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ID1405100400

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    Plenarprotokoll 14/51 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 51. Sitzung zugleich 740. Sitzung des Bundesrates Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 I n h a l t : Eidesleistung des Bundespräsidenten ge- mäß Artikel 56 Grundgesetz ......................... 4364 A Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse...................... 4357 A Ansprache des Präsidenten des Bundesrates Roland Koch................................................... 4359 B Ansprache des scheidenden Bundespräsiden- ten Dr. Roman Herzog ................................... 4361 B Eidesleistung des Bundespräsidenten Dr. h. c. Johannes Rau ................................................. 4364 A Ansprache des Bundespräsidenten Dr. h. c. Johannes Rau ................................................. 4364 A Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 4369 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4357 (A) (C) (B) (D) 51. Sitzung zugleich 740. Sitzung des Bundesrates Bonn, den 1. Juli 1999 Beginn: 13.01 Uhr
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    Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 51. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4369 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 1.7.99 Bleser, Peter CDU/CSU 1.7.99 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 1.7.99 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 1.7.99 Gebhardt, Fred PDS 1.7.99 Gilges, Konrad SPD 1.7.99 Hartenbach, Alfred SPD 1.7.99 Hovermann, Eike SPD 1.7.99 Hübner, Carsten PDS 1.7.99 Ibrügger, Lothar SPD 1.7.99 Irmer, Ulrich F.D.P. 1.7.99 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 1.7.99 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Koschyk, Hartmut CDU/CSU 1.7.99 Lensing, Werner CDU/CSU 1.7.99 Ostrowski, Christine PDS 1.7.99 Reiche, Katherina CDU/CSU 1.7.99 Roos, Gudrun SPD 1.7.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 1.7.99 Scheffler, Siegfried SPD 1.7.99 Schindler, Norbert CDU/CSU 1.7.99 Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard F.D.P. 1.7.99 Schöler, Walter SPD 1.7.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 1.7.99 Schulz (Everswinkel), Reinhard SPD 1.7.99 Schurer, Ewald SPD 1.7.99 Sothmann, Bärbel CDU/CSU 1.7.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Uldall, Gunnar CDU/CSU 1.7.99 Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Ich
    schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen
    Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von
    ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun-
    des wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissen-
    haft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben
    werde. So wahr mir Gott helfe.



Rede von Dr. h.c. Wolfgang Thierse
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich stelle fest: Der
Herr Bundespräsident hat den vorgeschriebenen Amts-
eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Amt und
wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen für Sie und
für unser Vaterland.


(Beifall)

Das Wort hat nun der Herr Bundespräsident.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr
    Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Ich
    danke für die guten Wünsche, die ich heute von dieser
    Stelle aus mit auf den Weg bekommen habe. Ich emp-
    finde sie ebenso als Ansporn und Ermutigung wie die
    große Mehrheit der vielen Briefe, die mich seit dem
    23. Mai erreicht haben. Ich freue mich über das große
    Vertrauen, das viele in mich setzen. Das ist mir genauso
    ernsthafte Verpflichtung, wie ich für die kommenden
    Jahre kritische Wegbegleitung erbitte.

    Mein besonderer Dank gilt heute dem Mann, dessen
    Mitbewerber ich vor fünf Jahren war und dem ich heute
    nachfolge: Professor Dr. Roman Herzog. Lieber Herr
    Herzog, fünf Jahre lang haben Sie unser Land in aller
    Welt repräsentiert. Sie haben das auf Ihre unverwechsel-
    bare Art und Weise und mit Ihrem Temperament getan:
    mit klarer Sprache, direkt, ohne Schnörkel und unver-
    blümt. Jeder konnte spüren, was Ihnen wichtig war, und
    auch, daß Sie sich selber nicht für am wichtigsten hielten.
    Dazu haben Sie mit Ihrem Witz und Ihrer Selbstironie
    beigetragen, auch heute wieder – Eigenschaften, die deut-
    schen Hochschullehrern, zumal der Jurisprudenz, durch-
    aus nicht allgemein nachgesagt werden.


    (Heiterkeit und Beifall)

    Das, was Sie zur jüngeren deutschen und europäi-

    schen Geschichte gesagt haben, und auch, daß Sie zur
    richtigen Zeit und am richtigen Ort geschwiegen haben,
    hat das Vertrauen in unser Land gestärkt. Dafür danke
    ich Ihnen. Vor Ihnen liegen jetzt Jahre, in denen Sie sich
    wieder der Wissenschaft widmen wollen. Da darf man
    gespannt sein: Welche Konsequenzen werden die prakti-
    schen Erfahrungen des Bundespräsidenten Roman Her-
    zog für den Grundgesetz-Kommentar des Staatsrechtlers
    Roman Herzog haben? Zuletzt haben Sie 1986 den
    Art. 54 unseres Grundgesetzes kommentiert, der die
    Aufgaben des Bundespräsidenten beschreibt. Ob wir mit
    einer baldigen Neukommentierung im Lichte eigener Er-
    fahrungen rechnen dürfen?

