außerordentlich wichtig, allen voran aber für
diejenigen, die unseren besonderen Schutz und unsere
Hilfe brauchen, weil sie sich selber nicht wehren können.
Ich verstehe allerdings nicht, warum Sie von der heutigen
Opposition unseren damaligen Antrag „Gewalt gegen
Ältere – Prävention und Intervention“ aus dem Jahr 1996
seinerzeit abgelehnt haben. Wir wären sehr viel weiter,
wenn wir mit dieser Arbeit früher begonnen hätten.
Wichtig ist – das möchte ich als letzten Punkt auf-
greifen – die Situation der älteren Migrantinnen und
Migranten. Sie haben „Ausländerinnen und Ausländer“
geschrieben; aber ich möchte ausdrücklich auch die
Aussiedlerinnen und Aussiedler nennen. Sie sind die
zahlenmäßig am stärksten wachsende Gruppe in unserer
Bevölkerung.
Ich freue mich über Ihre Fragen dazu, zum Beispiel
über etwaige Integrationshemmnisse und besondere In-
tegrationsmaßnahmen. Es fehlt mir allerdings der Glau-
be an die Ernsthaftigkeit dieser Fragen, nachdem wir uns
im Rahmen der Enquete-Kommission – Sie wissen das,
Frau Reinhardt – in der Arbeitsgruppe Migration/Inte-
gration rund drei Jahre lang mit diesen Fragen beschäf-
tigt haben, insbesondere mit der Situation von Kindern,
Familien und Älteren, siehe Kapitel VII des zweiten
Zwischenberichtes.
Der Glaube fehlt mir vor allem auch deshalb, weil
während dieser Arbeit der eine Teil Ihrer Fraktion bei
den Sitzungen praktisch nicht vertreten war und der an-
dere Teil Ihrer Fraktion – der den schönen Namen
„christlich-sozial“ trägt –, der vertreten war, sich vor
allen Dingen durch vielfältige Bedenken und möglichst
hohe Hürden auf dem Weg zur Integration hervorgetan
hat. Sie müssen es mir nachsehen, daß ich das hier er-
wähne. Ich fand unsere Arbeit sehr wichtig. Die F.D.P.
hat konstruktiv mitgearbeitet. Aber aus Ihrer Fraktion
kam wenig, und wenn etwas kam, waren es Schwierig-
keiten auf dem Weg zur Integration.
Ich schließe mit einer ganz kurzen Begebenheit. Herr
K. in der Gerontopsychiatrie, den ich oft und gerne zitie-
re, schreit, schlägt um sich und spuckt. Irgendwann sitze
ich neben ihm und frage, warum er so schreit. Seine
Antwort, knapp und deutlich: Damit ich weiß, daß ich
noch am Leben bin.
Sie sehen den Handlungsbedarf.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe dieAussprache.Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit für eine Reihe vonTagesordnungspunkten ohne Aussprache, bei denen wirabzustimmen haben.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 bsowie Zusatzpunkt 2 auf:14. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung und Ergänzung vermögensrechtlicher
– Drucksache 14/1932 –Überweisungsvorschlag:
Gebhardt, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang Gehrcke-Reymann, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes über den Tag des Gedenkens an die Be-freiung vom Nationalsozialismus– Drucksache 14/1002 –Überweisungsvorschlag:
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6180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Ich frage deshalb bei diesem Tagesordnungspunktnoch einmal
– ich muß doch feststellen, wie die einzelnen Fraktionenhier abgestimmt haben –: Wer stimmt dem Gesetzent-wurf zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Eswäre doch schade, wenn wir durch die Nichtwiederho-lung dieser Abstimmung die Einstimmigkeit des Hausesverhindert hätten.
Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 15 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Meliorationsanlagengeset-zes
– Drucksache 14/1832 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
– Drucksache 14/2045 –Berichterstattung:
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmendes Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweitenBeratung angenommen.Tagesordnungspunkt 15 c:Zweite und Dritte Beratung des von den Fraktio-nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieVerarbeitung und Nutzung der zur Durchfüh-rung der Verordnung Nr. 820/97 des Ra-tes erhobenen Daten und zur Änderung des
Nr. 820/97 – Durchführungsgesetz)
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der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. De-zember 1997 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Belarus überden Luftverkehr– Drucksache 14/1026 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 14/1964 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert Königshofen g) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom23. April 1998 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regie-rung der Tschechischen Republik über denLuftverkehr– Drucksache 14/1025 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 14/1965 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert Königshofen h) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29.Mai 1998 zwischen der Regierung der Bun-Vizepräsident Rudolf Seiters
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desrepublik Deutschland und der Regierungder Mongolei über den Fluglinienverkehr– Drucksache 14/1024 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 14/1966 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert Königshofen i) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom10. März 1998 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Südafrika überden Luftverkehr– Drucksache 14/1023 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 14/1967 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert Königshofen j) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Protokoll vom 12. No-vember 1997 zur Ergänzung des Abkommensvom 2. November 1987 zwischen der Bundes-republik Deutschland und Neuseeland überden Luftverkehr– Drucksache 14/1022 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 14/1968 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert Königshofen k) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Protokoll vom 15. Juni1998 zur Ergänzung des Luftverkehrsab-kommens vom 2. März 1994 zwischen derBundesrepublik Deutschland und den Verei-nigten Arabischen Emiraten– Drucksache 14/1021 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 14/1969 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert Königshofen l) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Mai1998 zwischen der Regierung der Bundesre-publik Deutschland und der Regierung derRepublik Armenien über den Luftverkehr– Drucksache 14/1020 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/1970 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert KönigshofenDer Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-sen empfiehlt auf den Drucksachen 14/1964 bis14/1970, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen.Kann ich davon ausgehen, daß wir über die Gesetzent-würfe gemeinsam abstimmen können? – Das ist der Fall.Dann verfahren wir so.Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Die Gesetzentwürfe sind ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 15 m:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu den Änderungen vom24. April 1998 des Übereinkommens vom3. September 1976 über die Internationale Or-ganisation für mobile Satellitenkommunika-tion
– Drucksache 14/1089 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/1974 –Berichterstattung:Abgeordneter Christian Müller
Der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/1974, den Gesetzentwurf un-verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung derFraktion der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 15 n:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Dezem-ber 1995 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Armenien überVizepräsident Rudolf Seiters
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die Förderung und den gegenseitigen Schutzvon Kapitalanlagen– Drucksache 14/1008 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/1975 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf HempelmannDer Ausschuß für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/1975, den Gesetzentwurf un-verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDSangenommen.Tagesordnungspunkt 15 o:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 24. November 1997 zurGründung einer Assoziation zwischen den Eu-ropäischen Gemeinschaften und ihren Mit-gliedstaaten einerseits und dem Haschemiti-schen Königreich Jordanien andererseits– Drucksache 14/1006 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/1976 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf HempelmannDer Ausschuß für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/1976, den Gesetzentwurf un-verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 15 p:Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierung:Aufhebbare Sechsundneunzigste Verordnungzur Änderung der Ausfuhrliste – Anlage ALzur Außenwirtschaftsverordnung –– Drucksachen 14/1414, 14/1616 Nr. 2.1, 14/2034 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf HempelmannDer Ausschuß empfiehlt, die Aufhebung der Verord-nung der Bundesregierung auf Drucksache 14/1414nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlußemp-fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 15 q:Beratung des Berichts des Ausschusses fürWahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
zu den Verfahren nach §44b Ab-
geordnetengesetz Überprüfung auf Tä-tigkeit oder politische Verantwortung für dasMinisterium für Staatssicherheit/Amt für Na-tionale Sicherheit der ehemaligen DeutschenDemokratischen Republik– Drucksache 14/1900 –Der Bericht liegt Ihnen auf Drucksache 14/1900 vor.Sie haben davon Kenntnis genommen.Tagesordnungspunkte 15 r und 15 s: r) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 92 zu Petitionen– Drucksache 14/1980 – s) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 93 zu Petitionen– Drucksache 14/1981 –Wir kommen zunächst zur Sammelübersicht 92 aufDrucksache 14/1980. Wer stimmt dafür? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 92 istmit den Stimmen des Hauses bei Ablehnung durch diePDS angenommen.Wir kommen zur Sammelübersicht 93 auf Drucksa-che 14/1981. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 93 ist mit denStimmen des Hauses bei Ablehnung durch die PDS an-genommen.Wir kommen zum Zusatzpunkt 3:Zweite und Dritte Beratung des von den Fraktio-nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes zur Entlastung des Bundes-finanzhofs– Drucksache 14/1666 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/2038 –Berichterstattung:Abgeordnete Alfred HartenbachDr. Susanne TiemannRainer FunkeVizepräsident Rudolf Seiters
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6184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2038, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 5 auf:– Zweite und dritte Beratung des Entwurfseines Gesetzes zur Fortführung der ökolo-gischen Steuerreform– Drucksachen 14/1524, 14/1668 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Ab-geordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hilde-brecht Braun , Ernst Burgbacher,weiteren Abgeordneten und der Fraktion derF.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über eine ökologisch wirklich wirksameUmstellung der Besteuerung ohne Mehr-belastung für Bürger und Wirtschaft– Drucksache 14/399 –
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/2027 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard SchultzHeinz-Georg SeifertKlaus Wolfgang Müller
Carl-Ludwig ThieleDr. Barbara Höll b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/2049 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Uwe-Jens RösselEs liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion derCDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. sowie zwei Ent-schließungsanträge der Fraktion der PDS vor. Über diebeiden Änderungsanträge und den Gesetzentwurf zurFortführung der ökologischen Steuerreform werden wirnachher namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne dieAussprache und gebe als erstem Redner dem KollegenReinhard Schultz für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Die ökologische Steu-erreform ist ein weiterer wichtiger Baustein des Zu-kunftsprogramms 2000. Neben dem Steuerentlastungs-gesetz mit einer Entlastungswirkung in Höhe von20 Milliarden DM im Jahr 2002, neben dem Familien-förderungsgesetz mit einer Entlastungswirkung in bei-den Stufen in Höhe von voraussichtlich 10 MilliardenDM und neben der Unternehmensteuerreform mit einerEntlastungswirkung in Höhe von voraussichtlich minde-stens weiteren 10 Milliarden DM
wird die ökologische Steuerreform im Jahre 2003 eineEntlastungswirkung in bezug auf die Kosten der Arbeitin Höhe von 34 Milliarden DM entfalten.
Nehmen wir die erste Stufe der ökologischen Steuer-reform und die heute zu verabschiedende zweite bisfünfte Stufe zusammen, dann entlasten wir die Wirt-schaft und die Arbeitnehmer allein durch diese Maß-nahme in fünf Jahren um insgesamt 115 Milliarden DM.
Genau dieser Betrag kommt ungeschmälert den Kassender Rentenversicherungsträger zugute. Die Bundesregie-rung wird bis zum Jahre 2003 die Rentenversiche-rungsbeiträge auf deutlich unter 19 Prozent senken.Das hat das Arbeitsministerium bereits mitgeteilt. Damitwird auch bei den aktiven Versicherten, besonders beider jungen Generation, das Verständnis für die Frage derZumutbarkeit von Beitragsbelastungen und die Notwen-digkeit der gesetzlichen Sozialrente gestärkt. Die ökolo-gische Steuerreform ist damit ein ganz wichtiger Bau-stein für die Reform der Alterssicherungssysteme unddie Erneuerung des Generationenvertrags insgesamt.
Behutsam und in kleinen Schritten programmiert dieökologische Steuerreform eine Erhöhung der Preise fürKraftstoffe und Strom vor und gibt damit Verbrauchernund Herstellern Gelegenheit, sich auf Energiespartech-niken umzustellen. Dies gilt für Investitionsgüter ebensowie für Haushaltsgeräte, Heizungssysteme oder Kraft-fahrzeuge. Wir sind davon überzeugt, daß selbst diesekleinen Schritte ihre Lenkungswirkung mittelfristignicht verfehlen werden.
Dabei trifft das zweite Gesetz zur ökologischen Steu-erreform auf eine energiepolitische Landschaft, die vomVerfall der Strompreise und vom Anstieg der Mineralöl-Vizepräsident Rudolf Seiters
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preise gekennzeichnet ist. Die brutale Liberalisierungdes Strommarktes in Deutschland findet in keinem an-deren Land der EU eine Entsprechung. Das hat uns dieRegierung Kohl/Rexrodt leichtfertig eingebrockt.
Dumpingpreise auf dem Strommarkt werden dazuführen, daß weder die Erneuerungsinvestitionen für dendeutschen Kraftwerkspark erwirtschaftet werden könnennoch Energiesparen sich wirklich lohnen wird.
Dumpingpreise bei der Stromversorgung fördern nichtsaußer eine große „Deinvestitionswelle“ und den Ver-zicht auf die eigene Wertschöpfung in der Stromerzeu-gung im eigenen Land sowie den Zusammenbruch desdaran hängenden Anlagenbaus.
Herr Kollege
Schultz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Schauerte?
Selbstver-
ständlich.
Herr Kollege, Sie
haben gerade sehr eindrucksvoll geschildert, wie sehr
Sie die durch die Erhöhung der Mineralölsteuer in Höhe
von 6 Pfennig pro Liter eingetretene Lenkungswirkung
begrüßen und daß dies das wesentliche Ziel Ihrer Ope-
ration sei.
Eines von
zwei Zielen.
Begrüßen Sie
deswegen auch die Preiserhöhung durch die OPEC, die
mittlerweile zu Mehrkosten in Höhe von 25 Pfennig pro
Liter geführt hat? Ist auch das in Ihrem Sinne? Wird da-
durch die Lenkungswirkung erhöht und verbessert?
HerrSchauerte, ich wäre zwar gleich sowieso darauf zu spre-chen gekommen, aber ich gehe gern schon jetzt daraufein. Die maßvolle Erhöhung der Mineralölsteuer aufKraftstoffe um sechs Pfennig pro Liter bewegt sich inder Bandbreite der bisherigen Schwankungen derOPEC-Einstandspreise und liegt deutlich unter den Mi-neralölsteuererhöhungen, die Ihre frühere Regierung imabgelaufenen Jahrzehnt den Kraftfahrern aufgegebenhat, allerdings nur um Kasse zu machen und ohne irgendetwas davon an irgendwen zurückzugeben.
Insofern sage ich Ihnen, Herr Kollege Schauerte: Wirsind deswegen so behutsam und machen so kleineSchritte, damit wir das Marktgeschehen bei den Mine-ralölkonzernen miteinbeziehen können und nicht durcheine doppelte, zu starke Verteuerung einen Schock aus-lösen, der zur Nichtakzeptanz der gesamten Maßnahmeführen würde.
Die Dumpingpreise in der Energiewirtschaft führenaber auch dazu, daß international vereinbarte Ziele desKlimaschutzes nicht oder nur sehr schwer erreichbarsein werden, weil schlicht und einfach der ökonomischeAnreiz fehlt. Aus den genannten Gründen ist der Ein-griff in die Preissysteme der Energieversorgung poli-tisch zwingend geboten, sowohl durch die ökologischeSteuerreform als auch durch andere Maßnahmen, dieden Stromstandort Deutschland entwickeln helfen undzugleich dem Klimaschutz dienen.Ich habe bereits eben im Rahmen der BeantwortungIhrer Frage, Herr Schauerte, zu erläutern versucht, inwelchen Bandbreiten wir uns bei den Kraftstoffpreisenbewegen, was Sie selbst hier veranstaltet haben und wasdie OPEC in der Vergangenheit getan hat und jetzt tut.Ich glaube, wir sind auf einem vernünftigen Weg.Wir wissen ganz genau – das ist unsere Grundein-stellung –, daß wir trotz unseres großen und politischwichtigen Ziels, Arbeit zu entlasten und Ökologie zufördern, Wirtschaft und Verbraucher nicht überforderndürfen, daß wir sie an den Weg der Mehrbelastung vonEnergieverbrauch bei gleichzeitiger Entlastung der Ar-beit behutsam gewöhnen müssen. Von dieser Einsicht istauch dieses Gesetz deutlich geprägt.
Wir haben bereits in der ersten Stufe der ökologi-schen Steuerreform für das produzierende Gewerbe undfür die Landwirtschaft eine deutlich geringere zusätzli-che Energiesteuerbelastung durchgesetzt als für die an-deren Wirtschaftszweige und für die Verbraucher. Wirhaben die mögliche Mehrbelastung der Wirtschaft ge-deckelt, indem wir nur ein Überschreiten der Mehrbela-stung gegenüber der Entlastung durch die Rentenbei-tragszahlungen um den Faktor 1,2 zugelassen haben.Dieser Mechanismus gilt auch für die nächsten Stufender ökologischen Steuerreform.Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschafts-forschung in Essen hat nachgezeichnet, für welcheBranchen es zu höheren und für welche es zu niedrigenBelastungen gekommen ist. Als Faustregel kann manfesthalten, daß überall dort, wo mehr Mitarbeiter an derWertschöpfung beteiligt sind, eine deutliche Nettoent-lastung durch die niedrigeren Beiträge zur Sozialversi-cherung eintritt. Das ist auch so gewollt.Aber auch für die kapital- und rohstoffintensivenUnternehmen mit geringerer Wertschöpfungstiefe ist dieMehrbelastung begrenzt. Damit wird erreicht, daß estrotz des harten internationalen Wettbewerbs nicht zuStandortverlagerungen für energieintensive Unterneh-men kommt.Reinhard Schultz
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Anfang dieser Woche hat Gro Harlem Brundtland,die frühere norwegische Ministerpräsidentin und politi-sche Patin des weltweiten Agenda-21-Prozesses,Deutschland aufgefordert, etwas mutigere Schritte beiden Green taxes zu gehen. Sie hat darauf hingewiesen,daß Norwegen als Energieexportland dies getan hat undim Grunde genommen das eigene Produkt verteuert hatund trotzdem dabei gut gefahren ist. Ich glaube, sie hatrecht. Wenn wir unsere vorsichtige Politik der planba-ren, überschaubaren und schrittweisen Erhöhung in dieZukunft fortschreiben, werden wir die positiven ökolo-gischen und wirtschaftlichen Effekte vielleicht eher alsheute verzeichnen können, wo wir ganz am Anfang ei-ner Entwicklung stehen.In diesen Zusammenhang gehört die Frage, warumwir für die Wirtschaft so viele Ausnahmetatbeständezulassen. Die Antwort ist einfach: Wir wollen durch denEinstieg in diese Reform keine Standorte gefährden,sondern wollen der Wirtschaft die Anpassung an dieneue politische Faktorbewertung zu Lasten des Energie-verbrauchs und zugunsten der Arbeit erleichtern.
Dieser Anpassungsprozeß darf natürlich nicht ewigdauern. Die EU-Kommission hat die Ausnahmegeneh-migungen des ersten Gesetzes zur ökologischen Steuer-reform bis zum 30. März 2002 befristet.
Wir haben die Frist in das zweite Gesetz aufgenommen,um Klarheit auch nach außen zu schaffen. Wir habenauch für die neuen Beihilfetatbestände, die sogenanntenAusnahmen, nur eine Genehmigung bis zu diesem Zeit-punkt beantragt. Wir werden rechtzeitig, bereits imkommenden Jahr, über Nachfolgeregelungen auch mitden betroffenen Wirtschaftszweigen sprechen und diesedeutlich zielgenauer ausgestalten. Denn wir wollen kei-ne Dauersubventionierung, sondern wir wollen einenAnpassungsprozeß initiieren, der dann im Normalfallabgeschlossen sein müßte.Übrig bleiben Unternehmen mit großem Verbrauchan Prozeßenergie – bei diesen Unternehmen machen dieEnergiekosten die Standortbedingungen aus –, die auchohne Ökosteuerreform naturgemäß bestrebt sind, ihrenVerbrauch zu senken und damit ihre Energierechnungniedrig zu halten. Auf diese Unternehmen – abgesehenvom Verkehr und anderen Bereichen – werden wir unszu konzentrieren haben.
Die Bundesregierung hat gewaltige Anstrengungenunternommen, um in der EU einen Konsens über dieHarmonisierung der Energiebesteuerung durchzusetzen.
Sie hatte damit auch Erfolg, mit einer Ausnahme, näm-lich der Spaniens. Die Bundesregierung hatte diese Fra-ge zu einem der wesentlichen Punkte ihrer Präsident-schaft gemacht und ist wegen des Einstimmigkeitsprin-zips am Widerstand eines Landes, nämlich Spaniens, ge-scheitert. Trotzdem kann aber von einem Erfolg gespro-chen werden; denn es ist gelungen, alle anderen Staatengrundsätzlich mit ins Boot zu nehmen. Wenn man sicheinmal anschaut, wie sich das in den einzelnen Ländernder EU und bei unseren Nachbarn entwickelt, dann wirdman feststellen: Wir sind längst nicht mehr allein. Dieskandinavischen Länder, die Niederlande, Großbritanni-en und Italien haben ähnliche Wege beschritten, nichtzuletzt auch die Schweiz. Frankreich will einen ähnli-chen Weg beschreiten. Das heißt, die ökologische Ener-giebesteuerung ist eine Art Selbstläufer. Die europäischeWirklichkeit wird in dieser Hinsicht neu geprägt. Manist also nicht allein darauf angewiesen, einen einstimmi-gen Ministerratsbeschluß herbeizuführen.Ein besonderes Problem stellt das Strompreisniveauin Ostdeutschland dar. Verschiedentlich ist gefordertworden, Ostdeutschland von der Stromsteuererhöhungauszunehmen. Ich hatte Gelegenheit, vor diesem Hausebereits darzulegen, daß dies eine zusätzliche Beihilfewäre, der die EU nicht zustimmen würde.
Ich hatte aber damals in Aussicht gestellt, daß die be-sonderen Mehraufwendungen, die auf Grund des neuenKraftwerksparks mit seinen hohen Abschreibungen inOstdeutschland zu leisten sind, auf die Schultern mög-lichst aller Stromkunden in Deutschland verteilt werdensollen. Das wäre sozusagen eine strukturpolitische Hilfe.Ich danke Bundeswirtschaftsminister Werner Müllerausdrücklich dafür, daß er inzwischen im Konsens mitder VEAG und den großen Eigentümergesellschafteneinen solchen Weg gefunden hat. Er hat eine unterneh-merische Lösung für eine solche Verteilung hinbekom-men. Das wird gleichzeitig dazu führen, daß sich dasStrompreisniveau in Ostdeutschland nicht allzu weit vonden übrigen Regionen entfernen wird.
Damit wird sich auch der preisliche Effekt der zusätzli-chen Stromsteuer zugunsten Ostdeutschlands neutrali-sieren.
Die Regierungskoalition hat innerhalb des Reform-werks deutliche Strukturakzente für mehr Ökologie ge-setzt. Wir haben die Kraft-Wärme-Kopplung mit ho-hen Wirkungsgraden von der Erdgassteuer ausgenom-men. Wir haben in dieser Stufe kleineren, kommunalenAnlagen, deren Geschäft im Wärmemarkt von der kaltenJahreszeit abhängig ist, die Möglichkeit gegeben, mo-natlich abzurechnen. Damit stärken wir die Stadtwerke.Wir haben in der neuen Stufe die Größenordnung beiden Blockheizkraftwerken, die von der Strom- und Erd-gassteuer ausgenommen sind, auf 2 Megawatt heraufge-setzt; wir fördern damit die dezentrale Energieversor-gung. Das wird eine Investitionswelle auslösen; da binich mir ganz sicher.Reinhard Schultz
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Mehr Kopfzerbrechen bereiten Überlegungen, Kraft-werke, die ausschließlich der Stromerzeugung dienen,generell von der Erdgassteuer auszunehmen. Das hatman ja auch in der Öffentlichkeit mitbekommen. Dasgilt erst dann, wenn der dort erzeugte Strom für dieGrundlast bestimmt ist. Die SPD lehnt eine Energiepoli-tik ab, die einseitig – dazu noch mit steuerlicher Förde-rung – auf lange Sicht einen Verdrängungswettbewerbzugunsten von Gas im Strommarkt und zu Lasten dereinheimischen Träger in Gang setzen will.
Wenn wir, wie manche argumentieren, aus der Atom-energie schrittweise aussteigen, brauchen wir aus unse-rer Sicht dafür technisch zwingend keinen Ersatz; dennbei dem Konzentrationsprozeß in der Energieversor-gungswirtschaft wird die Bedeutung der Reservehaltung,die die 40 000 Megawatt Überschuß ausmachen, deut-lich abnehmen.Wir wollen keinen Ersatz für Braun- und Steinkohleauf anderer fossiler Grundlage über ein Maß hinaus, dasein vernünftiger Energiemix politisch erfordert. Werglaubt, daß ein nennenswerter Anteil der deutschenStromversorgung billig mit Gas zu erreichen sei, täuschtsich. Wenn die Nachfrage auf Grund des großen Bedarfsim Stromsektor anzieht, wären die Lieferanten, wieGazprom oder Norwegen, geradezu mit dem Klammer-beutel gepudert, wenn sie nicht die Preise massiv er-höhten. Da ist nichts mit billiger Stromversorgung!
Aber auf dem Weg dahin gäbe es tiefe Einbrüche in denStrukturen unserer Bergbaureviere und einen Verzichtauf zugesagte Kraftwerksinvestitionen, zum Beispiel imRheinland allein 20 Milliarden DM.Deswegen sagt die SPD: Gas hat seine Bedeutung inVerbindung mit Kraft-Wärme-Kopplung; da ist Gas un-schlagbar. Darüber hinaus wollen wir High-Tech-Gaskraftwerken mit besonders hohem Wirkungsgrad austechnologiepolitischen Gründen eine Chance geben, dieEntwicklungskosten überhaupt einzufahren, und das ineinem zeitlich ganz schmalen Fenster, mehr nicht. Da-nach überlassen wir sie dem Markt.
Dauersubventionen wird es weder für das einzelneKraftwerk noch vom Grundsatz her mit uns geben. Dar-auf hat sich die Koalition letztendlich geeinigt.Neue GuD-Kraftwerke mit einem elektrischen Wir-kungsgrad von über 57,5 Prozent netto werden für zehnJahre ab Inbetriebnahme von der Mineralölsteuer aufErdgas befreit. Dies ist ein anspruchsvoller Wert, der inDeutschland und in Europa bisher nicht erreicht wurde.
Damit sind Mitnahmeeffekte auszuschließen, und eswird sichergestellt, daß die Leistungsfähigkeit des ge-förderten Kraftwerks objektiv und sachgerecht nachge-wiesen werden muß, bevor es zu einer Steuergutschriftkommt.
Natürlich würden sich die Kohlereviere wünschen,daß wir auf diesem Gebiet gar nichts machen. Aber dererreichte Wert schließt massenhafte und subventionierteKonkurrenz durch Gas gegen Braunkohleverstromungdefinitiv aus.
Ich gehe davon aus, daß es in den nächsten zwei Jah-ren ein oder zwei High-Tech-Kraftwerke geben wird,eins davon hoffentlich in Ludmin, im strukturgebeutel-ten Vorpommern. Das wird aber auch alles sein. Das ge-fährdet unsere Strukturen letztendlich nicht.
Sehr geehrte Damen und Herren, die ökologischeSteuerreform setzt einen wichtigen sozialen Akzent. Sieschafft Raum für ökologische Entwicklungen, und sie iststruktur- und regionalpolitisch ausgewogen. Deswegenwünschen wir sie uns und stimmen ihr zu.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nunmehr der Kollege Heinz Seiffert.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren ! Rotgrün präsentiertuns heute mit der Fortführung der Ökosteuerreform einweiteres Stück aus dem Steuertollhaus.
Sie setzen damit konsequent den Weg ins Steuerchaosfort. Dabei lassen Sie sich weder von der Vernunft nochvom Sachverstand aufhalten.Dieses Steuergesetz ist handwerklich schlampig. Esist verheerend, kompliziert und teilweise kaum anwend-bar. Es muß, wenn Sie es heute mit Ihrer Mehrheit be-schließen, alsbald wieder nachgebessert werden, weilzumindest einer der zahlreichen Umdrucke vom Aus-schuß fehlerhaft beschlossen wurde. Sie selbst hattenzwischenzeitlich den Überblick verloren; das werfe ichIhnen nicht einmal vor.Die renommierten Verfassungsrechtler ProfessorSchön und Professor Herdegen haben in einem Gutach-ten ganz erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßig-keit der ökologischen Steuerreform angemeldet. Sie sa-gen, diese Steuererhöhung verstoße gegen Grundsätzedes Finanzverfassungsrechts, gegen allgemeine Verfas-sungsprinzipien der Steuergerechtigkeit und sie verletzeReinhard Schultz
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6188 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Unternehmen in ihren Grundrechten auf Gleichheit undBerufsfreiheit.Meine Damen und Herren, noch beim Einstieg in dieÖkosteuer wurde von Ihnen beteuert, daß alle weiterenSchritte bei der Energiebesteuerung nur im europäi-schen Verbund gemacht würden. Nun setzen Sie IhreGeisterfahrt fort, obwohl der Herr Bundeskanzler getönthat, die Zeit der nationalen Alleingänge sei vorbei. Bisheute fehlt auch die Genehmigung der EU-Kommissionzu den Ausnahme- und Steuersubventionstatbeständen,die Sie mit diesem Gesetz neu schaffen. Insofern stehtIhr bürokratisches Meisterwerk unter Vorbehalt, auf tö-nernen Füßen.Schlimmer noch als die Verfahrensmängel ist jedoch,daß diese Ökosteuer inhaltlich nichts weiter als eineGeldbeschaffungsmaßnahme ist – ein Abkassiermodell,
das weder sozial gerecht noch wirtschaftlich ausgewo-gen noch ökologisch wirksam ist.
Während der vielstündigen Beratungen im Ausschuß istnicht einmal, auch nicht nur am Rande, das Thema derökologischen Lenkungseffekte, die diese Reform ja ha-ben soll, angesprochen worden.
Es geht Ihnen, gerade auch den Grünen, Herr Schlauch,ausschließlich ums Geld. Was Sie mit den 52,3 Milliar-den DM, die Sie bis 2003 durch diese Ökosteuer ein-nehmen, machen, wird täglich nebulöser.Meine Damen und Herren, die Ökosteuer bringt eineunverantwortliche Nettobelastung für viele Wirtschafts-bereiche. So zahlt allein der gewerbliche Güterkraft-verkehr pro Erhöhungsstufe netto mehr als 1,2 Milliar-den DM drauf. Die Brummis sind zehnmal mehr bela-stet, als sie durch die Beitragssubvention entlastet wer-den. Auch der Handel legt netto mehr als 1 MilliardeDM pro Erhöhungsstufe drauf. Das kostet direkt Ar-beitsplätze.
Noch heute morgen hat der Herr Bundeskanzler gro-ße Worte für den Aufbau Ost gefunden, der ja schließ-lich Chefsache ist.
Aber wer ist besonders von dieser Steuer betroffen? DieMenschen und die vielen Betriebe in den neuen Bun-desländern. Dort ist die wirtschaftliche Lage nochschwieriger, und die Strompreise sind bei niedrigeremLohnniveau noch höher als in Westdeutschland. Wennman bedenkt, daß die Industriepreise für Strom in denöstlichen Nachbarländern bis zu 40 Prozent billiger sindals in den neuen Ländern, dann wird doch noch deutli-cher, welchen Bärendienst Sie den neuen Bundesländernmit dieser Ökosteuer erweisen.
Und diese Reform ist zutiefst unsozial. Sie trifft nun –nach den Erhöhungsstufen noch verstärkt – all die Men-schen, die von der Stabilisierung bzw. der Senkung derRentenbeiträge nicht profitieren, zum Beispiel die Rent-ner, die Sie ohnehin schon um die verdiente Beteiligungam wirtschaftlichen Zuwachs bringen wollen, oder Stu-denten, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger. Die alle tref-fen Sie verschärft. Das nehmen Sie als Sozialdemokra-ten in Kauf. Ich denke auch an die Selbständigen, an diekleinen und mittleren Beamten und an die Soldaten. Siealle zahlen nur und profitieren nicht vom Nutzen desSteuertransfers in die Sozialkasse.
Sie machen eine Politik gegen den Autofahrer undgegen den ÖPNV zugleich. Im ländlichen Bereich sinddie Pendler eben auf das Auto zwingend angewiesen.Mobilität ist heute auf dem Arbeitsmarkt zwingendeVoraussetzung.
Diese Leute bestrafen Sie mit Steuererhöhungen. Siekassieren beim Autofahrer ab und fahren im Gegenzugdie Investitionen beim Bundesstraßenbau auf Null. InBaden-Württemberg wird bis zum Jahr 2003 – auchwenn dann der Spritpreis deutlich über 2 DM liegt –kein einziges neues Bundesfernstraßenprojekt begonnen.Wie wollen Sie dies den Autofahrern und den Men-schen, die dringend auf eine Umgehungsstraße warten,erklären?
Herr Kollege Seif-
fert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heinrich?
Gerne, Herr Heinrich.
Herr Kollege Seiffert, Sie
haben gerade eindrucksvoll eine ganze Liste von zusätz-
lichen einseitigen Belastungen aufgezählt. Können Sie
dem Hohen Hause vielleicht auch mitteilen, wie sich die
zusätzliche Belastung für die deutsche Landwirtschaft
darstellt? Diese Zahlen vermisse ich noch.
Die Landwirtschaftwird mit etwa 800 Millionen DM belastet. Ich halte diesgerade gegenüber einem Berufsstand, der um das Über-leben kämpft, für völlig unverantwortlich.
Mehr als 25 Millionen Menschen nutzen täglich denÖPNV. Es werden riesige finanzielle Anstrengungenunternommen, um ein attraktives, flächendeckendesHeinz Seiffert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6189
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ÖPNV-Netz anzubieten. Wie paßt denn da Ihre Mine-ralöl- und Stromsteuererhöhung?In der öffentlichen Anhörung zu dem vorliegendenGesetz hat der Vertreter des Verbandes deutscher Ver-kehrsunternehmen wörtlich erklärt:Wenn es so weitergeht wie bisher, dann wäre dierot-grüne Koalition ein Totengräber des ÖPNV.
Ihre bürokratischen Nachbesserungen, die Sie inletzter Minute eingebracht haben, ändern an diesem ver-heerenden Urteil nicht viel. Sie belasten die Omnibus-unternehmer mit einem völlig unzumutbaren Verwal-tungsaufwand. Ich nenne ein Beispiel: Sie befreien teil-weise von der Ökosteuer – lassen Sie mich dies nochausführen –: „… Kraftomnibusse, die im genehmigtenLinienverkehr verwendet werden, wenn in der Mehrzahlder Beförderungsfälle die gesamte Reiseweite 50 Kilo-meter oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nichtübersteigt“. Wer soll denn dies kontrollieren? Warumhaben Sie nicht noch ein Mindest- oder Höchstalter derzu Befördernden in das Gesetz geschrieben? Das, wasSie machen, ist doch bürokratischer Wahnsinn.
Herr Kollege Sei-
fert, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen
Schultz?
Ja.
Lieber
Herr Kollege Seiffert, sind Sie erstens bereit, mir zuzu-
stimmen, daß der von Ihnen genannte Maßstab für den
Nahverkehr dem Personenbeförderungsgesetz, das seit
zig Jahren gilt, entnommen worden ist, damit es eine
klare Rechtsgrundlage gibt? Sind Sie zweitens bereit,
mir zuzustimmen, daß die Anregungen des Verbandes
deutscher Verkehrsunternehmen von uns aufgenommen
worden sind – dies ist ein Ergebnis der Anhörung – und
daß dieser Verband der Koalition ein Dankschreiben ge-
schickt hat, weil endlich die Preisrelationen zwischen
privatem Verkehr und öffentlichem Personennahverkehr
– trotz Erhöhung der Steuerlast durch die Ökosteuer –
verbessert worden sind?
Nein, Herr Kollege
Schultz, der Maßstab, den Sie in das Gesetz neu hinein-
geschrieben haben, wird seit Jahren nicht mehr ange-
wandt, weil er nicht praktikabel und nicht kontrollierbar
ist.
Laut Dankschreiben, das heute über den Ticker ver-
bessert worden ist, ist der Verband zwar dankbar dafür,
daß die Belastungen zumindest etwas verringert worden
sind. Aber im gleichen Atemzug wird der Wille bekun-
det, an den Herrn Bundeskanzler zu schreiben, damit er
dafür sorgt, daß der bürokratische Aufwand, den Sie den
Omnibusunternehmern aufbürden wollen, nicht so hoch
wie geplant wird.
Herr Kollege Seif-
fert, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Seif-
fert, können Sie noch einmal deutlich machen, wie die
Koalition zum Totengräber des ÖPNV wird, weil sie
seine Förderung nicht fortsetzt? Wenn die Neuregelung
für den ÖPNV, die Herr Schultz gefordert hat, in Kraft
tritt, dann würde auf Grund des bürokratischen Auf-
wands letzten Endes ein neues Berufsbild entstehen,
nämlich das eines Busfahrgastüberprüfungsbeamten.
Herr Kollege Michel-
bach, ich begrüße ausdrücklich, daß die Koalition auf
ihre Fahnen die Verringerung der Arbeitslosigkeit ge-
schrieben hat. Aber es ist der falsche Weg, wenn ausge-
rechnet in der Bürokratie neue Arbeitsplätze geschaffen
werden.
Herr Kollege Seif-
fert, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Eich?
Ich möchte bitten, fort-fahren zu dürfen.Ich möchte noch ein Wort zur Landwirtschaft sagen.Im Landwirtschaftsausschuß hat die rotgrüne Mehrheiteinen Entschließungsantrag eingebracht, in dem festge-stellt wird, daß die Landwirtschaft angemessen zu entla-sten sei, weil sie durch die Ökosteuer überproportionalbelastet werde. Selbst der Landwirtschaftsminister hat –richtigerweise – ein Ungleichgewicht in der Landwirt-schaft festgestellt. Jetzt frage ich: Was machen dieMaulhelden des Landwirtschaftsausschusses jetzt?Stimmen Sie tatsächlich dem vorliegenden Gesetz zu,wohl wissend, daß sie die Landwirtschaft dadurch ka-puttmachen? Unsere Anträge haben Sie jedenfalls ab-gelehnt.Durch die zwischen Rotgrün kurzfristig vereinbarteSteuervergünstigung für Gaskraftwerke wird stark inden bestehenden Energiemix eingegriffen. Gas- undDampfkraftwerke, die nach 1999 errichtet werden, sol-len für 10 Jahre von der Energiesteuer komplett befreitwerden.Das hört sich vordergründig harmlos an und könntefast als Wohltat angesehen werden. Aber mit diesemVorhaben werden Sie die WettbewerbsbedingungenHeinz Seiffert
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6190 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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für die Braunkohle und auch für die Steinkohle beikünftigen Kraftwerksinvestitionen drastisch verschlech-tern.
Wenn die Kohle unter diesen Umständen wettbe-werbsfähig bleiben soll, müßten die Gewinnungskostenum rund ein Viertel reduziert werden. Das ist völligunrealistisch. Wenn Sie dieses Gesetz heute beschlie-ßen, dann ist das der Einstieg in den Ausstieg aus derKohle.
Herr Kollege Seif-
fert, es gibt noch zwei Wünsche nach Zwischenfragen.
Nein, vielen Dank, nicht
mehr.
Das gilt besonders für die neuen, 14 Milliarden DM
teuren Braunkohlekraftwerke der VEAG in den neuen
Bundesländern. Das gilt auch für das Projekt Garz-
weiler II in NRW, wo Sie Investitionen in Höhe von
20 Milliarden DM und Tausende von Arbeitsplätzen
aufs Spiel setzen. Regierung und Parlamentsmehr-
heit werden mit dieser Richtungsentscheidung von der
Kohle zum Gas Wertschöpfung ins Ausland verlagern.
Sie bewirken überdies eine noch stärkere Importabhän-
gigkeit bei der Stromversorgung, zumal Sie ja aus dem
einheimischen Atomstrom auch möglichst rasch ausstei-
gen wollen.
Durch Ihr Vorgehen, dem jede Gesamtkonzeption fehlt,
richten Sie in der Energiepolitik dasselbe Chaos an, das
wir in der Steuerpolitik schon haben.
Die CDU/CSU-Fraktion setzt alles daran, diesen ver-
hängnisvollen Weg, diese falsche Weichenstellung zu
verhindern. Deshalb haben wir einen entsprechenden
Änderungsantrag eingebracht. Jetzt müssen Sie, die
Kolleginnen und Kollegen aus den Braunkohlerevieren
in NRW und Ostdeutschland, Farbe bekennen und Ihre
Solidarität mit den Kumpeln zeigen. Jetzt wird deutlich,
ob Ihnen die Koalitionsdisziplin oder Ihre heimatlichen
Wirtschaftsstrukturen wichtiger sind. Es gibt jetzt kein
Ausweichen für Sie. Was Sie hier tun, müssen Sie zu
Hause verantworten.
Wenn Sie den Todesstoß für die Braunkohle führen hel-
fen, stehen Sie dafür zu Hause gerade.
Meine Damen und Herren, die Ökosteuerreform ist
ein in jeder Hinsicht mißlungenes Gesetz. Dies hat
die öffentliche Anhörung eindrucksvoll gezeigt, und
auch in den Ausschußberatungen ist es keine Spur
besser geworden, im Gegenteil. Ich bin mir ganz sicher:
Dieses Gesetz wird ein Sargnagel für Ihre Koalition
sein, hier im Bundestag und erst recht in NRW. Die
CDU/CSU-Fraktion wird diese Mischung aus Ideologie,
Pfusch und Beutelschneiderei mit aller Entschiedenheit
ablehnen.
Vielen Dank.
Das Wort für Bünd-nis 90/Die Grünen hat nunmehr der Kollege Dr. Rein-hard Loske. – Herr Kollege Loske, ich sichere Ihnen zu,daß die Zeituhr jetzt richtig eingestellt ist.
Wir schließen heute die Beratungen über die ökologi-sche Steuerreform im Bundestag ab.
Damit kommen die Koalitionsfraktionen einem Verspre-chen nach, das sie vor der Wahl gegeben haben.
Es werden steuerliche Anreize zur Energieeinsparunggegeben, und die Lohnnebenkosten sinken. Das ist gutfür die Umwelt, und das ist gut für die Arbeitsplätze.
Damit verlassen wir den verhängnisvollen Pfad derletzten Dekade, der wie folgt aussah: Die Lohnnebenko-sten sind unentwegt gestiegen, und die saftigen Mineral-ölsteuererhöhungen sind in Theo Waigels schwarzenLöchern verschwunden und haben niemandem genutzt.Das ist die Bilanz der letzten Dekade, und mit dieserPolitik gegen Arbeitsplätze machen wir jetzt Schluß.
Mit dem Einstieg in die ökologische Steuerreformsetzen wir etwas in die Tat um, was in diesem HohenHause immer Konsens war: Nur mit dem Einsatz öko-nomischer Instrumente werden wir unsere Klimaschutz-ziele, die wir stets gemeinsam verfolgt haben, erreichenkönnen. Es ist nicht unser Problem, wenn das Erinne-rungsvermögen von CDU/CSU und F.D.P. in dieser An-gelegenheit so schlecht ist.
– Wissen Sie, der Populismus, den Sie hier an den Taglegen, ist wirklich unter aller Kanone. Ich bin es, ehrlichgesagt, leid, immer wieder aus den alten Reden vonHerrn Töpfer, von Herrn Schäuble, von Herrn Repnikund von Frau Merkel zu zitieren, in denen die ökologi-sche Steuerreform in den höchsten Tönen gepriesenwurde. Was haben Sie damals nicht alles gesagt!
Heinz Seiffert
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Daß Sie sich heute aus populistischen Gründen nichtmehr daran erinnern wollen, kann man nachvollziehen.Aber wenn es wahr ist, daß wir auf Kosten zukünftigerGenerationen leben, dann erwarte ich von einer konser-vativen Partei zumindest, daß sie sich mit diesem Themaauseinandersetzt und nicht einer Diktatur des Hier undJetzt das Wort redet.
Daß man in dieser Angelegenheit von der F.D.P.nichts zu erwarten hat, ist klar. Das sieht man schon dar-an, daß heute zu diesem Thema der Kollege Möllemannredet, den ich monatelang nicht gesehen habe und derjetzt plötzlich wieder da ist, um die Umwelt zu retten –oder die deutsche Kohle.
Das wird man gleich hören. Mal schauen, in welcheRichtung diesmal das Fähnchen gehängt wird, ob mehrRichtung Umwelt oder mehr Richtung Kohle. Da wer-den ja manchmal die unmöglichsten Dinge zusammen-geworfen.
Zu dem Gesetz zur ökologischen Steuerreform. Ichglaube, man muß hier zwei Dinge auseinanderhalten.Zunächst einmal: die Lenkungswirkung dieser ökolo-gischen Steuerreform. Wir haben jetzt einen ganz wich-tigen Gedanken systematisch im Gesetz verankert, näm-lich den der Verstetigung. Dies ist also keine Sache, diead hoc läuft, sondern eine Sache, die auf der Zeitachsebis 2003 absehbar ist, in fünf Schritten. Das ist genaudas, was wir immer gefordert haben. Stetigkeit ist wich-tiger als die absolute Höhe. Dem folgen wir jetzt.
Herr Kollege Loske,gestatten Sie eine Zwischenfrage des AbgeordnetenThiele?
zulassen.
Im Gegenzug werden wir die Rentenversicherungs-beiträge bis zum Ende dieses Prozesses um zwei Pro-zentpunkte absenken. Da sieht man wieder den innerenZusammenhang zwischen der Schaffung von Innovati-onsanreizen auf der einen Seite und der Senkung derArbeitskosten auf der anderen Seite.Ich will jetzt zu einigen Einzelregelungen kommen.Denn neben der allgemeinen Lenkungswirkung dieserSteuer gibt es sehr viele Einzelregelungen, die ökolo-gisch höchst relevant sind.Erstens. Wir tun etwas für die Kraft-Wärme-Kopplung. Wir stellen sie nämlich bei hohen Wirkungs-graden von der Inputsteuer frei. Das ist gut und wichtigfür die Stadtwerke.
Zweitens. Wir tun etwas für die Blockheizkraftwerke.Bis 2 Megawatt stellen wir sie sowohl von der Mineral-ölsteuer als auch von der Stromsteuer völlig frei. Das istgut und wichtig für die dezentrale Energieversorgung.
