Protokoll:
14051

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 51

  • date_rangeDatum: 1. Juli 1999

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 13:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:30 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/51 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 51. Sitzung zugleich 740. Sitzung des Bundesrates Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 I n h a l t : Eidesleistung des Bundespräsidenten ge- mäß Artikel 56 Grundgesetz ......................... 4364 A Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse...................... 4357 A Ansprache des Präsidenten des Bundesrates Roland Koch................................................... 4359 B Ansprache des scheidenden Bundespräsiden- ten Dr. Roman Herzog ................................... 4361 B Eidesleistung des Bundespräsidenten Dr. h. c. Johannes Rau ................................................. 4364 A Ansprache des Bundespräsidenten Dr. h. c. Johannes Rau ................................................. 4364 A Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 4369 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4357 (A) (C) (B) (D) 51. Sitzung zugleich 740. Sitzung des Bundesrates Bonn, den 1. Juli 1999 Beginn: 13.01 Uhr
  • folderAnlagen
    Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4369 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 1.7.99 Bleser, Peter CDU/CSU 1.7.99 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 1.7.99 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 1.7.99 Gebhardt, Fred PDS 1.7.99 Gilges, Konrad SPD 1.7.99 Hartenbach, Alfred SPD 1.7.99 Hovermann, Eike SPD 1.7.99 Hübner, Carsten PDS 1.7.99 Ibrügger, Lothar SPD 1.7.99 Irmer, Ulrich F.D.P. 1.7.99 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 1.7.99 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Koschyk, Hartmut CDU/CSU 1.7.99 Lensing, Werner CDU/CSU 1.7.99 Ostrowski, Christine PDS 1.7.99 Reiche, Katherina CDU/CSU 1.7.99 Roos, Gudrun SPD 1.7.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 1.7.99 Scheffler, Siegfried SPD 1.7.99 Schindler, Norbert CDU/CSU 1.7.99 Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard F.D.P. 1.7.99 Schöler, Walter SPD 1.7.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 1.7.99 Schulz (Everswinkel), Reinhard SPD 1.7.99 Schurer, Ewald SPD 1.7.99 Sothmann, Bärbel CDU/CSU 1.7.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Uldall, Gunnar CDU/CSU 1.7.99 Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405100000
Meine sehr geehrten
Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung nach Art. 56
des Grundgesetzes.

Namens des Deutschen Bundestages und des Bundes-
rates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland,
die Besucher auf den Tribünen und die zahllosen Zu-
schauer an den Fernsehgeräten. Ich heiße Sie alle herz-
lich willkommen.


(Beifall)

Besonders begrüße ich den scheidenden Bundesprä-

sidenten, Herrn Professor Dr. Roman Herzog, und seine
Frau Christiane Herzog.


(Anhaltender Beifall)

Ebenso herzlich begrüße ich seinen Nachfolger Johan-
nes Rau und seine Frau Christina.


(Beifall)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verehrte

Damen und Herren, heute morgen haben wir in einer
langen und eindringlichen Debatte über 50 Jahre Demo-
kratie in Deutschland diskutiert. Dabei stand der Ab-
schied von Bonn im Mittelpunkt und der Dank für das,
was von und in dieser Stadt in fünf Jahrzehnten Bundes-
republik Deutschland geleistet worden ist. Der Wechsel
vom Rhein an die Spree steht schon in wenigen Tagen
an. So ist diese gemeinsame Sitzung von Bundestag und
Bundesrat zugleich die voraussichtlich letzte in diesem
Plenarsaal.

Wir haben uns hier zur Vereidigung und Amtseinfüh-
rung des neugewählten Präsidenten der Bundesrepublik
Deutschland versammelt. Gleichzeitig wollen wir Pro-
fessor Roman Herzog danken, der nach fünf Jahren aus
dem Präsidentenamt ausscheidet. Die Verabschiedung
des bisherigen und die Amtseinführung des neuen Bun-
despräsidenten im Deutschen Bundestag in Bonn spie-
gelt jene Veränderungsprozesse wider, in denen wir seit
1990, dem Jahr der deutschen Einheit, stehen.

Erinnern wir uns: Sie, sehr geehrter Herr Professor
Herzog, wurden in der ersten gemeinsamen Sitzung von

Bundestag und Bundesrat im Berliner Reichstagsgebäu-
de am 1. Juli 1994 in Ihr Amt eingeführt. Als erstes der
Verfassungsorgane haben Sie schon bald darauf Ihren
Amtssitz nach Berlin verlegt. Ihr Nachfolger Johannes
Rau wird als erster Bundespräsident von Anfang an im
Schloß Bellevue amtieren. Gleichwohl haben sich beide,
der bisherige wie der neugewählte Präsident, stets in be-
sonderer Weise auch Bonn verbunden gefühlt.

Wenn nun die Verabschiedung von Roman Herzog
und die Amtseinführung von Johannes Rau im Rahmen
der letzten Sitzung hier, im Bonner Plenarsaal, stattfin-
den, stiftet dies, so denke ich, eine Verbindung zwischen
dem alten und dem neuen Parlaments- und Regierungs-
sitz, eine Verbindung, der wir über den heutigen Dank
an Bonn hinaus Bestand wünschen.


(Beifall)

An die Spitze unseres Gemeinwesens haben die Väter

und Mütter unserer Verfassung unseren Bundespräsi-
denten gestellt. Das höchste Staatsamt wird in besonde-
rem Maße von der Persönlichkeit des Amtsinhabers ge-
prägt. Sie, sehr geehrter Herr Professor Herzog, brachten
hierfür eine Voraussetzung mit, die in dieser Form kei-
ner Ihrer Vorgänger hatte. Als der Autor des maßgeb-
lichen Verfassungskommentars zum Amt des Bundes-
präsidenten vermochten Sie die souveräne Kenntnis der
Verfassungstheorie in die politische Praxis Ihrer Amts-
führung einfließen zu lassen. Anders ausgedrückt: Bei
schwierigen Fragen konnten Sie gewissermaßen mit sich
selber zu Rate gehen.


(Heiterkeit und Beifall)

Ich darf – sicher in unser aller Namen – feststellen: Die-
se ungewöhnliche Konstellation hat dem höchsten Amt
in unserem Staat zusätzlichen Respekt verschafft.


(Beifall)

In Ihrer Antrittsrede haben Sie 1994 klare Schwer-

punkte gesetzt und sie in den folgenden Jahren – im
ganz wörtlichen Sinne – abgearbeitet. Das Zueinander-
führen der Menschen in Ost und West war Ihnen ein
vordringliches und sehr persönliches Anliegen. Mit einer






(B)



(A) (C)



(D)


Vielzahl von Besuchen haben Sie, wie Sie gelegentlich
humorvoll anmerkten, die ostdeutschen Landschaften,
Städte und Gemeinden „durchpflügt“. Dabei ging es Ih-
nen vor allem um das Zuhören. Sie hatten stets ein offe-
nes Ohr für die Probleme und Erfahrungen der Ostdeut-
schen. Damit haben Sie ein wichtiges Beispiel gesetzt,
geht es doch darum, den oder die anderen mit ihren Le-
bensgeschichten ernst zu nehmen. Ihr Interesse, Ihre Of-
fenheit und Einfühlsamkeit ist im Osten wie im Westen
aufmerksam registriert worden. Dieses Engagement für
das Zueinanderfinden der Deutschen wird von den Men-
schen nicht vergessen werden. Und noch wichtiger: Es
hat Schule gemacht.

Ihr besonderes Augenmerk galt der Notwendigkeit,
veraltete Denkweisen und überkommene Strukturen zu
verändern. Immer wieder machten Sie deshalb auf die
Folgen der Globalisierung und des technologischen
Wandels aufmerksam. Bildung und Ausbildung wieder
zu dem ihnen gebührenden Stellenwert zu verhelfen war
eine Ihrer gelungenen Anstrengungen, die sich aus die-
ser Überzeugung ergab. Bildung, die Sie immer in ei-
nem sehr umfassenden Sinne verstanden haben, ist un-
verzichtbare Voraussetzung für unser Zusammenleben,
für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie wur-
den nicht müde, zu erklären, daß Bildung Voraussetzung
für überzeugende, gelingende Zukunftssicherung ist.
Nur wer bereit ist, stets weiter zu lernen, wer sich für
Veränderung und Innovation offen zeigt, bleibt zu-
kunftsfähig. Das gilt für den einzelnen Menschen wie
für die Gesellschaft insgesamt. In der immer enger zu-
sammenrückenden Welt weisen diese Perspektiven über
die Grenzen unseres Landes und unseres Kontinents
hinaus.

Diese Beziehungen zu unseren europäischen Nach-
barn haben Sie umsichtig gepflegt und gefördert. Dabei
lagen Ihnen enge Kontakte zu Osteuropa, namentlich zu
Polen, besonders am Herzen. Dies ist auch von den
Westeuropäern richtig verstanden worden: als das Ziel,
das ganze Europa zusammenzuführen. Nur so können
wir Deutsche unserer Verantwortung auch für andere
Teile der Welt gerecht werden. Ihre Besuche auf den
anderen Kontinenten unseres Globus, in Afrika und in
Asien, im pazifischen Raum wie in Nord- und Südame-
rika haben dies immer wieder bewußt gemacht, den
Gastgebern, aber auch uns selbst.

In diesem Zusammenhang wird immer häufiger von
der „einen Welt“ gesprochen. Sie, sehr geehrter Herr
Professor Herzog, haben uns die Konsequenzen dieses
Verständnisses vor Augen geführt. Leben in der einen
Welt, das bedeutet, nicht mehr nebeneinander, sondern
miteinander zu leben. Es bedeutet, aufeinander angewie-
sen zu sein. Wir müssen, so Ihre Aufforderung, begrei-
fen, daß die globalen Probleme nur global, also gemein-
sam gelöst werden können.