    Herzlichen Dank sage ich auch Ihnen, liebe Frau Her-
    zog. Ihnen ist es neben all den Aufgaben als Frau des

    Bundespräsidenten gelungen, mit großem Einsatz öf-
    fentliche Aufmerksamkeit für eine Krankheit zu wecken,
    die viele vorher nicht gekannt hatten, und dadurch vielen
    kranken Menschen zu helfen.

    Ganz besonders grüße ich von dieser Stelle aus auch
    zwei meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten:
    Richard von Weizsäcker, dem ich seit Jahrzehnten
    freundschaftlich verbunden bin, und meinen bergischen
    Landsmann Walter Scheel, der in der kommenden
    Woche seinen 80. Geburtstag feiern kann.


    (Beifall)

    Meine Damen und Herren, heute in sechs Monaten

    schreiben wir den 1. Januar 2000. Das Jahr 2000 ge-
    winnt in manchen öffentlichen Diskussionen einen
    Stellenwert, der ans Unwirkliche grenzt. Das gilt in an-
    derer Weise auch für den Gebrauch des Begriffs Globa-
    lisierung. Wenn von Globalisierung die Rede ist, dann
    klingt das manchmal wie die Verheißung eines neuen
    Goldenen Zeitalters, manchmal aber auch, als würden
    alle Übel der Welt auf einen Begriff gebracht.

    Beides scheint mir falsch zu sein. Die Globalisierung
    bietet uns Deutschen und aller Welt große Chancen –
    wenn wir sie recht verstehen und richtig gestalten. Tat-
    sächlich ist Globalisierung ja nichts anderes als die Ein-
    sicht, daß wir in unserer e i n e n Welt stärker denn je
    voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind.
    Kein Land kann heute mehr sicher sein, daß eigene
    Fehler oder Fehler anderer nur deshalb ohne Folgen
    bleiben, weil es weit genug entfernt liegt, weil es wirt-
    schaftlich leistungsfähiger, politisch einflußreicher oder
    militärisch stärker als andere ist. Weil uns das, was an-
    dere tun, selber mittelbar oder unmittelbar betrifft, kann
    es uns heute weniger denn je gleichgültig lassen, was in
    der Welt geschieht.

    Freilich: Nicht jedes Land hat politisch und auch nicht
    jedes Unternehmen hat wirtschaftlich das gleiche Ge-
    wicht. Einige können stärker dazu beitragen, daß alle
    Vorteile oder Nachteile haben. Man braucht kein Kenner
    und kein Liebhaber der Chaostheorie zu sein, um zu wis-
    sen, daß kleinste Veränderungen an einer Stelle ganz un-
    vermutete und oft große Folgen an anderer Stelle haben.

    Die Globalisierung der Wirtschaft hat besondere Be-
    deutung. Sie stellt an uns alle die Frage neu nach dem
    richtigen Verhältnis zwischen privat bestimmtem wirt-
    schaftlichen Handeln und demokratisch bestimmtem öf-
    fentlichen Handeln. Verantwortliche Politik muß dieses
    Verhältnis neu ordnen und muß die Frage beantworten,
    welche öffentlichen Aufgaben regional, welche national
    und welche nur international erfolgreich gelöst werden
    können.

    Dabei will, soweit ich sehe, niemand alte Schlachten
    schlagen. Daß der Markt als Mechanismus des Wirt-
    schaftslebens allen anderen Prinzipien überlegen ist,
    wird nirgendwo und von niemandem mehr ernsthaft be-
    stritten. Ganz unterschiedliche Auffassungen gibt es
    aber darüber, was der Markt kann, welchen Rahmen er
    braucht und welche Grenzen ihm politisch gesetzt wer-
    den müssen. Genau darum – um nicht weniger und um
    nicht mehr – geht der wesentliche gesellschaftspolitische
    Streit nicht nur bei uns in der Bundesrepublik Deutsch-

    Präsident Wolfgang Thierse






    (A) (C)



    (B) (D)


    land. Darüber streiten Wissenschaftler und Politiker,
    Gewerkschafter, Unternehmer und Intellektuelle in
    Frankreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika
    genauso wie in Japan und Großbritannien.

    Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von den politi-
    schen Parteien Antworten darauf, wie privates Wirt-
    schaften und öffentliche Verantwortung in Zeiten der
    Globalisierung im Interesse aller in ein neues Gleichge-
    wicht gebracht werden können. Die Frage, wie das Span-
    nungsverhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und So-
    lidarität bei uns zu Hause und im Weltmaßstab gelöst
    werden soll, muß in ungezählten praktischen Fällen im-
    mer wieder neu beantwortet werden. Maßstäbe dafür bie-
    ten weder die Betriebswirtschafts- noch die Volkswirt-
    schaftslehre. Es kommt darauf an, welches Bild vom
    Menschen und welches Bild vom Zusammenleben der
    Menschen wir haben. Das ist eine Frage, die jeden einzel-
    nen angeht und die – bewußt oder unbewußt – unser Han-
    deln prägt. Die Politik darf dieser Frage nicht ausweichen,
    weder durch Flucht in weltfremde Ideologien noch durch
    das Verstecken hinter angeblichen Sachzwängen.


    (Beifall)

    In der Politik geht es nicht um letzte Wahrheiten,

    sondern um richtige Lösungen. Der politische Streit
    sollte jeweils um die Frage gehen, welcher Vorschlag
    der beste im Interesse aller oder im Interesse der vielen
    ist. Nur dann kann etwas von dem aufscheinen, was
    Hannah Arendt in die Worte gefaßt hat: „Politik ist an-
    gewandte Liebe zur Welt.“


    (Beifall)

    Wir politisch Verantwortlichen müssen die Bürgerin-

    nen und Bürger ernst nehmen. Wir dürfen sie weder in
    Angst und Schrecken versetzen noch in falscher Sicher-
    heit wiegen. Sie wollen wissen, woran Sie sind. Sie haben
    Anspruch darauf zu erfahren, was die Politik will und
    worin sich die politischen Parteien unterscheiden. In der
    Demokratie ist es unerläßlich, daß die politischen Parteien
    deutlich machen: Es gibt Wege in die Zukunft, auch ganz
    unterschiedliche Wege, jenseits von Beliebigkeit und
    Prinzipienreiterei. In der Demokratie geht es nur in ex-
    tremen Ausnahmefällen um „alles oder nichts“. Darum ist
    es bei aller Grundsatztreue besser, kleine Schritte wirklich
    zu gehen, als darüber zu klagen, daß sich die Menschen
    für den großen Wurf nicht begeistern können.

    Das bedeutet nicht, auf weitgesteckte Ziele zu ver-
    zichten. Im Gegenteil: Weil der Weg zu einem politi-
    schen Ziel oft um viele Ecken und über viele Umwege
    führt, sind Weitsicht und Vorausdenken besonders
    wichtig. Stärker denn je müssen wir daran denken, wel-
    che Folgen politische Entscheidungen von heute für das
    Leben künftiger Generationen haben. Es gibt einen
    Egoismus des Gegenwärtigen zu Lasten der Zukunft,
    den ich für nicht erlaubt halte,


    (Beifall)

    für den wir alle aber Beispiele kennen.

    Wenn wir die Chancen der Globalisierung nutzen
    wollen, dann muß die Politik sie aktiv gestalten. Das gilt
    für die soziale und für die ökologische Dimension wirt-
    schaftlichen Handelns genauso wie für die Gestaltung
    des technischen Fortschritts. Diesen Rahmen kann am

    besten eine demokratische und soziale Rechtsordnung
    setzen, die über den Nationalstaat hinausreicht. Wir
    müssen die politischen Konsequenzen aus der wirt-
    schaftlichen Globalisierung ziehen.

    Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt nach
    meiner Überzeugung, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
    Das ist in erster Linie Aufgabe der Unternehmen. Die
    Politik muß für Angebot und Nachfrage den richtigen
    Rahmen setzen und die richtigen Impulse geben. Neue
    Arbeitsplätze entstehen nicht auf Knopfdruck, und es
    gibt für sie kein Patentrezept. Wir brauchen ein Bündel
    von Initiativen, damit alle, die arbeiten können, ihren
    Lebensunterhalt auch tatsächlich selber erarbeiten kön-
    nen. Wir brauchen mehr Gründungen, mehr Spitzen-
    technik und mehr Investitionen in Bildung, Wissenschaft
    und Forschung. Wir brauchen intelligente Arbeitszeitre-
    gelungen, die auch längere Betriebszeiten mit kürzeren
    Arbeitszeiten verbinden. Wir brauchen geringere Lohn-
    nebenkosten und weniger Überstunden. Keine Diskus-
    sion um das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ kann und
    darf verdecken, daß es für die allermeisten Menschen –
    aus finanziellen, aber auch aus sozialen Gründen – keine
    Alternative zur Erwerbsarbeit gibt.