Drittens. Wir tun etwas für die Kraftwerke mit einemhohen Wirkungsgrad. Das ist wichtig, damit wir einenklimaverträglichen Energieträgermix hinbekommen.Viertens. Wir tun etwas für die Reinigung der Kraft-stoffe. Denn die schwefelarmen Kraftstoffe werden ab2001 und die schwefelfreien Kraftstoffe ab 2003 steuer-lich bessergestellt. Bisher ist diese steuerliche Förderungerst ab 2005 vorgeschrieben. Wir führen sie vier Jahreeher ein. Auch das ist gut für die Umwelt.
Fünftens. Wir tun etwas für den öffentlichen Perso-nennahverkehr. Es ist sehr bemerkenswert, was Sie ge-rade gesagt haben. Das ist nämlich blanker Unsinn undbezieht sich auf den ursprünglichen Text. Jetzt habenwir eine Halbierung des Steuersatzes für den gesamtenöffentlichen Personennahverkehr. Damit ändern wir dierelativen Preise zugunsten des öffentlichen Nahverkehrsgegenüber dem Individualverkehr. Auch das ist gut fürdie Umwelt.
Sechstens. Wir haben ein Förderprogramm für erneu-erbare Energien in Höhe von 200 Millionen DM aufge-legt. Das Geld stammt aus dem Aufkommen der Öko-steuer. Wir streben aber danach, daß die erneuerbarenEnergien in Zukunft von der Steuer freigestellt werden,wenn das wettbewerbsrechtlich sichergestellt werdenkann; davon gehen wir aus.
Das alles ist gut für die Umwelt. Das alles ist gut fürden Einsatz moderner Technologien. Das alles hat esunter der alten Regierung nicht gegeben.
Wir sind uns dessen bewußt, daß die ökologischeSteuerreform Teil eines größeren Komplexes ist. Es istnatürlich nicht so, daß, wenn wir die ökologische Steu-erreform umsetzen, umweltpolitisch nichts mehr getanwerden muß. Wir müssen auch andere Dinge tun, umunsere Klimaschutzziele zu erreichen. Auch die ReformDr. Reinhard Loske
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6192 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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des Sozialstaates ist mit der Senkung der Rentenversi-cherungsbeiträge keineswegs erledigt. Nein, wir brau-chen ebenfalls eine leistungsfähige, eine tragfähige, einezukunftsgerichtete Reform der sozialen Sicherungssy-steme. Mit dieser ökologischen Steuerreform sind wirnicht aus dem Schneider.
Zu Europa. Es ist immer wieder der Vorwurf zu hö-ren, wir würden einen nationalen Alleingang machen.Dieser Vorwurf ist Unfug. Erstens gehen schon neunLänder in Europa in diese Richtung. Zweitens haben wirals großes Land eine Vorbildfunktion. Drittens habenwir jüngst Signale bekommen, daß wir auf europäischerEbene einer Einigung bezüglich der Mindestbesteuerungvon Energie ein Stück näher gekommen sind.
Das alles sind Dinge, die Sie nicht geschafft haben undgar nicht gewollt haben.
Ich komme jetzt zu den Gas- und Dampfturbinen-kraftwerken. Ich will noch einmal ganz kurz die Sach-lage darstellen. Heute werden in der StromerzeugungKohle und Kernbrennstäbe nicht besteuert, Erdgas abersehr wohl. Wir haben es hier also mit einer Ungleichbe-handlung zu tun. Die logische Folgerung daraus wäre,daß man entweder auch Kohle und Kernbrennstäbe be-steuert oder die Erdgassteuer abschafft. Das wollen wiraber nicht tun; vielmehr wollen wir Erdgas nur dann vonder Mineralölsteuer bei der Stromerzeugung befreien,wenn es in hocheffizienten Kraftwerken eingesetzt wird.Das ist ein ganz wichtiger Investitionsimpuls für dieEnergiewende.
Ich möchte noch einen anderen Aspekt ansprechen:Diese Technologien werden angewandt, und dieseKraftwerke werden gebaut. Es geht also nicht mehr umdie Frage, ob sie gebaut werden; vielmehr geht es dar-um, wo sie gebaut werden. Vor dem Hintergrund einesliberalisierten Marktes ist es in unserem Interesse, daßsie in unserem Land von unseren Unternehmen – siekönnen das – gebaut werden. Das ist ganz wichtig.
Gerade in Nordrhein-Westfalen sind viele dieser An-lagenbauer beheimatet. Deshalb wäre es eine Paradoxieerster Güte, wenn – auf einem liberalisierten Markt –diese Kraftwerke in Holland, Belgien, Tschechien oderPolen gebaut würden und wenn der Strom dann von dortzu uns importiert würde. Das wäre doch grotesk.
Wir wollen, daß diese Technologien in unserem Landangewandt werden. Wir wollen nicht zum reinenStromimporteur werden.Zur Rolle des Erdgases ist einiges gesagt worden.Klar ist, daß eine Strategie, mit Macht die Erdgasnut-zung auszubauen, unvernünftig wäre. Darum geht es garnicht. Es geht darum, Erdgas da einzusetzen, wo Wir-kungsgrade hoch sind, wo Kraft-Wärme-Kopplung be-trieben wird und wo moderne Energieerzeugungstech-nologien zur Anwendung kommen.Mir ist vollkommen bewußt, daß einige Kollegen ausder SPD mit dieser Regelung Schwierigkeiten haben.Ich persönlich fand die Aufgeregtheit der letzten Tageetwas übertrieben. Klar ist – das weiß jeder, der sichauskennt –: Wenn es um Klimaschutz und um Struktur-wandel geht, dann brauchen wir vor allen Dingen effi-ziente Technologien. In dem Energiemix, den wir in Zu-kunft brauchen werden, wird auch die Kohle eine wich-tige Rolle spielen. Das ist überhaupt keine Frage. Nur,die Volumina sind zu groß. Wenn wir die CO2-Minderungsziele erreichen wollen, dann müssen wir denVerbrauch fossiler Energieträger insgesamt zurückfah-ren. Das ist ganz wichtig.
Dieses Gesetz leistet einen wichtigen Beitrag inRichtung Energieeffizienz und Solarwirtschaft. Ichglaube, es ist ein gutes Gesetz, das seinen Beitrag zumökologischen Strukturwandel in diesem Lande leistenwird.Danke schön.
Für die F.D.P.
spricht der Kollege Jürgen Möllemann.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In die-sem Saal jagt ein Jahrhundertwerk in Pleiteform das an-dere. In der letzten Woche haben wir hier alle fassungs-los erlebt, wie Frau Fischer die Abgeordneten der Regie-rungsfraktionen völlig entsetzt vor sich gesehen hat undwie sie von ihrem eigenen Gesetzeswerk nichts mehrwußte. Dennoch haben Sie es verabschiedet. Damit ha-ben Sie Hunderttausende von Menschen in den Gesund-heitsberufen getroffen. Das öffentliche Echo war für Sieeine Katastrophe.
Heute kommen Sie mit der zweiten Katastrophe, miteiner Flickschusterei ohnegleichen.
Dr. Reinhard Loske
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6193
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Das, was Sie hier „Jahrhundertwerk“ nennen, ist weder„öko“ noch „logisch“. Es ist eine reine Abzockerei.
Sie wissen nicht mehr, wie Sie Ihren Haushalt finanzie-ren sollen und suchen fadenscheinige Vorwände, umneue Einnahmequellen zu erschließen.
Wir haben immer darauf hingewiesen, daß wir dennationalen Alleingang für den Grundfehler dieser Re-form halten. Herr Kollege, Sie haben soeben allen Ern-stes vorgetragen, die europäische Harmonisierungvollziehe sich bei Ihnen dergestalt, daß Sie erste Signaledafür hätten, daß sich demnächst jemand daran beteili-gen könnte.
So machen Sie Europapolitik – mit „ersten Signalen“.Ihre Stümperei geht zu Lasten der Bürgerinnen undBürger, der Unternehmen in Deutschland. Das könnenwir nicht mitmachen.
Herr
Kollege Möllemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Eich?
Nein, das lohnt die
Mühe nicht.
Weil der öffentliche Eindruck dessen, was Sie „Re-
formwerk“ nennen, so eindeutig negativ geprägt ist –
auch Sie wissen das –, lohnt es sich nicht, das im Gene-
rellen zu vertiefen.
Aber ich möchte mich jetzt doch als nordrhein-
westfälischer Abgeordneter besonders an die nordrhein-
westfälischen Kollegen aus der SPD wenden.
Ich habe hier einen Text von Herrn Manfred Dammey-
er, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD im nordrhein-
westfälischen Landtag. Ich zitiere ihn wörtlich und ohne
jeden Kommentar:
Die zweite Stufe der Öko-Steuer kann so, wie sie
die Berliner Koalition verabschieden will, niemals
die Zustimmung Nordrhein-Westfalens finden; sie
ist gegen die Interessen unseres Landes gerichtet,
sie widerspricht auch den nationalen Interessen
Deutschlands.
Wie können Sie denn einem Gesetzeswerk zustimmen,
das gegen die Interessen von Nordrhein-Westfalen und
gegen die nationalen Interessen Deutschlands gerichtet
ist?
– Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag. – Ich
zitiere Herrn Dammeyer wiederum wörtlich:
Das hat nichts mehr mit verläßlicher und berechen-
barer Politik zu tun, das ist die Rückkehr zu ideolo-
gischen Grabenkämpfen.
Das sagt Ihr Fraktionsvorsitzender. Warum stimmen Sie
denn einer Sache, die den Interessen des Landes und den
Interessen der Nation widerspricht und nichts mehr mit
verläßlicher Politik zu tun hat, zu?
Wenn Ihnen das nicht reicht, kann ich auch den Mi-
nisterpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen zitie-
ren. Herr Clement sagt – ich zitiere laut einer Erklärung
des Pressedienstes der Landesregierung –:
Das im Zusammenhang mit dem Abbauprojekt
Garzweiler II von der RWE Energie AG gegenüber
der Landesregierung zugesagte Kraftwerkserneue-
rungsprogramm, das eine wesentliche Steigerung
der Anlageneffizienz bewirken wird, ist deshalb
unverzichtbar.
Die Äußerungen von Vertreterinnen und Vertretern
– das ist wohl ein neuer Begriff: Vertreterinnen und
Vertreter –
von Bündnis 90/Die Grünen zu Lasten dieses
Kraftwerkserneuerungsprogramms sind in diesem
Zusammenhang schlicht unverständlich; im Blick
auf die von diesem Projekt abhängigen Arbeitsplät-
ze sind diese Äußerungen unverantwortlich.
Die Haltung der Landesregierung zum Abbaupro-
jekt Garzweiler II und zu dem damit in unmittelba-
rem Zusammenhang stehenden Kraftwerkserneue-
rungsprogramm werden davon nicht beeinflußt. Die
Haltung der Landesregierung zu Garzweiler II …
ist und bleibt unverändert.
Das war heute um 15.11 Uhr.
HerrKollege Möllemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage?Jürgen W. Möllemann
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6194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Nein, ich möchte
das im Zusammenhang vortragen.
Gut,
keine Zwischenfrage. Danke sehr.
Um 16.17 Uhr
kommt die Tickermeldung von einer gewissen Frau
Höhn – soweit ich weiß, ist sie Mitglied dieser Landes-
regierung –: Garzweiler II kommt nicht. – Was ist denn
das für ein Sauhaufen in Düsseldorf?
Der Ministerpräsident teilt mit, das sei unverantwortlich
und widerspreche den nationalen Interessen, und seine
Ministerin sagt das Gegenteil. Ich habe ja auch einmal
einem Kabinett angehört, aber wenn ich das gemacht
hätte, wäre ich herausgeflogen. Ich kann Herrn Clement
nur raten: Klären Sie das.
– Liebe Freunde, Sie brauchen hier nicht hämisch da-
zwischenzurufen. Sie wissen doch, daß Sie im Unrecht
sind.
Sie haben den Bergleuten versprochen: Garzweiler
kommt. Sie wissen, daß durch dieses jetzt vorliegende
Gesetz Garzweiler gekillt werden soll. Nun hat der Kol-
lege von den Grünen gerade angemerkt: Mal sehen, wo-
hin die F.D.P. tendiert. Fragen Sie doch zu diesem The-
ma einmal Ihren Vormann Leo Fischer.
– Entschuldigung, Joschka Fischer. – Fragen Sie doch
einmal Leo Joschka Fischer. Ebenjener Herr Fischer hat
landauf, landab erklärt, es müsse Schluß sein mit der
Subventionierung der Steinkohle.
Bei der von der IG Bergbau noch in Bonn organisierten
Demonstration habe ich mir die Augen gerieben: Leo
Fischer stand auf den Barrikaden und sagte, es muß mit
den Subventionen für die Steinkohle weitergehen. Doch
derselbe Leo Fischer bekommt jetzt als Ausgleich für
Ihr Umfallen beim Waffenexport die Genehmigung,
Garzweiler II kaputtzumachen.
Die Leute merken, daß Sie so merkwürdige Geschäfte
betreiben. Dadurch verspielen Sie Ihre Regierungsfähig-
keit in Bonn und Berlin; Sie werden sie auch in Düssel-
dorf verspielen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Michaele Hu-
stedt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Möllemann, was Sie hier vortragen, ist aus meiner
Sicht, da Sie der Landesvorsitzende der F.D.P. in Nord-
rhein-Westfalen sind, außerordentlich durchsichtig. Sie
betreiben schlicht und einfach Vorwahlkampf in NRW.
Ich glaube nicht, daß Ihnen dieses irgend etwas nützen
wird, denn erstens durchschauen das auch die Menschen
im Land, zweitens wird auch die SPD durchschauen,
daß es schlicht und einfach eine Anbiederung ist, und
drittens werden Sie damit nicht über die Fünfprozent-
hürde in Nordrhein-Westfalen kommen.
Ich möchte Ihnen einmal folgendes sagen: Ich weiß
nicht, Herr Möllemann, ob Sie mitbekommen haben,
daß wir Wettbewerb im Energiebereich bekommen.
Da wir als Bundesregierung Ihren sehr dünnen Entwurf
bei der Zugangsregelung nachgebessert haben, werden
wir den Wettbewerb ab 1. Januar 2000 auch bis zum
letzten Tarifkunden bekommen. Das bedeutet konkret,
daß sich Garzweiler II im europäischen Wettbewerb
gegen europäische Strompreise wird behaupten müssen.
Das bedeutet ganz konkret: Wenn sich Garzweiler II in
diesem europäischen Wettbewerb rechnet, wird es ge-
macht; wenn es sich nicht rechnet, dann wird es nicht
gemacht. Es steht einzig und allein die Frage an, ob wir
dafür sorgen, daß in diesem Land eine Technologie ent-
steht, die insgesamt dafür sorgt, daß wir keine Stromim-
porte aus dem Ausland im kommenden Wettbewerb be-
kommen, sondern daß Deutschland und auch das Land
Nordrhein-Westfalen als das Energieland Nummer eins
ein Land bleibt, das Strom produziert. Da geht es nicht
um die Konkurrenz deutscher Gaskraftwerke gegen
deutsche Braunkohlekraftwerke, sondern es geht darum,
ob die deutschen Gasanlagen und die deutschen Kohle-
anlagen im europäischen Wettbewerb mithalten können.
Deswegen sage ich Ihnen eines: Das Gesetz, das wir
jetzt auf den Weg bringen, ändert an der Ausgangssitua-
tion für Garzweiler II nichts, aber schärft die Bedingung,
daß im Zweifelsfalle Gaskraftwerke in Deutschland mit-
halten können gegen die Gaskraftwerke im Nachbarland.
Deswegen glaube ich, daß es ein optimaler Kompromiß
ist, daß wir in Deutschland Stromproduktionsland wer-
den und daß wir nicht auf den Import von anderen Län-
dern angewiesen sind.
Danke schön.
Zu einerweiteren Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kol-legen Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion. Der Red-ner, Herr Möllemann, hat dann die Möglichkeit, auf bei-de Kurzinterventionen zu antworten.Herr Schultz, bitte schön.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6195
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(D)
Herr Kol-
lege Möllemann, Sie haben die nordrhein-westfälischen
SPD-Abgeordneten angesprochen und gefragt, warum
sie sich so oder so verhalten.
Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren und reicht das
Gedächtnis dafür aus, daß es in der Zeit, in der Sie noch
Regierungsverantwortung hatten, in allen Fragen, in de-
nen es um Kohle ging, alles, was an Restriktionen, an
Abbau und an Hürden für den Steinkohlebergbau an
Rhein und Ruhr kam, im wesentlichen durch Ihre Partei
in Ihre Koalition hineingetragen worden war und daß es
nur sehr schwer möglich war, dagegenzuhalten: mit ein
paar Vernünftigen aus der CDU und mit der SPD? Kön-
nen Sie sich daran erinnern, daß in allen Debatten ein-
schließlich der jüngsten Haushaltsplanberatungen
grundsätzlich Ihre Partei diejenige war, die die Frage
fossiler Energieträger noch deutlicher in Frage gestellt
hatte als der eine oder andere – zum Beispiel der Kolle-
ge Brüderle –, der heute hier gesprochen hat? Glauben
Sie nicht auch mit mir, daß die Krokodilstränen, die Sie
populistisch im Vorwahlkampf vergießen – Ihr Kollege
Rüttgers wird das wahrscheinlich gleich noch in Perfek-
tion machen –, dermaßen unwahr sind und dermaßen
unglaubwürdig sind gegenüber den betroffenen Berg-
leuten oder gegenüber uns? Nehmen Sie zur Kenntnis,
daß Ministerpräsident Wolfgang Clement, der gesagt
hat, Garzweiler kommt, Erneuerungsprogramm kommt,
von uns, der SPD-Bundestagsfraktion, jegliche Unter-
stützung bekommt, was die Rahmenbedingungen an-
geht, unter denen das stattfindet.
Ich persönlich finde es geradezu lächerlich, daß Sie,
der die Liberalisierung und Marktwirtschaft in der Ener-
gieversorgung par excellence predigt und der sie wäh-
rend seiner Regierungszeit auch durchgesetzt hat, jetzt
dafür eintritt, daß jegliches Fremdelement, das die
Braunkohle bedrohen könnte, aus dem Markt heraus-
gehalten werden müsse. Diese Sätze aus Ihrem Munde
sind eine Umkehrung der Rexrodtschen Liberalisie-
rungspolitik, die Ihnen kein Mensch und keine Maus in
diesem Lande glaubt.
Herr
Kollege Möllemann, Sie haben das Wort zur Erwide-
rung.
Verehrter Herr
Kollege Schultz, was – um bei Ihrem Bild zu bleiben –
kein Mensch und keine Maus in diesem Lande glaubt,
läßt sich am öffentlichen Meinungsbild hinsichtlich der
Einschätzung der Regierungsfähigkeit der SPD derzeit
sehr klar ablesen.
Sie versuchen von dem abzulenken, worum es hier
geht. Ich danke Ihnen für das Kompliment, wir hätten
die Liberalisierung des Strommarktes durchgesetzt. Die
Verbraucher freuen sich derzeit über sinkende Strom-
preise. Das ist gut so.
Ich danke Ihnen auch für die Feststellung, daß wir an der
schrittweisen Reduzierung der Subventionen für die
Steinkohle gearbeitet haben. Übrigens setzen Sie das
fort. Jeder weiß heute, daß die Subventionen für die
Steinkohle reduziert werden müssen.
Es geht aber heute um die subventionsfreie Braun-
kohle, und es geht darum, daß das, was Sie hier verab-
schieden, von Ihrem eigenen Fraktionsvorsitzenden im
nordrhein-westfälischen Landtag als gegen die Interes-
sen des Landes und der Nation gerichtet bezeichnet
worden ist. Was Sie heute hier verabschieden, wurde auf
einer nächtlichen stürmischen Landesgruppensitzung
von Ihnen allen verteufelt. Sie finden doch das von Ih-
nen vorgelegte Gesetz gar nicht gut. Das kann jeder spü-
ren. Es ist nicht in Ordnung, daß Sie etwas mit starken
Worten verteidigen, was Sie für falsch halten. Das mer-
ken die Menschen.
Machen Sie sich deshalb nicht die Mühe, mit an den
Haaren herbeigezogenen Argumenten von dieser Tatsa-
che abzulenken! Sie müssen hier dafür einen Preis zah-
len, daß Leo Fischer dem Export von Waffen an die
Türkei und nach Abu Dhabi zugestimmt hat. Ich habe
nichts dagegen; nur hat er immer etwas anderes gesagt.
Auch diese Doppelbödigkeit erkennen die Menschen
allmählich. Ihre Doppelbödigkeit habe ich angeprangert;
von der können Sie nicht ablenken.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Gregor Gysi
von der PDS-Fraktion das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt finde ich es einbißchen früh für die Eröffnung des NRW-Wahlkampfes.Sie müssen sich die Kraft schon ein bißchen einteilen.
Das gilt aber auch für die Kurzinterventinnen und Kurz-interventen – wenn das ein zulässiger Begriff ist.
Das Problem der zweiten Stufe Ihrer ökologischenSteuerreform besteht im Grunde genommen darin, daßalle Fehler aus der ersten Stufe konsequent fortgesetztwerden.
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6196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Deswegen kann sie unmöglich unsere Zustimmung er-halten.Die ökologische Lenkungswirkung setzen Sie mit Ih-rem Gesetzentwurf selber außer Kraft. Jemand, der eineEnergiesteuer einführt und dann Tausende von Aus-nahmeregelungen gerade für jene findet, die die meisteEnergie verbrauchen, macht sich hinsichtlich der ökolo-gischen Lenkungswirkung völlig unglaubwürdig.
Sie können doch nicht im Ernst die Industrie von diesenRegelungen ausnehmen und die Rentnerinnen und Rent-ner, die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeemp-fänger bezahlen lassen – was sollen diese schon großmachen? – und dann glauben, Sie würden damit einetolle Wirkung erzielen.
– Ja, ich weiß, auch die Sozialhilfeempfängerin kann dieGlühbirne aus ihrer Wohnzimmerlampe herausschrau-ben. Aber damit werden Sie das Energieproblem in die-ser Gesellschaft nicht lösen.
Ihr Gesetz ist also nicht ökologisch.Ein zweiter Punkt. Das Gesetz ist wettbewerbsverzer-rend und nicht marktwirtschaftlich. Die Bedingungenmüssen schon stimmen: Wenn Sie die Industrie weitge-hend ausnehmen, aber die anderen Gewerbebereichenicht, dann schaffen Sie Wettbewerbsverzerrungenzwischen Industrie und angrenzenden Bereichen.
– Hören Sie einen Moment zu! – Wenn Sie innerhalbder Industrie sozusagen eine Obergrenze einführen, in-dem die Unternehmen 1 000 DM Belastungen aushaltenmüssen, aber alles, was darüber hinaus geht, erstattetbekommen, dann frage ich Sie: Warum führen Sie einenabsoluten Betrag ein und nicht einen Prozentsatz? Fürein kleines oder mittelständisches Unternehmen sind1 000 DM wirklich eine Menge Geld. Aber für Siemensist das doch eine lächerliche Summe. Da kostet schondie Überweisung mehr.
Daß Sie derart ungerecht zwischen den Unternehmenoperieren, ist nicht hinnehmbar.Ein dritter Gesichtspunkt. Sie machen eine ökologi-sche Steuerreform, bei der Sie nicht nur das Auto teurermachen. Wir stimmen in einer Frage sogar überein: DerRessourcenverbrauch muß teurer werden. Wir braucheneine wirkliche ökologische Steuerreform mit ökologi-scher Lenkungswirkung. Da kann man auch über dieBenutzung des privaten Pkw nachdenken. Deshalb istder Ansatz zunächst nicht falsch.
Aber dann braucht man eine Alternative, und zwar aussozialen Gründen. Dann müßten Sie den öffentlichenNah- und Fernverkehr preiswerter gestalten.
In der ersten Stufe haben Sie die voll zur Kasse gebeten,nun bitten Sie sie halb zur Kasse. Das reicht schon, da-mit Bus und Bahn teurer werden.
Nun frage ich Sie: Was sollen die Leute denn machen?Der private Pkw wird teurer, der Bus wird teurer, dieBundesbahn wird teurer.
Womit sollen die Leute noch fahren?
Dafür sorgen dieselben Personen, die sich einen Tagspäter hinstellen und sagen: Wir brauchen mehr Mobili-tät; die Leute müssen auch 50, 60, 100 Kilometer Ent-fernung in Kauf nehmen, um zu ihrem Arbeitsplatz zukommen. Das paßt alles nicht zusammen.Nun sage ich Ihnen etwas zur Entlastung. Wir habendas einmal ausgerechnet bzw. durch ein Institut aus-rechnen lassen. Eine fünfköpfige Familie mit Pkw undeinem Einkommen von 4 000 DM im Monat muß durchIhre steuerlichen Veränderungen 540 DM im Jahr mehrzahlen.
Erst ab einem wesentlich höheren Einkommen wirktsich die Senkung der Beiträge zur Rentenversicherungso aus, daß die Menschen entlastet werden. Die Familienmit niedrigem Einkommen werden hier zur Kasse gebe-ten. Das ist zutiefst unsozial.
Ein Satz zur Landwirtschaft. Sie belasten die Land-wirte zwar nicht in voller Höhe, aber Sie belasten sievollständig. Denn die Landwirte haben nichts davon,daß Sie die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversiche-rung senken, da sie dort keine Beiträge zahlen. Alsozahlen sie drauf und bekommen nichts zurück.
Um die soziale Schieflage ganz deutlich zu machen:Zwei Drittel Ihrer Ökosteuer zahlen die Privathaushalte,nur ein Drittel zahlt die Wirtschaft. Aber nur ein Drittelder Einsparung bei der gesetzlichen Rentenversicherunggeht wieder in die Privathaushalte, während zwei Drittelin die Wirtschaft gehen. Das sagt im Grunde genommenalles über die Anlage dieser ökologischen Steuerreformaus.
Dr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6197
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Dann kommt noch etwas hinzu. Sie haben früher im-mer gesagt, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose, So-zialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger wür-den dadurch entlastet, daß sie von der Beitragssenkungindirekt etwas hätten, nämlich durch die Nettolohnan-passung in den Folgejahren. Nun lassen Sie diese aberausfallen. Auch dazu müßten Sie heute etwas sagen. DieRentnerinnen und Rentner bekommen im nächsten undim übernächsten Jahr keine Nettolohnanpassung,
auch die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosen-geld und Arbeitslosenhilfe nicht. Und weil die Sozialhil-fe wiederum an die Rentenentwicklung gekoppelt ist,bekommt man dort auch keinen Ausgleich.
Nein, hier zahlen die kleinen Leute drauf. Die ökolo-gische Wirkung ist nicht vorhanden, ökonomisch ver-zerrt es den Wettbewerb, und sozial ist es zutiefst un-gerecht. Da können Sie nicht im Ernst erwarten, daßman dazu ja sagt. Wir werden alles, was in unsererMacht steht, tun, um das zu verhindern.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, etwas mehr Ruhe
zu wahren, damit der Redner zu Wort und zu Gehör
kommen kann. Die Lautsprecheranlage ist nicht in der
Lage, den Geräuschpegel zu übertönen.
Als nächster Redner hat der Kollege Peter Rauen von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Diese Ökosteuerre-form wird immer mehr und immer deutlicher zu dem,was sie von Anfang an sein sollte: zu einem Abkassie-rungsprogramm zu Lasten aller, einem bürokratischenMonster zu Lasten der Betriebe und einem Arbeitsbe-schaffungsprogramm für die Zollämter.
Sie wollten mit den Einnahmen aus dieser Steuer dieSozialversicherungsbeiträge senken, sozusagen in einemJunktim: hier die Einnahmen, dort eine Senkung derBeiträge. Dieses Junktim geben Sie erkennbar auf.Sie haben auch in der Wirtschaft einige gefunden, diean dieses Märchen geglaubt haben. Mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf wird deutlich, daß Sie endgültig andem Ziel gescheitert sind, mit diesen Einnahmen die So-zialversicherungsbeiträge zu reduzieren – wenn Sie esdenn jemals vorhatten.Ihre Unruhe ist völlig fehl am Platz. Schauen Sie nurin Ihren Gesetzentwurf auf Drucksache 14/40 vom17. November 1998. Dort heißt es:Das zusätzliche Aufkommen aus der Energiebe-steuerung dient der Finanzierung der Senkungder Sozialversicherungsbeiträge. Diese werden ineinem ersten Schritt um 0,8 Prozentpunkte redu-ziert. Ziel ist eine Senkung in drei Schritten aufunter 40 % der Bruttolöhne.Obwohl Sie jetzt fünf Schritte gehen, werden Sie die-ses Ziel nie erreichen.
Im Rahmen der ersten Steuerreform haben Sie nochden gesamten Betrag, den Sie durch die Ökosteuer ein-genommen haben, in die Senkung der Rentenversiche-rungsbeiträge um 0,8 Prozentpunkte gesteckt: hier Ein-nahmen in Höhe von 13 Milliarden DM, dort Senkungum 12,8 Milliarden DM.Dieses Junktim geben Sie jetzt eindeutig auf. Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf lösen Sie das Verspre-chen, die Steuern zu nutzen, um die Beiträge zu senken,völlig auf.Auf der ersten Seite in dem neuen Gesetzentwurf un-ter „Zielsetzung“ heißt es:Daneben soll die spürbare Senkung bei den Sozial-versicherungsbeiträgen den Faktor Arbeit weiterentlasten.Ein Jahr vorher hieß es noch:Um die Lohnnebenkosten zu senken, müssen dieBeitragszahler in der Sozialversicherung entlastetwerden.Aus dem „muß“ von vor einem Jahr ist jetzt nur nochein „soll“ geworden.Unter „Lösung“ finden Sie in dem neuen Gesetzent-wurf die Aussage:Mit dem zusätzlichen Aufkommen aus der Ener-giebesteuerung können die Rentenversicherungs-beiträge gesenkt werden.Aus dem „werden gesenkt“ vom letzten Jahr ist nun„können“ geworden. Selbst dieses „können“ ist nur nochauf die Rentenversicherungsbeiträge bezogen und nichtmehr auf die gesamten Sozialversicherungsbeiträge.Diese liegen heute bei 41,3 Prozent. Selbst wenn Siedie gesamten Einnahmen von 21,2 Milliarden DM imRahmen dieser Reform zur Senkung nützen würden,kämen Sie gerade einmal auf die ursprünglich im altenGesetzentwurf genannten 40 Prozent, die Sie eigentlichunterschreiten wollten. Aber selbst davon sind Sie mei-lenweit entfernt.Beim Beschluß des Bundeshaushaltes für das Jahr2000 am 23. Juni dieses Jahres war das Bundeskabinettnoch davon ausgegangen, daß die Beiträge zur Ren-tenversicherung von 19,5 auf 19,1 Prozent zurückge-hen würden. Vor einigen Tagen hat das „Handelsblatt“Dr. Gregor Gysi
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6198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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berichtet, daß aus dem Rentenbericht 1999, der Endedieses Monats vorgelegt werden soll, hervorgeht, daß ab1. Januar 2000 der Beitragssatz nur noch um0,2 Prozentpunkte gesenkt wird, also nur noch um dieHälfte von dem, was Sie bisher angenommen haben.Ich halte dies für eine sehr bemerkenswerte, ja sogardramatische Entwicklung.
Man muß das Ganze vor dem Hintergrund sehen, daßSie die Rente ohnehin nur noch nach dem Inflationsaus-gleich anpassen. Damit haben Sie die Wähler betrogen.
Auf der Ausgabenseite haben Sie also eine massiveEntlastung. Und was ist mit den Einnahmen aus den un-sinnigen 630-DM-Gesetzen und dem Gesetz gegen diesogenannte Scheinselbständigkeit? Sie wollten damit dieMenschen in die Sozialversicherungssysteme treibenund den Sozialkassen Geld zuführen. 1,7 Milliarden DMsollen laut einem Bericht des Bundesarbeitsministeriumseingenommen worden sein. Wo ist dieses Geld?
Offenbar schon alles verbraten, Herr Schultz.
Die ökologische Steuerreform dient nicht mehr derSenkung der Lohnzusatzkosten. Mit den Einnahmenwerden immer mehr Löcher im Haushalt und in den So-zialkassen gestopft.
Sie dienen bestenfalls der Umfinanzierung und demVerschleiern der Unfähigkeit der neuen Regierung, dieSozialversicherungssysteme wirklich zu reformieren.Nachdem vor dem Regierungswechsel die Zahl derErwerbstätigen noch um 400 000 gestiegen war, habenwir seit dem Amtsantritt der Regierung Schröder zwi-schen 250 000 und 450 000 weniger Erwerbstätige, we-niger Beitragszahler und weniger sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigte.
Hierin liegt das wahre Problem für die Systeme der so-zialen Sicherung, für die Sozialkassen.
Weil Sie Ihr großes Ziel, für weniger Arbeitslosigkeitund mehr Beschäftigung in Deutschland zu sorgen, be-reits aufgegeben haben, weil Sie eine Politik gegen Ar-beitsplätze und Wachstum in Deutschland betreiben,deshalb können Sie Ihr Ziel, mit dem Geld aus der Öko-steuer die Beiträge zu senken, überhaupt nicht mehr er-reichen.Ich erwarte nicht, daß Sie begreifen, wie sehr Sie dieWirtschaft durch die Erhöhung der Energiekosten bela-sten. Aber als Abgeordneter eines großen Flächenwahl-kreises habe ich noch die leise Hoffnung, daß Sie sensi-bel genug sind, um zu wissen, in welchem Maße Sie da-durch die Menschen auf dem flachen Land belasten.Diese Menschen habe keine Alternative zum Auto. Beieiner Entfernung zum Arbeitsplatz von 25 Kilometern –das ist noch sehr niedrig gegriffen – und einem Ver-brauch ihres Fahrzeugs von zehn Litern pro100 Kilometer werden sie monatlich mit zusätzlichen35 DM zu rechnen haben. Einschließlich der erhöhtenPreise für Strom und Heizöl belasten Sie sie stärker, alsSie ihnen durch die ökologische Steuerreform geben.
Herr
Kollege Rauen, kommen Sie zum Schluß.
Es bleibt dabei: Diese
ökologische Steuerreform ist nichts anderes als ein Ab-
kassieren bei Rentnern, Arbeitnehmern und Arbeitge-
bern unter Inkaufnahme der Zerstörung von Arbeitsplät-
zen in Deutschland.
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Kubatschka von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte kurzauf einige Beiträge eingehen.Zunächst zu den GuD-Anlagen. Ich habe mich er-kundigt: Wie war das Verhalten von CDU/CSU
in diesem Zusammenhang im Finanzausschuß? Vor die-sem Hintergrund kann man das Verhalten der CDU/CSU
hier nur – ich sage es einmal vornehm – als unseriös be-zeichnen.
Während die CDU/CSU im Finanzausschuß den Grenz-wert für die Förderung von GuD-Kraftwerken als Inve-stitionsverhinderungswerk brandmarkte und ablehnte,weil dadurch für Gas der Zugang zum Strommarkt be-hindert würde, stellt sie heute einen Antrag, auf die Gas-steuerbefreiung zu verzichten, damit möglichst kein Gasin die Grundlast der Stromversorgung eindringt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wollen Siedenn eigentlich? Von der einen auf die andere SitzungPeter Rauen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6199
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wissen Sie doch gar nicht mehr, was Sie beantragt undwie Sie gesprochen haben.
Da höre ich natürlich Herrn Rüttgers, Herrn Lamers undHerrn Möllemann trapsen. Es wird Wahlkampf betrie-ben. Man sollte sich aber zumindest die Argumente derTage zuvor gemerkt haben, um nicht ins Schleudern zukommen.
Noch etwas: Der Herr Kollege Seiffert hat aus derAnhörung zitiert, dieses Gesetz sei der Totengräber desÖPNV. Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie bis zumEnde der Anhörung dabei waren.
– Das freut mich. Aber dann haben Sie nicht zugehört.Denn auf unser Nachfragen hin mußte bestätigt werden,daß der ÖPNV, weil er eher lohnintensiv als energiein-tensiv ist, durch die Steuerreform über die Lohnneben-kosten entlastet wird. Genau das Gegenteil ist also derFall. Wenn vom Totengräber für die Stadtwerke gespro-chen wurde, dann doch, als es um die Liberalisierungdes Strommarktes ging. Darauf hat es sich bezogen.
– Ich brauche mich bei Ihnen nicht zu entschuldigen.Noch zu Herrn Rauen. Er hat auch die Renten ange-sprochen. Das gehört natürlich in jede Rede, auch wennes nichts mit der ökologischen Steuerreform zu tun hat.Ich muß Ihnen sagen, Herr Kollege: Die Rentner wärenin den letzten Jahren zufrieden gewesen und hätten mehrbekommen, wenn ihre Renten um den Inflationsaus-gleich erhöht worden wären. Ihre Regierung war näm-lich in den letzten Jahren gar nicht fähig, eine solche Er-höhung zu bezahlen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte michjetzt mit dem wichtigsten Gesichtspunkt der ökologi-schen Steuerreform auseinandersetzen, dem ökologi-schen Lenkungseffekt. Dazu gibt es die verschieden-sten Auffassungen. Herr Gysi hat gesagt, es gebe zuviele Ausnahmen, zählt aber gleich weitere vorzuneh-mende Ausnahmen auf. Sie müssen doch wissen, wasSie wollen. Wenn wir keine Ausnahmen vorgesehenhätten, dann wäre vom übrigen Haus der Vorwurf ge-kommen, wir würden Arbeitsplätze vernichten. Wir ha-ben es gemacht, weil wir maßvoll vorgehen wollten.Über diese Steuern wollen wir steuern, um ein ökolo-gisches Verhalten zu erreichen. Dies haben wir denWählerinnen und Wählern versprochen; dies werden wirauch halten.Im Wahlprogramm haben wir ausgesagt: Umwelt-schutz soll sich auszahlen, Umweltzerstörung darf sichnicht lohnen. Deswegen werden wir heute den FaktorArbeit weiter entlasten und umweltschädlichen Energie-verbrauch maßvoll und berechenbar belasten. Aus die-sem Grund führen wir mit dem heutigen Gesetz dieökologische Steuerreform weiter, und zwar berechenbarfür alle über mehrere Jahre hinweg. Dafür haben wir vonden Wählerinnen und Wählern den Auftrag erhalten.Damit haben diese Regierung und die sie tragendenFraktionen wieder ein Wahlversprechen erfüllt.
An dieser ökologischen Steuerreform führt kein Wegvorbei. Sie ist notwendig, um unsere Wirtschaft zu-kunftsfähig zu machen. Sie ist ein Projekt der Moderne.Auch in der CDU/CSU gibt es diese Erkenntnisse.Sie haben sich bloß nicht durchgesetzt. Umweltpolitikerder CDU/CSU führten im Umweltausschuß aus: Dieökologische Steuerreform ist unbestritten. Dann kam derberühmte Pferdefuß: die Reform müsse europaweit um-gesetzt werden. Dies bedeutet, sie soll auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.
In Europa ist sehr wohl etwas geschehen: EinigeLänder sind uns bereits vorangegangen. Es wird Zeit,daß wir uns diesen anschließen. Wir sind kein Vorreiter.Die Vorreiterrolle wurde von der alten Koalition ver-schlafen.
Im Geleitzug der ökologischen Steuerreform nehmenwir höchstens einen Mittelplatz ein. Es war langsam ander Zeit, daß sich die größte Industrienation der EU die-ser Reform anschließt. Mehrere europäische Länder ha-ben uns die ökologische Steuerreform bereits vorge-macht.Das, lieber Kollege Möllemann, ist die Wahrheit. ZuIhren Ausführungen muß ich sagen: Sie haben anschei-nend die Diskussion und das Handeln in anderen Län-dern verschlafen.Die CDU/CSU und die F.D.P. mit ihrem klaren Neinbelegen, daß sie kein eigenes Modell haben. Sie gehörenzur Fraktion der Neinsager. Die Debatte war mit vielPolemik und Horrorszenarien umrankt. Es gibt auchGewinner der ökologischen Steuerreform, aber diesesind natürlich auf Tauchstation gegangen.Bei der ersten Stufe der ökologischen Steuerreformkonnten wir einen einmaligen Vorgang beobachten:Viele Betriebe mutierten von lohnintensiven Betriebenzu energieintensiven Betrieben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, von der Oppositionwird immer wieder behauptet, die ökologische Steuerre-form sei ein Abkassiermodell.
Horst Kubatschka
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6200 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Mich wundert, daß das Mitglieder der ehemaligen Ko-alition sagen, die über Herrn Waigel mit 50 Pfennig anden Tankstellen zugeschlagen hat. Vergessen Sie dennIhr Handeln völlig?
Ich glaube, bei Ihnen gilt das alles nicht mehr. Sie haben16 Jahre aus dem Bewußtsein gestrichen. Das ist einetolle Leistung!Da wir aber die Lohnnebenkosten senken, das ein-genommene Geld also zurückgeben, kann wirklich nichtvon einem Abkassiermodell gesprochen werden. DieOppositionsargumente werden auch nicht dadurch rich-tiger, daß sie ständig wiederholt werden.Wir kommen der Forderung aus Industrie, Handwerkund Gewerbe nach, daß Arbeit billiger werden muß. Wirgeben ein klares Signal: Energie muß teurer werden, undder Verbrauch von Energie muß sinken. Darauf könnensich die Verbraucher, die Industrie, das Handwerk, dasGewerbe und der Handel einstellen. Auch in Zukunftwird ein stetiger maßvoller Anstieg der Energiepreise er-folgen.Das Ziel der ökologischen Steuerreform ist klar. Esheißt: Der Verbrauch muß gesenkt werden. Die ökologi-sche Steuerreform ist ein Mittel, um dies zu erreichen.Damit versuchen wir, den Energieverbrauch über denPreis, also über den Markt, zu steuern. Der Verbraucherkann jetzt über Energiesparen den höheren Preis auffan-gen, ohne daß es einen Verlust an Lebensqualität gibt.Zwei Beispiele: Der Bleifuß beim Autofahren mußnur etwas zurückgenommen werden, und schon sinkt derBenzinverbrauch deutlich. Es lohnt sich also, einen LiterBenzin zu sparen.Das zweite Beispiel ist die Unsitte des Stand-by-Betriebs bei vielen Geräten ohne Notwendigkeit. Esstellt sicher keinen Verlust an Lebensqualität dar, wennman einen Fernseher ganz ausschaltet. Es muß nur einKnopf gedrückt werden. Doch bei manchen Geräten istdieser Knopf schon gar nicht mehr vorhanden. Der Ver-braucher hat also gar nicht mehr die Möglichkeit, hierEnergie zu sparen.Industrie und Gewerbe müssen sich darauf einstellen,in Zukunft vermehrt energiesparende Geräte anzubieten.Vielleicht ist es in Zukunft wichtiger, zu wissen, wievielTreibstoff ein Auto auf 100 km verbraucht, statt zu wis-sen, wieviel Sekunden es braucht, um von 0 auf 100Stundenkilometer zu kommen.
Wenn sich also auf dem Markt vermehrt Produktedurchsetzen, die Energie sparen, wird es auch dem Ver-braucher leichter fallen, die Erhöhungen durch die öko-logische Steuerreform aufzufangen. Wir setzen voll aufden Markt.Ziel der ökologischen Steuerreform ist es, Energie zusparen. Ziel ist es, das Bewußtsein zu verändern. In Zu-kunft muß klar sein: Energie ist ein kostbares Gut, mitdem wir sorgsam umgehen müssen. Wir müssen uns aufden Weg machen, liebe Kolleginnen und Kollegen, umunser Wirtschaftssystem zukunftsfähig zu machen. Dieökologische Steuerreform ist ein Instrument dazu. In ei-nigen Jahrzehnten müssen wir fast im Kreislauf wirt-schaften. Die eingesetzten Ressourcen müssen aus die-sem Kreislauf stammen oder erneuerbar sein. Nur so ge-ben wir unseren Enkeln und Urenkeln eine Chance aufdieser Welt.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich der Kollegin Birgit Hombur-
ger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Kollege Kubatsch-ka, Sie haben erstens in Ihrer Rede einmal mehr be-hauptet, daß die F.D.P. immer nur nein sage und keineigenes Modell habe. Entweder haben Sie die Vorlagen,über die Sie heute abstimmen, nicht gelesen oder Siewollen permanent ignorieren, daß die F.D.P. ein eigenesModell eingebracht hat. Über einen Teil davon stimmenwir heute ab, und zwar zum einen über die Umlegungder Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer und zum zwei-ten über die verkehrsmittelunabhängige Entfernungs-pauschale.
Im übrigen sind dies beides Dinge, Herr Kubatschka,von denen die SPD früher immer gesagt hat, daß man siemachen müsse. Jetzt haben Sie und auch die Grünen dieChance, dem zuzustimmen. Aber jetzt lehnen Sie diesab. Ich kann nur feststellen, daß wir hierzu Vorschlägeeingebracht haben.Zweitens. Wir haben auch schon in der Vergangen-heit Entschließungsanträge zu dem Modell eines drittenMehrwertsteuersatzes auf Energie eingebracht. DiesesModell ist im Gegensatz zu Ihrem ein Modell, das zwareine ökologische Umorientierung fördert, aber Arbeits-plätze nicht belastet. Was Sie mit Ihrem Modell machen,ist eine Abzockerei der Bürgerinnen und Bürger und ei-ne Belastung für Arbeitsplätze in diesem Land.
Dazu kommt der Verwaltungsaufwand, zu dem ichmich nicht weiter auslassen möchte. Ich will Ihnen nureines sagen: Was Sie heute hier machen, ist in keinerWeise ökologisch. Die Reform hat den Namen Ökosteu-erreform überhaupt nicht verdient. Dies ist nur eine so-genannte Ökosteuerreform.
Das zeigt sich auch in dem, was Sie heute zu den GuD-Kraftwerken beschließen. Das, was Sie hier vorlegen, istbis zum Jahre 2002 begrenzt.
Horst Kubatschka
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6201
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In diesem Zeitraum kann eine nennenswerte Kapazität,die überhaupt erst ökologisch wirksam werden könnte,nicht aufgebaut werden. Sie erreichen damit allerdings,daß bei den abgeschriebenen Kohlekraftwerken eineSituation eintreten wird, daß sich eine Erneuerung dieserKohlekraftwerke nicht mehr rentiert. Damit erreichenSie, daß Investitionen in die Erneuerung des Kraftwerk-parks, in die Effizienzsteigerung der Kohlekraftwerkeunterbleiben. Damit unterlaufen Sie Ihr eigenes Klima-schutzziel!
Frau
Homburger, Ihre Redezeit läuft ab.
