Gesamtes Protokol
Guten Morgen, mei-ne Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, teile ichmit, daß der Kollege Dr. Rolf Niese sein Amt alsSchriftführer niedergelegt hat. Die Fraktion der SPDschlägt als Nachfolger den Kollegen Gerhard Rüben-könig vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich hörekeinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Gerhard Rü-benkönig als Schriftführer gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktlistevorliegenden Punkte zu erweitern: ZP2 Weitere Überweisungen im vereinfachen Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen(Bönstrup), Dietrich Austermann, Otto Bernhardt, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Wirtschaftli-cher Ausgleich und Übergangsregelung für Duty-free –Drucksache 14/1206 – b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Überprüfung vonKraftfahrzeugen nach Unfallreparaturen – Drucksache14/1207 – c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert Otto , Drik Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Realisie-rung des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit (VDE) Nr. 8Schienenneubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin – Drucksache 14/1208 – d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Privatisierung öf-fentlicher Dienstleistungen im Fahrerlaubniswesen –Drucksache 14/1209 – ZP3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Politische Schlußfolgerungen aus dem Be-schluß der Katholischen Bischofskonferenz zur Schwan-gerschaftskonfliktberatungWeiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-punkt 10 b – es handelt sich um die zweite und dritteBeratung des Gesetzentwurfs der F.D.P. zur Stärkungder Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung– abzusetzen.Außerdem weise ich auf eine geänderte Ausschuß-überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste hin:Die Mitberatung des Ausschusses für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung sollbei der nachfolgenden Unterrichtung gestrichenwerden.Unterrichtung durch die BundesregierungAgrarbericht 1999Agrar- und ernährungspolitischer Bericht derBundesregierung – Drucksachen 14/347, 14/348
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und Herren! „Deutschland erneuern – Zukunftspro-gramm zur Sicherung von Arbeit, Wachstum und sozia-ler Stabilität“ heißt das Motto, unter dem die Bundesre-
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gierung ein wirtschafts- und finanzpolitisches Gesamt-konzept vorgelegt hat, mit dem die Weichen für dieHaushalts-, Finanz- und Steuerpolitik des beginnenden21. Jahrhunderts gestellt werden.Mit diesem Reformpaket, einem der umfassendstenin der Geschichte der Bundesrepublik, gestalten wir dieGrundlagen für die Zukunft unserer Kinder.
Es umfaßt die Haushaltskonsolidierung, die strukturelleNeuausrichtung des Haushalts, die Neuregelung desFamilienleistungsausgleichs, die Unternehmensteuerre-form und die Fortsetzung der ökologischen Steuerre-form.Wir begegnen damit den Herausforderungen, denensich die Bundesregierung nach 16 Jahren konservativ-liberaler Politik stellen muß. Die Rekordarbeitslosigkeit,die hohe Abgabenbelastung der Bürgerinnen und Bür-ger, die finanziellen Probleme der sozialen Sicherungs-systeme, entsprechend hohe arbeitsplatzvernichtendeLohnnebenkosten für Unternehmen und Arbeitnehmer,insbesondere aber der immense Schuldenberg, der un-seren Bundeshaushalt fast handlungsunfähig gemachthat, sind die Herausforderungen, denen wir uns mit un-serem Paket gezielt stellen und auf die wir Antwortengeben.
Heute wird schon fast jede vierte Steuermark für Zin-sen ausgegeben. Die Bürgerinnen und Bürger zahlenSteuern und bekommen keine adäquaten Leistungen da-für mehr vom Staat. Der Schuldenberg ist unter der Re-gierung Kohl von 350 Milliarden DM auf heute 1,5 Bil-lionen DM angewachsen.
– Meine Damen und Herren, ich nehme Ihre Zurufe gernauf. Ich kritisiere nicht die Ausgaben für die deutscheEinheit, die in besonderem Maße darin enthalten sind.
Ich kritisiere, wie ich das immer getan habe, dieleichtfertige, unsolide Finanzpolitik, mit der Sie diedeutsche Einheit finanziert haben.
Sie haben sich der Illusion hingegeben – das entsprachübrigens gar nicht der Auffassung der Menschen –, daßdie deutsche Einheit nicht von uns allen Anstrengungenverlangte. Die solidarische Bereitschaft im Volk, sichfür die Einheit ein Stück weit krummzulegen und Gelddafür herzugeben, war doch vorhanden! Hätten Sie sienur abgerufen, hätten wir heute nicht diese Probleme.
– Lieber Herr Kollege Waigel, ich habe damals wieviele andere sowohl aus den Gewerkschaften als auchaus dem Unternehmerlager für höhere Steuern plädiert,damit die deutsche Einheit verläßlich finanziert wird.Wären wir damals so verfahren, stünden wir heute nichtvor diesem furchtbaren Scherbenhaufen, den Sie hinter-lassen haben.
Mit der Übernahme der Regierung müssen wir unsnun dieser Verantwortung stellen. Wir können das Erbenicht ausschlagen und wollen es auch gar nicht. Wirwollen die Zukunft gestalten; das tun wir mit diesemZukunftsprogramm.
Wir müssen die Umkehr schaffen und wieder eine fi-nanzpolitisch solide, verantwortliche Politik machen.Das gilt nicht nur für heute und morgen, sondern dieserAnspruch reicht weit über eine Legislaturperiode hinaus.Deshalb dürfen wir nicht wie bisher ständig über unserefinanziellen Verhältnisse leben. Dies wäre gegenüberunseren Kindern und der Zukunft unseres Landes ver-antwortungslos. Wir müssen verhindern, daß künftigeGenerationen für die Schulden arbeiten und Steuernzahlen müssen, die die jetzige Generation aufhäuft. Spa-ren ist für uns eben kein Selbstzweck, Sparen ist Mittelzum Zweck, nämlich zur Schaffung von Arbeitsplätzen,für nachhaltiges Wachstum in einer intakten Umwelt,für die Förderung von Bildung und Innovation; vor al-lem aber sorgt Sparen für einen aktiven Staat, der so-zialen Schutz und soziale Gerechtigkeit im Zeitalter ei-nes sich immer mehr beschleunigenden wirtschaftlichenStrukturwandels leisten kann. Das ist der Mittelpunktunserer Finanz- und Wirtschaftspolitik: Arbeitsplätzeund soziale Gerechtigkeit für alle.
Damit der Staat nicht seiner Handlungsfähigkeit be-raubt wird, müssen wir jetzt handeln. Ohne eine konse-quente Sanierung der Staatsfinanzen fehlt uns zukünftigdas Geld für Forschung und Entwicklung, für Bildungund Ausbildung, für Infrastrukturmaßnahmen, Woh-nungs- und Straßenbau, für den Aufbau in den neuenBundesländern, für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, fürdie Unterstützung von Existenzgründern, für einen fai-ren Lastenausgleich zwischen den Generationen, für denErhalt einer lebenswerten Umwelt und für die steuerli-che Entlastung von Familien, Arbeitnehmern und Unter-nehmen.Die Wirtschaft braucht solide Staatsfinanzen, Investi-tionen erfordern ein stabiles Umfeld.
Mit unserer Haushaltspolitik schaffen wir Vertrauenund Sicherheit. Das trägt ebenso zu einem stabilen Eurowie zu dauerhaft niedrigen Zinsen bei.
Bundesminister Hans Eichel
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Beides sind elementare Voraussetzungen für arbeits-platzschaffende Investitionen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und derF.D.P., mit Ihrer Politik der Staatsverschuldung, mit derSie sich übrigens auch immer hart an der Grenze derMaastricht-Kriterien bewegten und durch die Sie die Er-fordernisse des europäischen Stabilitäts- und Wachstum-spaktes nicht erfüllen können, schafft man kein Vertrau-en in den Euro. Das ist klar.
Eines haben Sie glänzend hinbekommen: sich auf dereinen Seite als Stabilitätspolitiker zu präsentieren undauf der anderen Seite eine Verschuldungspolitik zu be-treiben, wie es sie in Deutschland nie gegeben hat.
Wir müssen den Marsch in die Staatsüberschuldungstoppen. Mittelfristig streben wir einen Haushalt ohneNeuverschuldung an. Das bedeutet, daß die Neuver-schuldung Jahr für Jahr gesenkt werden muß. Nur einePolitik der Haushaltskonsolidierung bringt die dringendnotwendige Umkehr in der Finanzpolitik. Wenn sich alledieser Verantwortung stellen, können wir einen ausge-glichenen Haushalt bereits in der nächsten Legislaturpe-riode erreichen. Was Sie in Jahrzehnten angerichtet ha-ben, braucht seine Zeit, um behoben zu werden. Aber indieser Zeit schaffen wir es.
Mit dem Zurückfahren der Neuverschuldung gewinntdie öffentliche Hand nach und nach ihre Handlungsfä-higkeit zurück und kann endlich wieder Impulse geben.Das zeigt: Was die Medien verkürzt als „Sparpaket“ de-klarieren, ist weit mehr als das: Es ist die Basis für einsozial gerechtes, zukunftsfähiges Gemeinwesen.Mit unseren Maßnahmen zur Haushaltskonsolidie-rung haben wir einen ersten wichtigen Schritt zur Siche-rung der Staatsfinanzen getan. Auch wenn es von vielennicht für möglich gehalten wurde: Wir haben unser Ein-sparziel von 30 Milliarden DM für das Jahr 2000 er-reicht. Da können Sie in allen Einzelheiten kritisieren,meine Damen und Herren; aber Sie sind beweispflichtig,was Sie anders machen würden.
In den nächsten vier Jahren können wir mit unseremZukunftsprogramm insgesamt etwa 150 Milliarden DMeinsparen. Dieses Einsparziel werden wir auch umset-zen. Durchmogeln hilft nicht mehr. Mit einer Schönungder Einnahmenseite, wie ich sie vorgefunden habe – dawaren ständig überhöhte Wachstumsschätzungen imSpiel –, kann man den Haushalt zwar auf dem Papierkonsolidieren, aber in Wirklichkeit macht man Schul-den.
Wenn ich heute von einem Wissenschaftler aus Kielhöre, wir führten den Haushalt nur um den Betrag zu-rück, um den wir ihn 1999 aufgebläht hätten, dann mußich sagen: Ein Professorentitel ist eine schöne Sache,aber er zwingt auch zum genaueren Hinsehen.
Um Ihnen etwas zu Ihrem Haushalt zu sagen, ver-ehrter Herr Kollege Waigel, brauche ich nur auf meineRede im Bundesrat vom 25. September zurückzugreifen.In dem Haushalt war der Haushaltsnotlagenzuschuß fürdas Saarland und für Bremen nicht etatisiert. Darin wa-ren die Lasten der viel höheren Arbeitslosigkeit nichtetatisiert. Darin waren die Risiken aus den Rußlandkre-diten nicht etatisiert. Das mußten wir drauflegen, umden Haushalt ehrlich zu machen.
Das strukturelle Defizit hatten Sie durch enorm hoch-gefahrene Privatisierungserlöse verdeckt. Das ist dochkeine Zukunftspolitik!
Wir werden unser Einsparziel umsetzen. Durchmo-geln hilft nicht mehr. Wenn wir jetzt nicht handeln,würde die Neuverschuldung im Jahr 2000 auf rund 80Milliarden DM ansteigen. Das wäre die zwangsläufigeFolge der Haushaltsstruktur, die wir von der Vorgänger-regierung geerbt haben. Wer heute nicht bereit ist zusparen, steht morgen vor gänzlich unlösbaren Proble-men. Ein handlungsunfähiger Staat ist sozial dasSchlimmste, was diesem Lande passieren kann.
Das bedeutet aber auch, daß jetzt von vielen Bela-stungen in Kauf genommen werden müssen. Nachdemder Marsch, der Ausweg in die Verschuldung nicht mehrmöglich ist, stehen wir doch nur vor der Alternative, denBürgern durch höhere Steuern das Geld aus dem Porte-monnaie herauszuziehen oder ihnen durch geringerestaatliche Leistungen weniger hineinzugeben. Wer plä-diert da für höhere Steuern? Das würde ich gerne wis-sen.Das bedeutet aber auch – ich sagte es schon –, daßBelastungen in Kauf genommen werden müssen. Wirhaben jedoch darauf geachtet, das sozial gerecht zu ge-stalten, so gut der Haushalt das zuläßt.Unser Zukunftsprogramm kann nur erfolgreich sein,wenn alle gemeinsam mithelfen. Leider ist das Sankt-Florians-Prinzip weit verbreitet: Sparvorschläge zu La-Bundesminister Hans Eichel
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sten anderer – die neueste Version heißt: intelligent spa-ren – werden gerne gemacht.
Ich könnte Ihnen noch viele Varianten zu diesem Themaerzählen; das ist eine unendliche Geschichte. „Kreativsparen“ ist auch so eine Lösung.
Aber selber dazu beitragen möchte man lieber nicht. Mitdieser Haltung muß Schluß sein, meine Damen und Her-ren; sie ist nicht zukunftsfähig.
Insofern sehe ich in dieser Umkehr in der Wirt-schafts- und Finanzpolitik auch eine große Chance füreine gesellschaftliche Erneuerung. Die Tendenz, nurseinen persönlichen Vorteil zu Lasten anderer zu su-chen, muß umgekehrt werden.
Gefragt sind Bürgerinnen und Bürger mit Verantwor-tungsbewußtsein und solidarischem Verhalten, die daspolitische und gesellschaftliche Leben mitgestalten.Dann können wir die Weichen für Innovation in Staat,Wirtschaft und Gesellschaft stellen und diese zukunfts-fähig machen.Sparen allein reicht jedoch nicht aus. Man kann sichnicht „gesundsparen“. Deshalb setzen wir mit unsererPolitik gezielt auf Wachstumsimpulse, die den kon-junkturellen Aufschwung unterstützen. Wir schaffen einmodernes, international konkurrenzfähiges Steuerrecht,das wachstums- und beschäftigungsfreundlich sowie in-vestitionsfördernd ausgestaltet ist. Gleichzeitig tragenwir dazu bei, daß die Steuergerechtigkeit in unseremLande wiederhergestellt wird. Unser Steuersystem mußwieder mehr auf eine Besteuerung nach der Leistungsfä-higkeit ausgerichtet werden, wie es die Verfassung be-fiehlt.
Kleine und mittlere Unternehmen, Familien und Ar-beitnehmer müssen entlastet werden. Bereits zu Beginndieses Jahres sind die Familien und Arbeitnehmer mitder größten Einkommensteuerreform in der Ge-schichte der Bundesrepublik, dem Steuerentlastungsge-setz 1999/2000/2002
– ja, Sie haben es nicht fertiggebracht –, deutlich entla-stet worden.
Auch wenn hierüber zur Zeit nicht viel in der Pressesteht: Wir senken den Eingangssteuersatz in dieserWahlperiode in drei Stufen von 25,9 auf 19,9 Prozent.Das ist eine Entlastung um 36 Milliarden DM für Bezie-her kleiner und mittlerer Einkommen, meine Damen undHerren.
Es ist ja kaum zu glauben, wie kurz inzwischen bereitsdas Kurzzeitgedächtnis geworden ist.
Für eine Familie mit zwei Kindern ergibt sich daraus imJahre 1999 – wann haben Sie das je zuwege gebracht? –eine Steuerentlastung von 1 200 DM, in den Jahren 2000und 2001 eine Entlastung von jeweils 1 700 DM und ab2002 eine Entlastung von 2 500 DM im Jahr.
Darüber hinaus haben wir den Spitzensteuersatz um 4,5Prozentpunkte auf 48,5 Prozent gesenkt. Das allein sindim Ergebnis weitere 9 Milliarden DM an Entlastung.Diese Entlastungen muß man zusammen mit demZukunftsprogramm sehen, das die Bundesregierung ge-stern beschlossen hat. Sie sind Bestandteil unserer Poli-tik, die über die gesamte Legislaturperiode und darüberhinaus angelegt ist. Weitere Steuerentlastungen für Fa-milien und Unternehmen wird es mit der Neuordnungdes Familienleistungsausgleichs und der Unternehmen-steuerreform geben.Die steuerlichen Maßnahmen verbinden wir mitStrukturmaßnahmen, die zu einer Stabilisierung des So-zialstaates beitragen, mit denen Chancen für neue Ar-beitsplätze eröffnet werden und die soziale Gerechtig-keit wiederhergestellt wird. Ein erster Schritt war dieSenkung der Lohnnebenkosten im Rahmen der ökolo-gischen Steuerreform. Das ist übrigens, meine Damenund Herren, die erste Bundesregierung, bei der dieLohnnebenkosten nicht mehr ständig weiter steigen, dieerste Bundesregierung, die den Anstieg gestoppt hat undden Trend umkehrt.
Sie haben es ja nur mit Hilfe der damaligen Oppositiongeschafft, den weiteren Anstieg der Rentenversiche-rungsbeiträge zu stoppen, weil Sie unsere Stimmen zurMehrwertsteuererhöhung brauchten. Wir haben zum er-stenmal die Trendumkehr geschafft.
– Sie standen doch noch in der ersten Hälfte der 90erJahre für eine Politik, mit der die Mineralölsteuer vielstärker erhöht wurde, als wir es jemals planen. Gleich-zeitig sind die Lohnnebenkosten gestiegen, meine Da-men und Herren.
Die politischen Schwerpunkte, die sich bereits imHaushalt 1999 niedergeschlagen haben, werden auf-rechterhalten und für die kommenden Jahre bekräftigt:Die Zukunftsinvestitionen in Forschung, Bildung undBundesminister Hans Eichel
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Wissenschaft werden Jahr für Jahr systematisch erhöht,so daß die versprochene Verdoppelung in diesem Be-reich zwar nicht nach fünf, aber nach sechs Jahren er-reicht wird.
Die Investitionen in die Infrastruktur unseres Landeswerden im Jahre 2000 verstetigt. Außerdem wird dieStruktur des Haushaltes verbessert, weil sich der Anteilder Investitionen erhöht.Ich verhehle aber nicht, daß wir in den Folgejahrennoch große Probleme zu lösen haben. Wir müssen unsendlich ehrlich vor Augen führen: Märchenbücher à laBundesverkehrswegeplan, in dem ungezählte Projektestehen, die alle nicht finanziert sind, oder wie ein Ver-teidigungshaushalt, in dem die Finanzierung der ganzenAnschaffungen nicht enthalten ist – das ist doch keinePolitik!
Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik wer-den auf hohem Niveau verstetigt. Das ist ein Stück Än-derung in der politischen Philosophie: weg vom mehrfürsorgenden, hin zum aktivierenden Sozialstaat. Dasschafft mehr Chancen für die Menschen, in den Ar-beitsmarkt zurückzukehren. Es wird sich lohnen, einmalhinzusehen, was die Dänen, was die Holländer und dieSchweden auf diesem Wege zustande gebracht haben.Vielleicht können wir in Deutschland davon etwas ler-nen.
Das schafft neue Chancen vor allem für Langzeitar-beitslose und Problemgruppen am Arbeitsmarkt. Soqualifizieren wir Menschen während ihrer Arbeitslosig-keit für die neuen Anforderungen am Arbeitsmarkt.Das Sonderprogramm zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit wird fortgesetzt.
Ich bin stolz darauf, daß Deutschland im Rahmen derEuropäischen Union mit die wenigsten Sorgen im Be-reich der Jugendarbeitslosigkeit hat. Trotzdem sage ich:Jeder arbeitslose Jugendliche ist einer zuviel. Wenn wirin diesem Bereich noch mehr erreichen können, dannwollen wir uns dafür krummlegen.
Im Rahmen einer Reform des sozialen Wohnens,die Geben und Nehmen bedeutet, werden wir auf der ei-nen Seite die Investitionen in die Neubautätigkeit etwaszurücknehmen; dafür wird auf der anderen Seite dasWohngeld für die Bürgerinnen und Bürger spürbar ver-bessert.
Der Aufbau Ost wird auf hohem Niveau fortgeführt.In diesem Bereich – das, Herr Kollege Waigel, sage ichanerkennend – habe ich im Haushalt ein paar positiveLuftbuchungen gefunden, weil das Geld nicht abgeflos-sen ist. Wenn das Geld, das gar nicht abfließt, aus demHaushalt herausgenommen wird, dann sollten Sie dasöffentlich nicht als eine Minderung des Aufbaus Ostdarstellen. Da bitte ich schon sehr um Ehrlichkeit;
denn die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länderist und bleibt für die Bundesregierung ein besondererSchwerpunkt. Gleichzeitig stellen wir mit unserenSparmaßnahmen sicher, daß der Bundeshaushalt 2000solide finanziert werden kann. Unser Sparpaket bringtnicht nur eine kurzfristige Entlastung; vielmehr stellenwir jetzt die Weichen für eine strukturelle und dauer-hafte Konsolidierung des Bundeshaushalts. Unser Zielheißt: Wir wollen sobald wie möglich einen ausgegli-chenen Haushalt ohne neue Schulden.Bei der Umsetzung der Einsparziele haben die Res-sorts eigene Prioritäten gesetzt. Kürzungen nach der Ra-senmähermethode hat es nicht gegeben. Wir haben, umim Bild zu bleiben, jedem Ressort eine Rosenschere indie Hand gegeben, damit mit gezielten Schnitten am Ro-senstock sichergestellt werden kann, daß die Rosenkünftig wieder blühen. Bei Ihnen, meine Damen undHerren, wären sie verdorrt!
Wenn Ihnen das Bild nicht gefällt, dann biete ich Ih-nen ein anderes an: An die Stelle des süßen Gifts derStaatsverschuldung, das mit Sicherheit zum Tode führt,setzen wir die bittere Medizin der Gesundung.
Die Kraftanstrengung der Bundesregierung ist gelun-gen, weil sich jedes Ressort darauf verlassen konnte, daßauch alle anderen Politikbereiche ihren solidarischenKonsolidierungsbeitrag erbringen. Dieses Vertrauen darfweder jetzt noch später in der parlamentarischen Bera-tung zerstört werden. Mir ist klar, die Umsetzung desZukunftsprogramms wird nicht ohne Widerstände von-statten gehen. Das gilt, obwohl alle wissen, daß wirdann, wenn jetzt nicht gehandelt wird, die Zukunft nichtgewinnen können. Dieser Erkenntnis hat sich die alteBundesregierung verschlossen.
Unsere Aufgabe ist es, den Karren wieder aus demDreck zu ziehen. Dies ist nicht immer populär. Dennochwerden wir unsere Linie geradlinig und konsequent ver-folgen. Daß sich die öffentliche Kritik dabei auf uns, al-so auf diejenigen, die die Misere beheben wollen, kon-zentriert und nicht auf diejenigen, die sie zu verantwor-ten haben, finde ich allerdings etwas merkwürdig.
Bundesminister Hans Eichel
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Es müssen sich nicht diejenigen, die den Karren aus demDreck ziehen, entschuldigen, sondern diejenigen, die ihnhineingefahren haben.
Wie dem auch sei: Wir werden den öffentlichenDruck aushalten und uns nicht daran hindern lassen, dasRichtige für die Menschen in unserem Lande zu tun.
Schwerpunkte der Maßnahmen zur Konsolidierungdes Bundeshaushalts sind die Stabilisierung des Sozial-staats, der Subventionsabbau sowie die Modernisierungund Straffung des öffentlichen Dienstes. Damit habenwir dafür gesorgt, daß die Last der Sparmaßnahmen aufviele Schultern verteilt wird.Lassen Sie mich die wichtigsten Eckpunkte benen-nen: Im sozialen Bereich konzentrieren sich die Maß-nahmen auf strukturelle Anpassungen der Renten, desArbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe. Auchwenn diese Maßnahmen viele hart treffen werden: Wirmüssen jetzt die notwendigen Strukturveränderungeneinleiten, um auch zukünftig ein stabiles soziales Siche-rungssystem erhalten zu können.
Wir stärken – das habe ich schon angedeutet – denaktivierenden Sozialstaat. Es ist richtig, daß wir dieLohnersatzleistungen etwas zurücknehmen. Aber diesist in der heutigen Lage die richtige Schwerpunktset-zung. Ähnliche Schwerpunkte setzen auch alle anderenLänder in Europa, gerade auch im Norden Europas.Auch in Zukunft müssen die Renten sicher sein, einmenschenwürdiges Leben im Alter ermöglichen und be-zahlbar bleiben. Dafür müssen wir jetzt sorgen.
Wir müssen an die heutigen Rentner denken, aber nichtnur. Die junge Generation hat ebenfalls einen Anspruchauf sichere Renten und bezahlbare Beiträge. Soziale Ge-rechtigkeit heißt, Verantwortung zu übernehmen, dienicht einseitig ausgerichtet ist. Die junge Generation istder älteren ebenso verpflichtet wie die ältere zukünftigenGenerationen. Deshalb sorgen wir für einen Einstieg indie Anpassung der Alterssicherungssysteme an die ver-änderte Altersstruktur der Bevölkerung.Zum einen wird es endlich eine soziale Grundsiche-rung für Rentnerinnen und Rentner geben. Das ist einsehr großer Erfolg der Rentenpolitik.
Niemand muß dann wegen einer kleinen Rente zum So-zialamt gehen. Der Gang zum Sozialamt ist unwürdigfür Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben.
Zum anderen werden die Renten auch weiterhin stei-gen. Aber die Rentensteigerungen in den nächsten bei-den Jahren werden sich nicht an der Nettolohnentwick-lung, sondern am Inflationsausgleich orientieren. Denje-nigen, die das am meisten kritisieren, sage ich: Das sinddurchschnittlich höhere Rentensteigerungen als diejeni-gen, die Sie in den letzten Jahren zuwege gebracht ha-ben.
Damit wird der überproportionale Anstieg der Nettolöh-ne durch die Senkung der Lohnnebenkosten im Rahmender Ökosteuerreform ausgeglichen. Ohne diese Anpas-sung müßten die Rentenversicherungsbeiträge wiedersteigen, mit fatalen Folgen für Investitionen und Be-schäftigung.Aber nicht nur die Rentner leisten ihren Beitrag.Auch alle Angehörigen des öffentlichen Dienstes wer-den einbezogen. So wird es für Minister, Abgeordnete,Staatssekretäre und hohe Beamte eine Nullrunde geben.Für normale Beamte und Pensionäre wird es in dennächsten beiden Jahren eine Gehaltssteigerung höch-stens in der Höhe der Rentensteigerungen geben. Bezie-her von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe werdenwie die Rentner einen Inflationsausgleich erhalten. Zu-dem wird der Staatsapparat weiter konsequent moderni-siert und gestrafft.Die Sicherung der Staatsfinanzen erfordert auch einensystematischen Subventionsabbau. Mit dem Steuerentla-stungsgesetz ist bereits ein erster und wichtiger Schrittzum Abbau steuerlicher Subventionen getan worden.Und was haben Sie jede einzelne Maßnahme zum Sub-ventionsabbau im Steuerentlastungsgesetz bekämpft!
Jetzt wird es in einem weiteren Schritt die Besteue-rung der kapitalbildenden Lebensversicherungen ge-ben. Damit stellen wir die Gleichbehandlung mit ande-ren Anlageformen, zum Beispiel den Aktien, her. Dasich die Bundesregierung der Bedeutung der privatenAltersvorsorge bewußt ist und da wir selbstverständlichVertrauensschutz gewähren, wird es bei den Versiche-rungsverträgen, die bereits abgeschlossen sind, bei derheutigen Behandlung bleiben. Die Besteuerung gilt füralle Versicherungsverträge, die neu abgeschlossen wer-den.
Weitere ausgewogene Schritte zum Subventionsab-bau kommen hinzu. Das geht vom schrittweisen Abbauder Gasölbetriebsbeihilfe in der Landwirtschaft bis zurbedarfsgerechten Verringerung der Aufwendungen fürden sozialen Wohnungsbau.Die Bundesregierung ergänzt ihre Maßnahmen zurHaushaltskonsolidierung um eine konsequente Senkungvon Abgaben und Steuern. Für die Familien wird esnach dem Steuerentlastungsgesetz durch das Fami-Bundesminister Hans Eichel
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lienentlastungsgesetz eine weitere, verfassungsrechtlichgesicherte Verbesserung geben.
Vorgesehen ist eine Erhöhung des Kinderfreibetragesum 3 024 DM für Kinder bis zum 16. Lebensjahr. DasKindergeld für das erste und zweite Kind wird gleich-zeitig um 20 DM angehoben, nachdem es zum 1. Januardieses Jahres bereits um 30 DM erhöht wurde. Damithaben wir übrigens bereits in der ersten Hälfte derWahlperiode mehr erfüllt, als wir am Beginn der Wahl-periode für die ganze Wahlperiode hinsichtlich der Fa-milienentlastung versprochen haben.
Ich erinnere mich sehr gut an frühere Jahre, in denenwir Ihnen jede Kindergelderhöhung im Jahressteuerge-setz einzeln aus der Nase ziehen mußten, meine Damenund Herren. Deswegen ist es nicht glaubwürdig, wennSie heute mehr fordern.