    (Beifall)

    Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, daß wir die

    Arbeit so organisieren und fortentwickeln, daß die Be-
    dürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirt-
    schaftens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Ar-
    beit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbar
    einen Wert. In ihr – das gibt ihr einen weiteren Wert –
    entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Darum
    hat Hans Küng recht, wenn er sagt: „Ohne sinnvolle Ar-
    beit geht ein Stück Menschenwürde verloren.“


    (Beifall)

    Darum ist es alles andere als eine akademische

    Betrachtung, auf den Wert der Arbeit für das Selbst-
    wertgefühl von Menschen und für den Zusammenhalt
    von Staat und Gesellschaft hinzuweisen. Wer in der Ar-
    beit nur einen reinen Kostenfaktor sieht, dessen Preis
    soweit wie möglich gedrückt werden muß – so wichtig
    der Anteil der Löhne am wirtschaftlichen Prozeß auch
    ist –, der hantiert mit sozialem Sprengstoff und rüttelt an
    den Grundfesten unserer westlichen Zivilisation – ob
    ihm das bewußt ist oder nicht.


    (Beifall)

    Es mag sein, daß wir auf lange Sicht eine neue Ein-

    stellung zur Arbeit bekommen. Bei tendenziell sinken-
    der Arbeitszeit könnten mehr Menschen mehr Zeit fin-
    den für aktive Nachbarschaftshilfe, für ehrenamtliches
    Wirken in Vereinen, aber auch für die Pflege der Städte
    und die Bewahrung und Förderung von Kultur und
    Kunst, mehr Zeit auch für Eigenarbeit. Das wäre eine
    Gesellschaft, die einen stärkeren inneren Zusammenhalt
    haben könnte, als sie ihn zur Zeit hat, eine Gesellschaft,
    in der Gemeinsinn und Solidarität wieder einen höheren
    Stellenwert hätten. Wer mich kennt, weiß, daß ich dabei
    auch an die sinnstiftende Arbeit der Kirchen und Reli-
    gionsgemeinschaften denke.

    Zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und
    nach dem Fall der Mauer sind wir immer noch auf der

    Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Suche nach einer neuen Ordnung in Europa und welt-
    weit. Es gibt die beiden Militärblöcke nicht mehr, die
    sich feindlich gegenüberstanden. Wir haben aber noch
    nicht die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheits-
    ordnung schaffen können, die notwendig wäre, damit
    Krieg jedenfalls in Europa kein Mittel der Politik mehr
    ist. Von einer neuen Weltfriedensordnung, die das Leit-
    bild der globalen nachhaltigen Entwicklung aufnähme,
    sind wir noch weit entfernt.

    Vor 14 Wochen begann in Jugoslawien, was kaum je-
    mand am Ende dieses Jahrhunderts noch für möglich und
    nötig gehalten hatte. Die NATO setzte zum erstenmal seit
    ihrer Gründung vor 50 Jahren militärische Mittel in Euro-
    pa ein, die Bundeswehr nahm an den Kampfeinsätzen teil.
    Seit zwei Wochen schweigen die Waffen. Deutsche Sol-
    daten wurden im Kosovo als Befreier begrüßt.

    Ich bin froh darüber, daß die Hoffnung auf ein Ende
    des Krieges, die ich am 23. Mai dieses Jahres geäußert
    hatte, in Erfüllung gegangen ist und daß es jetzt um dau-
    erhafte Stabilität in Südosteuropa geht. Jetzt wird sich
    zeigen, daß der Friede der Ernstfall ist.


    (Beifall)

    Über die rechtlichen, politischen, militärischen und mo-

    ralischen Maßstäbe für die Teilnahme der Bundesrepublik
    Deutschland am Militäreinsatz gegen Serbien gab es eine
    ungewöhnlich ernsthafte Diskussion, in der dem jeweils
    Andersdenkenden weder Moral noch Vernunft bestritten
    worden sind. Ich gehöre zu denen, die mit zerrissenem
    Herzen gesagt haben: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen,
    wenn mitten in Europa Terror und Vertreibung Platz grei-
    fen. In einem solchen extremen Ausnahmefall ist auch der
    Einsatz militärischer Gewalt gerechtfertigt. Das ist eine
    außergewöhnliche Belastung für die betroffenen Soldaten
    und für die politische und militärische Führung. Wie diese
    Verantwortung wahrgenommen wurde und wird, das hat
    das Ansehen unseres Landes in der Welt gemehrt.


    (Beifall)

    Ich grüße die deutschen Soldaten, und ich grüße die

    Angehörigen der Hilfsorganisationen, die jetzt im Koso-
    vo dafür arbeiten, daß Menschenwürde und Menschen-
    rechte überall und für alle gelten, für Kosovaren und
    Serben, für Christen und Muslime.