Ein letzter Satz, Herr
Dr. Solms. – Herr Kollege Kubatschka, es bleibt eines
festzuhalten: Was Sie hier machen, ist nicht ökologisch.
Dies ist eine einzige Abzockerei und der Versuch, die
Menschen hinters Licht zu führen!
Als
nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Jürgen Rütt-
gers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Abgeord-
nete Kubatschka hat dem Abgeordneten Möllemann
vorgeworfen, er betreibe hier Wahlkampf. Nun finde
ich es schon etwas merkwürdig, wenn ein Politiker
einem anderen vorwirft, daß das, was zur Demokratie
gehört, nämlich sich um die Menschen im Land zu
kümmern, etwas Schlechtes sei.
Nun verstehe ich allerdings, daß die SPD bei ihrer
derzeitigen Performance eine derartige Angst vor Wah-
len hat, daß sie sich sagt: möglichst keinen Wahlkampf,
denn sonst haben wir schon wieder verloren.
Die Grünen, meine sehr geehrten Damen und Herren,
haben im Vorfeld dieser Debatte begründet, bei diesem
Ökosteuergesetz handele es sich um ein Jahrhundertge-
setz. Wenn ich das richtig sehe, mag das unter einem
Aspekt stimmen: Es ist wahrscheinlich eines der unsin-
nigsten Gesetze, die in diesem Jahrhundert je durch ein
deutsches Parlament gegangen sind.
Ich habe immer versucht, zu verstehen, wie man ein
Gesetz wie dieses Ökosteuergesetz verabschieden kann,
das unter dem Vorwand, man wolle etwas für die Um-
welt tun, Arbeitsplätze vernichtet.
Ich komme aus dem rheinischen Braunkohlenrevier.
– Darauf bin ich stolz. Ich finde es ziemlich schlimm,
daß die SPD schon so tief gesunken ist, daß sie sich über
die Kumpel im rheinischen Braunkohlenrevier lustig
macht, meine Damen und Herren!
Es ist wahr: Diese Kumpel, die von morgens bis
abends hart arbeiten, haben Angst um ihre Arbeitsplät-
ze, weil Sie dieses Gesetz heute durch den Bundestag
peitschen! Das ist die Realität bei uns vor Ort.
Sie haben Angst davor, daß die international wettbe-
werbsfähige Braunkohle durch dieses Gesetz plötzlich
nicht mehr international wettbewerbsfähig ist, daß der
Tagebau Garzweiler II verhindert wird und damit Tau-
sende Arbeitsplätze gefährdet sind oder gar wegfallen.
Das ist unanständig, was Sie gegenüber den Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern in diesem Land machen!
Das gilt nicht nur für das rheinische Braunkohlenre-
vier, sondern ebenso für das ostdeutsche Braunkohlen-
revier, und es gilt auch für das Steinkohlenrevier an der
Ruhr. Deswegen werden wir als CDU/CSU-Fraktion
dieses Gesetz ablehnen. Wir beteiligen uns nicht an der
Vernichtung von Arbeitsplätzen in diesem Land!
Aber es werden nicht nur Arbeitsplätze vernichtet,
gleichzeitig werden auch neue Arbeitsplätze verhindert.
Ich habe noch vor Augen, wie Herr Clement durchs
Land gereist ist und gesagt hat, wie toll das ist:
20 Milliarden DM Investitionen für die Erneuerung des
Kraftwerkparks in Nordrhein-Westfalen. 20 Milliar-
den DM stehen jetzt durch dieses Gesetz auf der Kippe,
und keiner weiß, ob sie überhaupt noch kommen. Das
heißt, neue Arbeitsplätze werden nicht geschaffen, alte
werden vernichtet. Das Ganze schadet zudem noch der
Umwelt. Das ist das Perverse bei diesem Gesetz.
Ich war vor wenigen Tagen an der Ruhr. Dort habe
ich ein Laufwasserkraftwerk – eines der ökologisch-
sten Kraftwerke, eine der ökologischsten Formen der
Stromerzeugung überhaupt – gesehen. Dieses Laufwas-
serkraftwerk, das keinerlei Emissionen erzeugt, muß
nach Ihrem Gesetz Ökosteuern bezahlen. Erklären Sie
das einmal einem normalen Menschen: Ökosteuer gegen
ökologische Stromerzeugung!
Herr
Kollege Rüttgers, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Formanski?
Nein.Das Gleiche gilt in meinem Wahlkreis, dem Erft-kreis. Wir haben über Jahre darunter gelitten, daß es inBirgit Homburger
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6202 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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unmittelbarer Nähe Kraftwerke gab. Natürlich hatte dasAuswirkungen: Es gab Emissionen. Wir sind froh, daßdie Industrie nunmehr zur Entstickung und Entschwe-felung bereit ist. Die Luft wird besser; wir freuen unsdarauf. Jetzt gehen Sie hin und gefährden das Ganze!Das ist ein Anschlag auf die Umwelt der Menschen.Deshalb ist es unanständig, was Sie hier machen.
Ich sage abschließend: Es fällt schon auf, daß es beidiesem angeblichen Jahrhundertgesetz niemand von derBundesregierung für nötig gefunden hat zu sagen: Ichstehe dafür. Jeder von uns hier im Saal weiß, daß es zurZeit in der Koalition eine große Krise gibt. 70 Kollegender SPD wollen diesem Gesetz eigentlich nicht zustim-men. Sie sind aber in die Mangel der SPD genommenund durch Drohungen mit einem Koalitionskrach dazugezwungen worden, hier die Hand zu heben, statt ihremGewissen zu folgen und dagegen zu stimmen. So etwasfinde ich schlimm und unakzeptabel.Aber daß niemand von der Landesregierung Nord-rhein-Westfalen hier ist – im Land tönt sie groß, aberhier ist sie nicht! –, das ist das Schlimmste, was ichheute erlebt habe.
Es fol-
gen jetzt zwei Kurzinterventionen. Anschließend gebe
ich dem Kollegen Rüttgers Gelegenheit, auf beide zu
antworten.
Als erster hat der Kollege Joachim Poß von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Rüttgers, die Rolle, die
Sie hier zu spielen versuchen, ist nicht glaubwürdig.
Hier spielte der Brandstifter den Biedermann, Herr
Rüttgers!
Die Kollegen in den Bergbaurevieren wissen auch,
daß es in der Bundesrepublik Deutschland nur eine poli-
tische Kraft gibt, die immer zum Bergbau und zu den
Bergleuten stand –
das gilt für die Braunkohle und für die Steinkohle –: Das
ist die deutsche Sozialdemokratie.
Sie wollten der Steinkohle den Garaus machen, nicht
wir!
Noch am 15. September haben die Kollegen Brüderle
und Protzner für die F.D.P. und die CDU/CSU das so-
fortige Aus für den deutschen Steinkohlenbergbau ab
2002 gefordert.
Lesen Sie doch einmal die Protokolle nach!
Im übrigen zu Ihnen, Herr Rüttgers, als Meister der
gespaltenen Zunge:
Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen oder sich zumin-
dest sachkundig machen, daß Ihre Kollegen im Finanz-
ausschuß am letzten Freitag den hohen Wirkungsgrad
von 57,5 Prozent netto abgelehnt haben, weil er den in-
novativen Ansatz beim Gas nicht genug fördere. Das
war Ihre Begründung. Heute drehen Sie Ihre Argumen-
tation um. Was zählt denn bei Ihnen, meine Damen und
Herren?
Wir werden den Kolleginnen und Kollegen in den
Revieren deutlich sagen, weshalb Sie gegen den tragba-
ren Kompromiß im Finanzausschuß, der natürlich Be-
sorgnisse ausgelöst hat, gestimmt haben.
Bei allem Verständnis für Ihr oppositionelles Hoch-
gefühl in den letzten Wochen und Monaten: Ein wenig
mehr Seriosität und Glaubwürdigkeit würde Ihnen gut-
tun!
Zu einerweiteren Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kol-legen Reinhard Loske vom Bündnis 90/Die Grünen.
wie wir eben gehört haben, mit einem europäischenWettbewerb zu tun. Die deutsche Braunkohle konkur-riert im europäischen Umfeld und nicht nur im deut-schen.Wir machen jetzt nichts anderes, als eine Wettbe-werbsgleichheit der deutschen Gaskraftwerke und derausländischen Gaskraftwerke herzustellen. Das müssenSie zur Kenntnis nehmen. Wollen Sie lieber, daß dieseAnlagen im Ausland gebaut werden, oder wollen Sie,daß sie bei uns gebaut werden? Sind Ihnen die Arbeits-plätze im Anlagenbau eigentlich egal?
Zweitens. Es wäre doch in einem liberalisiertenMarkt eine Paradoxie erster Güte, wenn die Anlagen inHolland, in Belgien, in Tschechien, in Polen, überalldort, wo das Erdgas nicht besteuert wird, gebaut würden,wir den Strom importieren würden und dadurch unsereneigenen Stromerzeugungstechniken quasi unnötigeDr. Jürgen Rüttgers
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6203
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Konkurrenz machten. Das kann doch nicht in Ihrem In-teresse liegen!
Drittens, zu den Arbeitsplätzen: Ich muß Sie wirklichfragen, warum Sie diese ungeheure Ignoranz gegenüberden Arbeitsplätzen im Kraftwerksbau, im Anlagenbauoder im Kesselbau an den Tag legen. Gerade in unserennordrhein-westfälischen Unternehmen gib es Spitzen-technik. Da arbeiten viele Leute. Sie können doch nichtso tun, als hätten wir sie überhaupt nicht! Das ist einsehr großes Problem.Viertens und letztens möchte ich noch ansprechen: InMecklenburg-Vorpommern schafft jetzt Vasa Energyam Standort Lubmin bei Greifswald 400 Arbeitsplätze.Diese Arbeitsplätze sind für diese Region sehr wichtig,genauso wichtig wie für uns im Rheinland, woher ichkomme, die Arbeitsplätze im Braunkohlenbergbau.Also: Werfen Sie die Dinge hier nicht durcheinander,und tun Sie vor allen Dingen nicht so, als gebe es guteund schlechte Arbeitsplätze! Wir sind ein Technologie-land, und das müssen wir auch deutlich machen.Danke schön.
Herr
Kollege Rüttgers, Sie haben Gelegenheit zu erwidern.
Vielen Dank,
Herr Präsident. – Lieber Herr Poß, Sie haben Pech ge-
habt, daß der Kollege von den Grünen nach Ihrer Inter-
vention geredet hat. Wenn Sie richtig zugehört haben,
werden Sie festgestellt haben, daß er meinen Vorwurf
bestätigt hat, daß die Arbeitsplätze in den Kohlerevieren
durch dieses Gesetz gefährdet werden. Er hat dies damit
abgemildert, daß im Anlagenbau im Rahmen neuer
Kraftwerke neue entstehen.
Ich darf Sie darauf hinweisen, daß diejenigen, die im
Anlagenbau arbeiten, zur Zeit dabei sind – im Kraftwerk
Niederaußem, im Kraftwerk Weisweiler, im Kraftwerk
Neurath –, neue Anlagen zu bauen, weil die alten
Braunkohlenkraftwerke gerade ertüchtigt und damit
umweltfreundlicher werden. Das machen Sie kaputt, und
das regt die Menschen auf! Deshalb ist das, was Sie hier
sagen, scheinheilig!
Herr Poß, am Anfang Ihres Beitrages habe ich ge-
dacht, es gäbe vielleicht die Möglichkeit – ich hätte das
begrüßt, um der Menschen im Ruhrgebiet, in den
Braunkohlenrevieren willen –, zu einer gemeinsamen
Position zu kommen. Ich bin ganz sicher, daß die Men-
schen im Ruhrgebiet das Aufstöhnen, wenn Ihr Name
erwähnt wird, richtig einzuordnen wissen.
Leider haben Sie mit Ihrer Intervention einen anderen
Weg genommen. Es ist mir klar, daß Sie sich unwohl da-
bei fühlen, daß Sie als jemand, der aus dem Ruhrgebiet
kommt, heute diesem Gesetzentwurf zustimmen müssen.
Ich will mit Ihnen auch nicht darüber rechten, wer in der
Vergangenheit mehr für die Kumpel getan hat.
– Ich habe den Eindruck, Sie haben keine Ahnung, wor-
um es hier geht. Gehen Sie nächste Woche mal mit auf
den Steinkohletag! Da können Sie hören, daß die Men-
schen, die in dieser Branche arbeiten, der Regierung
Helmut Kohl – die immer zu ihnen gestanden hat, egal
worum es ging – ein Dankeschön sagen.
An anderer Stelle können wir uns auch noch einmal
über folgendes unterhalten: Ich habe gehört, daß im
Haushaltsausschuß mit Ihrer Mehrheit gerade
250 Millionen DM für die Steinkohle gestrichen und
weitere 250 Millionen DM in das nächste Jahr verscho-
ben worden sind. Ich sage Ihnen eines, Herr Poß: Es ist
schlichtweg unglaubwürdig – Sie werden damit auch
nicht durchkommen –, zu Hause zu versuchen, den Ein-
druck zu vermitteln, man stehe für das Ruhrgebiet, hier
aber Gesetzentwürfen zuzustimmen, die der Region
schaden.
Die Menschen spüren das. Sie haben es schon gemerkt:
Es gibt seit neuestem einen CDU-Oberbürgermeister in
Gelsenkirchen, auf Schalke. Die Leute haben kapiert,
woran sie bei Ihnen sind – glauben Sie es mir! –, und sie
werden es auch im Mai kapieren.
Ich
schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung
kommen, erteile ich dem Kollegen Dr. Hermann Scheer
das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Dem vorliegenden Gesetzentwurfstimme ich nur zu, weil ich der an die diesbezüglichenSteuereinnahmen gebundenen Finanzierung andererAufgaben auf keinen Fall im Wege stehen will und dieArbeitsfähigkeit der Koalition aus vielerlei Gründennicht gefährden will.
Was einzelne Maßnahmen der Ökosteuerregelung be-trifft, habe ich jedoch zwei prinzipielle inhaltliche Ein-wände, die ich hiermit unterstreichen will.Mein erster Einwand ist, daß ich es für widersinnighalte, im Rahmen einer Energiebesteuerung unter öko-logischen Vorzeichen erneuerbare Energien mitzube-steuern.
Dr. Reinhard Loske
Metadaten/Kopzeile:
6204 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Ebenso widersinnig wäre es, die herkömmlichen Ener-gien nicht zu besteuern. Das erste Ziel einer ökologi-schen Energiesteuer muß die höhere Besteuerung derEnergien, die bei ihrer Umwandlung zu gravierendenUmweltbelastungen führen, und die Steuerbefreiung fürdie Energien sein, die nicht dazu führen. Deshalb war esrichtig, daß im Koalitionsvertrag die Steuerbefreiung fürerneuerbare Energien ausdrücklich festgeschrieben wur-de. Deshalb war es falsch, im ersten Gesetz zur ökologi-schen Steuerreform vom Frühjahr erneuerbare Energienin die Stromsteuer einzubeziehen.
Die Begründung dafür war europarechtlicher Art, weilbei Stromimporten nicht feststellbar sei, wie groß diedarin enthaltenen Anteile erneuerbarer Energien sind.Mich hat diese Begründung schon seinerzeit nicht über-zeugt, weil an Hand jeder nationalen Energiestatistik diejeweiligen Stromerzeugungsanteile präzise ablesbar sindund deshalb proportional von der Besteuerung des im-portierten Stroms abgezogen werden könnten.Auch in der zweiten Stufe der Ökosteuerreform bleibtdie Einbeziehung der erneuerbaren Energien in dieStromsteuer bestehen, obwohl nun die Stromsteuer – dasbefürworte ich ausdrücklich – angehoben wird und sichdadurch der Geburtsfehler, erneuerbare Energien zu be-steuern, vergrößert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß esauf Grund einer Steuerbefreiung für erneuerbare Energi-en Konflikte innerhalb der Koalition gegeben hätte, weildieses Ziel dem Willen beider Parteien entspricht. Wennes dennoch bei der Besteuerung erneuerbarer Energienbleibt, dann liegt dies daran, daß dieses Ziel bis zuletzteher vernachlässigt wurde. Es fehlte also das Engage-ment zugunsten anderer Schwerpunkte.Erschwerend kommt hinzu, daß in letzter Minute dieSteuerbefreiung für Strom aus fossilen KWK-Anlagenbis zu einer Kapazität von 2 Megawatt durchgesetztwurde. Dies halte ich zum einen für richtig. Aber zumanderen macht dies noch weniger erklärbar, warum dieSteuerbefreiung nicht auch für erneuerbare Energien ineinem Atemzug realisiert wurde. Es ist nicht zu vermit-teln, warum ersteres steuertechnisch machbar sein soll,aber das zweite nicht.
Diese Unterlassung ist um so bedauerlicher, als da-durch die Wirkung der Markteinführungsprogramme fürerneuerbare Energien nicht so ist, wie sie sein könnte.Nicht einmal die Steuerbefreiung zumindest für diejeni-gen erneuerbaren Energien, die unter das Stromeinspei-sungsgesetz fallen, wurde realisiert. Auf diesem Wegwäre es möglich gewesen, die Finanzierung der Markt-einführungsprogramme für erneuerbare Energien zumBeispiel durch die weniger problematische Besteuerungder traditionellen Wasserkraft, aus der noch immer dasGros des Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnenwird und die ohnehin nicht ausbaufähig ist, vorzuneh-men.Mein zweiter Einwand ist, daß ich die Steuerbefrei-ung für Gaskraftwerke, deren Wirkungsgrade unterhalbvon 70 Prozent für KWK-Anlagen liegen, für ökolo-gisch falsch halte. Es geht bei dieser Frage nicht umBraunkohle oder Gas, sondern um die Frage, ob Neuin-vestitionen in den Bau von neuen Großkraftwerken oderin die effektive dezentrale Stromerzeugung fließen sol-len.
Ich kenne die Wirkungsgradunterschiede zwischen denKraftwerkstypen, aber jedes Kondensationskraftwerk,also auch jedes GuD-Kraftwerk, ist im Vergleich zu de-zentralen Erzeugungsstrukturen ineffektiv. Der richtigeWeg, um eine Gleichbehandlung fossiler Energieträgerzu erzielen, ist, alle und nicht nur einige Energieträgerunter Zuhilfenahme der Reziprozitätsklausel bei Impor-ten zu besteuern.Meine Erklärung zur Abstimmung, die von den Kol-legen Lange und Berg unterstützt wird, bitte ich deshalbals Appell zu verstehen, ökologische Unstimmigkeitenim Rahmen der Ökosteuerreform spätestens bei dernächsten Stufe endlich zu beseitigen. Solange erneuerba-re Energien besteuert und nicht erneuerbare Energienteilweise nicht besteuert werden, so lange ist auch derSchritt von einer Energie- zu einer Ökosteuer noch nichtvollzogen.Danke schön.
Zu einer
weiteren persönlichen Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung erteile ich dem Kollegen Kurt Bodewig
von der SPD-Fraktion das Wort.
Ich gebe eine persönliche Er-klärung zu meinem Abstimmungsverhalten ab. Obwohlich mit der steuerlichen Begünstigung der Gas- undDruckturbinenkraftwerke außerordentlich große Pro-bleme habe, werde ich diesem Gesetz zustimmen.
Ich tue dies auch angesichts der Nöte in unserer Region.Ich komme aus dem rheinischen Bergbaugebiet undkenne die Nöte der Menschen, die seit Jahren verunsi-chert wurden. Sie wurden durch die Organklage der grü-nen Fraktion verunsichert, aber auch durch die Klagender CDU-regierten Städte. Ich sage ausdrücklich: DieMenschen brauchen Sicherheit; diese Sicherheit erhaltensie.
Mit der Festlegung eines Zeitfensters bis zum30. März 2002 ist sichergestellt, daß keine Subventionie-rung gegen die Braunkohle erfolgt. Vielmehr geht es umdie Förderung hocheffizienter GuD-Kraftwerke in die-sen Jahren.Dr. Hermann Scheer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6205
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Ich erkläre zugleich, daß ich einer Nachfolgeregelungnicht mehr zustimmen werde.
Ich bin mir gewiß, daß ich im Sinne aller nordrhein-westfälischen SPD-Abgeordneten spreche. Mit meinemAbstimmungsverhalten möchte ich deutlich machen, daßman die Menschen in dieser Region nicht mehr länger inNöte stürzen darf.
Dieses Gesetz tut das nicht – das ist der entscheidendePunkt –, und aus diesem Grund werde ich diesem Gesetzzustimmen.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zur Ab-
stimmung über den von den Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen sowie der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung
der ökologischen Steuerreform, Drucksachen 14/1524,
14/1668 und 14/2027 Buchstabe a.
Hierzu liegt auf Drucksache 14/2065 ein Änderungs-
antrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Zu diesem Ände-
rungsantrag liegen uns zwei schriftliche Erklärungen zur
Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von den
Kollegen Ulrich Adam1) und Leo Dautzenberg2) von der
CDU/CSU-Fraktion vor.
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Die CDU/CSU-Fraktion hat namentliche Abstim-
mung beantragt. Bevor wir mit der Abstimmung begin-
nen, gebe ich folgende Hinweise: Sobald die Abstim-
mung über diesen Änderungsantrag beendet sein wird,
werde ich die Sitzung kurz unterbrechen, bis die Aus-
zählung der Stimmen erfolgt sein wird. Danach werde
ich die Sitzung wiedereröffnen. Wir werden dann eine
namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag der
F.D.P.-Fraktion durchführen. Danach werde ich die Sit-
zung wiederum unterbrechen, bis die Stimmen ausge-
zählt sein werden. Danach folgt die Abstimmung in der
zweiten Lesung, anschließend die dritte Lesung und
Schlußabstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstim-
mung. –
Sind alle Stimmen abgegeben? – Das ist der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.
Ich unterbreche die Sitzung, bis die Auszählung ab-
geschlossen ist.
LiebeKolleginnen und Kollegen, wir setzen die unterbrocheneSitzung fort.Ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung überden Änderungsantrag der CDU/CSU bekannt. Abgege-bene Stimmen 621. Mit Ja haben gestimmt 219, mitNein haben gestimmt 336, Enthaltungen 66.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 620;davon:ja: 218nein: 336enthalten: 66JaSPDHans-Peter KemperCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Wolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelNorbert GeisGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerPeter GötzKurt-Dieter GrillManfred GrundHorst Günther
Gottfried Haschke
Gerda HasselfeldtHansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterManfred KantherIrmgard KarwatzkiKurt Bodewig
Metadaten/Kopzeile:
6206 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Volker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiJulius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Erwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHeinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffClemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblMichael StübgenDr. Rita SüssmuthDr. Susanne TiemannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallAngelika VolquartzAndrea VoßhoffPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Gert WillnerKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerNeinSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6207
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Brigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerHans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Angelika BeerMatthias BerningerAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
EnthaltenSPDBarbara WittigCDU/CSULeo DautzenbergF.D.P.Hildebrecht Braun
Ernst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerJürgen W. MöllemannDirk NiebelCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleJürgen TürkDr. Guido WesterwellePDSDr. Dietmar BartschPetra BlässEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
6208 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
Wolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtManfred Müller
Kersten NaumannRosel NeuhäuserPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Bierling, Hans-Dirk, CDU/CSUDr. Götzer, Wolfgang, CDU/CSUDr. Lamers , Karl A., CDU/CSUMeckel, Markus, SPDDer Änderungsantrag ist damit abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungs-antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2071.Die F.D.P.-Fraktion verlangt namentliche Abstimmung.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, wiederdie vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnenbesetzt? – Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ichdie Abstimmung. –Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nichtabgegeben? – Das scheint nicht der Fall zu sein. Ichschließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Abstimmungunterbreche ich die Sitzung.
Wir set-zen die unterbrochene Sitzung fort.Ich gebe Ihnen das von den Schriftführern undSchriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Antrag der F.D.P.-Fraktion be-kannt: abgegebene Stimmen 618. Mit Ja haben gestimmt246, mit Nein haben gestimmt 332, Enthaltungen 40.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 617;davon:ja: 245nein: 332enthalten: 40JaSPDDr. Hermann ScheerCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierNorbert BarthleGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Wolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelNorbert GeisGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerPeter GötzKurt-Dieter GrillManfred GrundHorst Günther
Gottfried Haschke
Gerda HasselfeldtHansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterManfred KantherIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Erwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerElmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6209
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Friedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHeinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Birgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffClemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblMichael StübgenDr. Susanne TiemannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallAngelika VolquartzAndrea VoßhoffPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Gert WillnerKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerF.D.P.Hildebrecht Braun
Ernst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L.KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDirk NiebelCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleJürgen TürkDr. Guido WesterwelleNeinSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Klaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter Wilhelm DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausHans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
6210 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerHans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Angelika BeerMatthias BerningerAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
EnthaltenSPDKurt BodewigBarbara WittigCDU/CSUDietrich AustermannLeo DautzenbergAnke EymerDr.-Ing. Rainer JorkGerhard ScheuDr.-Ing. Joachim Schmidt
Michael von SchmudeDr. Rita SüssmuthPDSDr. Dietmar BartschPetra BlässEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtManfred Müller
Kersten NaumannRosel NeuhäuserPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Bierling, Hans-Dirk, CDU/CSUDr. Götzer, Wolfgang, CDU/CSUDr. Lamers , Karl A., CDU/CSUMeckel, Markus, SPDVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6211
(C)
(D)
Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.Wir kommen jetzt – wir befinden uns immer noch inder zweiten Lesung – zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf zur Fortführung der ökologischen Steuerreformin der Ausschußfassung. Wer der Beschlußempfehlungdes Ausschusses auf Drucksache 14/2027 Buchstabe azuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damitist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ange-nommen.Wir kommen nun zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Bevor wir zur Abstimmungkommen, will ich noch bekanntgeben, daß zur drittenLesung 47 fast identische Erklärungen1) und drei Ein-zelerklärungen der Kollegen Ulrich Adam, BarbaraWittig und Klaus Lennartz2) nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung vorliegen.Die SPD hat namentliche Abstimmung beantragt. Ichbitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätzeeinzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Das ist derFall. Ich eröffne die Abstimmung. –Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Sind jetzt alle Stimmenabgegeben? – Ich schließe die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wirdIhnen später bekanntgegeben.3)Wir setzen die Beratung fort. – Darf ich bitten, daßdie Plätze eingenommen werden, da wir zu weiteren Ab-stimmungen kommen, und zwar, wohlgemerkt, zu kei-nen namentlichen Abstimmungen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/2040. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist der Ent-schließungsantrag bei Zustimmung der PDS-Frak-tion gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen abge-lehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/2042. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist derEntschließungsantrag bei gleichem Stimmenverhältnisabgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der F.D.P. zur ökologisch wirklich1) Anlagen 4 und 52) Anlage 63) Seite 6213 Awirksamen Umstellung der Besteuerung ohne Mehrbela-stung für Bürger und Wirtschaft auf Drucksache 14/399.
Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2027unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf der F.D.P. aufDrucksache 14/399 abstimmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist derGesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt, und zwarbei Zustimmung der F.D.P., bei Gegenstimmen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Enthaltung vonCDU/CSU und PDS. Damit entfällt nach unserer Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.Ich gebe Ihnen das Ergebnis der letzten namentlichenAbstimmung später bekannt und rufe die Tagesord-nungspunkte 6 a bis 6 c auf: a) Erste Beratung des von der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer„Stiftung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“– Drucksache 14/2013 –Überweisungsvorschlag:
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieGründung „Stiftung Denkmal für die ermor-deten Juden Europas“– Drucksache 14/1996 –Überweisungsvorschlag:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN„Stiftung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“– Drucksache 14/2014 –Überweisungsvorschlag:
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6212 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
Das Konstrukt einer unselbständigen Stiftung dient alsvorläufige Einrichtung lediglich dazu, den Bundestags-beschluß zügig umzusetzen, so daß die Stiftung noch indiesem Jahr ihre Arbeit aufnehmen kann. Gleichzeitigbringen wir heute einen Gesetzentwurf zur Gründungeiner selbständigen Stiftung ein – im übrigen das gleicheVerfahren, das Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, bei der Errichtung des „Hauses der Ge-schichte“ in Bonn gewählt haben.Wir sind angesichts der über zehn Jahre währendenDiskussion aufgerufen, die Errichtung des Mahnmalsjetzt in Angriff zu nehmen.
Was wir nicht brauchen, ist ein neuer Streit. Wir solltenunsere eigentliche Absicht, als Land der Täter den Op-fern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einenOrt des Mahnens und Gedenkens zu errichten, nicht inden Hintergrund geraten lassen. Vergessen wir nicht,daß ein erneuter Streit die große Gefahr in sich birgt,unwürdig zu werden. Wir wollen das vermeiden.
Das Mahnmal darf kein Gegenstand der Profilschärfungund des Parteiengezänks sein. Es soll uns um die Sachegehen.
Lea Rosh hat uns – auch wenn vielleicht nicht jederimmer mit ihr einverstanden war – mit ihrer Argumen-tation vorgemacht, wie man sich für etwas, von demman überzeugt ist, einsetzen kann. Ohne sie und die an-deren Mitglieder des Fördervereins ständen wir heutenicht hier und würden wir jetzt nicht eine solche Stiftunggründen.
Ich bin überzeugt, daß wir hier und heute ein Zeichensetzen können. Der Bundestag hat beschlossen, daß dasMahnmal gebaut wird. Wir haben beschlossen, daß eineStiftung diesen Beschluß umsetzen soll. Also werdenwir diese Stiftung auch ins Leben rufen.Wir bitten deshalb den Bundeskanzler, per Erlaß zu-nächst eine unselbständige öffentlich-rechtliche Stiftungin seinem Geschäftsbereich zu errichten. Sie soll wäh-rend der Aufbauphase bis zum Inkrafttreten des Geset-zes den vorläufigen organisatorischen Rahmen abgeben.Zu bedenken ist: Der Beschluß vom Juni dieses Jah-res war nicht einstimmig, ist aber durch eine großeMehrheit zustande gekommen. Natürlich gibt es immer– auch bei Umsetzungen – Stimmen des Für und Wider.Unser Satzungsentwurf ist bei denen, die es angeht,weitgehend positiv aufgenommen worden. Die meistenvon denen, die in Kuratorium und Beirat vertreten seinwerden, warten nur darauf, daß wir endlich mit der Ar-beit beginnen können.
Wir sollten auch nicht vergessen, welches Bild wir imAusland abgeben. Der jahrelange Streit und die vielenDiskussionen um das Mahnmal sind nicht überall ver-standen worden. Als Kultur- und Außenpolitikerin sageich Ihnen, daß wir es nicht unterschätzen sollten, welcheWirkungen es hat, wie wir mit diesem Thema im Inne-ren umgehen.
Die Auseinandersetzung war und ist richtig und wichtig.Aber wir müssen jetzt zu Potte kommen.Wir werden ebenso einen Weg finden – auch das istin dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen –, deranderen Opfergruppen zu gedenken. Auch das war Be-standteil des Beschlusses vom 25. Juni dieses Jahres.
Wir müssen jetzt die Diskussion beenden, um in derUmsetzungsphase einen würdigen Ort des Gedenkensfür die ermordeten Juden zu schaffen. Unsere Entwürfeim Hinblick auf Satzung und Gesetz bieten dafür dierichtige Basis. Denn sie beziehen alle ein, sowohl dieje-nigen, die zum Mahnmal für die ermordeten Juden, alsauch diejenigen, die für andere Opfergruppen sprechenkönnen.Andreas Nachama, der Vorsitzende der jüdischenGemeinde hier in Berlin, mahnt zu Recht: Es ist „wich-tig, daß der kommende 27. Januar als Gedenktag für dieOpfer des Nationalsozialismus nicht noch einmal anVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6213
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(D)
dem Denkmal vorbeigeht“. – Ich denke, er hat recht, unddeshalb handeln wir heute.
Ich gebejetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zurdritten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-führung der ökologischen Steuerreform der FraktionenSPD und Bündnis 90/Die Grünen und der Bundes-regierung bekannt. Abgegebene Stimmen 620. MitJa haben gestimmt 331, mit Nein haben gestimmt287. Enthalten haben sich zwei Kolleginnen und Kolle-gen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 618;davon:ja: 331nein: 285enthalten: 2JaSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Monika Griefahn
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6214 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerHans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGila Altmann
Marieluise Beck
Angelika BeerMatthias BerningerAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
NeinSPDWerner LabschKlaus LennartzAlbrecht PapenrothJürgen Wieczorek
CDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelNorbert GeisGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerPeter GötzKurt-Dieter GrillManfred GrundHorst Günther
Gottfried Haschke
Gerda HasselfeldtHansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterManfred KantherIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Dr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6215
(C)
(D)
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHeinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffClemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblMichael StübgenDr. Rita SüssmuthDr. Susanne TiemannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallAngelika VolquartzAndrea VoßhoffPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Gert WillnerKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerF.D.P.Hildebrecht Braun
Ernst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDirk NiebelCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleJürgen TürkDr. Guido WesterwellePDSDr. Dietmar BartschPetra BlässEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtManfred Müller
Kersten NaumannRosel NeuhäuserPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfEnthaltenSPDDr. Mathias SchubertBarbara WittigEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Bierling, Hans-Dirk, CDU/CSUDr. Götzer, Wolfgang, CDU/CSUDr. Lamers , Karl A., CDU/CSUMeckel, Markus, SPDDer Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Wir fahren in der Beratung des Tagesordnungspunk-tes 6 fort. Der nächste Redner ist der KollegeDr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Themen, diesich für den im allgemeinen unvermeidlichen und not-wendigen Streit der Parteien und Fraktionen wenig eig-nen.
Der Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte, dieWahrung der Erinnerung an entsetzliche Verirrungenund Verbrechen gehören ganz gewiß dazu. Der Deut-sche Bundestag hat mit seiner Entscheidung vom25. Juni zur Errichtung eines Mahnmals für die ermor-deten Juden Europas seine Entschlossenheit dokumen-tiert, diese Verantwortung wahrzunehmen.Mit den jetzt eingebrachten Anträgen zur Gründungeiner Stiftung geht es um die Umsetzung dieses Be-schlusses, um nicht mehr und nicht weniger. Die Ent-scheidung in der Sache ist getroffen. Sie gilt für alle,auch für diejenigen, die in der Gestaltung oder Wid-mung des Mahnmals andere Akzente bevorzugt hätten.Deswegen möchte ich gleich zu Beginn sagen: Jedersollte auch nur den Verdacht vermeiden, daß er über das,Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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6216 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
was jetzt in der Abteilung „Umsetzung“ debattiert undbeschlossen wird, eigentlich eine Korrektur in der Sachebetreiben wolle.
– Ich nehme das mit Dankbarkeit zu Protokoll.
Ich möchte für die Unionsfraktion verdeutlichen, daßwir die Umsetzung – wie es auch bei der Sachentschei-dung damals war – mit dem Ziel einer möglichst einver-nehmlichen Lösung konstruktiv begleiten werden, daßwir allerdings die vorliegenden Anträge der Koalitionnicht für geeignet halten, diese breite Zustimmung zuermöglichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Antragspaketder Koalition, der Gesetzentwurf und der gleichzeitigbeantragte Regierungserlaß, ist sicher gut gemeint. Dar-an habe jedenfalls ich keinen Zweifel.
Aber es ist nicht gut gelungen und, wie ich finde, auchnicht gut durchdacht. Dies gilt sowohl für das Verfahrenals auch für den Inhalt.Ich will das durch einige Hinweise verdeutlichen:Erstens. Es gibt keinen Grund und schon gar keineüberzeugende Begründung, von der klaren Beschluß-lage des Deutschen Bundestages abzuweichen. Ich zitie-re den Beschluß des Bundestages: Es wird eine öffent-lich-rechtliche Stiftung gegründet, der Vertreter desDeutschen Bundestages, der Bundesregierung, des Lan-des Berlin und des Förderkreises zur Errichtung einesDenkmals für die ermordeten Juden Europas ange-hören. – Im weiteren geht es um die Besetzung vonGremien.Es gibt eine ganz unmißverständliche Festlegung desBundestages, wer die Stifter sind. Und genau diese Stif-ter sollen und müssen nun auch die Verantwortung imStiftungsrat bzw. Stiftungskuratorium übernehmen. Esgibt keinen wirklich überzeugenden Grund, sich mitwelchen Motiven auch immer – deren Ehrenhaftigkeitich überhaupt nicht in Zweifel ziehe – hinter anderen zuverstecken, wenn nun weitere, übrigens nicht unwichtigeund nicht unstreitige Entscheidungen getroffen werdenmüssen.Zweitens. Die Erweiterung des Kuratoriums über denKreis der Stifter hinaus schafft ganz sicher mehr Pro-bleme, als sie löst. Das sind allesamt Probleme, die vonvornherein vermeidbar sind. Wir müssen dann ohne NotEntscheidungen über die Auswahl der zu beteiligendenOrganisationen und über die Anzahl der dabei jeweils zuberücksichtigenden Vertreter treffen. Wir haben esschon jetzt, bevor das Ganze beschlossen ist, mit derEigendynamik eines solchen guten Willens zu tun: Ne-ben den vorgesehenen Organisationen melden sich an-dere, die unter Berufung auf die vorgesehene Berück-sichtigung ihrerseits Wert darauf legen, beteiligt zu wer-den.Daß sich der Deutsche Bundestag hier ohne Not indie Situation begibt, zwischen solchen interessierten undbetroffenen Organisationen im Kreis der Stifter eineAuswahl zu treffen, gehört zu den völlig überflüssigenKomplizierungen eines Entscheidungsprozesses, der oh-nehin hinreichend schwierig ist.
Im übrigen trägt dies zu einer Verwischung von politi-schen Verantwortlichkeiten bei, zu der wir gerade unterBerücksichtigung der Debatte, die der Deutsche Bun-destag damals geführt hat, keine Veranlassung haben.Drittens. Die Einbeziehung betroffener – im wörtli-chen wie im übertragenen Sinne – Organisationen undInstitutionen, insbesondere unserer jüdischen Mitbürger,ist natürlich dringend erwünscht, und sie kann im Beiratin angemessener Weise erfolgen. Hier besteht die Mög-lichkeit, den Sachverstand, das Interesse und das Mit-wirkungsbedürfnis in einer dem Gegenstand angemesse-nen Weise zu integrieren, ohne daß wir dies für die poli-tischen Entscheidungen in Anspruch nehmen müßtenund sollten, die im Kreis der Stifter getroffen werdenmüssen.
Viertens. Nach dem Vorschlag der Koalition wird derBeirat überflüssig, das Kuratorium dagegen überfor-dert. Das Kuratorium ist nach dem Vorschlag der Koali-tion in der Anzahl der Mitglieder zu groß und in der Be-setzung durch Vertreter von Verfassungsorganen bis zuVertretern von Museen – freundlich formuliert – sehrdiffus und in den Proportionen hoffnungslos verun-glückt.Wie man das Zahlenverhältnis zwischen Bundestagund Bundesregierung, zwischen dem Bund und demLand Berlin – ich will gar nicht vom Zahlenverhält-nis zwischen dem Land Berlin und dem Initiativkreis re-den –, das diesem Besetzungsvorschlag zugrunde liegt,in der Sache begründen will, werden wir vielleicht nochin dieser Debatte erfahren. Ich habe es bisher weder ausdem Text noch aus vorgetragenen Begründungen ablei-ten können.Fünftens. Mit der Bildung einer unselbständigenStiftung im Geschäftsbereich des Bundeskanzlers, diemit dem Antrag begehrt wird, wird eine ausdrücklicheBeschlußfassung des Bundestages ins Gegenteil ver-kehrt. Ich will daran erinnern, daß wir damals im Deut-schen Bundestag einen Antrag vorliegen hatten, dernach dem Grundsatzentscheid, ein solches Mahnmahl zuerrichten, ausdrücklich die Umsetzung dieses Beschlus-ses der Bundesregierung übertragen wollte. Dies hat derDeutsche Bundestag mit einer breiten Mehrheit zurück-gewiesen. Nun wird auf dem Erlaßweg genau das vorge-Dr. Norbert Lammert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6217
(C)
(D)
schlagen, was der Bundestag mit seiner Mehrheit nichtwollte.
Wenn der Staatsminister für Kultur und Medien – ichhabe es nicht selber gehört und kann es deswegen auchnicht beurteilen – im Deutschen Fernsehen erklärt, indiesem Kuratorium stünde – ich gebe das jetzt sinnge-mäß wieder, weil ich es, wie gesagt, nicht selber gehörthabe – die ganze Palette der Entscheidungsalternativenerneut zur Debatte –,
– wenn das nicht im Traum gesagt worden ist, nehmeich auch das ausdrücklich zu Protokoll –
– dann werden genau die Befürchtungen aktiviert, diemanche mit dieser Art von Konstruktion verbinden. Esbleibt der Sachverhalt, daß dies das Gegenteil dessen ist,was der Bundestag damals wollte.
Sechstens. Es ist überhaupt nicht die Notwendigkeiterkennbar, das Gesetzgebungsverfahren durch Erlaß zupräjudizieren. Es ist doch naiv, anzunehmen, das Gesetzkönne für Aufgaben und Zusammensetzung der Organenoch korrigierende Entscheidungen treffen, wenn dieseOrgane mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben bereitspraktisch beauftragt sind.
Hier müssen wir auch ehrlich miteinander umgehen.Deswegen ist eine solche Notwendigkeit nicht erkenn-bar, schon gar nicht dann, wenn es kein Einvernehmenüber die zu treffenden Abwägungen gibt.Wie Sie, Herr Kollege Stiegler, wissen, habe ich im-mer gesagt: Für mich ist die Frage, ob die Umsetzungper Erlaß oder Gesetz erfolgt, keine Grundsatzfrage. Da-zu stehe ich auch. Wenn wir uns darüber einig sind, waswir wollen, kann man das per Gesetz oder per Erlaß re-geln. Was aber natürlich nicht geht, ist, einen nicht vor-handenen Konsens durch autoritäre Setzung ersetzen zuwollen und den Gesetzgeber zum Nachvollzug einesRegierungserlasses aufzufordern. Das ist, mit Verlaubgesagt und ganz freundlich formuliert, unangemessen.
Eine letzte Bemerkung. Ich kann den Eilbedarf nichterkennen, der jetzt behauptet wird, schon gar nicht,nachdem die Koalition in den vier Monaten seit der Be-schlußfassung des Bundestages eine solche Eilbedürf-tigkeit offenkundig nicht gesehen hat.
Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, den wir ordentlich be-raten werden. Wir haben in dem für die Federführungvorgesehenen Ausschuß bereits verabredet, in der näch-sten ordentlichen Sitzungswoche diesen Gesetzentwurfzu beraten. Es liegt in der Hand der Mehrheit diesesHauses, bis zum Ende dieses Jahres das Gesetzgebungs-verfahren abzuschließen, wenn dies gewünscht wird.Die Notwendigkeit, vorher durch Erlaß scheinbar vor-läufig eine unselbständige Stiftung mit dem präzise glei-chen Auftrag zu betrauen, ist unter keinerlei Gesichts-punkten erkennbar.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn Ihnenan einer breiten Zustimmung für das gelegen ist, was wiram 25. Juni 1999 quer durch alle Fraktionen im Ergeb-nis mit einer deutlichen Mehrheit beschlossen haben,muß ich Sie herzlich bitten: Ziehen Sie den Antrag zu-rück und lassen Sie uns in Ruhe im Gesetzgebungsver-fahren das abwägen, was in Ruhe miteinander abzuwä-gen ist. Wir sagen die Bereitschaft zu einer sorgfältigenBeratung mit der Bereitschaft zum Konsens ausdrück-lich zu. Insofern stimmen wir der Überweisung der Ge-setzentwürfe zu. Wenn der Antrag aufrechterhaltenwird, müssen wir ihn aus den genannten Gründen ableh-nen.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LieberHerr Lammert, Sie haben ganz recht: Die Entscheidungin dieser Sache ist gefallen, und zwar am 25. Juni 1999.Sie ist nach einer sehr langen Vordebatte gefallen, diewiederum eine eigene Vorgeschichte hat. Diese langeDebatte vorweg war notwendig. Sie war in man-chen Teilen quälend. Aber es wurde die Entscheidung ander wichtigsten Stelle gesucht, die es in diesem Landgibt, nämlich beim Souverän im Deutschen Bundestag.Hier hat es eine breite Mehrheit für die jetzige Entschei-dung gegeben. Nach dieser Debatte wird niemand in derBevölkerung Verständnis haben, wenn es weitere Zeit-verzögerungen bei der Umsetzung dieses Beschlussesgibt.
Alles, was wir heute machen, erfolgt in dieser Absicht.Ich hatte gehofft, daß wir nach dieser Debatte, woalle das Gefühl hatten, es sei gut, daß es diese Entschei-dung jetzt gibt, aufhören würden, wieder Dinge zu sug-gerieren, die niemand will.Dieser Bundestag wird sich heute bei der Entschei-dung über diesen Antrag und bei den weiteren Entschei-dungen, die wir noch treffen wollen, ganz genau anWort, Buchstaben und Geist dieser Entscheidung halten.Das ist die Absicht unseres heutigen Vorgehens. Sichdaran zu halten heißt auch, nicht neue Möglichkeiten zuDr. Norbert Lammert
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6218 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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geben, wieder eine zweite und dann eine dritte Debattezu eröffnen.
Notwendig ist die formale Debatte. Die muß in denGremien dieser Stiftung geführt werden. Diese Debattewerden wir führen. Aber auch sie muß sich an die in-haltliche Vorgabe halten, die hier abgestimmt wordenist, nämlich zu sagen: Wir errichten ein Mahnmal für dieermordeten Juden Europas in der gestalterischen Form,die wir „Eisenmann II“ genannt haben, ergänzt um einenOrt der Erinnerung. Alle weiteren Debatten, die wir ge-führt haben, haben klargemacht, daß es sich schon ausfinanziellen Gründen, aber auch aus Respekt vor demEntschluß, der gefaßt worden ist, um eine kleine, umeine bescheidene Ergänzung handeln muß.Oft habe ich den Eindruck, als ob Sie mit dem immerneuen Schüren von Mißtrauen an dieser Entscheidungwieder in die inhaltliche Debatte gehen wollen. Dafürhat keiner Verständnis.
Jetzt kommt die Debatte um die Gremien. Es gibteine neue Entwicklung, nämlich eben jene, daß Vertreterdes Zentralrats der Juden und der jüdischen Gemeindeauch öffentlich ihre Bereitschaft erklärt haben, im Ku-ratorium dieser Stiftung mitzumachen. Niemand hätteVerständnis, wenn diese Bereitschaft ausgerechnet vonuns abgelehnt würde, indem wir sie in ein anderes Gre-mium integrieren.