In diesem Sinne – mit dem Ziel, Fremdheiten und
Vorurteile abzubauen – haben Sie das Gespräch zwi-
schen den Religionen und Kulturen gefordert und geför-
dert und als ein wichtiges Anliegen Ihrer Amtszeit be-
griffen und praktiziert. Dieser interkulturelle, auch inter-
religiöse Dialog kann nur gelingen – auch dies haben Sie
immer wieder hervorgehoben –, wenn wir uns auf das

Anderssein fremder Kulturen einlassen, was Offenheit,
Sensibilität und Toleranz verlangt.

Das Amt des Bundespräsidenten ist – wir wissen es –
in besonderer Weise dem geschriebenen und gesproche-
nen öffentlichen Wort verbunden. Wie kein anderes Amt
eröffnet es die Chance, Denkanstöße zu geben und die
Aufmerksamkeit auf Entwicklungen und Probleme zu
lenken, die im gesellschaftlichen wie im politischen
Bewußtsein nicht oder noch nicht so klar wie notwendig
gesehen werden.

Dies ist Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Herzog,
auf unverwechselbare Weise gelungen. Sie haben so mit
den Menschen gesprochen, daß Sie verstanden werden
konnten. Die Klarheit und Eindringlichkeit Ihrer Spra-
che, Ihre ebenso präzisen wie prägnanten Formulierun-
gen, Ihre Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte – für
einen Juristen ja nicht selbstverständlich –


(Heiterkeit)

zu übersetzen, haben die Distanz überwunden, die das
höchste Staatsamt auch zu schaffen vermag.

Das hat der Demokratie und der Würde Ihres Amtes
gutgetan. Wir Politikerinnen und Politiker aller Parteien
und auf allen Ebenen können uns daran wahrlich ein
Beispiel nehmen. Allerdings, Ihren Humor und Ihre un-
verwechselbare Neigung zu milder Ironie wird wohl
niemand wirklich nachahmen können. Aber gerade
damit haben Sie dem höchsten Amt eine besondere Far-
be gegeben, Ihren persönlichen Stempel aufgeprägt.


(Beifall)

In allen diesen Aufgaben wurden Sie von Ihrer Frau

Christiane unterstützt. Das Wort ist fast zu schwach.
Sehr geehrte Frau Herzog, Sie haben sich engagiert, sich
eingesetzt, sich bewährt, mit Leidenschaft gearbeitet und
öffentlich gewirkt, als ob Sie selbst von der Bundesver-
sammlung gewählt worden wären.


(Heiterkeit und Beifall)

Sie waren sichtbar und wirklich die erste Frau in

unserem Staat. Deshalb gebührt Ihnen persönlich unser
besonderer Dank, unsere besondere Anerkennung.


(Beifall)

Bei allem politischen Engagement haben Sie, sehr

geehrter Herr Professor Herzog, die parteipolitische
Neutralität Ihres Amtes gewahrt – aber nicht, indem Sie
in der Sache selbst allen Meinungen gerecht zu werden
suchten, sondern indem Sie durch Kritik, durch Anre-
gungen einmal die eine, ein andermal die andere Seite
besonders herausgefordert haben. Das ist eine wichtige,
nachahmenswerte politische Kunst.

Als heilsam werden es viele empfunden haben, vom
Bundespräsidenten zu erfahren, daß es auch ein Leben
neben der Politik gibt. Die Politik kann nicht alles, und
sie ist auch nicht alles.


(Beifall)

Der erste Bürger in unserem Gemeinwesen hat uns in

den vergangenen fünf Jahren gezeigt, was es heißt, nah
beim Leben der Menschen zu sein. Ihr Beispiel beweist,

Präsident Wolfgang Thierse






(A) (C)



(B) (D)


daß es sich lohnt, auf die Bürgerinnen und Bürger zuzu-
gehen, sie anzuhören und zum persönlichen Engagement
für die parlamentarische Demokratie zu ermutigen.

In diesem Sinne, sehr geehrter Herr Professor Her-
zog, wird Ihre fünfjährige Amtszeit gewiß noch reiche
Früchte tragen. Hierfür danken wir Ihnen sehr herzlich.
Wir wünschen Ihnen, Ihrer Frau und Ihrer ganzen Fami-
lie für die Zukunft alles Gute und Gottes Segen.


(Langanhaltender Beifall – Die Anwesenden erheben sich)


Und nun zu Ihnen, Herr Rau;

(Heiterkeit)


denn es gehört sich, daß ich in dieser Stunde wenigstens
ein paar Worte an Sie richte.

Sie werden, sehr geehrter Herr Rau, heute Ihr Amt
antreten, in das die Bundesversammlung Sie am 23. Mai
gewählt hat. Dieses Amt steht auch für die Kontinuität
der deutschen Demokratie, von der man ja nicht mehr
sagen kann, daß sie ganz jung sei. Zugleich bedeutet je-
de Persönlichkeit, die dieses Amt antritt, einen Neuan-
fang, und das ist gut so. Es ist ein schöner Anfang, daß
die Bundesversammlung offenbar eine Wahl getroffen
hat, die mit der Wahl der Mehrheit der Menschen im
vereinten Deutschland übereinstimmt; sie bringen Ihnen
Vertrauen entgegen.

Ich wünsche Ihnen im Namen aller, die hier versam-
melt sind, in diesem Sinne eine glückliche Hand.


(Beifall)

Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, Herr

Ministerpräsident Roland Koch.

Roland Koch, Präsident des Bundesrates: Meine
Herren Präsidenten! Herr Bundestagspräsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Sie werden verste-
hen, daß ich die ehrenvolle Aufgabe, in Namen des
Bundesrates zu Ihnen zu sprechen, mit dem Zögern
desjenigen beginne, der unter den Ministerpräsidenten
an Lebensjahren und an Amtsjahren der mit Abstand
jüngste ist. Aber vielleicht ermöglicht es gerade diese
Tatsache, Empfindungen aus der Sicht der jedenfalls ge-
rade noch jüngeren Generation Ihnen gegenüber, meine
sehr verehrten Herren Präsidenten, zu formulieren.

Der Bundespräsident übt ein Amt aus, das jenseits
des politischen Alltags steht. Dennoch lassen sich mit
jeder Präsidentschaft auch zeitgeschichtliche Verände-
rungen beschreiben. Sie, sehr geehrter Herr Präsident
Herzog, waren der erste Präsident, der von Abgeordne-
ten aus den alten und den jungen Bundesländern ge-
meinsam gewählt wurde. Ihre Amtszeit wird mit dem
Prozeß des Zusammenwachsens unseres Landes eng
verbunden bleiben. Dabei wollen wir uns – darauf haben
Sie immer Wert gelegt – nicht selbst täuschen. Wir sind
noch nicht vollständig zusammengewachsen. Aber Sie
haben in einer sehr klaren und menschlichen Art Gräben
zugeschüttet, Brücken gebaut und dort, wo Sie es für
notwendig hielten, die Planung von Brücken von denen
verlangt, die in der Verantwortung stehen.

Als jemand, der in seinem Leben auch eine nennens-
werte Zahl von Jahren einer Landesregierung angehört
hat, bevor ihm andere hohe Ämter und dann das höchste
Staatsamt übertragen wurden, haben Sie immer nach den
Prinzipien des Föderalismus gelebt und gearbeitet. Für
Sie als „überzeugten Bayern, der berufsbedingt viel in
der Welt herumgekommen ist“ – so beschreiben Sie sich
selbst –, zeichnet sich lebendiger Föderalismus dadurch
aus, daß er den Menschen Zugehörigkeit und Heimat
vermittelt.

Dieser Föderalismus, in dem der Bund aus der Souve-
ränität der Länder Gestaltungsrechte erhält und eben
nicht die Länder von der Gewährung von Rechten durch
den Bund abhängig sind, ist die Wurzel von Wachstum
und Entwicklung in vielen Lebensbereichen. Das strikte
Verlangen der Bürgerinnen und Bürger in den fünf neu-
en Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie im Ost-
teil Berlins nach Eigenständigkeit in ihren Bundeslän-
dern, das nach der Wende zum Ausdruck kam, ist ein
Beweis dafür, daß es sich beim Föderalismus um eine
Konstruktion unserer Verfassung handelt, die die Men-
schen ausdrücklich gewollt und gefordert und nicht nur
hingenommen haben. Das ist für eine politische Struktur
in unserer Zeit nun wirklich nicht selbstverständlich.

Das föderale Prinzip hat sich in vielerlei Hinsicht be-
währt. Das wird nicht heißen, daß alles unabänderlich
festgeschrieben bleibt. Sie selbst waren häufig daran be-
teiligt und haben auch manches Mal angekündigt, sich
möglicherweise weiter daran beteiligen zu wollen, über
die Frage nachzudenken, wie – eventuell über eine Ent-
flechtung von Aufgaben, Einnahmen und Ausgaben – das
föderale Prinzip auch im 21. Jahrhundert und auf Dauer
Bestand haben könnte. Bei einer solchen Neuvermessung
staatlicher Aktivitäten wird es darauf ankommen, Denk-
blockaden aufzulösen, damit Veränderungen des Ge-
wachsenen dort möglich sind, wo wir sie brauchen. Dazu
haben Sie in der Vergangenheit manch offenes Wort ge-
sagt. Es fügt sich, daß im Wechsel zu Herrn Bundespräsi-
denten Rau gerade in Ihrer Rede, die Sie zum 50jährigen
Jubiläum des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 1996
im nordrhein-westfälischen Landtag gehalten haben, vie-
les zum Föderalismus zu lesen ist.