Für eine durchschnittlich verdienende Familie mitzwei Kindern ergeben sich ab dem Jahr 2000 zusätzlicheEntlastungen von weiteren 480 DM pro Jahr. Zusammenmit den Maßnahmen des Steuerentlastungsgesetzessummieren sich die Entlastungen ab dem Jahr 2002 auffast 3 000 DM jährlich.Das Ziel der Unternehmensteuerreform ab demJahr 2001 ist die Stärkung der internationalen Wettbe-werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die im inter-nationalen Vergleich hohen nominalen Steuersätze sol-len gesenkt und die Bemessungsgrundlage dem interna-tionalen Standard angepaßt werden. Für Kapitalgesell-schaften soll es einen einheitlichen Körperschaftsteuer-satz von 25 vom Hundert geben. Den gleichen Steuer-satz sehen wir für Personengesellschaften und Einzel-unternehmen vor. Damit werden alle betrieblichen Ge-winne gleich besteuert. Unser Ziel ist es, die Unterneh-men zu entlasten und durch die Begünstigung des imUnternehmen verbleibenden Gewinns die Investitionenzu erleichtern. Denn das schafft Arbeitsplätze; das ist dieEinsicht aller Länder in Europa.
Wie die Maßnahmen technisch umgesetzt werden,wird noch intensiv durch Planspiele getestet, um Pro-bleme in der Praxis frühzeitig zu erkennen und zu behe-ben.
– Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie ha-ben doch – zu Recht! – gesagt, daß man Steuergesetzeso machen müsse, daß sie hinterher Bestand haben.Dann braucht man auch diese Zeit. Sie sollten nicht Ih-ren eigenen Aussagen widersprechen.
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Das Ziel ist klarund wird konsequent angestrebt.Durch die Fortführung der Ökosteuerreform werdenwir die Sozialabgaben weiter senken. Das durch mäßigeund stetige Erhöhung der Energiepreise erzielte Auf-kommen wird auch in den weiteren Stufen für die Sen-kung der Sozialversicherungsbeiträge verwendet.Damit wird nicht abkassiert; vielmehr werden die Steu-ermehreinnahmen – anders als zu Ihrer Regierungszeit –durch niedrigere Lohnnebenkosten im vollen Umfangean die Bürgerinnen und Bürger und an die Unternehmenzurückgegeben.
Die Bundesregierung wird darauf achten, daß diedeutsche Wirtschaft in ihrer internationalen Wettbe-werbsfähigkeit nicht beeinträchtigt, sondern gestärktwird und daß Energieeinsparmaßnahmen entsprechendberücksichtigt werden.Das Zukunftsprogramm zur Sicherung von Arbeit,Wachstum und sozialer Stabilität ist mit einer großenKraftanstrengung zunächst der Bundesregierung auf denWeg gebracht worden. Nicht jeder kann sich mit jederMaßnahme anfreunden. Das sehe ich aber insgesamteher als Plus. Wir wollen die Auseinandersetzung füh-ren. Das ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer de-mokratischen Kultur. Ich erwarte allerdings angesichtsder Probleme – ich füge ganz freundlich hinzu: und derTeilhabe so vieler an der Entstehung der Probleme –Fairneß und Ehrlichkeit von jeder Seite und nicht nurdas Schielen auf Besitzstände.
– Herr Koppelin, eines werden Sie mir doch zugestehen:Wir sind – das habe ich immer offen gesagt – alle Be-standteil dieses Systems Bundesrepublik, das insgesamtein gutes ist.
– Selbstverständlich. Aber tun Sie nicht so, als hätte derBundesrat die Bundesregierung gestellt. Sie waren esdoch über 16 Jahre.
Ihnen, verehrter Herr Koppelin, wird Herr Faltlhauser –er sitzt ja hier – bestätigen können: Es ist schön, wennman von der einen Seite der Bank einmal auf die anderekommt. Die Rolle Bayerns beim Föderalen Konsolidie-rungsprogramm – von dem Sie sagen, der Bund sei überden Tisch gezogen worden – kenne ich jetzt viel besserals damals, wo ich auf der Ministerpräsidentenbank mitdabei war.
Ich bitte also um Fairneß und darum, daß die Lastenvon allen getragen werden. Jeder soll mitmachen ent-Bundesminister Hans Eichel
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sprechend dem Maß seiner Verantwortung für die Zu-stände. Das kann man wohl erwarten.
Reaktionen anderer Art stünden sonst nämlich im Wi-derspruch zu der grundsätzlich und allgemein akzep-tierten Erkenntnis, daß jetzt rasch und konsequent ge-handelt werden muß, wenn wir die Zukunft gewinnenwollen.Deshalb werden wir geradlinig unseren Weg gehen.Dieser Weg bedeutet, Demokratie, Solidarität und so-ziale Gerechtigkeit zu leben und zu gestalten. Die Bun-desregierung lädt alle gesellschaftlichen Kräfte, allestaatlichen Ebenen ein, hieran mitzuwirken und so ander politischen Gestaltung der Zukunft, vor allem derZukunft unserer Kinder, teilzuhaben.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es scheint zum politischen Ritual
der Haushaltsreden der rotgrünen Finanzminister zu ge-
hören,
daß wir immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert
werden, die Folgen der Überwindung der deutschen
Teilung seien falsch finanziert worden und wir seien
verantwortlich für einen unglaublichen Schuldenberg.
Herr Eichel, ich habe nicht nur ein Kurzzeitgedächtnis –
so, wie Sie das eben in Anspruch genommen haben –,
ich habe auch ein relativ gutes Langzeitgedächtnis.
Ich habe ziemlich gut in Erinnerung, wie der damalige
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und heutige
Bundeskanzler Gerhard Schröder – Herr Außenminister,
wenn ich Sie bei Ihrem Gespräch mit dem Bundeskanz-
ler störe, bin ich gerne bereit zu warten –
noch im Jahr 1991 auf politischen Kundgebungen in
Niedersachsen ausgerufen hat: „Keine Steuermark nie-
dersächsischer Bürger für die deutsche Wiedervereini-
gung!“
– Herr Bundeskanzler, ich habe nichts dagegen, daß Sie
auf der Regierungsbank miteinander reden, aber daß Sie
einem Redner der Opposition bei einem solchen Vor-
halt, wie ich ihn Ihnen mache, hier den Vogel zeigen,
ist nun wirklich der Tiefpunkt des politischen Anstan-
des, den dieses Haus erlebt hat.
Aber ich werde auch auf Sie gleich noch zu sprechen
kommen. Lassen Sie mich zunächst einmal – –
– Wissen Sie, es ist ganz einfach: Wenn Sie aufhören zu
schreien, dann kann ich auch so reden, daß Sie mich
verstehen.
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal auf
die Ausgaben nach den einzelnen Etatansätzen zurück-
kommen. Ich habe in den letzten Tagen erfolglos festzu-
stellen versucht, woran Sie sich denn eigentlich mit 30
Milliarden DM – –
– Herr Präsident, es fällt wirklich schwer, gegen diese
künstlich erzeugte Geräuschkulisse der SPD noch zu
sprechen.
Meine Damen und Herren, ich bin auch in der Lage,
etwas lauter zu sprechen.
Kollege Merz, einen
kleinen Moment.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es Unruhe und
Zwischenrufe gibt, das ist verständlich und auch ver-
traut. Aber gelegentlich sollten Sie dem Redner auch ei-
ne Chance geben und zuhören.
Meine Damen undHerren, ich bin durchaus in der Lage, auch etwas lauterzu sprechen, wenn das notwendig sein sollte. Dann ma-chen wir das halt.
Bundesminister Hans Eichel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3915
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Ich habe – um es jetzt noch einmal zu sagen – in denletzten Tagen versucht herauszufinden, woran Sie sichdenn eigentlich mit 30 Milliarden DM Einsparungenorientieren, was die Bezugsgröße für 30 Milliarden DMEinsparungen eigentlich ist.
Ich habe es nicht herausgefunden, Herr Eichel.Wenn Sieden Bundeshaushalt 1999 mit dem Bundeshaushalt desJahres 2000, den Sie jetzt in groben Zügen vorgestellthaben, vergleichen, dann ergibt sich, daß die Ausgabendes Bundeshaushaltes des Jahres 2000 nicht um 30 Mil-liarden DM, sondern genau um 7,5 Milliarden DM unterden Ausgaben des Jahres 1999 liegen. Wenn Sie alsoüberhaupt ein Sparpotential realisieren, dann sind esnicht 30 Milliarden, sondern 7,5 Milliarden DM.
Mit Ihrer Kritik allerdings – da stimme ich Ihnenausdrücklich zu; Sie haben vor einigen Tagen bei einerPressekonferenz in Wiesbaden oder in Frankfurt wört-lich gesagt: „Ich habe keine Lust, mich für die Sanie-rung eines Haushaltes zu entschuldigen, den andere vordie Wand gefahren haben.“ –
haben Sie recht, Herr Eichel. Aber Sie können nur Ihrenunmittelbaren Vorgänger gemeint haben, Oskar Lafon-taine.
Der hat nämlich dafür gesorgt, daß der Bundeshaushaltdes Jahres 1999 gegenüber dem Etatentwurf von TheoWaigel um 30 Milliarden DM aufgebläht worden ist.Deshalb hat auch der Präsident des Instituts für Welt-wirtschaft in Kiel, den Sie eben auch schon einmal be-müht haben, völlig recht, wenn er wörtlich sagt:Die 30 Milliarden, die für den Haushalt 2000 ge-strichen werden, entsprechen genau der Steigerungder Bundesausgaben im Haushalt 1999 um 6,3 Pro-zent.Und weiter:Es müssen jetzt die 30 Milliarden weggeeicheltwerden, die im Haushalt 1999 lafontainisiert wor-den sind.Genau das ist der Punkt.
Nun will ich eine Vorbemerkung zum Sparen ma-chen.
Niemand von uns bestreitet, daß wir sparen müssen.Und Sie werden uns auf dem Weg zu Einsparungen imBundeshaushalt auf Ihrer Seite finden,
wenn es um grundlegende Korrekturen der Ausgabendes Bundes geht, beispielsweise bei der Verschlankungdes öffentlichen Dienstes, beispielsweise bei der Besei-tigung von Subventionen, beispielsweise bei der Einspa-rung von öffentlichen Ausgaben im konsumtiven Be-reich. Da werden Sie uns auf Ihrer Seite finden.Aber, Herr Eichel, wenn wir schon Rückschau halten,möchte ich noch eine Bemerkung machen: Wir haben inden letzten Jahren viele Sparanstrengungen unternom-men. Wir haben einen der größten Subventionshaushalteder Bundesrepublik Deutschland nachhaltig gekürzt. Ichmeine die Steinkohle. Jedes Mal, wenn die alte Koaliti-on so etwas gemacht hat, hat die damalige Oppositionmit der rotgrünen Mehrheit des Bundesrates, zu der Sieauch gehört haben, dagegengestanden. Sie haben dieLeute gegen die Sparpläne der alten Bundesregierungaufgehetzt und haben jede Sparanstrengung zu vereitelnversucht. Auch das wird man Ihnen noch sagen dürfen.
Lassen Sie mich nun einige konkrete Punkte anspre-chen. Ich habe in der Kürze der Zeit noch nicht alle Po-sten durchrechnen können, die Sie in Ihrem Tableauvorgelegt haben. Aber eines ist mir aufgefallen: An einerStelle wollen Sie in einem Umfang sparen, der größerist, als die Ausgaben im Bundeshaushalt 1999 überhauptvorgesehen sind. Wenn ich es richtig sehe, sind die Aus-gaben im Haushalt des Jahres 1999 für das sogenannteMeister-BAföG bei 80 Millionen DM Soll etatisiert,und Sie wollen im nächsten Jahr davon 122 MillionenDM sparen.
Das ist rotgrüne Haushaltsführung. Sie wollen 42 Mil-lionen DM mehr sparen, als Sie überhaupt ausgeben. Ichweiß nicht, ob ich noch auf weitere solcher Etatpostenstoße; ich will nur diesen einen nennen.Ich komme zu einem zweiten Punkt. Ich bestreitenicht, daß im Bereich der Ausgaben der sozialen Siche-rungssysteme gespart werden muß. Davon können auchdie sozialen Sicherungssysteme der Landwirte nichtverschont bleiben. Aber, Herr Bundeskanzler, es riechtschon ordentlich nach später parteipolitisch motivierterRache an einer Bevölkerungsgruppe – die Sie richtiger-weise überhaupt nicht gewählt hat –, wenn Sie jetzt ge-rade in der Sozialversicherung der Landwirte rund 700Millionen DM einsparen wollen und die Gasölbetriebs-beihilfe vollständig streichen wollen. Das ist Rache fürWahlverhalten.
Da wir auch in einem anderen Zusammenhang schonüber die Agrarpolitik gesprochen haben: Wenn Sie dieGasölbetriebsbeihilfe streichen wollen – dafür gibt esArgumente –, dann hätten Sie sich dafür auf europäi-scher Ebene einsetzen müssen, um Wettbewerbsgleich-heit der deutschen Landwirte gegenüber ihren Konkur-renten in der Europäischen Union herzustellen.
Friedrich Merz
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3916 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Denn überall in unseren Nachbarländern gibt es eineMineralölverbilligung für die Landwirte. Die Wettbe-werbsposition der deutschen Landwirtschaft wird durchdie geplante Maßnahme weiter nachhaltig geschwächt.Sie werden die Leidtragenden dieser Politik sein.
Kollege Merz, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Metzger?
Nein, ich möchte jetzt
im Zusammenhang fortfahren.
Meine Damen und Herren, der nächste Punkt, den ich
ansprechen möchte, ist der Verteidigungshaushalt. Der
Verteidigungsminister nimmt heute wohl aus guten
Gründen an dieser Debatte nicht teil. Sie, Herr Bundes-
kanzler, haben dem Verteidigungsminister zu Beginn
seiner Amtszeit zugesagt, daß im Verteidigungshaushalt
nichts gestrichen wird. Jetzt sind in Ihrem Finanztableau
beim Verteidigungshaushalt des Jahres 2000 Einsparun-
gen von insgesamt 3,5 Milliarden DM ausgewiesen.
Ich glaube, daß dies die Leistungsfähigkeit und die Ein-
satzbereitschaft der Bundeswehr im Kern trifft. Aber
unabhängig von dieser verteidigungspolitischen Beur-
teilung, die wir in Deutschland treffen müssen, möchte
ich sagen: Wenn Sie, Herr Bundesaußenminister, als
Konsequenz aus den Erfahrungen des Kosovo-Konflik-
tes zu Recht reklamieren, daß wir in der Europäischen
Union jetzt eine gemeinsame europäische Sicherheits-
und Verteidigungspolitik entwickeln müssen, dann müs-
sen Sie sich mit diesem Etatansatz Ihres Finanzministers
aus der Diskussion auf der europäischen Ebene verab-
schieden,
denn die Bundesregierung wird mit diesem zusammen-
gestrichenen Etat an einer gemeinsamen europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht mehr teil-
nehmen können.
Meine Damen und Herren, eines der großen Reform-
projekte dieser Bundesregierung ist die sogenannte
ökologisch-soziale Steuerreform. Wir haben darüber ge-
stern im Zusammenhang mit den Renten schon gespro-
chen. Ich will noch einmal auf die Ökosteuer zurück-
kommen. Sie planen jetzt, in weiteren vier Schritten die
Mineralölsteuer jeweils um 6 Pfennige anzuheben und
dies zugunsten der Absenkung der Lohnnebenkosten
zu verwenden. Ich komme auf das, was sich Herr Struck
und Herr Schlauch vorgestern geleistet haben, auch noch
zu sprechen. Aber zunächst möchte ich Sie ansprechen,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben von dieser Stelle ausmehrfach darauf hingewiesen, daß es eine Reihe vongroßen Bevölkerungsgruppen gibt, die von der Absen-kung der Lohnnebenkosten nichts haben, weil sie keineLohnnebenkosten zahlen.Unter anderem haben wir Sie, Herr Bundeskanzler,mehrfach angesprochen und Ihnen gesagt, daß die Rent-ner in der Bundesrepublik Deutschland nichts davon ha-ben, wenn die Lohnnebenkosten abgesenkt werden, daßsie aber die erhöhte Mineralölsteuer trifft, die sie zuzahlen haben. Daraufhin haben Sie hier und an andererStelle gesagt: Ja, das ist richtig, aber durch die Netto-lohnbezogenheit der Renten wird es im Jahr darauf aucheine entsprechende Anhebung der Renten geben. Sie,Herr Bundeskanzler, haben – ich zitiere eines von vielenmöglichen Zitaten – am 17. Februar 1999 bei einergroßen Kundgebung Ihrer Partei in Bayern wörtlich ge-sagt:Ich, Gerhard Schröder, stehe dafür, daß die Rentenauch weiterhin entsprechend der Entwicklung derNettolöhne erhöht werden.
Herr Bundeskanzler, das ist gerade einmal vier Mo-nate her. Kann man sich eigentlich auf das Wort desBundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland nichtmehr verlassen?
Sie haben diese Zusage, die an die Rentner gerichtetwar, gebrochen. Das ist ein Wahlbetrug. Es ist der Be-trug an den Rentnern um die Rentenerhöhung, die ihnenzustände, wenn sie auf das Wort des Bundeskanzlers derBundesrepublik Deutschland hätten vertrauen können.
Herr Bundeskanzler, nun wissen wir alle, daß Sie esmit dem Wort nicht so genau nehmen, daß es Ihnenmehr auf die Wirkung als auf den Inhalt ankommt.
Wir wissen, daß für Sie wichtiger ist, wie die Fernseh-bilder sind, als das, was wirklich gilt.
Ich will Ihnen sagen: Vielleicht können Sie damit poli-tisch eine gewisse Zeit überleben und auch eine gewisseZeit die Zustimmung der Bevölkerung der Bundesrepu-blik Deutschland erhalten. Vielleicht könnte sogar einervon uns versucht sein zu sagen: Es ist uns egal, wenn dieGlaubwürdigkeit eines maßgeblichen Repräsentantender Bundesrepublik Deutschland auf diese Art und Wei-se aufs Spiel gesetzt wird. Aber ich sage Ihnen: Ich emp-finde es auch persönlich als eine große Belastung, daßdie Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durchIhr persönliches Verhalten den Politikern, wie sie dannsagen, nicht mehr glauben, daß die Glaubwürdigkeit vonuns allen durch Ihre Verhaltensweisen aufs Spiel gesetztwird.
Friedrich Merz
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Herr Bundeskanzler, ich sage es Ihnen so, wie ich espersönlich empfinde: Dieser Umgang mit der Wahrheitund die eitle Art und Weise, wie nur auf Wirkung nachaußen gesetzt wird, empfinde ich vor dem Hintergrundder Probleme, die zu lösen sind, als abstoßend.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf dieÖkosteuer zurückkommen. Den beiden Fraktionsvorsit-zenden von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, HerrnSchlauch und Herrn Struck – der es vorzieht, jetzt nichthier zu sein, was ich gut verstehen kann –,
ist vorgestern abend ein schwerwiegender Fehler unter-laufen.
Sie haben sich nämlich bei der Berechnung der Entla-stung, die durch die Ökosteuer bei den Lohnnebenkostenvorgenommen werden soll, gerade einmal um den Fak-tor drei verrechnet. Meine Damen und Herren, das istnun wirklich ein peinlicher Verrechner, der Ihnen daunterlaufen ist.
Zur Erinnerung: Beide Fraktionsvorsitzenden habenin einer Pressekonferenz vorgestern abend die Absen-kung der Lohnzusatzkosten nicht auf Jahresbasis darge-stellt, sondern diese noch einmal addiert; sie kamendann bei den Lohnzusatzkosten auf eine Entlastung von3,1 Prozentpunkten. Herr Schlauch, in Wahrheit ist esnur 1 Prozentpunkt gegenüber heute. Sie beherrschennoch nicht einmal die Grundrechenarten und haben sichschon bei einer solchen Kleinigkeit verrechnet. Nach derfünften Stufe der Ökosteuerreform beträgt die Absen-kung der Lohnnebenkosten gerade einmal 1,8 Prozent-punkte, meine Damen und Herren.
Damit, Herr Schlauch, werden Sie Ihr Ziel, die Lohn-nebenkosten unter 40 Prozent zu senken, verfehlen. Siewerden es nicht erreichen.
Herr Eichel, ich will zu den Lohnnebenkosten nochetwas sagen. Sie senken die Lohnnebenkosten in Wahr-heit gar nicht. Sie wählen nur eine andere Form der Fi-nanzierung. Das ist alles.
Eine Absenkung auf unter 40 Prozent findet nicht statt.Sie haben ein weiteres Versprechen nicht gehalten.Diese Bundesregierung hat im Zuge des sogenanntenSteuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 versprochen– auch Sie, Herr Bundeskanzler, hier im Parlament undauf großen Unternehmertagungen –, daß die Unterneh-mensteuerreform zum 1. Januar 2000 kommt. DiesesVersprechen halten Sie nicht ein. Jetzt kommt eine Un-ternehmensteuerreform – so ist es geplant – zum 1. Ja-nuar 2001. Ich sage Ihnen, Herr Eichel: Eine grundle-gende Unternehmensteuerreform hätten wir in der Bun-desrepublik Deutschland bereits vor über zwei Jahrengemeinsam beschließen können. Das wäre möglich ge-wesen.
Sie haben es damals im Bundesrat abgelehnt; Sie warendaran beteiligt. Und in den zwei Jahren seit Ende Juni1997 bis heute, Mitte Juni 1999 – zwei Jahre sind seit-dem vergangen –, haben Sie Kommissionen eingesetzt,neue Pläne gemacht. Alles, was dabei in zwei Jahren,herausgekommen ist, sind drei oder vier Sätze. Sie lau-ten: 2001 wird es eine große Unternehmensteuerreformgeben. Dazu gehört auch eine Nettoentlastung der Un-ternehmen in der Größenordnung von 8 Milliarden DM.Der Steuersatz für Unternehmen soll bei der Körper-schaftsteuer und bei der Einkommensteuer auf 25 Pro-zent gesenkt werden – in Klammern: zuzüglich Gewer-besteuer. – Das ist alles, was diese rotgrüne Bundesre-gierung bei der Unternehmensteuerreform in zwei Jah-ren fertiggebracht hat.
Meine Damen und Herren, wenn Sie damals, als Sieunsere Unternehmensteuerreform, unsere große Steuer-reform, abgelehnt haben, wirklich Alternativen gehabthätten, dann hätten Sie in der Zwischenzeit längst einGesetzgebungsverfahren einleiten müssen, hätten längsteine Unternehmensteuerreform auf den Weg bringenmüssen, die diesen Namen wirklich verdient. Statt des-sen brechen über den Jahreswechsel 1998/99 dieWachstumserwartungen zusammen, bleiben jetzt dieerwarteten Zuwachsraten beim Bruttoinlandsproduktweit hinter dem zurück, was andere Mitgliedstaaten derEuropäischen Union erreichen, und ist das Vertrauen indie Stetigkeit und Langfristigkeit der Wirtschafts- undFinanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland im Kernzerstört worden – durch die Politik der rotgrünen Bun-desregierung.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zu dem so-genannten Unternehmensteuerkonzept, das Sie jetzt pla-nen, noch einige sachliche, ganz nüchterne Anmerkun-gen machen,
die die Schwierigkeiten aufdecken,
Friedrich Merz
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die Sie bei diesem Konzept erwarten. Die künstlicheUnterscheidung zwischen Unternehmensgewinnenund privaten Einkünften
wird Sie in der rotgrünen Koalition im Gesetzgebungs-verfahren, wenn Sie es denn überhaupt hinkriegen, vorallergrößte Schwierigkeiten stellen. Und sagen Sie bittenicht, daß es an guten und fachlich fundierten Ratschlä-gen in den letzten Jahren gefehlt hätte, wenn Sie sich aufdiesen Weg machen!Ich zitiere Ihnen aus einem Festvortrag, der aus An-laß des 50jährigen Bestehens des WissenschaftlichenBeirats beim Bundesfinanzminister am 19. Februar –damals noch in Anwesenheit Ihres Vorgängers, HerrEichel – von einem der renommiertesten deutschenFinanzwissenschaftler, der Jahrzehnte Mitglied des Wis-senschaftlichen Beirats des BMF war und der genau die-ses Thema Unternehmensteuerreform mit einer künst-lichen Spreizung der Steuersätze zwischen Unterneh-menseinkünften und sonstigen Einkünften angesprochenhat, gehalten wurde. Professor Pohmer wörtlich:Wer meint, mit der Begünstigung der Selbstfinan-zierung Investitionen und Arbeitsplätze inDeutschland fördern zu können, der irrt, weil dieUnternehmen die ersparten Beträge unter anderemauch im Ausland investieren, in reinen Finanztitelnanlegen, Schulden tilgen oder gar nach neuemHandelsrecht zum Rückkauf eigener Aktien unddamit zur Steigerung ihres Shareholder-Value nut-zen können.Meine Damen und Herren, die Beschreibung ist ge-nau richtig. Die von Ihnen so häufig verteufelte Share-holder-Value-Mentalität in Unternehmen werden Sie mitder Begünstigung dieser Innenfinanzierung von Unter-nehmen geradezu fördern zu Lasten des entnommenenGewinns.
Derselbe Autor fährt fort:Aber auch die Verteilungsgerechtigkeit bleibt aufder Strecke, weil nur das Unternehmersparen imVerhältnis zum Sparen der Nichtunternehmer pri-vilegiert wird. Dies widerspricht der horizontalenGerechtigkeit, die im Gleichheitsgrundsatz unsererVerfassung angelegt ist.Herr Eichel, Sie kommen mit Ihrem Unternehmensteu-erkonzept nicht nur steuerrechtlich und steuertechnisch,sondern auch verfassungsrechtlich in eine Grauzone, ausder wieder herauszukommen für Sie sehr, sehr schwerwerden wird.Ich sage Ihnen deshalb: Wir lehnen diese künstlicheUnterscheidung zwischen Unternehmenseinkünften undsonstigen Einkünften ab. Die Bundesrepublik Deutsch-land braucht eine Steuerreform, die eine Senkung allerSteuersätze und eine Verbreiterung der steuerlichenBemessungsgrundlage im gesamten Bereich des Ein-kommensteuergesetzes beinhaltet. Nur dann werden wirin der Bundesrepublik Deutschland ein zukunftsfähigesSteuersystem bekommen.
Herr Bundeskanzler, ich möchte mich jetzt an Siewenden; denn ich habe mir die Pressekonferenz, die Siegestern gehalten haben, angesehen. Sie haben dort ge-sagt: Wir – die Sozialdemokraten – wollen die Unter-nehmen entlasten und nicht die Unternehmer. – Dasklingt erst einmal nicht schlecht. Aber Sie sollten dabeiim Blick behalten, daß fast 90 Prozent der Unternehmenin der Bundesrepublik Deutschland keine Aktiengesell-schaften und keine großen GmbHs sind, sondern Ei-gentümerunternehmen des Mittelstandes, bei denen dasPrivatvermögen das haftende Betriebsvermögen dieserPersonengesellschaften ist.
Deswegen sage ich Ihnen noch einmal: Wenn Sie ei-ne wirkliche Entlastung der Unternehmen von Steuernund Abgaben wollen, dann dürfen Sie nicht umfinanzie-ren, sondern dann müssen Sie für alle die Steuersätzeund in sämtlichen sozialen Sicherungssystemen die Ab-gaben konsequent senken.In diesem Zusammenhang will ich Sie, Herr Eichel,auf ein weiteres Problem aufmerksam machen, dasvielleicht im Eifer des Gefechtes Ihrer Aufmerksamkeitentgangen ist.
Sie wollen das körperschaftsteuerliche Anrech-nungsverfahren abschaffen. Nur, dieses körper-schaftsteuerliche Anrechnungsverfahren ist eine Rege-lung, die gegenwärtig insbesondere den Aktionären, dieAktien in privater Hand halten, zugute kommt. Für denFall, daß Sie dieses Anrechnungsverfahren abschaffenund an diese Stelle das sogenannte Halbeinkünftever-fahren – ich mußte mir dieses Wort aufschreiben, um esauch wirklich fehlerfrei aussprechen zu können –
setzen, sollten Sie wissen, daß Sie bei denjenigen Ein-kommensbeziehern, die auf ihren privaten Einkünfteneinen Steuersatz von unter 40 Prozent haben, im Ergeb-nis eine wesentlich höhere Besteuerung der Dividen-denerträge aus Aktienbesitz hervorrufen. Begünstigtwerden diejenigen, die Steuersätze von über 40 Prozenthaben; deren Steuerlast wird in Zukunft geringer wer-den. Diejenigen aber, die einen Steuersatz von unter 40Prozent haben, werden auf ihre Dividendenerträge höhe-re Einkommensteuern zahlen. – So viel zum Bereich so-ziale Gerechtigkeit bei einer sozialdemokratisch ge-führten Bundesregierung.
Es ist ja nicht nur interessant, wer heute anwesend ist,es ist auch interessant, wer fehlt. Der Kollege Dreßler,der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, istnicht nur gestern während der Rentendebatte nicht an-wesend gewesen, sondern fehlt ganz offensichtlich auchFriedrich Merz
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heute. Statt dessen hat er vor zwei Tagen im Kreisevon Journalisten gesagt – es lohnt sich, das zu wieder-holen –:Wenn die alte Koalition solche Vorschläge gemachthätte, wie es jetzt die rotgrüne Regierung getan hat,dann hätten wir– gemeint waren die Sozialdemokraten –den dritten Weltkrieg ausgerufen.