Jetzt fragen Sie: warum erst eine unselbständigeStiftung und dann eine selbständige? Das war wiederumein Grund, neues Mißtrauen zu säen. Wir haben das sehrdeutlich gesagt. Wir wollen sehr, sehr schnell handeln.Unser Ziel ist, daß es schon am 27. Januar eine Grund-steinlegung geben kann. Wir haben aber gleichzeitiggesagt, um das Mißtrauen endlich aufzuheben, am glei-chen Tag, nämlich heute, wo wir diesen Erfolg beantra-gen, reichen wir zugleich den ersten Gesetzentwurf fürdie selbständige Stiftung ein. Das heißt, ab jetzt liegt esan Ihnen, liebe Damen und Herren aus der Opposition,das Ganze so schnell umzusetzen, daß es in kürzesterZeit von der unselbständigen zur selbständigen Stiftungkommt.
– Weil es von dem Gang der Debatten abhängt, die wirjetzt führen werden.
Deswegen haben wir heute diese erste Lesung. Sie kön-nen die Zeit, die Sie so fürchten – wo nämlich derStaatsminister für Kultur die Möglichkeit hat, mittelsseines Erlasses in den Gang der Debatte einzugreifen –,sehr verkürzen, indem wir sehr bald die zweite und diedritte Lesung haben und damit zu dem Ergebnis kom-men, das alle von uns erwarten.Der höchste Souverän hat in dieser Sache inhaltlichentschieden. Er hat auch gesagt, daß in Form einer Stif-tung über das formale weitere Vorgehen entschiedenwerden soll. Ich finde es nicht richtig, Herr Lammert,daß Sie, indem Sie eine neue Kategorie einführen – Siesagen, das eine sind die Stifter, das andere sind andereGruppen –, suggerieren, daß nicht ein einziges GremiumStifter ist, nämlich der Deutsche Bundestag in Vertre-tung der deutschen Bevölkerung.
Die haben entschieden, daß sie diese Stiftung wollen.Damit sind sie auch die Stifter.In der Ausgestaltung der Gremien folgen wir dem,was wir damals in dem Beschluß gesagt haben, daß wirnämlich eine möglichst breite Beteiligung wollen, insbe-sondere und mit großer Freude mit den Vertretern derjüdischen Organisationen, aber auch mit den Vertreternder Gedenkstätten.
Diese wollen, wie wir in der Vorphase sehr deutlich ge-merkt haben, ihren Beitrag für ein Gesamtkonzept lei-sten. Sie wollen nicht, daß innerhalb der verschiedenenInstitutionen neue Konkurrenzen entstehen.Ich finde, wir haben versucht, sehr zügig und imKonsens zu handeln. Herr Lammert, Sie wissen auch,wie viele Gespräche wir in den letzten Wochen geführthaben. Den Vorwurf, daß hier irgend etwas durchge-knüppelt wurde, daß wir nicht um Ihre Zustimmung ge-rungen haben, können Sie nicht ernsthaft aufrechterhal-ten.Aber es gibt auch eine Verpflichtung von uns, daszu tun, wozu uns der Beschluß vom 25. Juni beauftragthat. Ich denke, wir sollten das jetzt sehr schnell umset-zen. Dann werden wir im zweiten Zugriff diesen Ge-setzentwurf behandeln. Ich freue mich darauf, daß wiram Ende endlich das haben werden, worum es zehn Jah-re lang diese Debatte gegeben hat, nämlich ein Mahn-mal, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europasmitten in Berlin, ganz dicht an diesem Deutschen Bun-destag.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. setzt mit ih-rem Gesetzentwurf den Bundestagsbeschluß vom 25.Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6219
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Juni 1999 um. Das Interessante und das Schwierige ist,verehrte Frau Kollegin Vollmer, daß der Text jenes Be-schlusses vom Juni dieses Jahres ganz offensichtlichunterschiedlich gelesen werden kann. Jedenfalls ist dievon Ihnen suggerierte Eindeutigkeit nicht vorhanden.Solange man nicht das Vertrauen hat, daß alles richtigläuft – dieses Vertrauen machen Sie unter anderem mitIhrer dekretierten unselbständigen Stiftung zunichte –,muß man eben damit rechnen, daß etwas schiefläuft.Dem sollte das Parlament vorbeugen.
Ich will Ihnen gerne vorführen, weshalb aus unsererSicht die beiden von der Koalition vorgelegten Entwürfe– sowohl der Gesetzentwurf als auch der Antrag, daßman eine unselbständige Stiftung einschließlich Satzungerrichten solle – vom Verfahren her, aber auch inhaltlichdem ursprünglichen Bundestagsbeschluß nicht gerechtwerden.Das von Rotgrün geplante Verfahren, im Wege einesRegierungserlasses vorerst eine unselbständige Stiftungunter dem Regierungskulturbeauftragten zu errichten,steht weder mit dem Geist des Bundestagsbeschlussesnoch mit allen dazu gemachten feierlichen Bekundungenim Einklang.
In seiner ersten Regierungserklärung hatte Bundeskanz-ler Schröder noch versprochen – ich erinnere hieranausdrücklich, selbst wenn die Versprechungen des Bun-deskanzlers offenbar nicht so fürchterlich ernst genom-men werden dürfen –,
über das Holocaust-Mahnmal werde nicht per Exekutiv-beschluß, sondern im Bundestag entschieden.
– Nein, Sie wollen jetzt per Exekutivbeschluß die un-selbständige Stiftung errichten. Diese Stiftung muß dannall das, was in dem Text des Beschlusses vom Juni of-fengeblieben ist, ausfüllen.Zur Begründung ihres Vorgehens führt die Regierungbzw. die Koalition an, die Zeit bis zum 27. Januar, demGedenktag an die Opfer des Faschismus, sei zu kurz, umein ordentliches Gesetzgebungsverfahren durchzufüh-ren. Das ist so sicherlich nicht richtig; Herr KollegeLammert hat darauf schon hingewiesen.
Ich will noch einmal sagen: Falls überhaupt der 27.Januar 2000 realistischerweise für eine Grundsteinle-gung angestrebt werden könnte – ich bin da skeptisch;bis dahin müßte zum Beispiel auch das bauordnungs-rechtliche Verfahren durchgeführt werden –, wäre dasauch zu machen, wenn wir ein ordentliches, allerdingsengagiertes und zügiges Gesetzgebungsverfahren durch-führten.
Daß nun die Zeit knapp geworden ist, bestreitet nie-mand. Aber das hat jedenfalls nicht das Parlament zuverantworten, sondern die Koalition, die fast fünf Mo-nate ins Land gehen ließ, so daß sie jetzt hopplahopp dieVoraussetzungen schaffen muß.
Darüber hinaus will ich darauf hinweisen, daß dieVorschläge der Regierung auch inhaltlich nicht denWünschen des Bundestages entsprechen – so wie ichden Bundestagsbeschluß vom Juni lese. Der Bundestagist in seinem Mahnmalbeschluß von der Gleichgewich-tigkeit der Zuwendungsempfänger bei der Besetzungder Stiftungsorgane ausgegangen. Die von der Koaliti-on jetzt geplante Zusammensetzung des Gremiums istvöllig willkürlich. So soll das Beschlußorgan der Stif-tung – bei Ihnen heißt es Kuratorium, bei uns wird esStiftungsrat genannt – aus 23 Mitgliedern bestehen.Damit wird die erwünschte Drittelparität – Bund, Land,Förderkreis – seitens der Regierung bzw. der Koalitionaufgegeben. Neben sechs Drittmitgliedern kommt viel-mehr ein Verhältnis von 12 zu 3 zu 2 zustande, also eineeklatante Majorisierung durch den Bund.
Auch das kann nicht im Sinne einer breiten Fundierungdieser Stiftung sein.
Zudem: Je mehr Mitglieder ein Entscheidungsgremi-um hat, desto weniger kann dieses Gremium entscheiden– das ist ein altes betriebswirtschaftliches Phänomen –,weil dann kaum noch eine gemeinsame Linie erreichtwerden kann. Wenn man also wirklich handlungsfähigsein will, sollte man eher auf kleine Gremien setzen.Die in diesem Zusammenhang erhobene Behauptung,diejenigen, die nicht die Linie der Koalition verträten,wollten die jüdischen Organisationen nicht an der Aus-gestaltung des Denkmals beteiligen, ist schlicht absurd.Der Bundestag ist in seinem Mahnmalbeschluß nichtgrundlos davon ausgegangen, daß jüdische Organisatio-nen im Beirat vertreten sein sollen. Dies fordert hierauch die F.D.P mit allem Nachdruck. Denn das Denkmalsoll – insofern bestehen möglicherweise wirklich grund-sätzliche Unterschiede zwischen uns hinsichtlich derKonzeption – ein Denkmal der nichtjüdischen Deut-schen für die ermordeten Juden Europas sein.
Um es zuzuspitzen, sage ich ganz deutlich: Es soll einDenkmal der Täter für die Opfer sein. Das darf nichtverwischt werden. Es ist eine Frage der Verantwortlich-keit, die wir nicht dadurch auflösen können, daß wir anStelle der Stifter, eine Stelle derjenigen, die diesesDenkmal errichten, die Vertreter der jüdischen Mitbür-ger in das Beschlußorgan der Stiftung einbezögen. DasDr. Edzard Schmidt-Jortzig
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würde die Verantwortlichkeit der nichtjüdischen Deut-schen – der Täter – völlig verwischen. Das ist nicht imSinne des Konzepts, das wir beschlossen haben. Auchmein verstorbener, hochverehrter Parteifreund IgnatzBubis hat dies immer so vertreten und dazu erklärt, derZentralrat der Juden wolle sich aus Gründen klar umris-sener Verantwortlichkeit aus der Diskussion um dasMahnmal heraushalten.Die Einbeziehung von Vertretern jüdischer Organisa-tionen in das Beschlußorgan der Stiftung würde alsoeine tiefgreifende Änderung des vom Bundestag be-schlossenen Widmungszwecks des Mahnmals bedeuten.Auch deshalb kann dies nicht durch die Hintertür, perRegierungsdekret, erfolgen, sondern allenfalls durcheinen entsprechenden Beschluß des Parlaments selbst.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit!
Meine Da-
men und Herren, ich will nur noch darauf hinweisen,
daß der Entwurf der F.D.P. drei Besonderheiten auf-
weist: zum ersten, daß im Stiftungsrat Drittelparität
herrschen soll, zum zweiten, daß wir die jüdischen Or-
ganisationen ausdrücklich in den Beirat einbeziehen
wollen, und zum dritten, daß wir darauf dringen, daß
dies alles im Wege eines förmlichen Gesetzes erfolgt
und nicht am Parlament vorbei durch die Exekutive de-
kretiert wird.
Besten Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Juni
dieses Jahres hat der Bundestag die Errichtung eines
Denkmals für die ermordeten Juden Europas beschlos-
sen. Gleichzeitig wurde die Gründung einer öffentlich-
rechtlichen Stiftung zur Verwirklichung dieses Be-
schlusses festgelegt.
Meine Fraktion begrüßt es, daß der Zentralrat der Ju-
den in Deutschland und Repräsentanten jüdischer Ge-
meinden und Institutionen ihre Mitarbeit in Gremien der
Stiftung bereits grundsätzlich zugesagt haben. Aber das
Anliegen war und bleibt, daß die nichtjüdischen Deut-
schen den ermordeten Jüdinnen und Juden Europas ein
Denkmal setzen. Deshalb ist der Gesetzentwurf der
F.D.P. – Herr Kollege Schmidt-Jortzig hat ihn erläutert –
im Ansatz richtig, der der Koalition nicht.
Wir bitten darum, daß die Vertreterinnen und Vertre-
ter jüdischer Organisationen und Gemeinden dieses
Vorhaben im Bereich der Stiftung im Beirat begleiten.
Die Verantwortung im Kuratorium muß aber bei uns
bleiben.
Eine Verständigung zwischen den Fraktionen ist
ebenso möglich wie nötig.
Der Beschluß, über den heute abgestimmt werden soll,
würde sie allerdings unmöglich machen. Deshalb kön-
nen wir ihm nicht zustimmen. Bei zügiger Bearbeitung
der Gesetzentwürfe wäre es auch ohne diesen Beschluß
möglich, die symbolische Grundsteinlegung am 27. Ja-
nuar 2000, dem Gedenktag an die Opfer des Faschis-
mus, durchzuführen. Dies muß gemeinsames Ziel blei-
ben.
Außerdem setzen wir uns dafür ein, daß die Finan-
zierung des Denkmalbaus konkretisiert wird. Bis jetzt
heißt es im Gesetzentwurf der Regierungsparteien, daß
es um einen „jährlichen Zuschuß des Bundes nach Maß-
gabe des jeweiligen Bundeshaushalts“ geht. Diese vage
Angabe muß zumindest nach unten begrenzt werden.
Wir bitten, daß sich die Bundesregierung auf einen öf-
fentlich genannten Betrag festlegt.
Beschließen Sie heute bitte nichts, was die dringend
notwendige Verständigung erschweren könnte. Wir
sollten bei unserem Beschluß vom 25. Juni bleiben.
Als nächster hat das
Wort der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jetzt ge-führte Debatte mutet schon sehr eigenartig an.
Auf der einen Seite wird gefordert, daß die Entschei-dung sehr zügig getroffen werden müsse, damit dasVertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Themanicht weiter gemindert werde. Auf der anderen Seitewird gefordert, es müsse sehr sorgfältig nach einemKonsens gesucht werden. Wenn ich die vergangenenWochen und Monate richtig in Erinnerung habe, dannmuß ich feststellen, daß diejenigen, die sich auch schonzuvor – zum Teil über viele Jahre hinweg – für dasThema engagiert haben, einen partei- und fraktionsüber-greifenden Konsens gesucht haben. Über viele Wochensind zahllose Gespräche geführt worden, Herr Lammertund Herr Fink. Trotzdem gab es schlicht und ergreifendkein befriedigendes Ergebnis.
Deswegen hat die Koalition gehandelt. Deswegen habenwir einen Vorschlag unterbreitet. Ich habe überhauptnichts dagegen, daß die jetzige Debatte strittig geführtwird. Wir haben auch am 25. Juni in Bonn kein ein-stimmiges Votum herbeigeführt. Warum auch? Ein ein-stimmiges Votum ist angesichts des schwierigen The-Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6221
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mas auch nicht möglich. Aber das Taktieren nachPokermanier ist des Themas unwürdig.
Ich verstehe überhaupt nicht, welchen Popanz Siejetzt im Hinblick auf den Erlaß aufbauen. Sie tun gera-de so, als würden wir über den Erlaß ein TrojanischesPferd einführen. Sie tun so, als würde das Haus der Er-innerung wieder zur Debatte stehen und der Staatsmini-ster für Kultur der böse Bube sein, der in der Ecke steht.Diese Stigmatisierung dürfte Ihnen zumindest im Rah-men der Diskussion über die jetzt vorliegende Regelungnicht gelingen, denn die Bundesregierung wäre mit demKlammerbeutel gepudert, wenn sie nicht genau das um-setzte, was der Bundestag am 25. Juni beschlossen hatund was er in weiteren Beschlüssen fortzusetzen ge-denkt.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?
Selbstverständlich.
Herr Kollege
Roth, weil ich möglichst wenige Mißverständnisse im
Raum stehenlassen möchte, frage ich Sie: Könnten Sie
mir bitte sagen, wer nach Ihrem Eindruck bei der Um-
setzung des Bundestagsbeschlusses in Pokermanier tak-
tiert hat oder gegenwärtig in Pokermanier taktiert?
Das bisherige Ver-
fahren erinnert mich schon an das Taktieren bei dem
hinlänglich bekannten Kartenspiel, wenn ich daran den-
ke, daß sich Menschen, denen ich niemals vorwerfen
würde, sie hätten Böses im Sinn, Wochen und Monate
um eine gemeinsame Regelung in diesem Haus bemüht
haben und trotzdem kein Ergebnis zustande gekommen
ist. Deswegen bleibe ich bei dieser Formulierung.
Herr Kollege, lassen
Sie eine weitere Zwischenfrage zu?
Ja, natürlich.
Herr Lammert, Sie
können eine weitere Zwischenfrage stellen. Bitte sehr.
Ich hätte gerne
gewußt, ob Ihnen außer der Assoziation mit dem Kar-
tenspiel auch konkrete Namen einfallen.
Ich könnte zwarjetzt einige Namen nennen, aber das möchte ich liebernicht tun. Die Namen sind Ihnen sowieso bekannt; dennschließlich haben auch Sie zu denjenigen gehört, die anzahllosen Gesprächen teilgenommen haben. Ich muß Ih-nen also die Namen nicht nennen.
Wir sollten nicht weiter debattieren, sondern zügigund umgehend eine umfassende Entscheidung treffen.Das Verfahren, das die Koalition vorgeschlagen hat, istmeines Erachtens nicht nur legal, sondern auch legitim.Es hat derlei Verfahren auch früher schon gegeben. Icherinnere nur an das Verfahren beim Haus der Geschich-te. Diejenigen, die sich schon länger mit dem Stiftungs-wesen beschäftigen, wissen, daß es mitunter sehr langedauern kann, bis eine Stiftung arbeitsfähig ist. Ich sehehier keinesfalls einen revolutionären Aufstand im politi-schen Hühnerstall, der vom Oberhahn Michael Nau-mann angeführt wird. Vielmehr ist hier ein ernsthaftesBemühen in der Sache festzustellen.Ich habe auch Vertrauen in die handelnden Perso-nen. Ich habe Vertrauen zu Frau Süssmuth, ich habe zuallen Vertrauen, die sich an den parlamentarischen In-itiativen beteiligt haben. Sie aber bringen dem Ministerbzw. der Bundesregierung scheinbar kein Vertrauen ent-gegen, obwohl die Inhalte doch in den Vorschlägen undAntragsentwürfen der Koalition festgezurrt worden sind.Ich bin auch etwas enttäuscht über Ihre Kritik. Manmag mir das vorhalten, weil ich dem Hohen Haus nochnicht so lange angehöre und noch stolz darauf bin, Bun-destagsabgeordneter zu sein. Die starke Stellung desBundestages ist vor dem Hintergrund, daß er am 25. Junientschieden hat, nur konsequent.
Wir sind doch nicht der Ortsbeirat von Posemuckel, wirsind das höchste Verfassungsorgan. Es ist eine unserervornehmsten Aufgaben, an zentralen Entscheidungenmitzuwirken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nocheine letzte Anmerkung zu dem aus meiner Sicht großarti-gen Angebot der jüdischen Institutionen machen, uns beidieser schwierigen Arbeit hilfreich zur Seite zu stehen.
Herr Lammert, ich frage Sie, ob Sie die Jüdische Ge-meinde zu Berlin und den Zentralrat der Juden nicht da-beihaben wollen.
Ich weiß nicht, was die Konsequenz sein soll. Wenn esein Angebot gibt, sollten wir es auch annehmen.
Michael Roth
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6222 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Das würdige Gedenken aller anderen Opfergruppen –es gibt ja leider eine große Zahl weiterer Gruppen – wirddadurch gewahrt, daß im Beirat neben den Vertreternder Gedenkstätten etliche andere Gruppen vertreten seinwerden. Jetzt muß die Stiftung endlich ihre Arbeit auf-nehmen. Deshalb müssen wir jetzt hier und nicht an-derswo entscheiden.
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich habe schon ein eigen-
tümliches Gefühl bei der Art und Weise, wie hier die
Seiten verkehrt werden. Man hat plötzlich einen Prügel-
knaben gefunden, der angeblich alles vereitelt, und es
wird alles verdreht.
Daß wir erst heute über die ,,Stiftung Denkmal für die
ermordeten Juden Europas“ beraten – soviel Fairneß
müßte unter den Beteiligten eigentlich noch bestehen –,
hat damit zu tun, daß es erhebliche Probleme bei der
Vorbereitung gegeben hat. Dabei ging es um die Frage,
ob die öffentlich-rechtliche Stiftung per Erlaß oder per
Gesetz ins Leben gerufen wird. Da Herr Roth eben die
vielen Gespräche angeführt hat, wollen wir doch Roß
und Reiter beim Namen nennen. Es ging beispielsweise
sehr massiv um die Beteiligung der Initiative. Da sind
viele Gespräche geführt worden, zum Teil intern und
zum Teil öffentlich. Wäre das so klar gewesen, wäre die
Stiftungsgesetzgebung schon früher ins Spiel gekom-
men.
Erhebliche Meinungsverschiedenheiten hat auch die
Frage ausgelöst, wie das Verhältnis zwischen Stif-
tungsrat und Beirat ist. Auch hierbei geht es um die
Beteiligung der jüdischen Organisationen. CDU-
Kollegen wie Herrn Lammert zu beschimpfen und ihm
Vorhaltungen zu machen, das halte ich nun wirklich für
eine Verdrehung.
– Entschuldigung, es wurde hier gesagt, er wolle offen-
bar die jüdischen Organisationen nicht dabeihaben. Es
ist lächerlich, ihm so etwas überhaupt zu unterstellen.
Nun halte ich folgendes fest:
Erstens. Natürlich geht es uns nicht darum, daß es zu
diesem wichtigsten Punkt einen Erlaß gibt. Auch Herr
Lammert hat im Ausschuß wie hier gesagt, wenn Ein-
vernehmen wie beim „Haus der Geschichte“ bestehe,
könne es reibungslos über die Bühne gehen.
Sollte kein Einvernehmen erzielt werden können, könnte
man das Gesetz nicht mehr ändern, sobald die Institutio-
nen besetzt sind. Das ist eine sehr plausible Erklärung.
Zweitens. Vorhin ging es darum, wer hier irgend et-
was verhindert. Die Stiftung soll gar nicht verhindert
werden. Sie soll nur gemäß dem Beschluß vom 25. Juni
ins Leben gerufen werden.
Drittens. Die Frage ist berechtigt, wie die jüdischen
Organisationen einzubeziehen sind, wenn es um ein
Mahnmal der Täter für die Opfer geht. Die Frage lautet
konkret, ob diese Organisationen in der Stiftung oder im
Beirat mitwirken.
– Eben drum!
Ich gehe weiter und sage: Wenn man sich die Auf-
teilung der Gruppen anschaut, dann fragt man sich,
was der Beirat in der nächsten Zeit tun soll. Denn in
ihm sind ausschließlich nichtjüdische Organisationen
vertreten.
Ich habe große Probleme damit, daß wir eine solche
Zweiteilung erneut vornehmen.
Frau Dr. Süssmuth,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Aber gerne.
Bitte sehr, Frau
Kollegin.
Frau Süssmuth, ich gehe davon aus, daß Sie genau wieich mit Herrn Bubis gesprochen haben, der immer ge-sagt hat: Es ist Sache der Täter und der Kinder der Täter,ob sie eine solche Gedenkstätte wollen oder nicht. Ist esdenn nicht ein unglaublich gutes Zeichen, wenn jetztdeutsche Juden und jüdische Organisationen und auchdie jüngere Generation sagen: „Wir sind Deutsche, undwir als Opfer oder als Kinder der Opfer wollen nichtnoch einmal ausgegrenzt werden, wenn es auch viel-leicht gut gemeint ist, sondern teilhaben und diese Ge-denkstätte als deutsche Juden in Deutschland mittra-gen“? Ich muß sagen: Ich habe mich unglaublich ge-freut. Ich verstehe nicht, daß jetzt solche Bedenkenkommen. Sind Sie nicht der Meinung, daß es eine un-glaublich noble Geste ist, wenn die deutschen Juden dieMichael Roth
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6223
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Kraft aufbringen und sagen: „Ja, wir wollen das mittra-gen; das ist auch unser Denkmal“?
Der Zentralrat der
Juden und jüdische Gemeinden haben sich immer an der
Diskussion um dieses Mahnmal mittelbar beteiligt –
auch wenn Ignatz Bubis oft erklärt hat, daß das eine An-
gelegenheit der Deutschen sei –, mal mit Befremden,
mal mit Zustimmung. Jetzt fragen Sie: Ist das nicht ein
nobles Zeichen?
Es hat niemand in Frage gestellt, daß die Juden an
den Stiftungsgremien beteiligt werden sollen. Das halte
ich noch einmal fest. Die unterschiedlichen Auffassun-
gen beziehen sich darauf, wie man die beiden Gruppen
von Opfern auseinanderdividiert. Daß man das nicht
nüchtern miteinander diskutieren darf, verstehe ich
nicht. Ich habe Probleme damit, daß wir wieder zwei
Klassen von Opfern bilden.
Nun ist vorhin gerufen worden: Das entscheidet der
Stiftungsrat. – Die Gruppen sind in der Begründung zu
§ 7 des Gesetzes ausdrücklich genannt. Es ist keine jüdi-
sche Organisation dabei. Sie sind alle im Stiftungsrat.
Ich frage mich: Was soll eigentlich der Beirat, der den
Stiftungsrat beraten soll, tun? Offenbar ist der Beirat mit
der bisherigen Besetzung dazu gedacht, daß er sich Ge-
danken über Mahnmale für andere, nichtjüdische Opfer
macht. Es ist durchaus berechtigt, die Frage zu stellen,
ob diese Aufteilung der Opfergruppen eine sinnvolle ist.
Ich finde, das muß auch im Parlament möglich sein.
Nun hat die Kollegin
Vollmer den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Bitte.
Liebe Frau Kollegin Süssmuth, sind Sie nicht der Mei-
nung, daß das, was wir jetzt machen, insofern eine ge-
naue Konsequenz unseres Beschlusses ist, als wir da-
mals beschlossen haben, ein Mahnmal für die ermorde-
ten Juden Europas zu schaffen? Wir haben uns damals
dazu durchgerungen, obwohl es auch Leute gegeben hat,
die gesagt haben: Warum macht ihr nicht ein Mahnmal
für alle Opfer? Diese Entscheidung, daß dies ein Mahn-
mal für die Juden Europas sein soll, macht selbstver-
ständlich auch die besondere Stellung der jüdischen
Teilnehmer in diesem Kuratorium aus.
Zum zweiten. Es wird immer Ignatz Bubis zitiert. Ich
finde, er wird inzwischen – –
Eigentlich sollen Sie
eine Frage stellen, Frau Kollegin.
Ich habe Frau Süssmuth gefragt, ob sie nicht der Mei-
nung sei, daß das, was wir jetzt machen, eine Konse-
quenz dieses Beschlusses sei. Wir haben in diesem Be-
schluß gesagt: Dieses Mahnmal wird für die ermordeten
Juden Europas errichtet und nicht für alle anderen Op-
fergruppen. Wir haben aber gleichzeitig gesagt, daß wir
uns verpflichten, auch für die anderen Opfergruppen
Mahnmale zu schaffen. Genau dies ist jetzt auch in den
Gremien ausgedrückt.
Übrigens, man darf in einer Zwischenfrage auch Be-
merkungen machen und nicht nur fragen.
Dann macht man
eine Kurzintervention.
Ich lasse gerne alles
zu. Aber wir wollen ein bißchen darauf achten, daß die
anderen Tagesordnungspunkte irgendwann auch noch
aufgerufen werden können. Deswegen habe ich ganz
sanft eine Mahnung ausgesprochen.
Jetzt hat noch immer die Kollegin Vollmer das Wort.
Ignatz Bubis hat wörtlich gesagt: Wir Juden brauchen
dieses Mahnmal nicht, weil wir unsere Opfer in Erinne-
rung haben. Diese Aussage unterscheidet sich von der
Behauptung, das Mahnmal habe nur mit den Tätern zu
tun. Ignatz Bubis hat gesagt: Wir brauchen es nicht.
Wenn sich die jüdischen Teilnehmer jetzt dazu bereit
finden, uns in der formalen Umgestaltung zu helfen,
dann ist das, wie ich finde, ein wunderbares Angebot
und hat mit dem Widerspruch zu dem, was Ignatz Bubis
gesagt hat, überhaupt nichts zu tun.
Gibt es weitere
Wünsche nach Zwischenfragen oder nach einer Kurzin-
tervention? – Das ist nicht der Fall. Frau Kollegin Süss-
muth, fahren Sie fort. Aber erst beantworten Sie bitte die
Frage. Solange halte ich Ihre Redezeit an.
Auf die Frage, obes nicht konsequent wäre, daß die Juden am Mahnmalfür die jüdischen Opfer beteiligt werden, kann ich nurschlicht antworten, was ich eben schon einmal gesagthabe: Das ist die ganze Zeit geschehen.Es geht hier übrigens nicht um Beteiligung oderNichtbeteiligung; vielmehr geht es darum, wie die Stif-tung aufgebaut ist, wo wir die Akzente setzen und wodie Prioritäten liegen. Der Streit dreht sich um denUmgang mit den Opfergruppen. Sie sagen: Da wir unsauf das Mahnmal für die jüdischen Opfer festgelegt ha-ben, nehmen wir die einen in das Entscheidungsgremi-um und die anderen in das Beratungsgremium. Ich wie-Christa Nickels
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6224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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derhole: Der Dissens besteht nicht hinsichtlich der Be-teiligung der jüdischen Opfergruppen und ihrer Institu-tionen; vielmehr besteht der Dissens hinsichtlich derGewichtung der Gremien. Wir sind über die Auslegungdes Bundestagsbeschlusses unterschiedlicher Meinung.Ich sage noch einmal: Ich habe erhebliche Probleme mitder erneuten Aufteilung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Opfergruppen in den verschiedenen Gremien.
Dieses Thema muß im Bundestag diskutiert werdenkönnen. Es kommt nicht von ungefähr, daß, wie wir ausden verschiedenen Fraktionen gehört haben, mehrereAbgeordnete mit diesem Ansatz Probleme haben. In denBeratungen wird die Diskussion darüber weitergehen.Ein Mißverständnis möchte ich allerdings heuteabend ausräumen. An der schnellen Umsetzung des Be-schlusses vom 25. Juni sind alle Fraktionen in gleicherWeise interessiert. Es ist nicht unser Versäumnis, daßwir erst heute die Frage der Stiftungserrichtung diskutie-ren. Ich wünsche mir, daß wir in den beratenden Aus-schüssen zu Ergebnissen kommen, welche die Frage,wer beteiligt wird, welche Gewichtung man bei der Be-teiligung vornimmt und in welcher Weise die Beschlüs-se aufgehalten werden, nicht weiter aufwerfen. Ich wün-sche mir, daß wir diesen Gesetzentwurf bis zum 27. Ja-nuar 2000 verabschiedet haben.
Das Wort hat nun
Staatsminister Dr. Naumann.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!In dieser Diskussion – auch in der heute abend – werdensemantische Schwierigkeiten im Umgang mit der deut-schen Geschichte manifest. Aber, Herr Lammert, eswerden auch Insinuationen, zum Beispiel über angebli-che Äußerungen von mir im Fernsehen, mitgeschleppt.Von diesen meinen Äußerungen sagen Sie gleichzeitig,daß Sie sie nicht belegen können. Ohne mit der Wimperzu zucken, fahren Sie aber mit der Behauptung fort, daßsolche Bemerkungen dazu angetan seien, Mißtrauen zusäen. Nur eines von beiden geht.Die Wahrheit ist, daß der Bund in der vorgesehenenBesetzung des Kuratoriums keineswegs, so wie Siesagen, das Übergewicht hat. Wenn Sie mit „Bund“ dieBundesregierung meinen – der Wähler und die Öffent-lichkeit verstehen das so –, dann muß ich Ihnen sagen,daß nur 2 von 23 Mitgliedern vorgesehen sind, die derBundesregierung angehören.
– Ach, Sie haben das kritisch angesprochen? Das heißt,Sie stoßen sich an dem Übergewicht des Förderkreiseszur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten JudenEuropas mit drei Mitgliedern? Dieses Erstaunen teilenwir allerdings beide. Aber Tatsache ist, daß wir heutehier im Bundestag eben auch über dieses Kuratoriumund über diesen Beirat diskutieren.
Ich um so mehr, als ja gerade der Förderkreis in der hei-ßen Phase der Mahnmal-Diskussion zu Ihren, auch zuFrau Süssmuths engsten Verbündeten zählte. Sich jetzthier öffentlich indirekt gegen seine Partizipation imletzten Entscheidungsforum auszusprechen ist schon einstarkes Stück.Nachdem ich dieses gesagt habe, möchte ich noch et-was anderes kurz anmerken: In dem Kuratorium wirdganz selbstverständlich – das wird hier im Gespräch einwenig vermieden – auch darüber diskutiert werden müs-sen, wie groß oder klein und wie teuer der Ort der Infor-mation wird und welche Funktion er haben soll. Selbst-verständlich bringt auch der Vertreter der Bundesregie-rung – es ist noch gar nicht ausgemacht, ob das Naumannist oder irgend jemand anders – seine Meinung mit derIntention in die Diskussion ein, daß dort etwas beschlos-sen wird, was dem Geist der Bundestagsdebatte ent-spricht. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, daß die Er-richtung eines Hauses der Erinnerung durch eine Listemit Unterschriften von über 168 Abgeordneten aus allenFraktionen in der Debatte Unterstützung gefunden hatte.Wenn nun heute dieser Ort der Information – davon geheich doch aus – nicht im entferntesten die Dimensionenhaben wird, die der ursprüngliche Vorschlag von mir undPeter Eisenman vorsah, dann ist das für mich kein Aus-druck einer politischen Niederlage, sondern Ausdruck despolitischen Willens des Bundestages, der sich in den Be-ratungen des Kuratoriums widerspiegeln wird.
Zuletzt noch dies, Frau Süssmuth und Herr Lammert:Ich finde, es wird allerhöchste Zeit, daß wir den Begriffdes Volkes der Täter in Quarantäne schicken. Er taugtnicht, da er erstens in seiner Verschwommenheit einenVolksbegriff insinuiert, von dem sich dieses Land längstverabschiedet hat, und zweitens ganz zu Unrecht auchdiejenigen einschließt, die nach dem Ende des DrittenReiches in dieses Land eingewandert sind. Dazu zählenderzeit etwa 70 000 russische Juden, die in Deutschlandleben und von denen viele bereits deutsche Pässe haben.Zählen die auch zum Volk der Täter? Wer zählt denn ei-gentlich zum Volk der Täter? In Wahrheit müßte man,wenn man von einem Volk der Täter spricht, logischer-weise auch von einem Volk der Opfer sprechen.
Das Volk der Opfer ist zweifellos nicht damit einver-standen, als Volk der Opfer bezeichnet zu werden. Spre-chen Sie doch einmal mit den deutschen Juden. Siekommen in Teufels Küche,
Dr. Rita Süssmuth
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6225
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(D)
wenn Sie versuchen, mit dieser Art von Semantik imGrunde genommen moralische Positionen zu besetzenund aus denen heraus dann politisch zu argumentieren.
Herr Staatsminister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Süss-
muth?
D
Ich möchte ganz kurz den Gedanken zu Ende
führen, das dauert ein paar Sekunden; dann aber gerne.
Schließlich fühlt sich die junge jüdische Gemeinde
Deutschlands keineswegs aus der deutschen Gesellschaft
ausgeschlossen und nimmt als aktives und nicht als zu-
schauendes Mitglied am deutsch-jüdischen Dialog teil.
Es ist ein außerordentlicher Fortschritt, daß der Zentral-
rat und die Jüdische Gemeinde dieser Stadt bereit sind,
in wichtigen Institutionen an der Ausgestaltung eben
dieses Mahnmals und des Ortes der Information teilzu-
nehmen; dieses ist zu begrüßen.
Jetzt kommt die
Frage der Kollegin Süssmuth.
D
Hier jetzt zu sagen – –
Sie haben von Se-
kunden gesprochen, die Sie, Herr Staatssekretär, noch
reden wollten. Das ist ein weiter Begriff. Es wäre, wie
ich glaube, am besten, wenn jetzt die Kollegin Süssmuth
Gelegenheit hätte, ihre Zwischenfrage zu stellen. Bitte
sehr.
Herr Minister, Ihre
Forderung, der Begriff „Volk der Täter“ müsse getilgt
werden –
D
Nicht getilgt, sondern in Quarantäne ge-
schickt.
– eine Quarantäne
dient dazu, daß der Bazillus ausgemerzt wird –,
D
Das ist etwas anderes.
– veranlaßt mich
zu der Frage, ob Sie es allen Ernstes für richtig halten,
hier ein semantisches Spiel zu betreiben. Es geht um
Täter und Opfer.
Niemand von uns will auch die noch zu Opfern machen,
die keine Opfer sind. Deswegen laßt uns doch bei einer
klaren Sprache bleiben. Warum sollte jetzt die Sprache
auch noch vernebelt werden?
Zum zweiten frage ich Sie: Wem unterstellen Sie
eigentlich, daß er gegen die Beteiligung des Zentralrats
der Juden in Deutschland, der Jüdischen Gemeinde, des
Jüdischen Museums ist? Ich möchte wissen, wem Sie
das unterstellen und aus welchem Grund.
D
Frau Professor Süssmuth, ich unterstelle gar
nichts. Sie und Herr Lammert haben klipp und klar ge-
sagt, daß dies ein Denkmal ist, gebaut vom Volk der
Täter.
Wovon reden wir denn, wenn wir von der Erweite-
rung des Kuratoriums reden? Wir reden doch in erster
Linie genau von diesen Gruppen, die jetzt in dieses Ku-
ratorium hinein sollen, nämlich den jüdischen Gruppen.
Weil dies so ist, so sagten Sie doch, wäre eine solche
Erweiterung des Kuratoriums unter anderem auch
eine Verfälschung des ursprünglichen Beschlusses des
Bundestages. Das ist doch Ihr Argument. Wenn es das
nicht ist, dann sind wir uns einig; dann reden wir nicht
mehr darüber, daß das Kuratorium um diese Gruppen
erweitert wird. Dann ist alles in Ordnung. Dann wäre ich
sehr dankbar. Das ist der Sinn meiner Rede.
Vielen Dank.
D
Ich danke Ihnen.
Als letzter Redner indieser Debatte hat der Kollege Eckhardt Barthel von derSPD das Wort.
– Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. Wenn Siegestatten, Herr Barthel, gibt es noch eine Kurzinterven-tion von Herrn Schmidt-Jortzig, auf die Sie antwortenkönnen, Herr Staatsminister.Bitte sehr.Staatsminister Dr. Michael Naumann
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6226 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
Ich wollte
Sie, verehrter Herr Staatsminister, nur darauf hinweisen,
daß wir in dem Beschluß vom 25. Juni dieses Jahres
festgestellt haben, daß die Vertreter der jüdischen Orga-
nisationen in den Gremien der Stiftung vertreten sein
sollen. Ich möchte Sie gleichzeitig daran erinnern, daß
Sie selbst in dem Entwurf der Koalition drei Gremien
dieser Stiftung vorsehen: den Vorstand, das Beschluß-
gremium – bei Ihnen Kuratorium genannt – und den
Beirat. Sie können also nicht die Diskussion um eine
Beteiligung der jüdischen Verbände in den Gremien
willkürlich nur darauf konzentrieren, wer in das Kurato-
rium kommt. Das Entscheidende bei den Stiftungsor-
ganen ist, daß wir ein Trägerorgan haben, nämlich das
Kuratorium, und ein weiteres Organ, das ihn beraten
soll, nämlich den Beirat. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis,
daß niemand die jüdischen Organisationen aus den
Gremien der Stiftung heraushalten will,
sondern daß es nur darum geht, sie vernünftig und rich-
tig dem Konzept der Stiftung, wie wir es im Bundestag
beschlossen haben, entsprechend zuzuordnen. Wer diese
Unterscheidung nicht nachvollziehen kann, sollte sich
auch mit solchen großen Vorwürfen heraushalten: Die-
jenigen, die nicht Ihre Konzeption mitmachen, wollten
die jüdischen Organisationen ganz heraushalten. – Das
finde ich infam.
Herr Staatsminister,
wollen Sie antworten? – Bitte sehr.
D
Herr Abgeordneter, infame Unterstellungen
sind mir von Natur aus fremd. Wenn Sie auf den Verlauf
der Debatte zurückschauen, so stellen Sie fest: Es gab
unendlich viele Auslassungen, auch speziell aus dem
Förderkreis. Es wurde gesagt, daß dies ein Denkmal ist,
das wir für die ermordeten Juden in Deutschland bauen,
und daß die uns mit ihren Interventionen in Ruhe lassen
sollten. Das kann ich Ihnen mit zahllosen Zitaten bele-
gen.
Wir sind aber heute in einer anderen Situation. Dies
ist nicht nur ein semantischer, sondern auch ein gesell-
schaftlicher Fortschritt, der gar nicht hoch genug einge-
schätzt werden kann.
Das Kuratorium ist das Entscheidungsgremium eines
der bedeutendsten Bauwerke, die in dieser Republik ge-
baut werden sollen: das Mahnmal. Daß die Nachfahren
derjenigen, die zum Ziel des Holocaust erklärt worden
sind, bzw. die Nachfahren der Überlebenden und die
Davongekommenen uns anbieten und sagen, daß sie bei
der Gestaltung übrigens auch des Orts der Information
mitsprechen, daß sie bei der Vernetzung der Institution
mit ähnlichen Gedenkstätten mitsprechen wollen – und
das an entscheidender Stelle –, ist für mich buchstäblich
ein Durchbruch des deutsch-jüdischen Dialogs. Das hat
es in dieser Form nicht gegeben.
Sprechen Sie doch einmal mit Korn und mit Nachama
und fragen Sie sie, warum sie im Gegensatz zu Bubis so
handeln! Bubis hat in der Tat – ich habe oft mit ihm
darüber geredet – über dieses Thema gesprochen. Aber
er hat aus Gründen, die nachzuvollziehen sind und die in
seiner Biographie liegen, gesagt: An den entscheidenden
Gremien nehme ich nicht teil.
Die nächste Generation nimmt teil. Um es ganz klar
zu sagen: Sie ist gewissermaßen im ernsten Kern des
deutsch-jüdischen Dialogs auf politischer Ebene ange-
kommen. Nun zu sagen: „Aber wir wollen euch nicht
mit entscheiden lassen“ wäre nicht nur unfair, sondern
meines Erachtens ein politischer – nicht nur ein partei-
politischer – Rückschritt für uns alle. Darum wünschte
ich mir, Herr Abgeordneter, daß Sie Ihren Widerstand
gegen den Vorschlag der Regierungskoalition aufgeben
und daß Sie die Debatte über die Gestaltung des Mahn-
mals in genau das Stiftungsgremium verlagern, das da-
für geschaffen werden soll – in das Kuratorium.
Danke.
Nun hat der Kollege
Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort.
Meine Damenund Herren! Für alle diejenigen, die nicht Mitglied imKulturausschuß sind und die nicht die Debatte im letztenJahr verfolgt haben, zeigt die jetzt geführte Debatte umdie Besetzung des Kuratoriums, wie schwer doch dieAufgabe ist, die wir uns vorgenommen haben. Abgese-hen von kleinen Ausrutschern, hatten wir doch trotz allerGegensätze in den Positionen eigentlich immer eine fai-re Auseinandersetzung. Ich glaube, eine andere Art derAuseinandersetzung wäre dieses Themas nicht würdig.Dabei sollte es bleiben.
Wenn ich von der Schwere der Aufgabe spreche, diewir uns aufgeladen haben – ich möchte fast sagen: dieman dem Deutschen Bundestag aufgeladen hat –, dannheißt das aber nicht, daß wir diese Diskussion jetzt nochlänger fortführen können. Auch an dem heutigen Tagewurde immer wieder die Frage beschworen: Wie kommtdas in der öffentlichen Meinung an? Ich möchte dieAntwort ganz vorsichtig formulieren: Das öffentlicheInteresse an der Diskussion über das Denkmal für dieermordeten Juden Europas ist außerordentlich gering.Man kann inzwischen von einem Desinteresse sprechen.Es wird bei diesem Desinteresse bleiben, wenn wir jetztnoch länger die Frage der Besetzung des Kuratoriums zuder Kernfrage machen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6227
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Meine Angst ist – das sage ich ganz offen –, daß dasDesinteresse an der Diskussion über das Denkmal in einDesinteresse an dem Denkmal selbst umschlagen könn-te. Das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte.Deswegen, meine Damen und Herren von der Oppositi-on, sind wir sehr daran interessiert – in diesem Punktsind wir uns einig –, nicht nur den Beschluß vom25. Juni aufrechtzuerhalten, sondern noch einen Schrittweiterzugehen: Wir wollen ihn nun endlich realisieren.Das ist der Grund, warum wir dieses Verfahren gewählthaben, sowohl per Gesetzentwurf als auch per Erlaßendlich mit der Arbeit anfangen zu können.
Wir berufen uns immer auf unseren Beschluß vom25. Juni. Dort steht, daß in diesem Jahr die Stiftung ge-gründet wird und daß im Jahr 2000 die Bauarbeiten be-ginnen sollen.
Wir haben uns das große Ziel gesetzt – ich sagte bereits,daß ich dies für sehr ehrgeizig halte –, am 27. Januar denGrundstein zu legen. Daher müssen wir jetzt zu einerEntscheidung kommen. Das ist unser Anliegen. DenWeg, den wir beschrieben haben und der auch für michneu ist, halte ich für adäquat, um die Ziele, die wir unsvorgenommen haben, zu erreichen.
Es ist der Zeitfaktor, der uns erdrückt. Ich als BerlinerAbgeordneter kenne die Örtlichkeiten gut. Wir brauch-ten sieben Jahre, um fünfhundert Meter vor dem Ort desDenkmals eine ganze Stadt am Potsdamer Platz hochzu-ziehen. Aber nach 10 oder gar 15 Jahren Diskussion istnoch nicht einmal der Grundstein für dieses Denkmalgelegt. Daß daraus langsam Ernüchterung erwächst, istmir völlig klar. Deswegen sollten wir ganz schnell zueiner Entscheidung kommen.Ich will zur Frage des Kuratoriums noch ein paarSätze zu der Zusammensetzung sagen. Angesichts derTatsache, daß die starke Vertretung des Bundestages sokritisiert wird, sollte man sich folgendes genau überle-gen: Klar ist doch, daß das bisherige Verfahren ohne denBundestag zu keinem Ergebnis geführt hat.
Ich bin sehr dankbar, daß der Bundestag eine gute Ent-scheidung getroffen hat. Aus folgendem Grund sollte erin diesem Kuratorium stark vertreten sein: Der Bundes-tag sollte auch die Verantwortung für die Umsetzungseiner Entscheidung übernehmen.
