Gesamtes Protokol
Meine sehr geehrtenDamen und Herren, ich eröffne die Sitzung nach Art. 56des Grundgesetzes.Namens des Deutschen Bundestages und des Bundes-rates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland,die Besucher auf den Tribünen und die zahllosen Zu-schauer an den Fernsehgeräten. Ich heiße Sie alle herz-lich willkommen.
Besonders begrüße ich den scheidenden Bundesprä-sidenten, Herrn Professor Dr. Roman Herzog, und seineFrau Christiane Herzog.
Ebenso herzlich begrüße ich seinen Nachfolger Johan-nes Rau und seine Frau Christina.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verehrteDamen und Herren, heute morgen haben wir in einerlangen und eindringlichen Debatte über 50 Jahre Demo-kratie in Deutschland diskutiert. Dabei stand der Ab-schied von Bonn im Mittelpunkt und der Dank für das,was von und in dieser Stadt in fünf Jahrzehnten Bundes-republik Deutschland geleistet worden ist. Der Wechselvom Rhein an die Spree steht schon in wenigen Tagenan. So ist diese gemeinsame Sitzung von Bundestag undBundesrat zugleich die voraussichtlich letzte in diesemPlenarsaal.Wir haben uns hier zur Vereidigung und Amtseinfüh-rung des neugewählten Präsidenten der BundesrepublikDeutschland versammelt. Gleichzeitig wollen wir Pro-fessor Roman Herzog danken, der nach fünf Jahren ausdem Präsidentenamt ausscheidet. Die Verabschiedungdes bisherigen und die Amtseinführung des neuen Bun-despräsidenten im Deutschen Bundestag in Bonn spie-gelt jene Veränderungsprozesse wider, in denen wir seit1990, dem Jahr der deutschen Einheit, stehen.Erinnern wir uns: Sie, sehr geehrter Herr ProfessorHerzog, wurden in der ersten gemeinsamen Sitzung vonBundestag und Bundesrat im Berliner Reichstagsgebäu-de am 1. Juli 1994 in Ihr Amt eingeführt. Als erstes derVerfassungsorgane haben Sie schon bald darauf IhrenAmtssitz nach Berlin verlegt. Ihr Nachfolger JohannesRau wird als erster Bundespräsident von Anfang an imSchloß Bellevue amtieren. Gleichwohl haben sich beide,der bisherige wie der neugewählte Präsident, stets in be-sonderer Weise auch Bonn verbunden gefühlt.Wenn nun die Verabschiedung von Roman Herzogund die Amtseinführung von Johannes Rau im Rahmender letzten Sitzung hier, im Bonner Plenarsaal, stattfin-den, stiftet dies, so denke ich, eine Verbindung zwischendem alten und dem neuen Parlaments- und Regierungs-sitz, eine Verbindung, der wir über den heutigen Dankan Bonn hinaus Bestand wünschen.
An die Spitze unseres Gemeinwesens haben die Väterund Mütter unserer Verfassung unseren Bundespräsi-denten gestellt. Das höchste Staatsamt wird in besonde-rem Maße von der Persönlichkeit des Amtsinhabers ge-prägt. Sie, sehr geehrter Herr Professor Herzog, brachtenhierfür eine Voraussetzung mit, die in dieser Form kei-ner Ihrer Vorgänger hatte. Als der Autor des maßgeb-lichen Verfassungskommentars zum Amt des Bundes-präsidenten vermochten Sie die souveräne Kenntnis derVerfassungstheorie in die politische Praxis Ihrer Amts-führung einfließen zu lassen. Anders ausgedrückt: Beischwierigen Fragen konnten Sie gewissermaßen mit sichselber zu Rate gehen.
Ich darf – sicher in unser aller Namen – feststellen: Die-se ungewöhnliche Konstellation hat dem höchsten Amtin unserem Staat zusätzlichen Respekt verschafft.
In Ihrer Antrittsrede haben Sie 1994 klare Schwer-punkte gesetzt und sie in den folgenden Jahren – imganz wörtlichen Sinne – abgearbeitet. Das Zueinander-führen der Menschen in Ost und West war Ihnen einvordringliches und sehr persönliches Anliegen. Mit einer
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Vielzahl von Besuchen haben Sie, wie Sie gelegentlichhumorvoll anmerkten, die ostdeutschen Landschaften,Städte und Gemeinden „durchpflügt“. Dabei ging es Ih-nen vor allem um das Zuhören. Sie hatten stets ein offe-nes Ohr für die Probleme und Erfahrungen der Ostdeut-schen. Damit haben Sie ein wichtiges Beispiel gesetzt,geht es doch darum, den oder die anderen mit ihren Le-bensgeschichten ernst zu nehmen. Ihr Interesse, Ihre Of-fenheit und Einfühlsamkeit ist im Osten wie im Westenaufmerksam registriert worden. Dieses Engagement fürdas Zueinanderfinden der Deutschen wird von den Men-schen nicht vergessen werden. Und noch wichtiger: Eshat Schule gemacht.Ihr besonderes Augenmerk galt der Notwendigkeit,veraltete Denkweisen und überkommene Strukturen zuverändern. Immer wieder machten Sie deshalb auf dieFolgen der Globalisierung und des technologischenWandels aufmerksam. Bildung und Ausbildung wiederzu dem ihnen gebührenden Stellenwert zu verhelfen wareine Ihrer gelungenen Anstrengungen, die sich aus die-ser Überzeugung ergab. Bildung, die Sie immer in ei-nem sehr umfassenden Sinne verstanden haben, ist un-verzichtbare Voraussetzung für unser Zusammenleben,für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie wur-den nicht müde, zu erklären, daß Bildung Voraussetzungfür überzeugende, gelingende Zukunftssicherung ist.Nur wer bereit ist, stets weiter zu lernen, wer sich fürVeränderung und Innovation offen zeigt, bleibt zu-kunftsfähig. Das gilt für den einzelnen Menschen wiefür die Gesellschaft insgesamt. In der immer enger zu-sammenrückenden Welt weisen diese Perspektiven überdie Grenzen unseres Landes und unseres Kontinentshinaus.Diese Beziehungen zu unseren europäischen Nach-barn haben Sie umsichtig gepflegt und gefördert. Dabeilagen Ihnen enge Kontakte zu Osteuropa, namentlich zuPolen, besonders am Herzen. Dies ist auch von denWesteuropäern richtig verstanden worden: als das Ziel,das ganze Europa zusammenzuführen. Nur so könnenwir Deutsche unserer Verantwortung auch für andereTeile der Welt gerecht werden. Ihre Besuche auf denanderen Kontinenten unseres Globus, in Afrika und inAsien, im pazifischen Raum wie in Nord- und Südame-rika haben dies immer wieder bewußt gemacht, denGastgebern, aber auch uns selbst.In diesem Zusammenhang wird immer häufiger vonder „einen Welt“ gesprochen. Sie, sehr geehrter HerrProfessor Herzog, haben uns die Konsequenzen diesesVerständnisses vor Augen geführt. Leben in der einenWelt, das bedeutet, nicht mehr nebeneinander, sondernmiteinander zu leben. Es bedeutet, aufeinander angewie-sen zu sein. Wir müssen, so Ihre Aufforderung, begrei-fen, daß die globalen Probleme nur global, also gemein-sam gelöst werden können.In diesem Sinne – mit dem Ziel, Fremdheiten undVorurteile abzubauen – haben Sie das Gespräch zwi-schen den Religionen und Kulturen gefordert und geför-dert und als ein wichtiges Anliegen Ihrer Amtszeit be-griffen und praktiziert. Dieser interkulturelle, auch inter-religiöse Dialog kann nur gelingen – auch dies haben Sieimmer wieder hervorgehoben –, wenn wir uns auf dasAnderssein fremder Kulturen einlassen, was Offenheit,Sensibilität und Toleranz verlangt.Das Amt des Bundespräsidenten ist – wir wissen es –in besonderer Weise dem geschriebenen und gesproche-nen öffentlichen Wort verbunden. Wie kein anderes Amteröffnet es die Chance, Denkanstöße zu geben und dieAufmerksamkeit auf Entwicklungen und Probleme zulenken, die im gesellschaftlichen wie im politischenBewußtsein nicht oder noch nicht so klar wie notwendiggesehen werden.Dies ist Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Herzog,auf unverwechselbare Weise gelungen. Sie haben so mitden Menschen gesprochen, daß Sie verstanden werdenkonnten. Die Klarheit und Eindringlichkeit Ihrer Spra-che, Ihre ebenso präzisen wie prägnanten Formulierun-gen, Ihre Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte – füreinen Juristen ja nicht selbstverständlich –
zu übersetzen, haben die Distanz überwunden, die dashöchste Staatsamt auch zu schaffen vermag.Das hat der Demokratie und der Würde Ihres Amtesgutgetan. Wir Politikerinnen und Politiker aller Parteienund auf allen Ebenen können uns daran wahrlich einBeispiel nehmen. Allerdings, Ihren Humor und Ihre un-verwechselbare Neigung zu milder Ironie wird wohlniemand wirklich nachahmen können. Aber geradedamit haben Sie dem höchsten Amt eine besondere Far-be gegeben, Ihren persönlichen Stempel aufgeprägt.