    (Beifall)

    Was können und was müssen wir aus der heutigen

    Situation im ehemaligen Jugoslawien für die künftige
    Politik lernen? Für mich lautet die wichtigste Lehre: Wir
    müssen durch vorbeugende Politik die falsche Alternati-
    ve, daß wir Schuld auf uns laden durch Wegschauen
    oder daß wir Schuld auf uns laden durch den Einsatz
    militärischer Mittel, der auch völlig Unschuldige trifft,
    zu vermeiden suchen.


    (Vereinzelt Beifall)

    Eine solche Politik für das friedliche Zusammenleben
    der Menschen in ganz Europa muß mit Nachdruck für
    die Menschenrechte eintreten, bevor sie durch Vertrei-
    bung, Terror oder Mord mißachtet werden.


    (Beifall)


    Wir brauchen eine Politik, die heute nicht Waffenlie-
    ferungen zuläßt, gegen deren Einsatz morgen interve-
    niert werden muß.


    (Beifall)

    Wir brauchen eine unmißverständliche Absage an alle

    Spielarten des Nationalismus. Nationalismus und Sepa-
    ratismus sind Zwillinge. Nationalismus hat nichts mit
    Vaterlandsliebe zu tun, sondern ist der Haß auf die Va-
    terländer anderer. Wozu dieser Haß führt, das erleben
    wir nicht erst in den vergangenen Monaten und nicht nur
    im ehemaligen Jugoslawien.

    Ich habe am 23. Mai an die Worte von Willy Brandt
    erinnert, daß wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen.
    Wer hätte 1969 gedacht, daß wir uns heute darüber freu-
    en können, mit allen unseren Nachbarn in einem Zu-
    stand zu leben, wie er meinen Vorstellungen von wirkli-
    cher Nachbarschaft entspricht? Diese Entwicklung ist
    wahrlich nicht allein deutsches Verdienst. Wir haben
    Grund, vielen dafür zu danken. Wir tun das am besten
    dadurch, daß wir weiter eine treibende Kraft im europäi-
    schen Einigungsprozeß sind.

    Gute Nachbarschaft – das ist heute europäische In-
    nenpolitik. Gute Nachbarschaft brauchen wir aber auch
    im eigenen Land: zwischen Menschen unterschiedlicher
    Herkunft, unterschiedlicher kultureller Traditionen und
    Glaubensüberzeugungen. Toleranz, meine Damen und
    Herren, ist kein Schwächeanfall der Demokratie, son-
    dern ihr Lebensinhalt.


    (Beifall)

    Mein Vorgänger, Herr Professor Herzog, hat dazu bei-

    getragen, daß die Bildungspolitik wieder zu einem Thema
    geworden ist. Ich will das aufnehmen und kann dabei an
    vieles anknüpfen aus den Erfahrungen meiner früheren
    Arbeit. In der bildungspolitischen Diskussion geht es um
    ganz unterschiedliche Themen: um Klassenstärken und
    Lehrerversorgung, um Flexibilität und mehr Handlungs-
    möglichkeiten für die einzelnen Schulen, um Stundenta-
    feln und die technische Ausstattung. All das ist wichtig,
    und ich verstehe gut, mit welchem Engagement darüber
    diskutiert und gestritten wird. Über all diese wichtigen
    Fragen, von der Organisation bis zu den materiellen Res-
    sourcen, sollten wir aber das Wesentliche nicht aus dem
    Blick verlieren: Was sollen unsere Kinder lernen? Wie
    können wir die jungen Menschen heute am besten darauf
    vorbereiten und dazu befähigen, die Welt von morgen
    mitzugestalten und sich in ihr zurechtzufinden? Welches
    Wissen brauchen sie? Welche Fertigkeiten müssen sie be-
    herrschen? Welche Einsichten und welche Orientie-
    rungsmaßstäbe brauchen sie für ein erfülltes Leben? Das
    sind Fragen, die noch zu selten gestellt werden, vielleicht
    auch deshalb, weil sie schwer zu beantworten sind.