Deshalb finde ich es richtig, daß wir mit einer großenZahl in diesem Kuratorium vertreten sind.Jetzt zu der Frage, ob jüdische Organisationen daranteilnehmen sollen! Es ist richtig: Die beiden Gremien –im Gesetz steht in der Tat „Gremien“, also Plural – ha-ben eine unterschiedliche Wertigkeit. Das Kuratoriumhat eine höhere Wertigkeit. Die Frage ist jetzt: Wer sollin das Gremium mit der höheren Wertung hinein? Ichglaube, kein Redner der Regierungsfraktionen hat dieTatsache, daß Sie die jüdischen Organisationen nicht indem Gremium haben wollen, mit einem negativen Zun-genschlag kommentiert, sondern das nur als falsch be-zeichnet. Das ist legitim, wie auch Ihre Meinung legitimist. Man kann darüber streiten. Aber bei unserer deut-schen Geschichte kann man, wenn jüdische Organisatio-nen kommen und bei einer so sensiblen Angelegenheitein Angebot machen und uns praktisch die Hand aus-strecken, dieses Angebot nicht ablehnen. Ein solchesAngebot nimmt man dankend an.
In diesem Sinne sehe ich auch die Zusammensetzungdieses Kuratoriums als eine gute Entscheidung.Ich danke Ihnen.
Ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür-fe auf den Drucksachen 14/2013 und 14/1996 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Gibt es weitere Vorschläge? – Das ist nicht derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu dem Antrag der Fraktionen der SPDund des Bündnisses 90/Die Grünen „Stiftung Denkmalfür die ermordeten Juden Europas“ auf Drucksache14/2014. Die Koalitionsfraktionen wünschen Abstim-mung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU undder F.D.P. beantragen Ausschußüberweisung.Nach ständiger Übung geht der Antrag auf Aus-schußüberweisung vor. Deswegen frage ich: Wer ist fürdie Ausschußüberweisung? –
Die Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Damit ist derAntrag auf Ausschußüberweisung abgelehnt.Wir stimmen deshalb jetzt über den Antrag der Frak-tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“auf Drucksache 14/2014 ab. Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Der Antrag ist gegen dieStimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.:Pläne der Bundesregierung zur Erhöhung derErbschaftsteuerSind alle Erbschaftsteuerexperten im Saal?
Eckhardt Barthel
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6228 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
– Wir beginnen jetzt mit der Aktuellen Stunde.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeCarl-Ludwig Thiele, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! DerPresse kann man heute und konnte man auch in denletzten Tagen entnehmen, welche Pläne die Bundesre-gierung und Rotgrün im Bereich der Erbschaftsteuerhaben. Es ist erforderlich, daß solche Presseberichte hierdiskutiert werden,
denn wie Rotgrün die Verfahrensmehrheit entgegen bis-herigen Gepflogenheiten nutzt, hat die Abstimmung zumvorhergehenden Tagesordnungspunkt gezeigt.
Deshalb sind wir aufgefordert, uns hier im Bundestagauch mit solchen Themen zu beschäftigen. Denn Rot-grün redet unwahrscheinlich viel über Steuersenkungen,faktisch jedoch wird das Gegenteil dessen beschlossen.
Heute ist die Ökosteuer wieder erhöht worden; das Steu-erentlastungsgesetz war ein Steuerbelastungsgesetz, undim Steuerbereinigungsgesetz wird die Steuerfreiheit fürLebensversicherungen abgeschafft. Das alles soll geeig-net sein, Zutrauen in die Zukunft unseres Landes und inden Investitionsstandort Deutschland zu erwecken. Dasfunktioniert nicht.Weil das nicht funktioniert, müssen wir das hier an-sprechen und bitten wir um Klarstellung. Denn der Bun-deskanzler erklärt ja immer: Wir führen keine Steuerer-höhungsdebatte. Da kann ich nur sagen: Das stimmt. Sieführen die nicht unbedingt; Sie beschließen einfach eineSteuererhöhung.
Weil es einfach nicht geht, daß Sie die einfach beschlie-ßen, müssen wir hier über diese Sache diskutieren, damitSie nicht ständig in der Öffentlichkeit einen anderenEindruck von Ihrem Handeln erwecken, der nicht derWirklichkeit entspricht.Ich möchte kurz zu vier Punkten Stellung nehmen. Erstens. Zu den Hauseigentümern. Das, was Siederzeit durch eine Änderung der Bewertungsvorschriftenvorhaben, stellt eine massive Mehrbelastung der Haus-eigentümer in unserem Lande dar.
Auch seitens Ihrer Fraktionen wird festgestellt, daß esein Ungleichgewicht zwischen der Behandlung von Ka-pitalvermögen und der Behandlung von Grundvermögengibt und daß diese Ungleichbehandlung verfassungswid-rig ist.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen – ich zitiere das Bun-desverfassungsgericht gemäß dem Ausschußbericht –:Führe die Entscheidung, in Grundvermögen oderin Kapitalvermögen zu investieren, steuerlich zumselben Ergebnis, werde der praktisch keiner Sozial-bindung unterliegende Erwerb von Kapitalvermö-gen dem Erwerb von vielfach Bindungen unterlie-genden Grundvermögen vorgezogen. In diesem Fallmüßten die fehlenden privaten Investitionen zur Si-cherstellung der Grundversorgung der Bevölkerungmit Wohnraum mit öffentlichen Geldern finanziertwerden.Das ist der Punkt, den wir befürchten. Wir halten dieErhöhung der Erbschaftsteuer, insbesondere im Hinblickauf das Immobilienvermögen, für falsch, weil beimGrundvermögen im Rahmen der Ermittlung des Wertesganz bewußt eine andere Bewertung herangezogen wer-den würde als beim Kapitalvermögen. Das Kapitalver-mögen können Sie relativ flott bewerten, weil Sie nureinen Bankauszug bzw. den entsprechenden Aktiende-potauszug benötigen. Dann kennen Sie den Wert. Dasgeht beim Grundvermögen nicht so einfach.Die derzeitige Regelung führt dazu, daß das Grund-vermögen bei der Erbschaftsteuer – teilweise in Höhevon 80 Prozent des Verkehrswertes – zugrunde gelegtwird. Wer das noch erhöhen will, der bringt die Men-schen um ihr kleines Häuschen. Nach dem Motto „Wirversaufen unser Oma ihr klein Häuschen“ soll der kleineBürger in unserem Lande abkassiert werden.
Zweitens. Zum Mittelstand. Wie viele Mittelständlerbekommen denn nur deswegen einen Kredit für ihr Un-ternehmen, weil sie Grundvermögen haben? Wenn die-ses anders bewertet wird und sie zusätzlich zur Kassegebeten worden; dann entziehen Sie Kapital, welches alsBeleihungsmittel zur Verfügung gestellt werden kann.Damit fördern Sie in unserem Lande Desinvestition. Dasist der zweite Grund, warum wir die Erhöhung der Erb-schaftsteuer ablehnen.
Drittens. Wir diskutieren auch morgen noch über dienotwendige private Altersvorsorge, die Sie im Rahmender Quasi-Abschaffung der Steuerfreiheit der Lebens-versicherung behindern. Wir sind uns einig darüber, daßdas Rentensystem bisheriger Form dringend ergänztwerden muß. Eine Ergänzung kann sein, Eigentum zubilden. Denn wer Eigentum bildet, hat im Alter eine an-dere Versorgung als derjenige, der dies nicht getan hat.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6229
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(D)
Wenn Sie an diese Sache herangehen, verschärfen Siedie von Ihnen schon jetzt produzierte Rentenproblema-tik. Das ist der dritte Grund, warum wir die Erhöhungder Erbschaftsteuer ablehnen.
Viertens. Bei Ihnen ist immer unwahrscheinlich vielvon sozialer Gerechtigkeit die Rede. Deshalb möchteich auch zu diesem Punkt Stellung nehmen. Vermögenkommt auch aus versteuertem Einkommen.
– Auch bei einer Person, die erbt. Die unterliegt nämlichvorher der Erbschaftsteuer. Freibeträge, die es in diesemZusammenhang gibt, sind vergleichbar den Freibeträ-gen, die es bei anderen Steuerarten gibt, Herr KollegeMüller. Insofern ist auch das Ererbte vorher einer Be-steuerung unterzogen worden.
Es ist von denjenigen, die es vererben konnten, vorherversteuert worden, damit es überhaupt zum Vermögenwerden konnte.Wenn Sie einfach sagen, es sei ja vorhanden, es müs-se nur umverteilt werden, dann können Sie als Grünedas zwar sagen – damit erhalten Sie den Koalitionsfrie-den mit der SPD, die das auch so sieht –, dann bewegenSie sich aber meilenweit weg von der Realität.
Wir haben seinerzeit, als die Vermögensteuer ausge-setzt wurde – sie ist nicht abgeschafft worden; sie istdurch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ausge-setzt worden –, das Aufkommen aus der Erbschaftsteuerum gut 2 Milliarden DM erhöht, weil wir gesagt haben,daß auch das Erbe Vermögen ist
und daß das Erbvermögen durch die Erbschaftsteuer be-steuert werden soll. Deshalb ist sie erhöht worden.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Das mache ich, Frau
Präsidentin. Herzlichen Dank!
Wenn Sie jetzt darüber hinausgehen wollen, dann ge-
hen Sie verfassungsrechtliche Risiken ein und laufen
Gefahr, daß weiter Kapital aus Deutschland abgezogen
wird. So sorgen Sie nicht für Vertrauen in Ihre finanz-
politische Kompetenz, und so schaffen Sie keine Ar-
beitsplätze in unserem Lande.
Als nächster hat der
Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Die heutige Aktuelle Stunde ist offen-sichtlich Teil einer neuen politischen Strategie derF.D.P., öffentlich stärker in Erscheinung zu treten; ichkönnte auch sagen: der Öffentlichkeit vorzugaukeln,man habe ernstzunehmende politische Alternativen.
Die F.D.P. spielt sich als Hüterin von Omas Häuschenauf. Das ist eine ganz neue Rolle.Zu der Strategie, mit möglichst wenig Inhalt einHöchstmaß an Aufmerksamkeit zu erreichen,
gehört wohl auch der neue Slogan der F.D.P., der baldunter das Volk gebracht werden soll: Sind wir denn be-steuert?
Darauf kann ich nur erwidern: Ja, wir sind besteuert,noch immer, nach 16 Jahren konservativ-liberaler Regie-rung, aber nach einem Jahr Rotgrün weniger und weit-aus gerechter als nach der Ära Kohl.
In der Zeit Ihrer Regierung wurden die Bürgerinnenund Bürger Jahr für Jahr zusätzlich mit Steuern und Ab-gaben überzogen; das war die Realität. Wir kehren diesum: Mit dem Steuerentlastungsgesetz, mit dem Famili-enförderungsgesetz und der Unternehmenssteuerreformrealisieren wir Steuersenkungen in Höhe von40 Milliarden DM. Daran kommen Sie nicht vorbei.
Sie können noch so viele Aktuelle Stunden beantragen,Herr Thiele. Wir realisieren Steuersenkungen in Höhevon 40 Milliarden DM – und das zählt.
In der Tat ist dies den Bürgern noch nicht so rechtbewußt.
Ich bin aber zuversichtlich, daß die nächste Stufe desSteuerentlastungsgesetzes von den Bürgern weitausstärker wahrgenommen werden wird als die erste Stufe.Sie haben nur über Steuersenkungen geredet, wir habenentsprechend gehandelt.
Car-Ludwig Thiele
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6230 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Zu unseren Maßnahmen haben Sie keine wirklichen Al-ternativen.
Weder die Bundesregierung noch die Koalition stre-ben Steuererhöhungen an,
auch nicht über die gesetzlichen Regelungen zur Erb-schaftsteuer. Tatsache ist allein, daß sich eine vom Bun-desfinanzministerium eingesetzte Kommission ausFachleuten von Bund und Ländern mit der Frage befaßt,wie Grundbesitz realitätsnah und damit verfassungs-mäßig steuerlich bewertet werden kann. Aktuelle Untersuchungen an Hand von Verkäufenvon Grundvermögen zeigen, daß die derzeitigen Bewer-tungsverfahren für bebaute Grundstücke zu einer, ge-messen an den Verkehrswerten, niedrigeren Erfassungführen: Während unbebaute Grundstücke mit rund72 Prozent des Verkehrswerts bewertet werden, betragendie nach dem Ertragswertverfahren ermittelten Grundbe-sitzwerte für bebaute Grundstücke im Durchschnitt nur51 Prozent des Verkehrswerts.
Deswegen gibt es den Vorlagebeschluß des Finanzge-richts Hannover. Das ist doch nicht von der Koalition er-funden worden. Sie wissen doch, daß wir uns damalsüber das Bewertungsverfahren gestritten haben.
– Herr Hauser, all das wissen Sie. Sie wissen es besser,als Sie hier vorgeben.Dieser Zustand – das müssen alle wissen – ist verfas-sungsrechtlich bedenklich. Er stellt eine sachlich nichtgerechtfertigte Ungleichbehandlung innerhalb der Ver-mögensart Grundvermögen dar, aber auch und insbe-sondere gegenüber dem übrigen Vermögen. Deswegenist ja das Urteil in Sachen Vermögensteuer ergangen.Aber auch hier versuchen Sie immer wieder, den Bür-gern mit falschen Behauptungen Sand in die Augen zustreuen. Die Existenz eines sogenannten Halbteilungs-grundsatzes hat der Bundesfinanzhof in der letzten Wo-che mit aller Deutlichkeit ad absurdum geführt.
Das paßt Ihnen nicht. Aber damit müssen Sie sich abfin-den.Ein verbessertes, verfassungsmäßiges und an denrealen Verkehrswerten orientiertes Bewertungsverfahrentut not. Das gilt nicht nur für die Erbschaftsteuer. Auchbei der Grundsteuer gibt es Handlungsbedarf. Hierzu hatdie Finanzministerkonferenz der Länder eine Kommis-sion eingesetzt. Es geht also um Bewertungsfragen, umnicht mehr und nicht weniger.Die Beamtenkommission des BMF hat einen Zwi-schenbericht vorgelegt; der Abschlußbericht wird vor-aussichtlich im nächsten Jahr fertiggestellt. Im Lichtedieser Erkenntnisse werden wir uns mit den Bewer-tungsfragen in aller Sachlichkeit erneut beschäftigen, obmit oder ohne Aktuelle Stunde.
Ich erteile nun der
Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kolle-ge Poß, regieren ist anscheinend doch schwerer, als essich mancher beim Rütteln am Kanzleramtszaun gedachthat.
Es ist vor allen Dingen dann schwer, wenn man einePolitik machen will, die von der Partei offensichtlichnicht mitgetragen wird. Der Parteitag im Dezemberrückt leider immer näher.
Es ist dem SPD-Bundesparteivorsitzenden bishernicht gelungen, seinen Parteikollegen klarzumachen,was der Bundeskanzler will. Der Bundeskanzler will dieneue Mitte fördern, und gleichzeitig muß er als Bundes-parteivorsitzender zugeben, wie sehr er die neue Mittemit der Ökosteuer, mit dem „Steuerbelastungsgesetz“und dem Steuerbereinigungsgesetz schon belastet hat.Da hat der Bundesparteivorsitzende tatsächlich recht;denn das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat –das wissen Sie ganz genau – 5 Milliarden DM Mehrbe-lastung allein durch das Steuerentlastungsgesetz für denMittelstand errechnet.So ist das eben: Wenn man in der Öffentlichkeit be-hauptet, man entlaste die Unternehmen, und tut inWirklichkeit genau das Gegenteil, dann glaubt einem dieeigene Partei nicht mehr. Aus dieser Falle kommen Sienicht heraus.
So ist es auch kein Wunder, daß die SPD von fal-schen Voraussetzungen ausgeht und meint, sie müßtedie vermeintlich Vermögenden noch stärker belasten, alssie das jetzt schon tut.
Joachim Poß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6231
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(D)
Da kommt man eben auf Ideen: Vermögensteuer, Ver-mögensabgabe und Erbschaftsteuererhöhung. Das sindalles Dinge, die der SPD-Parteibasis ganz gut gefallen!Dabei vergißt man zwischenzeitlich, daß sowohl derBundeskanzler als auch der Bundesfinanzminister im-mer wieder beteuert haben, daß in dieser Legislaturperi-ode keine Steuererhöhungen mehr stattfinden sollen.Ob es jetzt nach dem Rentenwortbruch auch nocheinen Steuerwortbruch gibt, werden wir ja sehen. Daßganz offensichtlich etwas in der Mache ist, hat uns derKollege Poß gesagt. Es gibt die Arbeitsgruppe von Bundund Ländern zur Neubewertung von Vermögen.
Wozu haben Sie diese eingerichtet? Sie haben es getan,um zu prüfen, wo Sie noch mehr schröpfen können.Oder etwa nicht?Sie wissen ganz genau, daß 1997 das Aufkommenaus der wegfallenden Vermögensteuer – Herr Thiele hates soeben gesagt – sowohl in die Erbschaftsteuer alsauch in die Erhöhung der Grunderwerbsteuer von 2 Pro-zent auf 3,5 Prozent eingerechnet worden ist. Allein dieErbschaftsteuer ist dadurch schon um 40 Prozent gestie-gen. Dadurch ist bei der Vererbung von mittleremGrundvermögen eine erhebliche Mehrbelastung einge-treten.Um das zu bestätigen, möchte ich mit der Erlaubnisder Frau Präsidentin Professor Lang zitieren.
Die brauchen Sie
nicht. Das können Sie auch ohne meine Erlaubnis ma-
chen.
Professor Lang ist Di-
rektor des Instituts für Steuerrecht an der Universität
Köln. Er sagt auf die Frage „Das Ziel, mehr soziale Ge-
rechtigkeit im Land zu schaffen, wird also nicht er-
reicht?“:
Ich halte es für eine Täuschung des Wählers, wenn
die Bundesregierung behauptet, mit der Erb-
schaftsteuer eine angebliche Gerechtigkeitslücke zu
schließen. Diese Steuer ist schlichtweg ungerecht,
weil sie die Reichen fast gar nicht trifft.
Ich finde, dieses Zitat kann man immer und überall an-
führen.
– Ja, deswegen sollten Sie von Ihrem Vorhaben lieber
ablassen.
Außerdem wissen Sie ganz genau, daß die Erb-
schaftswelle überhaupt noch nicht richtig begonnen hat.
Sie kommt erst noch. Wir haben in 1998 ein Aufkom-
men der Erbschaftsteuer in Höhe von 4,8 Milliarden DM
gehabt, in 1999 wird es wahrscheinlich 5,9 Milliarden
DM betragen. Das wird weiterhin erheblich steigen, und
das wissen Sie ganz genau.
Außerdem haben Sie im Steuerbereinigungsgesetz
schon dafür gesorgt, daß durch die Herausnahme von
Schulden bei Betriebsübergängen eine Verschlechterung
eingetreten ist. Das haben Sie nur ein bißchen versteckt,
damit es keiner merkt.
Ich würde an Ihrer Stelle auf den Vorsitzenden der
Steuergewerkschaft, Herrn Ondracek, hören.
– Warum nicht? Er ist ein hervorragender, sachlicher
Mann, der der Regierung viel Ärger und wenig Ertrag
voraussagt, wenn sie bei der Bewertung noch einmal zu-
schlagen will.
Ganz abgesehen davon frage ich mich tatsächlich,
wie Sie eigentlich Betriebsvermögen behandeln wollen,
Herr Müller. Gerade kleine Unternehmen führen ihre
Betriebe in eigenen Immobilien. Ein Betrieb wird nicht
einfach dadurch bereichert, daß ein Erbschaftsübergang
stattfindet, daß also jemand stirbt und ein Nachfolger
das Erbe antritt.
Wenn wir erreichen wollen, daß wir Nachfolger für
die Hunderttausende von Betrieben finden, die in den
nächsten zehn Jahren vererbt werden, müssen wir dafür
sorgen, daß die Erbschaftsteuerbelastung die Eigenka-
pitalbasis nicht kaputtmacht. Es nützt überhaupt nichts,
wenn Sie versuchen – wir haben das auch schon ver-
sucht –, Existenzgründungen zu fördern, wenn die be-
stehenden Arbeitsplätze beim Erbschaftsübergang tat-
sächlich kaputtgemacht werden.
Ich kann dem Finanzminister, Frau Staatssekretärin
Hendricks, um der Erhaltung der mittelständischen Be-
triebe willen wirklich nur raten, von diesem Vorhaben
abzulassen.
Hören Sie bitte nicht auf die Schalmeien der Neid-
ideologen in der SPD von links! Es tut unseren Arbeits-
plätzen nicht gut, aber das Arbeitsplatzschaffen ist bei
Ihnen sowieso nicht gut aufgehoben. Das wissen wir ja.
Jetzt hat der KollegeKlaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die F.D.P. tut mal wieder so, alsob Steuern einen Selbstzweck erfüllen würden. „Genugist genug, Mut zum Steuerverzicht!“ schallt es aus demMunde von Herrn Westerwelle, der dabei einmal wiedereine Menge Staub aufwirbelt.
Mut zur Steuersenkung? Das kann doch wohl nicht IhrErnst sein!
Elke Wülfing
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6232 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Mut gehört dazu, ein umfassendes Sparpaket zu schnü-ren, so wie das Rotgrün getan hat.
Mut gehört dazu, die Steuerschlupflöcher zu schließen,damit zum 1. Januar nächsten Jahres die Steuern unterRotgrün zum zweitenmal sowohl beim Eingangssteuer-bereich wie auch beim Spitzensteuerbereich sinken.
Das, was Sie nicht gebacken kriegen, wird Rotgrün lei-sten.
Aber woher sollten Sie das wissen? Bei Ihnen bleibenSparkurs und das Schließen von Steuerschlupflöchernmaximal Lippenbekenntnisse. Ganz im Gegenteil, mor-gen wollen Sie sie wieder öffnen. Im Finanzausschußhaben Sie sich redlich Mühe gegeben, ein Steuer-schlupfloch nach dem anderen wieder zu öffnen.Allerdings gäbe es durchaus Anlaß, sich an dieserStelle einmal über die Steuerpläne der F.D.P. zu unter-halten. Wenn man sich einmal den Stufentarif à laF.D.P. vor Augen führt und nachschaut, was dort tat-sächlich passiert, stellt man fest, daß der Spitzensteuer-satz für den oberen Einkommensbereich im Vergleich zuRotgrün um 13,5 Prozentpunkte gesenkt wird. Das istfast ein Drittel.
Bei einem zu versteuernden Einkommen von 20 001DM – also im unteren Einkommensbereich – erhöhenSie die Steuerbelastung um 1,4 Prozent.
Das ist eine unsoziale Politik à la F.D.P.: Unten erhöhenSie die Steuern, oben senken Sie sie ab. Das ist unsozial.
Rechnen Sie einmal genau nach, Herr Solms, dann wer-den Sie das merken.Nun konkret zur Erbschaftsteuer. Sie beantragen eineAktuelle Stunde – wie auch schon letzte Woche –, nurviel zu früh. Die Steuerschätzung konnten Sie gar nichtabwarten und haben riesige Erwartungen geweckt, umnachher zu merken, daß nichts daran ist. Die Schätzun-gen für die Mehreinnahmen des Bundes lagen nur um1,5 Milliarden DM für dieses und um 0,6 Milliarden DMfür nächstes Jahr höher, als bis dahin prognostiziert.
Sie krakeelen hier rum und versprechen den LeutenSteuersenkungen, was schlicht unseriös ist.
Im Gegensatz zu Ihnen wartet Rotgrün auf eine fun-dierte Entscheidungsbasis. Wenn Sie heute Zeitung ge-lesen hätten, hätten Sie zu lesen bekommen, daß dieSteuer- und Abgabenbelastung in Deutschland – damitwir ehrlich diskutieren – mit 37,1 Prozent sogar nochunter dem EU-Durchschnitt von 41 Prozent liegt. SelbstGroßbritannien und Frankreich liegen nach den Anga-ben des Europäischen Steuerzahlerbundes sehr viel hö-her als Deutschland.Niemand von Rotgrün plant eine Erhöhung der Steu-ersätze für die Erbschaftsteuer. Wir wollen vielmehreine gerechte Besteuerung von Grundbesitz im Ver-gleich zu anderen Vermögen, weil das von Ihnen einge-führte Verfahren nach all den Schätzungen, die zur Zeitvorliegen, dem Gleichheitsgrundsatz widerspricht. Siekönnen nachher dagegen protestieren, aber Sie werdenauch damit zurechtkommen und merken – Kollege Poßhat schon das anhängige Verfahren erwähnt –, daß wirdann, wenn es hier eine Ungleichbehandlung gibt, dar-über reden müssen, wie man diese korrigiert, auch wennIhnen das nicht paßt.Wenn der Bericht des Bundesfinanzministeriums diesbestätigt, dann muß das Ganze in eine gerechte Balancegebracht werden. Wir können jetzt schon sagen, daß wiruns auch darum kümmern werden, eine angemesseneErhöhung der Freibeträge vorzunehmen, damit niemanddas vererbte Elternhaus unangemessen besteuern muß.Niemand will das vererbte Elternhaus irgend jemandemnehmen.
Kollegin Wülfing hat gerade leider gezeigt, daß sievon dem Thema Betriebsvermögen keine Ahnung hat.Darum möchte ich ihr gerne etwas helfen. Betriebsver-mögen wird auch weiterhin erbschaftsteuerlich extremgünstig behandelt – zu Recht –, auch im Vergleich zuden Vorschriften in anderen Ländern.
Ich möchte erinnern an den Ansatz der Steuerbilanz-werte, minus 25 Prozent vom Verkehrswert, an denFreibetrag von 500 000 DM speziell auf das Betriebs-vermögen und dann noch einmal an den Abschlag von40 Prozent auf die verbleibende Bemessungsgrundlage.
Dazu kommen noch persönliche Freibeträge. Insofernglaube ich, daß sich hier niemand Sorgen machen muß,daß betriebswirtschaftliches Vermögen im Fall des Erb-schaftsüberganges ungehörig besteuert würde.
Klaus Wolfgang Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6233
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Es ist ja auch keine Schande, wenn man etwas erbt. Alsob man den Leuten dann noch etwas hinterherwerfenmüßte, so wie Sie das gerade angeregt haben.Ich möchte zum Schluß kommen. Ich denke, Sie ha-ben nicht nur ein kurzes Gedächtnis, um nicht zu wissen,daß Sie zuletzt die Erbschaftsteuer 1996 reformiert ha-ben.
Dabei haben Sie die Spitzensteuersätze für große Erb-schaften gesenkt und die Steuersätze für kleine Erb-schaften leider deutlich erhöht. Das ist Ihre Politik. Die-se wird Rotgrün nicht fortführen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Thiele schlägt für die F.D.P.Alarm, für ihre Klientel der Besserverdienenden undVermögenden: Die Regierungskoalition will die Erb-schaftsbesteuerung verändern. Nach dem, was wir aberbisher wissen, ist dieser Alarm völlig unnötig.Zwischen 1996 und dem Jahr 2000 konnten und kön-nen sich etwa 3 Millionen Bundesbürgerinnen und Bun-desbürger bei aller Trauer über eine Erbschaft im Ge-samtvolumen von 1,8 Billionen DM freuen. Das heißt,pro Jahr werden etwa 400 Milliarden DM vererbt. DerStaat, sprich: die Bundesländer erhielten von diesen 400Milliarden DM allerdings nur 4 bis 5 Milliarden DM, al-so etwas über 1 Prozent als Steuer.Gerechterweise muß bereits heute niemand fürchten,daß im Todesfall des Ehepartners oder der Eltern dasnormale Einfamilienhaus mit einer Erbschaftsteuer be-legt wird. Das ist gut so. Auch die PDS hält an diesemPrinzip fest.
Die PDS hält auch daran fest, Betriebsvermögen geson-dert zu behandeln, um insbesondere im klein- und mit-telständischen Bereich den Fortbestand von Familienbe-trieben zu sichern. Die Demokratischen Sozialistinnenund Sozialisten fordern aber eine Modernisierung desSteuerrechts.Erstens bleibt es Aufgabe, die Gleichstellung allerVermögensarten zu gewährleisten. Dies ist ein Gebotder sozialen Gerechtigkeit. Erst auf dieser Grundlage isteine tatsächliche Besteuerung nach der Leistungsfähig-keit zu verwirklichen. Wenn die Regierung dazu zumJahresende ein neues Verfahren zur Bewertung vonGrund und Boden vorlegen wird, so werden wir das kri-tisch prüfen. Meine Damen und Herren von der Parteider Besserverdienenden, wenn sich daraus Steuermehr-einnahmen ergeben, so kann man dieses nur begrüßen.
Zweitens halten wir an der Forderung fest, daß es denStaat, sprich: das Finanzamt nichts angeht, wie Men-schen zusammenleben. Jeder Bürger und jede Bürgerinhat das Recht, selbst zu entscheiden, wem er bzw. siewas und wieviel er bzw. sie vererben will. Der Staat hatkein Recht, dies im nachhinein durch die Erbschaftsteu-er zu korrigieren.Ein allseits bekannter Entertainer meinte, sein Ver-mögen hälftig an seine Ehefrau und seinen Freund zuvererben. Falls dieser Wille umgesetzt wird, wird dieWitwe ein Vielfaches an Vermögen erhalten, weil siewesentlich weniger Erbschaftsteuer zu entrichten hat alsder Freund. Dies ist nicht gerecht.
Wir als PDS schlagen ein anderes Verfahren vor.Dieses kennen Sie seit 1996. Wir schlagen die Einfüh-rung einer Nachlaßbesteuerung für Vermögen ab 1 Mil-lion DM vor. Damit stiege der Anreiz, zu vererbendesVermögen tatsächlich unter mehreren Erben aufzuteilen.Ich meine, es ist gut, einer übermäßigen Vermögenskon-zentration entgegenzuwirken.Wir fordern, alle Erben gleich zu besteuern. Die ma-terielle Belohnung des Trauscheins und die Besteuerungnach dem überkommenen Prinzip der Blutsverwandt-schaft sind nicht mehr zielgerecht und gehören abge-schafft.
Drittens werden wir uns vehement gegen die von derBundesregierung – wie aus der Presse zu entnehmen war– angestrebte Anhebung der Freigrenzen wenden. – Beidiesem Punkt hat Frau Wülfing doch etwas recht. In ih-rem hilflosen Bestreben, die absolute soziale Schieflageihrer Konsolidierungspolitik zu übertünchen, rudert dieRegierungskoalition derzeit zwischen verschiedenenSteuerthemen hin und her. Dabei ist dem Bundeskanzlerjegliche Diskussion über eine höhere Besteuerung wirk-lich Vermögender absolut lästig.
Die SPD-Linke fordert immer wieder einmal eineErbschaftsteuer, eine Vermögensabgabe oder eine Ver-mögensteuer. Die Grünen setzen dem Ganzen die Kroneauf: Sie wollen jetzt über das Stiftungsrecht zum reinenFreiwilligkeitsprinzip übergehen.
Das alles ist butterweich und halbherzig.Wenn Sie jetzt tatsächlich anstreben, die Freibeträgevon derzeit bereits 600 000 DM auf über 1 Million DMdrastisch anzuheben und den Kreis der Menschen, die indiese Vergünstigung hineinkommen, zu erweitern, soKlaus Wolfgang Müller
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heißt das, daß Sie keine Mehreinnahmen erzielen wer-den – höchstens in einem Bereich von 1 bis 2 MilliardenDM. Auch auf diesem Wege wird es Ihnen also nichtgelingen, die wirklich Vermögenden in dieser Gesell-schaft wieder stärker zur Finanzierung des Gemeinwe-sens heranzuziehen.
Man muß doch einmal zur Kenntnis nehmen, daß sich60 Prozent aller Erbfälle in einem Volumen von unter200 000 DM bewegen. Das heißt, eine Anhebung derFreigrenzen kann nur dazu dienen, den wirklich Vermö-genden doch wieder entgegenzukommen.
Frau Kollegin, den-
ken Sie an die Redezeit, bitte.
Ich möchte noch an die
Diskussionen erinnern, die wir vor vier Jahren geführt
haben. Damals haben Sie neben der Erbschaftsteuer
auch die Grunderwerbsteuer verändert. Über die Erb-
schaftsteuer haben Sie nicht die gewünschten Mehrein-
nahmen erzielt, allerdings bei der Grunderwerbsteuer.
Im Gegenzug zur Abschaffung der Vermögensbesteue-
rung haben Sie mit der Erhöhung der Grunderwerbsteuer
natürlich auch jeden kleinen Häuslebauer getroffen. Das
war bereits damals ungerecht.
Wenn Sie in dieser Richtung voranmarschieren, ist
das weitere Gesetzesvorhaben ebenfalls sozial un-
gerecht. Unsere Zustimmung werden Sie dazu nicht er-
halten.
Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich das
Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Barbara
Hendricks.
– Das ist wahr. – Ich erteile der Kollegin Gisela Frick
das Wort. – Ich hatte Ihren Namen schon durchgestri-
chen und Sie sozusagen abgehakt. Ich bitte sehr um Ent-
schuldigung. Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Daß Sie mich abgehakt haben, warvielleicht gar nicht so falsch; denn Sie hören an meinerStimme, daß ich nicht ganz so fit bin wie sonst. Ich wer-de trotzdem versuchen, die Gedanken herüberzubringen,die mir wichtig sind.Ich muß zunächst einmal mit ein paar Irrtümern auf-räumen. Ich fange bei Ihnen, Herr Müller, an: Sie habendankenswerterweise noch einmal darauf hingewiesen,daß wir als F.D.P. den Stufentarif anstreben. Aber Siehaben ihn falsch dargestellt.
– Nein. Ich weiß, Sie befinden sich damit in guter Ge-sellschaft. Viele verstehen ihn falsch. Sie sind auch neuim Parlament.
Sie haben die Chance, vielleicht einmal bei Herrn Strucknachzufragen; denn er scheint ihn verstanden zu haben.Sonst hätte er ihn nicht unterstützt.
Der Stufentarif bedeutet – um bei Ihrem Beispiel zubleiben -: Vom Grundfreibetrag – wie auch immer erangesetzt ist; im Moment sind es rund 13 000 DM – bis20 000 DM werden 15 Prozent Steuern erhoben, ab20 000 DM 25 Prozent. Das heißt, bei 20 001 DM wirddie 1 DM, die Sie eben dazugezählt haben, mit 25 Pro-zent versteuert, aber nicht die 20 000 DM davor. Das istein Riesenunterschied.
Dies ist ein Tarif, der in den Bereich der Einkom-mensteuer und nicht in den der Erbschaftsteuer gehört.Insofern ist es vielleicht sogar noch ein bißchen ver-zeihlich. – Herr Müller, ich wäre dankbar, wenn Sie zu-hören würden, damit Sie nicht weiter Falsches über un-sere Pläne verbreiten. – Bei der Erbschaftsteuer verhältsich dies nämlich anders: In dem Moment, in dem derNachlaß bestimmte Grenzen übersteigt, ist der ganzeNachlaß höher zu besteuern. Ich bitte Sie, da Sie Mit-glied im Finanzausschuß sind, Einkommensteuer undErbschaftsteuer sowie die entsprechenden Prinzipiensauber auseinanderzuhalten.
Dies war der erste Irrtum, mit dem ich aufräumen wollte.Der zweite Irrtum. Sie haben großzügig gesagt: Wirplanen nicht, die Tarifsätze zu erhöhen. Sie wissen ge-nauso gut wie ich – das hoffe ich jedenfalls –, daß sichdie steuerliche Belastung aus dem Zusammenspiel vonBemessungsgrundlage und Satz ergibt. Sie haben eineKommission eingerichtet mit dem Ziel, die Bewertungvon Immobilien deutlich anzuheben. Dies ist im Endef-fekt ganz klar eine Besteuerungserhöhung. Das ist dochselbstverständlich; selbst wenn die Sätze so bleiben, wiesie sind, sich die Bemessungsgrundlage aber entschei-dend ändert.
Dr. Barbara Höll
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Dies wird auf jeden Fall eine deutliche Erhöhung zurFolge haben. Das ist schädlich, und zwar auch für dieje-nigen, an die Sie im Moment nicht denken, nämlich fürdie große Gruppe der Mieter, weil dieses Vorgehenletztendlich durchschlägt.
Herr Poß ist leider weggegangen. Eben hat er ganzdeutlich gesagt: Wir brauchen das alles nicht nur für dieErbschaftsteuer, sondern auch für die Grundsteuer. DieGrundsteuerbelastung schlägt erst recht und noch vieldirekter als die Erbschaftsteuerbelastung auf die Mietendurch. In den Beratungen zu den Bewertungsverfahrenim Erbschaftsteuerrecht haben wir damals ausdrücklichauf die Sozialbindung des Immobilieneigentums hinge-wiesen.Die starke Sozialbindung, insbesondere durch dieMieterschutzvorschriften, öffentliche Belastungen, unteranderem durch die Grundsteuer, die Immobilität – schonder Name sagt: die mangelnde Fungibilität derGrundstücke – und vieles andere zeigen, daß wir sehrgute sachliche Gründe dafür gefunden haben, daß wirdas Immobilienvermögen, obwohl wir es im Gegensatzzur geltenden Rechtslage deutlich höher bewertet haben,nicht bis an die oberen Grenzen ausgeschöpft haben.Das haben wir bewußt getan.Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hatgenau dies angemahnt. Es darf demnach nicht auf kal-tem Wege zu niedrigeren Werten im Bereich der Immo-bilien kommen. Wenn man aber im Gesetzgebungsver-fahren sachliche Gründe dafür findet, dann sind dieseausreichend, um zu einer mäßigeren Bewertung zukommen. Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daßdies richtig ist.Nun muß ich noch mit einem anderen Irrtum aufräu-men. – Frau Höll ist im Moment leider auch nicht anwe-send. – Es wird immer wieder gesagt, auch die großenVermögen sollten zur Finanzierung des Gemeinwohlsbeitragen. Das tun die großen Vermögen – das habe ichhier schon x-mal erwähnt und muß mich leider dauerndwiederholen, weil dies von Ihnen immer wieder falschgesagt wird – schon im Bereich des Ertragsteuerrechtes.Es besteht eine Progression. Soweit Vermögen Erträgeabwirft, wird dies progressiv in der Einkommensteuer,im Ertragsteuerrecht belastet. Damit tragen die großenVermögen sehr wohl zu einer entsprechenden Finanzie-rung des Gemeinwohls bei.
Ich warne Sie: Machen Sie hier nicht noch einmal denFehler, den Sie schon in den vergangenen Gesetzenbegangen haben. Satteln Sie nicht ständig obendrauf,sondern halten Sie sich endlich einmal zurück, undmachen Sie eine Steuerreform, die diesen Namen auchverdient!Danke schön.
Jetzt habe ich die
Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks auf
meinem Rednerzettel abgehakt und erteile ihr das Wort.
D
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die Bundesregierung hat mit dem„Zukunftsprogramm 2000“ ein Paket zur Sanierung desBundeshaushalts vorgelegt, das trotz des desolaten Zu-standes, den Sie von der früheren Koalition uns im Be-reich der Haushaltspolitik hinterlassen haben, nicht aufSteuererhöhungen angewiesen ist.
Die Bundesregierung beabsichtigt daher gegenwärtigkeine Gesetzesinitiative zur Erhöhung der Erbschafts-teuer, zumal diese Steuer, wie wir alle wissen, bekannt-lich den Ländern zusteht. Aber auch andere Steuererhö-hungen sind nicht geplant. Im Gegenteil: Wir senken dieSteuern.Weil der finanzielle Spielraum auf Grund der Haus-haltslage eng ist, können wir keine Blütenträume erfül-len, sondern müssen auf dem Teppich bleiben. Das Er-gebnis der jüngsten Steuerschätzung hat uns unsere Ein-schätzung bestätigt. Hoffentlich bringt es auch Sie, mei-ne Damen und Herren von der Opposition, wieder aufden Boden der Realität zurück. In der vergangenen Wo-che konnten wir wirklich interessante Einlassungen ins-besondere des Kollegen Thiele und vieler anderer Ver-treter der Opposition hören. Unsere Steuerpolitik ist imGegensatz zu dem, was Sie hier lautstark fordern, ver-läßlich, vernünftig und nachhaltig finanzierbar. Sie kannsich jedenfalls sehen lassen.Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002,das schon in Kraft ist, senken wir die Steuersätze aufbreiter Front und entlasten die Steuerzahler netto uminsgesamt mehr als 20 Milliarden DM. Durch das im Fi-nanzausschuß in der vergangenen Woche beschlosseneFamilienförderungsgesetz werden Familien mit Kindernzum 1. Januar 2000 noch einmal deutlich um 5,5 Milli-arden DM entlastet. Damit wird auch eine Vorgabe desBundesverfassungsgerichts erfüllt. Für eine durch-schnittlich verdienende Familie mit zwei Kindern be-deutet dies über 3 300 DM weniger Steuern am Endedieser Legislaturperiode, also im Jahr 2002, im Ver-gleich zu 1998. Damit wird die Steuerschuld einer sol-chen Familie innerhalb von vier Jahren um fast 40 Pro-zent gesenkt. Dafür sind die rotgrüne Bundesregierungund die sie tragenden Koalitionsparteien verantwortlich.Dies haben Sie in Ihrer ganzen Regierungszeit nochnicht einmal ansatzweise geschafft. Wir haben es schonnach gut einem Jahr Amtszeit erreicht.
Gisela Frick
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6236 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Die abgewählte Regierungskoalition dagegen hat dieArbeitnehmer und ihre Familien in den letzten Jahrendurch immer neue Steuererhöhungen an die Grenze derBelastbarkeit und zum Teil darüber hinaus getrieben.Die wiederholten Erhöhungen der Mineralölsteuer wur-den zum bloßen Stopfen der Haushaltslöcher verwendet.Wir geben die Mehreinnahmen im Rahmen der ökologi-schen Steuerreform durch Senkung der Lohnnebenko-sten auf Heller und Pfennig an die Bürgerinnen undBürger zurück.
– Wir geben sie natürlich an die Bürgerinnen und Bürgerzurück. Sie müssen nicht dazwischenrufen, Herr KollegeFromme. Wer es glaubt, wird selig. Sie sind Abgeord-neter dieses Hohen Hauses und können das an Hand al-ler Gesetzesvorhaben inklusive des Haushaltsgesetzent-wurfes nachprüfen. Tun Sie also nicht so, als könntenSie dies nicht wissen.
Wir werden die Steuersenkungspolitik konsequentfortsetzen. Ab dem Jahr 2002 soll nach den Vorgabendes Bundesverfassungsgerichts die zweite Stufe des Fa-milienentlastungspakets in Kraft treten. Die Bundesre-gierung wird rechtzeitig einen Gesetzentwurf vorlegen.Bereits ab 2001 werden wir die Unternehmensteuerre-form in die Tat umsetzen. Sie wissen, dafür ist gegen-wärtig ein Entlastungsvolumen in der Größenordnungvon weiteren 8 Milliarden DM eingeplant.Dies sollte an dieser Stelle eigentlich reichen. Aberich ahne schon, daß mir einige von Ihnen jetzt Aussagenzur Vermögensbesteuerung im Koalitionsvertrag undauch die aktuelle Diskussion vorhalten wollen. Die Ko-alitionsvereinbarung enthält in der Tat einen eindeutigenPrüfauftrag, nicht weniger, aber auch nicht mehr. DiesenAuftrag werden wir erfüllen. Wir haben deshalb eineExpertenkommission eingesetzt – Kollege Poß hat dar-auf schon hingewiesen –, die sich mit dem Hauptpro-blem einer verfassungskonformen Vermögensbesteue-rung auseinandersetzt, nämlich mit der Bewertung desGrundbesitzes. Die Kommission wird im Frühjahr näch-sten Jahres ihren Abschlußbericht vorlegen. Dann erstwerden wir über die Frage der Vermögensbesteuerungentscheiden, und zwar selbstverständlich nur im Einver-nehmen mit den Ländern und unter verfassungsrechtlichnotwendigen Gesichtspunkten.Es gibt im übrigen auch weitere Möglichkeiten, dieFinanzkraft großer Vermögen sinnvoll für unser Ge-meinwesen nutzbar zu machen. Ich nenne in diesem Zu-sammenhang die von den Koalitionsfraktionen gestarteteInitiative zur Reform des Stiftungsrechts.Für uns ist Gerechtigkeit ein bestimmendes Ziel derSteuerpolitik.
– Nein, dies hat nichts mit Neid zu tun. Ich glaube, wirmüssen uns wirklich einmal über einige Grundsätze un-seres Gemeinwesens unterhalten. Steuern zu zahlen istdas Vorrecht des mündigen Bürgers, weil er selber lei-stungsfähig genug ist, um dies zu tun. Wir sollten baldwieder zu diesem Grundverständnis zurückkehren.
Es ist uns wichtig, eine sozial ausgewogene Beteili-gung der Bürger an der Finanzierung der notwendigengesellschaftlichen Aufgaben zu gewährleisten. Dem wi-derspricht nicht, daß wir die steuerlichen Rahmenbedin-gungen gleichzeitig auf mehr Wachstum einstellen wol-len, um insbesondere einen wichtigen Beitrag zum Ab-bau der hohen Arbeitslosigkeit zu erbringen; denn diehohe Arbeitslosigkeit ist natürlich die größte sozialeUngerechtigkeit.Wir haben von Anfang an für mehr Gerechtigkeit inder Steuerpolitik gesorgt. Im Steuerentlastungsgesetz1999/2000/2002 liegt der Schwerpunkt der Entlastungenbei Arbeitnehmern und Familien, bedingt insbesonderedurch die Konzentration der Tarifsenkungen im Ein-gangsbereich und die Erhöhung des Kindergeldes. Zu-gleich wurden in nie dagewesenem Ausmaß Ausnahme-regelungen und Steuervergünstigungen gestrichen odereingeschränkt, die tendenziell Bezieher höherer Ein-kommen begünstigt haben.
– Sie haben versucht, das alles zurückzudrehen.So haben wir durch die Neuregelung des Verlustab-zugs effektive Vorkehrungen gegen eine exzessiveVerlustverrechnung geschaffen. Es wird in Zukunftnicht mehr möglich sein, daß sich Einkommensmillionä-re bei ihren Steuerzahlungen künstlich auf Null arm-rechnen. Auch in den Finanzämtern in Bad Homburgvor der Höhe und in Starnberg wird es wieder ein positi-ves Aufkommen aus veranlagter Einkommensteuer ge-ben und nicht mehr Auszahlungen an veranlagter Ein-kommensteuer als Einnahmen.