Föderalismus und die Beseitigung von Denkblocka-
den sind zwei Stichworte, die mich ebenso wie Herrn
Bundestagspräsidenten Thierse zu dem Thema führen,
das Ihnen, zumindest in der zweiten Hälfte Ihrer Amts-
zeit, öffentlich sichtbar mehr am Herzen gelegen hat als
jedes andere. Ich meine die Zukunft von Bildung und
Ausbildung in Deutschland. Sie haben mit Ihren Posi-
tionen in dieser Frage durchaus in die Politik jedes ein-
zelnen Bundeslandes eingewirkt. Die Bundesregierung
soll so etwas nicht tun, sagen wir im Bundesrat. Aber
der Bundespräsident kann, darf, ja vielleicht muß er in
der Klammerfunktion, die er hat, gelegentlich sogar so
agieren. Ich bin sicher, eine ganze Generation junger
Menschen, Millionen von Eltern, aber auch viele andere,
die von unserem Weg in die Wissensgesellschaft über-
zeugt sind, danken Ihnen für das Engagement, das Sie
für dieses Feld gefunden haben, Herr Bundespräsident.


(Beifall)


Präsident Wolfgang Thierse






(B)



(A) (C)



(D)


Sie haben eine Bresche für die Priorität von Bildung,
für den Wiedereinzug von Qualitätsstandards geschla-
gen. Sie haben vielen Menschen Mut gemacht, den
Wettbewerb aufzunehmen, eine mit Charakter und
Selbstvertrauen, mit Wissen und Können und mit Lei-
stungsbereitschaft und Hilfsbereitschaft ausgestattete
neue Generation auf einen Spitzenplatz in der Welt vor-
zubereiten. Ohne einen Anspruch auf historische Be-
wertungen, vor denen wir uns alle stets hüten sollten, zu
erheben, bin ich sicher, daß Sie zumindest auch als der
„Bildungspräsident“ in die Geschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland eingehen werden.

Dabei haben Sie ganz zweifellos gelegentlich die
Grenzen der bloßen Repräsentation überschritten. In Ih-
rer bereits erwähnten Rede vor dem nordrhein-
westfälischen Landtag haben Sie von dem „scharfen
Schwert der Festrede“ gesprochen


(Heiterkeit)

und die Präsidialaufgabe als Verpflichtung zur Offenle-
gung von Problemen bei gleichzeitiger Zurückhaltung
im Blick auf Lösungsvorschläge definiert.

Mit Ihrer sogenannten Ruck-Rede im neuen Adlon in
Berlin haben Sie dann diese Zurückhaltung etwas aufge-
geben. Nicht etwa, daß daraus die Übernahme der Bun-
desregierung durch den Bundespräsidenten geworden
wäre. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungs-
gerichts, Professor Dr. Roman Herzog, hat nie die Gren-
zen seines Amtes überschritten. Aber Sie hielten es für
erforderlich, die endlose Debatte um Lösungsvorschläge
durch die Bewertung der Lösungsvorschläge und die
Forderung nach präziser Entscheidung zu beschleuni-
gen. Sie haben die Bürgerinnen und Bürger darauf hin-
gewiesen, daß diese Sachentscheidungen ohne ein klares
Bild von der eigenen Zukunft nicht getroffen werden
können.

Zuerst müssen wir uns darüber klarwerden, in wel-
cher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben
wollen. Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen
sind nichts anderes als Strategien des Handelns.
Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet. Sie
können ungeahnte Kräfte mobilisieren. Ich erinnere
nur an die Vitalität des American Dream, an die
Vision der Perestroika, an die Kraft der Freiheits-
idee im Herbst 1989 in Deutschland.

So sagten Sie in Ihrer Rede.
Der Diskussion um die Zukunft Deutschlands einen

neuen, festen Ankerpunkt zu geben war das Ziel Ihrer
Adlon-Rede, und Sie haben dieses Ziel erreicht. Kei-
neswegs haben Sie alle Probleme in Deutschland mit
dieser Rede gelöst, aber Sie haben es allen in Deutsch-
land schwerer gemacht, an diesen Problemen vorbeizu-
sprechen. Und das ist die Aufgabe des scharfen
Schwertes des Wortes des Bundespräsidenten, wie Sie
dies formuliert haben.


(Beifall)

Meine Damen und Herren, die Kraft von Visionen

wird durch Menschen vermittelt. Ihr Mut und Ihre Kraft
zu Visionen, Herr Bundespräsident Herzog, hat vielen

Menschen in diesem Land Mut zur Zukunft gegeben.
Dafür danke ich Ihnen im Namen des Bundesrates und,
ich denke, im Namen aller Menschen in der Bundesre-
publik Deutschland ganz herzlich.


(Beifall)

Verehrte Frau Herzog, unsere Verfassung sieht, wie

bereits gesagt, eine besondere Rolle für den Ehepartner
an der Seite des Staatsoberhauptes nicht ausdrücklich
vor. Selbst in der Kommentarliteratur ist Näheres dazu
nicht zu finden. Dennoch wissen wir alle, daß es diese
Rolle gibt. Sie haben in großer Selbstverständlichkeit
die Bürden mitgetragen, die mit diesem Amt verbunden
sind. Wer Sie beobachtete, konnte auch vermuten, daß
Sie es mit Freude getan haben.

Sie haben Ihre Aufgabe an der Seite des Bundesprä-
sidenten in vorbildlicher Weise erfüllt und haben sich
gerade durch Ihr soziales Engagement bleibende Ver-
dienste erworben, wobei viele Ihnen heute eigentlich zu
versprechen haben, daß sie Sie weiter unterstützen wer-
den; denn die Amtszeit des Bundespräsidenten endet,
die Amtszeit etwa der Präsidentin der Mukoviszidose-
Stiftung endet nicht. Das sei für alle, die dafür noch et-
was tun wollen, gesagt.


(Beifall)

Sie haben dabei Ihren eigenen Stil geprägt, der im In-

und Ausland große Anerkennung gefunden hat. Im übri-
gen haben Sie – wenn Sie mir die Bemerkung erlauben –
begeisterten Hobbyköchen wie mir ein neues Stück prä-
sidiales Selbstwertgefühl gegeben.


(Heiterkeit)

Auch Ihnen gebührt der Dank des Bundesrates, den ich
an dieser Stelle aus ganzem Herzen ausspreche.


(Beifall)

Herr Bundespräsident Rau, Ihnen wünschen der Bun-

desrat, alle Landesregierungen und – da bin ich sicher –
auch alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes eine
glückliche Hand bei der Vertretung der Bundesrepublik
Deutschland. Dieser Wunsch schließt alle guten Wün-
sche für Ihre Frau ein, Sie in diesem herausfordernden
Amt zu begleiten.

Herr Bundespräsident, Sie waren fast drei Jahrzehnte
lang Mitglied des Bundesrates, davon 20 Jahre
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie
sind der erste Präsident, der es in seiner Amtszeit ge-
schafft hat, zweimal Präsident des Bundesrates gewesen
zu sein. Da nach unserer Verfassung die Befugnisse des
Bundespräsidenten im Falle seiner Verhinderung durch
den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen wer-
den, läßt sich sicher insoweit schon von einer gründ-
lichen Vorbereitung auf dieses Amt sprechen.


(Heiterkeit)

Es ist gut zu wissen, daß mit Ihnen ein überzeugter

Föderalist Bundespräsident wird, der sicher auch in sei-
nem neuen Amt der Rolle des Bundesrates und den Be-
langen der Länder besonderes Verständnis entgegen-
bringen wird.

Präsident des Bundesrates Roland Koch






(A) (C)



(B) (D)


Wie in meinem Dank an Präsident Herzog schon zum
Ausdruck gebracht, ist das Amt des Bundespräsidenten
auf moralische Autorität und prägende Kraft der Per-
sönlichkeit ebenso angewiesen wie auf die Wirkung des
Wortes. Sie haben sich durch Ihr bisheriges Wirken und
auch auf Grund Ihres christlichen Menschenbildes mit
hohem moralischen Anspruch Achtung und Sympathie
erworben. Sie können den Menschen zuhören und sind
auf Ausgleich bedacht. Wir wünschen uns, daß Sie wie
Ihr Amtsvorgänger ein bürgernaher, volksverbundener
Bundespräsident sein werden, ein bibelfester noch dazu.

Meine Damen und Herren, in den Jahrzehnten nach
uns werden Historiker diesen Tag auch als den tatsächli-
chen Wechsel von Bonn nach Berlin betrachten. Über
die Frage, ob es dann eine Bonner oder eine Berliner
Republik ist, wird viel gesprochen. Mit Ihnen, Herr
Bundespräsident Rau, symbolisiert diesen Umzug ein
Mann, der in Bonn über 30 Jahre Politik mitgestaltet hat.
Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR strebten
nach dieser Bonner Republik, als sie riefen: „Wir sind
ein Volk“.

Natürlich sind wir in 50 Jahren die Berliner Republik.
Aber die Historiker werden, so hoffe ich, erkennen, daß
sich dabei das Berlin des zentralistischen Preußens weit
mehr gewandelt hat als der gelungene und gelebte Föde-
ralismus der 50 Jahre Hauptstadt Bonn. In diesem Sinne
sind Sie ein Botschafter auf dem Weg zwischen den bei-
den Hauptstädten in ihrer zeitgeschichtlichen Entwick-
lung.

Herr Bundespräsident, ich schließe mit einer – aus
meiner Sicht richtigen – Beschreibung der vor uns lie-
genden Herausforderungen aus dem Munde Ihres Amts-
vorgängers Roman Herzog, wie er sie im Mai 1998 for-
muliert hat:

Vor uns liegt ein neues Zeitalter,
in dem statt der Anonymität zentralistischer Groß-
organisationen zivilgesellschaftliches Engagement
das Gemeinwesen mittragen muß,
ein Zeitalter, das Freiräume schafft, indem der Staat
seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt
und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zu-
rückgewinnt,
ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Insti-
tutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger ver-
ankert sein müssen.

Herr Bundespräsident Rau, wir wünschen Ihnen Er-
folg. Auf unsere Hilfe können Sie bauen.


(Beifall)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405100100
Herr Präsident Pro-
fessor Roman Herzog, Sie haben das Wort.