    Keiner von uns weiß, wie die Welt von morgen aus-
    sehen wird. Wir wissen nur, daß vieles ganz anders sein
    wird als heute. Wir wissen aber nicht, was die Welt von
    morgen den Menschen abverlangen wird. Manche glau-
    ben, das seien vor allem technische und naturwissen-
    schaftliche Kenntnisse; dafür gibt es gute Argumente.
    Andere fordern statt dessen eine Renaissance der Gei-
    stes- und der Sozialwissenschaften. Sie weisen darauf

    Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau






    (A) (C)



    (B) (D)


    hin – ich glaube, daß sie recht haben –, daß Bildung
    etwas anderes ist als Fachwissen allein und daß Infor-
    mationen allein noch nicht Einsicht vermitteln. Wenn
    das richtig ist, dann sollten wir mehr über die Ziele spre-
    chen, die wir in unseren Schulen erreicht sehen wollen,
    und erst danach über die Instrumente, die dafür am be-
    sten geeignet sind.


    (Beifall)

    Wir sollten an dem Konsens festhalten – oder ihn neu

    begründen –, daß ein rohstoffarmes Land wie die Bun-
    desrepublik Deutschland nur dann im Interesse aller er-
    folgreich sein kann, wenn wir in die Bildung, in die
    Ausbildung und in die Qualifikation der Menschen inve-
    stieren. Investitionen in die Köpfe bringen dann die
    höchsten Erträge, wenn nicht auf kurze Sicht gerechnet
    und nicht nur auf bestimmte Segmente gesetzt wird.

    So wie vor 20 Jahren niemand in der Lage war, den
    genauen Bedarf an Ingenieuren oder Softwareentwick-
    lern vorauszusagen, so wenig ist es heute möglich, ver-
    gleichbare Prognosen für die nächsten zwei Jahrzehnte
    zu machen. Wir wissen nur eines: Die intellektuellen
    Anforderungen, die fachlichen und die überfachlichen,
    werden nicht geringer werden, sondern weiter zuneh-
    men. Auf diese absehbaren Veränderungen müssen wir
    die jungen Menschen von heute in unseren Schulen vor-
    bereiten.

    Bildung und Wissen sind aber mehr als eine Grund-
    lage für wirtschaftlichen Erfolg. Wissen läßt sich büf-
    feln, aber Begreifen braucht Zeit. Hubert Markl, der Prä-
    sident der Max-Planck-Gesellschaft, den viele von uns
    kennen und schätzen, hat einmal zu Recht gefragt, was
    uns denn Wissensriesen hülfen, wenn sie die Gemüter
    von Zwergen hätten.


    (Heiterkeit und Beifall)

    Meine Damen und Herren, je schnellebiger die Zei-

    ten, um so wichtiger werden Orientierung und die Fä-
    higkeit, zu unterscheiden zwischen dem, was früher war
    und heute überholt ist, und dem, was heute wie gestern
    gilt, weil es zeitlos ist. Wenn wir Werte und Tugenden
    einklagen oder den Mangel an Werten und Tugenden
    beklagen, dann leiden solche Diskussionen nach meiner
    Erfahrung häufig an zu hoher Abstraktion. Wo es um
    Prinzipien oder um noch Höheres geht, neigen wir dazu
    zu vergessen, wie wir leben, was uns prägt, was uns er-
    mutigt oder entmutigt. Eine Gesellschaft, in der es
    schick ist, von allem den Preis zu kennen und von nichts
    den Wert, macht in Wirklichkeit Verluste.


    (Beifall)

    Erhobene Zeigefinger und Moralpredigten können

    fehlende Vorbilder nicht ersetzen. Wenn wir unser Zu-
    sammenleben so gestalten, daß die Ehrlichen den Ein-
    druck bekommen, sie seien die Dummen, dann ist es
    müßig, den Werteverlust auf Akademieveranstaltungen
    zu beklagen.


    (Beifall)

    Wir sollten auch nicht von Werteverlust sprechen,

    wenn nicht Werte verlorengehen, sondern wenn sich nur
    die für uns gewohnte Form ändert, wie sie gelebt wer-

    den. Wir sollten das, was gesellschaftlich zu ordnen und
    zu regeln ist, so ordnen und regeln, daß wir Freiheit, Ge-
    rechtigkeit und Solidarität fördern. Eine Gesellschaft, in
    der alle nur ihre eigenen egoistischen Interessen verfol-
    gen, mag auf Sicht erfolgreich sein; überlebensfähig ist
    sie nicht.


    (Beifall)

    Eine Gesellschaft ist ja etwas anderes als die zufällige

    Ansammlung von Individuen, die ihrer Wege gehen.
    Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität – das sind
    Haltungen und Verhaltensweisen, die das Fundament je-
    der Gesellschaft sind und kein schmückendes Beiwerk.
    Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Solidarität sind
    nicht käuflich, aber sie sind unbezahlbar und weder
    durch Gesetz noch durch Verordnung zu erzwingen. Sie
    müssen praktisch gelebt werden.