Das Kernstück vieler Steuersparmodelle, den halbenSteuersatz für Veräußerungsgewinne, haben wir so um-gestaltet, daß sich diese Steuergestaltungen nicht mehrlohnen. Unsere Steuerpolitik zugunsten der Familiensetzen wir jetzt mit dem Familienförderungsgesetz fort.Im Kontext der geplanten Unternehmensteuerreformwerden wir weitere steuerliche Sonderregelungen ab-bauen. Schließlich hat auch die ökologische Steuerre-form im Hinblick auf die Senkung der Rentenversiche-rungsbeiträge eine deutliche soziale Prägung; denn dieBeitragssatzsenkung wirkt sich wegen der Beitragsbe-messungsgrenze überproportional im unteren und mittle-ren Einkommensbereich aus. Die Verbilligung des Fak-tors Arbeit verbessert überdies die Beschäftigungsper-spektiven.Meine Damen und Herren, damit ist das Thema Ge-rechtigkeit in der Steuerpolitik noch nicht erschöpft. Wirwerden weiter daran arbeiten, noch bestehende Gerech-tigkeitsdefizite im Steuersystem abzubauen. Dies betrifftParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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unter anderem die Besteuerung von Kapitalerträgen, dieich für äußerst unbefriedigend halte. Dies ist vorrangigein Thema für Europa. Die bisherigen Ergebnisse derDiskussion auf europäischer Ebene sind aber leider nichtermutigend. Wir werden hier den Druck erhöhen müssen.Meine Damen und Herren, Gerechtigkeit und öko-nomische Vernunft gehören in der Steuerpolitik zusam-men. Im Koalitionsvertrag steht deshalb auch, daß wirdie gesamte Steuer- und Abgabenbelastung senkenwollen. Das wird von Ihnen natürlich bewußt übersehenund verschwiegen. Ich stelle dagegen hier fest: Für dieBundesregierung genießt das Ziel der Senkung der Steu-er- und Abgabenbelastung weiterhin oberste Priorität.
Nun erteile ich dem
Kollegen Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werdentäglich mit Steuerveränderungs- und Steuererhöhungs-plänen aus dem Lager der Regierungsfraktionen kon-frontiert. Einige fordern – man könnte zitieren, aber dieZeit reicht dazu nicht – die Wiedereinführung der Ver-mögensteuer, andere eine einmalige Vermögensabgabe,wieder andere die Erbschaftsteuer. Herr Poß hat heuteangekündigt, daß die Grundsteuer erhöht wird. Ob ichaber die Steuersätze oder die Bemessungsgrundlage er-höhe, beides läuft letztlich auf eine Erhöhung hinaus.
Frau Kollegin Hendricks, es ist eine Zumutung fürjeden, der sich kritisch mit der Steuergesetzgebung inDeutschland auseinandersetzt, wenn Sie von diesemPlatz aus von einer vernünftigen und verläßlichen Steu-erpolitik reden. Wo waren Sie eigentlich während desletzten Jahres?
Meine Damen und Herren, viel schlimmer ist, daß diegesamte Diskussion um Steuerveränderungen und Steu-ererhöhungen die Kapitalflucht, die Flucht des scheuenGutes Vermögen und Geld, in unangemessener Formverstärkt.
Ich nenne einmal zwei volkswirtschaftliche Daten, FrauKollegin Scheel, die deutlich machen, wie Ihre Steuer-politik – ich muß allgemein von Ihrer Finanzpolitik re-den – inzwischen gewirkt hat.Erstens. Im letzten Jahr der Regierung Kohl ist dasBruttosozialprodukt um 2,2 Prozent gewachsen, im er-sten Jahr der Regierung Schröder werden es 1,4 Prozentsein. Damit teilen wir uns in der EU den Schlußplatz mitItalien. Das muß nachdenklich stimmen.Zweitens. In den letzten zwölf Monaten der Regie-rung Kohl ist die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 ge-sunken, bei Ihnen in den ersten zwölf Monaten um le-diglich 8 000.
Meine Damen und Herren, Sie erkennen hieran diekatastrophalen Folgen gerade Ihrer Steuerpolitik, insge-samt Ihrer Finanzpolitik, auf die gesamtwirtschaftlicheEntwicklung.
Bezogen auf die Erhöhung der Erbschaftsteuer,könnte man natürlich sehr lange reden. Ich will mich ausZeitgründen auf drei Punkte konzentrieren.Erstens. Die sogenannten Reichen, die hier immerwieder abwertend zitiert werden, zahlen schon heute denüberwiegenden Teil der Steuer. Sie wissen genau, daßdie Reichen
für jede Mark, die sie zusätzlich verdienen, 60 PfennigSteuern zahlen.
Der zweite Punkt. Gerade die Erbschaftsteuer wurde1996 um 40 Prozent erhöht.
– Von uns,
im Zuge der Aussetzung der Vermögensteuer.
– Wenn Sie jetzt mit dem Bundesverfassungsgericht ar-gumentieren, dann muß man sagen: Die Lösung, die wirda gefunden haben, wird vom Verfassungsgericht alsvernünftig angesehen; der Kollege Thiele hat es zitiert.Ein weiterer ganz entscheidender Punkt, bezogen aufdie Erbschaftsteuer, ist der Tatbestand, daß in den näch-sten Jahren etwa 500 000 mittelständische Firmen inDeutschland vererbt werden müssen. Wahrscheinlichkennen Sie, Herr Kollege Müller, die Praxis nicht so ge-nau. Das nehme ich Ihnen nicht übel.
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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6238 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Wenn Sie wüßten, welche Probleme die Erbschaftsteuerschon heute unter Liquiditätsgesichtspunkten auslöst!
Die Eigenkapitalquote der mittelständischen Wirtschaftist doch wirklich sehr gering, und Erbschaftsteuer gehtzu Lasten der Eigenkapitalquote.Mit unserer Kritik stehen wir nicht alleine da. Hierkönnte ich viele zitieren. Das will ich aber aus Zeitgrün-den nicht tun.
Ich will zu einem abschließenden Punkt kommen.Wir haben nun das Glück, daß sich die Steuereinnahmenin letzter Zeit erhöht haben. Ich glaube, dies sollte unszwingen, den Begriff „Steuererhöhung“ gemeinsam zustreichen.
Wir sollten uns gemeinsam an eine große Steuerreformmachen, wie es die wissenschaftlichen Institute vor-schlagen, und zwar eine Steuerreform, bei der wir alleSteuersätze entscheidend reduzieren,
damit wir den Weg gehen können, den die VereinigtenStaaten erfolgreich gegangen sind. Sie haben die Steuerngesenkt, haben aber bei rückläufigen Steuersätzen höhe-re Steuereinnahmen gehabt,
weil eine Reduzierung der Steuersätze die Investitions-bereitschaft stärkt und neue Arbeitsplätze schafft.
Dann kommen automatisch mehr Gelder in die Kasse.Meine Damen und Herren, bei der aktuellen Steuer-diskussion sind weniger Buchhalter gefragt, sondernLeute, die etwas von gesamtwirtschaftlichen Zusam-menhängen verstehen. Darüber sollte man einmal nach-denken.Danke schön.
Das Wort hat nun
die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich kannnur sagen: Ich stimme völlig mit der Einschätzung desHerrn Kollegen Poß überein, der sehr schön dargelegthat, wie Sie uns hier jede Woche – auch vergangeneWoche hatten wir das – mit Themen beschäftigen, dieman nur als ungelegte Eier bezeichnen kann, um von Ih-rer eigenen Unfähigkeit, eine gescheite Oppositionspo-litik zu machen, abzulenken.
Schade ist nur, daß dies im Grundsatz zu nichts ande-rem führt, als daß wir hier gemeinsam – es ist leider so –in gewisser Weise unsere Zeit verschwenden. Hinzukommt – das ist besonders fatal –, daß einer Verunsiche-rung in der Öffentlichkeit das Wort geredet wird, ohnedaß irgendein konkreter Vorschlag oder ein Gesetzes-vorhaben hier auf dem Tisch liegen würde.
Ich kann Ihnen klipp und klar sagen: Wenn Sie sichdieses Themas bemächtigen, dann sollten Sie auch denSachstand berücksichtigen. Der Sachstand ist, daß wir,nachdem wir den Koalitionsvertrag geschlossen haben –es gibt ihn nicht erst seit gestern –, eine Kommissioneingesetzt haben, die den gesamten Sachkomplex derBelastung von Vermögen und Vermögenswerten prüft.Es handelt sich um eine Kommission, die aus Vertreterndes Bundes und der Länder zusammengesetzt ist.Wir warten natürlich die Ergebnisse dieser Arbeits-gruppe ab – das wurde auch von der Frau Staatssekretä-rin gesagt –, um überhaupt eine Grundlage für eine se-riöse Diskussion zu haben. Alles andere – beispielsweisedas, was Sie heute geäußert haben – kann man nur inden Bereich der Spekulationen verweisen. Leider – mandenke an die Zeit, die wir damit verbringen – stecktmehr nicht dahinter.
Der Herr Kollege Otto Bernhardt hat gerade ange-sprochen, daß man bereits 1996 eine Änderung der Erb-schaftsteuer vorgenommen hat. Dies ist richtig. Man hateine Änderung vorgenommen, weil es damals vom Bun-desverfassungsgericht Vorlagen zur Neubewertung ge-geben hat. Diese Vorlagen haben unter anderem dazugeführt, daß man zum einen die Erhebung der Vermö-gensteuer hat ruhenlassen und daß man zum anderen beider Erbschaftsteuer verfassungskonforme Regelungenfinden mußte.Es gibt unterschiedliche Bewertungen, die daraufhingeprüft werden, inwieweit die Verfassungskonformitätfür die Zukunft gesichert ist. Die Präsidentin des Bun-desverfassungsgerichtes, Frau Jutta Limbach, hat sicherst vor kurzer Zeit öffentlich geäußert, sie könne nichtausschließen, daß sich das höchste deutsche Gericht er-neut in die Diskussion um die Erbschaftsteuer einschal-ten könnte. Dabei gehe es um die Tatsache, daß Immo-Otto Bernhardt
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bilien bei der Steuer mit durchschnittlich 60 Prozent ih-res Marktwertes noch immer wesentlich günstiger alsGeldvermögen bewertet werden. Ich zitiere aus einerAgenturmeldung:Limbach sagte dem Wirtschaftsblatt handwerk ma-gazin, „das Gericht habe auch in den vorangegan-genen Beschlüssen zur Erbschaft- und Vermö-gensteuer seine Kontrollfunktion ausgeübt. Dabeisei es so gewesen, dass die Verfassungswidrigkeitschon die Spatzen von den Dächern pfiffen.“
Ich sage das nur deswegen, weil hier immer wieder soein Popanz aufgebaut wird, als ob man Pläne hätte. Esgibt lediglich Diskussionen zu den Bewertungsfragen,die unter Beteiligung der Länder inhaltlich fundiert vor-bereitet werden. Wie auch Sie wissen, handelt es sichum eine Ländersteuer. Wenn es überhaupt zu einerVorlage kommt, dann wird sie von den Ländern einge-bracht werden.
– In den Bundesrat natürlich. Wohin denn sonst?
Gerade die F.D.P. stellt sich immer als Steuersen-kungspartei hin. Ich möchte daran erinnern, daß man,wenn man die letzten Jahre Ihrer RegierungsbeteiligungRevue passieren läßt, feststellt, daß die Sozialabgabendrastisch erhöht wurden – das ist besonders für die Ar-beitgeber, aber auch für die Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen ein Riesenproblem –,
daß man die Mehrwertsteuer erhöht hat, und zwar meh-rere Male, daß die Mineralölsteuer erhöht worden ist,
daß die Grunderwerbsteuer erhöht worden ist und daßÄnderungen an den Erbschaftsteuerregelungen vorge-nommen worden sind – all das zu Lasten der Bürger undBürgerinnen, die nach 16 Jahren Regierungsbeteiligungunter dem Strich eine noch nie dagewesene Belastungdurch Steuern und Abgaben ertragen mußten.
Wir haben bereits in diesem Jahr mit viel Mühe undmit sehr guten Wirkungen angefangen, diese Steuer- undAbgabenbelastung zu senken. Wir haben den Trend um-gedreht. Ganz konkret: Die Steuerbelastung und auchdie Abgabenbelastung sinken unter Rotgrün beständig.Dagegen können Sie nichts haben – oder?
Das Wort hat jetzt
der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Seit die F.D.P. nichtmehr an der Regierung ist, redet sie gerne und häufigüber Steuern.
Es wäre viel schöner gewesen, Herr Kollege Thiele,wenn Sie in der Zeit, als Sie Mitverantwortung für diePolitik des Bundes getragen haben, gehandelt hätten.
Das, was Sie im Bereich der Steuern getan haben, hingdamals allerdings kaum mit dem zusammen, was Siedamals gerne gesagt haben. Sie haben auch damals, al-lerdings nicht so häufig wie heute, über Steuersenkun-gen gesprochen,
aber tatsächlich haben Sie das krasse Gegenteil gemacht.
Ein ganzes Dutzend von Steuererhöhungen haben Sie inden letzten 16 Jahren beschlossen.
Die erste Regierung seit langem, die es schafft, Haus-haltskonsolidierung und Senkung von Steuern- und Ab-gabenlast durchzusetzen, ist die Regierung GerhardSchröder.
Ich darf das vielleicht wiederholen: Wir haben mit demSteuerentlastungsgesetz, das im Frühjahr verabschiedetwurde,
– Sie wollen es ja offenbar nicht wahrnehmen, aber dassteht im Gesetzblatt –,
die Anhebung des Grundfreibetrages in drei Stufen, dieSenkung des Eingangssteuersatzes und sogar – ich hof-fe, daß Sie sich doch wenigstens darüber ein wenig freu-en können – die Senkung des Spitzensteuersatzes be-schlossen. Sie haben früher gerne davon geredet, es abernicht gemacht.
Christine Scheel
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6240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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– Ach, Petersberg! Die Petersberger Beschlüsse sind einhervorragendes Beispiel. Ich möchte Ihnen jetzt einmalsagen, was darin stand: Zum Beispiel sollten 50 Prozentder Rente besteuert werden,
statt nur der Ertragsanteil, der heute normalerweise beiknapp einem Drittel liegt.
– Das stand alles in den Petersberger Beschlüssen. – DasArbeitslosengeld sollte zur Hälfte besteuert werden.Auch das wollten Sie machen.
– Ja, aber sicher. Schauen Sie gelegentlich doch einmalin Ihre eigenen alten Papiere.
Ich kann es ja verstehen, daß Sie mitunter – dasStichwort Neid wurde ja schon genannt – neidischsind, daß es dieser Regierung und dieser Koalition ge-lingt, die Steuern zu senken und den Haushalt zu kon-solidieren.
Haushaltskonsolidierung und F.D.P. sind ja zwei Be-griffe, die eigentlich gar nicht zusammenpassen. LieberHerr Kollege Thiele, wir alle erinnern uns noch, daßGraf Lambsdorff in der vorigen Wahlperiode mit Blickauf den damaligen Bundesfinanzminister Waigel malfreundlich, mal zornig von der Notwendigkeit einesHaushaltsstrukturgesetzes sprach. Es blieb allerdings beiden Ankündigungen. Umgesetzt haben Sie das nie. Esgab nur einen einzigen Beitrag, den die F.D.P. in der vo-rigen Wahlperiode zur Konsolidierung der Bundesfinan-zen geleistet hat.
Es zeugte von einem sehr sympathischen Desinteressean Geld, daß Ihr Bundesschatzmeister, Herr Solms, da-mals aus Schludrigkeit versäumte, bei der Frau Präsi-dentin die der F.D.P. zustehenden Gelder zu beantragen.Das hat ein bißchen zur Konsolidierung der öffentlichenHaushalte beigetragen.
Allerdings war die Wirkung nicht nachhaltig, Herr Kol-lege Thiele.
Bezüglich der Erbschaftsteuer – es wurde ja schongesagt, daß sie von Ihnen auch erhöht wurde – kann ichSie in einem Punkt vielleicht doch noch beruhigen.
Wir werden mit Sicherheit nicht, Herr Kollege Thiele,danach fragen, ob es vielleicht nicht angemessen wäre,diejenigen Erben, die schlecht mit ihrem Erbe umgegan-gen sind, im nachhinein höher zu besteuern. Denn dasginge ja eindeutig zu Lasten der F.D.P. Was Sie mit dempolitisch organisierten Liberalismus in Deutschland ge-macht haben, ist ein Jammer. Das hat gar nichts mehrmit Fortschritt und Freisinn zu tun.
Da Sie sehr großzügig mit dem Begriff der Aktualitäteiner Debatte umgehen – das hat die Debatte gezeigt –,biete ich Ihnen ein wenig Hilfe an: Wenn Sie wiedereinmal eine steuerpolitische Debatte lostreten wollen, sokönnen Sie doch einmal über Steuern reden, die garnicht mehr erhoben werden.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Hier bietet sich insbeson-
dere an – das soll die letzte Bemerkung sein –: die
Wechselsteuer, die Spielkartensteuer oder für Sie spezi-
ell die Essigsäuresteuer.
Jetzt hat der Kollege
Hansgeorg Hauser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren!Wir haben uns mit den Plänen der Koalition zur Erhö-hung der Erbschaftsteuer schon öfter beschäftigt.Manchmal hatte diese Diskussion einen anderen Namen.Damals haben wir uns mit der Vermögensteuer beschäf-tigt.
Jörg-Otto Spiller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6241
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Aber weil sie den Ländern zusteht, hat man eine Ver-mögensabgabe konstruiert. Alles wurde von seiten derRegierung abgestritten. Das haben wir heute wieder her-vorragend erlebt. Es heißt dann immer, alles wäre nur inder Phantasie der Opposition. Kaum war die Debatte imPlenum beendet, ging der Streit zwischen den Gerech-tigkeitsaposteln und den Modernisierern, den Marschie-rern auf den alten Trampelpfaden und den Suchenden,die sich schon auf dem „dritten Weg“ zur neuen Mittebefanden, weiter. Einig waren sie sich aber im Bemü-hen, wie man den Reichen vors Schienbein treten kann.Nur die Motive unterschieden sich. Während die eineneine vermeintliche Gerechtigkeitslücke schließen woll-ten, ging es den anderen um Befriedung und Machter-halt. Die sich widersprechenden Schlagzeilen, zum Teilvom gleichen Tag, spiegeln dieses Chaos wider. In der„Welt“ vom 8. November 1999 steht:SPD will die Erbschaftsteuer erhöhen.Mit dem Untertitel:Neue Pläne zur Besänftigung der Parteilinken.Am gleichen Tag titelt die „FAZ“:Bund will Erbschaftsteuer in diesem Jahr nichtmehr erhöhen.Das BMF will die Entscheidung also nicht vor Jahresen-de treffen. Also, irgendwie muß da doch etwas sein.Es ist kein Wunder, daß die Bürger erzürnt sind überdas rotgrüne Steuerwirrwarr und der Steuerpolitikschlechte Noten erteilen. Der Vorwurf der „Süddeut-schen Zeitung“ vom 8. November trifft den Nagel aufden Kopf, wenn festgestellt wird, daß Rotgrün sich mitSymbolpolitik verzettele, anstatt die wahren Problemezu lösen. Hier wird geschrieben:Symbolpolitiker verkaufen eine Tüte Peanuts alsErdnußfarm. Mit mehr sozialer Gerechtigkeit hatdas alles nichts zu tun.
Es wäre vor allem an der Zeit, daß der Finanzministerdazu ein klärendes Wort spricht, zu dem er aber auchlänger als ein paar Tage steht. Vom Kanzler wäre einesolche Erklärung zuviel verlangt, da er bekanntlich wieein Chamäleon je nach Publikum die unterschiedlichstenVersprechungen macht.
Daß es in dieser Legislaturperiode keine Steuererhöhun-gen geben soll, glaubt ihm schon längst niemand mehr.So entscheidet dann der eine nach der Kassenlage undder andere nach der Parteilage. Mit dem Grundprinzipeiner soliden Steuerpolitik hat so etwas nichts zu tun.
Hier sind Verläßlichkeit, Berechenbarkeit und Planbar-keit gefragt, damit sich die Unternehmen und Steuer-zahler entsprechend darauf einstellen können.
Eine Zeitlang schien es, liebe Frau Scheel, daß sichdie Grünen gegen die Erhöhung den Erbschaftsteueroder die Wiedereinführung der Vermögensteuer aus-sprachen.
Die Farbenlehre schien etwas verdreht zu sein. Die Ro-ten waren grün vor Neid und die Grünen rot vor Wut.
Aber gegen ein kleines Entgegenkommen scheinen sienunmehr bereit zu sein, den steuerpolitischen Sündenfallmitzumachen, nach dem Motto: Wer ein bißchen stiftet,soll einen entsprechenden Ablaß bekommen.Ich will nicht auf die Geschichte der letzen Erb-schaftsteuerreform eingehen. Sie alle wissen, daß imVermittlungsausschuß eine ganze Reihe von Entschei-dungen getroffen wurden, die wir so nicht wollten, aberhinnehmen mußten.Lassen Sie mich folgendes sagen: Sie erreichen mitsolchen Debatten nichts. Eine Schröpfung der wirklichReichen, wie es die Linken immer wieder fordern, wer-den Sie in dieser Form sowieso nicht erreichen.
Erstens zahlen die Reichen ihre Steuern genauso wiedie anderen Gruppen. Zweitens gibt es gerade bei derErbschaftsteuer einige Regelungen, die die großen Ver-mögen so nicht erfassen. Herr Ondracek hat es richtigausgedrückt, als er gesagt hat: Viel Ärger und wenigErtrag.
Die kleinen Vermögen sollen ausgenommen werden,wobei sich die Streitfrage stellt, welche Grenzen gezo-gen werden sollen. Dazu hat Ondracek ganz nüchterngesagt, es sei pure Ideologie und widerspreche demGrundsatz der Gleichbehandlung, wenn man willkürli-che Grenzen ziehen würde.Bezüglich des Betriebsvermögens sind wir uns alleeinig, daß es nicht stärker belastet werden sollte. Alsokann der Fiskus in diesem Bereich nichts gewinnen. Üb-rig bleibt das Immobilienvermögen des Mittelstandes.Genau in diesem Bereich greifen Sie zu. Bei den Großenund auch bei den Kleinen – darin sind wir uns einig – istnämlich nichts zu holen. Der Mittelstand soll zusätzlichbelastet werden.Diese Diskussion wird immer unter dem Gesichts-punkt der Gerechtigkeit geführt. In Wahrheit geht es umpure Ideologie und um Neidkomplexe.
Der „leistungslose Reichtum“ soll erfaßt werden, wie esim Leitantrag zum nächsten SPD-Parteitag heißt. IchHansgeorg Hauser
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6242 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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kann verstehen, daß sich Herr Scharping um die Zu-kunftsfähigkeit der SPD große Sorgen macht.
Eine solche Umverteilung ist purer Sozialismus undwiderspricht den Grundsätzen einer sozialen Marktwirt-schaft. Wir bekennen uns zur Sozialbindung des Eigen-tums. Wenn diese aber zu einer Überbesteuerung und zueiner Schröpfung der Bürger führt, dann werden wir unsentschieden dagegen wehren.
Nun hat die Kollegin
Nicolette Kressl, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einer einigermaßenredlichen Debatte hätte heute gehört, daß zum BeispielSie, Herr Hauser, nicht folgendes tun: Sie zitieren eineÜberschrift aus einer Zeitung und unterstellen damit –das war in mehreren Aktuellen Stunden der Fall –, daßes sich um einen Beschluß der SPD handele.
Redlichkeit würde mehr Sachlichkeit verlangen. Ich er-warte, daß Sie in Aktuellen Stunden dementsprechendhandeln und nicht so, wie Sie das schon in mehrerenAktuellen Stunden getan haben, indem Sie einfach nurNebelkerzen geworfen haben.
Ich kann allerdings ganz gut verstehen, daß Sie allenGrund dazu haben, in Aktuellen Stunden einige Neben-kerzen zu werfen. Einer der Gründe ist, daß Sie immerwieder versuchen müssen – Sie versuchen es aber nur –,darüber hinwegzutäuschen, daß wir in Wirklichkeit –zum Beispiel mit dem Steuerentlastungsgesetz – massi-ve Steuerentlastungen durchgesetzt haben.
Ich gehe davon aus, Sie sind noch in der Lage – auchSie, Herr Seifert –, ein Finanztableau zu lesen. In demFinanztableau zum Steuerentlastungsgesetz können Sienachlesen, daß es in diesem Bereich Steuerentlastungenin Höhe von 20 Milliarden DM netto gegeben hat. Dassind Tatsachen, die Sie nicht leugnen können. Sie kön-nen auch nicht leugnen, daß wir zusätzlich zu diesenSteuerentlastungen von 20 Milliarden DM weitere6 Milliarden DM Entlastungen durch das Familienentla-stungsgesetz durchgesetzt haben. Davon entfallen übri-gens 900 Millionen DM auf Entlastungen, die wir nach-träglich einführen mußten, weil über viele Jahre zu nied-rige Freibeträge galten.
Angesichts der uns von Ihnen hinterlassenen Lasten,die wir jetzt ausbügeln müssen und die uns im nächstenJahr 1 Milliarde DM kosten, sollten Sie eigentlich sehrvorsichtig mit Ihren Vorwürfen von zu hohen Steuernsein. Das ist einer der Gründe, warum Sie nichts andereskönnen, als Nebelkerzen zu werfen.
Wir haben nämlich erkannt, daß es dringend notwen-dig ist, nicht nur auf Grund der Haushaltssituation, dieSie uns hinterlassen haben, sondern auch auf Grund derSteuer- und Abgabenbelastung, die Sie nicht uns, aberallen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hinterlas-sen haben, ein Steuerentlastungsgesetz zu machen, dasdie Schwerpunkte auf die Entlastung der unteren undmittleren Einkommen legt.Daß Sie sich nicht um diese Schwerpunkte geküm-mert haben, kann ich gut nachvollziehen. Aber für unswar es wichtig zu sagen: Für uns haben die Erhöhungdes Grundfreibetrags und die Senkung des Einkom-mensteuersatzes Priorität, wodurch die unteren undmittleren Einkommen entlastet werden, sowie die Erhö-hung des Kindergeldes, was in vielen Bereichen eben-falls die Förderung derjenigen bedeutet, die keine hohenEinkommen haben, so daß Steuerfreibeträge wirkenkönnen.
Ich will noch einen zweiten Grund nennen, warumSie es anscheinend nötig haben, in Aktuellen Stundenständig Nebelkerzen zu werfen.
Offensichtlich müssen Sie jetzt – und auch morgen,wenn wir wieder darüber reden – davon ablenken, daßSie nichts anderes getan haben, als in der letzten Wocheim Finanzausschuß alle Anträge zu stellen, deren Um-setzung dafür sorgen würde, daß sämtliche Steuer-schlupflöcher wieder geöffnet werden.
Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet indirekt ei-ne Steuererhöhung für untere und mittlere Einkommen,weil die Bezieher dieser Einkommen, die nicht dieMöglichkeit haben, diese Steuerschlupflöcher zu nutzen,dadurch letztendlich mit höheren Steuern belastet wer-den. Auch das ist ein Grund dafür, daß Sie hier nichtüber Tatsachen reden können, sondern eine Nebelkerzenach der anderen werfen.
Hansgeorg Hauser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6243
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Sie versuchen, den Vorgang, daß sich eine Sachver-ständigenkommission mit der Bewertung von Fakten be-schäftigt und die Vorbereitungen dafür trifft, daß wirEntscheidungen fällen können – was ich für völlig nor-mal halte –, aufzuplustern bis hin zu Unterstellungen,wir hätten schon irgendwelche Beschlüsse gefaßt.
– Nein, unsere Wunderkerze habe ich Ihnen schon vor-gestellt: 20 Milliarden DM Nettoentlastung. Das habenSie nie geschafft. Ich kann mir gut vorstellen, daß Siesich wünschen, Sie könnten das auch.Ich will Ihnen noch eines sagen. Bei Ihrem Versuch,sämtliche Steuerschlupflöcher wieder zu öffnen, stellenSie nicht die Frage in den Mittelpunkt, welche Schulternin der Gesellschaft welche Lasten tragen können. AberSie können sich einer Sache ganz sicher sein: Wir lassenuns durch keine Aktuelle Stunde davon abbringen, daßdiese Prinzipien für uns entscheidend sind und daß wiruns bei jeder Form der Steuerpolitik von diesen Prinzi-pien leiten lassen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Michelbach.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heutewieder eine typisch rotgrüne Steuererhöhungsdebatteerlebt, die ein verlorenes Jahr in der Steuerpolitik insge-samt dokumentiert. Seit Wochen betreibt die rotgrüneRegierungskoalition im Zusammenhang mit Steuererhö-hungen, wie heute morgen bei der Ökosteuer, Gespen-sterdebatten und Versteckspiele.
Wir werfen keine Nebelkerzen, Frau Kressl, aber Siesind in der Steuerpolitik umnebelt!
Ich kann Ihnen deutlich sagen: Es gibt keine denkbareArt von Steuererhöhungen, die Sie in den letzten Wo-chen und Monaten hier nicht debattiert hätten. Sie leug-nen nun wieder Ihre Beschlüsse, die ich heute in der„Süddeutschen Zeitung“ lese. „Associated Press“schreibt:Die Grünen-Bundestagsfraktion hat ihre finanzpo-litischen Leitlinien verabschiedet … In dem Be-schluß sprachen sich die Grünen dafür aus, hohePrivatvermögen stärker als bisher zur Finanzierungstaatlicher Aufgaben heranzuziehen. Die Chancefür eine „gerechtere Regelung“ biete indes eine Re-form der Erbschaftsteuer, die zu stärkeren Einnah-men bei hohen Erbschaften führe.Das haben Sie beschlossen!
Geben Sie es doch zu! Sie müssen zu dem stehen, wasSie beschlossen haben.Frau Hendricks sagt: Wir sind verläßlich. – Bei Steu-ererhöhungen sind Sie verläßlich, das ist richtig!
Die Verunsicherungen der Steuerzahler haben bereitsschwere Schäden verursacht. Es gibt keine Aufhellungder Lage durch Steuersenkungen und keine Klarheit fürmehr Wachstum und Beschäftigung. Statt dessen führtRotgrün Steuererhöhungen durch, trotz der Tatsache,daß der deutsche Steuerzahler 1999 50 Milliarden DMund bis 2002 123,4 Milliarden DM mehr Steuern zahlenmuß.Hinzu kommt die Ökosteuer bzw. deren Erhöhungenbis zum Jahre 2003. Wissen Sie überhaupt, was Sie an-stellen? Bis zum Jahre 2003 verlangen Sie den deut-schen Steuerzahlern im Rahmen der Ökosteuer110,2 Milliarden DM ab. Das sind die Tatsachen, dieman heute deutlich nennen muß.
Sie bewirken auf der Basis rotgrüner Ideologie einSteuermartyrium
zu Lasten von Verbrauchern und Wirtschaft inDeutschland. Sie drehen immer weiter an den Steuer-folterwerkzeugen.
Ich kann Ihnen deutlich sagen: Sie haben in den letz-ten Tagen im Rahmen des Steuerbereinigungsgesetzesschon die Erbschaftsteuer erhöht. Morgen verabschiedenSie es. Vom Finanzausschuß wurde es bereits beschlos-sen. Sie wissen anscheinend gar nicht, welche Auswir-kungen das Steuerbereinigungsgesetz hat.
Schulden können nicht mehr anteilig berücksichtigtwerden. Die bisher erfolgte Anrechnung der Jahresmietenach dem Durchschnitt der letzten drei Jahre wird aufein Jahr gekürzt. Das sind für die Betroffenen klareSteuererhöhungen im Bereich der Erbschaftsteuer.Nichts anderes ist der Fall.
Eine nächste Erhöhung erfolgt über den Kommissi-onsweg, nach dem Prinzip: Wenn ich bei den SteuernNicolette Kressl
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nicht mehr weiter weiß, dann gründe ich einen Erhö-hungsarbeitskreis. Das tun Sie im Rahmen Ihrer neueingesetzten Bewertungskommission.
Weiterhin erfolgen beim Grundbesitz eine Erhöhungder steuerlichen Bemessungsgrundlage von 50 auf80 Prozent des Verkehrswertes, eine Steuererhöhungdurch Abschaffung der Ertragswertmethode und die Ein-führung eines sogenannten automationsgerechten Berli-ner Verfahrens, eines Sachwertverfahrens also, das aufder Basis von Substanz- und Scheingewinnbesteuerungein Abkassiermodell ist. Dies ist ein Einfallstor für Er-höhungen bei der Grundsteuer, der Erbschaftsteuer undder Vermögensteuer. Das ist die Situation, die Sie mitdiesem Arbeitskreis, mit dieser Kommission hervorru-fen.
Die Auswirkungen sind: weniger Investitionen, eingeringeres Wohnraumangebot und damit höhere Mieten,weniger Eigenkapital und damit weniger Mittelstand,weniger Betriebsvermögen und Betriebsübernahmensowie eine geringere Modernisierung der Objekte. Dasgeht zu Lasten unseres Standortes Deutschland, zu La-sten unserer Arbeitsplätze. Das haben Sie mit IhrerSteuerpolitik zu verantworten. Geben Sie endlich zu,daß Sie die Steuererhöhungskoalition sind!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.
Sehr ge-ehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmuß feststellen, daß mich die soeben vorgetragene „Mi-chelbach-Passion“ wirklich tief beeindruckt hat.
Insbesondere daß von einem Einfallstor gesprochenworden ist, hat mich beeindruckt. Der kreative und frei-händige Umgang mit 20 Textmodulen, die Ihnen in sol-chen Debatten zur Verfügung stehen, macht mich gera-dezu baff.
– Das kann natürlich sein. Diese zehn wurden durchKreativität überhöht. Aber das macht ja die Kunst aus.
Wenn heute nicht Hoppeditzerwachen wäre, müßteman auf die Idee kommen, daß demnächst prophylak-tisch jeder Pressespiegel mit einer Drucksachennummerversehen wird, damit man je nach Belieben zu jedembeliebigen Thema und allem, was in dieser Gesellschaftpassiert, eine Debatte auf die Tagesordnung setzen kann.Das alles ist legitim. Ob es etwas nützt, weiß ich nicht.
Herr Michelbach und Frau Wülfing, daß genauso wie zuIhren Zeiten zu unseren Zeiten konzeptionelle Diskus-sionen darüber stattfinden, auf welchen Bemessungs-grundlagen Steuern erhoben werden, ob etwas verfas-sungsgemäß ist oder nicht, ist das tägliche Brot vonSteuerpolitik und von Steueradministration. Wenn sichder Bund und alle Länder gemeinsam mit der Frage be-schäftigen, ob die Bewertung von Grundvermögen heutenoch verfassungsgemäß ist, dann ist das zumindest fairerund offener als der Umstand, wie es durch einen Ge-heimbund zu den Petersberger Beschlüssen kam. Seiner-zeit wurden die SPD-geführten Länder ausgeschlossen.Damit wurde provoziert, nichts zu erreichen.Wir gehen mit offenem Visier an die Sache heran.Deswegen bekommen Sie auch soviel davon mit undkönnen solche Debatten auf die Tagesordnung setzen.Ich denke aber, diese Vorgehensweise ist vernünftiger.Sie ist transparent und nachvollziehbar.
Das Ergebnis ist doch nicht allein durch die Tatsachevorprogrammiert, daß man sich mit einem Thema be-faßt. Selbst wenn die Bemessungsgrundlage verbreitertwürde, hieße dies noch lange nicht, daß automatischstärker besteuert würde und daß dies jeden träfe. Eskönnte auch sein, daß sich für den einen oder anderen,für eine bestimmte Personengruppe, auf Grund vonFreibeträgen keine zusätzliche Steuerschuld einstellt.Das muß offen diskutiert werden.
Ich persönlich – und ich befasse mich wirklich da-mit – lege mich nicht auf ein mögliches Ergebnis fest.Ich weiß nur – da gebe ich Ihnen recht, vor allen DingenHerrn Thiele und Frau Frick –, daß ein Verhältnis zwi-schen der Besteuerung von Erwerbseinkommen, also derlaufenden Einkünfte, und der Besteuerung von Vermö-gen besteht und daß steuerlich nicht so zugeschlagenwerden kann, daß die Leistungsbereitschaft erstickt bzw.das Recht auf Eigentum ad absurdum geführt wird. Manmuß immer die Folgen im Auge haben.Wenn wir im Gegensatz zu Ihnen auf breiter Front biszum Jahr 2002 die Steuerbelastung um 40 MilliardenDM senken, dann gibt es natürlich für Überlegungen,am Vermögen steuerlich etwas stärker anzusetzen, mehrLuft als in einer Situation der hohen Besteuerung vonErwerbseinkommen. Dann kann man möglicherweisenur noch zu dem Ergebnis kommen, daß man bei derBesteuerung der Vermögen nicht groß etwas machenkann. Diese Symmetrie wissen wir zu beachten.Ich wundere mich, daß diese Diskussion vor demHintergrund geführt wird, daß sowohl CDU/CSU alsHans Michelbach
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6245
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auch F.D.P. versucht haben, in den Debatten der letztenWochen im Finanzausschuß, als es um das Steuerberei-nigungsgesetz ging, die Schlachten der Vergangenheiterneut zu schlagen und jedes Steuerschlupfloch, das wirmühsam geschlossen haben, wieder aufzureißen.
Sie betreiben eine reine Klientelpolitik. Sie lassen jedeBemessungsgrundlage verfallen und lassen zu, daß jederSteuerschuldner, wenn er nur ein hinreichend hohesEinkommen hat, seine Steuerschuld selbst festsetzenkann. Das war die Situation am Ende Ihrer Regierungs-zeit. Die veranlagte Einkommensteuer war zu einerMarginalgröße geworden, so daß sich kaum noch dieErhebung der Steuer gelohnt hat.
Das war das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik. Damit habenwir aufgeräumt.
Wir sind in der Lage, die Steuersätze zu senken, weilwir die Bemessungsgrundlage auf der gesamten Linieerhöht haben. Wir sind überzeugt davon, daß diese Poli-tik, also die Verbreiterung der Bemessungsgrundlageund die Senkung der Steuersätze, dazu führen wird, daßsich die Einnahmen stabilisieren. Das ist teilweise sogarschon zu sehen.Sie nennen immer Beispiele für eine Vermögensbe-steuerung, sagen aber gleichzeitig, wir sollten eine Steu-erpolitik betreiben, wie es in den USA geschieht. Wennwir eine solche Steuerpolitik betreiben würden –
Herr Kollege,
Sie können das leider nicht mehr ausführlich darlegen.
– bezüglich
der Erwerbseinkommen und der Erbschaften, dann
müßten wir im Schnitt 80 bis 86 Prozent aller vererbten
Vermögen belasten und darüber hinaus auch noch die
bestehenden Vermögen. Das ist implizit Ihre Empfeh-
lung, wenn Sie das Beispiel USA anführen. Das haben
wir wirklich nicht vor.
Damit ist die
Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Guido Westerwelle, Günther Friedrich Nolting,
Hildebrecht Braun , weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes
– Drucksache 14/1728 –
Überweisungsvorschlag:
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6246 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Meine Damen und Herren, es ist wirklich bedauer-lich, daß erst eine junge Frau vor dem EuropäischenGerichtshof klagen muß, damit endlich auch hier inDeutschland die Chance besteht, daß eines der letztengeschlechtsspezifischen Berufsverbote aufgehoben wird.Auch wenn die Kritiker nicht verstummen, erweisensich alle vorgebrachten Argumente unserer Ansicht nachnicht als stichhaltig.
Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, LaPergola, hat ausdrücklich darauf verwiesen, daß die vor-gebrachten Argumente der Bundesregierung und beson-ders die von Verteidigungsminister Scharping lediglichallgemeine und soziale Erwägungen beinhalten, die kei-ne Ausnahme vom Gebot der Gleichbehandlung erlau-ben. Auch die Worte anderer Kritiker sind sehr harsch.Volker Rühe kann sich keine Frauen in Kampfpanzernvorstellen, Claire Marienfeld sieht schwangere Soldatin-nen als Problem an, und Rupert Scholz versteckt seineantiquierten Vorstellungen unter einem verfassungs-rechtlichen Deckmäntelchen.Der Deutsche Bundestag sollte nicht auf möglicheUrteile des Europäischen Gerichtshofs reagieren müs-sen, sondern er sollte die Modernisierung unserer Ver-fassung aktiv betreiben und dieses Berufsverbot endlichaufheben.
Meine Damen und Herren, in einem Jahresbericht derJugendoffiziere der Bundeswehr findet sich folgendeAussage: Das Interesse an der Bundeswehr ist geradebei den jungen Frauen stark angestiegen. Wie in denvergangenen Jahren wird die praktizierte Grundgesetz-auslegung von ihnen nicht nachvollzogen, da nach ihrerAuffassung beim Bundesgrenzschutz oder bei der Poli-zei gleiche Voraussetzungen vorliegen. Sie sehen einenkrassen Verstoß gegen die Gleichberechtigung darin,daß den Frauen nur ganz wenige Laufbahnen in derBundeswehr offenstehen. Zuweilen wird von jungenFrauen gar von Rechtsbeugung und Frauenfeindlichkeitgesprochen.Meine Damen und Herren, die Bundeswehr befindetsich zudem in einer Phase der Neuorientierung. Sie hatveränderte Aufgabenstellungen wie die Krisenbekämp-fung und die Prävention. Die Chance in einer solchenPhase besteht auch darin, weitreichende Reformendurchzuführen. Frauen in Führungsfunktionen der Bun-deswehr: Das wäre ein Signal in die richtige Richtung.
Der Bundesgrenzschutz und die Länderpolizeien –wie ich schon sagte – stellen Frauen für den Dienst ander Waffe ein. Was hier gilt, kann nicht an andererStelle außer Kraft gesetzt werden.
Meine Damen und Herren, der Fall Tanja Kreil vordem Europäischen Gerichtshof birgt noch mehr Spreng-stoff als nur den einer Gleichberechtigungsdebatte. Ichzweifle nicht daran, daß die Richter entscheiden werden,daß es gegen europäisches Recht verstößt, Frauengrundsätzlich vom Waffendienst auszuschließen.
Wenn dieser Fall einträte, stünde der Urteilsspruch ineklatantem Widerspruch zum deutschen Grundgesetz.
Frau Kollegin!
Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ich komme zum Schluß.
Die Zeit spricht, Frau Wolf, für unseren Antrag. Ich hof-
fe, Sie sehen das auch so.
Ich meine – trotz der fortgeschrittenen Zeit –, daß dies
sehr wichtig ist.
Nein, bitte
keine neuen Argumente mehr einführen.
Egal, ob wir mittags oder abends
über dieses Thema sprechen – das Thema ist wichtig,
und die Uhrzeit ist unwichtig –:
Lassen Sie uns gemeinsam in aller Ernsthaftigkeit und
mit Umsicht diesen Gesetzentwurf beraten. Ich sage Ih-
nen: Sie werden uns recht geben müssen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Alle Jahre beschert uns dieF.D.P. einen Gesetzentwurf, der die Beseitigung desVerbots für Frauen, in der Bundeswehr Dienst mit derWaffe zu tun, vorsieht. Normalerweise wird die Ein-bringung dieses Entwurfs als Sommerlochtheater insze-niert, nunmehr zur Abwechslung als Herbstmanöver.
– Das kommt noch, warten Sie ab. Allerdings hat dasManöver in diesem Fall einen ernsthaften Hintergrund.Ina Lenke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6247
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Folgt man den Schlußanträgen des Generalanwaltsbeim Europäischen Gerichtshof, La Pergola, in demFall Tanja Kreil – Sie erwähnten es, Frau Lenke –,
ist durchaus damit zu rechnen, daß der bisherige Aus-schluß von Frauen im Soldatendienst mit Ausnahme derVerwendung im Sanitäts- und Militärmusikdienst dereuropäischen Gleichstellungsrichtlinie vom 9. Februar1976 widerspricht.Die Begründung der deutschen Regierung für ihreKlageerwiderung – ich zitiere –, „vor dem Hintergrundder Geschichte“ sei „man bemüht, sicherzustellen, daßFrauen nicht in Kampfhandlungen verwickelt“ würden,konnte den Generalanwalt nicht überzeugen. In der Tat:Ungleichbehandlungen auf Grund des Geschlechts kön-nen nicht einfach mit allgemeinen Erfordernissen einerPolitik zum Schutze der Frau gerechtfertigt werden.Daß ein solcher Schutz die Frauen in Wirklichkeit aufdie traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter zu verwei-sen droht, zeigt das Vorbringen des damaligen Bundes-ministers für Arbeit und Sozialordnung, Herrn NorbertBlüm, der 1992 das auf ein Gesetz aus dem Jahre 1891zurückgehende Nachtarbeitsverbot für Frauen damitverteidigte, daß „Frauen weitaus häufiger als Männerneben ihrer Berufsarbeit mit der Betreuung von Klein-kindern und der Hausarbeit belastet“ seien.Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshofweist zu Recht darauf hin, daß dann die Gefahr bestün-de, „daß das überkommene Stereotyp der Geschlechter-trennung immerwährend erhalten“ bliebe, wolle man dieZulassung von Frauen in der Bundeswehr nur in weni-gen Bereichen aufrechterhalten.Frauen wollen gleichberechtigt sein. Sie sind grund-sätzlich für den Dienst in den Streitkräften genauso ge-eignet wie Männer. Frauen, vor allem die jungen Frauen,fragen: Darf der Staat den Frauen das Recht auf denDienst mit der Waffe verweigern, wenn sie gerade dieswollen? 78 Prozent aller Bürgerinnen unter 30 Jahrensind nach Umfrage des MeinungsforschungsinstitutsForsa für den Dienst von Frauen in der Bundeswehr,auch mit der Waffe. Insgesamt sprechen sich 59 Prozentaller Deutschen dafür aus, selbst wenn das Grundgesetzdeshalb geändert werden müßte.Aber, meine Damen und Herren, wollen wir daswirklich: Frauen nicht nur in Uniform, sondern mit derWaffe an vorderster Front, in U-Booten, in Kampfpan-zern und in der Infanterie, im unmittelbaren Kampfein-satz? Ich schicke voraus: Ich persönlich würde dies aufGrund meiner Erfahrung im letzten Krieg ablehnen. Ichfrage mich, ob eine Zivilgesellschaft wie die Bundesre-publik ausgerechnet das Militär benötigt, um dieGleichberechtigung voranzubringen.