In allen diesen Aufgaben wurden Sie von Ihrer FrauChristiane unterstützt. Das Wort ist fast zu schwach.Sehr geehrte Frau Herzog, Sie haben sich engagiert, sicheingesetzt, sich bewährt, mit Leidenschaft gearbeitet undöffentlich gewirkt, als ob Sie selbst von der Bundesver-sammlung gewählt worden wären.
Sie waren sichtbar und wirklich die erste Frau inunserem Staat. Deshalb gebührt Ihnen persönlich unserbesonderer Dank, unsere besondere Anerkennung.
Bei allem politischen Engagement haben Sie, sehrgeehrter Herr Professor Herzog, die parteipolitischeNeutralität Ihres Amtes gewahrt – aber nicht, indem Siein der Sache selbst allen Meinungen gerecht zu werdensuchten, sondern indem Sie durch Kritik, durch Anre-gungen einmal die eine, ein andermal die andere Seitebesonders herausgefordert haben. Das ist eine wichtige,nachahmenswerte politische Kunst.Als heilsam werden es viele empfunden haben, vomBundespräsidenten zu erfahren, daß es auch ein Lebenneben der Politik gibt. Die Politik kann nicht alles, undsie ist auch nicht alles.
Der erste Bürger in unserem Gemeinwesen hat uns inden vergangenen fünf Jahren gezeigt, was es heißt, nahbeim Leben der Menschen zu sein. Ihr Beispiel beweist,Präsident Wolfgang Thierse
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daß es sich lohnt, auf die Bürgerinnen und Bürger zuzu-gehen, sie anzuhören und zum persönlichen Engagementfür die parlamentarische Demokratie zu ermutigen.In diesem Sinne, sehr geehrter Herr Professor Her-zog, wird Ihre fünfjährige Amtszeit gewiß noch reicheFrüchte tragen. Hierfür danken wir Ihnen sehr herzlich.Wir wünschen Ihnen, Ihrer Frau und Ihrer ganzen Fami-lie für die Zukunft alles Gute und Gottes Segen.
Und nun zu Ihnen, Herr Rau;
denn es gehört sich, daß ich in dieser Stunde wenigstensein paar Worte an Sie richte.Sie werden, sehr geehrter Herr Rau, heute Ihr Amtantreten, in das die Bundesversammlung Sie am 23. Maigewählt hat. Dieses Amt steht auch für die Kontinuitätder deutschen Demokratie, von der man ja nicht mehrsagen kann, daß sie ganz jung sei. Zugleich bedeutet je-de Persönlichkeit, die dieses Amt antritt, einen Neuan-fang, und das ist gut so. Es ist ein schöner Anfang, daßdie Bundesversammlung offenbar eine Wahl getroffenhat, die mit der Wahl der Mehrheit der Menschen imvereinten Deutschland übereinstimmt; sie bringen IhnenVertrauen entgegen.Ich wünsche Ihnen im Namen aller, die hier versam-melt sind, in diesem Sinne eine glückliche Hand.
Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, HerrMinisterpräsident Roland Koch.Roland Koch, Präsident des Bundesrates: MeineHerren Präsidenten! Herr Bundestagspräsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Sie werden verste-hen, daß ich die ehrenvolle Aufgabe, in Namen desBundesrates zu Ihnen zu sprechen, mit dem Zögerndesjenigen beginne, der unter den Ministerpräsidentenan Lebensjahren und an Amtsjahren der mit Abstandjüngste ist. Aber vielleicht ermöglicht es gerade dieseTatsache, Empfindungen aus der Sicht der jedenfalls ge-rade noch jüngeren Generation Ihnen gegenüber, meinesehr verehrten Herren Präsidenten, zu formulieren.Der Bundespräsident übt ein Amt aus, das jenseitsdes politischen Alltags steht. Dennoch lassen sich mitjeder Präsidentschaft auch zeitgeschichtliche Verände-rungen beschreiben. Sie, sehr geehrter Herr PräsidentHerzog, waren der erste Präsident, der von Abgeordne-ten aus den alten und den jungen Bundesländern ge-meinsam gewählt wurde. Ihre Amtszeit wird mit demProzeß des Zusammenwachsens unseres Landes engverbunden bleiben. Dabei wollen wir uns – darauf habenSie immer Wert gelegt – nicht selbst täuschen. Wir sindnoch nicht vollständig zusammengewachsen. Aber Siehaben in einer sehr klaren und menschlichen Art Gräbenzugeschüttet, Brücken gebaut und dort, wo Sie es fürnotwendig hielten, die Planung von Brücken von denenverlangt, die in der Verantwortung stehen.Als jemand, der in seinem Leben auch eine nennens-werte Zahl von Jahren einer Landesregierung angehörthat, bevor ihm andere hohe Ämter und dann das höchsteStaatsamt übertragen wurden, haben Sie immer nach denPrinzipien des Föderalismus gelebt und gearbeitet. FürSie als „überzeugten Bayern, der berufsbedingt viel inder Welt herumgekommen ist“ – so beschreiben Sie sichselbst –, zeichnet sich lebendiger Föderalismus dadurchaus, daß er den Menschen Zugehörigkeit und Heimatvermittelt.Dieser Föderalismus, in dem der Bund aus der Souve-ränität der Länder Gestaltungsrechte erhält und ebennicht die Länder von der Gewährung von Rechten durchden Bund abhängig sind, ist die Wurzel von Wachstumund Entwicklung in vielen Lebensbereichen. Das strikteVerlangen der Bürgerinnen und Bürger in den fünf neu-en Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie im Ost-teil Berlins nach Eigenständigkeit in ihren Bundeslän-dern, das nach der Wende zum Ausdruck kam, ist einBeweis dafür, daß es sich beim Föderalismus um eineKonstruktion unserer Verfassung handelt, die die Men-schen ausdrücklich gewollt und gefordert und nicht nurhingenommen haben. Das ist für eine politische Strukturin unserer Zeit nun wirklich nicht selbstverständlich.Das föderale Prinzip hat sich in vielerlei Hinsicht be-währt. Das wird nicht heißen, daß alles unabänderlichfestgeschrieben bleibt. Sie selbst waren häufig daran be-teiligt und haben auch manches Mal angekündigt, sichmöglicherweise weiter daran beteiligen zu wollen, überdie Frage nachzudenken, wie – eventuell über eine Ent-flechtung von Aufgaben, Einnahmen und Ausgaben – dasföderale Prinzip auch im 21. Jahrhundert und auf DauerBestand haben könnte. Bei einer solchen Neuvermessungstaatlicher Aktivitäten wird es darauf ankommen, Denk-blockaden aufzulösen, damit Veränderungen des Ge-wachsenen dort möglich sind, wo wir sie brauchen. Dazuhaben Sie in der Vergangenheit manch offenes Wort ge-sagt. Es fügt sich, daß im Wechsel zu Herrn Bundespräsi-denten Rau gerade in Ihrer Rede, die Sie zum 50jährigenJubiläum des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 1996im nordrhein-westfälischen Landtag gehalten haben, vie-les zum Föderalismus zu lesen ist.Föderalismus und die Beseitigung von Denkblocka-den sind zwei Stichworte, die mich ebenso wie HerrnBundestagspräsidenten Thierse zu dem Thema führen,das Ihnen, zumindest in der zweiten Hälfte Ihrer Amts-zeit, öffentlich sichtbar mehr am Herzen gelegen hat alsjedes andere. Ich meine die Zukunft von Bildung undAusbildung in Deutschland. Sie haben mit Ihren Posi-tionen in dieser Frage durchaus in die Politik jedes ein-zelnen Bundeslandes eingewirkt. Die Bundesregierungsoll so etwas nicht tun, sagen wir im Bundesrat. Aberder Bundespräsident kann, darf, ja vielleicht muß er inder Klammerfunktion, die er hat, gelegentlich sogar soagieren. Ich bin sicher, eine ganze Generation jungerMenschen, Millionen von Eltern, aber auch viele andere,die von unserem Weg in die Wissensgesellschaft über-zeugt sind, danken Ihnen für das Engagement, das Siefür dieses Feld gefunden haben, Herr Bundespräsident.