    (Beifall)

    Das soll niemanden an Selbstentfaltung und Selbst-

    verwirklichung hindern. In den vergangenen Jahrzehn-
    ten ist der Lebensweg einer wachsenden Zahl von Men-
    schen in unserem Land nicht mehr vom stummen Zwang
    der Verhältnisse bestimmt worden. Sie konnten die
    Chance nutzen, ihren eigenen Weg zu gehen. Das ist ein
    großer Fortschritt. Freie Entfaltung der Persönlichkeit ist
    aber etwas ganz anderes als eine Ego-Gesellschaft, die
    in die Selbstisolierung führt.

    Die Menschen wollen etwas leisten, und die Gesell-
    schaft sollte Leistungen fordern und fördern. Aber man
    darf Menschen nicht überfordern. Das gilt in besonderer
    Weise für alle, die aus unterschiedlichen Gründen
    nichts, noch nichts, nur wenig oder nichts mehr leisten
    können. Kinder und Alte gehören ebenso dazu wie gei-
    stig und körperlich behinderte Menschen.

    Wenn wir von Leistung sprechen, sollten wir auch die
    nicht vergessen, die oft ganz viel leisten, deren Leistung
    aber in keiner Bilanz erscheint und nicht in den Größen
    des Bruttoinlandsprodukts ausgedrückt werden kann.
    Jede Gesellschaft braucht möglichst viele, die leistungs-
    fähig und leistungswillig sind. Jede Gesellschaft braucht
    auch besondere Leistungsträger. Wenn wir der Vielfalt
    der tatsächlichen Leistungen gerecht werden wollen,
    brauchen wir einen breit angelegten Leistungsbegriff.

    Dann wird deutlich: Erfolgreiche Existenzgründer
    sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie
    ehrenamtliche Jugendtrainer. Chefärzte sind genauso ge-
    sellschaftliche Leistungsträger wie Krankenschwestern.
    Innovative Forscher sind genauso gesellschaftliche Lei-
    stungsträger wie engagierte Betriebsräte. Künstler und
    Schriftsteller, die unseren Blick schärfen und unseren
    Horizont erweitern, sind genauso gesellschaftliche Lei-
    stungsträger wie Wissenschaftler, die unseren medizini-
    schen und technischen Blick erweitern.

    Meine Damen und Herren, manche von Ihnen werden
    wissen, daß ich als junger Mensch Anfang der 50er Jah-
    ren in die Politik gegangen bin, weil ich mich mit der
    deutschen Teilung nicht abfinden wollte. Gemeinsam
    mit Gustav Heinemann und Helene Wessel, mit Diether
    Posser, Erhard Eppler und vielen anderen war ich da-
    mals in der – nicht gerade erfolgreichen – Gesamtdeut-

    Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    schen Volkspartei. Dies Thema hat mich mein ganzes
    Leben lang nicht losgelassen; es hat mich weit über die
    politischen Aufgaben hinaus begleitet.

    Ich habe es darum als besonderes Glück empfunden,
    daß ich an dem Tag, als die Mauer fiel, am 9. November
    1989, in Berlin und in Leipzig war. Ich habe am Abend
    des 9. November und in den beiden Tagen danach ganz
    unmittelbar das ungläubige Staunen, die unbeschreib-
    liche Freude der Menschen über die neu gewonnene
    Freiheit, für die viele von ihnen Woche für Woche auf
    die Straße gegangen waren, miterleben können. Nach
    meiner Erfahrung tut es auch der Politik gut, wenn wir
    Verantwortliche das Staunen nicht verlernen.

    In den vergangenen zehn Jahren hat sich ungeheuer
    viel verändert. Die Menschen in Brandenburg und in
    Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und Meck-
    lenburg-Vorpommern haben Grund, stolz zu sein auf
    große Erfolge beim Aufbau. Nicht jedes offenkundige
    Defizit und nicht jeder Mangel, nicht jedes große Pro-
    blem, vor dem wir immer noch stehen, kann man als
    fehlende innere Einheit im vereinten Deutschland be-
    zeichnen. Das ist ein Begriff, der zu Mißverständnissen
    verleiten kann. Unsere Aufgabe ist es nicht, daß sich
    die 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland mög-
    lichst schnell möglichst ähnlich werden. Sie sollen sich
    nicht nach einer zentral vorgegebenen Norm entwik-
    keln. Wir sollten vielmehr den Föderalismus lebendig
    erhalten und weiter stärken, weil aus der Vielfalt eine
    Stärke erwächst, von der alle Länder profitieren
    können.