Angesichts der Tatsache, daß überwiegend Frauenarbeitslos sind und die Förderung von Frauen im zivilenErwerbsleben noch lange nicht erreicht ist, kann ich dieBegründung des F.D.P.-Gesetzentwurfes, der von einemder letzten geschlechtsspezifischen Berufsverbote fürFrauen spricht, nicht nachvollziehen. Schauen Sie sichdoch einmal die Chefetagen von Verwaltungen undWirtschaft an:
Hier sind 95 Prozent Männer. In den meisten qualifi-zierten und gutbezahlten Berufen sind Frauen weitge-hend ausgeschlossen. Das ist für mich faktisch auch einBerufsverbot.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Nein.Wir sollten deshalb gemeinsam eine Gleichstellungs-politik betreiben, die den Namen auch verdient und dieDiskriminierung der Frauen im Erwerbsleben aus-schließt. Wir werden Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der F.D.P., daran erinnern, wenn wir dasGleichstellungsgesetz zu verabschieden haben.
– Ich denke schon.
Nun ist nicht zu verkennen, daß es bei der Auslegungdes hier angesprochenen Grundgesetzartikels, gemäßdem Frauen verboten ist, Dienst mit der Waffe zu lei-sten, auch die Meinung von Verfassungsrechtlern gibt,daß sich dieses Verbot lediglich auf die Frauen bezieht,die dienstverpflichtet werden dürfen. Ein verfassungs-rechtliches Verbot für den freiwilligen Dienst von Frau-en in der Bundeswehr in allen Sparten – so diese Mei-nung – enthalte das Grundgesetz nicht. Folgte man die-ser Auffassung, würde es einer Grundgesetzänderungüberhaupt nicht bedürfen.
– Warten Sie ab!Der Gesetzentwurf der F.D.P. wäre dann überflüssig.Andererseits: Würde man diesem Gesetzentwurf zu-stimmen, würde die Streichung bedeuten, daß mandienstverpflichtete Frauen zum Dienst mit der Waffezwingen kann. Ist es das, was Sie wollen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der F.D.P.?
Anni Brandt-Elsweier
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6248 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Das mag aber hier dahingestellt bleiben, obwohl ich per-sönlich der Überzeugung bin, daß der damalige Gesetz-geber grundsätzlich auch den freiwilligen Dienst vonFrauen mit der Waffe nicht zulassen wollte.Jedenfalls werden wir abwarten müssen, wie derEuropäische Gerichtshof – im Frühjahr 2000 wird dasUrteil erwartet – entscheiden wird. Dann wird sicherauch die Frage zu klären sein, welche Konsequenz dieEntscheidung für uns hat; denn es ist fraglich, ob demEuropäischen Gerichtshof von den Mitgliedstaaten dieKompetenz übertragen worden ist, den Inhalt ihrer Ver-fassungen zu ändern. Der Generalanwalt hat, ausgehendvon der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes,in der hier entscheidenden Frage allerdings klargestellt,daß die europäische Gleichstellungsrichtlinie dem Aus-schluß von Frauen nach dem Soldatengesetz von derEinstellung in allen Kampfeinheiten der Streitkräfte ent-gegensteht.Wenn dem so ist und wir den freiwilligen Dienst mitder Waffe für Frauen öffnen, dann müssen wir allerdingsauch mit Klagen der Männer rechnen – und dies zuRecht. Denn dann werden diese diskriminiert, weil sieder Wehrpflicht unterliegen, während Frauen freiwilligdienen und sich sogar den Tätigkeitsbereich innerhalbder Bundeswehr aussuchen können. Eine allgemeineWehrpflicht für Frauen will ja wohl niemand.Diese Konsequenz müssen wir klar sehen. Es ist sehrkühn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., inder Begründung des Gesetzentwurfes einfach zu be-haupten, daß ein Verstoß gegen den Gleichberechti-gungsartikel nicht vorliege, wenn Männer der Wehr-pflicht unterliegen, Frauen dagegen nur dem freiwilligenWehrdienst. Ich denke, die betroffenen Männer werdendies anders sehen.Wenn wir den gleichberechtigten Zugang von Frauenzu den Streitkräften wollen und gegebenenfalls durchden Europäischen Gerichtshof dazu gezwungen werden,werden wir allerdings auch vor der Frage stehen, ob wirdie Wehrpflicht noch beibehalten können.
In diesem Zusammenhang ist dann sicherlich auch zuerwägen, ob es in Deutschland nicht möglich ist, dieBundeswehr wenigstens in weiteren Teilbereichen, zumBeispiel auf der Verwaltungsebene, für Frauen zu öff-nen.Bei unserer Diskussion um die Soldatin, die in derArmee bisher ausschließlich im Sanitäts- und Militär-musikdienst zugelassen ist, die demnächst aber mit demKarabiner in der Hand auch Wache schieben soll, ist si-cherlich nicht zu übersehen, daß die Bundeswehr inner-halb Europas in der Tat zum Schlußlicht bei der Gleich-stellung von Mann und Frau geworden ist.
In zwölf der 15 EU-Staaten dürfen Frauen alle Tätig-keiten in der Armee, einschließlich Waffendienst, aus-üben. Lediglich in Italien, Portugal und Deutschlandsind sie vom Waffendienst ausgeschlossen. Wir dürfenbei diesem Ländervergleich aber nicht verkennen, daßes sich um Länder mit Berufsarmeen handelt, in denenauch die Männer freiwillig den Soldatenberuf wählenkönnen.Bei aller Gleichberechtigung, für die ich mich immereingesetzt habe, ist auch zu bedenken, daß die Erfahrun-gen des Einsatzes von Mann und Frau in der Armeenicht nur positiv zu bewerten sind, auch wenn sich, wieder Bundeswehr-Verband meint, der Umgangston dannverbessern würde.
Zum einen drängt sich hier, ohne etwas unterstellen zuwollen, die Vermutung auf, daß unter dem Deckmantelder Gleichberechtigung Frauen als Lückenbüßerinnenfür fehlendes männliches Personal in die Bundeswehraufgenommen werden sollen.
Zum anderen treten im militärischen Alltag immerwieder Schwierigkeiten zwischen Männern und Frauenauf; das muß man deutlich sehen.
Nach einer Untersuchung in den US-Streitkräften klagenweit über 60 Prozent der dienenden Frauen über sexuelleBelästigung, bis hin zur Vergewaltigung in Einzelfällen.Das muß man sehen.
Auch die Erfahrungen der Israelis in ihrem Befrei-ungskampf 1948, als Frauen Seite an Seite mit ihrenmännlichen Kameraden an vorderster Front kämpften,haben gezeigt, daß dies zu Komplikationen geführt hat.
Manche Einheiten waren am Rande der Kampfunfähig-keit, weil die Männer in der Gefahr einen Beschützerin-stinkt entwickelten.
– So ist das eben. Das muß man wissen. Das sind Fak-ten, die berücksichtigt werden müssen. Ehe wir also mit Hurra und unter dem Vorwand derGleichberechtigung die Frauen mit der Waffe in denKampf schicken, sollten wir alle Argumente des Für undWider abwägen, bevor wir das Grundgesetz ändern.
Anni Brandt-Elsweier
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6249
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Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Irmgard Karwatzki.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über denAntrag der F.D.P. debattieren, so geschieht dies in ersterLesung. Ich betone das deshalb, weil der Sachverhalt,über den wir jetzt diskutieren, nämlich der gleichbe-rechtigte Zugang von Frauen zur Bundeswehr, nochvieler Diskussionen, sowohl im vorparlamentarischenRaum als auch hier im Parlament bedarf.
Ich halte es auch für wichtig, daß wir gemeinsam In-formationsbesuche in den Ländern machen, wo Frauenbereits in Streitkräften ihren Dienst leisten.In Art. 12a des Grundgesetzes steht: Frauen „dürfenauf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten“. Der Sinndieser Bestimmung war der Schutz des „schwachen Ge-schlechts“. Die Sache mit dem schwachen Geschlechtsehen die meisten Frauen heute allerdings anders alsdamals bei der Schaffung des Grundgesetzes. Eine Än-derung des Grundgesetzes gerade an dieser Stelle ist fürmanche Bürger in diesem Lande und für etliche Mitglie-der des Bundestages, vor allem für diejenigen, die denzweiten Weltkrieg noch miterlebt haben, schwer vor-stellbar.Ich erspare mir hier, auf die rechtliche Seite einzuge-hen. Wir müssen sie sorgfältig prüfen – wie gerade auchvon der Kollegin Brandt-Elsweier gesagt worden ist –,und wir müssen insbesondere die richtigen Folgerungendaraus ziehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist eineFrage des politischen Willens und des politisch Machba-ren, ob wir Frauen mehr Chancen bei der Bundeswehrgeben oder nicht. Soldatin und Mutter zu sein schließtsich genauso wenig aus wie Soldat und Vater zu sein.
Daß Frauen ein freiwilliger Dienst an der Waffe nichtzugemutet werden kann, hat mit der Realität wenig zutun.
Viele von ihnen wollen den Sonderstatus, den ihnen dasGrundgesetz einräumt, nicht mehr. Das Bild von Polizi-stinnen und Bundesgrenzschutzbeamtinnen, die Waffentragen und auch benutzen, ist für uns zu einer Selbstver-ständlichkeit geworden. Auch in anderen Armeen tun siedas, was ihnen hierzulande aus Fürsorgepflicht verwei-gert wurde – zugegeben: zum Teil wegen der Probleme,die das Zusammenleben von Männern und Frauen be-treffen. Diese können Sie aber nicht dadurch lösen, daßweiterhin eine ganze Bevölkerungsgruppe quasi perGrundgesetz Berufsverbot erhält und auf diese Weisevon technisch anspruchsvollen Aufgaben ausgeschlos-sen wird.
Frauen werden bei der Bundeswehr auf die gleichenSchwierigkeiten stoßen wie anderswo im Berufslebenauch.
Bundeswehr und Frauen müssen damit umzugehen ler-nen wie andere Firmen und Unternehmen ebenfalls.
Meine Damen und Herren, ich weiß es zu schätzen,daß bei manchen Männern der „Beschützerinstinkt“ er-wacht
bei der Vorstellung, Frauen könnten in Kampfhandlun-gen gefangengenommen, vergewaltigt, mißhandelt odersogar ermordet werden. Dies finden auch wir Frauenfurchtbar. Aber trotz allem: Frauen, die freiwillig diesenDienst leisten wollen, müssen wissen, daß sie beimDienst mit der Waffe ein besonderes Risiko eingehen.Im übrigen gilt für die Männer genau dasselbe.
Frauen und Männer sind im Kampfeinsatz gleicherma-ßen betroffen. Daher ist es auf jeden Fall besser, wennFrauen gut ausgebildet mit dieser Situation konfrontiertwerden.
Nach der bereits zitierten Umfrage sind zwei Drittelder Deutschen dafür, daß Frauen in der BundeswehrDienst mit der Waffe leisten. Als Grund für die Diskri-minierung von Frauen im Berufsleben wird die unter-schiedliche physische Ausstattung von Mann und Frauin unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr akzeptiert.Einem internationalen Vergleich von Frauen in denStreitkräften ist zu entnehmen, daß die Zahl der Frauenin der Armee in Frankreich kontinuierlich steigt, daßFrauen in den Niederlanden seit Beginn des zweitenWeltkrieges soldatisch tätig sind – und zwar de jureauch in Kampfsituationen – und daß Frauen in Norwe-gen, Finnland, Schweden, Luxemburg und Großbritan-nien Dienst mit der Waffe leisten. Österreich hat Frauen1998 den uneingeschränkten Zugang zum Militär er-möglicht. In den Streitkräften der mittel- und osteuro-päischen Staaten dienen weibliche Soldaten auf freiwil-liger Basis.Außerhalb Europas bieten Israel – hier ist die Wehr-pflicht für beide Geschlechter zwingend – und die USAdie bekanntesten Beispiele für die selbstverständlicheEinbindung von Soldatinnen in ihre Armeen. Allerdingssind auch in diesen beiden Ländern Gleichberechtigungund Gleichverpflichtung von männlichen und weibli-chen Soldaten nicht gegeben bzw. umstritten. Die Grün-Anni Brandt-Elsweier
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6250 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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de hierfür bewegen sich im Spannungsfeld von angeb-lich nicht mehr abzustreitender mangelnder körperlicherKraft von Frauen für diesen Beruf bis hin zu Gedanken,was Frauen in Gefangenschaft zustoßen könnte, und ei-ner Art „hinderlichem Beschützerinstinkt“ der kämpfen-den Soldaten gegenüber ihren Kameradinnen.Der Anteil der weiblichen Soldaten in den nationalenStreitkräften der NATO reicht von 0,5 Prozent in derTürkei bis zirka 12 Prozent in den USA. Insgesamt isteine Tendenz erkennbar, Anzahl und Verwendungsbe-reiche weiblicher Soldaten auszuweiten.Ich trete nicht für eine Wehrpflicht für Frauen ein.
Das Prinzip der Freiwilligkeit muß erhalten bleiben.Frauen haben keinen Nachholbedarf in bezug auf denDienst an der Gemeinschaft. Sie leisten ihre Arbeit inder Familie, bei der Kindererziehung, im Ehrenamt, inder Altenpflege – um nur einige Aspekte herauszugrei-fen – und nicht zuletzt auch durch die Tatsache, daß siedie Kinder gebären.
Aber in der Bundeswehr gibt es gute Ausbildungsmög-lichkeiten und Chancen auf Arbeitsplätze mit einer gu-ten sozialen Absicherung. Davon dürfen wir Frauen zu-künftig nicht mehr ausgeschlossen sein.
Ich betone noch einmal: Es gibt keine überzeugendeBegründung dafür, Frauen den Dienst an der Waffe zuverweigern. Es kommt schließlich nicht auf physischeStärke bei unseren vielen hochtechnisierten Einsatzplät-zen an. Die Bundeswehr hat wie die Armeen andererStaaten auch ein eigenes Interesse, Frauen als Soldatin-nen zu rekrutieren. Frauen in Uniform signalisierenauch, daß die Organisation traditionelle Rollen undPrinzipien überdenkt und sich der aktuellen gesell-schaftlichen Notwendigkeit, Männerbastionen auf-zugeben, anzupassen bereit ist. Der Deutsche Bundes-wehr-Verband – dies ist schon gesagt worden – fordertim übrigen seit langem den Zugang von Frauen zurBundeswehr. Ich unterstütze ihn.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf
?
Im Moment nicht.
Nein, Sie ha-
ben keine Redezeit mehr. Sie können Ihre Redezeit nur
durch das Zulassen einer Zwischenfrage verlängern.
Frau Kollegin
Wolf, wir diskutieren später miteinander. Ich möchte
jetzt meinen Schlußsatz sagen. Wir müssen auch an die
Kolleginnen denken, die noch reden wollen. Ich danke
Ihnen auf jeden Fall für Ihre Aufmerksamkeit.
Allerdings, Herr Kollege Kolbow, habe ich auf der
Rednerliste, die uns vorliegt, gesehen, daß niemand vom
Ministerium reden möchte. Ist dies richtig?
– Das ist aber traurig.
Dies kann
nicht in einem Zwiegespräch geklärt werden.
Ich wollte das nur
wissen.
Ich bedanke mich sehr.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder
hat die F.D.P. das Sommerloch mit der Forderung ge-
füllt, daß Frauen nun endlich das Recht haben müssen,
sich an Kampfeinsätzen zu beteiligen. „Wer die Öffnung
der Bundeswehr für Frauen ablehnt, befürwortet eines
der letzten geschlechtsspezifischen Berufsverbote“, ließ
uns der F.D.P.-Feminist Guido Westerwelle übermitteln.
Nur schade, daß er heute nicht hier ist und seinen Ge-
setzentwurf selbst vorstellt.
Heute legen Sie uns nun einen Gesetzentwurf zur
Änderung des Grundgesetzes vor, der auch Frauen die
Teilnahme an Kampfeinsätzen ermöglichen soll. Be-
gründet wird er unter anderem damit, daß das Interesse
gerade bei jungen Frauen an einem Job in der Bundes-
wehr stark gestiegen sei. Schaut man sich allerdings die
Bewerbungszahlen an, so reduziert sich diese Aussage
ziemlich. Auch die Anlagenelektronikerin Tanja Kreil,
deren Fall vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt
wird, hat heute kein Interesse mehr an der Bundeswehr.
Sie hat längst einen zivilen Job.
Dieses Beispiel zeigt – dies hat auch Frau Karwatzki ge-
rade gesagt –, daß vermehrt Frauen qualifizierte techni-
sche Berufe suchen, ihnen diese aber in der Wirtschaft
nicht zur Verfügung gestellt werden. Deshalb greifen sie
auf die Bundeswehr zurück.
Gestatten Sieeine Zwischenfrage?
Irmgard Karwatzki
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6251
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Frau Kollegin Schewe-
Gerigk, ist Ihnen nicht bekannt, daß Frau Kreil, die vor
dem Europäischen Gerichtshof klagt, weiterhin ein sehr
großes Interesse an einem Job in der Bundeswehr hat?
Sie strebt ihn weiterhin an. Sie hat dies erst in der letzten
Woche beispielsweise in einer Sendung von „Phoenix“
deutlich zum Ausdruck gebracht. Sie hat zwar im Au-
genblick einen zivilen Job, mit dem sie durchaus zufrie-
den ist. Aber sie möchte weiterhin zur Bundeswehr.
Warum wollen Sie dies nicht zur Kenntnis nehmen, und
warum stellen Sie es so dar, als ob die Frauen nur dann
an einem Job in der Bundeswehr interessiert sind, wenn
sie auf ihn angewiesen sind?
die aus dieser Woche stammen, besagen, daß Frau Kreil
einen Job hat, den sie auch behalten will, und kein Inter-
esse mehr an der Bundeswehr hat. Etwas anderes kann
ich Ihnen dazu nicht sagen. Aber gerade in diesem Be-
reich, Frau Lenke, hätte die F.D.P. ein großes Betäti-
gungsfeld. Statt dessen lehnen Sie die Quotierung von
Ausbildungsplätzen, Arbeitsplätzen und Frauenförder-
programmen im zivilen Bereich ab.
Jetzt gerieren Sie sich als die große Partei für die
Gleichberechtigung der Frauen.
– Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen mehr zu.
entwurfs – ich setze mich gerade mit Ihrem Gesetzent-
wurf auseinander, Frau Kollegin – macht aber auch noch
mehr deutlich - ich zitiere –:
Die Frage, ob eine Wehrpflicht für Frauen einge-
führt werden könnte oder sollte, hat nur mittelbare
Bedeutung für die Einführung eines freiwilligen
Wehrdienstes von Frauen.
Am Rande sei bemerkt: Eine Mitgliederbefragung der
F.D.P. hat mit großer Mehrheit gezeigt, daß die F.D.P.
für die Wehrpflicht ist.
Ich zitiere weiter:
Ein Verstoß gegen Artikel 3 Abs.2 des Grundgeset-
zes liegt nicht vor, wenn Männer der Wehrpflicht
unterliegen, Frauen dagegen nur dem freiwilligen
Wehrdienst.
Diese Schlußfolgerung ist in sich völlig widersprüch-
lich; denn wer eine Grundgesetzänderung befürwortet,
die Frauen den Dienst an der Waffe erlaubt, bewegt sich
natürlich im Rahmen der Organisation der Bundeswehr,
also auch der Pflicht zum Wehrdienst. Wenn Männer
und Frauen nach F.D.P.-Manier gleich behandelt werden
sollten, könnte das die Wehrpflicht für Frauen zur Folge
haben. Das nehmen Sie zumindest in Kauf.
Wer meint, Frauen sollten das Recht haben, freiwillig
Dienst an der Waffe leisten zu dürfen, verkennt, daß,
wer A sagt, auch B sagen muß. Wenn jemand von
Gleichberechtigung im formalen Sinne spricht, dann
sind damit natürlich nicht nur die Rechte gemeint, son-
dern über kurz oder lang auch die damit zusammenhän-
genden Pflichten. Für mich bedeutet das: Die F.D.P.
spricht sich also für eine allgemeine Wehrpflicht für
Männer und Frauen aus oder nimmt sie zumindest billi-
gend in Kauf.
Dies aber lehnen die Bündnisgrünen strikt ab.
Es sind nicht nur die bösen Grünen, die Sie falsch
verstehen wollen, Frau Lenke.
Die Wohlfahrtsverbände haben sich bereits geäußert und
interpretieren Sie genauso wie ich. Sie frohlocken und
sagen, wenn Frauen auch dienstverpflichtet würden, zö-
gen sie wohl den Zivildienst vor. Somit hätten die Ver-
bände das Pflegepersonalproblem gelöst. Glauben Sie,
sie wollen Sie nur falsch verstehen?
Ich ermahneSie jetzt aber doch einmal, nicht dauernd dazwischenzu-rufen. Das haben wir bei Männern nicht besonders gern,und das ist bei Frauen auch nicht so toll, wenn man sienicht zum Reden kommen läßt.
Sollten Frauen in Deutschland zum Militär zugelas-sen werden, müßte die Bundeswehr erst einmal einergrundlegenden Strukturveränderung unterzogen werden:weg von der Wehrpflicht, hin zu einer Freiwilligenar-mee. Die Wehrpflicht müßte also abgeschafft werden.
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6252 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Das wäre eine echte Zäsur in der Geschichte der Bun-deswehr.
Solange aber in Deutschland eine Wehrpflicht be-steht, handelt es sich nicht um eine geschlechtsspezifi-sche Benachteiligung, sondern vielmehr um eineSchutzvorschrift für Frauen. Auch wenn ich der Be-gründung der damaligen Berichterstatterin, FrauSchwarzhaupt, nicht recht gebe, die sagte, „daß unsereAuffassung von der Natur und der Bestimmung der Fraueinen Dienst mit der Waffe verbietet“, stelle ich fest, daßArt. 12 a des Grundgesetzes jetzt so nicht geändert wer-den darf.Auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes wür-de daran nichts ändern. Der Europäische Gerichtshofwird über dieses Thema im Frühjahr nächsten Jahresentscheiden. Das Verwaltungsgericht Hannover hat ihmden Fall Tanja Kreil vorgelegt, die für ihre Aufnahme indie Bundeswehr geklagt hatte. Sollte sich der EuGH fürdie Beteiligung von Frauen an Kampfeinsätzen ausspre-chen, widerspräche dies unserer Verfassung.
Eine Reihe von Verfassungsrechtlern – ich nenneunter anderem den Kollegen Scholz, der heute leidernicht da ist – haben dargelegt, daß der Europäische Ge-richtshof nur die Kompetenzen ausüben kann, die ihmdie Mitgliedstaaten übertragen haben. Sicherheits- undMilitärpolitik liegen aber nach den Verträgen von Maa-stricht und Amsterdam ausschließlich in nationalerHand. Eine Kompetenz, den Inhalt des Grundgesetzes zuverändern, hat der EuGH demnach nicht. Keine staatli-che Stelle würde durch eine derartige Entscheidung ge-bunden.Generalanwalt La Pergola argumentiert, die Streit-kräfte seien ein Arbeitsmarkt wie jeder andere. Dem wi-derspreche ich. Die Bundeswehr ist eine Organisation,die für den Kriegsdienst vorbereitet und in der Konse-quenz auch für das Töten ausbildet.Mehr Frauen im Militärdienst würde für mich aucheine weitere Militarisierung der Gesellschaft bedeuten.Ziel einer emanzipierten Gesellschaft ist aber die Auf-hebung von Diskriminierung, Unterdrückung und Aus-beutung.Ich komme zum Schluß. Ich erwarte mit großem In-teresse die Vorschläge der Wehrstrukturkommission,und ich hoffe, daß sich unsere Vorstellungen durchset-zen, die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee umzu-wandeln. Dann werden wir erneut zu prüfen haben, wieMänner und Frauen freiwillig Zugang hierzu erhaltenkönnen. Heute das Grundgesetz zu ändern hieße, dasKind mit dem Bade auszuschütten. Das werden wir nichtmitmachen.Vielen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Homburger das
Wort.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich möchte Sie wegen Ihrer Äußerungen überdie F.D.P. ansprechen.Sie sagen, wir hätten einen Mitgliederentscheid ge-habt und wir hätten uns für die Wehrpflicht entschieden.Bei diesem Mitgliederentscheid ging es um die Frageder zukünftigen Struktur der Bundeswehr. Es ging umdie Frage, ob wir sie als Wehrpflicht- oder als Freiwilli-genarmee organisieren. Über die Frage einer Wehr-pflicht für Frauen ist bei dieser Mitgliederbefragung inkeiner Weise entschieden worden.
Deswegen können Sie sich nicht hier vorne hinstellenund schlichtweg behaupten, die F.D.P. sei für eineWehrpflicht für Frauen. Das entspricht nicht der Wahr-heit. Das haben wir an keiner Stelle gesagt und niemalsbeschlossen. Ich bitte, solche Unterstellungen zukünftigzu unterlassen.Das zweite. Sie sagen, Frauen und Männer in derBundeswehr gleich zu behandeln würde automatisch be-deuten, die Wehrpflicht für Frauen einzuführen. Ichglaube, die Kollegin Karwatzki von der CDU hat vorhinsehr eindeutig klargestellt, daß das eben nicht die Folgesein muß. Sie hat auch die Gründe genannt, warum dasnicht nötig ist: weil Frauen einen gut Teil der Familien-arbeit, der Pflegearbeit usw. leisten. Solange das in die-ser Gesellschaft der Fall ist, haben wir nicht über eineDienstpflicht für Frauen zu reden.
Dann haben Sie gesagt, es handele sich bei dieserGrundgesetzvorschrift um eine Schutzvorschrift fürFrauen. Das zeigt allerdings Ihre verquere Vorstellungvon Gleichberechtigung: Gleichberechtigung also nurda, wo es Ihnen politisch in den Kram paßt, und nichtda, wo Frauen, die eine andere Meinung haben, ihreGleichberechtigung einfordern. Das ist nicht unser Ver-ständnis von Gleichberechtigung.
Deswegen werden wir weiter unseren Vorschlag verfol-gen.Ich möchte eine weitere Bemerkung zu dem machen,was Sie zum europäischen Recht gesagt haben. Sie sindauf die Darlegung von Herrn Professor Scholz einge-gangen, derzufolge die Organisation der Streitkräfte denMitgliedstaaten unterliege, weswegen der EuropäischeGerichtshof hier nichts zu sagen habe. Der EuropäischeGerichtshof beabsichtigt mitnichten, in die Organisati-onshoheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf dieStreitkräfte einzugreifen. Aber er hat sehr wohl dieMöglichkeit, die Gleichberechtigungsrichtlinie durchzu-setzen. Sie gilt, wie ich finde, auch in diesem Bereich.Nur deswegen, weil Sie eine andere Auffassung davonhaben, wie Bundeswehr auszusehen hat, anderen FrauenIrmingard Schewe-Gerigk
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6253
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vorschreiben zu wollen, daß sie dort nicht Dienst tundürfen, ist, denke ich, keine besondere Auszeichnung Ih-rer Gleichstellungspolitik.Ich möchte zum Schluß sagen: Ich würde begrüßen,wenn der Deutsche Bundestag eine Sache wirklich ein-mal politisch diskutieren und politisch entscheidenkönnte. Sich jetzt auf den Europäischen Gerichtshof zu-rückzuziehen und abzuwarten, was er entscheidet, umdann die Öffnung gegebenenfalls zu vollziehen nachdem Motto, das ist uns aufgezwungen worden, wir sinddafür nicht verantwortlich, halte ich nicht für ein politi-sches Verhalten. Ich würde mich freuen, wenn wir hiereine politische Entscheidung treffen würden.
Frau Schewe-
Gerigk, Sie können jetzt antworten.
ruhig bearbeiten, was Sie hier so emotional hervorge-
bracht haben.
Ich habe nicht gesagt, daß ich eine Schutzvorschrift
für Frauen haben möchte. Diese „Schutzvorschrift für
Frauen“ war ein Zitat. Ich habe Ihnen auch gesagt, daß
das Frau Schwarzhaupt gesagt hat, als das Grundgesetz
geändert wurde. Da haben Sie wahrscheinlich nicht
richtig zugehört.
Ich habe auch nicht gesagt, daß die Befragung inner-
halb der F.D.P. eine Wehrpflicht für Frauen beinhaltete.
Ich habe gesagt: Es hat eine Befragung stattgefunden,
und bei der jetzigen Organisation, wo wir eine Wehr-
pflicht haben, sehe ich es als fahrlässig an, Frauen zum
Dienst an der Waffe zuzulassen. Sie würden damit billi-
gend in Kauf nehmen, daß Menschen auf die Idee kä-
men, es müsse auch eine Wehrpflicht für Frauen einge-
führt werden.
Wenn Sie sagen, die Frauen sollen gleiche Rechte
haben, dann muß ich Ihnen entgegnen: Gleichberechti-
gung, wie wir sie uns vorstellen, sieht nicht nur gleiche
Rechte, sondern auch gleiche Pflichten vor. Das heißt,
der erste Mann, der klagen würde, würde sicherlich
recht bekommen. Denn warum sollen Männer alle
Pflichten auf sich nehmen und nicht freiwillig zur Bun-
deswehr gehen dürfen, während sich Frauen sogar frei-
willig aussuchen dürfen, wohin sie gehen. Ich sehe diese
Gefahr.
Ich habe nicht gesagt: Wir warten auf den Europäi-
schen Gerichtshof. Auch da müssen Sie mich miß-
verstanden haben. Ich habe gesagt: Ich warte sehr drin-
gend auf die Ergebnisse der Wehrstrukturkommission.
Wenn diese Ergebnisse vorliegen, werden wir sehen,
wie Frauen in die Bundeswehr integriert werden können
oder wollen. Wir werden hier über die Ergebnisse der
Arbeit der Wehrstrukturkommission zu diskutieren ha-
ben. Wir können uns dann erneut darüber verständigen,
ob und, wenn ja, welche gesetzlichen Änderungen wir
brauchen.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich bin aus Überzeugung gegen
den Einsatz von Frauen in der Bundeswehr. Die Bun-
deswehr ist meines Erachtens kein Bereich, in dem es zu
beweisen gilt, daß Frauen gleichberechtigt sind.
Das plötzliche Interesse an diesem Thema sollte
Frauen stutzig machen. Werden sie wieder einmal als
Lückenbüßerinnen gebraucht? Sind sie – diesmal im
wörtlichen Sinne – die Reservearmee?
Die Debatte über Frauen in der Bundeswehr findet
nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt. Frauen
sind in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen dis-
kriminiert und benachteiligt. Sie haben fast überall ge-
ringere Chancen als Männer. Nun sollen sie eines der
wenigen Privilegien, das sie haben, aufgeben? Ist es das,
was wir wollen?
Ja, es handelt sich bei Art. 12 a des Grundgesetzes
um ein geschlechtsspezifisches Berufsverbot.
Frau Kollegin,
es besteht der Wunsch der Kollegin Pieper nach einer
Zwischenfrage. – Bitte.
Frau Kollegin Bläss, habe
ich Sie richtig verstanden, daß Sie eben das letzte in
Deutschland bestehende Berufsverbot für Frauen als
Privileg bezeichnet haben?
Ist Ihnen bekannt, daß es in keinem anderen europäi-
schen Staat mehr dieses Berufsverbot gibt? Auch Italien
wird zum 1. Januar 2000 dieses Berufsverbot für Frauen
aufheben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zum ersten, Frau Kollegin Pie-per, habe ich nicht vom letzten existierenden Berufsver-bot gesprochen.Zum zweiten hat die Debatte schon deutlich gemacht,daß die Regularien in den anderen europäischen Länderneinfach vor einem anderen politischen Hintergrund gel-ten: Es gibt dort Berufsarmeen. Das ist natürlich einkleiner Unterschied.Ich werde im folgenden deutlich machen, daß es aufdiese Frage keine Schwarzweißantworten gibt und daßman sich mit der Angelegenheit sehr differenziert aus-einandersetzen muß. Ich begreife dieses geschlechtsspe-zifische Berufsverbot sehr wohl als eine Form der Anti-diskriminierungspolitik und als ein Privileg für Frauen;Birgit Homburger
Metadaten/Kopzeile:
6254 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
(C)
und dies wird politisch unterschiedlich bewertet. Wirhaben hier zweifellos einen unterschiedlichen Zugangund eine unterschiedliche Bewertung.
Auch ich weise alle biologistischen Einwände gegenFrauen beim Militär zurück. Das gilt nicht nur für dieArgumente derjenigen, die Frauen auch heute für dasschwache Geschlecht halten. Es gilt auch für jene, diedamit argumentieren, daß Soldatinnen bei Kämpfen undKriegsgefangenschaft besondere Gefahren drohen. DieseSicht verkennt, daß Frauen in allen Kriegen Opfer vonMord, Vergewaltigung und Folter werden, vor allemdann, wenn sie Zivilistinnen sind.Trotzdem ist für mich die gleichberechtigte Teilhabean einer zutiefst hierarchischen Struktur wie der des Mi-litärs kein Feld der Emanzipation.
Das belegen im übrigen in erschreckender Weise die Er-fahrungen, die Frauen in der US-Armee gesammelt ha-ben. Frau Kollegin Lenke, da Sie vorhin den Hinweisder Kollegin Anni Brandt-Elsweier so lax abgetan ha-ben: Wir Frauenpolitikerinnen müssen die Erfahrungender Frauen in der US-Armee sehr ernst nehmen.
Eines ist klar: In der Konsequenz hat die Forderungnach einer Grundgesetzänderung die Wehrpflicht fürFrauen zur Folge, auch wenn das nicht unmittelbar derGegenstand des F.D.P.-Antrages ist. Ich frage michnämlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von derF.D.P., wie es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbarsein soll, daß Männer wehrpflichtig sind, während Frau-en freiwillig zur Armee gehen können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn einige Frauenheute in bewaffneten Einheiten arbeiten und kämpfenwollen, müssen wir das akzeptieren. Aus ihrer Sicht for-dern sie das legitime Recht auf Gleichberechtigung ein.Für mich sind Frieden und Gewaltverzicht grundlegendeVerfassungswerte.Die Verfassungsänderung, durch die die Bundeswehrfür Frauen geöffnet werden soll, wird vor dem Hinter-grund der Debatte um eine Neuorientierung der Bun-deswehr diskutiert. Meine Fraktion hat sich immer fürdie Abschaffung der Wehrpflicht ausgesprochen. Wirsetzen uns für den Auf- und Ausbau ziviler Kräfte ein,die bei Konflikten zur Regulierung eingesetzt werdenkönnen. Militärische Aktionen und Kriege müssen alsLösung für Konfliktfälle ausgeschlossen werden.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fried-
rich?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Frau Kollegin
Bläss, ist Ihnen bei Ihrer langen Aufzählung der Tatbe-
stand entgangen, daß die Bundeswehr eine Wehrpflicht-
armee ist und Frauen schon jetzt freiwillig zur Bundes-
wehr gehen können? Der einzige Unterschied besteht
darin, daß sie derzeit nicht Dienst an der Waffe tun dür-
fen. Was unterscheidet diese Situation von der, die Sie
jetzt so lautstark beklagen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Tatbestand ist mir wohl be-
kannt. Ich gebe Ihnen darauf eine sehr einfache Antwort:
Wer A sagt, muß auch B sagen. Ich bin auch in einem
solchen Fall nicht dafür, daß man sich – sie entschuldi-
gen den Begriff – unpassend die Rosinchen herauspickt.
Ich möchte
jetzt keine weitere Zwischenfrage zulassen. Ich bitte,
doch etwas zu berücksichtigen, daß wir heute eine sehr
lange Debatte haben. Ich glaube, daß die Position der
F.D.P. durch Zwischenfragen und Kurzinterventionen
gut zur Geltung gekommen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ich komme zum Schluß: Auch in der Fraktion der
PDS wird die Frage der Öffnung der Bundeswehr für
Frauen äußerst kontrovers diskutiert. Wir werden das
Verhältnis von Antimilitarismus und Gleichstellungs-
politik ausloten müssen. Daß diese schwierige Frage
sehr differenzierte Antworten verlangt, zeigt die heutige
Debatte. Ich wünsche mir für den weiteren Verlauf der
Diskussionen hier im Deutschen Bundestag über dieses
streitbare Thema offene Auseinandersetzungen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Verena Wohlleben.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Herren und Damen! Liebe Kollegen! Lie-be Kolleginnen! Ich muß jetzt einmal die F.D.P. loben:Auf sie ist wirklich Verlaß. Zuverlässig ist sie; sie hatwie jedes Jahr das Thema „Frauen an die Waffen“ aufdie Tagesordnung gebracht. Herzlichen Dank!
Ich frage mich nur, warum Sie das tun. Haben Sie esdenn so nötig, die Frauenfreundlichkeit der F.D.P. unterBeweis zu stellen? Ich denke, es handelt sich dabei umpuren Populismus, der sich auf Dauer nicht verschleiernPetra Bläss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6255
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läßt; denn der Antrag ist bestenfalls von einer nachge-ordneten Muse, aber nicht von der Logik geküßt wor-den.
Fest steht, meine sehr verehrten Herren und Damen:Noch gibt es keine Notwendigkeit für eine Grundgesetz-änderung. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn mansich die Entscheidungen des Europäischen Gerichts-hofes anschaut, wird dies deutlich.
– Die Frau Kollegin hat das „Maschinengewehr“ mit ih-rem Beitrag von vorhin ja schon hiergelassen.Am 2. November 1999 hat das Gericht im Falle einerbritischen Köchin entschieden, daß nur in engbegrenztenAusnahmefällen Frauen der freiwillige Dienst in denStreitkräften verweigert werden dürfe. Bezüglich einerVerwendung bei den Royal Marines sah das Gericht ei-ne solche engbegrenzte Ausnahme als gegeben an, dadiese nur 2 Prozent der britischen Streitkräfte ausma-chen. Im Falle der Tanja Kreil beantragte der General-anwalt Antonio La Pergola in seinem Schlußplädoyer,daß die Bundesrepublik Deutschland die Gleichbehand-lungsrichtlinien für Männer und Frauen anzuwendenhabe. Die Bundesrepublik Deutschland habe, so AntonioLa Pergola, nicht hinreichend nachgewiesen, daß dasmännliche Geschlecht unabdingbare Voraussetzung fürdie Verwendung in allen Kampfeinheiten sei.Demzufolge wäre nach Auffassung des Generalan-walts in der logischen Folge das Kombattantenverbotdes Grundgesetzes für Frauen auch ein Hinderungs-grund, Frauen in der zivilen Bundeswehrverwaltung, inder Polizei und dem Bundesgrenzschutz zu verwenden.Was muß nun in dem Fall geschehen, daß der Euro-päische Gerichtshof dem Schlußantrag des Generalan-waltes nachkommt? Eine Grundgesetzänderung ist, wieich bereits ausführte, nach unterschiedlichen Rechtsgut-achten nicht zwingend erforderlich, hinsichtlich verfas-sungsmäßiger Klarheit und Wahrheit aber wünschens-wert.
Die Frage nach einer potentiellen Wehrpflicht fürFrauen schließt sich unmittelbar an. Denn, meine Da-men und Herren, die Gleichbehandlungsrichtlinien fürMänner und Frauen verbieten im Umkehrschluß ebensoeine Diskriminierung von Männern.Die Arbeit der Kommission „Gemeinsame Sicherheitund Zukunft der Bundeswehr“, die der Verteidigungs-minister ins Leben gerufen hat, beschäftigt sich unteranderem auch mit der Wehrform und der Struktur vonzukünftigen Streitkräften in Deutschland. Das Ergebnisliegt im Frühjahr 2000 vor. Eventuell werden wir dannauch über die Gestaltung der Wehrpflicht – auch derWehrgerechtigkeit – neu nachdenken müssen. WelcheFragen sich damit für den Strukturwandel der Streit-kräfte stellen, kann deshalb jetzt und hier noch nicht ab-schließend erörtert werden.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Ich gestatte keine Zwi-schenfrage, weil ich die Länge der Redebeiträge meinesverehrten Kollegen Breuer aus den Ausschüssen kenne.In Anbetracht der Zeit und mit Rücksicht auf die Nach-folgedebatte möchte ich es nicht. Lieber Kollege, wirführen es dann im Ausschuß weiter.
Welche Fragen sich damit für den Strukturwandelder Streitkräfte stellen, kann deshalb jetzt und hiernoch nicht abschließend erörtert werden. In diesem Zu-sammenhang werden wir dann auch Fragen behandeln,die heute nicht so einfach mit einem solchen Gesetzent-wurf zur Änderung des Grundgesetzes en passant zu be-antworten sind. Ist es überhaupt praktikabel, nach einerjahrzehntelangen entgegengesetzten Praxis, Frauen auchin Kampf- und Kampfunterstützungseinheiten aufzu-nehmen? Sollen beispielsweise Grenzen bei bestimmtenSpezialverbänden in jedem Fall weiterbestehen? Ob wirin Deutschland eine Öffnung der Streitkräfte für Frauenhaben wollen oder nicht, ist politisch sehr wohl zu dis-kutieren.Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich der Diskussi-on offen stellen und dazu beitragen, eine tragfähige Lö-sung zu finden.
– Oh ja. Dies sind wir den Frauen, die bisher freiwilligund gerne zur Bundeswehr wollen, dies sind wir derBundeswehr und den Menschen, die in ihr Dienst tun,schuldig. Wer aber heute im Schnellschuß die Änderungbzw. Streichung des Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 des Grund-gesetzes will, handelt nicht im Sinne unserer sicher-heitspolitischen Interessen. Und was noch viel schlim-mer ist: Er setzt die Axt an, um die Wehrpflicht preis-zugeben.
Das, meine sehr verehrten Herren und Damen, hat derEuropäische Gerichtshof sicher nicht gewollt und sollteauch die F.D.P. nicht wollen, selbst wenn Stimmungs-macher in dieser Partei das immer wieder fordern.Deshalb sollte eine eventuelle Änderung des Grund-gesetzes erst nach reiflicher Überlegung, ausführlicherDiskussion und vor allen Dingen basierend auf einembreiten parteiübergreifenden Konsens erfolgen. Dazu la-den wir Sie ein.
Verena Wohlleben
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Zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Breuer das Wort. Wir
einigen uns noch einmal darauf, daß eine Kurzinterven-
tion drei Minuten dauern darf.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Sie können sicher sein, daß die
Kurzintervention kurz ist. Verehrte und geschätzte Frau
Kollegin Wohlleben, ich bin mit Ihnen der Meinung,
daß eine nicht sorgfältige und vorsichtige Abschätzung
im Hinblick auf den Wegfall des Art. 12 a Abs. 4 Satz 2
sicher nicht verantwortlich wäre. In diesem Punkt stim-
men wir überein.
Ich würde Sie aber gerne im Rahmen dieser Kurzin-
tervention auf einen anderen Punkt ansprechen. Wenn
Sie der Meinung sind, daß die Wehrstrukturkommis-
sion eine Antwort geben kann, möchte ich Sie fragen:
Warum hat Verteidigungsminister Scharping im Som-
mer dieses Jahres – ich beziehe mich noch einmal auf
die verehrte Frau Kollegin Brandt-Elsweier, die von
„Sommerloch“ und „Herbstmanöver“ gesprochen hat –,
völlig unabhängig von Bewertungen der Kommission,
gesagt: Ja, wir öffnen die Bundeswehr weiter für Frau-
en? Grundsätzlich stimme ich ihm zu. Ist es aber ange-
sichts der Tatsache, daß kein Vertreter des Verteidi-
gungsministeriums hier spricht, nicht so, daß das Mi-
nisterium überhaupt keine eigene Meinung mehr besitzt
und daß es alle Antworten von der Wehrstrukturkom-
mission verlangt?
Es muß doch einen Grund gegeben haben, warum
sich der Verteidigungsminister öffentlich in dieser Form
geäußert hat. Ich gehe einmal davon aus, daß ein Mi-
nister, der sich öffentlich äußert – noch dazu im Som-
mer, wo es wahrgenommen wird –, genau weiß, wovon
er redet.
– Wenn Sie der Meinung sind, er wisse nicht, wovon er
redet, dann sagen Sie es. Das würde mich aber sehr
wundern.
Mich interessiert in dieser Debatte: Was hat den Mi-
nister eigentlich dazu veranlaßt, diese Äußerungen zu
machen? Warum tritt das Ministerium in dieser Debatte
nicht an und gibt seine Bewertungen im Hinblick auf die
Frage einer grundsätzlichen Öffnung der Bundeswehr
für Frauen ab – auf welchem Weg und unter welchen
Auflagen auch immer?
Ich bedanke mich.
Möchten Sie
antworten? – Bitte.
Sehr verehrter Herr
Kollege Breuer, der Tagesordnungspunkt weist aus, daß
es sich um die erste Lesung und damit um die Einbrin-
gung des Gesetzes handelt. Wir reden heute darüber. Bei
der anschließenden Beratung in den Ausschüssen haben
Sie die Möglichkeit, den Herrn Bundesminister zu fra-
gen, was ihn im Sommer bewogen hat, die von Ihnen
vorgetragenen Äußerungen zu machen.
Ich rate Ihnen, das auch zu tun. Wir werden im Aus-
schuß gemeinsam seine Antwort hören. Dann wird das
Verteidigungsministerium – Herr Kolbow hat sich schon
angekündigt – seine Bewertung dazu abgeben.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Wohlle-ben, daß Sie eben in Ihrer Rede das Wort von der Siche-rung der Wehrpflicht im Munde geführt und das ThemaWehrgerechtigkeit angesprochen haben, ist sehr er-staunlich, zumal Sie mit Ihren haushaltspolitischen Ent-scheidungen und mit dem, was die Verkürzung derDienstzeit für Zivildienstleistende angeht, wirklich allestun, daß es in diesem Land um die Wehrgerechtigkeitnicht gerade besser bestellt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Männer und Frauensind nicht gleichberechtigt – jedenfalls nicht ganz; dennFrauen dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe lei-sten. So steht es in unserem Grundgesetz. Vor demHintergrund der fürchterlichen Erfahrung des zweitenWeltkrieges sahen die Väter und Mütter unseresGrundgesetzes keinen Kulturgewinn darin, Frauen imVerteidigungsfall den Einsatz mit der Waffe im Gefechtaufzuzwingen. Deswegen besagt unser Grundgesetz, daßFrauen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe heran-gezogen werden dürfen.Die Verfassungsrechtler streiten sich im übrigen seitüber 30 Jahren, ob sich dies auch auf den freiwilligenDienst bezieht oder nur auf eine Dienstpflicht. Zunächstist richtig: Wir haben keine Wehrpflicht für Frauen, ge-schweige denn eine allgemeine Dienstpflicht. Ich sageganz deutlich: Ich bin dagegen, daß wir in Zukunft einesolche bekommen.