(Beifall)


Dr. Roman Herzog: Exzellenzen! Meine Damen
und Herren! Das ist also jetzt die Stunde des Abschied-
nehmens. Seit heute nacht, 0 Uhr, ist Johannes Rau

Bundespräsident. Ich wünsche ihm und seiner Frau von
dieser Stelle aus noch einmal von Herzen alles Gute für
die kommenden Jahre.


(Beifall)

An mir ist es jetzt, mich von den hier versammelten

Mitgliedern beider Häuser, von der Bundesregierung,
von den diplomatischen Vertretern von insgesamt 175
Staaten, ganz besonders aber von unseren Mitbürgerin-
nen und Mitbürgern zu verabschieden.

So, wie ich geartet bin, kann ich das nicht ohne jeden
ironischen Rückblick auf jene Sorgen tun, die sich vor
fünf Jahren viele im Hinblick auf meine damals bevor-
stehende Präsidentschaft gemacht haben.


(Heiterkeit und Beifall)

Am harmlosesten war damals noch die tiefempfunde-

ne Sorge, ob ich mich immer korrekt und geschmackvoll
genug kleiden würde.


(Heiterkeit)

Der Verdacht war bald entkräftet, da mich schon 1995
ein Institut, dessen Name mir freilich entfallen ist, zum
bestgekleideten deutschen Politiker erklärte.


(Heiterkeit)

Ich habe das zwar schon damals für eine heillose Über-
treibung gehalten, und heute, Herr Bundeskanzler, wäre
ich ohnehin höchstens der zweiteleganteste;


(Große Heiterkeit und Beifall)

aber ich muß schon sagen: Das entlastete mich von einer
schwer auf mir lastenden Hypothek.


(Heiterkeit)

Länger muß wohl der Zweifel an meinem beruflichen

Fleiß gewirkt haben, den der seinerzeitige Bundeskanz-
ler mit Zitaten hervorgerufen hatte und der, wie es so
geht, nach Leibeskräften kolportiert wurde. Es hat im-
merhin fast drei Jahre gedauert, bis die ersten nicht min-
der besorgten Fragen laut wurden, ob ich nicht eigent-
lich zuviel machte.


(Heiterkeit)

Auch das hat sich zwar wieder eingependelt; aber inter-
essant war schon, wie es oft dieselben waren, die bald
die eine, bald die andere Sorge drückte, gewissermaßen
nach dem Motto: Hauptsache, ich habe eine Sorge; wel-
che, ist nicht so wichtig.


(Heiterkeit und Beifall)

Dann natürlich die Vokabel „unverkrampft“!


(Heiterkeit)

Ich weiß bis heute nicht, wer eigentlich damals auf die
Idee gekommen ist, ich hätte dieses Wort ausgerechnet
auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit ge-
münzt. Mittlerweile ist aber wohl klar geworden, was
ich wirklich gemeint hatte: die Abkehr von jeder gravi-
tätischen Anwandlung, die den Träger eines so hohen
Amtes mitunter wohl plagen mag, den völlig unpräten-
tiösen Umgang mit unseren Partnern und Freunden in

Präsident des Bundesrates Roland Koch






(B)



(A) (C)



(D)


aller Welt, die Klarheit und Wahrhaftigkeit im Denken
und Reden, eine ziemlich unbekümmerte Vorurteilslo-
sigkeit nach allen Seiten – ja und wohl auch ein bißchen
von jener Chuzpe, aus der die bisherigen Sätze dieser
Rede entsprungen sind.


(Heiterkeit)

Manch einer mag nun erwarten, daß ich Ihnen und

dem deutschen Volke eine Art politisches Vermächtnis
hinterlasse. Aber, meine Damen und Herren, das werde
ich nicht tun, und zwar aus zwei Gründen. Erstens habe
ich das, was mir besonders wichtig ist, schon am
24. Mai im Reichstag zum Ausdruck gebracht, zum
50. Geburtstag unseres Staates. Zweitens scheide ich,
wie ich schon wiederholt gesagt habe, heute ja nur aus
dem Amt und nicht aus dem Leben.


(Heiterkeit und Beifall)

Ich behalte mir schon das Recht vor, auch in Zukunft zu
sagen und vor allem zu schreiben, was ich für richtig
halte.


(Beifall)

Statt dessen möchte ich – und das nun im Ernst – ein

paar Sätze darüber sagen, wie ich in diesen fünf Jahren
mein Amt verstanden habe. Das läßt sich unter zwei
Überschriften zusammenfassen: das Einende betonen
und das Langfristige ins öffentliche Bewußtsein rufen.

Das, was wir gemeinhin als „Politik“ bezeichnen,
wird nach unserer Verfassung von Parlament und Regie-
rung entschieden; und wenn sie es halbwegs gut ma-
chen, integrieren sie dadurch auch das Staatsvolk. Zu
den eher rationalen Wurzeln dieser Integration gehört
unter anderem die Überzeugung der Bürger, in einem
halbwegs gerechten und guten Staat zu leben, gehören
also Phänomene, die wir mit den Begriffen Rechtsstaat-
lichkeit, Sozialstaatlichkeit und Menschenrechte zu be-
zeichnen pflegen. Sie alle haben – ob wir das wahrhaben
wollen oder nicht – mehr oder weniger auch den allge-
meinen gesellschaftlichen Wohlstand zur Vorausset-
zung.

So kommt es wohl nicht ganz von ungefähr, daß der
Oberbegriff, der in diesem Zusammenhang immer häu-
figer gebraucht wird, die „Leistungsfähigkeit“ des Staa-
tes ist – nicht im Sinne finanzieller Leistungen, sondern
im Sinne der Fähigkeit zu gestalten. Der Bürger vertraut
sich dem Staat an, weil und insoweit er von ihm die
Lösung jener Probleme erwartet, die er vor sich sieht
und mit denen er selbst nicht fertig zu werden befürch-
tet.

Parlament und Regierung integrieren heute also vor-
wiegend durch „politische Leistung“ oder – ich sage es
deutlicher – durch eine überzeugende Sachpolitik. Die
Dinge liegen um so besser, je weniger für andere, spezi-
ell für den Bundespräsidenten, Anlaß besteht, sich in die
Entscheidungsprozesse beider Verfassungsorgane ein-
zumischen.

Nur stehen Parlament und Regierung dabei vor einer
prinzipiellen Schwierigkeit: Die Regierung und die sie
tragende Parlamentsmehrheit haben eben meist nicht das
Volk, sondern bestenfalls die Hälfte des Volkes hinter

sich. Daher können sie selbst durch die bestgemeinte
Politik nicht nur integrieren, sondern werden zugleich
stets auch polarisieren. Wir haben das in den vergange-
nen Jahren immer wieder erlebt und erleben es zur Zeit
gerade wieder sehr deutlich.

Die Summe der Zentripetalkräfte, die es in einer Ge-
sellschaft gibt, muß aber größer sein als die Summe der
Zentrifugalkräfte. Sonst ist das Gemeinwesen auf die
Dauer nicht lebensfähig.


(Beifall)

Das gilt in pluralistischen Gesellschaften ganz allgemein
– auch dort, wo der Staat von Verfassungs wegen
eigentlich gar nichts zu sagen hat.

Da ist es gut, wenn es neben den politischen Organen
noch eine Instanz gibt, die das betont, was die konkur-
rierenden, ja streitenden Gruppen trotz allem als das
ihnen Gemeinsame besitzen. Das habe ich redlich ver-
sucht – nicht nur durch meine Reden zum demokrati-
schen Staatsverständnis und nicht nur durch eine bewußt
unverschnörkelte Rhetorik, sondern auch durch die
Schwerpunkte, die ich bei Besuchen, bei Einladungen,
bei Auszeichnungen und nicht zuletzt in Fernsehgesprä-
chen zu setzen versucht habe, und vor allem durch ge-
duldiges und ernsthaftes Zuhören, wo ein belehrendes
Reden nur gestört hätte. Ich sage: Ich habe es versucht,
besonders auch in den östlichen Bundesländern, die ich
von hier aus noch einmal besonders grüße. Ob mir das
gelungen ist, brauche ich gottlob nicht zu entscheiden.
Das müssen andere tun.

Dasselbe gilt natürlich für die zweite Grundlinie mei-
ner Amtsführung: die Betonung des Langfristigen. In
einer Massen- und vor allem Mediendemokratie wie der
unseren gibt es unvermeidlich das, was man die Priorität
des Kurzfristigen nennt. Die Fragen des jeweiligen Jahr-
fünfts entscheiden die Wahlen, sie beschäftigen fast aus-
schließlich die Medien und beherrschen infolgedessen
vorzugsweise auch das Denken der politischen Eliten.

Zwar sollte niemand behaupten, daß unsere führen-
den Politiker die langfristigen Trends, ihre Chancen und
ihre Gefahren nicht im Blick hätten – das weiß ich aus
unendlich vielen Gesprächen –, aber im Vordergrund
steht für sie zwangsläufig das Kurzfristige, das sich in
den obligaten 90-Sekunden-Statements unseres Fernse-
hens noch einigermaßen abhandeln läßt. Doch ich finde,
auch hier muß es – nicht nur in der Gesellschaft, sondern
auch unter den obersten Staatsorganen – zumindest
einen geben, der die langfristigen Entwicklungen vor-
rangig im Auge hat und der sie deutlicher ins öffentliche
Bewußtsein hebt, als es den für die Tagespolitik Ver-
antwortlichen möglich ist.

Meine Reden zu Fragen der Wirtschafts-, Steuer- und
Rechtsreform, zu Bildungsfragen, zur Einschätzung von
Wissenschaft und Technik, zur Rolle von Softpower und
Menschenrechten in der Außenpolitik, zur europäischen
Integration und zum weltweiten Dialog der Kulturen
sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Hier zeigt sich
auch – das ist als Nachtrag zu meiner Kommentierung,
in der das nicht steht, zu verstehen; das habe ich dazu-
gelernt –, daß der deutsche Bundespräsident keineswegs

Dr. Roman Herzog






(A) (C)



(B) (D)


nur auf das Wort verwiesen ist, sondern auch durch
konkrete Initiativen wirken kann. Ich erinnere hier nur
an den von mir gestifteten Innovationspreis, an meine
Mitwirkung an den verschiedensten Existenzgründerin-
itiativen und nicht zuletzt an die weltweite Initiative
zum Dialog der Kulturen, der sich mittlerweile fast ein
Dutzend Staatsoberhäupter aus westlichen und islami-
schen Staaten angeschlossen haben.