Das ist die Einschätzung zum Bereich soziale Gerech-tigkeit in der rotgrünen Bundesregierung.Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Tat vorschwierigen Entscheidungen. Ich will bei aller Kritik imDetail Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, noch einmalausdrücklich sagen: Wir sind bereit, notwendige struktu-relle Reformen in der Bundesrepublik Deutschland – –
Es hat offensichtlich Methode, daß auf der Regierungs-bank ständig geredet wird, um den Redner zu stören.
Ich lasse mich davon aber nicht ablenken. – Ich will Ih-nen noch einmal ganz klar zum Ausdruck bringen: Wirsind bereit, auch an unpopulären Maßnahmen mitzuwir-ken.
Wir sind ebenso bereit, den Streit über das, was in denletzten 16 Jahren richtig oder falsch war, auf die Seite zulegen.
– Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, den Streit überdas, was in der Vergangenheit richtig oder falsch war,auf die Seite zu legen, wenn wir uns jetzt darauf kon-zentrieren, die notwendigen Entscheidungen für die Zu-kunft in Deutschland zu treffen.Zu diesen Zukunftsaufgaben gehört erstens, daß daslangfristige Vertrauen derer, die in Deutschland Arbeits-plätze schaffen sollen, wiederhergestellt wird. Das isteine Frage der Glaubwürdigkeit der Politik der Bundes-regierung. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen.Dazu gehört zweitens, daß wir eine grundlegende Re-form unseres Steuersystems in Angriff nehmen, undzwar nicht mit künstlicher Unterscheidung zwischenguten und schlechten Einkünften, sondern mit einerSteuersenkung für sämtliche Einkünfte, die es in unse-rem Einkommensteuersystem gibt.Dazu gehört drittens, daß wir eine ehrliche und offeneBestandsanalyse der sozialen Sicherungssysteme ma-chen und daß wir nicht nach politischer Opportunität,nicht nach Maßstäben obrigkeitsstaatlicher Willkür,sondern nach objektiven Maßstäben – wie der Netto-lohnbezogenheit der Rente – langfristig richtige und si-chere Entscheidungen für die sozialen Sicherungssyste-me treffen.Dazu gehört viertens – dies ist auch ein Thema, das inden Zusammenhang der heutigen Debatte gehört –, daßdiese Bundesrepublik Deutschland bereit ist, eine Nationzu bleiben, die sich neuen Technologien öffnet, die eineHochtechnologienation bleibt.Ich spreche diesen Sachzusammenhang mit Bedachtan; denn nachdem wir in den 80er Jahren den Fehlergemacht haben, aus der Bio- und Gentechnologie aus-zusteigen, und Jürgen Rüttgers es unter größten Schwie-rigkeiten geschafft hat, durch das Zurückkehren in dieBiotechnologie hier den Anschluß an den Weltmaßstabwiederzufinden, wäre es nun ein verheerender Fehler –ich spreche insbesondere Sie an, Herr Bundeswirt-schaftsminister –, bei einer wichtigen Technologie, derEnergietechnologie, so einseitig auszusteigen, wie esIhre Regierung für die Bundesrepublik Deutschlandplant, meine Damen und Herren.
Wir brauchen auch in unserer Bevölkerung das Be-wußtsein für Hochtechnologie, für ein Land mit hohemtechnologischen Leistungsstand. Wenn Sie dies planen,werden Sie uns auf Ihrer Seite haben. Wir werden aller-dings nicht müde werden, Herr Bundesfinanzminister,darauf hinzuweisen, daß das, was Sie hinsichtlich dersozialen Sicherungssysteme planen, mit Willkür und mitobrigkeitsstaatlichem Denken, ein Wahlbetrug und eingrundlegend falscher Eingriff in diese Systeme ist. Daswird das Vertrauen der Rentnergeneration in die Stetig-keit und Verläßlichkeit dieses Staates nachhaltig er-schüttern. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. Siemüssen bessere Vorschläge machen.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Oswald Metzger das
Wort.
Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Merz, Pole-mik muß in einer Auseinandersetzung sein, aber geradeSie als jemand, der sachkompetent ist, sollten bei denFakten bleiben. – Ich habe mich vorhin zweimal zu Zwi-schenfragen gemeldet. Diese kleide ich nun in die Formeiner Kurzintervention.Sie haben, wie gestern auch Ihr FraktionsvorsitzenderSchäuble, zum wiederholten Mal behauptet, daß dieseRegierung den Etat 1999 um 30 Milliarden DM aufge-bläht habe und durch die Konsolidierung nur diese Auf-blähung korrigieren wolle. Ich darf Sie darauf hinwei-sen, daß die von Ihnen und diesem Haus im letzten Jahrbeschlossene Mehrwertsteuererhöhung zur Senkungder Rentenversicherungsbeiträge in diesem Jahr zusätz-liche Ausgaben in Höhe von 6 Milliarden DM – dieseZahl ist bereits bereinigt – verursacht hat. Ich darf dar-auf hinweisen, daß allein durch die offene AusweisungFriedrich Merz
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der Pensionen für die Postunterstützungskassen imBundeshaushalt – das haben Sie in der Vergangenheitnie getan; Sie haben diese in einen Schattenhaushalteingestellt – das Haushaltsvolumen 1999 um 8,2 Milli-arden DM aufgebläht wurde. Ich darf Sie auch daraufhinweisen, Kollege Merz, daß die Ökosteuer – Sie kriti-sieren sie, bemerken aber gleichzeitig, daß dadurch dieLohnnebenkosten nicht so stark gesenkt werden, wie wires versprochen haben – das Haushaltsvolumen in diesemJahr zwar um 9,1 Milliarden DM erhöht hat, daß aberseit April die Lohnnebenkosten um 0,4 Prozent gesun-ken sind, das heißt: Die Arbeitgeber und die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer zahlen weniger.Diese Fakten müssen genannt werden. So wird die30-Milliarden-DM-Lüge der Opposition sofort wider-legt. Die anderen Positionen zu nennen, erspare ich mir.Nächster Punkt. Ihr anscheinend so augenfälligesBeispiel dafür, daß wir an etwas sparen, was gar nichtetatisiert war, stimmt einfach nicht. Stichwort: Meister-BAföG. Im Finanzplan von Theo Waigel – ich habenachgeschaut –, der noch immer gilt, weil der neue Fi-nanzplan erst mit dem Etat 2000 beschlossen wird, sindim Jahr 2000 für das Meister-BAföG 200 Millionen DMetatisiert. Wir reduzieren diesen Ansatz um 122 Mil-lionen DM und kommen damit auf 78 Millionen DM.Diese 78 Millionen DM entsprechen exakt den Ist-Ausgaben in diesem Bereich – der Wirtschaftsministerwird es wissen –, weil 60 000 Förderfälle Meister-BAföG bekommen, und das wird auch künftig so blei-ben. Das ist also keine Einsparung zu Lasten des Mei-ster-BAföGs, zu Lasten der beruflichen Ausbildung,sondern schlicht und einfach eine Anpassung des Soll-Bedarfs an den Ist-Bedarf.Vielen Dank.
Kollege Merz, bitte.
Herr Präsident! Der
Hauptpunkt unserer Auseinandersetzung bezieht sich ja
auf meine Aussage, daß im Bundeshaushalt 2000 etwas
gespart werden soll, was durch künstliche Aufblähung
im Bundeshaushalt 1999 von Ihnen an zusätzlichen
Ausgaben erst geschaffen worden ist.
Ich bedanke mich für die Gelegenheit, Ihnen noch ein-
mal darlegen zu können, wie die mittelfristige Finanz-
planung des neuen Bundesfinanzministers gegenüber der
von Theo Waigel aussieht.
Die Ausgaben des Jahres 1999 waren im Entwurf von
Theo Waigel mit 465 Milliarden DM geplant, im Ent-
wurf der rotgrünen Bundesregierung mit 485 Milliarden
DM; das sind 20 Milliarden DM höhere Ausgaben. Für
das Jahr 2000 hatte Theo Waigel in der mittelfristigen
Finanzplanung 469 Milliarden DM angesetzt, die rot-
grüne Bundesregierung nach der Sparoperation von 30
Milliarden DM – nach der Sparoperation! – 478 Milliar-
den DM.
Damit stelle ich fest: Der Bundeshaushalt der rotgrünen
Bundesregierung wird nach der Sparoperation um fast
10 Milliarden DM höhere Ausgaben ausweisen, als die
mittelfristige Finanzplanung der alten Bundesregierung
vorgesehen hatte.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Herr Kollege Merz, wer finanzpolitisch so-viel Dreck am Stecken hat wie CDU/CSU und F.D.P.,
der sollte sich hier nicht so aufblasen, wie Sie das heutemorgen gemacht haben.
Und wer die Glaubwürdigkeit der Politik so unter denSchlitten gebracht hat wie die Regierung Kohl/Waigel,der hat ebenfalls keinen Anlaß, so darüber zu lamentie-ren, wie Sie das gemacht haben. Wer steht denn in derdeutschen Geschichte für Steuerlüge? Das sind doch Sieund nicht die Sozialdemokraten oder auch die Grünen!
Wenn man dann erleben muß, Herr Merz, wie Siehier in eitler Selbstgefälligkeit Ihr Langzeitgedächtnisloben, dann muß ich doch einmal fragen, ob Ihrem phä-nomenalen Langzeitgedächtnis die Anzeige der CDUvom November 1990 entfallen ist, in der gesagt wurde:keine Steuer- und Abgabenerhöhung für die deutscheEinheit. Was haben Sie denn für ein Langzeitgedächtnis,frage ich mich da!
Man kann, ohne unnötige Schärfen hineinzubringen,schon sagen: Unwahrhaftigkeit war doch das Kennzei-chen dieser Politik von der Kohl/Waigel-Koalition.Auch die F.D.P. sollte man dabei nicht vergessen. Insbe-sondere die Finanzpolitik war doch permanent durchUnwahrhaftigkeit gekennzeichnet. Deswegen hatte derVorgänger von Herrn Eichel, Herr Lafontaine, auch da-für gesorgt, daß mehr Transparenz in die Haushaltspoli-tik kam, indem nämlich die Schattenhaushalte über-nommen wurden. Das ist die Wahrheit hinsichtlich des-sen, was Sie hier gesagt haben, Herr Kollege Merz.
Ich glaube, daß die derzeitigen öffentlichen Reaktio-nen, auch von „FAZ“ und anderen Medien, die dieseOswald Metzger
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Koalition meistens nicht loben, doch eines deutlich ge-macht haben: Nicht die wirtschaftliche Entwicklungwird abbrechen, Herr Merz, wie Sie vorhergesagt haben,sondern das einzige, was abbrechen wird, ist die Zu-stimmung in der veröffentlichten Meinung zu Ihrendemagogischen Kampagnen, nichts anderes.
Die Sozialdemokraten haben allen Anlaß, der Bun-desregierung, dem Bundeskanzler, aber insbesondereden Ministern Eichel und Riester für diese beispielhafteLeistung zu danken, die sie in den letzten Wochen er-bracht haben.
Mit der gestrigen Kabinettsentscheidung ist endgültigdokumentiert: Die neue Koalition hat die verhängnis-volle Politik des Stillstandes und der zahlreichen Fehl-entwicklungen der Regierung Kohl gestoppt. Wir habeneine Trendwende zur Bewältigung der großen Heraus-forderungen herbeigeführt.
Weil Herr Merz das zur Seite geschoben hat, mußman noch einmal daran erinnern: Seit Beginn der 90erJahre hat der Bund im Durchschnitt jährlich neue Kre-dite in Höhe von fast 60 Milliarden DM aufgenommen.1996 hat die Kohl/Waigel-Regierung mit 78 MilliardenDM einen traurigen Höhepunkt bei der staatlichenKreditaufnahme erreicht. Trotz einer historisch einma-ligen Niedrigzinsphase hat der von Kohl und Waigel zuverantwortende gewaltige Anstieg der Bundesschuld da-zu geführt, daß mittlerweile mehr als 20 Prozent derSteuereinnahmen des Bundes für Zinszahlungen für die-sen Zweck verwandt werden müssen. Das und nichtsanderes ist unbestreitbar, Herr Merz und meine Damenund Herren von der Opposition.
Unbestreitbar ist: Wenn bei steigender Staatsver-schuldung ein immer größer werdender Teil der Ein-nahmen für Zinszahlungen aufgewendet werden muß,stehen für Zukunftsaufgaben immer weniger Mittel zurVerfügung. Folglich ist klar: Wer immer mehr Schuldenanhäuft, verspielt die Zukunft unserer Kinder.
Wenn Sie wiedergewählt worden wären, hätten Sie dieZukunft unserer Kinder verspielt. Darum geht es poli-tisch.
Mit ihrem gestern beschlossenen Paket wird die Ko-alition mit diesem verhängnisvollen Trend brechen.Auch wenn das eine schwierige Aufgabe ist, wird inden nächsten Tagen immer deutlicher werden, daß eszum Zukunftsprogramm der Koalition keine Alterna-tiven gibt. Bestandteil dieses Pakets sind wesentli-che Weichenstellungen in der Steuer- und Abgabenpoli-tik.Deshalb: Das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 und die erste Stufe der ökologischen Steuerreformhaben eine langjährige unheilvolle Entwicklung ge-stoppt. Wir und nicht Sie haben mit diesem Gesetz denMarsch in den Lohnsteuer- und Abgabenstaat, den wir inden letzten Jahren erleben mußten, gestoppt.
Damit ist jetzt Schluß. Es dürfen nicht länger Kran-kenschwestern, Handwerker, Industriefacharbeiter undIngenieure die Lastesel der Nation bleiben. Wir habenAnfang des Jahres gegen den erbitterten Widerstand derOpposition und mächtiger Interessengruppen eineTrendwende zugunsten von Millionen von Arbeitneh-mern und Familien mit Kindern in Gang gesetzt. Übri-gens, Herr Merz, es kostet Geld, die Gerechtigkeitslük-ke, die Sie hinterlassen haben, zu schließen.Vor diesem Hintergrund muß man auch die sozialeAusgewogenheit der Maßnahmen in diesem Programmbeurteilen. Die letzte Steuerschätzung hat das deutlichgemacht. Im Jahre 2002 werden allein durch die tarifli-chen Änderungen des Steuerentlastungsgesetzes dieLohnsteuerzahler um 45 Milliarden DM entlastet wer-den. Die Familien sind die großen Gewinner unsererPolitik. Sie mußten schließlich hier in der Bundesrepu-blik Deutschland lange genug darauf warten.
Im Konzept für die Familienpolitik für das 21. Jahr-hundert, das Anfang 1998, also zeitlich vor den Be-schlüssen des Bundesverfassungsgerichts, in der SPD-Fraktion beschlossen worden war, wurde gefordert, daßKinderbetreuungskosten nicht nur bei Alleinerziehen-den steuerlich berücksichtigt werden müssen.In diesem Zusammehang ist es mir ein Anliegen, un-serer Kollegin Ingrid Matthäus-Maier zu danken. Sie hatdiese Ergänzung bei der Konzeption der SPD-Familienpolitik bewirkt. Ich glaube, sie hat sich durchihr Wirken hier im Bundestag in den letzten Jahrzehntenum die Steuergerechtigkeit in Deutschland verdient ge-macht.
Das SPD-Konzept zeigt deutlich: Die SPD mußtenicht wie die Regierung Kohl vom Bundesverfassungs-gericht aufgefordert werden, mehr für die Familien zutun. Die abgewählte Koalition und Herr Merz vorneweghat das Kindergeld immer als überflüssigen Sozialtrans-fer gebrandmarkt. Erinnern Sie sich doch an die Debat-ten, die wir im letzten Herbst im Deutschen Bundestaggeführt haben. Da wurde gegen unseren Plan, das Kin-dergeld zu erhöhen, eingewandt, das schaffe schließlichkeine Arbeitsplätze. Welch ein Gegensatz!
Joachim Poß
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Es kennzeichnet doch Ihr Denken, meine Damen undHerren, daß Sie Arbeitsplätze und Familienförderunggegeneinander ausspielen.
Welche Ausgaben wären denn von den Einsparungenim konsumtiven Bereich, die Herr Merz heute morgenals Beitrag zum kreativen Sparen vorzunehmen gefor-dert hat, betroffen? Kindergeld, Erziehungsgeld, BAföG,Renten und Arbeitslosenunterstützung gehören zumkonsumtiven Bereich.Die CDU/CSU will natürlich von den Reden, die sienoch vor wenigen Monaten zur Familienentlastung ge-halten hat, heute nichts mehr wissen,
obwohl sie zusammen mit der F.D.P. dafür verantwort-lich ist, daß Familien über Jahre verfassungswidrig be-steuert wurden. Man muß sich dabei doch nur den vonder abgewählten Bundesregierung lange zurückgehalte-nen Familienbericht anschauen. Können Sie sich nochan den August letzten Jahres, kurz vor der Bundestags-wahl, erinnern? Darin steht, daß Familien nicht nurAusgaben für Ernährung und Kleidung ihrer Kinder ha-ben. Darauf hat die Regierung Kohl aber nicht reagiert.Im Gegenteil, in der Stellungnahme der Regierung Kohlvom 25. August 1998 zu diesem Bericht heißt es wört-lich: Die Bundesregierung hält an ihrer Auffassung fest,daß die Existenzminima im Steuerrecht angemessensind. Mehr nicht. Wir haben diese Verweigerungshal-tung der früheren Koalition gegenüber einer Entlastungder Familien beendet, und wir werden diesen Weg auchbei der nächsten Stufe im Jahre 2002 konsequent fort-setzen.
Ich komme jetzt zur Unternehmensbesteuerung:Vor wenigen Wochen konnte man lesen, daß sich dieDeutsche Bank und andere Großunternehmen erfreutdazu geäußert haben, daß in ihrer Bilanz die Senkungdes Körperschaftsteuersatzes, der ja in der öffentlichenDiskussion bisher überhaupt keine Rolle gespielt hat,von 45 auf 40 Prozent eine Ergebnisverbesserung bringt.Das heißt, wir haben nicht nur an Familien und Arbeit-nehmer gedacht, sondern auch an die Unternehmen. Dasbetrifft ja auch diejenigen, die gewerbliche Einkünftebeziehen.Ich habe daran erinnert, weil wir diesen Weg jetztfortsetzen, aber nicht auf der Basis der Petersberger Be-schlüsse. Hierdurch wäre nämlich keine moderne Unter-nehmensteuerreform in Gang gesetzt worden. Wir dage-gen machen eine europataugliche Unternehmensteuerre-form, durch die der Standort Deutschland gestärkt wird.Der vorgesehene Steuersatz von 25 Prozent für alle Un-ternehmen und die deutliche Nettoentlastung in Höhevon 8 Milliarden DM werden die Wettbewerbsfähigkeitder deutschen Unternehmen verbessern. Das Steuerent-lastungsgesetz hatte den Mittelstand bereits um 5,5 Mil-liarden DM entlastet. Die Unternehmensteuerlast wirdgerechter verteilt, Investitionen werden belohnt, und dieSchieflage bei der Steuerbelastung zwischen kleinen undmittleren Unternehmen einerseits und international ope-rierenden Konzernen andererseits wird korrigiert. DieseSchieflage haben Sie hinterlassen. Sie haben nämlichkeine konzeptionelle Steuerpolitik verfolgt, sondern esnur behauptet.
Durch ein Planspiel mit verschiedenen Variantenwird insbesondere geprüft, in welcher Form die konkreteBesteuerung der vielen kleinen und mittleren Unterneh-men in Deutschland am zweckmäßigsten erfolgen soll.Das heißt, wir packen auch diese Reformaufgabe an undwerden sie zum Erfolg bringen.Wichtig für die Unternehmen ist das jetzt gegebenedeutliche Signal. Das gilt übrigens auch für die ökologi-sche Steuerreform. Wir setzen sie konsequent fort. Inberechenbaren Schritten wird Energie maßvoll verteuert;die Arbeitskosten werden verringert; der Staat behältnichts für sich.Wir haben von der Regierung Kohl nicht nur einegewaltige Staatsschuld übernommen, sondern auch einriesiges Abgabenproblem sowie ein beschäftigungspoli-tisches Desaster von bedrückender Dimension. Der Kar-dinalfehler der letzten Jahre bestand in einer zunehmen-den Verlagerung gesamtstaatlicher und damit demGrunde nach aus Steuern zu finanzierender Aufgabenauf die Sozialversicherungsträger. Das war doch derKern Ihrer Steuerlüge.
Sie haben dadurch die Kosten der deutschen Einheit op-tisch niedrig gehalten.Auch die Unternehmen, die anfangs lautstark prote-stiert haben, unterstützen jetzt unseren langfristig ange-legten Weg. Die ökologische Steuerreform ist ein wich-tiger Baustein für mehr Beschäftigung und ein Motorzur Entwicklung neuer Energiespartechnologien in allenBereichen. Sie wird auch dazu beitragen, die Wettbe-werbsfähigkeit deutscher Produkte auf den Weltmärktenzu erhöhen.Das Zukunftsprogramm der Koalition verbindet dieNotwendigkeit der Haushaltssanierung mit mehr sozialerGerechtigkeit und Sicherheit sowie den notwendigenImpulsen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Die-ses Konzept ist beschäftigungsfördernd. Es ist bei allenHärten, die ich gerne zugeben will, sozial ausgewogen,weil wir bereits in den letzten Monaten die Gerechtig-keitslücken weiter geschlossen haben.Ich sage im Namen der SPD-Bundestagsfraktion,damit die Menschen im Lande es wissen: Wir werdendie soziale Balance bei weiteren zu beschließendenMaßnahmen im Auge behalten. Die Menschen könnensich darauf verlassen. Die SPD bleibt in ihrer Tradition.Sie ist die einzige Volkspartei, die Innovation und Mo-dernisierung mit sozialer Gerechtigkeit verbindet.Danke schön.
Joachim Poß
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Für die F.D.P.-
Fraktion erteile ich dem Kollegen Günter Rexrodt das
Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, HerrPoß, wenn ich Ihnen zuhöre, dann bekomme ich denEindruck, daß wir dieses Land in den letzten Jahren anden Rand des Abgrunds geführt haben
und Sie, sozialdemokratische und grüne Lichtgestalten,gerade dabei sind, dieses Land zu retten.
Dann hören Sie sich einmal an, was die Menschen indiesem Lande darüber denken.
Sie, Herr Bundesfinanzminister, wählen hier großeWorte für ein Paket, das sich schon nach kurzem Hinse-hen als Mogelpackung – gemessen an Ihren eigenen An-sprüchen – herausstellt.
Der Bundeskanzler spricht von Paradigmenwechselund epochemachender Politik. Meine Damen und Her-ren, Sprechblasen sind das eine; eine Politik mit Sub-stanz ist das andere.
Herr Eichel, gerade Sie sagen: Wir haben eine quasiverantwortungslos entstandene Staatsschuld geerbt. Jetztsparen wir, um die Generationengerechtigkeit wieder-herzustellen. Wir sparen so, daß wir ein paar Grausam-keiten begehen müssen; aber die müssen eben sein. –Das klingt stark; das klingt gemeinwohlorientiert; dasklingt tapfer. Aber lassen Sie nicht außer acht, daß wirin den letzten Jahren die finanziellen Lasten der Wie-dervereinigung zu tragen hatten. Bitte vergessen Sieauch nicht, daß in den ersten acht Jahren unserer Regie-rungszeit die Staatsquote von fast 49 Prozent auf 42Prozent gesenkt worden ist.
Ich garantiere Ihnen: Auch Sie wären im Zuge der Wie-dervereinigung nicht umhingekommen, die Staatsquotevorübergehend ansteigen zu lassen. Wir haben bereitsim Jahre 1998 eine Wende erzielt.Tun Sie nicht so, als hätte der Kollege Waigel eineunsolide Finanzpolitik gemacht. Meine Damen und Her-ren, bei jedem Leistungsgesetz, bei jeder Steuervergün-stigung waren doch Sie diejenigen, die auf einen Schelmnoch anderthalb draufgesetzt haben, die immer draufge-sattelt haben. Sie sind die Verteilungspolitiker in diesemHaus. Das können Sie doch nicht ernsthaft in Abredestellen.
Das, was hier als Sparpaket vorgelegt wird, enthältdarüber hinaus eine ganze Reihe von Luftbuchungen,eine globale Minderausgabe, Herr Eichel, von 3,6 Milli-arden DM und 1,6 Milliarden DM sonstige Ausgaben-sperren oder sonstige Einnahmen, die nicht quantifiziertsind. Ich gehe darauf jetzt nicht weiter ein.Wichtiger sind die politischen Punkte. Sie sagen, dasGanze hat einen Sparzweck. Der bestehe darin, daß wirFreiräume bekommen, um Arbeitsplätze schaffen zukönnen. – Ich zitiere aus der Begründung des soge-nannten Steuerentlastungsgesetzes vom 31. August1998, das in Wirklichkeit ein Steuerbelastungsgesetz ist:
„Vorbereitung einer Reform der Unternehmensbesteue-rung bis zum Jahre 2000“.In der Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbil-dung und Wettbewerbsfähigkeit vom 7. Dezember ver-künden Sie:Die am Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wett-bewerbsfähigkeit beteiligten Seiten streben vor al-lem an, …3. ein Inkraftsetzen der Unternehmensteuerreforminsbesondere zur Entlastung der mittelständischenWirtschaft zum 1. Januar 2000.
Ich frage mich: Gehören Sie denn nicht zu den Teil-nehmern am Bündnis für Arbeit? Warum erklären Sie soetwas am 8. Dezember 1998, wenn spätestens am 24.Juni 1999 diese Aussage wieder Makulatur gewordenist, meine Damen und Herren?
Aber das ist der Stil der Regierung Schröder. So etwashat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nichtgegeben.
Ich habe größte Zweifel, daß Sie das Unternehmen-steuerreformkonzept, das Sie in den Raum gestellt ha-ben, überhaupt durchsetzen werden. Wie wollen Sie eineSpreizung des Spitzensteuersatzes von 48,5 Prozent beiEinkünften aus unselbständiger Tätigkeit und bei sonsti-gen Einkünften und von 35 Prozent bei den Unterneh-menseinkünften verfassungsrechtlich durchbekommen?Sie haben da gar keine Chance. Diese Spreizung istüberhaupt nicht zu machen; das Verfassungsgericht wirdIhnen nicht folgen.Dann steht noch eine Vermögensabgabe im Raum.Ferner ist zu fragen, was das, was Sie unter dem irrefüh-renden Begriff „Ökosteuer“ machen, nämlich die Erhö-hung der Energiesteuern, für die mittelständischen Un-ternehmen bedeutet. Jetzt sollen noch viermal sechs
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Pfennige draufgelegt werden. Meine Damen und Herren,auf der einen Seite wollen Sie den Menschen etwas indie Tasche stecken, auf der anderen Seite haben Sie esihnen entzogen. Das gilt auch für die mittelständischenUnternehmen, die keine Chance haben, sich dieser Öko-steuer zu entziehen.
Wie kann man die Weichen nur so verkehrt stellen? Hierwird kein Investor ermuntert. Die Leute klappen die Bü-cher zu und gehen woandershin. Die Wirtschaft brauchtBerechenbarkeit und Kalkulierbarkeit.Wenn ich Kalkulierbarkeit sage, dann bin ich auchschnell bei den Renten. Was machen Sie eigentlich mitden Renten? Sie sprechen von Beitragsstabilisierung fürdie nächsten Jahre, damit die Rente auf Dauer sicherwird. Aber als erstes haben Sie die demographischeKomponente, die wir aus diesem Grunde eingeführthatten, wieder rückgängig gemacht. Wäre sie geblieben,hätte sie schon im Jahre 1999 zu einer Verstetigung derRentenentwicklung beigetragen. Statt dessen wird vonIhnen die Rentenerhöhung willkürlich an die Inflations-rate angekoppelt, was zur Folge hat, daß den Rentnerneine ins Haus stehende Erhöhung in der Größenordnungvon zwischen 3 und 4 Prozent vorenthalten wird und daßsie Angst bekommen, daß auch in Zukunft eine Politikgemacht wird, die einfach an der Kassenlage des Bun-deshaushalts orientiert ist. Das kann man mit den Rent-nern nicht machen, meine Damen und Herren, und daswissen sie auch.