Präsident Wolfgang Thierse
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Sie haben eine Bresche für die Priorität von Bildung,für den Wiedereinzug von Qualitätsstandards geschla-gen. Sie haben vielen Menschen Mut gemacht, denWettbewerb aufzunehmen, eine mit Charakter undSelbstvertrauen, mit Wissen und Können und mit Lei-stungsbereitschaft und Hilfsbereitschaft ausgestatteteneue Generation auf einen Spitzenplatz in der Welt vor-zubereiten. Ohne einen Anspruch auf historische Be-wertungen, vor denen wir uns alle stets hüten sollten, zuerheben, bin ich sicher, daß Sie zumindest auch als der„Bildungspräsident“ in die Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland eingehen werden.Dabei haben Sie ganz zweifellos gelegentlich dieGrenzen der bloßen Repräsentation überschritten. In Ih-rer bereits erwähnten Rede vor dem nordrhein-westfälischen Landtag haben Sie von dem „scharfenSchwert der Festrede“ gesprochen
und die Präsidialaufgabe als Verpflichtung zur Offenle-gung von Problemen bei gleichzeitiger Zurückhaltungim Blick auf Lösungsvorschläge definiert.Mit Ihrer sogenannten Ruck-Rede im neuen Adlon inBerlin haben Sie dann diese Zurückhaltung etwas aufge-geben. Nicht etwa, daß daraus die Übernahme der Bun-desregierung durch den Bundespräsidenten gewordenwäre. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungs-gerichts, Professor Dr. Roman Herzog, hat nie die Gren-zen seines Amtes überschritten. Aber Sie hielten es fürerforderlich, die endlose Debatte um Lösungsvorschlägedurch die Bewertung der Lösungsvorschläge und dieForderung nach präziser Entscheidung zu beschleuni-gen. Sie haben die Bürgerinnen und Bürger darauf hin-gewiesen, daß diese Sachentscheidungen ohne ein klaresBild von der eigenen Zukunft nicht getroffen werdenkönnen.Zuerst müssen wir uns darüber klarwerden, in wel-cher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert lebenwollen. Wir brauchen wieder eine Vision. Visionensind nichts anderes als Strategien des Handelns.Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet. Siekönnen ungeahnte Kräfte mobilisieren. Ich erinnerenur an die Vitalität des American Dream, an dieVision der Perestroika, an die Kraft der Freiheits-idee im Herbst 1989 in Deutschland.So sagten Sie in Ihrer Rede.Der Diskussion um die Zukunft Deutschlands einenneuen, festen Ankerpunkt zu geben war das Ziel IhrerAdlon-Rede, und Sie haben dieses Ziel erreicht. Kei-neswegs haben Sie alle Probleme in Deutschland mitdieser Rede gelöst, aber Sie haben es allen in Deutsch-land schwerer gemacht, an diesen Problemen vorbeizu-sprechen. Und das ist die Aufgabe des scharfenSchwertes des Wortes des Bundespräsidenten, wie Siedies formuliert haben.
Meine Damen und Herren, die Kraft von Visionenwird durch Menschen vermittelt. Ihr Mut und Ihre Kraftzu Visionen, Herr Bundespräsident Herzog, hat vielenMenschen in diesem Land Mut zur Zukunft gegeben.Dafür danke ich Ihnen im Namen des Bundesrates und,ich denke, im Namen aller Menschen in der Bundesre-publik Deutschland ganz herzlich.
Verehrte Frau Herzog, unsere Verfassung sieht, wiebereits gesagt, eine besondere Rolle für den Ehepartneran der Seite des Staatsoberhauptes nicht ausdrücklichvor. Selbst in der Kommentarliteratur ist Näheres dazunicht zu finden. Dennoch wissen wir alle, daß es dieseRolle gibt. Sie haben in großer Selbstverständlichkeitdie Bürden mitgetragen, die mit diesem Amt verbundensind. Wer Sie beobachtete, konnte auch vermuten, daßSie es mit Freude getan haben.Sie haben Ihre Aufgabe an der Seite des Bundesprä-sidenten in vorbildlicher Weise erfüllt und haben sichgerade durch Ihr soziales Engagement bleibende Ver-dienste erworben, wobei viele Ihnen heute eigentlich zuversprechen haben, daß sie Sie weiter unterstützen wer-den; denn die Amtszeit des Bundespräsidenten endet,die Amtszeit etwa der Präsidentin der Mukoviszidose-Stiftung endet nicht. Das sei für alle, die dafür noch et-was tun wollen, gesagt.
Sie haben dabei Ihren eigenen Stil geprägt, der im In-und Ausland große Anerkennung gefunden hat. Im übri-gen haben Sie – wenn Sie mir die Bemerkung erlauben –begeisterten Hobbyköchen wie mir ein neues Stück prä-sidiales Selbstwertgefühl gegeben.
Auch Ihnen gebührt der Dank des Bundesrates, den ichan dieser Stelle aus ganzem Herzen ausspreche.
Herr Bundespräsident Rau, Ihnen wünschen der Bun-desrat, alle Landesregierungen und – da bin ich sicher –auch alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes eineglückliche Hand bei der Vertretung der BundesrepublikDeutschland. Dieser Wunsch schließt alle guten Wün-sche für Ihre Frau ein, Sie in diesem herausforderndenAmt zu begleiten.Herr Bundespräsident, Sie waren fast drei Jahrzehntelang Mitglied des Bundesrates, davon 20 JahreMinisterpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Siesind der erste Präsident, der es in seiner Amtszeit ge-schafft hat, zweimal Präsident des Bundesrates gewesenzu sein. Da nach unserer Verfassung die Befugnisse desBundespräsidenten im Falle seiner Verhinderung durchden Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen wer-den, läßt sich sicher insoweit schon von einer gründ-lichen Vorbereitung auf dieses Amt sprechen.
Es ist gut zu wissen, daß mit Ihnen ein überzeugterFöderalist Bundespräsident wird, der sicher auch in sei-nem neuen Amt der Rolle des Bundesrates und den Be-langen der Länder besonderes Verständnis entgegen-bringen wird.Präsident des Bundesrates Roland Koch
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Wie in meinem Dank an Präsident Herzog schon zumAusdruck gebracht, ist das Amt des Bundespräsidentenauf moralische Autorität und prägende Kraft der Per-sönlichkeit ebenso angewiesen wie auf die Wirkung desWortes. Sie haben sich durch Ihr bisheriges Wirken undauch auf Grund Ihres christlichen Menschenbildes mithohem moralischen Anspruch Achtung und Sympathieerworben. Sie können den Menschen zuhören und sindauf Ausgleich bedacht. Wir wünschen uns, daß Sie wieIhr Amtsvorgänger ein bürgernaher, volksverbundenerBundespräsident sein werden, ein bibelfester noch dazu.Meine Damen und Herren, in den Jahrzehnten nachuns werden Historiker diesen Tag auch als den tatsächli-chen Wechsel von Bonn nach Berlin betrachten. Überdie Frage, ob es dann eine Bonner oder eine BerlinerRepublik ist, wird viel gesprochen. Mit Ihnen, HerrBundespräsident Rau, symbolisiert diesen Umzug einMann, der in Bonn über 30 Jahre Politik mitgestaltet hat.Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR strebtennach dieser Bonner Republik, als sie riefen: „Wir sindein Volk“.Natürlich sind wir in 50 Jahren die Berliner Republik.Aber die Historiker werden, so hoffe ich, erkennen, daßsich dabei das Berlin des zentralistischen Preußens weitmehr gewandelt hat als der gelungene und gelebte Föde-ralismus der 50 Jahre Hauptstadt Bonn. In diesem Sinnesind Sie ein Botschafter auf dem Weg zwischen den bei-den Hauptstädten in ihrer zeitgeschichtlichen Entwick-lung.Herr Bundespräsident, ich schließe mit einer – ausmeiner Sicht richtigen – Beschreibung der vor uns lie-genden Herausforderungen aus dem Munde Ihres Amts-vorgängers Roman Herzog, wie er sie im Mai 1998 for-muliert hat:Vor uns liegt ein neues Zeitalter,in dem statt der Anonymität zentralistischer Groß-organisationen zivilgesellschaftliches Engagementdas Gemeinwesen mittragen muß,ein Zeitalter, das Freiräume schafft, indem der Staatseine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmtund dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zu-rückgewinnt,ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Insti-tutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger ver-ankert sein müssen.Herr Bundespräsident Rau, wir wünschen Ihnen Er-folg. Auf unsere Hilfe können Sie bauen.
Herr Präsident Pro-fessor Roman Herzog, Sie haben das Wort.
Dr. Roman Herzog: Exzellenzen! Meine Damenund Herren! Das ist also jetzt die Stunde des Abschied-nehmens. Seit heute nacht, 0 Uhr, ist Johannes RauBundespräsident. Ich wünsche ihm und seiner Frau vondieser Stelle aus noch einmal von Herzen alles Gute fürdie kommenden Jahre.
An mir ist es jetzt, mich von den hier versammeltenMitgliedern beider Häuser, von der Bundesregierung,von den diplomatischen Vertretern von insgesamt 175Staaten, ganz besonders aber von unseren Mitbürgerin-nen und Mitbürgern zu verabschieden.So, wie ich geartet bin, kann ich das nicht ohne jedenironischen Rückblick auf jene Sorgen tun, die sich vorfünf Jahren viele im Hinblick auf meine damals bevor-stehende Präsidentschaft gemacht haben.
Am harmlosesten war damals noch die tiefempfunde-ne Sorge, ob ich mich immer korrekt und geschmackvollgenug kleiden würde.
Der Verdacht war bald entkräftet, da mich schon 1995ein Institut, dessen Name mir freilich entfallen ist, zumbestgekleideten deutschen Politiker erklärte.
Ich habe das zwar schon damals für eine heillose Über-treibung gehalten, und heute, Herr Bundeskanzler, wäreich ohnehin höchstens der zweiteleganteste;
aber ich muß schon sagen: Das entlastete mich von einerschwer auf mir lastenden Hypothek.