Ich denke, daß in unserer Gesellschaft Frauen nachwie vor die größeren Nachteile haben, im Beruf, durchdie Kindererziehung, durch den Haushalt – kurz: bei derVereinbarkeit von Familie und individueller Selbstbe-stimmung. Die Wehrpflicht ist da auch ein Stück Kom-pensation für diese Probleme. Im übrigen haben Frauenauch keinen Nachholbedarf in Sachen Dienst an derGemeinschaft. Ich nenne nur die Stichworte freiwilliges
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soziales Jahr und freiwilliges ökologisches Jahr. Hierbeiist es in der Tat so, daß mehr Frauen wollen, als tatsäch-lich zum Einsatz kommen dürfen.Die Argumentation, Frauen dürften keine Waffe tra-gen, weil es ihrer Natur oder ihrer Bestimmung wider-spreche, ist, mit Verlaub, absoluter Quatsch.
Bei uns gehört der Dienst an der Waffe zum Alltag derPolizistinnen und der Bundesgrenzschutzbeamtinnen.Auch sind deutsche Frauen wohl mindestens im gleichenMaß zum Dienst an der Waffe in der Armee geeignetwie Frauen in Staaten, in denen es diese Möglichkeit be-reits gibt. Der Blick ins Ausland – die vielen Länderwurden bereits genannt – zeigt, daß Frauen in der Armeegleichberechtigt Dienst leisten und dort ihren „Mannstehen“.Die Mehrheit der Deutschen – Frau Brandt-Elsweierund die Kollegin Karwatzki haben die Umfrage vonForsa bereits zitiert – ist dafür, daß Frauen in der Bun-deswehr Dienst an der Waffe leisten dürfen. Ich betone:75 Prozent der Frauen unter 30 Jahren sprechen sich fürdie Möglichkeit des freiwilligen Dienstes aus.Es ist an der Zeit, daß wir über den zivilen Tellerrandhinaussehen und auch den engen Bereich des Sanitäts-und Militärmusikdienstes aufbrechen. Es ist an der Zeit,daß wir die Bundeswehr für Frauen ganz öffnen, auffreiwilliger und gleichberechtigter Basis. Wenn Frauennicht die Möglichkeit haben, auf ihren Wunsch hinDienst an der Waffe zu leisten, verwehren wir ihnenChancengleichheit. Dies ist ein geschlechtsspezifischesBerufsverbot. Entweder sind wir für Gleichberechti-gung, oder wir sind es nicht. Wenn wir für Gleichbe-rechtigung sind, heißt das, daß Frauen auch die Ausbil-dungs-, Berufs- und Karrierechancen in der Bundeswehrnicht vorenthalten sein dürfen.Deshalb darf ihnen auch der Dienst an der Waffenicht verboten sein. Ich will hier ganz deutlich sagen:Gleiche Rechte bedeuten natürlich auch gleiche Pflich-ten in der Truppe. Dies betrifft auch den Kombattanten-status. Natürlich hat die Bundeswehr einen Friedensauf-trag, so daß die kämpfende Truppe hoffentlich die Aus-nahme bleibt. Aber wenn wir für die konsequente Öff-nung der Bundeswehr für Frauen plädieren, dann wird eskeine Tabubereiche geben dürfen.
Wenn Frauen sich freiwillig für den Beruf Soldat ent-scheiden, dann entscheiden sie sich in letzter Konse-quenz auch für einen möglichen Einsatz mit der Waffe.Dabei gebe ich zu bedenken, daß Frauen nicht in dieSituation kommen dürfen, bloße Lückenbüßerfunktionenzu übernehmen. Ich betone nochmals: Gleiche Rechteheißt gleiche Pflichten in der Truppe. Deswegen muß andie Sache jetzt ganz ruhig herangegangen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P., das willich Ihnen sagen: Ich wäre an Ihrer Stelle jetzt nicht soforsch. Ich teile Ihre Intention. Irgendwann verlangt dieWirklichkeit ihr Recht, und jetzt ist es an der Zeit, daßFrauen Einzug in diese „Männerbastion“ erhalten. Ichmöchte aber deutlich darauf hinweisen, daß bei dem hiereingebrachten Antrag auf Verfassungsänderung vieleFragen offenbleiben und ganz neue Probleme verschie-denster Art aufgeworfen werden. Eine solche Grundge-setzänderung impliziert nämlich rechtliche Folgefra-gen. Diese müssen unserer Ansicht nach vorab zweifels-frei geklärt sein. Das braucht Zeit.Frau Lenke, wie wollen Sie, bitte schön, bis zum 1.Januar die Voraussetzungen hierfür schaffen? Das fängtan bei Struktur, Strategie und Psychologie, geht überOrganisation, Logistik und Baumaßnahmen bis hin zuganz lebensweltlichen Fragen wie Schwangerschaft,Mutterschutz und Erziehungszeit. Vor einer Verfas-sungsänderung müssen alle Detail- und Folgefragen ge-klärt sein.Mir ist zwar bewußt, daß Sie von der F.D.P. für die„Muße“ – so wurde es genannt; man könnte auch sagen:Schlafmützigkeit – von Minister Scharping in dieserFrage nichts können. Er hat eine weitere Öffnung derBundeswehr für Frauen angekündigt, tut aber nichts.Wir müssen uns schon fragen: Will er denn wirklich,oder darf er etwa nicht?Die Grünen haben heute gezeigt, daß sie eine klareHaltung haben. Ich möchte in diesem ZusammenhangIhre Kollegin Claudia Roth – schade, daß sie heutenicht da ist – aus dem „Focus“ dieser Woche zitieren:Eine Institution,– gemeint ist die Bundeswehr –die andersliebende Männer ausgrenzt, kann Frauensowieso keine Gleichberechtigung bieten.Wenn Frau Roth zudem schreibt, den Konservativen– gemeint sind wohl die Männer in meiner Fraktion –,gehe es „in ihrem Chauvinismus“ nur um „Frauen imkurzem Soldatenröckchen“, dann zeigt sie damit, mitwelcher Arroganz auch in den Reihen der Grünen vonFrauen gesprochen wird, die bereits heute in der Bun-deswehr ihren Dienst leisten, zum Beispiel aktuell inOsttimor. In Wahrheit geht es den Grünen nämlich nichtum die Interessen von Frauen, sondern um die Abschaf-fung der Bundeswehr.Ich trete dafür ein, den Frauen den vollen Zugang indie Bundeswehr zu eröffnen. Allerdings bin ich mirmittlerweile nicht mehr ganz so sicher, ob wir dafür tat-sächlich eine Verfassungsänderung brauchen. Sie wer-den die Äußerungen von Professor Steiger in der „FAZ“kennen, der Interpretationsspielräume des Grundgeset-zes auslotet und den freiwilligen Dienst an der Waffe fürFrauen im Rahmen unseres Grundgesetzes keineswegsfür ausgeschlossen hält.Wenn wir aber in großer parteiübergreifender Über-einstimmung den politischen Willen haben, Frauen denDienst an der Waffe künftig zu ermöglichen, dann soll-ten wir vorher in jeder Hinsicht für Rechtsklarheit sor-gen.Vielen Dank.
Annette Widmann-Mauz
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6258 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/1728 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Monika
Balt, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Kein Bau einer Magnetschwebebahn Ham-
burg–Berlin – Transrapid-Förderung einstel-
len
– Drucksachen 14/38, 14/339 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Schmitz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die PDS soll
fünf Minuten erhalten. – Kein Widerspruch. Dann tun
wir das so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Damen und Herren! Vor einem Jahr, am19. November 1998, debattierten wir im Plenum desBundestages unseren Antrag zum Transrapid. KolleginMertens schloß damals ihren Beitrag mit den wohlge-setzten Worten: „Mit dem Regierungswechsel“ unter-liegt „die Frage … einer Magnetschwebebahn-Referenz-strecke … nun ganz allein der … Rationalität“. Exaktdies war der Kern unseres Antrags. Wir haben damalsnochmals alle rationalen Gründe gegen den Einsatz desTransrapids und die Konkretisierung der Strecke Ham-burg–Berlin vorgetragen.Kollege Schmidt meinte in der damaligen Debatte,die Grünen hätten das in ihren Anträgen noch bessergemacht. Doch die Entscheidung, wer überzeugenderargumentiert, sollten wir nicht Besserwessis überlassen,sondern den Bürgerinitiativen vor Ort.Kollege Brunnhuber hat mich in der damaligen De-batte gelobt – ich weiß, das könnte eine „tödliche Ver-anstaltung“ sein –, indem er gesagt hat:Dennoch ist der Antrag interessant. Denn alle inihm enthaltenen Argumente sind solche, die hiervon der Fraktion der Grünen schon wortwörtlichvorgetragen wurden.
Im PDS-Antrag wird nicht nur dieses Argument vor-getragen. Gefordert wird insbesondere die Aufhebungdes Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes, die Aufhe-bung eines ausgesprochen raffinierten, von den damali-gen Regierungsparteien eingebrachten Gesetzes, wonachdie Bundesregierung zum Bau der Strecke Hamburg–Berlin gesetzlich verpflichtet ist, die Aufhebung einesGesetzes, das bereits die Infragestellung des Bedarfs fürdie Strecke Hamburg-Berlin im Rahmen der Planfeststel-lungsverfahren gesetzlich verbietet. Damit fordern wirdie Aufhebung eines Gesetzes, das wenig rational undvor allem sehr undemokratisch war.Nun ist die damals von Kollegin Mertens eingeklagteRatio noch weiter untergraben worden. Inzwischen hatsich erwiesen, daß die im Koalitionsvertrag festgelegtenmaximalen staatlichen Subventionen für diese Streckevon 6,1 Milliarden DM bei weitem überschritten wer-den. Was tat das Tansrapid-Konsortium? Es entwickelteflugs das Konzept einer eingleisigen Streckenfüh-rung.Das an sich ist bereits ein Treppenwitz: Eine spurge-bundene Verbindung zwischen den zwei größten deut-schen Städten, auf der pro Jahr 15 Millionen Personenhin und her katapultiert werden sollen, soll einspurig ge-stelzt daherkommen. Das ist eine hanebüchene Ver-kehrsplanung, die in krassem Widerspruch zum Eck-punktepapier steht, das damals zwischen dem Konsorti-um und der Bundesregierung vereinbart worden ist.Was sagen nun die Bundesregierung und die Koaliti-onsfraktionen zu dieser gravierenden Veränderung?Heute hat der Haushaltsausschuß in seiner Bereini-gungssitzung zum Haushalt 2000 gegen unsere Stimmenund mit den Stimmen aller anderen Fraktionen seine Zu-stimmung zum Transrapid auf dieser Strecke gegeben.Verkehrsminister Klimmt wird wie folgt zitiert:Aus technischer Sicht ist die eingleisige Varianteoffenbar machbar.Wir gestatten uns noch einmal einen Blick in dasProtokoll zur erstmaligen Beratung des Antrags vor ei-nem Jahr. Damals hatte ich dem Kollegen Schmidt justeine entsprechende Frage gestellt. Der geschätzte Kolle-ge antwortete mir wie folgt:Der Trichter, auf den jetzt die Magnetbahnpla-nungsgesellschaft und das Konsortium zu kommenglauben, indem sie sagen, man könnte ja jetzt viel-leicht … eingleisig bauen, um die Kosten zu sen-ken, … funktioniert nicht. Denn das Eckpunktepa-pier– so Kollege Schmidt – – und das ist ja das Gute daran, daß das in demKoalitionsvertrag steht – gilt natürlich in allen Tei-len, inklusive der ganzen Parameter … hinsichtlichder Zweigleisigkeit.Nun haben wir die Eingleisigkeit, die Verletzung der„Parameter“ und des Eckpunktepapiers. Doch der„Trichter“ funktioniert. Und SPD und Bündnisgrünewerden vom Konsortium regelrecht vorgeführt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6259
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Das ist nicht allein Sache der Parteien, die dafür vonden Wählerinnen und Wählern in Nordrhein-Westfalenbei der nächsten Wahl zur Rechenschaft gezogen wer-den könnten. Nein, es sind die Gelder der Steuerzahler,die die Regierungsparteien hiermit ins „Casino Transra-pido“ tragen.Werte Kolleginnen und Kollegen, in der Beschluß-empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- undWohnungswesen zu unserem Antrag, über die wir ab-stimmen müssen, steht nicht nur, daß unser Antrag ab-gelehnt und Ja zum Transrapid gesagt werden soll. Dortsteht auch unter der Rubrik „Kosten“: Keine. Und das istdie schlichte Unwahrheit. Das Beharren auf dem Ma-gnetschwebebahnbedarfsgesetz und den Bau einer nun-mehr eingleisigen Streckenführung zwischen Hamburgund Berlin bedeutet allein für den Haushalt 2000 zu-sätzlich zu den bereits veranschlagten Ausgaben in Höhevon 2,2 Milliarden DM die Bereitstellung von 1 Milliar-de DM.Wir fordern den Bundestag auf, das walten zu lassen,was vor einem Jahr die Kollegin Mertens als Koaliti-onsmaxime ausgab: Ratio, also schlicht Vernunft.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Reinhard Weis.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LassenSie mich zu dem Antrag der PDS-Fraktion derart Stel-lung nehmen, daß ich vor dem Hintergrund dessen, wasin den letzten beiden Jahren verfahrenstechnisch abge-laufen ist, ein paar Sätze zur aktuellen Entwicklung derDiskussion um den Transrapid sagen.Vorausschicken möchte ich meine persönliche Sicht:Die Magnetschwebebahn ist eine faszinierende techni-sche Herausforderung. Das sage ich aus eigener Über-zeugung; denn als Diplomingenieur, der ich auch Elek-tromaschinenbau studiert habe, kann ich die technischeMeisterleistung schon beurteilen. Ich glaube, daß jedervon Ihnen, der einmal Gelegenheit hatte, mit dem Trans-rapid auf der Teststrecke zu fahren
– zu schweben, richtig! –, von der Technik fasziniert ist.Ich stehe mit dieser Auffassung nicht allein da. DieKoalition hat dem Transrapid eine so große Bedeutungbeigemessen, daß er Bestandteil der Koalitionsverein-barung wurde. Diese Vereinbarung erkennt die hoch-entwickelte Technologie der Magnetschwebebahn an.Die Realisierung des Projekts wird von der Bundesregie-rung gewünscht und gefordert.
Diese politische Willenserklärung ist eindeutig.Ihnen ist aber auch bekannt, daß in der Koalitionsver-einbarung die Grenzen für dieses Engagement beschrie-ben werden. Maßstab für unsere Entscheidung ist dasEckpunktepapier von 1997, auf das sich das Industrie-konsortium, die Bahn AG und die damalige Bundesre-gierung verständigt haben. In diese Verpflichtung ihrerVorgänger ist die rotgrüne Bundesregierung eingetreten.Dies war aus Gründen der Rechtssicherheit und Ver-tragstreue auch notwendig.Das Eckpunktepapier regelt vor allen Dingen den Fi-nanzierungsrahmen. Die Bundesregierung übernimmtden Auftrag ihrer Vorgänger, das Projekt mit 6,1 Milli-arden DM für den Bau der Trasse zu fördern. Eine sol-che Summe verpflichtet natürlich zur Sorgfalt und zumVerantwortungsbewußtsein. Das gilt insbesondere fürdie Investoren, die viele öffentliche Gelder ausgeben.Nun gab es schon frühzeitig erste Signale, die davorwarnten, daß der ursprüngliche Kostenrahmen nichteingehalten werden kann. Heute wissen wir ziemlichverbindlich: Die Schätzungen der Baukosten für diezweispurige Trasse liegen bei rund 9 Milliarden DM,das sind 3 Milliarden DM mehr als veranschlagt.
Die Bundesregierung hält ihre Zusage über 6,1 Milliar-den DM unverändert aufrecht. Den Rest kann sie nichtübernehmen, das wäre unverantwortlich. Sie alle kennendie Grenzen unserer finanziellen Handlungsfähigkeit.
Nach dem Eckpunktepapier sind nun Bahn und Indu-strie am Zug. Sie haben über den Umgang mit denMehrkosten und über den Vorschlag des ehemaligenVerkehrsministers Franz Müntefering aus der ersten Le-sung des Haushalts 2000 zu einer denkbaren eingleisi-gen Streckenführung zu entscheiden. Diese Entschei-dungen werden sie vor allem unter dem Blickwinkel derWirtschaftlichkeit zu fällen haben; schließlich machteine Referenzstrecke als Voraussetzung für die welt-weite Vermarktung des Transrapid nur Sinn, wenn sieWirtschaftlichkeit nachweist.Nun sagen die Sprecher von Wirtschaftsverbänden,daß die Bundesregierung die vollen Kosten übernehmensolle. Sie sagen, der Transrapid sei für den StandortDeutschland so wichtig, daß er unter allen Umständengebaut werden müsse. Diesen Sprechern schlage ich vor:Beteiligen Sie sich. Bilden Sie einen Finanzierungs-fonds. Beweisen Sie, wie überzeugt Sie von der Pro-duktreife und den Marktchancen des Transrapid sind.An einem solchen Fonds könnten sich auch die Bun-desländer beteiligen, die ein eigenes Interesse an derRealisierung haben. Ein solches Engagement wäre nachmeiner Meinung ein eindrucksvoller Beweis dafür, aufwie breiter Basis die Innovationsfreudigkeit inDeutschland tatsächlich steht oder ob von vielen nurLippenbekenntnisse zu diesem Thema abgegeben wer-den; aber dies nur nebenbei.Im Zusammenhang mit der Forderung nach Aufstok-kung der Bundesmittel für den Transrapid möchte ichDr. Winfried Wolf
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6260 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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mich ausdrücklich an die Kollegen der Opposition vonCDU/CSU und F.D.P. wenden. Aber das ist nur einBlick in die Vergangenheit; denn wir wissen, daß derKollege Wissmann im Amt des Verkehrsministers aus-drücklich ausgeschlagen hat, die Finanzierungsverein-barung für den Transrapid zu unterschreiben. Im Som-mer 1998 gab es schon Spekulationen und Informatio-nen über steigende Trassenpreise. Wohlweislich hatteHerr Wissmann, der besser informiert war als die Öf-fentlichkeit, die Finanzierungsvereinbarung nicht unter-schrieben. Ihr Verkehrsminister war der Überzeugung,daß der Transrapid ein gutes Produkt ist – dieser Mei-nung sind auch wir –, er hatte aber auch erkannt, daß derTransrapid den öffentlichen Kassen nicht jeden Preiswert sein darf. Da hatte er recht.In diesen Tagen scheint Bewegung in die Diskussionüber den Transrapid zu kommen. Beim China-Besuchdes Bundeskanzlers konnte ein „letter of intent“ übereine Machbarkeitsstudie für den Transrapid in Chinaunterschrieben werden. Auch das belegt das eingangserwähnte Interesse der Bundesregierung am Erfolg desTransrapid.Der Gedanke – wenn auch vage und noch nicht mitRealisierungsaussichten belegt –, die Strecke Hamburg–Berlin nicht als Sonderlösung, sondern als Bestandteileiner europäischen Hochgeschwindigkeitsstrecke zusehen, ist Beleg für die Suche nach einer weiteren An-wendung. Auf der Grundlage des aktuellen Interessesaus dem Ausland scheint die Suche nach einer alternati-ven Referenzstrecke in Deutschland nicht sinnvoll.Wir stehen im Wettbewerb mit einem japanischenProjekt, und unser Vorsprung ist geschmolzen. DerTransrapid muß, wenn die Betreiber ihn wollen und diefinanziellen Lücken geschlossen werden können, jetztauf die Spur gebracht werden. Alle anderen Ideen ver-schieben die Realisierung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Das sage ich auch vor dem Hintergrund bekannt-gewordener Ideen aus Süddeutschland. Anscheinendsieht München einen so großen Bedarf auf der S-Bahn-Strecke München–Flughafen München, daß vielleichteine dritte S-Bahn-Linie zum Flughafen als Referenz-strecke für den Transrapid geeignet wäre.Ich glaube aber, daß für ein neues Magnetschwebe-bahnbedarfsgesetz auf dieser Linie nicht einmal dieMehrheiten aus der alten Legislaturperiode zustande-kommen würden. Das ist aber nicht unser heutiges The-ma, wir wollen und sollten uns mit dem Antrag der PDSzur Einstellung des Projekts Magnetschwebebahn Ham-burg–Berlin auseinandersetzen. Die Aufmerksamen un-ter Ihnen ahnen es längst: Die SPD-Bundestagsfraktionlehnt den Antrag der PDS-Fraktion ab.
Ich fasse die Begründung noch einmal zusammen.Erstens. Unsere Koalitionsvereinbarung regelt das Ver-fahren. Wir stehen zur Zeit noch mitten in diesem Ver-fahren. Jetzt müssen Industrie und Bahn AG entschei-den. Darauf brauchen wir wahrscheinlich nicht mehrlange zu warten, denn die Partner des Eckpunktepapie-res treffen sich noch in der Mitte dieses Monats.Zweitens. Der PDS-Antrag nimmt die aktuellen Ent-wicklungen in der Transrapid-Diskussion nicht zurKenntnis. Das kann er auf Grund der Tatsache, daß ervom 17. November 1998 datiert, auch nicht; das ist klar.Diese Entwicklungen stellen die industriepolitische Ver-antwortung, die mit diesem Projekt und seinen Zu-kunftschancen verbunden ist, in den Vordergrund. Es istnicht verantwortbar, dies auszublenden.Schlußendlich wurden von den Projektentwicklern,der Bundesbahn und nicht zuletzt dem Bund bereits gro-ße Vorleistungen erbracht. Hier sind neben den einge-setzten Forschungsmitteln auch die seit Jahren laufendenGenehmigungsverfahren zu nennen. Es gibt keinenGrund, das mutwillig in den Sand zu setzen. Mehr istheute zu dem Thema Transrapid nicht zu sagen, zumPDS-Antrag schon gar nicht. Ich habe deshalb meineRedezeit nicht voll ausgenutzt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber.
Verehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrWolf, Sie haben recht: Ein Antrag zu dem Thema Ma-gnetschwebebahn ist hier in dieser Form schon zumwiederholten Male diskutiert worden: früher von denGrünen,
heute von Ihnen. Aber dem Antrag der PDS wird dasgleiche Schicksal widerfahren wie seinen Vorgängern.Er wird in diesem Deutschen Bundestag keine Mehrheitfinden.
Die Argumente im Antrag der PDS zielen auf dieSchwachstelle in der Regierungskoalition, nämlich aufdie Grünen.
Damit spiegelt sich das Dilemma dieser Koalition auchim Transrapid wider.Es stimmt zwar, Herr Weis, daß Sie sich im Koaliti-onsvertrag eindeutig auf den Bau der Magnetschwebe-bahn Transrapid geeinigt haben. Aber nachdem ich dieAusführungen der Grünen dazu in den letzten Wochen undMonaten verfolgt habe, stelle ich fest, daß diese Verein-barung nicht das Papier wert ist, auf dem sie geschriebenist. Denn Sie fühlen sich an diese Vereinbarung nichtReinhard Weis
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6261
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gebunden. Insofern bietet die heutige Debatte schon einegute Möglichkeit,
in diesem Hause nochmals zu verdeutlichen, warum derTransrapid zwischen Hamburg und Berlin für den Indu-striestandort Deutschland so wichtig ist und welcheVorteile der Transrapid gegenüber allen anderen Ver-kehrssystemen hat.
Als im Sommer dieses Jahres der frühere Verkehrs-minister Müntefering mit der Idee an die Öffentlichkeitgetreten ist, den Transrapid zwischen Hamburg undBerlin nur einspurig zu bauen, frohlockten die Gegnerbereits, weil sie glaubten, damit sei das Projekt gestor-ben.
Wer sich aber mit dem Thema schon länger befaßte, derwußte schon zu diesem Zeitpunkt, daß eine Einspurig-keit vom Grundsatz her technisch möglich ist und derTransrapid bei entsprechenden Taktzeiten von zirka 30Minuten auch wirtschaftlich betrieben werden kann. Wirhoffen, daß wir in den nächsten Tagen und Wochen dasErgebnis der Überprüfung auf dem Tisch haben werden.Herr Wolf, eines möchte ich zu diesem Punkt noch sa-gen: Eingleisigkeit des Schienennetzes ist nichts Neues;denn auch die Hochgeschwindigkeitsstrecke des ICE istin Deutschland an vielen Stellen einspurig, ohne daßsich das irgendwie negativ ausgewirkt hätte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir von derCDU haben uns zunächst darüber geärgert und auch ge-wundert, daß die Regierung ausgerechnet bei diesemmodernen System darauf beharrt, daß die im Sommer1996 vereinbarten Investitionskosten in Höhe von 6,1Milliarden DM die absolut oberste Grenze sein müssen.Zu dem Zeitpunkt, in dem wir hier diskutieren, wird vondieser Regierung – ohne mit der Wimper zu zucken –mitgeteilt, daß die ICE-Strecke von Köln nach Frankfurtnochmals um 1,5 Milliarden DM teurer wird als vorge-sehen
und in der Zwischenzeit Gesamtkosten von über 9 Milli-arden DM anfallen. Wahrscheinlich werden es nochmehr, vielleicht sogar 10 Milliarden DM.
Man kann eigentlich nicht mehr nachvollziehen, daßdiese Regierung hinsichtlich der Investitionskosten fürdas modernste Verkehrssystem, das weltweit einmaligist, so wenig flexibel ist, aber gleichzeitig Mehrkosten inMilliardenhöhe für ein konventionelles Schienensystemmit einem Federstrich akzeptiert.Doch wir wollen heute nicht nur lamentieren, sondernsind schon froh, daß die Bundesregierung – Gott seiDank – im Grundsatz zu ihrer Verpflichtung steht undwenigstens die 6,1 Milliarden DM bereitstellt. Wenn ichunseren Haushaltsexperten, Herrn Austermann, richtigverstanden habe, dann hat er ja wohl im Gespräch mitMinister Klimmt im Haushaltsausschuß deutlich ge-macht, daß die Vereinbarung im Eckpunktepapier –Preisstand: 1996 – bedeutet, daß die Inflationsrate mitdazugerechnet werden muß. Dann sind es noch einmalrund 700 Millionen DM mehr; dann hätten wir 6,8/6,9Milliarden DM zur Verfügung. Ich glaube, es ist ganzwichtig, das heute hier festzuhalten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich noch einmal auf ein paar Punkte aufmerksam ma-chen, die verdeutlichen, wie toll diese Technik ist.Erstens. Der Transrapid ist das sicherste und umwelt-freundlichste Verkehrsmittel der Zukunft.Zweitens. Der Transrapid ist mit bis zu 500 Kilome-tern in der Stunde Spitzengeschwindigkeit ein sehrschnelles und damit äußerst attraktives Verkehrsmittel,das in der Lage ist, Millionen Menschen zu befördernund damit die Mobilität einer modernen Industriegesell-schaft zu sichern.Drittens. Die Magnetschwebebahn verfügt über be-rührungsfreie Trag-, Führungs-, Brems- und Antriebssy-steme. Deshalb entfallen sämtliche Roll- und Motoren-geräusche. Der Transrapid – das muß man sich einmalvor Augen führen – ist bei einer Geschwindigkeit vonmehr als 400 Stundenkilometern leiser als ein ICE bei160 Stundenkilometern.
Viertens. Der Energieverbrauch des Transrapidsliegt bei 400 Stundenkilometern in etwa bei dem Werteines ICE bei 280 bis 300 Stundenkilometern. Er ver-braucht 30 Prozent weniger als ein Flugzeug auf dergleichen Distanz.Fünftens. Der Transrapid ist so umweltfreundlich,daß allein auf der geplanten Strecke zwischen Hamburgund Berlin gegenüber dem individuellen Verkehr jähr-lich 3 Millionen Liter Benzin bzw. 100 000 Tonnen CO2eingespart werden.
Wenn die Grünen und Teile der SPD – Herr Weis,Sie sind hier eine Ausnahme – ihre eigenen umweltpoli-tischen Zielvorstellungen ernst nehmen würden, dannmüßten sie allein aus diesen Gründen die glühendstenAnhänger des Transrapids sein. Aber leider Gottes sinddie ideologischen Scheuklappen und die Technologie-feindlichkeit bei den Grünen und in Teilen der SPD grö-ßer als ihre Verantwortung für Umwelt und Natur.
Georg Brunnhuber
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6262 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Sechstens. Laut einer Intraplanstudie wird das Perso-nenverkehrsaufkommen bis zum Jahre 2010 immensansteigen. Allein der Verkehr in Ost-West-Richtungwird sich gemäß den Schätzungen des Bundesverkehrs-wegeplanes verdreißigfachen. Angesichts dieser Per-spektiven wird die Verlagerung des Verkehrs auf emis-sionsärmere Verkehrsträger zur entscheidenden ökologi-schen Herausforderung. Deutschland hat mit der Ma-gnetschnellbahn den Schlüssel zur Lösung dieser Pro-bleme in der Hand.
Nicht umsonst ist die gesamte Welt an diesem techni-schen System interessiert. In den USA wird derzeit einPlanungsauftrag zum Transrapid vergeben. Der HerrBundeskanzler hat nun in China selber erfahren, daßman dort großes Interesse am Transrapid hat. Natürlichist die Strecke Peking–Schanghai noch nicht so ausge-reift, daß man es als ernsthaftes Projekt ansehen könnte.Aber ich finde, auch dies müßte jedem zu denken geben.Ich habe den Eindruck, daß die einzigen Ignoranten aufder ganzen Welt hier vor uns auf den Regierungsbänkensitzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein wichti-ger Hinweis – das spielt in dieser Koalition teilweise of-fensichtlich keine Rolle mehr –: Der Transrapid wird inder Bauphase fast 18 000 Arbeitsplätze sichern und da-nach allein für den Betrieb 4 400 neue Arbeitsplätzeschaffen.Der Transrapid ist im Vergleich zu den ICE-Neubaustrecken pro Kilometer wesentlich wirtschaftli-cher als alles, was bisher gebaut wurde. Für die ICE-Neubaustrecke Köln–Rhein-Main müssen rund 47 Mil-lionen DM pro Kilometer aufgewandt werden. Für dieNeu- und Ausbaustrecke Hannover–Berlin, die topogra-phisch mit der Transrapidstrecke Hamburg–Berlin ver-gleichbar ist, sind rund 34 Millionen DM pro Kilometerangefallen. Die Transrapidstrecke von Hamburg nachBerlin kostet pro Kilometer, und zwar zweigleisig, nur20 Millionen DM.
Damit ist dieses System in der Lage, die großen Ver-kehrsströme zwischen den Hauptstädten in Europa in derZukunft preisgünstiger zu bewältigen als jede noch somoderne Schienenstrecke.
Nicht umsonst gibt es deshalb im Konsortium der Trans-rapid-Industrie Überlegungen, den Transrapid vonHamburg über Berlin, Dresden und Prag bis nach Wienund Budapest zu verlängern.
Natürlich ist das eine Vision. Aber diese Vision ist ineiner Machbarkeitsstudie fast schon greifbar. Es ist dochgeradezu phantastisch, wenn wir heute über das Angeboteines Verkehrssystems diskutieren können, bei dem manhier im Lehrter Bahnhof einsteigt und zwei Stundenspäter in Wien im Westbahnhof aussteigt.
Ich finde es geradezu blamabel, daß Sie diese Positionnicht stärker unterstützen.Meine Damen und Herren, wer in den Debatten stän-dig über CO2-Emissionen und das Ozonloch streitet, werdas dauernd vor sich herträgt,
der sollte endlich auch den Mut haben, dem umwelt-freundlichsten Verkehrssystem, nämlich dem Transra-pid, freien Lauf und grünes Licht zu geben.Herzlichen Dank.
Das Wort hatjetzt der Kollege Albert Schmidt.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Kollege Brunnhuber ist wie immer sehrunterhaltsam. Vieles von dem, was er sagt, ist durchausbedenkenswert, und manches ist sogar richtig.Richtig war zum Beispiel, daß Sie darauf hingewie-sen haben, daß die ICE-Neubaustrecke von Frankfurtnach Köln in der Tat teurer wird. Sie wird sogar nochteurer, als Sie gesagt haben: Die Kostensteigerung be-trägt 1,75 Milliarden DM. Leider stimmt es aber nicht,wie Sie gesagt haben, daß der Bund einfach in dieSchatulle greift und das Geld nachschießt. Schön wärees! Wissen Sie, was Ihr Verkehrsminister damals mitHeinz Dürr beschlossen hat? Er hat gesagt: Die Mehrko-sten übernehmt ihr bei der DB AG. Genau das findetjetzt auch statt. Die Bahn AG wird nun diese Mehrko-sten tragen müssen. Genau dieses Risiko wollen wirbeim Transrapid vermeiden und der Bahn ersparen.
Es war in den letzten Tagen und Wochen sehr unter-haltsam, sogar direkt aufregend, überall in den Zeitun-gen vom Transrapid zu lesen: Transrapid nach Prag,Transrapid nach Warschau, nach Budapest, nach Wien,von Peking nach Schanghai. – Es fehlte noch Las Ve-gas–Amsterdam oder Bremen–Bremerhaven. Auch Au-stralien war früher schon im Gespräch. Mir war schonganz schwindelig vor lauter Transrapid. Überall, woman hingeguckt hat, war der Transrapid schon da. Esgab ein wahres propagandistisches Trommelfeuer, daszeigt, wie groß im Moment der Bedarf an Stimmungs-mache ist, um vielleicht doch noch eine Entscheidunghinzubekommen, die natürlich in Ihrem Interesse wäre.
Georg Brunnhuber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6263
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Ach, die Verbindung München Hauptbahnhof–Mün-chen Flughafen habe ich ganz vergessen! Auch das isteine sehr interessante Idee. Man müßte zwar eineSchneise durch Nordschwabing schlagen, aber anson-sten ist das eine sehr interessante Idee. Das sollte manwirklich einmal prüfen. Ich wünsche jedem viel Ver-gnügen in der Auseinandersetzung mit den Tausendenvon Menschen, die dort ihre Wohnungen verlassenmüßten.Aber es wird noch toller: Plötzlich war in den Zeitun-gen von einer Studie zu lesen: Einspurigkeit ist wirt-schaftlich machbar! Begutachtet von einem gewissenHerrn Professor Nich aus Berlin. –
Die Studie ist nicht von der DB in Auftrag gegebenworden; das kann ich Ihnen versichern. – Wer ist ei-gentlich Herr Professor Nich? Herr Professor Nich warstellvertretender Leiter der Versuchsstrecke im EmslandMitte der 80er Jahre. Das heißt, er hat in großer Objekti-vität sich selbst begutachtet. Man kann sich ja vorstel-len, was dabei herauskommt. Das war also nicht sehrernst zu nehmen. Nun ist ein neues Gutachten im Ge-spräch, zitiert von einem geschätzten SPD-Kollegen ausKassel.
Auch in diesem Gutachten steht angeblich – keiner hates bisher gelesen, aber die „Bild“-Zeitung hat es ge-schrieben –, eine einspurige Strecke sei wirtschaft-lich. Man befördere fast ebenso viele Fahrgäste – unddies dazu noch billiger als auf einer zweispurigenStrecke. Gestern hat sich der Herr Jablonski von derMagnetbahn-Planungsgesellschaft zu Wort gemeldetund gesagt, dies sei ein Mißverständnis. Auf einereinspurigen Strecke werde es nicht billiger, sondern teu-rer. Es ist auch merkwürdig, daß der halbe Fahrwegplötzlich mehr kostet als der ganze. Dies sei aber einmaldahingestellt.Es stellt sich die weitere Frage, wie viele Fahrgästebefördert werden sollen. Dies ist für mich das Hexen-einmaleins: Der Fahrweg wird teurer und halbiert; eswerden weniger Fahrgäste befördert, aber das Ganzewird wirtschaftlicher. Auf diese Studie bin ich sehr ge-spannt. Aber vielleicht ist auch die Aussage hinsichtlichder Fahrgastzahl ein Mißverständnis.Ich lade Sie zu einem kleinen Experiment ein. WennSie heute abend nach Hause gehen, gehen Sie an IhremComputer ins Internet. Rufen Sie die Webseite von„www.bahn.de“ auf. Dort ist ein aktuelles Angebot derDeutschen Bahn nachzulesen, nämlich „surf and rail“.Es erscheint eine Karte, auf der verschiedene StädteDeutschlands aufgelistet sind. Die schwach ausgelaste-ten Strecken der Deutschen Bahn AG können Sie dortelektronisch buchen. Raten Sie, welche Sie unter denschwach ausgelasteten Strecken der Bahn finden, die aufdem elektronischen Wühltisch verhökert werden? – DieStrecke Hamburg–Berlin, und zwar zum Preis von75 DM. Wenn Sie die Bahncard besitzen, beträgt er so-gar nur 70 DM. Soviel zur Auslastung der Strecke zwi-schen Hamburg und Berlin.
– Herr Brunnhuber, das erklärt doch schon alles.
Herr Brunnhuber, probieren Sie es heute abend im Inter-net aus und buchen Sie. Dann bekommen Sie diese Ver-bindung, Hin- und Rückfahrt, für 75 DM. Für die Fahrtmit dem Transrapid müßten Sie über 200 DM bezahlen.Das ist der Unterschied.
Hier war auch von der Koalitionsvereinbarung dieRede. Eines möchte ich deutlich sagen: Ein Transrapidist ja kein Atomkraftwerk. Es handelt sich um eine Ver-kehrstechnik, nicht mehr und nicht weniger, noch dazuum eine hochentwickelte, wie mehrfach richtig gesagtwurde, und auch eine interessante. Für mich ist dieschlichte Frage nicht: Ist die Technologie gut oderschlecht? Dies wäre eine ideologische Debatte. Die Fra-ge ist – wie bei jeder anderen Verkehrstechnik auch –:Rechnet sich dieses Projekt auf einer bestimmten Strek-ke? Weil wir dies zumindest in Zweifel gestellt sahen,haben wir eine kluge und klare Verabredung im Koaliti-onsvertrag getroffen.
Darin steht: Als Grundlage für die Entscheidung überdie Realisierung des Projektes gilt das Eckpunktepa-pier vom April 1997 – nicht vom Sommer 1996, wieSie sagten, Herr Brunnhuber. Es ist festgehalten: zwei-spuriger Fahrweg, 6,1 Milliarden DM Kostendeckel unddazu eine bestimmte Fahrgastprognose, die natürlichnötig ist, damit das Ganze wirtschaftlich betrieben wer-den kann.In diesem Eckpunktepapier sollten Sie auch Ziffer 10nachlesen. Dort steht: Bei signifikanter Änderung derDaten müssen sich die drei Projektbeteiligten, Bund,Bahn und Industrie, zusammensetzen und in der Haupt-sache neu entscheiden. – Genau dies wird geschehen.Mitte November dieses Jahres wird dieses Zusammen-treffen stattfinden. Dann wird man sich die Zahlen inRuhe ansehen.Herr Kollege Wolf, ob Sie es glauben oder nicht: Ichbin immer noch sehr gelassen, daß nach Analyse derZahlen, die dann auf dem Tisch liegen werden, von allendrei Projektbeteiligten die richtige Entscheidung getrof-fen werden wird.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Albert Schmidt
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6264 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999
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Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der PDS
ist zwar schon ein Jahr alt, aber – man kann über ihn sa-
gen, was man will – er bleibt wenigstens konsequent in
der Linie der Ablehnung. Insofern ist die PDS berechen-
bar,
was über den veritablen Eiertanz sowohl der Grünen als
auch der SPD nicht gesagt werden kann. Denn wie Sie
sich in den letzten Jahren zu diesem Thema geäußert ha-
ben, ist schon nicht mehr nachvollziehbar. Nur schadet
es dem Transrapid mehr, als es ihm nutzt.
Es ist schon interessant: Der überfliegende Kanzler Ger-
hard Schröder, der in Japan stolz verkündet, welch veri-
table Technologie der Transrapid darstellt,
um in China mit großem Stolz einen „letter of intent“ zu
unterschreiben,
sagt gleichzeitig: Über das Ganze zu entscheiden traue
ich mich nicht. Dies muß die beteiligte Industrie tun.
Herr Kollege Schmidt, auf einer Regionalkonferenz
in Kassel am 13. November dieses Jahres wird der
Kanzler mit dieser Aussage nicht durchkommen. Denn
es ist zu lesen, daß Thyssen, die Betriebsräte, Herrn
Schröder in Form von mehr als 10 000 Unterschriften
fragen wird, was er denn nun tatsächlich zum Transrapid
belastbar meint. Dann müssen Sie endlich mit Ihrem
Eiertanz aufhören.
Am Anfang hat Klaus Daubertshäuser ein Buch ge-
schrieben, in dem er gefordert hat, daß der Transrapid
endlich umgesetzt wird. Die Verkehrsgruppe der SPD
hat dann erklärt: Wir möchten nur „ein bißchen Transra-
pid“, vielleicht auf der Strecke von Bremen nach Bre-
merhaven. Dann hat Herr Schröder gesagt: Tolle Tech-
nologie. Damals war er noch Ministerpräsident von Nie-
dersachsen und hat gefordert, daß bis zur EXPO 2000
alles wunderbar sein müsse, insbesondere die Versuchs-
strecke in Lathen. Auf dem Parteitag der SPD 1997
wurde der Transrapid überraschenderweise abgelehnt.
Zur großen Freude aller steht in der Koalitionsvereinba-
rung – dies ist ein glänzender Beweis dafür, daß der
grüne Koalitionspartner umgefallen ist –, daß der Trans-
rapid auf der Strecke Hamburg–Berlin verwirklicht wer-
den soll. Die Frau Staatssekretärin Ferner hat dies offen-
sichtlich nicht gelesen; denn sie möchte zwar den Trans-
rapid, aber nicht auf der Strecke Hamburg–Berlin. Dies
hat sie erst vor kurzem öffentlich erklärt. Wie denn nun?
Was soll dieses ganze Geeiere? Sie müssen bis zum Jah-
resende die Debatte um den Transrapid zum Abschluß
bringen. Die USA haben schon signalisiert, daß sie sich
wahrscheinlich nicht an der EXPO beteiligen werden.
Das wäre schlimm genug.
Wenn Sie jetzt nicht die Diskussionen über den Transra-
pid beenden, dann wird sich die Industrie aus der Finan-
zierung der Versuchsstrecke in Lathen zurückziehen.
Wenn bis zur Eröffnung der EXPO 2000 im Sommer
nächsten Jahres die vorgesehene Außenstelle des Trans-
rapids, die Versuchstrecke in Lathen, durch Ihre Be-
schlüsse eingestellt sein sollte, dann gäbe die Bundesre-
publik ein „glänzendes Zeugnis“ nach außen ab.
Was muß denn eigentlich noch passieren, damit Sie die-
ses unwürdige Schauspiel beenden?
Nun hat uns der ehemalige Verkehrsminister Franz
Müntefering, der nur für eine Interimszeit tätig war, zum
Abschied den Vorschlag der Einspurigkeit hinterlassen.
Jetzt kommt etwas ganz Interessantes: Offensichtlich ist
eine Einspurigkeit realisierbar. Sie wird auch innerhalb
des Kostenrahmens darstellbar sein. Ich bin gespannt,
welche Ausreden Sie sich dann wieder einfallen lassen.
Ich frage auch, wie sich der jetzt nicht mehr anwe-
sende Bundesfinanzminister Hans Eichel entscheiden
wird. Er ist damals als Ministerpräsident von Hessen –
entgegen Ihren Vorstellungen – nicht Ihrer Aufforde-
rung gefolgt und hat das Magnetschwebebahnplanungs-
gesetz abgelehnt. Er hat es dann aber doch über die Hür-
den gebracht, weil er an die Arbeitsplätze in Kassel ge-
dacht hat. Nun hat er eine besondere Finanzverantwor-
tung. Ich bin gespannt, wie sich der ehemalige Minister-
präsident des Landes Hessen in dieser Frage entscheiden
wird. Sie haben noch die große Chance, einen unwürdi-
gen Eiertanz möglichst schnell zu beenden. Der Trans-
rapid hat etwas Besseres verdient als das, was Sie pla-
nen.
Herr Kollege Wolf, ich bitte um Ihr Verständnis, aber
den Antrag Ihrer Fraktion müssen wir leider ablehnen.
Ich schließedamit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau undWohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDSzur Magnetschwebebahnstrecke Hamburg – Berlin undzur Einstellung der Transrapid-Förderung. Der Aus-schuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/38 ab-zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derCDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDSbei einer Enthaltung aus dem Kreis der Grünen ange-nommen worden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 1999 6265
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Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.OSZE-Gipfel in Istanbul – für eine Stär-kung der Handlungsfähigkeit der OSZE– zu dem Antrag der Fraktion der PDSNeue europäische Sicherheitsarchitektur– Drucksachen 14/1959, 14/1771 –Die Kollegen Uta Zapf, Dr. Andreas Schockenhoff,Rita Grießhaber, Walter Hirche, Wolfgang Gehrcke undStaatsminister Dr. Ludger Volmer haben darum gebeten,ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Siedamit einverstanden? – Kein Widerspruch. Dann wird esso gemacht.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-trag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bünd-nis 90/Die Grünen und F.D.P. zu dem OSZE-Gipfel inIstanbul, Drucksache 14/2063 Nr. 1. Der Ausschuß emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1959 in der Aus-schußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlußempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen?– Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen desganzen Hauses bei Enthaltung der PDS, angenommenworden.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS*) Anlage 8zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur,Drucksache 14/2063 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 14/1771 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlußempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung istgegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hau-ses im übrigen angenommen worden. Es gab keine Ent-haltungen.Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenUlla Lötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Winfried Wolf,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDSInternationales Kartellrecht, Unternehmens-fusionen und -konzentrationen– Drucksachen 14/1403, 14/1824 –Auch hier ist darum gebeten worden, die Reden derKollegen Dr. Uwe Jens, Hartmut Schauerte, WernerSchulz, Gudrun Kopp und Ursula Lötzer sowie des Par-lamentarischen Staatssekretärs Siegmar Mosdorf zuProtokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Vielen Dank.Damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesord-nung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 12. November 1999,9 Uhr ein.Diese Sitzung ist geschlossen. Allen Kolleginnen undKollegen wünsche ich eine gute Nacht.