Lassen Sie mich zu den Renten aber auch sagen: WoSie recht haben, haben Sie recht. Ich beziehe mich aufdie von Ihnen in die Diskussion gebrachte Komponenteder privaten Eigenvorsorge. Ich sage Ihnen hier fürmeine Partei: Wir lassen in dem Punkt der privatenEigenvorsorge mit uns reden, auch dann, wenn Sie wei-ter gehen, als Sie jetzt gehen werden. Es war unter dengegebenen Umständen richtig, auf die Pflichtbeiträge zuverzichten. Aber über diese Dinge kann man reden. Wirsind auch offen, wenn es darum geht, eine steuerlicheBegünstigung für das vorzusehen, was Privatpersonenzur privaten Eigenvorsorge leisten. Voraussetzung dafürist, daß das System transparent ist, und zwar auch hin-sichtlich der, wie Sie es ausdrücken, eventuell nachgela-gerten Besteuerung der Rente. Wenn es um privateEigenvorsorge bei der Rente geht, ist mit meiner Parteizu reden.Lassen Sie mich nun auf Ihr Sparpapier im einzelneneingehen. Angesichts dessen, was Sie an Postulaten fürdieses Paket in den Raum gestellt haben, muß ich schonIhre Glaubwürdigkeit anmahnen. Ich möchte – so wieder Kollege Merz – folgende Frage aufwerfen: Wo istdie Bemessungsgrundlage für die 30 Milliarden DM?Ich habe sie ebenso wie Herr Merz nicht gefunden. Eshandelt sich um eine fiktive Zahl. Wenn ich den Haus-halt 2000 mit dem Haushalt 1999 vergleiche, dann stelleich eine Senkung der Ausgaben um lediglich 8 Milli-arden DM fest. Das kann es wohl nicht sein.Daran kann auch der Kollege Metzger mit Zahlen-jonglierereien nichts ändern. Wissen Sie, lieber HerrKollege Metzger, es gibt immer gute Gründe dafür, aus-zuführen, warum ein Haushalt diese oder jene Dimensi-on hat. Faktum aber ist, daß der Haushalt 2000 – gemes-sen am Haushalt 1999 – Minderausgaben von 8 Milliar-den DM und nicht von 30 Milliarden DM vorsieht. Esgibt also keine Bemessungsgrundlage von 30 Milliar-den DM.Der zweite Punkt. Sie senken die Beiträge der Bun-desanstalt für die Renten-, Kranken- und Pflegeversiche-rung der Bezieher von Arbeitslosenhilfe. Herr Eichel,damit verlagern Sie Ihr eigenes Haushaltsproblem aufdie Haushalte der Versicherungsträger; nichts anderesgeschieht. Dies wird dazu führen, daß die Versiche-rungsträger auf Sie zukommen und das Geld an andererStelle fordern. Ganz abgesehen von der Tatsache, daßdie Kürzung der Beiträge auf den tatsächlichen Zahlbe-trag an die Arbeitslosenhilfeempfänger mittelfristig dazuführt – das sage ich in Richtung SPD –, daß diejenigen,die ohnehin die geringste Rente beziehen, am Ende nochweniger haben werden. Das, meine Damen und Herren,ist Sozialpolitik nach sozialdemokratischem Muster.
– Das, Herr Wagner, ist zutreffend. Das wissen Siegenau. Sie müssen mir dafür einen Gegenbeweis brin-gen.Ein weiterer Punkt betrifft die Unterhaltszahlungenaus den sogenannten Vorschußkassen und das Wohn-geld. Diese Zahlungen sollen vermehrt durch die Ge-meinden getätigt werden und weniger durch den Bund.Kennen Sie denn nicht die Kassenlage der Gemeinden?Haben Sie das mit den Gemeinden abgestimmt?
Herr Eichel, die Gemeinden werden Ihnen was husten.Wenn Sie dies tatsächlich verwirklichen wollen, dannwerden die Länder im Interesse der Gemeinden mehrGeld verlangen. Das Haushaltsproblem, das Sie ver-schieben wollten, haben Sie auf diese Weise wieder aufdem Tisch.
Sie reduzieren fiktiv die Personalverstärkungsmittelfür das Jahr 2000 um 2 Milliarden, dann noch einmal um2 Milliarden DM, dann um 3, 4 und 5 Milliarden DM.Von welchen Steigerungen der Personalkosten sind Sieeigentlich ausgegangen? Diese astronomischen Steige-rungen hat man erst reingerechnet und dann wieder aus-gerechnet und kommt dann im Rahmen des Sparpaketsauf eine Kürzung um 30 Milliarden DM.
Das sind nichts als Luftbuchungen und Luftnummern,das ist ein Zahlenjonglieren. – Ich möchte von den Red-Dr. Günter Rexrodt
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nern aus der Koalition, die nach mir reden werden, dasGegenteil bewiesen haben. – So sind die Tatsachen.
Beim Verkehrs- und beim Bauministerium sollen3,5 Milliarden DM eingespart werden. Die Mittel für dieGemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes werden gekürzt. Wenn SieHaushalte nur ein bißchen kennen, dann müßten Sieeigentlich wissen, daß Sie Investitionen rausschießen.Diese Regierung wollte aber doch Arbeitsplätze schaf-fen. Wie das zusammenpaßt, muß mir erst einmal einererklären!
Zu den Kürzungen beim Wirtschaftsministerium. Dereinzige Punkt, bei dem man hätte Mut zeigen können,wäre die Kürzung der Kohlesubventionen gewesen, dieimmer noch 9 Milliarden DM ausmachen. Da wagt sichaber keiner heran. Da ist Ideologie vor. Da werden dieLeute aufgehetzt. Was wird statt dessen gemacht? – DieMittelstandsförderung und die Ostförderung werdengekürzt. Das wiederum ist ein Punkt, wo man sich anden Kopf fassen muß. Die Regierung hat in ihrer Regie-rungserklärung gesagt, die Ostförderung werde ausge-baut, sie werde mehr für die neuen Länder tun. In Wirk-lichkeit werden Mittel beim Bundeswirtschaftsministe-rium und bei der Treuhand, also bei der BVS, gekürzt.Der BVS wird fast 1 Milliarde DM weggenommen, zumTeil verschoben auf eine Kreditfinanzierung der KfW.Außerdem gibt es eine Streckung der Finanzhilfen fürdie Pflegeeinrichtungen in den neuen Ländern. Diesmacht mehr als 1 Milliarde DM aus.Auch ich sage: Alles gehört auf den Prüfstand. Auchdies kann man auf den Prüfstand stellen. Aber das Ver-messene ist, vor der Wahl und auch noch in der Regie-rungserklärung uns zu sagen: Wir wollen im Ostendraufsatteln. Wir wollen dort nicht kürzen. – In Wirk-lichkeit kürzen Sie jetzt um mehr als 1 Milliarde DM.Das, was Sie versprochen haben, haben Sie nicht gehal-ten. Das ist eine Tatsache.
Es geht nicht darum, ob Sparen richtig oder falsch ist.Sparen ist immer gut.
Es geht darum, ob jemand seine Wahlversprecheneinhält oder nicht.
Es geht darum, ob man zugibt, daß die Wirklichkeitanders als das Parteiprogramm ist. Darum treffe ich dieeinfache und erschreckende Feststellung, daß Sie dieChaospolitik der ersten acht Monate, die Sie eigentlichwährend der Kosovo-Krise Zeit hatten zu überdenken,unbeirrt fortsetzen. Falsche Weichenstellungen, Fehlerim einzelnen! Sie können es einfach nicht. Das ist dieschlichte Feststellung. Sie sind nicht in der Lage, dasRichtige zu tun.
Wir brauchen in diesem Lande keine Verpackungs-künstler. Wir brauchen Leute, die eine seriöse und solidePolitik machen und die das halten, was sie versprechen.Sie liefern uns, der Opposition, jeden Tag eine neueVorlage. Das ist gut für die Opposition, aber das istschlecht für dieses Land. Die Menschen draußen erken-nen das mehr und mehr.
Nun hat das Wort
Kollege Oswald Metzger, Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchtean das anknüpfen, was Kollege Rexrodt zum Schluß ge-sagt hat, nämlich an die Gemeinwohlorientierung in derPolitik. Kollege Schäuble, wenn Eckhard Fuhr in derheutigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zei-tung“ den Rollenwechsel, den die Union jetzt probiert,kritisch kommentiert, nachdem diese Koalition jetzt ver-sucht – vielleicht wider Ihre Erwartungen; deshalbschäumen Sie so –, notwendige Konsolidierungsmaß-nahmen quer durch alle Haushalte einzuleiten, und Sieplötzlich Krokodilstränen über Themen vergießen, dieSie früher verbal zu puschen versucht haben, aber nichtdurchsetzen konnten, dann stimmt hier etwas nicht.Dann handelt es sich um eine pharisäische Diskussion,in der diejenigen, die im Glashaus sitzen, nicht mit Stei-nen werfen sollten.Schauen Sie sich die heutige Presselandschaft an: Inder Wirtschaftspresse genauso wie in der Boulevard-presse wird anerkannt, daß dieser Finanzminister einenParadigmenwechsel in der deutschen Finanzpolitik ein-leitet, indem er ganz deutlich sagt: Wir wollen künftigmit den vorhandenen Einnahmen auskommen. Wir er-höhen die Steuern nicht, um damit die steigenden Aus-gaben auszugleichen, sondern korrigieren den Etat desBundes auf der Ausgabenseite.Ich selber gebe hier ohne Einschränkung zu: Ich habediesen Kraftakt nicht für möglich gehalten. Es ist einErgebnis erzielt worden, zu dem unsere Fraktion, zudem auch der Haushaltssprecher der kleineren Regie-rungsfraktion uneingeschränkt steht. Wir werden bei derNeuverschuldung einen Sinkflug einleiten. Das könnenSie daran ablesen, daß wir sie allein schon in dieser Le-gislaturperiode halbieren werden. Das steht im Gegen-satz zu den Ergebnissen, die Herr Kollege Waigel unddie alte Koalition in den letzten vier Jahren erzielt ha-ben. Diese Halbierung ist ein gigantischer Erfolg.
Dr. Günter Rexrodt
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3926 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Denken Sie bitte immer daran: Auf jeden Bürger ent-fallen statistisch jedes Jahr 1 000 DM an Zinslasten.4 000 DM der Steuerzahlungen, die eine vierköpfigeFamilie im Jahr durchschnittlich leisten muß, müssen fürZinszahlungen verwendet werden. Das entspricht derZins-Steuer-Quote von 22 Prozent, die wir beklagen.Unsere Gesellschaft steht mit dem Rücken an der Wand.Diese Regierung, die wirklich nicht immer die Perfor-mance hatte, die man sich selber als Koalitionsabgeord-neter wünscht, macht das, was für diese Gesellschaftjetzt unabweisbar notwendig ist. Wir haben nicht denbequemen Weg gewählt, wie es die letzte Regierung, die16 Jahre im Amt war, immer getan hat, nämlich dieSteuern zu erhöhen, die Lohnnebenkosten steigen zulassen und sich teilweise hinter den Kosten der Wieder-vereinigung zu verstecken. Letzteres ist heute in der„Financial Times“ kommentiert worden. Zu dem Spar-paket von Eichel schreibt sie: Die alte Bundesregierunghat sich hinter der Wiedervereinigung versteckt, hatimmer davon gesprochen, daß der Gürtel enger ge-schnallt werden muß, aber nicht den Mut gehabt, tat-sächlich die notwendigen Maßnahmen durchzuführen.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ – ich bringe bewußt dieAuslandspresse, damit Sie die Sicht des Auslandes er-kennen – kommentiert heute genauso: Das opportunisti-sche Durchwursteln der Regierung Kohl/Waigel in ih-ren letzten Regierungsjahren habe viel zu der struktu-rellen Ausgangssituation dieses Landes, das sich volks-wirtschaftlich in unterdurchschnittlichen Wachstumsra-ten ausdrücke, beigetragen. Seien wir doch einmal ehr-lich! Warum liegt Deutschland mit den Wachstumsratenreal und nominal am Ende der europäischen Fahnen-stange? Doch nicht, weil wir seit neun Monaten regie-ren!
In den 90er Jahren lag die durchschnittliche realeWirtschaftswachstumsrate dieser Republik bei 1,8 Pro-zent. Sie wissen genau, daß heute 2,5 Prozent realesWirtschaftswachstum nötig sind, um überhaupt die Be-schäftigungsschwelle zu überschreiten. In den 90er Jah-ren haben wir bis dato neun Monate regiert, Sie aber dierestlichen neun Jahre. Wo liegt dann, bitte schön, dieVerantwortung? Gilt es an Ihrer Stelle dann nicht, etwasweniger laut zu tönen und statt dessen darauf hinzuwei-sen, daß Sie selber eine wesentlich größere Verantwor-tung dafür tragen?Herr Merz, wenn Sie am Schluß Ihre Rede – die eineAttacke auf das Sparprogramm der Koalition war – sa-gen, Sie seien bereit, daran mitzuwirken, dann wirkt dasetwas seltsam. Wenn Sie uns noch bei der Beratung desEtats für 1999 vorgehalten haben, wir würden nicht spa-ren und wir würden den Haushalt expandieren, dannmüssen Sie jetzt zur Kenntnis nehmen, daß wir die Aus-gaben im nächsten Etat um 1,5 bis 1,6 Prozent redzudie-ren. Sie aber stellen sich bei Ihrer Erwiderung auf meineKurzintervention hin und sagen nichts anderes als:„Waigel hatte eine Finanzplanung von 469 MilliardenDM, und ihr macht einen Etat von 478 Milliarden DM.Wo ist da die Einsparung?“ Ja, soll ich es noch einmalwiederholen? Die 8 Milliarden DM für die Postunter-stützungskasse waren noch nicht drin. Legen Sie diedrauf, sind wir bereits gleichgezogen. Die Ausgleichs-maßnahmen für Bremen und das Saarland waren nochnicht drin. Sie können mit diesem unseriösen Vergleichkeine Punkte machen! Trotz Ihres Europawahlerfolgessind Sie seit langer Zeit erstmals wieder in einer argu-mentativen Defensive,
weil es als Opposition schwierig ist, einen Stellungs-wechsel vorzunehmen und das zu diskreditieren, was –das Sparpaket betreffend – heute sogar Barbier in der„FAZ“ von der Grundrichtung her positiv kommentiert.Als Unionsmann müßten einem schon die Ohren klin-geln, wenn es so weit kommt, daß dieser Ordoliberalesagt, das sei der richtige Ansatz.
Insofern geht Ihr Bausch-und-Bogen-Verriß absolut ander Sache vorbei.Was heißt Sparen? Natürlich bedeutet Sparen auchEinschnitte. Wir probieren den Kraftakt quer durch allegesellschaftlichen Bereiche. Ich fange mit dem an, wasder Bundesarbeitsminister Riester bei der Rente mit sei-nem Inflationsausgleich für die nächsten zwei Jahremacht. Das ist eben keine „Rente nach Kassenlage“. Wirwerden doch die Rentendiskussion erleben, wenn imHerbst die neuen Sterbetafeln kommen, die zeigen, daßdie rechnerische Lebenserwartung in dieser Gesellschaftnoch höher ist und daß daher alle Hochrechnungen inbezug auf den Rentenversicherungsbeitrag noch einmalüberprüft werden müssen. Die Regierungsfraktionenwerden gemeinsam mit dem Sozialminister eine Renten-formel entwickeln, die die Grundsicherung einführt, umim Alter ein Einkommen auf der Sozialhilfebasis zu ha-ben, ohne daß eine Bedarfsprüfung stattfindet und ohnedaß ein Durchgriffsrecht gegen die Angehörigen besteht.Das werden wir steuerfinanziert machen; dafür stehenTeile der Einnahmen aus der Ökosteuer zur Verfügung.Das ist ein Fortschritt, der Altersarmut verhindert.
Kollege Metzger,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Aber bitte.
Herr Kollege Metzger, Siehaben soeben gesagt, daß sich die Koalition bei ihrenSparbemühungen an alle gesellschaftlichen Bereichewendet. Stimmen Sie mit mir überein, daß es auf Grundder wahrlich gigantischen öffentlichen Verschuldung –insbesondere der des Bundes – auch Nutznießer, umnicht zu sagen: Profiteure, gegeben hat? Denn jene, dieOswald Metzger
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genügend Geld haben, um es den öffentlichen Händenzu pumpen, haben aus den zuverlässigen Zinszahlungender öffentlichen Hände einen ziemlich großen Nutzengezogen. Stimmen Sie mit mir darin überein, daß es an-gemessen wäre, darüber nachzudenken, ob man nicht je-nen, die über Jahre hinweg daraus Nutzen gezogen ha-ben, eine Steuer auferlegt, um aus dieser Haushaltsmise-re, in der sich das Land befindet, herauszukommen undsich so vielleicht einige harte Einschnitte in sensible Be-reiche zu ersparen, die wahrlich die kleinen Leute tref-fen?
Die Debatte ist so alt wie der Haushalt selbst.
Im Zusammenhang mit Steuererhöhungen für die Nutz-
nießer der Verschuldung kann man drei Themen anspre-
chen: erstens die Vermögensteuer, zweitens die Erb-
schaftsteuer und drittens eine Abgeltungsteuer für Zins-
erträge. Wenn Sie von mir eine Bewertung wollen, dann
schließe ich mich voll dem an, was der Kanzler gestern
gesagt hat. Mit der Wiedereinführung der Vermögen-
steuer oder mit einer Erbschaftsteuererhöhung diskredi-
tiert man den konzeptionellen Ansatz des Sparens.
Sie wissen zudem genau, Frau Luft, daß der Aufwand
für die Erhebung der Vermögensteuer – man müßte die
Datenbasis erneut schaffen, außerdem ist es eine reine
Ländersteuer, von der der Bund gar nichts hätte – in kei-
nem Verhältnis zum Ertrag steht.
Über eine Erhöhung der Erbschaftsteuer kann man
sicher lange diskutieren, aber diese Debatte stellt sich
jetzt überhaupt nicht. Denn viele Leute – vielleicht sogar
Wählerinnen und Wähler der PDS im Osten – sagen zu
Recht: Wenn ich in meinem Leben aus versteuertem
Einkommen Vermögen aufbaue oder Eigentum bilde,
dann darf das nicht noch einmal abgegriffen werden.
Zum dritten Bereich – damit Sie merken: ich diffe-
renziere –, der Abgeltungsteuer auf Zinserträge. Das
zu erreichen ist in der Tat ein gemeinsames Ziel auf eu-
ropäischer Ebene. Sie wissen, seit letztem Jahr liegt von
der EU-Kommission ein Vorschlag auf dem Tisch – der
leider nicht mehrheitsfähig ist –, wonach EU-weit eine
20prozentige Abgeltungsteuer eingeführt werden soll.
Hier gibt es mit Sicherheit Handlungsbedarf. Denn auf
Grund der Halbierung des Sparerfreibetrages werden ei-
ne Reihe von Bundesbürgern im nächsten Jahr die Kon-
ten bei ihren Banken räumen. Von einer solchen Kapi-
talflucht ins Ausland hat diese Gesellschaft nichts, sie
nützt ihr gar nichts.
Ich war bei der Rente; die Grundrente hatte ich abge-
handelt. Wir Grünen halten an der Beitragsfinanzie-
rung der Rente fest. Wer mehr arbeitet in seinem Le-
ben, soll im Alter auch höhere Rentenansprüche haben.
Dieses Äquivalenzprinzip ist wichtig. Trotzdem müssen
wir wissen: Auf Grund der steigenden Lebenserwartung
wäre eine Finanzierung der Altersrenten beitragsäqui-
valent nur bei einer Explosion der Beitragssätze mög-
lich.
Kollege Metzger, es
besteht der Wunsch nach zwei weiteren Zwischenfragen
von der PDS.
Ich setze den Gedankengang zur Rente fort, dann kom-
me ich auf Sie zurück.
Mit der Einführung einer obligatorischen privaten
Zusatzversorgung hat der Arbeitsminister einen Vor-
schlag gemacht, der eine riesige Diskussion auslöste.
Der Kern seiner Botschaft, seines Reformansatzes wurde
wohl nicht von allen verstanden, auch bei uns nicht von
allen.
Dieser Reformansatz – die Eigenvorsorge zu stärken –
ist, Kollege Rexrodt, die einzige Möglichkeit, um in den
nächsten zehn, 15 Jahren noch einen Kapitalstock mit
guten Nettorenditen aufzubauen. Denn in den nächsten
15 Jahren wird – dies ist aus der Alterspyramide ersicht-
lich – der aufgebaute Kapitalstock nicht verzehrt werden
müssen. Dies führt zu einer höheren Rendite und somit
dazu, daß der Lebensstandard im Alter auf relativ hohem
Niveau gesichert werden kann.
Das hat auch eine volkswirtschaftliche Komponente:
Wenn eine Gesellschaft älter wird, müssen die Men-
schen im Alter ein ausreichendes Einkommen haben.
Ansonsten funktioniert die Ökonomie in dieser Gesell-
schaft nicht mehr. Denn Menschen, die kein Einkommen
haben, können sich nichts leisten. Die wenigen Jungen
können – das ist das Gesetz des Wirtschaftskreislaufs –
dann nicht von der Nachfrage der älteren Generation
profitieren. Es ist also im Interesse der Generationenge-
rechtigkeit, daß dieser Systemwechsel kommt. Ich glau-
be, daß diese Koalition eine Lösung finden wird, die den
demographischen Wandel einbezieht, wenn auch nicht
in Form eines solchen Faktors, wie Sie es machen woll-
ten. Die Wirkung wird die gleiche sein, tendenziell muß
unser Vorschlag sogar noch ein bißchen weiter gehen,
weil die Lebenserwartung statistisch gesehen höher ist
als die, mit der Sie während Ihrer Regierungszeit ge-
rechnet haben.
Können jetzt dieZwischenfragen gestellt werden? – Kollegin Höll, dannKollege Rössel.Dr. Christa Luft
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Herr Kollege Metzger,
wenn Sie über Sozialabbau unter der Überschrift Sparen
sprechen, möchte ich doch bitten, daß wir noch einmal
zur Einnahmenseite zurückkommen, denn ich glaube,
Sie haben die Frage von Frau Professor Luft nicht aus-
reichend beantwortet.
Nicht in Ihrem Sinne.
Sie haben es nur auf die
Steuern reduziert, aber wer wirklich große Vermögen in
den letzten Jahren anhäufen konnte, hatte natürlich da-
durch die Möglichkeit, auch über die Zinsen eine zu-
sätzliche Einnahme zu erzielen, die jetzt nicht doppelt
besteuert werden würde.
Sie wissen, daß es einen Vorschlag gibt, eine einma-
lige befristete Vermögensabgabe auf wirklich große
Vermögen einzuführen – natürlich wäre davon jedes
Einfamilienhaus freigestellt –, die bei Versicherungen
und Banken bestehen.
Die Frage bitte!
Ich möchte Sie fragen, Herr
Kollege Metzger, wie Sie sich zu diesem Vorschlag
einer einmaligen, zeitlich auf zehn Jahre befristeten
Vermögensabgabe positionieren, denn das ist etwas an-
deres im Unterschied zu der Frage, die Sie beantwortet
haben und die direkte Steuererhöhungen betraf.
Ich sage es kurz und bündig. Die Antwort auf die Frage
von Frau Luft war vielleicht nicht in Ihrem Sinne, aber
ich habe sie in meinem Sinne gegeben.
Zu Ihrer Frage: Eine einmalige Vermögensabgabe
halte ich für Quatsch. Damit treiben wir Kapital aus dem
Land, das diese Gesellschaft braucht. Gerechtigkeit im
Steuersystem gibt es nur dadurch, daß wir bei den di-
rekten Steuern die Nominaltarife senken und die Bemes-
sungsgrundlage verbreitern. Dann kommen wir zu einem
Steuersystem, bei dem in der Tendenz Gerechtigkeit
herrscht.
Kollege Rössel.
Kollege Metzger, wie
gehen Sie mit der deutlichen Kritik der kommunalen
Spitzenverbände um, die sich dagegen verwahren, daß
die Sanierung des Bundeshaushaltes, zumindest be-
stimmter Teile des Bundeshaushaltes, zu ihren Lasten
erfolgen soll?
Wie gehen Sie damit um, daß die gestern beschlosse-
ne Abschaffung des staatlichen Wohngeldes, die Strei-
chung der originären Arbeitslosenhilfe, die Übertragung
von Unterhaltszahlungen an die Kommunalkassen zu
Mehrbelastungen der Sozialhilfeetats von rund 3 Milli-
arden DM führen werden, ohne daß bisher erkennbar ist,
daß der Bund in irgendeiner Weise etwas zur Stärkung
der Finanzkraft der Kommunen tut?
Eine Frage bitte!
Wann endlich setzt
die Bundesregierung und die sie tragende Koalition die
Koalitionsvereinbarung um, die Finanzkraft der Kom-
munen zu stärken? Denn deren Finanzkraft hat wohl mit
kommunaler Selbstverwaltung wenig zu tun. – Ich bitte
um die Antwort.
Kollege Rössel, die Frage ist absolut berechtigt. Natür-lich muß man beim Sparen immer darauf achten, ob esLastenverschiebungen auf andere staatliche Ebenen gibt.Das wäre nämlich kein Sparen, es sei denn, es werdendort gleichzeitig Strukturreformen wie bei der Rentevorgenommen.Was die kommunale Seite betrifft: Es ist richtig, daßalle diese Bereiche, die Sie hier ansprechen, zunächstdie Einnahmenseite der Kommunen verschlechtern.Wenn beispielsweise warme Wohnungen für Sozialhil-feempfänger, für die die Kommunen geradestehen müs-sen, nicht mehr durch das pauschale Wohngeld desBundes und auch durch Komplementärfinanzierung derLänder finanziert werden können, dann erhöht das einer-seits die Sozialhilfelasten. Andererseits erhöht es auchdie Verantwortung derer vor Ort, bei der Anmietung vonWohnungen auf Kostenbewußtsein zu achten.
Wenn man Mitfinanziers wie den Bund hat, führtedas in der Vergangenheit dazu, daß beim Wohngeld in-zwischen 53 Prozent als sogenanntes pauschaliertesWohngeld laufen und weniger als die Hälfte Tabellen-wohngeld für den normalen Wohngeldempfänger undArbeitnehmer oder Rentner ist. Da stimmt etwas nicht,und das wollen wir korrigieren.Gleichzeitig ist es natürlich so, Kollege Rössel, daßmit jeder Kindergelderhöhung, auch mit derjenigen imJanuar um 30 Mark pro Kind, die die Sozialhilfe aus-zahlenden Kommunen einnehmen, natürlich ohne daßdie Kommunen gesagt hätten, das Geld lehnten sie ab,sich deren Einnahmen erhöhen. Das haben sie in diesemJahr eingenommen, und sie werden auch im nächstenJahr das um 20 DM erhöhte Kindergeld einnehmen. Siewerden im Bereich der Umfinanzierung zwischen Bundund Ländern auch durch Tatbestände im Steuerrechtprofitieren, so daß im Saldo über den Finanzplanungs-zeitraum die Länder und Kommunen insgesamt mit 4Milliarden DM von diesem Sparpaket profitieren. Dasist unser Ziel, und das können Sie in der Finanzplanungnachlesen.Ich bin viel zu sehr Kommunalpolitiker – und dafürschäme ich mich nicht –, als daß ich diesen Verschiebe-bahnhof politisch vertreten würde, wenn es ein Ver-schiebebahnhof wäre, Herr Rössel.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3929
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Ich fahre fort: Wir waren bei dem ThemenkomplexRente. Die strukturelle Änderung in der Rentenversiche-rung ist einer der Beiträge, an denen man sieht, daß wirnicht als Selbstzweck sparen, sondern Generationenge-rechtigkeit wollen und langfristige Finanzierbarkeit des-sen, was den Sozialstaat ausmacht. Wenn ich das Wortvom Kaputtsparen, das aus vielen der Zwischenfragenherauslugt, höre, dann frage ich mich: Wer spart denneine Gesellschaft kaputt? Doch derjenige, der jedes Jahr50, 60, 70 Milliarden DM neue Schulden aufhäuft, dieautomatisch die Steuererhöhungen von morgen nachsich ziehen, die automatisch die Lohnnebenkostenerhö-hungen von morgen bedingen. Das war die Strategievieler Jahrzehnte.Wenn jetzt eine Regierung kommt, und dazu noch ei-ne sozialdemokratisch-grüne Regierung, und sagt: „Mitdiesem Marsch in den Schuldenstaat räumen wir auf, wirsagen der Bevölkerung ehrlich, daß wir unsere Ansprü-che an die Gesellschaft sozial gerecht und ökonomischverträglich zurückfahren“, dann ist das eine Botschaft,die den Sozialstaat in seinem Kern langfristig erhaltenwill. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird der So-zialstaat an die Wand fahren.
Zum Stichwort Steuerpolitik: Auch hier haben wiraus meiner Sicht ein absolut diffuses Bild
der Opposition, und zwar aus folgendem Grund, HerrKollege Austermann: Es ist in der Unternehmensteuerre-form genau die Philosophie, für die Sie sich in Ihrer Re-gierungszeit immer auf die Brust geklopft haben, zumDurchbruch gekommen, nämlich eine gewaltige Sen-kung der Nominaltarife, eine Verbreiterung der Bemes-sungsgrundlage und bei der Unternehmensteuerreform2001 sogar noch eine Nettoentlastung um 8 MilliardenDM. Der Finanzminister hat es dargestellt. Wenn Sieschauen, wie die Unternehmen insgesamt, aber vor al-lem der Mittelstand beim Steuerentlastungsgesetz unterdem Strich entlastet wurden – die Versicherungs- unddie Energiewirtschaft tragen im wesentlichen die Gegen-finanzierung des Steuerentlastungsgesetzes in der Wirt-schaft –, dann sollten Sie höllisch vorsichtig mit der Be-hauptung sein, daß diese Konzeption nicht greift.
Dieser Teil wird übrigens heute auch in der Wirt-schaftspresse gelobt. Die Wirtschaftsverbände loben ge-nau diesen Teil, und sagen: Damit wird insgesamt eininternational wettbewerbsfähiges Unternehmensteuer-recht angedacht, das wieder Investitionen nachDeutschland zieht. Ich glaube, daß uns dieser Teil inVerbindung mit der Konsolidierung in den nächstenWochen an den Märkten eine freudige Überraschung be-scheren wird. Wir werden erleben, daß die Glaubwür-digkeit der größten Volkswirtschaft im Euro-Land ins-gesamt an den Märkten den Euro und auch den DAXnach oben zieht, weil wir in Deutschland die Hausauf-gaben machen, die im Hinblick auf die Stabilität in Eu-ropa nötig sind.