Länger muß wohl der Zweifel an meinem beruflichenFleiß gewirkt haben, den der seinerzeitige Bundeskanz-ler mit Zitaten hervorgerufen hatte und der, wie es sogeht, nach Leibeskräften kolportiert wurde. Es hat im-merhin fast drei Jahre gedauert, bis die ersten nicht min-der besorgten Fragen laut wurden, ob ich nicht eigent-lich zuviel machte.
Auch das hat sich zwar wieder eingependelt; aber inter-essant war schon, wie es oft dieselben waren, die balddie eine, bald die andere Sorge drückte, gewissermaßennach dem Motto: Hauptsache, ich habe eine Sorge; wel-che, ist nicht so wichtig.
Dann natürlich die Vokabel „unverkrampft“!
Ich weiß bis heute nicht, wer eigentlich damals auf dieIdee gekommen ist, ich hätte dieses Wort ausgerechnetauf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit ge-münzt. Mittlerweile ist aber wohl klar geworden, wasich wirklich gemeint hatte: die Abkehr von jeder gravi-tätischen Anwandlung, die den Träger eines so hohenAmtes mitunter wohl plagen mag, den völlig unpräten-tiösen Umgang mit unseren Partnern und Freunden inPräsident des Bundesrates Roland Koch
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aller Welt, die Klarheit und Wahrhaftigkeit im Denkenund Reden, eine ziemlich unbekümmerte Vorurteilslo-sigkeit nach allen Seiten – ja und wohl auch ein bißchenvon jener Chuzpe, aus der die bisherigen Sätze dieserRede entsprungen sind.
Manch einer mag nun erwarten, daß ich Ihnen unddem deutschen Volke eine Art politisches Vermächtnishinterlasse. Aber, meine Damen und Herren, das werdeich nicht tun, und zwar aus zwei Gründen. Erstens habeich das, was mir besonders wichtig ist, schon am24. Mai im Reichstag zum Ausdruck gebracht, zum50. Geburtstag unseres Staates. Zweitens scheide ich,wie ich schon wiederholt gesagt habe, heute ja nur ausdem Amt und nicht aus dem Leben.
Ich behalte mir schon das Recht vor, auch in Zukunft zusagen und vor allem zu schreiben, was ich für richtighalte.
Statt dessen möchte ich – und das nun im Ernst – einpaar Sätze darüber sagen, wie ich in diesen fünf Jahrenmein Amt verstanden habe. Das läßt sich unter zweiÜberschriften zusammenfassen: das Einende betonenund das Langfristige ins öffentliche Bewußtsein rufen.Das, was wir gemeinhin als „Politik“ bezeichnen,wird nach unserer Verfassung von Parlament und Regie-rung entschieden; und wenn sie es halbwegs gut ma-chen, integrieren sie dadurch auch das Staatsvolk. Zuden eher rationalen Wurzeln dieser Integration gehörtunter anderem die Überzeugung der Bürger, in einemhalbwegs gerechten und guten Staat zu leben, gehörenalso Phänomene, die wir mit den Begriffen Rechtsstaat-lichkeit, Sozialstaatlichkeit und Menschenrechte zu be-zeichnen pflegen. Sie alle haben – ob wir das wahrhabenwollen oder nicht – mehr oder weniger auch den allge-meinen gesellschaftlichen Wohlstand zur Vorausset-zung.So kommt es wohl nicht ganz von ungefähr, daß derOberbegriff, der in diesem Zusammenhang immer häu-figer gebraucht wird, die „Leistungsfähigkeit“ des Staa-tes ist – nicht im Sinne finanzieller Leistungen, sondernim Sinne der Fähigkeit zu gestalten. Der Bürger vertrautsich dem Staat an, weil und insoweit er von ihm dieLösung jener Probleme erwartet, die er vor sich siehtund mit denen er selbst nicht fertig zu werden befürch-tet.Parlament und Regierung integrieren heute also vor-wiegend durch „politische Leistung“ oder – ich sage esdeutlicher – durch eine überzeugende Sachpolitik. DieDinge liegen um so besser, je weniger für andere, spezi-ell für den Bundespräsidenten, Anlaß besteht, sich in dieEntscheidungsprozesse beider Verfassungsorgane ein-zumischen.Nur stehen Parlament und Regierung dabei vor einerprinzipiellen Schwierigkeit: Die Regierung und die sietragende Parlamentsmehrheit haben eben meist nicht dasVolk, sondern bestenfalls die Hälfte des Volkes hintersich. Daher können sie selbst durch die bestgemeintePolitik nicht nur integrieren, sondern werden zugleichstets auch polarisieren. Wir haben das in den vergange-nen Jahren immer wieder erlebt und erleben es zur Zeitgerade wieder sehr deutlich.Die Summe der Zentripetalkräfte, die es in einer Ge-sellschaft gibt, muß aber größer sein als die Summe derZentrifugalkräfte. Sonst ist das Gemeinwesen auf dieDauer nicht lebensfähig.
Das gilt in pluralistischen Gesellschaften ganz allgemein– auch dort, wo der Staat von Verfassungs wegeneigentlich gar nichts zu sagen hat.Da ist es gut, wenn es neben den politischen Organennoch eine Instanz gibt, die das betont, was die konkur-rierenden, ja streitenden Gruppen trotz allem als dasihnen Gemeinsame besitzen. Das habe ich redlich ver-sucht – nicht nur durch meine Reden zum demokrati-schen Staatsverständnis und nicht nur durch eine bewußtunverschnörkelte Rhetorik, sondern auch durch dieSchwerpunkte, die ich bei Besuchen, bei Einladungen,bei Auszeichnungen und nicht zuletzt in Fernsehgesprä-chen zu setzen versucht habe, und vor allem durch ge-duldiges und ernsthaftes Zuhören, wo ein belehrendesReden nur gestört hätte. Ich sage: Ich habe es versucht,besonders auch in den östlichen Bundesländern, die ichvon hier aus noch einmal besonders grüße. Ob mir dasgelungen ist, brauche ich gottlob nicht zu entscheiden.Das müssen andere tun.Dasselbe gilt natürlich für die zweite Grundlinie mei-ner Amtsführung: die Betonung des Langfristigen. Ineiner Massen- und vor allem Mediendemokratie wie derunseren gibt es unvermeidlich das, was man die Prioritätdes Kurzfristigen nennt. Die Fragen des jeweiligen Jahr-fünfts entscheiden die Wahlen, sie beschäftigen fast aus-schließlich die Medien und beherrschen infolgedessenvorzugsweise auch das Denken der politischen Eliten.Zwar sollte niemand behaupten, daß unsere führen-den Politiker die langfristigen Trends, ihre Chancen undihre Gefahren nicht im Blick hätten – das weiß ich ausunendlich vielen Gesprächen –, aber im Vordergrundsteht für sie zwangsläufig das Kurzfristige, das sich inden obligaten 90-Sekunden-Statements unseres Fernse-hens noch einigermaßen abhandeln läßt. Doch ich finde,auch hier muß es – nicht nur in der Gesellschaft, sondernauch unter den obersten Staatsorganen – zumindesteinen geben, der die langfristigen Entwicklungen vor-rangig im Auge hat und der sie deutlicher ins öffentlicheBewußtsein hebt, als es den für die Tagespolitik Ver-antwortlichen möglich ist.Meine Reden zu Fragen der Wirtschafts-, Steuer- undRechtsreform, zu Bildungsfragen, zur Einschätzung vonWissenschaft und Technik, zur Rolle von Softpower undMenschenrechten in der Außenpolitik, zur europäischenIntegration und zum weltweiten Dialog der Kulturensind in diesem Zusammenhang zu sehen. Hier zeigt sichauch – das ist als Nachtrag zu meiner Kommentierung,in der das nicht steht, zu verstehen; das habe ich dazu-gelernt –, daß der deutsche Bundespräsident keineswegsDr. Roman Herzog
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nur auf das Wort verwiesen ist, sondern auch durchkonkrete Initiativen wirken kann. Ich erinnere hier nuran den von mir gestifteten Innovationspreis, an meineMitwirkung an den verschiedensten Existenzgründerin-itiativen und nicht zuletzt an die weltweite Initiativezum Dialog der Kulturen, der sich mittlerweile fast einDutzend Staatsoberhäupter aus westlichen und islami-schen Staaten angeschlossen haben.Bei diesem Verständnis meines Amtes konnte esnicht ausbleiben, daß mein vorrangiger Ansprechpartner– das ist häufig mißverstanden worden – oft nicht dieStaatsorgane waren, wie es manche Medien in ihremWunsch nach Konflikten wohl gerne gesehen hätten,sondern daß es die Gesellschaft der freien Bürger war.Auf diese freien Bürger, auf ihre Phantasie, auf ihreKreativität und ihren Wagemut kommt es nämlich ineinem freien Gemeinwesen vor allem anderen an.