Bei diesem Verständnis meines Amtes konnte es
nicht ausbleiben, daß mein vorrangiger Ansprechpartner
– das ist häufig mißverstanden worden – oft nicht die
Staatsorgane waren, wie es manche Medien in ihrem
Wunsch nach Konflikten wohl gerne gesehen hätten,
sondern daß es die Gesellschaft der freien Bürger war.
Auf diese freien Bürger, auf ihre Phantasie, auf ihre
Kreativität und ihren Wagemut kommt es nämlich in
einem freien Gemeinwesen vor allem anderen an.


(Beifall)

In einem solchen Gemeinwesen genügt es meines Er-

achtens für den Präsidenten eben nicht, wie der Chor in
der griechischen Tragödie um Staat und Politik zu krei-
sen und beider Handeln zu kommentieren. Die Staats-
verliebtheit, die uns Deutsche wie im übrigen auch viele
andere Europäer auszeichnet, steht ihm schon gar nicht
an; denn der Staat ist in unserem Gesellschaftssystem
bedeutend weniger als das, was wir Gemeinwesen nen-
nen. Der Präsident hat für das Gemeinwesen insgesamt
dazusein, so jedenfalls meine Auffassung von diesem
Amt.


(Beifall)

Deshalb habe ich auch stets darauf geachtet, mich als
Bürger unter Bürgern zu bewegen. Unsere Mitbürger
haben mich auch so verstanden. Ihr Zutrauen, ja die Zu-
neigung, die ich in diesen Tagen so sehr verspüre, ist
Beweis dafür.

Die Distanz, die auch nötig ist, habe ich zu wahren
versucht. Ein Präsident zum Anfassen wollte ich nie
sein, wohl aber ein Präsident zum Ansprechen und zum
Verstehen. Ich hoffe, auch das ist mir einigermaßen ge-
glückt.

Natürlich haben sich in mir nicht alle wiederfinden
können. Auch das gehört dazu. Ein Präsident soll
schließlich reden, aber er soll nicht jedem nach dem
Munde reden. Dafür hat der liebe Gott jedenfalls mir
nicht die grauen Zellen gegeben und schon gar nicht die
Kraft des Wortes und der Argumente.


(Beifall)

Am Ende dieser fünf Jahre habe ich vielen Menschen

und vielen Institutionen zu danken, den Regierungen,
die in dieser Zeit Verantwortung für unser Land getra-
gen haben und noch tragen, den übrigen Verfassungsor-
ganen, den hohen Repräsentanten der Länder, den politi-
schen Parteien, den Gewerkschaften und anderen großen
Verbänden, den Kirchen und Religionsgemeinschaften
und einer ganzen Reihe von Stiftungen, nicht zuletzt
auch den zahllosen Bürgern, die mich durch Zuspruch
und Kritik mitgetragen haben. Aber einem Menschen

möchte ich namentlich Dank sagen. Das ist meine Frau,
die heute schon erwähnt worden ist.


(Beifall)

Sie wird mir zwar nachher vorhalten, das hätte ich auch
unter vier Augen tun können – das Manuskript hat sie
nicht gelesen – aber einmal mußte es, wie ich glaube, in
der Öffentlichkeit geschehen, in die sie durch mein Amt
zwangsläufig hineingezogen worden ist. Wir haben es in
diesen Jahren so gehalten, wie wir es in unserer Ehe
immer gehalten haben: Wir sind, soweit es sich irgend-
wie vertreten ließ, getrennt marschiert, aber wir haben
vereint geschlagen – oft bis zu einem Grade, der manche
besorgt fragen ließ, ob unsere Ehe denn überhaupt noch
hinreichend glücklich sei. Meiner Frau hat diese Metho-
de eine starke eigene Rolle und ein unbestreitbares
Eigengewicht eingebracht. Aber sie hat ihr auch mehr
Lasten aufgeladen, als ich ihr von Rechts wegen hätte
zumuten dürfen; dessen bin ich mir sehr wohl bewußt.

Doch auch unsere gemeinsame Vorstellung von einer
guten Ehe will ich hier nennen: gleiche Rechte, ein glei-
ches Maß an Pflichten, große Selbständigkeit beider
Partner in ihrer Arbeit – und dennoch am gleichen
Strang ziehen.


(Beifall)

Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie uns wirk-

lich Abschied nehmen. Wir beide freuen uns darauf, ins
Glied zurückzutreten und als freiere Bürger und Zeitge-
nossen ein freieres Leben als bisher zu führen, als einfa-
che Glieder des deutschen Volkes, dem wir so gut ge-
dient haben, wie es uns mit unseren Stärken und Schwä-
chen eben möglich war, und das wir nicht aufhören wer-
den zu lieben.

Danke sehr.

(Die Anwesenden erheben sich – Anhaltender Beifall)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405100200
In Respekt vor Ihrer
Leistung haben sich die Mitglieder des Bundestages und
des Bundesrates erhoben und damit im Namen des gan-
zen deutschen Volkes bekundet: Roman Herzog hat sich
um unser Vaterland verdient gemacht.


(Beifall)

Meine Damen und Herren, am 23. Mai dieses Jahres

hat die Bundesversammlung Herrn Johannes Rau zum
Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland
gewählt. Herr Johannes Rau hat vor der Bundesver-
sammlung diese Wahl angenommen und mit dem heuti-
gen Tag das Amt des Bundespräsidenten angetreten.

Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundes-
präsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten
Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den
vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsi-
dent, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten. Dazu
bitte ich auch den Herrn Präsidenten des Bundesrates.


(Die Anwesenden erheben sich)


Dr. Roman Herzog






(B)



(A) (C)



(D)


Ich reiche Ihnen die Originalausgabe des Grundgeset-
zes und bitte Sie, den vorgeschriebenen Amtseid zu lei-
sten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1405100300
Ich
schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen
Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von
ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun-
des wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissen-
haft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben
werde. So wahr mir Gott helfe.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405100400
Ich stelle fest: Der
Herr Bundespräsident hat den vorgeschriebenen Amts-
eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Amt und
wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen für Sie und
für unser Vaterland.


(Beifall)

Das Wort hat nun der Herr Bundespräsident.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1405100500
Herr
Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Ich
danke für die guten Wünsche, die ich heute von dieser
Stelle aus mit auf den Weg bekommen habe. Ich emp-
finde sie ebenso als Ansporn und Ermutigung wie die
große Mehrheit der vielen Briefe, die mich seit dem
23. Mai erreicht haben. Ich freue mich über das große
Vertrauen, das viele in mich setzen. Das ist mir genauso
ernsthafte Verpflichtung, wie ich für die kommenden
Jahre kritische Wegbegleitung erbitte.

Mein besonderer Dank gilt heute dem Mann, dessen
Mitbewerber ich vor fünf Jahren war und dem ich heute
nachfolge: Professor Dr. Roman Herzog. Lieber Herr
Herzog, fünf Jahre lang haben Sie unser Land in aller
Welt repräsentiert. Sie haben das auf Ihre unverwechsel-
bare Art und Weise und mit Ihrem Temperament getan:
mit klarer Sprache, direkt, ohne Schnörkel und unver-
blümt. Jeder konnte spüren, was Ihnen wichtig war, und
auch, daß Sie sich selber nicht für am wichtigsten hielten.
Dazu haben Sie mit Ihrem Witz und Ihrer Selbstironie
beigetragen, auch heute wieder – Eigenschaften, die deut-
schen Hochschullehrern, zumal der Jurisprudenz, durch-
aus nicht allgemein nachgesagt werden.


(Heiterkeit und Beifall)

Das, was Sie zur jüngeren deutschen und europäi-

schen Geschichte gesagt haben, und auch, daß Sie zur
richtigen Zeit und am richtigen Ort geschwiegen haben,
hat das Vertrauen in unser Land gestärkt. Dafür danke
ich Ihnen. Vor Ihnen liegen jetzt Jahre, in denen Sie sich
wieder der Wissenschaft widmen wollen. Da darf man
gespannt sein: Welche Konsequenzen werden die prakti-
schen Erfahrungen des Bundespräsidenten Roman Her-
zog für den Grundgesetz-Kommentar des Staatsrechtlers
Roman Herzog haben? Zuletzt haben Sie 1986 den
Art. 54 unseres Grundgesetzes kommentiert, der die
Aufgaben des Bundespräsidenten beschreibt. Ob wir mit
einer baldigen Neukommentierung im Lichte eigener Er-
fahrungen rechnen dürfen?

Herzlichen Dank sage ich auch Ihnen, liebe Frau Her-
zog. Ihnen ist es neben all den Aufgaben als Frau des

Bundespräsidenten gelungen, mit großem Einsatz öf-
fentliche Aufmerksamkeit für eine Krankheit zu wecken,
die viele vorher nicht gekannt hatten, und dadurch vielen
kranken Menschen zu helfen.

Ganz besonders grüße ich von dieser Stelle aus auch
zwei meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten:
Richard von Weizsäcker, dem ich seit Jahrzehnten
freundschaftlich verbunden bin, und meinen bergischen
Landsmann Walter Scheel, der in der kommenden
Woche seinen 80. Geburtstag feiern kann.


(Beifall)

Meine Damen und Herren, heute in sechs Monaten

schreiben wir den 1. Januar 2000. Das Jahr 2000 ge-
winnt in manchen öffentlichen Diskussionen einen
Stellenwert, der ans Unwirkliche grenzt. Das gilt in an-
derer Weise auch für den Gebrauch des Begriffs Globa-
lisierung. Wenn von Globalisierung die Rede ist, dann
klingt das manchmal wie die Verheißung eines neuen
Goldenen Zeitalters, manchmal aber auch, als würden
alle Übel der Welt auf einen Begriff gebracht.