– Von Italien redet an den Märkten niemand mehr, wennDeutschland als größte Volkswirtschaft tatsächlich die-sen Kraftakt macht.
Wir werden durch die Steuerpolitik im Herbst einenweiteren Effekt erleben, nämlich eine Investitionsoffen-sive der Wirtschaft. Jedes Unternehmen, das sich daraufverlassen kann, daß in zwei Jahren die Tarife deutlichsinken, wird zu den jetzigen Tarifen und Abschrei-bungsbedingungen investieren, weil sich die Auftragsla-ge verbessert. Lesen Sie doch die Zeitungen: Der Exportzieht an, die Stimmung in der Wirtschaft steigt. In dieserKombination vergessen viel zu viele von uns, daß wirmit diesem Paradigmenwechsel der Regierungspolitikgenau das Signal geben, das wir als Koalition brauchen,um in der Ökonomie tatsächlich Erfolg zu bekommen,höheres wirtschaftliches Wachstum zu erzielen, am Ar-beitsmarkt Signale zu erreichen.Dafür sparen und gestalten wir, dafür ändern wir dasSteuerrecht, dafür machen wir Strukturreformen, damitsich Deutschland insgesamt wieder in den Geleitzug deranderen europäischen Volkswirtschaften mit einemvolkswirtschaftlichen Wachstum einreihen kann, das dieArbeitslosigkeit bekämpft. – Da klatscht niemand mehr.Offensichtlich ist es eine pure Selbstverständlichkeit.
Ich bin kein Freund von Polemik; das ist bekannt. Ichglaube übrigens, daß auch die Zuschauer und Zuhörer,aber auch Parlamentarier nüchterne Analysen und De-batten und nicht nur Polemik hören wollen. Ich finde eswichtig, auch das hier zu sagen.Wenn es jetzt um die Einladung der Opposition geht– Eckhard Fuhr läßt mit seinem Leitartikel „Stellungs-wechsel“ wieder grüßen –, glauben Sie als große Volks-partei Union nur nicht, daß Sie mit etwas, was Sie in deralten Koalition häufig verbal versucht hatten, jetzt einenStellungskrieg einleiten und die SPD sozusagen in dieRolle drängen könnten, daß sie jetzt die Volkspartei dersozialen Kälte ist, wegen der die Union abgewählt wor-den ist. Sie verlieren die Gemeinwohlorientierung ausden Augen und kündigen den Konsens einer Gesell-schaft auf, die davon lebt, daß Strukturreformen von ei-ner maximalen Mehrheit getragen werden müssen. Auchdie Union steht in den von ihr regierten Bundesländernunter dem Druck der knappen Kassen. Glauben Sie nurnicht, daß Sie hier Lippenbekenntnisse liefern könnenund dann wieder irgendwo im Sommer auf der StraßeUnterschriften sammeln können, wie es dieses Jahrschon einmal der Fall war.
Oswald Metzger
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3930 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Diese Strategie ist gemeinwohlschädlich. Das werdenwir Ihnen nicht durchgehen lassen, weil Sie durch16 Jahre Regierungszeit einen Großteil der Verantwor-tung für das tragen, was wir heute an Erblast zu bewäl-tigen haben.Finanzminister Eichel hat heute auf entsprechendeEinlassungen hier am Rednerpult gesagt: Es geht nichtum vordergründige Schuldzuweisungen. Wir alle sitzenauf Landesebene in Regierungen und haben in der Ver-gangenheit die gleiche Strategie gewählt. Insofern ist eseine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, die wir alle ineinem Kraftakt schultern müssen. Wenn unsere Ge-sellschaft nur noch aus Besitzstandswahrern besteht,wenn jede Gruppe immer aufschreit, weil sie nur ihrenGeldbeutel sieht, wenn niemand in der Gesellschaftmehr den gesamten Geldbeutel sieht, aus dem wir aberalles bezahlen müssen, dann wird diese Gesellschaft imWettbewerb der Volkswirtschaften auf diesem Globuskeine Chance haben, und sie wird vor allem – das ist dasTraurige – ihre Sozialstaatlichkeit nicht behalten kön-nen.
Ich möchte noch auf ein paar Details der Debatte ein-gehen.Erstens wurde zu Recht gesagt: Es sind im Haushaltnoch eine Reihe von globalen Minderausgaben zu fin-den. Aber im Kabinett wurde beschlossen, daß die Mi-nister, die in ihren Etats globale Minderausgaben alsSparvorschlag benannt haben, verpflichtet werden, biszum Beginn der parlamentarischen Beratungen in Ber-lin, also bis zum September, diese Einsparungen titelge-nau zu belegen. Sie können sich darauf verlassen: DieHaushaltspolitiker der SPD und der Grünen werden imparlamentarischen Verfahren dafür Sorge tragen, daßdiese Einsparungen titelgenau belegt werden. DieserVorwurf wird also schon in der Debatte bei der erstenLesung nicht mehr gelten.Zweitens zu den angesprochenen Maßnahmen imVerkehrsbereich. Im Raum steht, wir würden die Inve-stitionen zurückfahren. Die Zahlen sprechen glatt gegendiese Vorhaltung. Aus 58,2 Milliarden DM Investitions-ausgaben in diesem Jahr werden im nächsten Jahr57,6 Milliarden DM. Gleichzeitig reduzieren wir aberdas Haushaltsvolumen um rund 8 Milliarden DM. Dasheißt, in Relation zum Haushalt steigt die Investitions-quote.
Es war genau das Ziel dieser Koalition, bei den kon-sumtiven Ausgaben zu sparen und die Investitionen zuschonen.Verkehr und Bau sind ja jetzt zusammen; das wissenSie. Selbst im Verkehrsetat wird der größte Teil der Ein-sparungen im konsumtiven Bereich, nämlich durch denWegfall von 2,3 Milliarden DM pauschaliertem Wohn-geld, erbracht.
Die Debatte haben wir eben geführt. Der kleinere Teilwird im investiven Bereich eingespart. Dabei handelt essich um eine vergleichsweise kleine Summe, die auchauf verschiedene Haushaltstitel verteilt wird.Wenn ich „Verkehrshaushalt“ höre, will ich noch fol-gendes sagen: Sie haben im letzten Jahr – Wissmannwar damals noch Verkehrsminister – eine Spatenstich-politik betrieben und Projekte begonnen, die überhauptnicht finanziert waren. Der Bundesverkehrswegeplanist in der Tat ein Märchenbuch.
Er ist kein Kassenbuch, das tatsächliche Finanzierbarkeitaufweist. Jetzt kommen Sie und sagen: Die neue Regie-rung finanziert die angefangenen Projekte nicht; siesorgt für Stillstand. Wir sollten im Verkehrsbereich ganzeindeutig darauf setzen, daß Lückenschlußpolitik betrie-ben wird, daß Schwerpunkte gesetzt werden, daß Maß-nahmen abgeschlossen werden, daß durchgängige Ver-kehrswege im Schienenbereich wie im Straßenbereichgeschaffen werden. Es sollte nicht an jeder Ecke die Il-lusion geweckt werden, als ob diese Gesellschaft ange-sichts der Sparpolitik, die in den nächsten Jahren an-steht, in der Lage sei, dieses Märchenbuch zu finanzie-ren. Das wäre absurd.
Ich komme zum Schluß. Diese Koalition hat mit die-sem Haushaltsplanentwurf und mit dieser Finanzplanungdas Versprechen des Koalitionsvertrages eingelöst,ernsthaft an die Sanierung der Staatsfinanzen heranzu-gehen. Dies ist ein Kraftakt, der uns noch viele Diskus-sionen abverlangen wird, weil es natürlich auch in denReihen unserer beiden Fraktionen unterschiedliche In-teressen gibt. Weil aber das Ergebnis, die Staatsver-schuldung insgesamt zurückzuführen, sozial gerecht zusparen und die Gesellschaft im Vergleich zu den Kon-kurrenzvolkswirtschaften wieder in eine bessere ökono-mische Position zu bringen, zählt, werden wir dennochdaran festhalten. Es wird nicht die letzte große Reform-anstrengung sein. Weitere werden folgen müssen. Aberwir sind inzwischen auf einem guten Weg.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Fraktionsvorsitzende der PDS-
Fraktion, Dr. Gregor Gysi, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Nachdem die Bundesregierung uns daserste Mal nach 1945 in einen Krieg geführt hat, ist dasOswald Metzger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3931
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vorliegende Sparpaket Ausdruck eines zweiten tiefenEinschnitts in die Verfaßtheit der BundesrepublikDeutschland. Es ist übrigens auch nicht ehrlich, weil Siezum Beispiel die Kosten des Krieges einschließlich derFolgekosten nicht einmal benennen, obwohl sie doch ei-ner der Punkte waren, die mit zu entsprechenden Über-legungen geführt haben.
Herr Metzger, Sie haben hier der Opposition, insbe-sondere der CDU/CSU, einen Rollenwechsel vorgewor-fen. Das kann man natürlich tun. Aber ohne den eigenenRollenwechsel dabei zu erwähnen, finde ich das schonein ziemlich starkes Stück.
Allein die Tatsache, daß Sie so häufig auf die „FAZ“
und deren wohlwollende Begleitung und auf die Wirt-schaftsverbände hinweisen, ohne daß das der SPD zudenken gibt, sagt ja wohl auch etwas über den Rollen-wechsel in dieser Gesellschaft aus.
Ich habe mir in den letzten Tagen einmal überlegt,was passiert wäre, wenn dieses Sparpaket – bitte seienSie nicht gleich beleidigt; ich sage es trotzdem – wort-gleich von der letzten Regierung aus CDU/CSU undF.D.P. hier vorgelegt worden wäre. Ich habe mir einmaleinen Moment lang überlegt, welche Reden aus SPDund Bündnis 90/Die Grünen im letzten Jahr dazu gehal-ten worden wären. Das kann man wirklich als Theater-stück aufführen. Sie können einfach die Reden aus demletzten Jahr nehmen und werden dann feststellen: Siehätten das Ding in der Luft zerrissen. Das ist die Wahr-heit. Das ist der Rollenwechsel, den Sie inzwischendurchmachen.
Nun sind einige der Streichvorschläge natürlichdurchaus vernünftig. Vor allem ist vernünftig – das willich im Namen meiner Fraktion ausdrücklich würdigen –die Einführung einer sozialen Grundsicherung fürRentnerinnen und Rentner, um die Altersarmut bekämp-fen zu können. Das werden wir auch unterstützen.Auf der anderen Seite ist aber das ganze Sparpro-gramm auch willkürlich. Noch niemand hat erklärt: wie-so eigentlich unbedingt 30 Milliarden DM – einmal un-abhängig von den Luftbuchungen, die dabei sind –,Wieso nicht 40, weshalb nicht 20 Milliarden DM? Nochniemand hat erklärt, ob es überhaupt richtig ist, in einerkonjunkturell schwachen Zeit so rigoros zu sparen, undob man das Ganze nicht hätte etwas langsfristiger ange-hen müssen.Wenn man sich dann die einzelnen Seiten diesesSparprogramms ansieht, stellt man fest: Es ist wirt-schaftlich schädlich. Es wird zum Arbeitsplatzabbauführen. Es vertieft die Kluft zwischen Ost und West, undes ist darüber hinaus noch sozial ungerecht. Das, findeich, ist ein bißchen viel.
Wer die Wirtschaftsförderung im Rahmen der Ge-meinschaftsaufgabe West und Ost drastisch reduziert,die Strukturanpassungshilfen Ost abbaut, die Zuschüssefür ERP-Kredite, Werften, Landwirte und landwirt-schaftliche Betriebe rigoros kürzt, spart nicht nur falsch,sondern auch teuer. Die Folge dieser Streichliste sindSchließungen landwirtschaftlicher Betriebe, Entlassun-gen von Arbeitskräften in Werften und in kleinen undmittelständischen Unternehmen, die bisher in den Genußvon Wirtschaftsförderung, Zinszuschüssen oder Struk-turanpassungshilfen kommen.Die Regierung muß die Gegenrechnung vorlegen:Wieviel kostet die Finanzierung von Tausenden von zu-sätzlichen Arbeitslosen? In welcher Höhe gehen dadurchBeiträge in die Versicherungssysteme und Lohnsteuernverloren? Abgesehen von den damit verbundenenmenschlichen Schicksalen kann sich jeder ausrechnen:Die Kosten übersteigen die Einsparungen. Das gilt übri-gens entsprechend für einen pauschalen Stellenplanab-bau im öffentlichen Dienst um 6 Prozent.Der Aufbau Ost wird durch die Reduzierungen derStrukturanpassungshilfen, bei der Wirtschaftsförderungund den Zinszuschüssen drastisch zurückgeworfen. Da-mit wird ein Wahlversprechen der SPD gebrochen.Durch die zusätzliche Belastung der Kommunen fallendiese insbesondere im Osten als Faktor zur Schaffungregionaler Wirtschaftskreisläufe und damit zur Siche-rung von Arbeitsplätzen aus.Die Einsparungen beim BAföG für Studierende, beimMeister-BAföG, bei Hochschulsonderprogrammen undbei der Projektförderung im Bereich Bildung und For-schung sind Verzicht auf Zukunft und nicht Gestaltungvon Zukunft.
Die Kürzung bei der Forschung für erneuerbare Energi-en ist die Absage an ökologische Energiepolitik.Die Vorstellungen zur Rentenkürzung, zum Abbauvon Arbeitslosenhilfe und zu Streichungen und Verlage-rungen beim Wohngeld bei gleichzeitiger zusätzlicherBelastung durch höhere Mineralöl- und Stromsteuernsind sozial unverträglich und vergrößern die Schere zwi-schen Arm und Reich in der Gesellschaft. Besserverdie-nende und Vermögen werden durch das Sparpaket nichtmit einer Mark zusätzlich belastet. Im Gegenteil! Einesozialdemokratisch geführte Regierung muß sich schonfragen lassen, wie sie es mit ihrer Tradition vereinbarenkann, bei Alten und Arbeitslosen sowie im Rahmen derGesundheitsreform bei Kranken zu kürzen, um den Spit-zensteuersatz der Bestverdienenden zu senken und dieUnternehmen völlig undifferenziert steuerlich zu entla-sten.So begrüßenswert die soziale Grundsicherung fürRentnerinnen und Rentner – so sie denn eingeführt wird– ist, so kritikwürdig ist es andererseits, für Bezieherin-nen und Bezieher von Arbeitslosenhilfe die ZuschüsseDr. Gregor Gysi
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3932 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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zu den Rentenbeiträgen so zu senken, daß sie bewußtnur in eine Grundsicherung statt in eine sozialverträgli-che Rente gedrängt werden. Auch hier fehlt die Gegen-rechnung. Was Sie heute bei den Beiträgen sparen, müs-sen Sie später bei der Grundsicherung doppelt draufle-gen. So wird es kommen.
Lassen Sie mich ganz allgemein etwas zur Rente sa-gen: CDU/CSU, F.D.P. und SPD haben gemeinsam einegroße Rentenreform durchgeführt. Damals ging es umdie Einführung des demographischen Faktors. Man hatgesagt: Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner wächst,die der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nimmtab. Außerdem beziehen die Rentnerinnen und Rent-ner länger Rente. Also kann man die Entwicklung derRente nicht länger an das Bruttoeinkommen, sondernmuß sie an das Nettoeinkommen knüpfen, weil durchsteigende Beiträge Nettolöhne nicht so schnell steigenwie Bruttolöhne. Das ist jahrelang so geschehen. Damitwar der demographische Faktor eingeschlossen. Mitdieser Begründung hat übrigens die SPD in der letztenLegislaturperiode die Rentenniveausenkung, wie sievon der früheren Regierung vorgeschlagen wurde, ab-gelehnt.Jetzt führen Sie eine Rentenniveausenkung durch, dieviel dramatischer ist. Sie koppeln die Renten von derNettolohnentwicklung ab. Das ist aus mehreren Gründenverfassungsrechtlich bedenklich und ungerecht.Ich will das ausführen: Erster Punkt. Wie lautete dennzum Beispiel die Begründung für die Einführung derÖkosteuer? Als die Ökosteuer eingeführt wurde, habenwir gesagt, daß die Rentnerinnen und Rentner dadurchvoll zur Kasse gebeten werden. Da haben Sie gesagt, dasstimme nicht; denn der Nettolohn steige durch die Sen-kung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung;da im nächsten Jahr eine Nettolohnanpassung erfolge,seien sie zumindest indirekt zum Teil Nutznießer dieserEntwicklung, und damit werde das ausgeglichen.Jetzt stoppen Sie die Nettlohnanpassung, und damitbewirken Sie, daß die Rentnerinnen und Rentner dieÖkosteuer einschließlich ihrer Folgestufen voll bezah-len.
Das ist einfach unerhört; denn Sie haben bei der Einfüh-rung der Ökosteuer nicht die Wahrheit gesagt. Das hät-ten Sie den Rentnerinnen und Rentnern gleich sagenmüssen.
Zweiter Punkt. Sie behaupten, die Nettolohnanpas-sung könne deshalb nicht erfolgen, weil Nettolöhne jetztschneller stiegen als Bruttolöhne. Dieses Vorgehen istan sich schon hart. Solange die Nettolöhne langsamerstiegen als die Bruttolöhne, paßten Sie die Rente an. Indem Moment aber, wo es umgekehrt ist, hören Sie damitauf.Abgesehen davon: Weshalb steigen denn die Net-tolöhne schneller als die Bruttolöhne? Wegen der ver-fassungsrechtlich gebotenen Anhebung des Existenzmi-nimums und der durch das Bundesverfassungsgericht –nicht durch Eigeninitiative der Bundesregierung – ange-ordneten Steuerentlastungen bei den Familien. Aber washeißt das? Wenn beides verfassungsrechtlich zwingendist, Sie also nur die Einhaltung des Grundgesetzesdurchsetzen und Sie dann sagen: „Bei der Anpassungnehmen wir die Rentnerinnen und Rentner heraus“, dannist das nicht nur sozial ungerecht, sondern auch verfas-sungsrechtlich höchst problematisch.
Denn was bei den Nettolöhnen aus Verfassungsgründengeschehen muß, müßte sich selbstverständlich auch aufdie Renten auswirken.Wenn übrigens die Nettolöhne wegen einer zu hohenBesteuerung verfassungswidrig zu niedrig waren, dannbedeutet das, daß in den letzten Jahren auch die Netto-lohnanpassung bei den Rentnerinnen und Rentnern ver-fassungswidrig zu niedrig war. Sie dann von einer ver-fassungsrechtlichen Korrektur auszuschließen ist für ei-ne sozialdemokratisch geführte Bundesregierung einstarkes Stück.
Weil auch die alte Regierung Rentenkürzungen geplanthatte, muß man sagen: Ob Schwarz oder Gelb, Rosaoder Grün, es zahlen immer die Rentnerinnen und Rent-ner drauf. Dabei kann es in dieser Gesellschaft nichtbleiben.
Wenn Sie, Herr Bundesfinanzminister Eichel, jetztdie Besteuerung von Erträgen aus Lebensversicherun-gen einführen wollen, dann verhalten Sie sich doch völ-lig konträr zu dem, was Sie gerade ankündigen. Sie for-dern mehr Eigenvorsorge. Schließen die Menschen jetztLebensversicherungen ab – auch das hat doch etwas mitEigenvorsorge zu tun – und steht das Ergebnis dieserLebensversicherungen dem einzelnen dann zur Verfü-gung, steht schon der Staat bereit und kassiert zumzweitenmal ab. Da die Beiträge aus bereits versteuertemEinkommen gezahlt worden sind, ist dies nicht zu recht-fertigen.
Sie sagen: Wer das kritisiert, ist beweispflichtig, wieer sparen würde. Ich will Ihnen einmal sagen, wie Sie 30Milliarden DM sparen könnten, ohne damit zu sagen, obdas sein müßte: Verkauf von 10 Prozent der überhöhtenGoldreserve der Deutschen Bundesbank – 5,1 MilliardenDM, Verkauf der überschüssigen Bundesrohölreserve –650 Millionen DM, Wiedererhebung der Vermögensteu-er bei reformierter Bemessungsgrundlage – 9 MilliardenDM, unverzügliche Verbesserung der personellen Aus-stattung von Steuerfahndung und Betriebsprüfung durchÜbernahme wenigstens der heutigen Anwärterinnen undAnwärter und dadurch Reduzierung der Steuerhinterzie-hung – 10 Milliarden DM, unverzügliche BeendigungDr. Gregor Gysi
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3933
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der Verschwendung von Steuermitteln, wie sie insbe-sondere durch den Bundesrechnungshof aufgedecktwurde – 1 Milliarde DM, Ausgabenreduzierung bei derNeuanschaffung – nur bei der Neuanschaffung – vonWaffen und Rüstungsgütern – 2,7 Milliarden DM, keineFinanzierung des Transrapids mehr – 600 MillionenDM, Verzicht auf den ökologisch schädlichen Ausbauvon Schleusen und der Havel in Brandenburg – 300Millionen DM, Einstellung der Förderung des Prestige-objektes Personenraumfahrt – 290 Millionen DM, Strei-chung zusätzlicher Vergünstigungen für Besserverdie-nende im Rahmen des Umzugs von Parlament und Re-gierung und kostengünstige Abwicklung der Bonn-Berlin-Fahrten mit der Deutschen Bundesbahn – 10Millionen DM. All das ergibt 30 Milliarden DM.Dies sind Maßnahmen, die keine einzige Sozialkür-zung und keine einzige Steueränderung beinhalten.
All das wäre möglich, wenn Sie tatsächlich ein reinesSparprogramm vorlegen wollen. Man kann über einzel-ne Punkte streiten.
Ich sage nur, daß dies durchaus möglich wäre.Im übrigen: Wenn Sie wirklich einsparen wollen,dann ist doch ein ganz anderer Weg wichtig, nämlich dieÜberwindung der Massenarbeitslosigkeit. Dann sparenSie Sozialkosten, dann erhalten Sie mehr Beiträge undnehmen mehr Lohnsteuer ein. So kann man einen Haus-halt sanieren.
– Ich komme gerade darauf. – Dazu müßten Sie Über-stunden abbauen und die Arbeitszeit verkürzen. Dazumüßten Sie den Mut haben, einen öffentlich gefördertenBeschäftigungssektor zu installieren, um nicht längerArbeitslosigkeit, sondern endlich Arbeit zu finanzieren.
Das haben Sie übrigens früher selber schon einmal ge-fordert.Dazu müßten Sie bereit sein, die Beitragspflicht imRahmen der sozialen Sicherungssysteme gerechter zugestalten: Auch die Gutverdienenden, Freiberufler, Selb-ständigen, Beamten, Abgeordneten und Minister müßtenendlich in die Systeme einzahlen.
Dazu müßten Sie bereit sein, bei den Unternehmen dieheutige Form der Lohnnebenkosten zu streichen und anderen Stelle eine Abgabe der Unternehmen an die Versi-cherungssysteme zu setzen, die sich nach der Wert-schöpfung richtet. Dies ist höchst flexibel. Sie richtetsich immer nach der Leistungsfähigkeit des Unterneh-mens und nicht länger nach der Zahl der Beschäftigtenund der Höhe der Bruttolöhne.
Dazu müßten Sie dazu übergehen, Spekulationsge-winne höher zu besteuern als Gewinne aus Produktionund Dienstleistung. Nur dann lohnen sich Investitionenin einer Gesellschaft wirklich. Dazu müßten Sie dazuübergehen, den Steuerentzug durch Konzerne, Bankenund Versicherungen zu beenden und endlich kleine undmittelständische Unternehmen direkt zu fördern.
Dazu müßten Sie dazu übergehen, Vermögende, Bes-ser- und Bestverdienende durch eine gerechte Einkom-men- und Vermögensteuer entsprechend ihrer Leistungs-fähigkeit zur Finanzierung des Gemeinwohls heranzu-ziehen. Das gilt entsprechend für die Nutznießer derZinseinnahmen aus der hohen Staatsverschuldung.Sie müßten auch auf Prestigeobjekte wie den Jäger90, den Luxusausbau der Immobilien in Berlin und denTransrapid verzichten, und Sie müßten eine Reform derKommunalfinanzierung angehen, damit die verfas-sungsrechtlich gebotene Selbstverwaltung der Kommu-nen wiederhergestellt wird
und die Kommunen endlich wieder ein eigener Wirt-schaftsfaktor werden – zur Verbesserung regionalerWirtschaftskreisläufe, zur Schaffung neuer Arbeitsplätzeund zur Sicherung vorhandener Arbeitsplätze.
Herr
Gysi, kommen Sie bitte zum Schluß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich komme
zum Schluß: So, wie das Sparpaket der Bundesregierung
jetzt angelegt ist, wird es Investitionen einschränken,
Arbeitsplätze abbauen und den Abstand zwischen Arm
und Reich und zwischen Ost und West vergrößern. Zu
Recht nannte der Bundeskanzler das Sparprogramm das
größte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land. Es ist aber auch das unsozialdemokratischste in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und es wird
uns alle teuer zu stehen kommen.
Alsnächster Redner hat der Bundesminister für Arbeit undSozialordnung, Walter Riester, das Wort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Herr Rexrodt hat das Pult hier mit demSpruch verlassen: Sparen ist immer gut. Ich teile dieseAussage nicht undifferenziert. Der Spruch von Ihnen alsehemaligem Wirtschaftsminister und Angehörigen einerPartei, die mit dafür Verantwortung trägt, daß in 16 Jah-ren Regierungszeit
die Schulden um etwa 700 Milliarden DM aufgebautworden sind, hört sich schon einigermaßen zynisch an.
Dr. Gregor Gysi
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3934 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Sie haben uns eine Riesenlast hinterlassen. Nun kanndiese Riesenlast dazu führen, daß man zum Sparen ge-zwungen ist. Das ist bitter, aber das ist dann notwendig.Sparen ist gut, wenn es Investition in Zukunft ist.
Nun komme ich zuerst einmal zur Rente. Was habenwir vorgefunden, was hat sich entwickelt? Der Ren-tenversicherungsbeitrag, der im Jahr 1993, alsoschon nach der Eingliederung von Ostdeutschland, bei17,5 Prozent lag, ist bis zum Jahr 1997 auf 20,3 Prozentgestiegen. Das bedeutete 41 Milliarden DM zusätzlicheBeiträge, die die Betriebe und die Beschäftigten bezah-len mußten. In dieser Situation haben Sie uns als Oppo-sition gebeten, mit Ihnen gemeinsam die Mehrwertsteuerzu erhöhen, und zwar auch zugunsten der Rentenversi-cherung. Dadurch konnten die Einnahmen auf 57 Milli-arden DM erhöht werden, und das in einem Zeitraumvon vier Jahren.In diesem Zeitraum gab es keine sehr üppigen Aus-zahlungen an die Rentner. Wenn wir diesen Zeitraumbetrachten, können wir feststellen, daß die Rentenerhö-hung innerhalb von sieben Jahren sechsmal unterhalbder Inflationsrate lag. Nur einmal, zufällig im Jahr 1994– ich gestehe, es hat mit dem Wahljahr nichts zu tun –,lag sie etwas über der Inflationsrate.Während der ganzen Zeit, in der das Rentenversiche-rungssystem vor existentiellen Problemen stand, habenSie erklärt, die Rente sei sicher. Ich habe diesen Spruchnie gesagt. Ich sehe die großen Probleme, vor denen wirstehen. Ich sehe Probleme auf der Einnahmenseite derRente, ich sehe Probleme auf der Ausgabenseite derRente, und ich sehe Strukturprobleme. Einige dieserProbleme waren unbestritten. Unbestritten war, daß esunmöglich ist, ein System stabil zu halten, aus dem sichsechs Millionen Menschen entfernen, weil sie in gering-fügige Arbeitsverhältnisse oder in Scheinselbständigkeitgedrängt werden, wo sie keine Sozialversicherungsbei-träge mehr bezahlen müssen.
Unbestritten war das; geändert haben Sie daran abernichts. Wir sind dieses Problem angegangen. Das warkein populärer Schritt, sondern es war ein schwierigerSchritt, aber wir sind ihn gegangen.Unbestritten war auf der Ausgabenseite, daß dasRentenversicherungssystem mit Aufgaben belastet wor-den ist, hinter deren Qualität ich stehe, deren Finanzie-rung aber nicht Aufgabe der Beitragszahler, sondern derAllgemeinheit war.
Einig waren wir uns in dieser Frage, aber geändert hatsich nichts.Wir haben in den ersten zwei Monaten in einem sehrschwierigen Schritt entschieden, daß die Beträge im Zu-ge der Anrechnung von Kindererziehungszeiten unddie Auffüllbeträge für die Ostrenten – beides ist wichtig– ab sofort steuerfinanziert werden.