    Worum es geht, das sind gleiche Lebenschancen für
    alle Frauen und Männer – unabhängig davon, ob sie im
    Norden oder Süden, im Westen oder Osten Deutsch-
    lands aufwachsen und leben. In unserer modernen Ge-
    sellschaft sind gleiche Lebenschancen für alle der Kern
    der Freiheitsfrage. Die kulturellen, die landsmann-
    schaftlichen Unterschiede sollen bleiben, weil die Viel-
    falt uns reicher macht; aber die in 40 Jahren gewachse-
    nen Nachteile der neuen Länder müssen ausgeglichen
    und überwunden werden. Wir brauchen im vereinten
    Deutschland genauso wie im europäischen Einigungs-
    prozeß die Vielfalt in der Einheit. Dabei sollten wir auch
    zehn Jahre nach dem Fall der Mauer nicht vergessen,
    daß die Deutschen in der DDR ohne eigenes Verschul-
    den die weitaus schwereren Lasten aus der deutschen
    Geschichte zu tragen hatten. Sie waren nicht dümmer
    und nicht fauler als die Deutschen im Westen, aber unter
    den gegebenen Bedingungen konnte ihre Leistungsfä-
    higkeit und ihre Leistungsbereitschaft nicht die gleichen
    Früchte tragen.

    Vor wenigen Wochen haben wir an den 50. Jahrestag
    unseres Grundgesetzes erinnert. Wir sagen zu Recht, daß
    es die beste Verfassung ist, die sich die Deutschen je ge-
    geben haben. Das gilt aber nur, wenn wir das Grundge-
    setz jeden Tag neu mit Leben erfüllen. Es ist Wegweiser
    und Maßstab für das politische Handeln aller. In den
    vergangenen Jahren sind wichtige Teile des Grundgeset-
    zes verändert worden, weil sich die gesellschaftliche
    Wirklichkeit geändert hatte. Vielen sind diese Verände-
    rungen schwergefallen, manchen sind sie zu weit gegan-
    gen.

    Um so weniger dürfen wir vergessen, daß es viele
    Felder gibt, in denen wir die Wirklichkeit noch ent-
    schlossener verändern müssen, damit sie sich dem annä-
    hert, was wir im Grundgesetz als unsere Ziele festge-
    schrieben haben: Die tatsächliche gesellschaftliche
    Gleichstellung von Frauen und Männern gehört genauso
    dazu wie der nachhaltige Schutz unserer natürlichen Le-
    bensgrundlagen und der Auftrag, unsere Gesellschaft als
    soziale Demokratie zu gestalten. Gustav Heinemann hat
    immer noch recht, daß das Grundgesetz ein großes An-
    gebot und keine Fessel ist.

    Jeder meiner Vorgänger hat in seiner Zeit dem Amt
    des Bundespräsidenten eine eigene Prägung gegeben.
    Das war so bei Theodor Heuss und bei Heinrich Lübke,
    bei Gustav Heinemann und Walter Scheel, bei Karl Car-
    stens und Richard von Weizsäcker und bei Ihnen, lieber
    Herr Bundespräsident Herzog. Jeder hat seine besonde-
    ren Fähigkeiten und Gaben in das Amt einzubringen
    versucht, und doch waren sie alle Repräsentanten des
    ganzen Deutschlands.

    Ich sehe heute für das Amt des Bundespräsidenten
    eine doppelte Aufgabe: Er muß für die Deutschen spre-
    chen, und er muß Minderheiten zur Sprache verhelfen.
    Ich will das mit meinen Gaben und auf meine Weise tun.
    Jeder soll wissen, daß ich Zuversicht und Kraft aus dem
    christlichen Glauben schöpfe und daß ich Respekt vor
    allen habe, die ihr Leben auf andere Fundamente grün-
    den. Ich will zuhören, damit niemand ungehört bleibt.
    Ich will Gesprächsfäden neu knüpfen, wo sie abgerissen
    sind, zwischen Ost und West, zwischen Jung und Alt.
    Ich will zur Öffentlichkeit verhelfen, was in die gesell-
    schaftliche Debatte gehört. Ich will alle – in Betrieben
    und Verwaltungen, in Hochschulen und Parteien, in
    Akademien und Bürgerinitiativen, in den Medien und
    Verbänden –, die an der Zukunft unseres Landes arbei-
    ten, ermutigen.

    Ich wünsche mir, daß wir Deutsche unsere Zukunft in
    Europa und in der e i n e n Welt gemeinsam mit unseren
    Nachbarn und Partnern zuversichtlich und mutig gestal-
    ten – nicht kleinmütig und nicht übermütig. Das wird
    gelingen, wenn wir Selbstvertrauen und Verantwortung
    zusammenbringen und wenn alle die eigenen Chancen
    so nutzen, daß auch das allgemeine Wohl gemehrt wird.

    Ich danke Ihnen.

    (Anhaltender Beifall)