In einem solchen Gemeinwesen genügt es meines Er-achtens für den Präsidenten eben nicht, wie der Chor inder griechischen Tragödie um Staat und Politik zu krei-sen und beider Handeln zu kommentieren. Die Staats-verliebtheit, die uns Deutsche wie im übrigen auch vieleandere Europäer auszeichnet, steht ihm schon gar nichtan; denn der Staat ist in unserem Gesellschaftssystembedeutend weniger als das, was wir Gemeinwesen nen-nen. Der Präsident hat für das Gemeinwesen insgesamtdazusein, so jedenfalls meine Auffassung von diesemAmt.
Deshalb habe ich auch stets darauf geachtet, mich alsBürger unter Bürgern zu bewegen. Unsere Mitbürgerhaben mich auch so verstanden. Ihr Zutrauen, ja die Zu-neigung, die ich in diesen Tagen so sehr verspüre, istBeweis dafür.Die Distanz, die auch nötig ist, habe ich zu wahrenversucht. Ein Präsident zum Anfassen wollte ich niesein, wohl aber ein Präsident zum Ansprechen und zumVerstehen. Ich hoffe, auch das ist mir einigermaßen ge-glückt.Natürlich haben sich in mir nicht alle wiederfindenkönnen. Auch das gehört dazu. Ein Präsident sollschließlich reden, aber er soll nicht jedem nach demMunde reden. Dafür hat der liebe Gott jedenfalls mirnicht die grauen Zellen gegeben und schon gar nicht dieKraft des Wortes und der Argumente.
Am Ende dieser fünf Jahre habe ich vielen Menschenund vielen Institutionen zu danken, den Regierungen,die in dieser Zeit Verantwortung für unser Land getra-gen haben und noch tragen, den übrigen Verfassungsor-ganen, den hohen Repräsentanten der Länder, den politi-schen Parteien, den Gewerkschaften und anderen großenVerbänden, den Kirchen und Religionsgemeinschaftenund einer ganzen Reihe von Stiftungen, nicht zuletztauch den zahllosen Bürgern, die mich durch Zuspruchund Kritik mitgetragen haben. Aber einem Menschenmöchte ich namentlich Dank sagen. Das ist meine Frau,die heute schon erwähnt worden ist.
Sie wird mir zwar nachher vorhalten, das hätte ich auchunter vier Augen tun können – das Manuskript hat sienicht gelesen – aber einmal mußte es, wie ich glaube, inder Öffentlichkeit geschehen, in die sie durch mein Amtzwangsläufig hineingezogen worden ist. Wir haben es indiesen Jahren so gehalten, wie wir es in unserer Eheimmer gehalten haben: Wir sind, soweit es sich irgend-wie vertreten ließ, getrennt marschiert, aber wir habenvereint geschlagen – oft bis zu einem Grade, der manchebesorgt fragen ließ, ob unsere Ehe denn überhaupt nochhinreichend glücklich sei. Meiner Frau hat diese Metho-de eine starke eigene Rolle und ein unbestreitbaresEigengewicht eingebracht. Aber sie hat ihr auch mehrLasten aufgeladen, als ich ihr von Rechts wegen hättezumuten dürfen; dessen bin ich mir sehr wohl bewußt.Doch auch unsere gemeinsame Vorstellung von einerguten Ehe will ich hier nennen: gleiche Rechte, ein glei-ches Maß an Pflichten, große Selbständigkeit beiderPartner in ihrer Arbeit – und dennoch am gleichenStrang ziehen.
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie uns wirk-lich Abschied nehmen. Wir beide freuen uns darauf, insGlied zurückzutreten und als freiere Bürger und Zeitge-nossen ein freieres Leben als bisher zu führen, als einfa-che Glieder des deutschen Volkes, dem wir so gut ge-dient haben, wie es uns mit unseren Stärken und Schwä-chen eben möglich war, und das wir nicht aufhören wer-den zu lieben.Danke sehr.
In Respekt vor IhrerLeistung haben sich die Mitglieder des Bundestages unddes Bundesrates erhoben und damit im Namen des gan-zen deutschen Volkes bekundet: Roman Herzog hat sichum unser Vaterland verdient gemacht.
Meine Damen und Herren, am 23. Mai dieses Jahreshat die Bundesversammlung Herrn Johannes Rau zumBundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschlandgewählt. Herr Johannes Rau hat vor der Bundesver-sammlung diese Wahl angenommen und mit dem heuti-gen Tag das Amt des Bundespräsidenten angetreten.Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundes-präsident bei seinem Amtsantritt vor den versammeltenMitgliedern des Bundestages und des Bundesrates denvorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsi-dent, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten. Dazubitte ich auch den Herrn Präsidenten des Bundesrates.
Dr. Roman Herzog
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4364 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
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Ich reiche Ihnen die Originalausgabe des Grundgeset-zes und bitte Sie, den vorgeschriebenen Amtseid zu lei-sten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich
schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen
Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von
ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun-
des wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissen-
haft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben
werde. So wahr mir Gott helfe.
Ich stelle fest: Der
Herr Bundespräsident hat den vorgeschriebenen Amts-
eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Amt und
wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen für Sie und
für unser Vaterland.
Das Wort hat nun der Herr Bundespräsident.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrBundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Ichdanke für die guten Wünsche, die ich heute von dieserStelle aus mit auf den Weg bekommen habe. Ich emp-finde sie ebenso als Ansporn und Ermutigung wie diegroße Mehrheit der vielen Briefe, die mich seit dem23. Mai erreicht haben. Ich freue mich über das großeVertrauen, das viele in mich setzen. Das ist mir genausoernsthafte Verpflichtung, wie ich für die kommendenJahre kritische Wegbegleitung erbitte.Mein besonderer Dank gilt heute dem Mann, dessenMitbewerber ich vor fünf Jahren war und dem ich heutenachfolge: Professor Dr. Roman Herzog. Lieber HerrHerzog, fünf Jahre lang haben Sie unser Land in allerWelt repräsentiert. Sie haben das auf Ihre unverwechsel-bare Art und Weise und mit Ihrem Temperament getan:mit klarer Sprache, direkt, ohne Schnörkel und unver-blümt. Jeder konnte spüren, was Ihnen wichtig war, undauch, daß Sie sich selber nicht für am wichtigsten hielten.Dazu haben Sie mit Ihrem Witz und Ihrer Selbstironiebeigetragen, auch heute wieder – Eigenschaften, die deut-schen Hochschullehrern, zumal der Jurisprudenz, durch-aus nicht allgemein nachgesagt werden.
Das, was Sie zur jüngeren deutschen und europäi-schen Geschichte gesagt haben, und auch, daß Sie zurrichtigen Zeit und am richtigen Ort geschwiegen haben,hat das Vertrauen in unser Land gestärkt. Dafür dankeich Ihnen. Vor Ihnen liegen jetzt Jahre, in denen Sie sichwieder der Wissenschaft widmen wollen. Da darf mangespannt sein: Welche Konsequenzen werden die prakti-schen Erfahrungen des Bundespräsidenten Roman Her-zog für den Grundgesetz-Kommentar des StaatsrechtlersRoman Herzog haben? Zuletzt haben Sie 1986 denArt. 54 unseres Grundgesetzes kommentiert, der dieAufgaben des Bundespräsidenten beschreibt. Ob wir miteiner baldigen Neukommentierung im Lichte eigener Er-fahrungen rechnen dürfen?Herzlichen Dank sage ich auch Ihnen, liebe Frau Her-zog. Ihnen ist es neben all den Aufgaben als Frau desBundespräsidenten gelungen, mit großem Einsatz öf-fentliche Aufmerksamkeit für eine Krankheit zu wecken,die viele vorher nicht gekannt hatten, und dadurch vielenkranken Menschen zu helfen.Ganz besonders grüße ich von dieser Stelle aus auchzwei meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten:Richard von Weizsäcker, dem ich seit Jahrzehntenfreundschaftlich verbunden bin, und meinen bergischenLandsmann Walter Scheel, der in der kommendenWoche seinen 80. Geburtstag feiern kann.