Ich habe mich gefreut, als Hans Eichel mit der Bot-schaft kam, bei der normalerweise jeder Minister er-schrickt: Wir gehen ran und konsolidieren den Haushalt.Ich habe mir gesagt: Das kann wirklich der Schub wer-den, wenn die Entscheidungen so angelegt werden, daßsie in die Zukunft gerichtete Entscheidungen sind.Nun komme ich zu den Entscheidungen, die schwie-rig umzusetzen sind.Unser Ziel – ich habe das schon sehr früh im Plenumgesagt – ist: Die Rente muß zukunftssicher werden. Washeißt das? Der Spruch geht schnell über die Lippen. AlleÜberlegungen zur Rentenversicherung und Systemver-besserung, auch die meiner eigenen Partei, haben imwesentlichen immer im Jahre 2015 geendet. Aber genauda beginnt erst die eigentliche dramatische Entwicklungder demographischen Belastung.Deswegen heißt Zukunftssicherung für mich: Wirmüssen ein Angebot machen, das bis zum Jahre 2030reicht, also den Gipfelpunkt der Belastungen einbezieht.Sonst halten wir diese Sache nicht aus.
Was bedeutet das? Das bedeutet, daß wir auf der Lei-stungsseite durchgehend ein vertretbares und akzepta-bles Niveau halten müssen. Ihr Ansatz war, einen Ab-schlagfaktor pro Jahr bei der Rentenerhöhung einzuset-zen, bis das Leistungsniveau bei 64 Prozent liegt.Schriebe man die gegenwärtige Entwicklung der Le-benserwartung fort, wäre dieser Punkt schon etwa imJahre 2012 erreicht gewesen. Ab diesem Zeitpunkt hättedas Gesetz formal die 64-Prozent-Niveaugrenze gehal-ten.Dann gibt es nur noch zwei Stellgrößen. Entwederman öffnet und geht weiter herunter oder man läßt denBeitrag nach oben floaten. Eine andere Stellgröße gibt esnicht.Sie haben den Vorschlag eingebracht, die Berufs-und Erwerbsunfähigen aus der konkreten Betrachtungder Arbeitssituation auszublenden und ihnen Renten zu-zumuten, von denen ich sage: Diese werde ich ihnennicht zumuten.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Siehaben einen weiteren Punkt in Ihrem Gesetz verankert,von dem ich sage, er ist bitter, aber ich trage ihn mit.
Sie haben vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter auf65 Jahre anzuheben. Dieser Vorschlag ist für die Men-Bundesminister Walter Riester
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3935
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schen und die Arbeitsmarktpolitik bitter. Gleichwohlmuß man verantwortungsvoll sagen, das System hätteanderes nicht ausgehalten.Die anderen beiden Punkte – das habe ich hier imHaus immer gesagt –
werden korrigiert, und zwar nicht deshalb, weil ich dieProbleme bestreite, sondern weil ich die Lösungen fürunangemessen halte.
Was bieten wir als Lösung an? Wir sagen, wir speisenin das System die Mittel, die wir durch die Ökosteuereinnehmen, zur Senkung der Beiträge und – das, was ichjetzt sage, ist noch viel wichtiger – zur Stabilisierungder Beiträge ein.
Was machen wir als zweites? Wir sagen, wir müssenein Stück von der aufgebauten Lebenslüge Abschiednehmen, daß das Rentenversicherungssystem in einerveränderten Arbeitswelt die Lebensstandardsicherungallein gewährleisten kann.
HerrBundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage desKollegen Kues von der CDU/CSU-Fraktion?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Nein, ich möchte meinen Gedanken zu En-de ausführen, Herr Kues. Ich komme dann gern daraufzurück.
Wir wollen das Sicherungssystem auf etwa 67 Pro-zent ausrichten und gleichzeitig die breiten Bevölke-rungsschichten in die Lage versetzen – das ist etwas an-deres, das darf nicht miteinander verbunden werden –,zusätzliche Eigenvorsorge für die Alterssicherungaufzubauen.
Unser Ziel ist, mit der Rentenniveauabsicherung plusEigenvorsorge einen Altersvorsorgegrad von 75 Prozentbis, je nach Rentierlichkeit, bis zu 80 Prozent abzusi-chern.
– Ich gehe gerne auf Ihren Zwischenruf ein.
– Mir ist das Thema zu ernst, als es jetzt durch irgend-welche Polemiken niedermachen zu lassen, Herr Kues.
Was bedeutet das für die Rentner?
– Jetzt spreche ich. –
Auch die Rentner werden, und zwar nicht auf Grund vonSparzwängen des Haushaltes, sondern um die Zukunftihres Systems zu sichern, einen Beitrag leisten.
– Den weisen wir aus.
Wir sagen, daß die Renten zwei Jahre lang im Rahmender Preissteigerungsrate des jeweiligen Vorjahres ange-hoben werden. Das ist der klar ausgewiesene Beitrag derRentner.
Ich bin davon überzeugt, daß dieser Beitrag zumutbar istund man ihn darstellen kann.
Dazu muß man sich hinstellen und dieses ehrlich sagen.
– Herr Gysi, ich gehe gerne auch auf diese Frage ein. Ichmöchte Ihnen aber zuerst einmal sagen, daß wir durchdie von uns vorgesehene Grundsicherung vor allem ei-ne Sicherungslinie für die Menschen im Osten einzie-hen.
Diejenigen, die früher eine sehr kontinuierliche Er-werbsbiographie hatten, haben jetzt als Rentner rela-tiv gute Renten. Die Menschen im Osten aber, die jetztim Produktionsprozeß stehen oder arbeitslos sind, dieein niedriges Einkommensniveau oder stark unter-brochene Erwerbsbiographien haben, würden die Leid-Bundesminister Walter Riester
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3936 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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tragenden in einem System sein, das keine Grundsiche-rung hat.
Sie werden jetzt dank der Einführung einer Grundsiche-rung besonders begünstigt werden – das will ich garnicht hochrechnen, das ergibt sich aus dem System –, dasie mit 65 Jahren nicht mehr durch den Rost fallen undzum Sozialamt müssen.
Herr
Bundesminister, erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage
des Kollegen Kues?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.
Bitte
schön, Herr Kues.
Ich könnte das in
aller Ruhe erzählen. –
Ich möchte aber jetzt nach einer Zahl fragen: Können
Sie bestätigen, daß dem durchschnittlichen Rentner, dem
Eckrentner, auf Grund Ihres Konzepts monatlich 100
DM abgeknöpft werden?
Zweitens möchte ich fragen: Können Sie ebenso be-
stätigen, daß ein Arbeitsloser dadurch, daß Sie die Zah-
lungen an die Rentenversicherung für ihn absenken,
im Endeffekt eine geringere Rentenerwartung im Alter
haben wird? Damit wäre das, was Sie eben gesagt ha-
ben, irreführend.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Zum ersten Punkt darf ich Ihnen sagen:
Hier geht es nicht um den Eckrentner; das ist derjenige,
der 45 Jahre lang mit Durchschnittsverdienst in die
Rentenversicherung eingezahlt hat. Wir nehmen eine
Anhebung der Rente, die je nach früherem Verdienst
verschieden ausfällt, in Höhe der Preissteigerungsrate
vor. Wir unterstellen im Moment für die Rentenanpas-
sung im nächsten Jahr
– mein Gott, vielleicht interessiert es wenigstens den
Herrn Kues –, daß die Löhne und Gehälter dieses Jahr
um etwa 3,5 Prozent steigen. Gleichzeitig unterstellen
wir für dieses Jahr eine Inflationsrate von 0,7 Prozent.
Die Differenz zwischen diesen beiden Werten kann man
ausrechnen; mit dem Ergebnis kann man vor die Men-
schen treten und es ihnen sagen.
– Das kommt auf den Verdienst an. Wenn jemand eine
Rente von 2 500 DM bekommt, können Sie ausrechnen,
um welchen Betrag sich die Rente bei einer Anhebung
um 3,5 Prozent bzw. 0,7 Prozent erhöht. Um diese Dif-
ferenz geht es.
– Ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer Frage und
möchte keinen Dialog führen.
Nun zum zweiten Teil Ihrer Frage: Arbeitslosenhil-
feempfänger. Die Zahlbeträge der Arbeitslosenhilfe
werden unverändert weitergezahlt. Daran ändert sich
nichts. Was wir ändern werden, ist, daß die Sozialversi-
cherungsbeiträge bei der Rentenversicherung auf den
Zahlbetrag ausgerichtet werden. Die Bemessungs-
grundlage war bisher 80 Prozent. Das wird dazu führen,
daß ein Arbeitslosenhilfeempfänger, der 2 500 DM ver-
dient hat und ein Jahr Arbeitslosenhilfe empfängt, später
eine Rentenminderung von etwa – ich kann es Ihnen
jetzt nicht auf die Mark genau sagen – 10 DM im Monat
hat; das kommt auf die Lebensssituation an.
– Nein, pro Monat auf ein Jahr Arbeitslosenhilfebezug.
Auch diese Frage steht im Zusammenhang mit der
von uns geplanten Verzahnung von Sozialhilfe und
Arbeitslosenhilfe. Ich sage Verzahnung, weil wir – ent-
gegen der Diskussion auch von Ihrer Seite, an die ich
mich noch sehr genau erinnere – die Arbeitslosenhilfe
nicht zur Sozialhilfe machen wollen. Wir wollen die Sy-
steme so ausrichten, daß der in der Wirklichkeit immer
wieder vorkommende Verschiebebahnhof der Stadt-
kämmerer zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit und
der Bundesanstalt für Arbeit zu Lasten der Kommunen
und der Sozialhilfeempfänger unmöglich wird. Wir
müssen entsprechende Lösungen finden. Das betrifft
auch die Ausgestaltung.
Herr
Bundesminister, erlauben Sie eine weitere Zwischenfra-
ge des Kollegen Kues?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja, bitte.
Bitteschön.Bundesminister Walter Riester
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3937
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(D)
Herr Minister Rie-
ster, Sie haben gesagt, daß Sie keinen Verschiebebahn-
hof wollen. Sie haben in dem gestern vorgelegten Kon-
zept für Ihren Haushalt, wo es um die Annäherung der
Bemessungsgrundlage – Sie haben das angesprochen –
für Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversiche-
rung für Arbeitslosenhilfebezieher von 80 Prozent des
vor der Arbeitslosigkeit bezogenen Bruttoentgeltes an
den Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe geht, eine Summe
von 4,5 Milliarden DM ausgewiesen. Sie sagen, das sind
Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung.
Eben hat die Bundesgesundheitsministerin vor der Bun-
despressekonferenz erklärt – da wurde sie gefragt, wo
die 2,8 Milliarden DM, die Sie ausweislich des Plans ab-
senken, herkommen –, es stimme nicht, daß die Beiträge
zur Krankenversicherung um 2,8 Milliarden DM abge-
senkt würden. Können Sie mir das erklären?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja, das kann ich Ihnen erklären. Die Diffe-
renz zwischen Zahlbetrag und 80 Prozent bei den ge-
samten Leistungen, die aus der Arbeitslosenhilfe an die
Kassen gehen, belaufen sich auf 7,2 Milliarden DM.
Von den 7,2 Milliarden DM gehen 4,1 Milliarden DM
an die Rentenversicherung, 400 Millionen DM an die
Pflegeversicherung und 2,7 Milliarden DM an die Kran-
kenversicherung. Bei der Krankenversicherung werden
wir die Absenkung nicht machen, um die Gesundheitsre-
form und die Einnahmen der Kassen nicht zu gefährden.
– Das ist die Antwort darauf.
– Nein, die fehlen nicht. Da müssen Sie sich keine Sor-
gen machen. Die 2,8 Milliarden DM sind bei mir hin-
terlegt. Die werden in meinem Bereich eingespart.
Herr
Bundesminister, erlauben Sie eine weitere Zwischenfra-
ge des Kollegen Dr. Seifert von der PDS-Fraktion?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: In diesem Fall ja.
Bitte
schön, Herr Seifert.
Vielen Dank, Herr Minister,
daß Sie mir die Zwischenfrage gestatten. – Sie sprachen
vorhin von der Erwerbsminderungsrente. Wenn ich
Sie richtig verstanden habe, kritisierten Sie die abstrakte
Betrachtungsweise, was innerhalb der Behindertenbe-
wegung auf viel Gegenliebe stößt. Aber Sie haben leider
nicht gesagt, wie Sie das Problem lösen wollen. Ist die
Erwerbsminderungsrente ganz vom Tisch, was die For-
derung aller Behindertenorganisationen ist? Oder wie
wollen Sie die umgestalten? Denn leider ist sie nur aus-
gesetzt und noch nicht abgeschafft.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: In den Eckpunkten, die wir bisher entwik-
kelt haben, wollen wir, solange die Arbeitsmarktsituati-
on so schwierig ist wie im Moment, die Erwerbsminde-
rungsrente in der konkreten Betrachtung des Arbeits-
marktes halten. Darüber hinaus wollen wir bei der Er-
werbsminderungsrente die Zurechnungszeiten bis zum
60. Lebensjahr anheben. Das sind die wichtigen Punkte,
auf die wir uns im Moment verständigt haben. Das greift
der konkreten Reform natürlich vor. Insofern kann ich
nur sagen: Das sind die im Moment vorliegenden Eck-
punkte.
Meine Damen und Herren, wir werden über dieses
Thema im Bundestag sicherlich noch sehr breit diskutie-
ren. Wir haben jetzt erste Eckpunkte vorgelegt. Ich sage
es erneut: Für mich war das kein Sparbeitrag für den
Haushalt, sondern für mich ist es ein Teil der Wirkungen
einer Reform, die auf Zukunft gerichtet ist.
Ich wiederhole heute mein Angebot, das ich gestern
gemacht habe: Ich bin der Auffassung, daß bei der Ren-
tenreform, diesem großen Bereich sozialer Sicherung,
eine Zusammenarbeit auf breiter Ebene notwendig
ist. Das verdienen die Menschen.
Deswegen biete ich auch der Opposition an, an diesem
Projekt mitzuarbeiten, weil ich überzeugt bin, daß es ein
Projekt ist, das so wichtig und langfristig angelegt ist,
daß die Menschen ein Anrecht darauf haben, daß es breit
unterstützt wird.
Herzlichen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Schnieber-
Jastram von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Rie-ster, ich will jetzt gar nicht über die ganzen sozialpoliti-schen Schweinereien reden, die Sie hier veranstalten,
sondern ich möchte eine Frage stellen, die bei Ihnen of-fensichtlich keine Rolle spielt: Wo ist der beschäfti-gungswirksame Effekt Ihrer Vorhaben?
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3938 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Zum zweiten möchte ich darauf hinweisen, daß Sieaus der Rentenformel, die eine berechenbare Formel warund den Menschen Stabilität und Zuverlässigkeit gege-ben hat, eine Willkürformel gemacht haben, Herr Rie-ster,
und zwar zu Lasten der Rentner. Im Sturzflug senkenSie ab, was wir im Gleitflug verträglich gemacht hätten,so daß sich die Menschen darauf hätten einrichten kön-nen.
Ich sage es hier noch einmal deutlich, damit es klarwird: Wir haben niemals willkürlich Rentenhöhen be-stimmt, sondern sie sind immer – Herr Riester, ich sagedas für den Fall, daß Sie es nicht wissen – nach derLohnentwicklung bemessen worden. Es hat bei denRenten immer einen Lohnbezug gegeben. Statt einerAnpassung von 63 DM im Jahr 2000 und von 73 DM imJahr 2001 nach der Rentenreform der alten Bundesregie-rung bekommt der Eckrentner bei Ihnen nur noch 14 DMRentenanpassung im Jahre 2000 und 33 DM im Jahre2001. Auch wenn Sie hier bestreiten, daß es den Eck-rentner überhaupt gibt, so muß man sich doch an irgend-einem Rentner orientieren. Der sogenannte Eckrentner –das sind der Mann und die Frau, die 45 Jahre lang gear-beitet und Rentenbeiträge eingezahlt haben –
bekommen von Ihnen unter dem Strich 100 DM wenigerim Monat. Im Laufe eines Rentnerlebens summiert sichdas; es bedeutet für die Menschen ein Minus von 20 000DM. Das ist Ihr Betrug.
Noch ein Wort zu der von Ihnen so gepriesenen undangeblich sozial gerecht erscheinenden Mindestrente.
Ich frage Sie, Herr Minister: Empfinden Sie es wirklichals gerecht, daß derjenige, der als Aussteiger sein Lebenauf Bali verbringt, das gleiche wie die Mutter mit fünfKindern erhält, die auf Grund ihrer Biographie ebenfallszu einer niedrigen Rente kommt?
Ich frage Sie, ob Sie das für sozial gerecht halten, ganzabgesehen davon, daß völlig ungeklärt ist, wie Sie diewichtige Frage des Exports beantworten wollen. Jeder,der hier einmal einige Jahre gearbeitet hat, kann am En-de Rente außerhalb des Landes beziehen.Der Verschiebebahnhof. Es mutet schon zynischan – –
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja. – Es
mutet zynisch an, wenn Sie Gelder in einer von Ihnen
sehr fein gesponnenen Art und Weise verschieben.
Aber Ihre Rechnung stimmt hinten und vorne nicht.
Frau
Kollegin – –
Deswegen
sage ich Ihnen: Ist es noch so fein gesponnen, so kommt
es doch ans Licht der Sonnen.
Herr
Bundesminister, möchten Sie erwidern?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich möchte nur folgende Bemerkung ma-
chen. Es gibt Formen, mit denen Fragen eingeleitet wer-
den, auf die ich nicht antworte.
Wenn Sie ein solch wichtiges Thema, über das Sie gera-
de geredet haben, mit „Schweinereien“ einleiten, werden
Sie mit mir nicht in einen Dialog kommen.
Als
nächstem Redner gebe ich das Wort dem Ministerpräsi-
denten des Freistaates Thüringen, Bernhard Vogel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Verehrter Herr Kollege Eichel, Sieund das Bundeskabinett haben uns die Vorbereitung aufdie heutige Sitzung nicht leichtgemacht. In den letztenTagen kam mit der Meldung über das, was Sie heutevortragen würden, meistens die Korrektur dieser Mel-dung.
Birgit Schnieber-Jastram
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3939
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Ich bin mir nicht sicher, ob der heutige Agenturstandnoch dem entspricht, was Sie planen. Ich gehe aber ein-mal davon aus.Ich möchte mich gleichwohl sofort am ersten Tag zuWort melden, und zwar ausdrücklich als Ministerpräsi-dent eines jungen Landes. Es war zu Beginn dieser Le-gislatur versprochen worden, der Aufschwung Ost wer-de Vorrang behalten und werde zur Chefsache gemacht.Das war für mich eher eine Drohung als eine Hoffnung.Aber so ist es gesagt worden.
Ich stelle fest, daß bei den Gesetzen, die in den letz-ten Monaten verabschiedet worden sind, diese Zusagenicht gehalten worden ist:
Durch das 630-DM-Gesetz beispielsweise ist der Weg-fall von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern überdurch-schnittlich hoch und die Zunahme der Schwarzarbeitüberdurchschnittlich groß.
Bei der Ökosteuer sind wir eher an die Sektsteuer Wil-helm II. erinnert worden als an eine Maßnahme zur Be-kämpfung der Umweltbelastung. Beim Gesetz zurScheinselbständigkeit sind ausgerechnet Existenzenjunger Selbständiger bedroht worden, die wir im Ostennoch dringender brauchen als im Westen.
Das zu einigen Gesetzen der letzten Monate.Für das heute vorgelegte Programm haben Sie ange-kündigt, Herr Kollege Eichel – ich zitiere Sie mit Er-laubnis des Präsidenten –, „daß der Aufbau Ost auf ho-hem Niveau ganz ungebremst weitergehe“. Ich kann al-lerdings bei dem, was Sie bisher vorgelegt haben, nichterkennen, daß Sie diese Ankündigung einhalten werden.Ich möchte dazu ein paar Beispiele nennen:Die Mineralölsteuer wird nach 6 Pfennigen in diesemJahr um viermal 6 Pfennige in den nächsten Jahren er-höht, also um insgesamt 30 Pfennige. Das trifft vor al-lem Pendler. Weil wir im Osten natürlich mehr Pendlerhaben als im Westen, trifft es uns härter als den Westen.
Außerdem trifft sie vor allem die Auto- und Auto-zulieferindustrie. Und weil wir uns erfolgreich bemü-hen, wieder ein Land der Autoproduktion und der Auto-zulieferindustrie zu werden, trifft es uns als ein Land desOstens besonders hart; denn wer mehr zahlen muß, derfährt weniger Auto und kauft seltener Autos. Wir sägenan einem Ast, auf dem wir sitzen, und gefährden geradedie Branche, die uns in den letzten Jahren in besonderemMaße Arbeitsplätze gesichert hat.Es trifft die Rentner, die zwar für die Ökosteuer zurKasse gebeten werden, aber nicht von den subventio-nierten Lohnnebenkosten profitieren.Das Tarifgefälle zwischen West und Ost, Herr Kol-lege Riester, trifft alle Arbeitnehmer in den neuen Län-dern. Diese Asymetrie läuft letztlich und zum erstenmalauf einen Finanztransfer von Ost nach West hinaus. Wirwerden im Osten an der Ökosteuer voll beteiligt. Aberan der Subventionierung der Lohnnebenkosten durch dieÖkosteuer wird der Westen wesentlich höher beteiligtals der Osten. Das ist ein erstes Beispiel für einen Fi-nanztransfer von Ost nach West.
Die Verdoppelung der Stromsteuer auf 4 Pfennigkommt noch hinzu, obwohl es bis zur Stunde bereits ei-ne bedauerliche wirtschaftsfeindliche Strompreisdispa-rität zwischen Ost und West gibt.Eine Anmerkung, Herr Kollege Riester, zur Renten-reform. Innerhalb von zwei Jahren soll nun das übersKnie gebrochen werden, was die alte Bundesregierunginnerhalb von zirka 20 Jahren entwickeln wollte,
nämlich die Dämpfung des Anstiegs der gesetzlichenRente. Ihre Ankündigung hat nicht nur bei mir, sondernauch bei großen Teilen der Bevölkerung im Osten – manmuß nur die Agenturmeldungen lesen – einen Sturm derEntrüstung ausgelöst. Der DGB-Vorsitzende von Thü-ringen spricht von einem Bruch eines Wahlverspre-chens. Der SPD-Landesvorsitzende von Thüringen, HerrDewes, verlangt, daß die Rentner in den neuen Ländernverschont werden. Ihn möchte ich wörtlich zitieren:Das darf nicht dazu führen, daß die Kluft zwischenOst und West noch größer wird.Recht hat Herr Dewes.
Ich mache mir zwar die Wortwahl der Erklärungen vonDGB und vielen anderen Organisationen im einzelnenausdrücklich nicht zu eigen. Aber ich mache mir denStandpunkt zu eigen, daß durch die Maßnahmen derBundesregierung die Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetztwird.
Mein Kollege Stolpe aus Brandenburg befürchtetmassive Benachteiligungen ostdeutscher Rentner. Meinsaarländischer Kollege Klimmt meint, der geplante In-flationsausgleich bei den Renten entspreche nicht dem,was die SPD der Bevölkerung vor der Wahl versprochenhabe. Ich kann Herrn Stolpe und Herrn Klimmt beim be-sten Willen nicht widersprechen.
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
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3940 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
(C)
Am 3. September 1998 haben Sie, Herr Bundeskanz-ler – damals waren Sie noch niedersächsischer Minister-präsident –, von diesem Pult aus an die Adresse IhresAmtsvorgängers wörtlich gesagt:An die Rente zu gehen ist nicht nur sozial unge-recht, nein, es ist unanständig.In Ihrer Regierungserklärung, die Sie zwei Monate spä-ter, im November letzten Jahres, abgegeben haben, ha-ben Sie gesagt:Wir geben eine dreifache Garantie ab. Wir werdenden heute in Rente lebenden Menschen ihre Rentensichern und ihnen ihre ohnehin schon geringenEinkünfte nicht kürzen.
Ein paar Monate später haben Sie an einem Ort, an demman zugegebenermaßen die Worte nicht so auf dieGoldwaage legen muß wie hier, nämlich in Vilshofen,
wörtlich gesagt:Ich stehe dafür, daß auch in Zukunft die Rente sostark steigt wie die Nettoeinkommen der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer,
also wie das, was sie in der Lohntüte haben. Das istein Prinzip, das wir nicht antasten werden.
Diese Aussage stammt vom Februar dieses Jahres. Eswäre gut, wenn sie im Juni dieses Jahres noch eine ge-wisse Gültigkeit hätte. Ansonsten setzen wir Glaubwür-digkeit aufs Spiel.
Eine Rentenreform nach Kassenlage ist für die Men-schen in den neuen Ländern besonders schmerzlich. Ichkann hier Ihrer Logik, Herr Riester, nicht folgen, wennSie erklären, daß Sie Vorsorge treffen, damit es denen,denen es schlechtergeht, durch die Reform nicht nochschlechter gehen soll. Aber dann geht es diesen Men-schen noch lange nicht so gut, wie wir es vereinbart ha-ben.
Wir haben 1994 in der Vereinbarung der großen Ko-alition in Thüringen eine sehr vernünftige, weitsichtigeRegelung aufgenommen. Ich darf zitieren, was SPD undCDU damals gesagt haben:Wir sind einig, Bestrebungen, die auf eine Abschaf-fung der lohn- und beitragsbezogenen Rente hin-auslaufen, abzulehnen.Meine Damen und Herren, dieser Satz ist 1994 auf Be-streben meines Koalitionspartners in die Vereinbarunghineingekommen, aber ich habe ihn mit unterschrieben,und wir halten ihn beide für richtig. Wir bleiben bei die-ser Ablehnung; denn die Ostrenten in Höhe von derzeit86,7 Prozent des Westniveaus sind – wenn dazu nochBetriebsrenten fehlen und Vermögenseinkünfte fastnicht vorhanden sind – keine Perspektive für die Rentnerin den neuen Ländern.
Wir bleiben bei dieser Ablehnung; denn sonst würdesich die Einkommensschere zwischen West und Ostwieder öffnen, obwohl der Einigungsvertrag uns dochalle verpflichtet, diese Schere zu schließen.Die angekündigten Maßnahmen treffen die Länderund Kommunen besonders hart. Für die Kommunenspricht der Deutsche Landkreistag von einem Lastenver-schiebungsprogramm. Immer wieder sind wir in denjungen Ländern besonders betroffen. Wir vertragen dieKürzungen bei den Strukturanpassungsmaßnahmen Ostnicht; wir vertragen sie nicht beim Zuschuß für dieTreuhandnachfolgerin BvS und auch nicht bei den Pfle-geeinrichtungen Ost. Zudem müssen wir das immer vordem Hintergrund der Aussagen „Aufbau Ost hat Vor-rang!“ sehen.Herr Eichel, Sie kürzen auch im Verkehrsetat. Sieverstärken damit – Sie haben vorhin dazu noch eine illu-strierende Bemerkung besonderer Art gemacht – unsereSorge um die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“und um die uns betreffenden Maßnahmen im Bundes-verkehrswegeplan. Die Koalition hat – das ist, auchwenn wir es nicht für notwendig halten, ihr gutes Recht– eine Überprüfung der Verkehrsprojekte beschlossen.Im April hat sie uns eine endgültige Klärung bis zumMai dieses Jahres zugesagt. Wenn ich nicht irre, istheute der 24. Juni.Täglich verunsichern uns sich widersprechendeÄußerungen aus dem Kreis der Bundesregierung zu die-sem Thema. Herr Verheugen, Spezialist für Verkehrs-fragen, läßt uns in Kulmbach wissen, die ICE-StreckeMünchen–Erfurt–Berlin werde nicht gebaut. WenigeTage später teilt uns der Staatssekretär im Bundesver-kehrsministerium – ebenfalls in Kulmbach – mit, alleVerkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ würden mit Nach-druck fortgeführt. Meine Damen und Herren, es würdeder Glaubwürdigkeit nützen, wenn parlamentarische undandere Staatssekretäre entweder nichts oder das gleichesagen, aber nicht jeden Tag etwas Widersprüchliches.
Von den Verkehrswegen hängt mehr als von fast al-lem anderen ab, nämlich langfristig die Zukunft der neu-en Länder. Das trifft für alle Länder zu, aber besondersfür Thüringen mit der A 71 und der A 73 und fürMecklenburg-Vorpommern mit der A 20. Am meistenbetroffen sind wir in Thüringen durch den Baustoppbeim Weiterbau der ICE-Strecke von Nürnberg über Er-furt nach Leipzig. Denn dabei geht es nicht um einekurzfristige Frage und auch nicht um die Frage, ob es2007 oder 2008 wird, sondern darum, ob dieser Freistaatan die überregionalen Verkehrsverbindungen Europasangebunden wird oder ob er abgehängt bleibt.
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3941
(C)
(D)
Verehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern, sowird berichtet, vom größten Reformvorhaben in der Ge-schichte der Bundesrepublik gesprochen.
Mut kann man Ihnen nicht absprechen. Ich habe gelernt,man sollte solche Urteile immer erst hinterher abgeben.Es ist gefährlich, solche Urteile bereits zu fällen, bevordie Sache überhaupt in den Gesetzgebungsprozeß ge-gangen ist. Es ist sehr mutig, in diesem Zusammenhangvom größten Reformvorhaben in der Geschichte derBundesrepublik zu sprechen. Ich erinnere mich nicht,daß Ludwig Erhard die Einführung der sozialen Markt-wirtschaft als größtes Reformvorhaben angekündigt hat– hinterher hat sich allerdings herausgestellt, daß es daswar, und das ist gut.