Beides scheint mir falsch zu sein. Die Globalisierung
bietet uns Deutschen und aller Welt große Chancen –
wenn wir sie recht verstehen und richtig gestalten. Tat-
sächlich ist Globalisierung ja nichts anderes als die Ein-
sicht, daß wir in unserer e i n e n Welt stärker denn je
voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind.
Kein Land kann heute mehr sicher sein, daß eigene
Fehler oder Fehler anderer nur deshalb ohne Folgen
bleiben, weil es weit genug entfernt liegt, weil es wirt-
schaftlich leistungsfähiger, politisch einflußreicher oder
militärisch stärker als andere ist. Weil uns das, was an-
dere tun, selber mittelbar oder unmittelbar betrifft, kann
es uns heute weniger denn je gleichgültig lassen, was in
der Welt geschieht.

Freilich: Nicht jedes Land hat politisch und auch nicht
jedes Unternehmen hat wirtschaftlich das gleiche Ge-
wicht. Einige können stärker dazu beitragen, daß alle
Vorteile oder Nachteile haben. Man braucht kein Kenner
und kein Liebhaber der Chaostheorie zu sein, um zu wis-
sen, daß kleinste Veränderungen an einer Stelle ganz un-
vermutete und oft große Folgen an anderer Stelle haben.

Die Globalisierung der Wirtschaft hat besondere Be-
deutung. Sie stellt an uns alle die Frage neu nach dem
richtigen Verhältnis zwischen privat bestimmtem wirt-
schaftlichen Handeln und demokratisch bestimmtem öf-
fentlichen Handeln. Verantwortliche Politik muß dieses
Verhältnis neu ordnen und muß die Frage beantworten,
welche öffentlichen Aufgaben regional, welche national
und welche nur international erfolgreich gelöst werden
können.

Dabei will, soweit ich sehe, niemand alte Schlachten
schlagen. Daß der Markt als Mechanismus des Wirt-
schaftslebens allen anderen Prinzipien überlegen ist,
wird nirgendwo und von niemandem mehr ernsthaft be-
stritten. Ganz unterschiedliche Auffassungen gibt es
aber darüber, was der Markt kann, welchen Rahmen er
braucht und welche Grenzen ihm politisch gesetzt wer-
den müssen. Genau darum – um nicht weniger und um
nicht mehr – geht der wesentliche gesellschaftspolitische
Streit nicht nur bei uns in der Bundesrepublik Deutsch-

Präsident Wolfgang Thierse






(A) (C)



(B) (D)


land. Darüber streiten Wissenschaftler und Politiker,
Gewerkschafter, Unternehmer und Intellektuelle in
Frankreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika
genauso wie in Japan und Großbritannien.

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von den politi-
schen Parteien Antworten darauf, wie privates Wirt-
schaften und öffentliche Verantwortung in Zeiten der
Globalisierung im Interesse aller in ein neues Gleichge-
wicht gebracht werden können. Die Frage, wie das Span-
nungsverhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und So-
lidarität bei uns zu Hause und im Weltmaßstab gelöst
werden soll, muß in ungezählten praktischen Fällen im-
mer wieder neu beantwortet werden. Maßstäbe dafür bie-
ten weder die Betriebswirtschafts- noch die Volkswirt-
schaftslehre. Es kommt darauf an, welches Bild vom
Menschen und welches Bild vom Zusammenleben der
Menschen wir haben. Das ist eine Frage, die jeden einzel-
nen angeht und die – bewußt oder unbewußt – unser Han-
deln prägt. Die Politik darf dieser Frage nicht ausweichen,
weder durch Flucht in weltfremde Ideologien noch durch
das Verstecken hinter angeblichen Sachzwängen.


(Beifall)

In der Politik geht es nicht um letzte Wahrheiten,

sondern um richtige Lösungen. Der politische Streit
sollte jeweils um die Frage gehen, welcher Vorschlag
der beste im Interesse aller oder im Interesse der vielen
ist. Nur dann kann etwas von dem aufscheinen, was
Hannah Arendt in die Worte gefaßt hat: „Politik ist an-
gewandte Liebe zur Welt.“


(Beifall)

Wir politisch Verantwortlichen müssen die Bürgerin-

nen und Bürger ernst nehmen. Wir dürfen sie weder in
Angst und Schrecken versetzen noch in falscher Sicher-
heit wiegen. Sie wollen wissen, woran Sie sind. Sie haben
Anspruch darauf zu erfahren, was die Politik will und
worin sich die politischen Parteien unterscheiden. In der
Demokratie ist es unerläßlich, daß die politischen Parteien
deutlich machen: Es gibt Wege in die Zukunft, auch ganz
unterschiedliche Wege, jenseits von Beliebigkeit und
Prinzipienreiterei. In der Demokratie geht es nur in ex-
tremen Ausnahmefällen um „alles oder nichts“. Darum ist
es bei aller Grundsatztreue besser, kleine Schritte wirklich
zu gehen, als darüber zu klagen, daß sich die Menschen
für den großen Wurf nicht begeistern können.

Das bedeutet nicht, auf weitgesteckte Ziele zu ver-
zichten. Im Gegenteil: Weil der Weg zu einem politi-
schen Ziel oft um viele Ecken und über viele Umwege
führt, sind Weitsicht und Vorausdenken besonders
wichtig. Stärker denn je müssen wir daran denken, wel-
che Folgen politische Entscheidungen von heute für das
Leben künftiger Generationen haben. Es gibt einen
Egoismus des Gegenwärtigen zu Lasten der Zukunft,
den ich für nicht erlaubt halte,


(Beifall)

für den wir alle aber Beispiele kennen.

Wenn wir die Chancen der Globalisierung nutzen
wollen, dann muß die Politik sie aktiv gestalten. Das gilt
für die soziale und für die ökologische Dimension wirt-
schaftlichen Handelns genauso wie für die Gestaltung
des technischen Fortschritts. Diesen Rahmen kann am

besten eine demokratische und soziale Rechtsordnung
setzen, die über den Nationalstaat hinausreicht. Wir
müssen die politischen Konsequenzen aus der wirt-
schaftlichen Globalisierung ziehen.

Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt nach
meiner Überzeugung, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Das ist in erster Linie Aufgabe der Unternehmen. Die
Politik muß für Angebot und Nachfrage den richtigen
Rahmen setzen und die richtigen Impulse geben. Neue
Arbeitsplätze entstehen nicht auf Knopfdruck, und es
gibt für sie kein Patentrezept. Wir brauchen ein Bündel
von Initiativen, damit alle, die arbeiten können, ihren
Lebensunterhalt auch tatsächlich selber erarbeiten kön-
nen. Wir brauchen mehr Gründungen, mehr Spitzen-
technik und mehr Investitionen in Bildung, Wissenschaft
und Forschung. Wir brauchen intelligente Arbeitszeitre-
gelungen, die auch längere Betriebszeiten mit kürzeren
Arbeitszeiten verbinden. Wir brauchen geringere Lohn-
nebenkosten und weniger Überstunden. Keine Diskus-
sion um das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ kann und
darf verdecken, daß es für die allermeisten Menschen –
aus finanziellen, aber auch aus sozialen Gründen – keine
Alternative zur Erwerbsarbeit gibt.


(Beifall)

Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, daß wir die

Arbeit so organisieren und fortentwickeln, daß die Be-
dürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirt-
schaftens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Ar-
beit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbar
einen Wert. In ihr – das gibt ihr einen weiteren Wert –
entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Darum
hat Hans Küng recht, wenn er sagt: „Ohne sinnvolle Ar-
beit geht ein Stück Menschenwürde verloren.“


(Beifall)

Darum ist es alles andere als eine akademische

Betrachtung, auf den Wert der Arbeit für das Selbst-
wertgefühl von Menschen und für den Zusammenhalt
von Staat und Gesellschaft hinzuweisen. Wer in der Ar-
beit nur einen reinen Kostenfaktor sieht, dessen Preis
soweit wie möglich gedrückt werden muß – so wichtig
der Anteil der Löhne am wirtschaftlichen Prozeß auch
ist –, der hantiert mit sozialem Sprengstoff und rüttelt an
den Grundfesten unserer westlichen Zivilisation – ob
ihm das bewußt ist oder nicht.


(Beifall)

Es mag sein, daß wir auf lange Sicht eine neue Ein-

stellung zur Arbeit bekommen. Bei tendenziell sinken-
der Arbeitszeit könnten mehr Menschen mehr Zeit fin-
den für aktive Nachbarschaftshilfe, für ehrenamtliches
Wirken in Vereinen, aber auch für die Pflege der Städte
und die Bewahrung und Förderung von Kultur und
Kunst, mehr Zeit auch für Eigenarbeit. Das wäre eine
Gesellschaft, die einen stärkeren inneren Zusammenhalt
haben könnte, als sie ihn zur Zeit hat, eine Gesellschaft,
in der Gemeinsinn und Solidarität wieder einen höheren
Stellenwert hätten. Wer mich kennt, weiß, daß ich dabei
auch an die sinnstiftende Arbeit der Kirchen und Reli-
gionsgemeinschaften denke.

Zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und
nach dem Fall der Mauer sind wir immer noch auf der

Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau






(B)



(A) (C)



(D)


Suche nach einer neuen Ordnung in Europa und welt-
weit. Es gibt die beiden Militärblöcke nicht mehr, die
sich feindlich gegenüberstanden. Wir haben aber noch
nicht die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheits-
ordnung schaffen können, die notwendig wäre, damit
Krieg jedenfalls in Europa kein Mittel der Politik mehr
ist. Von einer neuen Weltfriedensordnung, die das Leit-
bild der globalen nachhaltigen Entwicklung aufnähme,
sind wir noch weit entfernt.