Meine Damen und Herren, heute in sechs Monatenschreiben wir den 1. Januar 2000. Das Jahr 2000 ge-winnt in manchen öffentlichen Diskussionen einenStellenwert, der ans Unwirkliche grenzt. Das gilt in an-derer Weise auch für den Gebrauch des Begriffs Globa-lisierung. Wenn von Globalisierung die Rede ist, dannklingt das manchmal wie die Verheißung eines neuenGoldenen Zeitalters, manchmal aber auch, als würdenalle Übel der Welt auf einen Begriff gebracht.Beides scheint mir falsch zu sein. Die Globalisierungbietet uns Deutschen und aller Welt große Chancen –wenn wir sie recht verstehen und richtig gestalten. Tat-sächlich ist Globalisierung ja nichts anderes als die Ein-sicht, daß wir in unserer e i n e n Welt stärker denn jevoneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind.Kein Land kann heute mehr sicher sein, daß eigeneFehler oder Fehler anderer nur deshalb ohne Folgenbleiben, weil es weit genug entfernt liegt, weil es wirt-schaftlich leistungsfähiger, politisch einflußreicher odermilitärisch stärker als andere ist. Weil uns das, was an-dere tun, selber mittelbar oder unmittelbar betrifft, kannes uns heute weniger denn je gleichgültig lassen, was inder Welt geschieht.Freilich: Nicht jedes Land hat politisch und auch nichtjedes Unternehmen hat wirtschaftlich das gleiche Ge-wicht. Einige können stärker dazu beitragen, daß alleVorteile oder Nachteile haben. Man braucht kein Kennerund kein Liebhaber der Chaostheorie zu sein, um zu wis-sen, daß kleinste Veränderungen an einer Stelle ganz un-vermutete und oft große Folgen an anderer Stelle haben.Die Globalisierung der Wirtschaft hat besondere Be-deutung. Sie stellt an uns alle die Frage neu nach demrichtigen Verhältnis zwischen privat bestimmtem wirt-schaftlichen Handeln und demokratisch bestimmtem öf-fentlichen Handeln. Verantwortliche Politik muß diesesVerhältnis neu ordnen und muß die Frage beantworten,welche öffentlichen Aufgaben regional, welche nationalund welche nur international erfolgreich gelöst werdenkönnen.Dabei will, soweit ich sehe, niemand alte Schlachtenschlagen. Daß der Markt als Mechanismus des Wirt-schaftslebens allen anderen Prinzipien überlegen ist,wird nirgendwo und von niemandem mehr ernsthaft be-stritten. Ganz unterschiedliche Auffassungen gibt esaber darüber, was der Markt kann, welchen Rahmen erbraucht und welche Grenzen ihm politisch gesetzt wer-den müssen. Genau darum – um nicht weniger und umnicht mehr – geht der wesentliche gesellschaftspolitischeStreit nicht nur bei uns in der Bundesrepublik Deutsch-Präsident Wolfgang Thierse
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4365
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land. Darüber streiten Wissenschaftler und Politiker,Gewerkschafter, Unternehmer und Intellektuelle inFrankreich und in den Vereinigten Staaten von Amerikagenauso wie in Japan und Großbritannien.Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von den politi-schen Parteien Antworten darauf, wie privates Wirt-schaften und öffentliche Verantwortung in Zeiten derGlobalisierung im Interesse aller in ein neues Gleichge-wicht gebracht werden können. Die Frage, wie das Span-nungsverhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und So-lidarität bei uns zu Hause und im Weltmaßstab gelöstwerden soll, muß in ungezählten praktischen Fällen im-mer wieder neu beantwortet werden. Maßstäbe dafür bie-ten weder die Betriebswirtschafts- noch die Volkswirt-schaftslehre. Es kommt darauf an, welches Bild vomMenschen und welches Bild vom Zusammenleben derMenschen wir haben. Das ist eine Frage, die jeden einzel-nen angeht und die – bewußt oder unbewußt – unser Han-deln prägt. Die Politik darf dieser Frage nicht ausweichen,weder durch Flucht in weltfremde Ideologien noch durchdas Verstecken hinter angeblichen Sachzwängen.
In der Politik geht es nicht um letzte Wahrheiten,sondern um richtige Lösungen. Der politische Streitsollte jeweils um die Frage gehen, welcher Vorschlagder beste im Interesse aller oder im Interesse der vielenist. Nur dann kann etwas von dem aufscheinen, wasHannah Arendt in die Worte gefaßt hat: „Politik ist an-gewandte Liebe zur Welt.“
Wir politisch Verantwortlichen müssen die Bürgerin-nen und Bürger ernst nehmen. Wir dürfen sie weder inAngst und Schrecken versetzen noch in falscher Sicher-heit wiegen. Sie wollen wissen, woran Sie sind. Sie habenAnspruch darauf zu erfahren, was die Politik will undworin sich die politischen Parteien unterscheiden. In derDemokratie ist es unerläßlich, daß die politischen Parteiendeutlich machen: Es gibt Wege in die Zukunft, auch ganzunterschiedliche Wege, jenseits von Beliebigkeit undPrinzipienreiterei. In der Demokratie geht es nur in ex-tremen Ausnahmefällen um „alles oder nichts“. Darum istes bei aller Grundsatztreue besser, kleine Schritte wirklichzu gehen, als darüber zu klagen, daß sich die Menschenfür den großen Wurf nicht begeistern können.Das bedeutet nicht, auf weitgesteckte Ziele zu ver-zichten. Im Gegenteil: Weil der Weg zu einem politi-schen Ziel oft um viele Ecken und über viele Umwegeführt, sind Weitsicht und Vorausdenken besonderswichtig. Stärker denn je müssen wir daran denken, wel-che Folgen politische Entscheidungen von heute für dasLeben künftiger Generationen haben. Es gibt einenEgoismus des Gegenwärtigen zu Lasten der Zukunft,den ich für nicht erlaubt halte,
für den wir alle aber Beispiele kennen.Wenn wir die Chancen der Globalisierung nutzenwollen, dann muß die Politik sie aktiv gestalten. Das giltfür die soziale und für die ökologische Dimension wirt-schaftlichen Handelns genauso wie für die Gestaltungdes technischen Fortschritts. Diesen Rahmen kann ambesten eine demokratische und soziale Rechtsordnungsetzen, die über den Nationalstaat hinausreicht. Wirmüssen die politischen Konsequenzen aus der wirt-schaftlichen Globalisierung ziehen.Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt nachmeiner Überzeugung, neue Arbeitsplätze zu schaffen.Das ist in erster Linie Aufgabe der Unternehmen. DiePolitik muß für Angebot und Nachfrage den richtigenRahmen setzen und die richtigen Impulse geben. NeueArbeitsplätze entstehen nicht auf Knopfdruck, und esgibt für sie kein Patentrezept. Wir brauchen ein Bündelvon Initiativen, damit alle, die arbeiten können, ihrenLebensunterhalt auch tatsächlich selber erarbeiten kön-nen. Wir brauchen mehr Gründungen, mehr Spitzen-technik und mehr Investitionen in Bildung, Wissenschaftund Forschung. Wir brauchen intelligente Arbeitszeitre-gelungen, die auch längere Betriebszeiten mit kürzerenArbeitszeiten verbinden. Wir brauchen geringere Lohn-nebenkosten und weniger Überstunden. Keine Diskus-sion um das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ kann unddarf verdecken, daß es für die allermeisten Menschen –aus finanziellen, aber auch aus sozialen Gründen – keineAlternative zur Erwerbsarbeit gibt.
Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, daß wir dieArbeit so organisieren und fortentwickeln, daß die Be-dürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirt-schaftens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Ar-beit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbareinen Wert. In ihr – das gibt ihr einen weiteren Wert –entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Darumhat Hans Küng recht, wenn er sagt: „Ohne sinnvolle Ar-beit geht ein Stück Menschenwürde verloren.“
Darum ist es alles andere als eine akademischeBetrachtung, auf den Wert der Arbeit für das Selbst-wertgefühl von Menschen und für den Zusammenhaltvon Staat und Gesellschaft hinzuweisen. Wer in der Ar-beit nur einen reinen Kostenfaktor sieht, dessen Preissoweit wie möglich gedrückt werden muß – so wichtigder Anteil der Löhne am wirtschaftlichen Prozeß auchist –, der hantiert mit sozialem Sprengstoff und rüttelt anden Grundfesten unserer westlichen Zivilisation – obihm das bewußt ist oder nicht.
Es mag sein, daß wir auf lange Sicht eine neue Ein-stellung zur Arbeit bekommen. Bei tendenziell sinken-der Arbeitszeit könnten mehr Menschen mehr Zeit fin-den für aktive Nachbarschaftshilfe, für ehrenamtlichesWirken in Vereinen, aber auch für die Pflege der Städteund die Bewahrung und Förderung von Kultur undKunst, mehr Zeit auch für Eigenarbeit. Das wäre eineGesellschaft, die einen stärkeren inneren Zusammenhalthaben könnte, als sie ihn zur Zeit hat, eine Gesellschaft,in der Gemeinsinn und Solidarität wieder einen höherenStellenwert hätten. Wer mich kennt, weiß, daß ich dabeiauch an die sinnstiftende Arbeit der Kirchen und Reli-gionsgemeinschaften denke.Zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs undnach dem Fall der Mauer sind wir immer noch auf derBundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau
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4366 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
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Suche nach einer neuen Ordnung in Europa und welt-weit. Es gibt die beiden Militärblöcke nicht mehr, diesich feindlich gegenüberstanden. Wir haben aber nochnicht die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheits-ordnung schaffen können, die notwendig wäre, damitKrieg jedenfalls in Europa kein Mittel der Politik mehrist. Von einer neuen Weltfriedensordnung, die das Leit-bild der globalen nachhaltigen Entwicklung aufnähme,sind wir noch weit entfernt.Vor 14 Wochen begann in Jugoslawien, was kaum je-mand am Ende dieses Jahrhunderts noch für möglich undnötig gehalten hatte. Die NATO setzte zum erstenmal seitihrer Gründung vor 50 Jahren militärische Mittel in Euro-pa ein, die Bundeswehr nahm an den Kampfeinsätzen teil.Seit zwei Wochen schweigen die Waffen. Deutsche Sol-daten wurden im Kosovo als Befreier begrüßt.Ich bin froh darüber, daß die Hoffnung auf ein Endedes Krieges, die ich am 23. Mai dieses Jahres geäußerthatte, in Erfüllung gegangen ist und daß es jetzt um dau-erhafte Stabilität in Südosteuropa geht. Jetzt wird sichzeigen, daß der Friede der Ernstfall ist.