Sie dürfen mir – bei grundsätzlich wohlwollender Ein-stellung von Ministerpräsidenten gegenüber Bundesre-gierungen – nicht verübeln, daß ich bisher nicht denEindruck eines „größten Reformvorhabens“, sonderndes größten Durcheinanders in der Haushalts- und Steu-erpolitik in der Bundesrepublik habe.
Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich bin lernfähig. Aberfür den heutigen Tag stelle ich fest: Die Schere zwischenOst und West geht seit dem Amtsantritt dieser Bundes-regierung wieder auseinander. Die Arbeitslosigkeit imOsten ist nach wie vor unerträglich hoch, und die Kür-zungsvorschläge von heute treffen vor allem die Rentnerund die Arbeitslosen. Weil wir im Osten mehr Arbeits-lose haben als im Westen, sind wir durch dieses Pro-gramm stärker betroffen als der Westen. Das muß in derDiskussion gesagt werden.
– Das kommt ja gerade. Sie sind zu schnell. Das ist niegut. Man darf nicht zu spät sein, aber bitte auch nicht zuschnell.
„Sparen ist die richtige Mitte zwischen Geiz und Ver-schwendung.“ Das ist ein sehr gutes Wort von TheodorHeuss. Ich möchte im Sinne dieses Wortes ausdrücklichsagen: Auch wir, auch wir Länder, auch wir Länder imOsten Deutschlands, wollen sparen. Wir werden imBundesrat die Vorlagen, die angekündigt worden sind,nicht blockieren. Wir werden nicht der Devise Lafontai-nes folgen und den Bundesrat als Blockadeinstrumentmißbrauchen. Mit Lafontaine ist auch die Zeit der Bun-desratsblockade passé.
Wir versagen uns nicht Reformen, denn Reformensind notwendig. Wenn Sie in Deutschland Leute mit Re-formerfahrung brauchen, dann wenden Sie sich bitte anuns in den neuen Ländern. Wir haben da einiges einzu-bringen.
Wir sind verständigungsbereit. Aber Verständigungs-bereitschaft setzt voraus, daß man uns und unseren Ar-gumenten zuhört und daß man auf diese Argumente ein-geht. Veränderungsbereitschaft – ja, aber nicht so, wie ineinigen Punkten heute vorgestellt.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christine Scheel vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ichkann gut verstehen, daß sich in der Opposition ein ge-wisser Frust breitmacht. Auch uns ging es zwischen-durch mal so; denn wir waren uns nicht ganz sicher, obdas Ziel, das angestrebt wurde, in dieser Klarheit er-reicht wird. Ich bin sehr froh, daß sich das Prinzip derNachhaltigkeit, das wir Grünen in der Umweltpolitikimmer geltend gemacht haben, mittlerweile auch in derSteuer- und Finanzpolitik dieser Regierung niederge-schlagen hat.
Ich bin auch sehr froh, daß wir dem, was die Bevöl-kerung von uns erwartet, nämlich den Weg in die weite-re Verschuldung zu stoppen, gerecht werden. Draußenversteht kein Mensch mehr, daß jede vierte Mark, diedie Bürger und Bürgerinnen an Steuern bezahlen, letzt-endlich im zweitgrößten Einzeletat des Bundes ver-schwindet, nämlich für die Zinsen ausgegeben wird. Je-der sagt, ihr seid doch wahnsinnig geworden, das kanndoch nicht sein. Es kann doch keine solide Finanzpolitiksein, wenn eine solch hohe Zinslast auf diesem Staatruht und die Politik unfähig ist, zu handeln. – Auch dieshaben wir in Angriff genommen. Ich finde, das ist einganz wichtiges Signal, das man nicht unterschätzensollte, auch was die Frage des Vertrauens in diesen Staatund generell in Investitionen betrifft, die für die Zukunftdann wieder möglich werden.
Das zweite Prinzip ist das Prinzip der Ehrlichkeit.Es wurde ja in den letzten Jahren immer so getan, als obes unheimlich viele Möglichkeiten gäbe, all das, wassich irgendwer in diesem Land wünscht, zu bezahlen.Ich habe hier bereits vor einigen Jahren gestanden undgesagt: Große Sprünge mit leerem Beutel funktionierennur so lange, wie es gelingt, im Haushalt Luftbuchungenzu machen. Die aber haben es an sich, daß sie irgend-wann einmal wie Seifenblasen platzen. Wir legen jetztaber einen soliden, sauberen Haushalt vor –
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
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3942 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
(C)
ohne Schattenhaushalte und ohne daß irgendwelcheDinge hin- und hergeschoben worden sind.
Das dritte wichtige Prinzip ist, daß man die Interes-sen der künftigen Generationen im Auge haben muß.Herr Riester hat mit seinem Vorschlag zur Rentenreformeinen ganz großen Beitrag zur Vorsorge geleistet. Esgeht darum, Altersversorgungssysteme zu schaffen, diezukunftsfest sind, bei denen man nicht – wie Sie es sei-nerzeit im Wahlkampf gemacht haben – schnell dieMehrwertsteuer erhöht, um den Versicherungsbeitragstabil zu halten. Es geht um ein Reformwerk, das sowohlfür die alten als auch für die jungen Menschen nachvoll-ziehbar und attraktiv ist und das über steuerliche Anrei-ze die Möglichkeit eröffnet, Eigenvorsorge attraktiver zumachen, damit wir letztendlich dem Prinzip der nach-gelagerten Besteuerung in diesem Zusammenhang nä-herkommen, das andere Länder schon längst erreichthaben.
Das ist zukunftsfähig, meine Damen und Herren von derOpposition, und nicht Ihr Herumgemäkel in diesem Zu-sammenhang.
Zur Steuerpolitik, zur Unternehmensteuerreform:Es wird von Ihrer Seite schon wieder versucht, ein Cha-os oder irgend etwas in dieser Art zu beschreiben, wasüberhaupt nicht existiert.
Wir haben klare Vorgaben. Wir haben einen Steuersatzvon 25 Prozent bei der Körperschaftsteuer.
Das ist ein Riesenerfolg für Investoren, und zwar natio-nal wie international, die sich überlegen, auch wieder inDeutschland zu investieren. Das ist ein sehr großer Er-folg!
Wir haben immer gesagt: Die Höhe der Steuersätze hateine enorme psychologische Wirkung, und dieser Effektwird in diesem Zusammenhang erreicht.Natürlich wissen auch wir, daß nur 10 Prozent derUnternehmen in der Bundesrepublik Deutschland kör-perschaftsteuerpflichtig sind. 90 Prozent sind Personen-gesellschaften. Ich garantiere Ihnen, daß dafür gesorgtwerden wird, daß auch Personengesellschaften entlastetwerden. Das ist doch überhaupt keine Frage.
Es war immer unser Ziel, kleine und mittelständischeUnternehmen in diesem Land zu entlasten.
Das haben wir mit dem Steuerreformkonzept 1999/2000/2002 in der Größenordnung von über 5 MilliardenDM gemacht, und wir werden im Unternehmensbereicheine Entlastung von noch einmal 8 Milliarden DM vor-nehmen. Wenn das nicht zukunftsfähig sein soll, dannweiß ich nicht, was Sie unter Zukunftsfähigkeit verste-hen.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum Schluß.
Ich meine, daß der Grundsatz der Kontinuität für die
Ökosteuer genauso gilt wie für das, was wir im Bereich
der Familien im letzten Jahr gemacht haben, womit wir
die Familien übrigens mehr entlastet haben, als die alte
Regierung es in ihrer Zeit jemals zustande gebracht hat.
– Im Gegenteil, Sie haben die Familien belastet, und wir
haben jetzt innerhalb von zwei Jahren das Kindergeld
um insgesamt 50 DM erhöht. Das gab es zu Ihrer Zeit in
dieser Größenordnung nie.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte wirklich zum Schluß. Sie
sind schon weit über die Zeit.
Letzter Satz: Wir sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Es
tut manchem weh – das ist klar –, wenn Sparmaßnah-
men eingeläutet werden. Aber sie sind sozial gerecht, sie
sind ökologisch ausgerichtet, und sie sind wirtschafts-
politisch vernünftig. Deshalb ist das eine gute und runde
Sache.
Als
nächster Redner hat der Staatsminister des Freistaates
Bayern, Kurt Faltlhauser, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Die Rede vonHerrn Riester war in besonderer Weise bemerkenswert,
weil er damit dokumentiert hat, daß er den Kern dessen,was er hier vorschlägt, nicht zur Kenntnis nehmen will.Christine Scheel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3943
(C)
(D)
Wenn die Bürger ihr Arbeitsleben lang Geld in die Ren-tenversicherung einbezahlen, wollen sie die verläßlicheZuversicht, daß sie am Ende dieses Arbeitslebens einenberechenbaren Betrag wieder herausbekommen. Deshalbhaben wir eine Rentenformel, deshalb haben wir diesesRentensystem. Das ist eine Konstruktion des Vertrauensfür die Arbeitenden und diejenigen, die Rentenempfän-ger sein werden.
Wenn man die Rente plötzlich nicht mehr auf einerRentenformel aufbaut – gleichgültig, welche es ist; siemuß langfristig wirken –, sondern nach der gerade aktu-ellen Kassenlage willkürlich ändert, dann zerstört mandas Grundvertrauen der arbeitenden Bevölkerung undder Rentner, nicht nur in die Rentenversicherung, son-dern auch in diesen Staat. Das ist der Kernpunkt dessen,was wir Ihnen vorwerfen.
Ganz abgesehen davon, daß die Zahlen beeindruk-kend sind, die Herr Kues zu dieser Frage vorgetragenhat – ein Rentner, der 2 000 DM Rente bekommt, zahlt102 DM pro Monat drauf –, kommen für die Rentnernoch die Belastungen durch die Ökosteuer hinzu. Ichhabe mir überlegt, wie es einem „normalen“ Rentner,diesem sogenannten 2000-DM-Rentner, mit Ihren „Re-formen“ ergeht: Er darf, mit Ihrer Genehmigung, dochbitte schön ein Auto fahren, ein kleineres. Er fährt12 000 km pro Jahr und hat einen Stromverbrauch von4 000 Kilowattstunden pro Jahr. Dieser Mann zahlt da-für im Jahr 360 DM zusätzlich, ohne daß für ihn irgend-eine Entlastung erfolgt. Das heißt, pro Monat kommennoch einmal 30 DM hinzu. Der „normale“ Rentner mit2 000 DM Rente zahlt also bei dieser großartigen Ope-ration rund 130 DM pro Monat drauf. Das ist eine wirk-lich großartige Sache.
Und daß das nicht nur für zwei Jahre wirkt, ist docheine Sache der Arithmetik. Sie senken jetzt das Niveauab. Dies wirkt als sogenannter Basiseffekt langfristignach.
Die Rentner zahlen also für diese Notoperation langfri-stig. Ich halte das für unanständig.
Im übrigen will ich noch etwas festhalten, damit esnicht untergeht: Herr Riester, Sie haben durch IhreRede hier bestätigt, daß dieses großartige Paket – derBundeskanzler hat es als das größte aller Zeiten vor-gestellt –,
noch ein zusätzliches Deckungsloch von 2,8 MilliardenDM hat.
Wenn es richtig ist – ich habe es heute morgen auchschon gelesen –, daß diese 2,8 Milliarden DM nicht vonder Krankenversicherung abgeliefert werden,
dann fehlen sie zusätzlich in diesem Paket.
Das wollen wir hier einmal festhalten.Meine Damen und Herren, von den Rednern der Op-position, Entschuldigung, der Regierung – Sie sind jetztleider an der Regierung; ich muß das zur Kenntnis neh-men –, ist immer wieder die Vergangenheit bemühtworden. Ich erinnere mich gut an das letzte Jahr, an diegroßen Plakate der SPD: Arbeit, Arbeit, Arbeit! Die erstvor kurzem erfolgte Feststellung des Präsidenten derBundesanstalt für Arbeit besagt jedoch: Wir haben imMai 11 000 Arbeitslose mehr als im April. Wen wun-dert das?Wer die dringend notwendige Unternehmenssteuerre-form um ein weiteres Jahr verschiebt, braucht sich nichtzu wundern, daß nicht investiert wird, sondern Attentis-mus herrscht.
Wer die Ausgaben für Straße und Schiene in massiverWeise weiter herunterfährt – und daß, obwohl sie schonbei einer Investitionsquote von lächerlichen 11 Prozentliegen –, braucht sich nicht zu wundern, daß keine Ar-beitsplätze geschaffen werden. Wer den bedeutendenKosten- und Standortfaktor Energie für Privathaushalteund die Wirtschaft verteuert, der schafft keine Arbeits-plätze. Wer aus der umweltfreundlichen und kostengün-stigen Kernenergie aussteigen will, schafft ebenfallskeine Arbeitsplätze, sondern nur weiteres Mißtrauen indie Politik, in die Kontinuität der Politik in diesem Lan-de. Er muß sich dann über die zusätzlichen 11 000 Ar-beitslosen nicht wundern.Herr Metzger hat hier von ausländischen Zeitungengesprochen. Man braucht sich nicht zu wundern, daß inausländischen Zeitungen gegenwärtig vor allem vom„kranken Mann in Europa“ die Rede ist. Das sind jetztwir. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wer istschuld daran? Sie sind schuld daran, daß der „krankeMann in Europa“ mittlerweile Deutschland heißt.
Sie haben es gewagt, in die Zeit der alten Regierungzurückzuschauen. Ich sage nur: Die WachstumsratenStaatsminister Dr. Kurt Faltlhauser
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3944 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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während der Regierung Kohl waren deutlich höher alsheute.
Die Investitionen sowohl der Industrie als auch der öf-fentlichen Hände waren deutlich höher, und die saison-bereinigte Zunahme der Arbeitsplätze war auch deutlichhöher. Das ist die Wahrheit!
Ich frage mich, wie Herr Metzger dazu kommt, voneinem Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik zu spre-chen. Ich habe eine ziemlich gute Erinnerung an dieZahlen, die auch in diesem Hause diskutiert wordensind: In der Zeit von 1993 bis 1997 hat die RegierungKohl, hat Theo Waigel Einsparungen von 125 Milliar-den DM erwirtschaftet. Alleine 1997 waren es 22 Milli-arden DM. Das war schwer genug. Und Sie kommenjetzt daher, als sei es etwas völlig Neues, wenn man ander einen oder anderen Stelle spart. Es wurde von uns inunglaublichem Umfang gespart. Herr Kollege Glos,Herr Vizepräsident Solms, wir haben gemeinsam steu-erliche Subventionen abgebaut, die heute, im Jahre1999, in einer Gesamtsumme von 45 Milliarden DMwirken. Das sind Größenordnungen! Wie kommen Sieda eigentlich zu Ihrer Aufgeblasenheit und dazu, zu sa-gen, Sie erreichten ganz neue Größenordnungen?
Eines ist mir sowohl in der Rede des Finanzministersals auch bei dem, was Herr Metzger sagte, unangenehmaufgefallen. Sie haben darauf hingewiesen, daß die alteRegierung mit der Politik von Theo Waigel unglaublichhohe Schulden angehäuft habe.
Wenn Sie sich das Papier anschauen, das Herr Eichelgestern – mit der entsprechenden Statistik – selbst ver-teilt hat, dann können Sie an den jeweiligen Säulen ganzleicht erkennen, daß wir 1989 500 Milliarden DM und1993 rund 1 Billion DM Schulden hatten. Das bedeutetzwar eine Verdoppelung. Aber warum? Das sind – unddas ist belegbar – bis auf die letzte Mark alles zusätzli-che Leistungen für die neuen Bundesländer. Wer das –völlig unzulässig – als Erblast diffamiert, der diffamiertmeiner Ansicht nach den Glücksfall der Wiedervereini-gung. Das ist gut angelegtes Geld!
Vergleichen Sie das doch einmal an Hand des Haus-haltes 1997, des letzten Haushaltes, den wir voll verant-wortet haben. Damals betrug die NettoneuverschuldungTheo Waigels 63 Milliarden DM, und alleine die imHaushalt veranschlagten Kosten der deutschen Einheitbetrugen 91 Milliarden DM.
Alleine durch diese Gegenüberstellung sehen Sie, daßhier keine unvertretbar hohe zusätzliche Verschuldungeingegangen worden ist, sondern daß den neuen Ländernvielmehr geholfen wurde. Wir wollen auch weiterhinhelfen.
Das ist der entscheidende Punkt.Ich will noch etwas sagen, was mir als Politiker desFreistaates Bayern in besonderer Weise wichtig ist. Icherinnere mich daran, was der Bundeskanzler, was Ver-treter dieser Bundesregierung im Vorfeld ihrer Verant-wortung für die Präsidentschaft der Europäischen Uniongesagt haben. Sie haben immer wieder angekündigt, daßdie Agenda 2000 mit ihren aus Brüssel herrührendenUnzumutbarkeiten so nicht durchgehen werde. Das wa-ren bloße Ankündigungen. Wir wissen, daß das Ergebnisinsbesondere für die Landwirtschaft völlig unzurei-chend ist. Die Preise werden radikal nach unten gesenkt.Viele Bauern wissen nicht, wie sie weiter existierensollen. Und auf diese unerträglichen Vorbelastungen ausBrüssel, wo sich diese Regierung während ihrer Präsi-dentschaft nicht durchgesetzt hat, legen Sie jetzt nochein sattes Paket zusätzlicher nationaler Lasten. Das halteich für unglaublich!
835 Millionen DM Gas- und Ölbetriebsbeihilfe – weg!460 Millionen DM für die Alterssicherung – weg! 115Millionen DM für die Unfallversicherung – weg! Undim Bereich der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktursind es zusätzlich noch einmal 100 Millionen DM. Dasist für eine kleiner werdende, wirklich hart arbeitende,sich in einer schwierigen Lage befindende Bevölke-rungsgruppe, für die Bauern, ein Riesenpaket! Was Siehier machen, das nenne ich schlicht und einfach Bau-ernlegen.
Mit diesem 30-Milliarden-Paket müssen wir uns in-tensiver auseinandersetzen. 30 Milliarden? Es sind keine30 Milliarden, es sei denn, Herr Poß, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie gehenhier her und sagen, schlichtes Verschieben sei Sparen.Ich nenne das nicht Sparen. Von diesen 30 MilliardenDM sind ziemlich genau 10 Milliarden DM schlichteVerschiebung. Das wurde schon gesagt, aber ich sage esnoch einmal, damit es wirklich deutlich wird und diesePropaganda bei den Bürgern nicht durchdringt. Es ist so,daß auf Grund der Änderung der Beitragsbemessungs-grundlage die Sozialversicherungsträger 7 MilliardenDM tragen müssen. Arbeitslosenversicherung, Renten-versicherung, Krankenversicherung – das ist der ersteVerschiebebahnhof.
HerrStaatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage derKollegin Höfken von Bündnis 90/Die Grünen?Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3945
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja,
selbstverständlich.
Bitte
schön.
Sie
sind jetzt in der Rede schon ein bißchen weiter fortge-
schritten. Dennoch möchte ich Sie fragen, ob Sie denn
nicht bitte zur Kenntnis nehmen möchten, daß die Zah-
len, auf denen Sie hier Ihre Rede aufbauen, nicht die
Zahlen sind, die aktuell im Agrarbereich in der Diskus-
sion sind.
– Ja, Sie beziehen sich auf Papiere, deren Ursprung et-
was unklar ist. Aber wir jedenfalls werden dafür Sorge
tragen, daß die Eingriffe in den Agrarsozialbereich, die
Sie schildern und die Sie vielleicht selbst gemacht hät-
ten, nicht zustande kommen werden. Dafür werden wir
uns einsetzen. Möchten Sie das bitte zur Kenntnis neh-
men?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau
Kollegin, hier muß ich mich jetzt entschuldigen. Die
Zahlen, die ich hier vorliegen habe, sind von gestern
mittag.
Die Zahlen sind hier ja mittlerweile sehr flüchtig und
werden innerhalb von Stunden geändert.
Wir haben heute wieder dazugelernt, daß es ein zusätzli-
ches Deckungsloch von 2,8 Milliarden DM gibt. Ich ler-
ne vielleicht auch hier noch hinzu. Ich dachte, nach lan-
ger, gründlicher Vorberatung – ganz anders als bei
Herrn Lafontaine – hat Herr Eichel jetzt solide gearbei-
tet und schlägt ein solides, fertiges, detailliertes Paket
vor. Aber die Realität, wenn man dahinterschaut – und
das tue ja nicht nur ich, sondern das tut eine ganze Men-
ge qualifizierter Beamter in Bayern, die immer die aktu-
ellen Zahlen herausfinden wollen –, ist die, daß jeden
Tag neue Zahlen vorgelegt werden, und daß auch die
Zahlen, die jetzt auf dem Tisch liegen, noch in großem
Maße unsicher sind. Das gilt zum Beispiel, wenn ich das
als Landesminister sagen darf, für den riesigen Posten
„Einsparungen bei Beamten und Angestellten im öffent-
lichen Dienst“. Das ist doch Sparerei nach dem Prinzip
Hoffnung. Zunächst einmal kommen doch die Tarifver-
handlungen, und ob man es dann wagen kann, die Tarif-
ergebnisse für die Beamten nicht umzusetzen, würde ich
sehr bezweifeln.
Ich will noch auf etwas anderes hinweisen, was eben-
falls eine Verschiebung zu Lasten von Ländern und
Kommunen ist: Originäre Arbeitslosenhilfe für Zeitsol-
daten und Referendare: 1 Milliarde DM. Das zahlen die
Kommunen oder – indirekt – die Länder. Oder der Un-
terhaltsvorschuß: 218 Millionen DM. – Einfach weg! Da
muß doch eine Auffangposition her! – Das zahlen die
Kommunen und die Länder. Das Wohngeld für Sozial-
hilfeempfänger: 1 Milliarde DM. Das zahlen die Kom-
munen und die Länder. Wollen Sie das Sparen nennen?
Ich nenne es Verschieben. Und schwupps ist dieses rie-
sige Paket von 30 Milliarden DM nur noch eines von 20
Milliarden DM. Und dann können wir herunterrechnen.
Großartig ist das wirklich nicht. Also weg mit diesen
Weihrauchkesseln! Es ist kein großer Wurf.
Herr
Staatsminister, der Bundesrat hat zwar immer Rede-
recht, aber jetzt ist die Redezeit der CDU/CSU-Fraktion
abgelaufen. Wenn Sie länger sprechen würden, müßte
die ganze Debattenzeit verlängert werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das
will ich nicht.
Ich darf
Sie dann bitten, zum Schluß zu kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr
Präsident, ich bin in der Disziplin dieses Hauses. Ich
hätte noch sehr viel sagen wollen, zu diesem Unterneh-
menssteuerkonzept,
das zu spät kommt, zu gering ist und de facto – das sage
ich als Landesfinanzminister – nicht durchführbar ist. Es
ist nicht administrierbar. Dies wird letztlich auch zu La-
sten der Finanzverwaltung, auch unserer Beamten in
Bayern, gehen.
– Alle Länder tragen diese Last.
Eine nachhaltige Haushaltspolitik ist weiß Gott not-
wendig, damit wir unsere Kinder nicht jedes Jahr erneut
mit einer Nettoneuverschuldung belasten. Die Bundes-
regierung hätte schon im letzten Jahr die Chance gehabt,
Steuermehreinnahmen zur Reduzierung der Nettoneu-
verschuldung einzusetzen und keine Aufblähung des
Haushaltes zu betreiben. Es war ein schlechter Anfang
im letzten Jahr. Dies ist ein zweiter Schritt, der den
schlechten und falschen finanzpolitischen Weg fortsetzt.
Ichwerde bei der Redezeit der SPD-Kollegen entsprechendgroßzügig verfahren, damit die Gerechtigkeit wieder-
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3946 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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hergestellt wird, die Debattenzeit aber nicht verlängertwerden muß.Als nächster Redner hat Staatsminister Rolf Schwa-nitz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede
von Herrn Ministerpräsident Vogel hat mich veranlaßt,
mich hier kurz zu Wort zu melden, um ein paar Bemer-
kungen zu seiner Rede und zu dem, was hinsichtlich des
Aufbaus Ost vermutet worden ist, zu machen. Herr
Vogel, ich habe Sie in den zurückliegenden Jahren ei-
gentlich als einen seriösen Politiker kennengelernt. Was
Sie heute hier erzählt haben, hat wahrscheinlich mehr
mit dem Thüringer Wahlkampf zu tun als mit dem Aus-
werten des Bundeshaushaltes.
Zum Thema Rente will ich Ihnen nur sagen: Ich
glaube, Sie sind nicht die moralische Instanz, wenn es
um die Renten in Ostdeutschland geht. Das ist eine
schwierige solidarische Leistung, die wir unter der
Maßgabe einer gleichen Vorgehensweise in Ost und
West erwarten. Herr Vogel, ich erinnere mich noch
sehr gut daran, als die frühere Regierungskoalition
1994/1995 die Dynamisierung der Ostrenten von der
Halbjährlichkeit auf die Jährlichkeit umgestellt hat. Man
könnte einmal darüber nachdenken, welche Auswirkun-
gen das auf die Rentendynamisierung, auf die Anglei-
chung hatte. Ich erinnere mich nicht, daß damals, 1995,
von Ihrer Seite irgendein kritischer Ton kam. Sie sind an
dieser Stelle nicht die moralische Instanz.
– Ich bitte um Nachsicht. Ich habe eine Redezeit von nur
fünf Minuten.
Ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen. Herr
Grund, auch Sie können sich ja noch auf die Rednerliste
setzen lassen.
Herr Vogel, Sie haben gesagt, Sie könnten im Bun-
deshaushalt keine Priorität hinsichtlich des Aufbaus Ost
erkennen. Ich will jetzt nicht daran erinnern, was un-
längst Herr Biedenkopf gesagt hat, als Frau Merkel die
Bundesregierung kritisiert hat. Da gab es ein paar inter-
essante Zwischentöne, an denen Sie sich einmal ein Bei-
spiel nehmen könnten. Er hat das ganz anders gesehen
als Sie, obwohl auch er im Wahlkampf steckt.
Ich will ein paar grundsätzliche Dinge in Erinnerung
rufen und Ihren Blick, falls Sie das nicht sehen können,
auf den Bundeshaushalt 2000 richten, auf das, was dort
zum Thema Aufbau Ost und den in diesem Zusammen-
hang errichteten Säulen steht. Ich beginne mit dem
Thema Förderung von Innovationen, Forschung und
Technologie. Da soll im Bundeshaushalt 2000 für Ost-
deutschland ein Anteil von insgesamt 3,2 Milliarden
DM veranschlagt werden. Für 1998 wurden von der frü-
heren Bundesregierung 2,8 Milliarden DM veranschlagt.
In diesem Jahr, 1999, stehen 3,2 Milliarden DM zur
Verfügung. In diesem Punkt besteht also Stabilität. Das
ist richtig so; denn das ist eine Zukunftsfrage für Ost-
deutschland.
Ich will Ihren Blick auf das Thema aktive Arbeits-
marktpolitik richten. Wir werden im Haushalt 2000
insgesamt 11,8 Milliarden DM für aktive arbeitsmarkt-
politische Maßnahmen in Ostdeutschland zur Verfügung
stellen können. Im Wahljahr 1998, unter der früheren
Bundesregierung, standen 7,9 Milliarden DM zur Ver-
fügung. Das ist ein ganz wichtiges Entlastungsmoment
und keine Kürzung, wie Sie das hier dargestellt haben
und wie ich es auch von anderer Stelle aus der Opposi-
tion gehört habe.
Der Bereich Wirtschaftsförderung und Struktur-
hilfe wird mit 2,3 Milliarden DM Kontinuität symboli-
sieren, und zwar in der Mechanik, die wir kennen: zum
Beispiel bei der Gemeinschaftsaufgabe durch das Veran-
lagen der Barmittel aus der Verpflichtungsermächtigung
der Vergangenheit. Das wird ein wichtiges Element sein,
das uns im Jahr 2000 in den ostdeutschen Ländern, also
auch in Thüringen, Wirtschaftsförderung ermöglicht.
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grehn?
Nein, ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen.Des weiteren möchte ich an das Thema Infrastruktur-förderung erinnern. Wir werden für die Infrastruktur-förderung – und für den Wohnungsbau und dieStädtebauförderung – in Ostdeutschland insgesamt20,9 Milliarden DM bereitstellen können. Das ist mehrals der Ansatz in 1998 und übrigens auch in diesem Jahr,in 1999. Ich sage ausdrücklich: Ich bin froh, daß diesgelungen ist. Ich bin übrigens auch froh, daß das KfW-Wohnraummodernisierungsprogramm, das die alte Bun-desregierung noch nicht einmal in 1999 verlängernwollte, im Jahr 2000 in einer neuen Modellform zurVerfügung steht. Das ist eine richtige Entscheidung. Siehaben kein Wort dazu gesagt, meine Damen und Herren.