Vor 14 Wochen begann in Jugoslawien, was kaum je-
mand am Ende dieses Jahrhunderts noch für möglich und
nötig gehalten hatte. Die NATO setzte zum erstenmal seit
ihrer Gründung vor 50 Jahren militärische Mittel in Euro-
pa ein, die Bundeswehr nahm an den Kampfeinsätzen teil.
Seit zwei Wochen schweigen die Waffen. Deutsche Sol-
daten wurden im Kosovo als Befreier begrüßt.

Ich bin froh darüber, daß die Hoffnung auf ein Ende
des Krieges, die ich am 23. Mai dieses Jahres geäußert
hatte, in Erfüllung gegangen ist und daß es jetzt um dau-
erhafte Stabilität in Südosteuropa geht. Jetzt wird sich
zeigen, daß der Friede der Ernstfall ist.


(Beifall)

Über die rechtlichen, politischen, militärischen und mo-

ralischen Maßstäbe für die Teilnahme der Bundesrepublik
Deutschland am Militäreinsatz gegen Serbien gab es eine
ungewöhnlich ernsthafte Diskussion, in der dem jeweils
Andersdenkenden weder Moral noch Vernunft bestritten
worden sind. Ich gehöre zu denen, die mit zerrissenem
Herzen gesagt haben: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen,
wenn mitten in Europa Terror und Vertreibung Platz grei-
fen. In einem solchen extremen Ausnahmefall ist auch der
Einsatz militärischer Gewalt gerechtfertigt. Das ist eine
außergewöhnliche Belastung für die betroffenen Soldaten
und für die politische und militärische Führung. Wie diese
Verantwortung wahrgenommen wurde und wird, das hat
das Ansehen unseres Landes in der Welt gemehrt.


(Beifall)

Ich grüße die deutschen Soldaten, und ich grüße die

Angehörigen der Hilfsorganisationen, die jetzt im Koso-
vo dafür arbeiten, daß Menschenwürde und Menschen-
rechte überall und für alle gelten, für Kosovaren und
Serben, für Christen und Muslime.


(Beifall)

Was können und was müssen wir aus der heutigen

Situation im ehemaligen Jugoslawien für die künftige
Politik lernen? Für mich lautet die wichtigste Lehre: Wir
müssen durch vorbeugende Politik die falsche Alternati-
ve, daß wir Schuld auf uns laden durch Wegschauen
oder daß wir Schuld auf uns laden durch den Einsatz
militärischer Mittel, der auch völlig Unschuldige trifft,
zu vermeiden suchen.


(Vereinzelt Beifall)

Eine solche Politik für das friedliche Zusammenleben
der Menschen in ganz Europa muß mit Nachdruck für
die Menschenrechte eintreten, bevor sie durch Vertrei-
bung, Terror oder Mord mißachtet werden.


(Beifall)


Wir brauchen eine Politik, die heute nicht Waffenlie-
ferungen zuläßt, gegen deren Einsatz morgen interve-
niert werden muß.


(Beifall)

Wir brauchen eine unmißverständliche Absage an alle

Spielarten des Nationalismus. Nationalismus und Sepa-
ratismus sind Zwillinge. Nationalismus hat nichts mit
Vaterlandsliebe zu tun, sondern ist der Haß auf die Va-
terländer anderer. Wozu dieser Haß führt, das erleben
wir nicht erst in den vergangenen Monaten und nicht nur
im ehemaligen Jugoslawien.

Ich habe am 23. Mai an die Worte von Willy Brandt
erinnert, daß wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen.
Wer hätte 1969 gedacht, daß wir uns heute darüber freu-
en können, mit allen unseren Nachbarn in einem Zu-
stand zu leben, wie er meinen Vorstellungen von wirkli-
cher Nachbarschaft entspricht? Diese Entwicklung ist
wahrlich nicht allein deutsches Verdienst. Wir haben
Grund, vielen dafür zu danken. Wir tun das am besten
dadurch, daß wir weiter eine treibende Kraft im europäi-
schen Einigungsprozeß sind.

Gute Nachbarschaft – das ist heute europäische In-
nenpolitik. Gute Nachbarschaft brauchen wir aber auch
im eigenen Land: zwischen Menschen unterschiedlicher
Herkunft, unterschiedlicher kultureller Traditionen und
Glaubensüberzeugungen. Toleranz, meine Damen und
Herren, ist kein Schwächeanfall der Demokratie, son-
dern ihr Lebensinhalt.


(Beifall)

Mein Vorgänger, Herr Professor Herzog, hat dazu bei-

getragen, daß die Bildungspolitik wieder zu einem Thema
geworden ist. Ich will das aufnehmen und kann dabei an
vieles anknüpfen aus den Erfahrungen meiner früheren
Arbeit. In der bildungspolitischen Diskussion geht es um
ganz unterschiedliche Themen: um Klassenstärken und
Lehrerversorgung, um Flexibilität und mehr Handlungs-
möglichkeiten für die einzelnen Schulen, um Stundenta-
feln und die technische Ausstattung. All das ist wichtig,
und ich verstehe gut, mit welchem Engagement darüber
diskutiert und gestritten wird. Über all diese wichtigen
Fragen, von der Organisation bis zu den materiellen Res-
sourcen, sollten wir aber das Wesentliche nicht aus dem
Blick verlieren: Was sollen unsere Kinder lernen? Wie
können wir die jungen Menschen heute am besten darauf
vorbereiten und dazu befähigen, die Welt von morgen
mitzugestalten und sich in ihr zurechtzufinden? Welches
Wissen brauchen sie? Welche Fertigkeiten müssen sie be-
herrschen? Welche Einsichten und welche Orientie-
rungsmaßstäbe brauchen sie für ein erfülltes Leben? Das
sind Fragen, die noch zu selten gestellt werden, vielleicht
auch deshalb, weil sie schwer zu beantworten sind.

Keiner von uns weiß, wie die Welt von morgen aus-
sehen wird. Wir wissen nur, daß vieles ganz anders sein
wird als heute. Wir wissen aber nicht, was die Welt von
morgen den Menschen abverlangen wird. Manche glau-
ben, das seien vor allem technische und naturwissen-
schaftliche Kenntnisse; dafür gibt es gute Argumente.
Andere fordern statt dessen eine Renaissance der Gei-
stes- und der Sozialwissenschaften. Sie weisen darauf

Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau






(A) (C)



(B) (D)


hin – ich glaube, daß sie recht haben –, daß Bildung
etwas anderes ist als Fachwissen allein und daß Infor-
mationen allein noch nicht Einsicht vermitteln. Wenn
das richtig ist, dann sollten wir mehr über die Ziele spre-
chen, die wir in unseren Schulen erreicht sehen wollen,
und erst danach über die Instrumente, die dafür am be-
sten geeignet sind.


(Beifall)

Wir sollten an dem Konsens festhalten – oder ihn neu

begründen –, daß ein rohstoffarmes Land wie die Bun-
desrepublik Deutschland nur dann im Interesse aller er-
folgreich sein kann, wenn wir in die Bildung, in die
Ausbildung und in die Qualifikation der Menschen inve-
stieren. Investitionen in die Köpfe bringen dann die
höchsten Erträge, wenn nicht auf kurze Sicht gerechnet
und nicht nur auf bestimmte Segmente gesetzt wird.

So wie vor 20 Jahren niemand in der Lage war, den
genauen Bedarf an Ingenieuren oder Softwareentwick-
lern vorauszusagen, so wenig ist es heute möglich, ver-
gleichbare Prognosen für die nächsten zwei Jahrzehnte
zu machen. Wir wissen nur eines: Die intellektuellen
Anforderungen, die fachlichen und die überfachlichen,
werden nicht geringer werden, sondern weiter zuneh-
men. Auf diese absehbaren Veränderungen müssen wir
die jungen Menschen von heute in unseren Schulen vor-
bereiten.

Bildung und Wissen sind aber mehr als eine Grund-
lage für wirtschaftlichen Erfolg. Wissen läßt sich büf-
feln, aber Begreifen braucht Zeit. Hubert Markl, der Prä-
sident der Max-Planck-Gesellschaft, den viele von uns
kennen und schätzen, hat einmal zu Recht gefragt, was
uns denn Wissensriesen hülfen, wenn sie die Gemüter
von Zwergen hätten.


(Heiterkeit und Beifall)

Meine Damen und Herren, je schnellebiger die Zei-

ten, um so wichtiger werden Orientierung und die Fä-
higkeit, zu unterscheiden zwischen dem, was früher war
und heute überholt ist, und dem, was heute wie gestern
gilt, weil es zeitlos ist. Wenn wir Werte und Tugenden
einklagen oder den Mangel an Werten und Tugenden
beklagen, dann leiden solche Diskussionen nach meiner
Erfahrung häufig an zu hoher Abstraktion. Wo es um
Prinzipien oder um noch Höheres geht, neigen wir dazu
zu vergessen, wie wir leben, was uns prägt, was uns er-
mutigt oder entmutigt. Eine Gesellschaft, in der es
schick ist, von allem den Preis zu kennen und von nichts
den Wert, macht in Wirklichkeit Verluste.


(Beifall)

Erhobene Zeigefinger und Moralpredigten können

fehlende Vorbilder nicht ersetzen. Wenn wir unser Zu-
sammenleben so gestalten, daß die Ehrlichen den Ein-
druck bekommen, sie seien die Dummen, dann ist es
müßig, den Werteverlust auf Akademieveranstaltungen
zu beklagen.


(Beifall)

Wir sollten auch nicht von Werteverlust sprechen,

wenn nicht Werte verlorengehen, sondern wenn sich nur
die für uns gewohnte Form ändert, wie sie gelebt wer-

den. Wir sollten das, was gesellschaftlich zu ordnen und
zu regeln ist, so ordnen und regeln, daß wir Freiheit, Ge-
rechtigkeit und Solidarität fördern. Eine Gesellschaft, in
der alle nur ihre eigenen egoistischen Interessen verfol-
gen, mag auf Sicht erfolgreich sein; überlebensfähig ist
sie nicht.