Über die rechtlichen, politischen, militärischen und mo-ralischen Maßstäbe für die Teilnahme der BundesrepublikDeutschland am Militäreinsatz gegen Serbien gab es eineungewöhnlich ernsthafte Diskussion, in der dem jeweilsAndersdenkenden weder Moral noch Vernunft bestrittenworden sind. Ich gehöre zu denen, die mit zerrissenemHerzen gesagt haben: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen,wenn mitten in Europa Terror und Vertreibung Platz grei-fen. In einem solchen extremen Ausnahmefall ist auch derEinsatz militärischer Gewalt gerechtfertigt. Das ist eineaußergewöhnliche Belastung für die betroffenen Soldatenund für die politische und militärische Führung. Wie dieseVerantwortung wahrgenommen wurde und wird, das hatdas Ansehen unseres Landes in der Welt gemehrt.
Ich grüße die deutschen Soldaten, und ich grüße dieAngehörigen der Hilfsorganisationen, die jetzt im Koso-vo dafür arbeiten, daß Menschenwürde und Menschen-rechte überall und für alle gelten, für Kosovaren undSerben, für Christen und Muslime.
Was können und was müssen wir aus der heutigenSituation im ehemaligen Jugoslawien für die künftigePolitik lernen? Für mich lautet die wichtigste Lehre: Wirmüssen durch vorbeugende Politik die falsche Alternati-ve, daß wir Schuld auf uns laden durch Wegschauenoder daß wir Schuld auf uns laden durch den Einsatzmilitärischer Mittel, der auch völlig Unschuldige trifft,zu vermeiden suchen.
Eine solche Politik für das friedliche Zusammenlebender Menschen in ganz Europa muß mit Nachdruck fürdie Menschenrechte eintreten, bevor sie durch Vertrei-bung, Terror oder Mord mißachtet werden.
Wir brauchen eine Politik, die heute nicht Waffenlie-ferungen zuläßt, gegen deren Einsatz morgen interve-niert werden muß.
Wir brauchen eine unmißverständliche Absage an alleSpielarten des Nationalismus. Nationalismus und Sepa-ratismus sind Zwillinge. Nationalismus hat nichts mitVaterlandsliebe zu tun, sondern ist der Haß auf die Va-terländer anderer. Wozu dieser Haß führt, das erlebenwir nicht erst in den vergangenen Monaten und nicht nurim ehemaligen Jugoslawien.Ich habe am 23. Mai an die Worte von Willy Brandterinnert, daß wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen.Wer hätte 1969 gedacht, daß wir uns heute darüber freu-en können, mit allen unseren Nachbarn in einem Zu-stand zu leben, wie er meinen Vorstellungen von wirkli-cher Nachbarschaft entspricht? Diese Entwicklung istwahrlich nicht allein deutsches Verdienst. Wir habenGrund, vielen dafür zu danken. Wir tun das am bestendadurch, daß wir weiter eine treibende Kraft im europäi-schen Einigungsprozeß sind.Gute Nachbarschaft – das ist heute europäische In-nenpolitik. Gute Nachbarschaft brauchen wir aber auchim eigenen Land: zwischen Menschen unterschiedlicherHerkunft, unterschiedlicher kultureller Traditionen undGlaubensüberzeugungen. Toleranz, meine Damen undHerren, ist kein Schwächeanfall der Demokratie, son-dern ihr Lebensinhalt.
Mein Vorgänger, Herr Professor Herzog, hat dazu bei-getragen, daß die Bildungspolitik wieder zu einem Themageworden ist. Ich will das aufnehmen und kann dabei anvieles anknüpfen aus den Erfahrungen meiner früherenArbeit. In der bildungspolitischen Diskussion geht es umganz unterschiedliche Themen: um Klassenstärken undLehrerversorgung, um Flexibilität und mehr Handlungs-möglichkeiten für die einzelnen Schulen, um Stundenta-feln und die technische Ausstattung. All das ist wichtig,und ich verstehe gut, mit welchem Engagement darüberdiskutiert und gestritten wird. Über all diese wichtigenFragen, von der Organisation bis zu den materiellen Res-sourcen, sollten wir aber das Wesentliche nicht aus demBlick verlieren: Was sollen unsere Kinder lernen? Wiekönnen wir die jungen Menschen heute am besten daraufvorbereiten und dazu befähigen, die Welt von morgenmitzugestalten und sich in ihr zurechtzufinden? WelchesWissen brauchen sie? Welche Fertigkeiten müssen sie be-herrschen? Welche Einsichten und welche Orientie-rungsmaßstäbe brauchen sie für ein erfülltes Leben? Dassind Fragen, die noch zu selten gestellt werden, vielleichtauch deshalb, weil sie schwer zu beantworten sind.Keiner von uns weiß, wie die Welt von morgen aus-sehen wird. Wir wissen nur, daß vieles ganz anders seinwird als heute. Wir wissen aber nicht, was die Welt vonmorgen den Menschen abverlangen wird. Manche glau-ben, das seien vor allem technische und naturwissen-schaftliche Kenntnisse; dafür gibt es gute Argumente.Andere fordern statt dessen eine Renaissance der Gei-stes- und der Sozialwissenschaften. Sie weisen daraufBundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4367
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hin – ich glaube, daß sie recht haben –, daß Bildungetwas anderes ist als Fachwissen allein und daß Infor-mationen allein noch nicht Einsicht vermitteln. Wenndas richtig ist, dann sollten wir mehr über die Ziele spre-chen, die wir in unseren Schulen erreicht sehen wollen,und erst danach über die Instrumente, die dafür am be-sten geeignet sind.
Wir sollten an dem Konsens festhalten – oder ihn neubegründen –, daß ein rohstoffarmes Land wie die Bun-desrepublik Deutschland nur dann im Interesse aller er-folgreich sein kann, wenn wir in die Bildung, in dieAusbildung und in die Qualifikation der Menschen inve-stieren. Investitionen in die Köpfe bringen dann diehöchsten Erträge, wenn nicht auf kurze Sicht gerechnetund nicht nur auf bestimmte Segmente gesetzt wird.So wie vor 20 Jahren niemand in der Lage war, dengenauen Bedarf an Ingenieuren oder Softwareentwick-lern vorauszusagen, so wenig ist es heute möglich, ver-gleichbare Prognosen für die nächsten zwei Jahrzehntezu machen. Wir wissen nur eines: Die intellektuellenAnforderungen, die fachlichen und die überfachlichen,werden nicht geringer werden, sondern weiter zuneh-men. Auf diese absehbaren Veränderungen müssen wirdie jungen Menschen von heute in unseren Schulen vor-bereiten.Bildung und Wissen sind aber mehr als eine Grund-lage für wirtschaftlichen Erfolg. Wissen läßt sich büf-feln, aber Begreifen braucht Zeit. Hubert Markl, der Prä-sident der Max-Planck-Gesellschaft, den viele von unskennen und schätzen, hat einmal zu Recht gefragt, wasuns denn Wissensriesen hülfen, wenn sie die Gemütervon Zwergen hätten.
Meine Damen und Herren, je schnellebiger die Zei-ten, um so wichtiger werden Orientierung und die Fä-higkeit, zu unterscheiden zwischen dem, was früher warund heute überholt ist, und dem, was heute wie gesterngilt, weil es zeitlos ist. Wenn wir Werte und Tugendeneinklagen oder den Mangel an Werten und Tugendenbeklagen, dann leiden solche Diskussionen nach meinerErfahrung häufig an zu hoher Abstraktion. Wo es umPrinzipien oder um noch Höheres geht, neigen wir dazuzu vergessen, wie wir leben, was uns prägt, was uns er-mutigt oder entmutigt. Eine Gesellschaft, in der esschick ist, von allem den Preis zu kennen und von nichtsden Wert, macht in Wirklichkeit Verluste.
Erhobene Zeigefinger und Moralpredigten könnenfehlende Vorbilder nicht ersetzen. Wenn wir unser Zu-sammenleben so gestalten, daß die Ehrlichen den Ein-druck bekommen, sie seien die Dummen, dann ist esmüßig, den Werteverlust auf Akademieveranstaltungenzu beklagen.
Wir sollten auch nicht von Werteverlust sprechen,wenn nicht Werte verlorengehen, sondern wenn sich nurdie für uns gewohnte Form ändert, wie sie gelebt wer-den. Wir sollten das, was gesellschaftlich zu ordnen undzu regeln ist, so ordnen und regeln, daß wir Freiheit, Ge-rechtigkeit und Solidarität fördern. Eine Gesellschaft, inder alle nur ihre eigenen egoistischen Interessen verfol-gen, mag auf Sicht erfolgreich sein; überlebensfähig istsie nicht.
Eine Gesellschaft ist ja etwas anderes als die zufälligeAnsammlung von Individuen, die ihrer Wege gehen.Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität – das sindHaltungen und Verhaltensweisen, die das Fundament je-der Gesellschaft sind und kein schmückendes Beiwerk.Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Solidarität sindnicht käuflich, aber sie sind unbezahlbar und wederdurch Gesetz noch durch Verordnung zu erzwingen. Siemüssen praktisch gelebt werden.