(Beifall)

Eine Gesellschaft ist ja etwas anderes als die zufällige

Ansammlung von Individuen, die ihrer Wege gehen.
Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität – das sind
Haltungen und Verhaltensweisen, die das Fundament je-
der Gesellschaft sind und kein schmückendes Beiwerk.
Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Solidarität sind
nicht käuflich, aber sie sind unbezahlbar und weder
durch Gesetz noch durch Verordnung zu erzwingen. Sie
müssen praktisch gelebt werden.


(Beifall)

Das soll niemanden an Selbstentfaltung und Selbst-

verwirklichung hindern. In den vergangenen Jahrzehn-
ten ist der Lebensweg einer wachsenden Zahl von Men-
schen in unserem Land nicht mehr vom stummen Zwang
der Verhältnisse bestimmt worden. Sie konnten die
Chance nutzen, ihren eigenen Weg zu gehen. Das ist ein
großer Fortschritt. Freie Entfaltung der Persönlichkeit ist
aber etwas ganz anderes als eine Ego-Gesellschaft, die
in die Selbstisolierung führt.

Die Menschen wollen etwas leisten, und die Gesell-
schaft sollte Leistungen fordern und fördern. Aber man
darf Menschen nicht überfordern. Das gilt in besonderer
Weise für alle, die aus unterschiedlichen Gründen
nichts, noch nichts, nur wenig oder nichts mehr leisten
können. Kinder und Alte gehören ebenso dazu wie gei-
stig und körperlich behinderte Menschen.

Wenn wir von Leistung sprechen, sollten wir auch die
nicht vergessen, die oft ganz viel leisten, deren Leistung
aber in keiner Bilanz erscheint und nicht in den Größen
des Bruttoinlandsprodukts ausgedrückt werden kann.
Jede Gesellschaft braucht möglichst viele, die leistungs-
fähig und leistungswillig sind. Jede Gesellschaft braucht
auch besondere Leistungsträger. Wenn wir der Vielfalt
der tatsächlichen Leistungen gerecht werden wollen,
brauchen wir einen breit angelegten Leistungsbegriff.

Dann wird deutlich: Erfolgreiche Existenzgründer
sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie
ehrenamtliche Jugendtrainer. Chefärzte sind genauso ge-
sellschaftliche Leistungsträger wie Krankenschwestern.
Innovative Forscher sind genauso gesellschaftliche Lei-
stungsträger wie engagierte Betriebsräte. Künstler und
Schriftsteller, die unseren Blick schärfen und unseren
Horizont erweitern, sind genauso gesellschaftliche Lei-
stungsträger wie Wissenschaftler, die unseren medizini-
schen und technischen Blick erweitern.

Meine Damen und Herren, manche von Ihnen werden
wissen, daß ich als junger Mensch Anfang der 50er Jah-
ren in die Politik gegangen bin, weil ich mich mit der
deutschen Teilung nicht abfinden wollte. Gemeinsam
mit Gustav Heinemann und Helene Wessel, mit Diether
Posser, Erhard Eppler und vielen anderen war ich da-
mals in der – nicht gerade erfolgreichen – Gesamtdeut-

Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau






(B)



(A) (C)



(D)


schen Volkspartei. Dies Thema hat mich mein ganzes
Leben lang nicht losgelassen; es hat mich weit über die
politischen Aufgaben hinaus begleitet.

Ich habe es darum als besonderes Glück empfunden,
daß ich an dem Tag, als die Mauer fiel, am 9. November
1989, in Berlin und in Leipzig war. Ich habe am Abend
des 9. November und in den beiden Tagen danach ganz
unmittelbar das ungläubige Staunen, die unbeschreib-
liche Freude der Menschen über die neu gewonnene
Freiheit, für die viele von ihnen Woche für Woche auf
die Straße gegangen waren, miterleben können. Nach
meiner Erfahrung tut es auch der Politik gut, wenn wir
Verantwortliche das Staunen nicht verlernen.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich ungeheuer
viel verändert. Die Menschen in Brandenburg und in
Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und Meck-
lenburg-Vorpommern haben Grund, stolz zu sein auf
große Erfolge beim Aufbau. Nicht jedes offenkundige
Defizit und nicht jeder Mangel, nicht jedes große Pro-
blem, vor dem wir immer noch stehen, kann man als
fehlende innere Einheit im vereinten Deutschland be-
zeichnen. Das ist ein Begriff, der zu Mißverständnissen
verleiten kann. Unsere Aufgabe ist es nicht, daß sich
die 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland mög-
lichst schnell möglichst ähnlich werden. Sie sollen sich
nicht nach einer zentral vorgegebenen Norm entwik-
keln. Wir sollten vielmehr den Föderalismus lebendig
erhalten und weiter stärken, weil aus der Vielfalt eine
Stärke erwächst, von der alle Länder profitieren
können.

Worum es geht, das sind gleiche Lebenschancen für
alle Frauen und Männer – unabhängig davon, ob sie im
Norden oder Süden, im Westen oder Osten Deutsch-
lands aufwachsen und leben. In unserer modernen Ge-
sellschaft sind gleiche Lebenschancen für alle der Kern
der Freiheitsfrage. Die kulturellen, die landsmann-
schaftlichen Unterschiede sollen bleiben, weil die Viel-
falt uns reicher macht; aber die in 40 Jahren gewachse-
nen Nachteile der neuen Länder müssen ausgeglichen
und überwunden werden. Wir brauchen im vereinten
Deutschland genauso wie im europäischen Einigungs-
prozeß die Vielfalt in der Einheit. Dabei sollten wir auch
zehn Jahre nach dem Fall der Mauer nicht vergessen,
daß die Deutschen in der DDR ohne eigenes Verschul-
den die weitaus schwereren Lasten aus der deutschen
Geschichte zu tragen hatten. Sie waren nicht dümmer
und nicht fauler als die Deutschen im Westen, aber unter
den gegebenen Bedingungen konnte ihre Leistungsfä-
higkeit und ihre Leistungsbereitschaft nicht die gleichen
Früchte tragen.

Vor wenigen Wochen haben wir an den 50. Jahrestag
unseres Grundgesetzes erinnert. Wir sagen zu Recht, daß
es die beste Verfassung ist, die sich die Deutschen je ge-
geben haben. Das gilt aber nur, wenn wir das Grundge-
setz jeden Tag neu mit Leben erfüllen. Es ist Wegweiser
und Maßstab für das politische Handeln aller. In den
vergangenen Jahren sind wichtige Teile des Grundgeset-
zes verändert worden, weil sich die gesellschaftliche
Wirklichkeit geändert hatte. Vielen sind diese Verände-
rungen schwergefallen, manchen sind sie zu weit gegan-
gen.

Um so weniger dürfen wir vergessen, daß es viele
Felder gibt, in denen wir die Wirklichkeit noch ent-
schlossener verändern müssen, damit sie sich dem annä-
hert, was wir im Grundgesetz als unsere Ziele festge-
schrieben haben: Die tatsächliche gesellschaftliche
Gleichstellung von Frauen und Männern gehört genauso
dazu wie der nachhaltige Schutz unserer natürlichen Le-
bensgrundlagen und der Auftrag, unsere Gesellschaft als
soziale Demokratie zu gestalten. Gustav Heinemann hat
immer noch recht, daß das Grundgesetz ein großes An-
gebot und keine Fessel ist.

Jeder meiner Vorgänger hat in seiner Zeit dem Amt
des Bundespräsidenten eine eigene Prägung gegeben.
Das war so bei Theodor Heuss und bei Heinrich Lübke,
bei Gustav Heinemann und Walter Scheel, bei Karl Car-
stens und Richard von Weizsäcker und bei Ihnen, lieber
Herr Bundespräsident Herzog. Jeder hat seine besonde-
ren Fähigkeiten und Gaben in das Amt einzubringen
versucht, und doch waren sie alle Repräsentanten des
ganzen Deutschlands.

Ich sehe heute für das Amt des Bundespräsidenten
eine doppelte Aufgabe: Er muß für die Deutschen spre-
chen, und er muß Minderheiten zur Sprache verhelfen.
Ich will das mit meinen Gaben und auf meine Weise tun.
Jeder soll wissen, daß ich Zuversicht und Kraft aus dem
christlichen Glauben schöpfe und daß ich Respekt vor
allen habe, die ihr Leben auf andere Fundamente grün-
den. Ich will zuhören, damit niemand ungehört bleibt.
Ich will Gesprächsfäden neu knüpfen, wo sie abgerissen
sind, zwischen Ost und West, zwischen Jung und Alt.
Ich will zur Öffentlichkeit verhelfen, was in die gesell-
schaftliche Debatte gehört. Ich will alle – in Betrieben
und Verwaltungen, in Hochschulen und Parteien, in
Akademien und Bürgerinitiativen, in den Medien und
Verbänden –, die an der Zukunft unseres Landes arbei-
ten, ermutigen.

Ich wünsche mir, daß wir Deutsche unsere Zukunft in
Europa und in der e i n e n Welt gemeinsam mit unseren
Nachbarn und Partnern zuversichtlich und mutig gestal-
ten – nicht kleinmütig und nicht übermütig. Das wird
gelingen, wenn wir Selbstvertrauen und Verantwortung
zusammenbringen und wenn alle die eigenen Chancen
so nutzen, daß auch das allgemeine Wohl gemehrt wird.

Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405100600
Ich danke Ihnen,
Herr Bundespräsident.

Wir singen nun gemeinsam unsere Nationalhymne.

(Die Anwesenden erheben sich und stimmen die Nationalhymne an)

Mit den besten Wünschen für Sie und für Deutsch-

land schließe ich die gemeinsame Sitzung von Bundes-
tag und Bundesrat. Wir sehen uns wieder in Berlin.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Beifall)