Das soll niemanden an Selbstentfaltung und Selbst-verwirklichung hindern. In den vergangenen Jahrzehn-ten ist der Lebensweg einer wachsenden Zahl von Men-schen in unserem Land nicht mehr vom stummen Zwangder Verhältnisse bestimmt worden. Sie konnten dieChance nutzen, ihren eigenen Weg zu gehen. Das ist eingroßer Fortschritt. Freie Entfaltung der Persönlichkeit istaber etwas ganz anderes als eine Ego-Gesellschaft, diein die Selbstisolierung führt.Die Menschen wollen etwas leisten, und die Gesell-schaft sollte Leistungen fordern und fördern. Aber mandarf Menschen nicht überfordern. Das gilt in besondererWeise für alle, die aus unterschiedlichen Gründennichts, noch nichts, nur wenig oder nichts mehr leistenkönnen. Kinder und Alte gehören ebenso dazu wie gei-stig und körperlich behinderte Menschen.Wenn wir von Leistung sprechen, sollten wir auch dienicht vergessen, die oft ganz viel leisten, deren Leistungaber in keiner Bilanz erscheint und nicht in den Größendes Bruttoinlandsprodukts ausgedrückt werden kann.Jede Gesellschaft braucht möglichst viele, die leistungs-fähig und leistungswillig sind. Jede Gesellschaft brauchtauch besondere Leistungsträger. Wenn wir der Vielfaltder tatsächlichen Leistungen gerecht werden wollen,brauchen wir einen breit angelegten Leistungsbegriff.Dann wird deutlich: Erfolgreiche Existenzgründersind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wieehrenamtliche Jugendtrainer. Chefärzte sind genauso ge-sellschaftliche Leistungsträger wie Krankenschwestern.Innovative Forscher sind genauso gesellschaftliche Lei-stungsträger wie engagierte Betriebsräte. Künstler undSchriftsteller, die unseren Blick schärfen und unserenHorizont erweitern, sind genauso gesellschaftliche Lei-stungsträger wie Wissenschaftler, die unseren medizini-schen und technischen Blick erweitern.Meine Damen und Herren, manche von Ihnen werdenwissen, daß ich als junger Mensch Anfang der 50er Jah-ren in die Politik gegangen bin, weil ich mich mit derdeutschen Teilung nicht abfinden wollte. Gemeinsammit Gustav Heinemann und Helene Wessel, mit DietherPosser, Erhard Eppler und vielen anderen war ich da-mals in der – nicht gerade erfolgreichen – Gesamtdeut-Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau
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4368 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
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schen Volkspartei. Dies Thema hat mich mein ganzesLeben lang nicht losgelassen; es hat mich weit über diepolitischen Aufgaben hinaus begleitet.Ich habe es darum als besonderes Glück empfunden,daß ich an dem Tag, als die Mauer fiel, am 9. November1989, in Berlin und in Leipzig war. Ich habe am Abenddes 9. November und in den beiden Tagen danach ganzunmittelbar das ungläubige Staunen, die unbeschreib-liche Freude der Menschen über die neu gewonneneFreiheit, für die viele von ihnen Woche für Woche aufdie Straße gegangen waren, miterleben können. Nachmeiner Erfahrung tut es auch der Politik gut, wenn wirVerantwortliche das Staunen nicht verlernen.In den vergangenen zehn Jahren hat sich ungeheuerviel verändert. Die Menschen in Brandenburg und inSachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und Meck-lenburg-Vorpommern haben Grund, stolz zu sein aufgroße Erfolge beim Aufbau. Nicht jedes offenkundigeDefizit und nicht jeder Mangel, nicht jedes große Pro-blem, vor dem wir immer noch stehen, kann man alsfehlende innere Einheit im vereinten Deutschland be-zeichnen. Das ist ein Begriff, der zu Mißverständnissenverleiten kann. Unsere Aufgabe ist es nicht, daß sichdie 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland mög-lichst schnell möglichst ähnlich werden. Sie sollen sichnicht nach einer zentral vorgegebenen Norm entwik-keln. Wir sollten vielmehr den Föderalismus lebendigerhalten und weiter stärken, weil aus der Vielfalt eineStärke erwächst, von der alle Länder profitierenkönnen.Worum es geht, das sind gleiche Lebenschancen füralle Frauen und Männer – unabhängig davon, ob sie imNorden oder Süden, im Westen oder Osten Deutsch-lands aufwachsen und leben. In unserer modernen Ge-sellschaft sind gleiche Lebenschancen für alle der Kernder Freiheitsfrage. Die kulturellen, die landsmann-schaftlichen Unterschiede sollen bleiben, weil die Viel-falt uns reicher macht; aber die in 40 Jahren gewachse-nen Nachteile der neuen Länder müssen ausgeglichenund überwunden werden. Wir brauchen im vereintenDeutschland genauso wie im europäischen Einigungs-prozeß die Vielfalt in der Einheit. Dabei sollten wir auchzehn Jahre nach dem Fall der Mauer nicht vergessen,daß die Deutschen in der DDR ohne eigenes Verschul-den die weitaus schwereren Lasten aus der deutschenGeschichte zu tragen hatten. Sie waren nicht dümmerund nicht fauler als die Deutschen im Westen, aber unterden gegebenen Bedingungen konnte ihre Leistungsfä-higkeit und ihre Leistungsbereitschaft nicht die gleichenFrüchte tragen.Vor wenigen Wochen haben wir an den 50. Jahrestagunseres Grundgesetzes erinnert. Wir sagen zu Recht, daßes die beste Verfassung ist, die sich die Deutschen je ge-geben haben. Das gilt aber nur, wenn wir das Grundge-setz jeden Tag neu mit Leben erfüllen. Es ist Wegweiserund Maßstab für das politische Handeln aller. In denvergangenen Jahren sind wichtige Teile des Grundgeset-zes verändert worden, weil sich die gesellschaftlicheWirklichkeit geändert hatte. Vielen sind diese Verände-rungen schwergefallen, manchen sind sie zu weit gegan-gen.Um so weniger dürfen wir vergessen, daß es vieleFelder gibt, in denen wir die Wirklichkeit noch ent-schlossener verändern müssen, damit sie sich dem annä-hert, was wir im Grundgesetz als unsere Ziele festge-schrieben haben: Die tatsächliche gesellschaftlicheGleichstellung von Frauen und Männern gehört genausodazu wie der nachhaltige Schutz unserer natürlichen Le-bensgrundlagen und der Auftrag, unsere Gesellschaft alssoziale Demokratie zu gestalten. Gustav Heinemann hatimmer noch recht, daß das Grundgesetz ein großes An-gebot und keine Fessel ist.Jeder meiner Vorgänger hat in seiner Zeit dem Amtdes Bundespräsidenten eine eigene Prägung gegeben.Das war so bei Theodor Heuss und bei Heinrich Lübke,bei Gustav Heinemann und Walter Scheel, bei Karl Car-stens und Richard von Weizsäcker und bei Ihnen, lieberHerr Bundespräsident Herzog. Jeder hat seine besonde-ren Fähigkeiten und Gaben in das Amt einzubringenversucht, und doch waren sie alle Repräsentanten desganzen Deutschlands.Ich sehe heute für das Amt des Bundespräsidenteneine doppelte Aufgabe: Er muß für die Deutschen spre-chen, und er muß Minderheiten zur Sprache verhelfen.Ich will das mit meinen Gaben und auf meine Weise tun.Jeder soll wissen, daß ich Zuversicht und Kraft aus demchristlichen Glauben schöpfe und daß ich Respekt vorallen habe, die ihr Leben auf andere Fundamente grün-den. Ich will zuhören, damit niemand ungehört bleibt.Ich will Gesprächsfäden neu knüpfen, wo sie abgerissensind, zwischen Ost und West, zwischen Jung und Alt.Ich will zur Öffentlichkeit verhelfen, was in die gesell-schaftliche Debatte gehört. Ich will alle – in Betriebenund Verwaltungen, in Hochschulen und Parteien, inAkademien und Bürgerinitiativen, in den Medien undVerbänden –, die an der Zukunft unseres Landes arbei-ten, ermutigen.Ich wünsche mir, daß wir Deutsche unsere Zukunft inEuropa und in der e i n e n Welt gemeinsam mit unserenNachbarn und Partnern zuversichtlich und mutig gestal-ten – nicht kleinmütig und nicht übermütig. Das wirdgelingen, wenn wir Selbstvertrauen und Verantwortungzusammenbringen und wenn alle die eigenen Chancenso nutzen, daß auch das allgemeine Wohl gemehrt wird.Ich danke Ihnen.
Ich danke Ihnen,
Herr Bundespräsident.
Wir singen nun gemeinsam unsere Nationalhymne.
Mit den besten Wünschen für Sie und für Deutsch-
land schließe ich die gemeinsame Sitzung von Bundes-
tag und Bundesrat. Wir sehen uns wieder in Berlin.
Die Sitzung ist geschlossen.