Zum Schluß: Herr Vogel, an dem Mittelansatz für dieTreuhand-Nachfolgeeinrichtungen wird sich nichtsändern. Ihr Krisenszenario, daß in diesem Bereich 900Millionen DM herausgenommen werden sollen, bautnicht auf dem auf, was wir in der jetzigen Situation fest-geschrieben haben. Wir haben auf Grund unserer mittel-fristigen Finanzplanung die Möglichkeit zur Korrektur.Wir werden nach wie vor insgesamt 1,7 Milliarden DMVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3947
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für die Treuhand-Nachfolgeeinrichtungen zur Verfü-gung stellen. Da ich Ihnen, Herr Vogel, unterstelle, daßSie wissen, daß die BvS seit 1995 ohne einen Zuschußaus dem Bundeshaushalt auskommt, und weil dies auchim nächsten Jahr so ist, grenzt das, was Sie hier gesagthaben, an Unredlichkeit.
Ich gebe
dem Kollegen Grund von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort zu einer Kurzintervention.
Da der Kollege
Schwanitz meine Zwischenfrage nicht zugelassen hat,
bediene ich mich des Instruments der Kurzintervention.
Herr Kollege Schwanitz, Sie haben sich auf die Rente
und deren Bezieher in den neuen Bundesländern bezo-
gen. In den nächsten beiden Jahren, in den Jahren 2000
und 2001, kürzen Sie die Rentenanpassung um 3 bis 4
Prozent und gewähren nur einen Inflationsausgleich.
Das bedeutet, daß die Rentner dort im Jahre 2001 im
Monat 100 DM weniger an Rente erhalten werden, in
einem Rentenjahr auf eine Monatsrente verzichten müs-
sen und, eine Rentenlaufzeit von 17 Jahren unterstellt,
insgesamt auf ungefähr 20 000 DM. Diese ostdeutschen
Rentner haben aber außer ihrer Rente kaum Grundbesitz
und Ersparnisse.
Sie haben die Umstellung des Rentenberechnungs-
verfahrens zum 1. Juni 1995 angesprochen. Wir haben
damals das Rentenberechnungsverfahren von ex ante auf
ex post umgestellt, weil in den ersten Jahren nach der
deutschen Einheit keine verläßlichen Werte für die Ta-
rifentwicklung vorgelegen haben. Ab dem 1. Juni 1995
war ein Anpassungsverfahren für Gesamtdeutschland
möglich. Das hat mit einer Rentenkürzung, einer Ren-
tenumstellung überhaupt nichts zu tun. Das bringen Sie
durcheinander.
Sie haben hier vehement das Sparpaket vertreten.
Ich sage es noch einmal – der Ministerpräsident von
Thüringen, Dr. Bernhard Vogel, hat es schon angespro-
chen –: Durch die Einsparungen bei der BvS können
umwelterhaltende Maßnahmen nicht mehr durchgeführt
werden, und auch bestandssichernde Maßnahmen für
privatisierte Unternehmen wird es in Zukunft nicht mehr
geben. Sie sparen bei der Pflegeinfrastruktur in den
neuen Bundesländern 120 Millionen DM pro Jahr ein,
obwohl diese Mittel nach dem Pflegeversicherungsge-
setz hineinfließen müßten. Sie werden dies zahlen müs-
sen, weil Sie das Gesetz nicht ändern können.
Sie greifen in bestehende Gesetze ein. Das, was Sie in
den neuen Bundesländern machen, sind Luftbuchungen.
Ebenso werden diese 30 Milliarden DM an Einsparun-
gen nicht zustande kommen. Sie gaukeln den Leuten im
Land etwas vor.
Zu einer
weiteren Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Dr.
Klaus Grehn das Wort. Anschließend werde ich dem
Herrn Staatsminister Gelegenheit geben, auf die Kurz-
interventionen zu erwidern.
Bitte schön, Herr Grehn.
Herr Staatsminister, Sie
haben in Ihren kurzen Ausführungen weniger deutlich
zu Ihrem Ressort, der Situation in Ostdeutschland, gere-
det. Da Sie aber einige Dinge angesprochen haben, von
denen ich, so glaube ich, etwas verstehe, möchte ich
darauf hinweisen, daß die Kürzungen bei SAM um 800
Millionen DM für die neuen Länder natürlich einen Ar-
beitsplatzabbau bedeuten, abgesehen davon, daß alle
weiteren Einsparungen, etwa bei der Subventionierung
von mittelständischen Unternehmen, diese Länder in be-
sonderer Weise treffen werden – und das angesichts der
Tatsache, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in
den neuen Bundesländern momentan schon wegen des
hohen Überhangs der Verpflichtungsermächtigungen,
die im vorigen Jahr von den Arbeitsämtern ausgestellt
worden sind, erheblich zurückgefahren werden.
Sie wissen doch so gut wie ich, daß allein in Sachsen
monatlich 6 000 Menschen aus diesem Bereich entlassen
werden und neue nicht eingestellt werden können, weil
kein Geld mehr da ist. Wie Sie angesichts dieser Tatsa-
che zu einer Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik auf
hohem Niveau kommen wollen, bleibt sicher Ihr Ge-
heimnis.
Herr
Staatsminister, bitte schön.
Meine Damen und Herren! Herr Grund, daß Sie dieVeränderungen, die 1995 Platz gegriffen haben und dieauch mit der Dynamisierungsintensität zu tun haben – dahabe ich eine andere Auffassung als Sie –, als eine An-gleichung zwischen Ost und West definieren, versteheich schon. Aber daß die ostdeutsche Modalität auch inder Intensität umgestellt worden ist – von halbjährlichauf jährlich –, werden Sie doch als Fakt nicht abstreitenwollen.Zweite Bemerkung. Herr Grehn, Sie haben noch ein-mal die schwierige Situation im Haushaltsjahr 1999 aufGrund der Bindungen aus dem Vorjahr angesprochen.Ich kann sie nicht wegleugnen und werde das auch nichttun. Aber ich will schon noch einmal darauf aufmerksammachen, worin die Ursache für die schwierige Situationlag. Die Ursache bestand nämlich darin, daß im Wahl-jahr 1998 die aktive Arbeitsmarktpolitik als Wahl-kampfinstrument mißbraucht worden ist.
Nachdem 1997 die Menschen in die Arbeitslosigkeit ge-schickt worden sind, weil die Maßnahmen gekürzt wor-Staatsminister Rolf Schwanitz
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3948 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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den sind und keine Neubewilligungen Platz gegriffenhaben, gab es 1998 einen massiven Zulauf zu den Maß-nahmen – da brauchen Sie gar nicht so den Kopf zuschütteln; das ist so –, wodurch wir im Jahr 1999 einemassive Vorbindung hatten mit dem Effekt, den Sie be-schrieben haben und der tatsächlich so ist. Dennochwerden wir mit dem, was wir zur Verfügung stellen –ich sage noch einmal: über 11 Milliarden DM; das istmehr, als wir 1998 zur Verfügung hatten –, eine neueSituation bekommen, die Stabilität bedeutet. Wir werdendort – auch das darf nicht verschwiegen werden –selbstverständlich etwas für mehr Effizienz und gegenMitnahmeeffekte bei vielen dieser Maßnahmen unter-nehmen. Auch dies ist mit dem SGB III schon im parla-mentarischen Verfahren.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Carl-Ludwig
Thiele von der F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-
gen! Kollege Schwanitz, wenn ein gemeinsames Ziel
aller hier im Bundestag vertretenen Parteien darin be-
steht, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, dann müssen auch
die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze geschaffen
werden, insbesondere in den neuen Bundesländern.
Wenn Sie aber die Mittel für die Verkehrsinfrastruk-
tur in den neuen Bundesländern kürzen, vernichten
Sie dort Arbeitsplätze und Zukunft, weil Unternehmen
sich nur dort ansiedeln können, wo Verkehrsströme flie-
ßen können. Insofern wird das ein Punkt – nicht der ein-
zige – sein, den Sie überprüfen müssen. Wir als F.D.P.
halten diesen Angriff auf die Infrastruktur insbesondere
in den neuen Bundesländern für grundfalsch.
Das heute zur Diskussion anstehende Sparpaket in
der Größenordnung von 30 Milliarden DM ist ein Rie-
senbetrag; aber darin stecken viele Luftbuchungen. Es
ist richtig, daß die öffentlichen Haushalte auf der Aus-
gabenseite nachhaltig entlastet werden müssen. Es ist
aber in keinem Fall verständlich, daß der Bund bei sich
Ausgaben streicht, die dann andere öffentliche Ebenen
zu tragen haben. Das ist kein Absenken der Ausgaben,
das ist Lasten verschieben. Die Kommunen werden Ih-
nen das nicht durchgehen lassen; sie werden auf Kom-
pensation bestehen. Insofern sind die Sparmaßnahmen in
diesem Bereich kein Erfolg, denn Sie müssen den
Kommunen einen Ausgleich gewähren. Das ist eine
Luftbuchung.
Nächster Punkt. Es ist kein Sparerfolg, wenn Sie 1
Milliarde DM einsparen wollen, indem Sie von der
Treuhand-Nachfolgerin BvS in dieser Größenordnung
Aufgaben auf die KfW, die überwiegend dem Bund ge-
hört, verschieben. Die Aufgaben müssen weiter erfüllt
werden. Das Geld muß weiter gezahlt werden. Auch hier
gilt: kein Spartitel, sondern eine weitere Luftbuchung.
Es ist auch kein Sparerfolg, wenn im Verteidigungs-
haushalt 3,5 Milliarden DM eingespart werden sollen.
Wir haben gerade in den letzten Wochen Diskussionen
darüber geführt. Der Bundesverteidigungsminister hat
unter Zustimmung des gesamten Hauses erklärt, daß wir
eine funktionsfähige Bundeswehr haben müssen. Wie
hier gespart werden soll, wie Sie das erreichen wollen,
ist überhaupt nicht deutlich geworden, und Sie werden
das auch nicht konkretisieren. Also: weitere Luftbu-
chung.
Wenn Sie dann sagen, die Ökosteuer sei eine Spar-
maßnahme, muß ich feststellen: Steuererhöhungen als
Sparmaßnahmen auszugeben ist an Dreistigkeit nun
wirklich nicht zu überbieten.
Was ist denn daran öko, wenn Sie die Spediteure, den
gewerblichen Güterverkehr, in dem über 100 000 Men-
schen in unserem Land beschäftigt sind und die in inter-
nationalem Wettbewerb stehen, im nationalen Allein-
gang zusätzlich belasten? Das wird dazu führen, daß in
diesem Bereich weitere Arbeitsplätze verschwinden
werden. Das kann nicht der Sinn einer vernünftigen Po-
litik sein.
Wenn Sie trotz Ökosteuer die Kohle mit keiner Mark
belasten, hat das mit Glaubwürdigkeit im Bereich der
Umwelt überhaupt nichts zu tun. Auch die Kohle ist ein
Emissionsverursacher. Gas, Strom und Mineralöl wer-
den höher besteuert, während Sie die Kohle überhaupt
nicht besteuern. Wenn Sie ein Minimum an Glaubwür-
digkeit erhalten wollen, müßten Sie hier herangehen.
Daß Sie das nicht tun, zeigt, daß das Ganze überhaupt
nicht der Umwelt dienen soll. Das Ganze soll nur ein
Alibi sein, um unter dem Deckmantel eines von allen
befürworteten Grundes, nämlich mehr Umweltschutz,
den Bürgern stärker in die Tasche zu greifen. Das lehnen
wir als F.D.P. ab.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Georg Wagner,
SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Zunächst möchte ich ein paar Sätzezu Ihnen, Herr Ex-Kollege Faltlhauser, sagen. Früherwaren Ihre Reden besser. Sie haben gesagt, wir brau-chen die Solidarität mit den neuen Ländern, und Sie ha-ben theatralisch Vorschläge gemacht, wie man ihnenhelfen kann. Ich frage Sie: Warum hat die BayerischeStaatsregierung eigentlich die Klage beim Bundes-verfassungsgericht eingereicht, den Bund-Länder-Staatsminister Rolf Schwanitz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3949
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Finanzausgleich zu Lasten der neuen Bundesländer zuverändern?
Ich kann verstehen, Herr Kollege Faltlhauser, daß Siesich schützend vor die Beamten in Bayern stellen wol-len. Das ist nur natürlich; denn wie wollen Sie den Be-amten in Bayern erklären, daß der Bayerische Landtagvor drei, vier Tagen eine Diätenerhöhung beschlossenhat, so daß sich die bayerischen Diäten jenen des Bun-destagsabgeordneten annähern, während sie nur einenInflationsausgleich bekommen sollen? Aber das ist IhreSache.Auch zu Ihnen, Herr Dr. Vogel, möchte ich ein paarSätze sagen. Sie haben die Rentenproblematik ange-sprochen. Ich will die Zahlen ganz konkret nennen. ImJahre 1995 betrug die Preissteigerungsrate in den neuenLändern 1,9 Prozent, die Rentenerhöhung 0,5 Prozent.
Im Jahr 1996 betrug die Preissteigerungsrate in den neu-en Ländern 1,9 Prozent, die Rentenanpassung 0,95 Pro-zent. Im Jahr 1997 lag die Preissteigerungsrate in denneuen Ländern bei 2,3 Prozent, die Rentenanpassung bei1,65 Prozent. Im vergangenen Jahr, Herr Ministerpräsi-dent, betrug die Preissteigerungsrate in den neuen Bun-desländern 1,1 Prozent und die Rentenanpassung 0,44Prozent. In diesem Jahr werden die Renten um 1,38 Pro-zent angehoben. Hätte man das alte Rentenmodell derehemaligen Koalition übernommen, läge die Anpassungbei nur 0,79 Prozent, also wesentlich unterhalb derPreissteigerungsrate.
Herr Ministerpräsident Vogel, wenn ich den Jargonder Hamburger Kollegin, den sie in ihrer Kurzinterven-tion gebraucht hat, aufnehmen würde – sie sprach vonBetrug und Lüge –, könnte ich sagen: Sie, Herr Mini-sterpräsident, haben die Rentnerinnen und Rentner inden neuen Ländern in den letzten fünf Jahren bezüglichder Rentenanpassung betrogen und belogen.
Noch etwas: Sie haben gemeint, Sie müßten etwas zuden 630-Mark-Jobs sagen. Im Jahre 1997 fand derDeutschlandtag der Jungen Union statt, und der dama-lige Bundeskanzler, Herr Dr. Kohl, Sie saßen ja einmalmit ihm zusammen in einer Landesregierung, hielt dorteine Rede. Die jungen Leute haben geschimpft und ge-sagt, die 610-Mark-Jobs – damals lag die Grenze bei610 DM – müssen endlich weg, sie müssen sozialversi-cherungspflichtig gemacht werden. Dazu hat der Kanz-ler gesagt, er habe kein Patentrezept. Das war ehrlich.Dann hat er aber auch wörtlich gesagt: Enormer Miß-brauch ist aufgetreten; da müssen wir etwas ändern.Die Kollegen Schäuble und Schauerte haben sichähnlich geäußert. Letzterer war ja 1997 sogar Vorsitzen-der des Arbeitskreises 610-Mark-Jobs der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Auch Kollege Blüm hat sich ähn-lich geäußert, indem er sagte, daß es gilt, den Mißbrauchin diesem Bereich abzuschaffen. Sie waren dazu nur niefähig, weil der Koalitionspartner nicht mitgemacht hat.Westerwelle und Gerhard haben Freudenschreie ausge-stoßen, als es damals nicht gelang, eine Veränderungherbeizuführen.
Nun hat der Kollege Merz – ich sehe ihn im Momentnicht, aber das kann ihm ja übermittelt werden – der Ko-alition ein Angebot gemacht. Er hat gesagt, wir solltengemeinsam die letzten 16 Jahre vergessen. Ich sage Ih-nen: Wir lehnen das Angebot ab; wir werden dafür sor-gen, daß sie nicht vergessen werden.
Der Finanzminister hat heute morgen festgestellt, daßein bankrotter Staat der Idealzustand des Kapitalismusist. Damit hat er vollkommen recht. Sie haben den Staatin den Konkurs getrieben, weil Sie damit Ihre Politik,die einseitig den Großeinkommen nutzt, fortsetzenkonnten.Sie haben es geschafft, daß im Jahr 80 Milliarden DMfür Zinsen gezahlt werden müssen. Wenn man das ein-mal pro Kopf der Bevölkerung betrachtet, dann kommtman zu dem Ergebnis, daß in Deutschland ein Babyschon bei der Geburt mit 1 000 DM für Zinszahlungenbelastet ist.
Selbst die mit 106 Jahren älteste Frau hat 1 000 DMSchulden auf dem Buckel. Auf eine vierköpfige Durch-schnittsfamilie in Deutschland, eine Familie mit zweiKindern, entfallen pro Jahr 4 000 DM an Zinsbelastung.Sie rauben damit durch Ihre Politik dem Familienvatereinen Monatslohn.
Zu der Behauptung von Herrn Merz, es handele sichnicht um Einsparungen in Höhe von 30 Milliarden DM,sondern um den Betrag, der voriges Jahr draufgelegtwurde, antworte ich: Wir haben die Schattenhaushalteeinbezogen, damit Klarheit und Wahrheit im Haushaltherrscht. Sie haben die Unterdeckung des Haushaltes jaimmer verschwiegen und kaschiert.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zurFamilienpolitik ist ja zu Ihren Lasten ausgefallen. Eswurde festgestellt, daß Sie im Familienbereich nichtsgemacht haben. Wir müssen das ausbaden. Daß wir esgeschafft haben, das Kindergeld schon zum 1. Januar zuerhöhen und die Familien zu entlasten, ist eine ganz tolleLeistung, die auch bei der Betrachtung dieses Haushaltsgesehen werden sollte.
Sie waren dazu nicht fähig. Sie waren nicht einmal inder Lage, 5 DM draufzulegen. Wir erhöhen das Kinder-geld zum 1. Januar 2000 erneut; ebenso erhöhen wir denHans-Georg Wagner
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3950 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Kinderfreibetrag auf 3 000 DM. Hierzu waren Sie niefähig; Sie wollten es ja auch gar nicht tun.
Die mittelständische Wirtschaft haben wir durchdas Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 um rund5 Milliarden DM entlastet.
Wir sorgen jetzt auch dafür, daß reinvestierte Gewinnedurch die Steuergesetzgebung besonders gut behandeltwerden. Dieser Vorteil für die mittelständische Wirt-schaft kann gar nicht hoch genug angesetzt werden.
Eben ist gesagt worden, früher sei der Bundeshaus-halt ein Musterbeispiel gewesen. Aber die Zins-/Steuerlastquote liegt bei 22 Prozent. Diese Zahl wird nurnoch in Bremen übertroffen. In allen anderen Bundes-ländern liegt diese Quote unter der des Bundeshaushalts.Minister Eichel hat recht, daß Sie uns mit dem Bundes-haushalt den marodesten Haushalt der gesamten Bun-desrepublik Deutschland als Erblast hinterlassen haben.Wir sind jetzt dabei, diesen Zustand aufzuarbeiten.
Es ist doch ganz klar, daß wir als Sozialdemokratenauch dafür sorgen werden, daß die Lasten gerecht ver-teilt werden. Es kann nicht sein, daß nur Rentnerinnenund Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Beam-te, Angestellte oder auch Abgeordnete und Ministerbluten sollen, sondern es muß auch diejenigen treffen,die in den letzten Jahren privates Geldvermögen in einerHöhe angehäuft haben, die fast nicht mehr darstellbarist.
Von 1992 bis 1997 sind die Einkommen aus Unter-nehmertätigkeit netto um 44,1 Prozent gestiegen, dieLohn- und Gehaltssummen im gleichen Zeitraum nurum 3 Prozent.Zum Abschluß noch ein Wort zum Aufbau Ost undzu Ihnen, Herr Ministerpräsident Vogel: Das Investi-tionsförderungsgesetz für die neuen Länder hat eineGrößenordnung von 6,6 Milliarden DM. Dort bringtman das Geld aber einfach nicht weg. Das einzige Land,das vom Angebot des Bundes Gebrauch gemacht hat, istBerlin. Sie, Herr Ministerpräsident Vogel, sind in IhremLand nicht in der Lage gewesen – die anderen Länderwaren es auch nicht –, dieses Geld für die vorgesehenenMaßnahmen auszugeben.
– Sachsen-Anhalt auch nicht. Das Land ist finanziell amschlimmsten dran; das wissen Sie ja. – Das heißt, Siemüssen dafür sorgen, daß die Gesetze in Ihren Ländernauch umgesetzt werden. Zehn Jahre nach der Wieder-vereinigung Deutschlands müßte das doch langsamfunktionieren. Wenn dort drüben Menschen mit einemSachverstand wie dem Ihrem sind, müßte es doch mitdem Teufel zugehen, wenn das nicht klappen würde.
Wir werden die Nettokreditaufnahme bis zum Jahre2003 auf unter 40 Milliarden DM absenken. Unser Zielist, sie bis auf 30 Milliarden DM zu senken.
– Herr Kollege Waigel, Sie stellen immer so geistreicheFragen. Heute geht es um Hombach, das letzte Mal ginges um Lafontaine. Sie müssen einmal Ihre Argumenta-tion ändern. Haben Sie nichts anderes drauf, als nachNamen zu fragen?
– Ich kann sagen: Beiden geht es glänzend.
Als
letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin
Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion das Wort. Bitte
schön.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich möchte gern eine Vorbe-merkung zu der Zwischenfrage einer Kollegin von derCDU/CSU-Fraktion machen, die – wie ich sehr gut ver-standen habe – Walter Riester nicht beantworten wollte.Das war eine unsägliche Polemik zum Thema Grund-sicherung. Wenn Sie mit dem Beispiel Bali kommen,dann müssen Sie daran erinnert werden, daß vor allemdie Frauen, die Sie über Jahre ohne jede Chance auf so-ziale Sicherung in 630-Mark-Jobs getrieben haben, An-spruch auf eine soziale Grundsicherung haben. Ich bitteSie im Namen derer, die die Grundsicherung brauchen,die Polemik in diesem Punkt zu unterlassen.
Daß Sie immer unrecht hatten, wenn Sie behauptethaben, es könne nicht zusammengehen, die Familien or-dentlich zu entlasten und zugleich eine vernünftige Poli-tik für die Entwicklung von Unternehmen und für dieSchaffung von Arbeitsplätzen zu machen, zeigt sich dar-an, daß wir in unserem Zukunftsprogramm den Schwer-punkt genau darauf gesetzt haben, diese beiden Bereichemiteinander zu verbinden. Sie sehen also, daß es sehrwohl möglich ist, Angebots- und NachfrageelementeHans Georg Wagner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3951
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miteinander zu kombinieren, und daß es völlig falschwar, immer so zu tun, als müsse das auseinanderdivi-diert werden.
Für uns war die Familienentlastung immer einezentrale Frage, weil diese Entlastung wirtschaftlichsinnvoll und sozial gerecht ist. Für mich, für unsere Re-gierungsfraktionen ist es wichtig, daß Sie sehen: Zu ei-ner fairen Familienentlastung gehört, daß die Freibeträgeum 3 000 DM und das Kindergeld um 20 DM erhöhtwerden. Zu einer fairen Familienentlastung gehört na-türlich auch die Frage: Wie verantwortlich gehen wirmit dem Abbau der Staatsverschuldung um? Das istdoch ein Paket. Ein Schwerpunkt liegt im Bereich derFamilienentlastung. Zu einer fairen Familienentlastunggehört auch die Frage: Wie gehen wir mit den Staatsfi-nanzen verantwortlich um? Das ist nämlich auch einStück Familienpolitik. Diesen Bereich haben Sie überJahre sträflich vernachlässigt.
Wir als sozialdemokratische Fraktion und als sozial-demokratische Partei haben eine sehr geradlinige undsehr lange Tradition im Bereich der Familienpolitik.Diese ist sehr positiv.
Wir haben bei unserer Argumentation immer Wert aufeinen sozialen Ausgleich bei der steuerlichen Entlastungder Familien und der Förderung von Familien gelegt. Siehaben sich immer geweigert, da ein Stück mitzugehen.Wir mußten Sie immer wieder dazu zwingen.
Die von uns vorgelegten Eckpunkte zeigen: Wirkombinieren. Wir machen das, was wir laut Bundesver-fassungsgericht machen sollen: Wir sorgen für einesteuerliche Entlastung der Familien. Wir fügen nochetwas hinzu, was wir nicht machen müssen, was wir unsaber als Schwerpunkt vorgenommen haben, weil wirmeinen: Auch die Familien, die steuerlich nicht oderkaum belastet sind, müssen entlastet werden und ihrenKindern die Chance geben können, sich zu entwickeln,betreut und erzogen zu werden. Deshalb setzen wir völ-lig andere Schwerpunkte.
Besonders witzig finde ich, daß uns jetzt Pressemit-teilungen der Opposition ins Haus flattern, in denen eineErhöhung des Kindergeldes ohne jegliche Begrenzungnach oben verlangt wird. Sie scheinen vergessen zu ha-ben, daß Sie eine Kindergelderhöhung mit uns nie mit-machen wollten. Sie scheinen ferner vergessen zu haben,daß der Vorsitzende der jetzigen großen Oppositions-fraktion hier immer gesagt hat – das empfand ich wirk-lich als grauslich –, entweder Kindergeld oder Arbeits-plätze. Das ist eine Unverschämtheit gewesen. Wir zei-gen mit diesem Zukunftsprogramm, daß Kindergeld undArbeitsplätze vereinbar sind.
Wenn Sie jetzt so tun, als hätten Sie keine lange undunerfreuliche Tradition in diesem Bereich der Familien-politik, dann darf ich Sie vielleicht daran erinnern, daßIhr leider verstorbener Kollege Fell vor noch nicht ein-mal vier Jahren von seinen finanzpolitischen Aufgabenzurückgetreten ist, weil er Ihre katastrophale Familien-politik nicht mehr mittragen wollte.
An zwei kleinen Punkte möchte ich Ihnen erneutdeutlich machen, daß wir nicht nur im großen, sondernauch im kleinen auf Familien achten. Sie haben sichüber Jahre geweigert, Grenzgängern in die Schweiz ih-ren Anspruch auf Kindergeld zu erfüllen. Wir haben dassofort nach dem Regierungswechsel getan.
Sie haben seit zwei Jahren gewußt, daß erwachsenebehinderte Kinder ihren Anspruch auf Kindergeld we-gen der steuerlichen Voraussetzungen nicht mehr wahr-nehmen konnten. SPD und Grüne haben schon vor zweiJahren im Ausschuß beantragt, einen Anspruch ins Ge-setz einzufügen. Sie haben sich geweigert. Wir werdendas jetzt tun; es steht bereits in unseren Eckpunkten.Was Sie zwei Jahre lang nicht gemacht haben, setzenwir sofort mit unseren Eckpunkten um. Ich bin sicher,daß die Familien wahrnehmen werden, wo es wirklichlanggeht.
– Sie können lange Zwischenrufe machen. Es wird Ih-nen nichts nutzen, weil die Menschen ein Gedächtnishaben und noch genau wissen, wie die Debatten hier ab-gelaufen sind.Wir machen erfolgreiche Familienpolitik im kleinenund im großen, und wir verknüpfen diese Familienpoli-tik mit Verbesserungen für Unternehmen, mit Entwick-lungsschritten auf dem Arbeitsmarkt sowie mit positivenEntwicklungen in den Bereichen Bildung, Forschungund Investitionen. Wenn Sie einigermaßen kluge Ent-scheidungen für dieses Land treffen wollen, sollten Siesich diesen Maßnahmen aus unserem Zukunftspro-gramm nicht verweigern.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 18 a bis isowie die Zusatzpunkte 2 a bis d auf:– Überweisungen im vereinfachten Verfahren – 18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Eu-ropa-Mittelmeer-Abkommen vom 24. Novem-Nicolette Kressl
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ber 1997 zur Gründung einer Assoziation zwi-schen den Europäischen Gemeinschaften undihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Ha-schemitischen Königreich Jordanien anderer-seits– Drucksache 14/1006 –
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demVertrag vom 21. Dezember 1995 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Repu-blik Armenien über die Förderung und dengegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen– Drucksache 14/1008 –
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlei-hung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit andie Internationale Kommission zum Schutzedes Rheins
– Drucksache 14/1017 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)InnenausschußRechtsausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-derungen vom 24. April 1998 des Überein-kommens vom 3. September 1976 über die In-ternationale Organisation für mobile Satel-
– Drucksache 14/1089 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft und Technologie e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 5. November 1998 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschlandund der Regierung der Arabischen RepublikÄgypten über ihre gegenseitigen Seeschiff-fahrtsbeziehungen– Drucksache 14/1090 –
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung desRechtspflege-Anpassungsgesetzes
– Drucksache 14/1124 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß g) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ger-hard Jüttemann, Angela Marquardt, Rolf Kutz-mutz, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Postgesetzes– Drucksache 14/1108 –
Bläss, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der PDSAnerkennung geschlechtsspezifischer Flucht-ursachen als Asylgrund– Drucksache 14/1083 –
Geis, Erwin Marschewski, Ronald Pofalla, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUMaßnahmen zur akustischen Wohnraumüber-wachung – Unterrichtungspflicht der Bun-desregierung nach Artikel 13 Abs. 6 GG und§ 100 e Abs. 2 StPO– Drucksache 14/1146 –
scher , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Re-nate Blank, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUÜberprüfung von Kraftfahrzeugen nach Un-fallreparaturen– Drucksache 14/1207 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3953
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Otto , Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing.Dietmar Kansy, weiterer Abgordneter und derFraktion der CDU/CSURealisierung des Verkehrsprojektes DeutscheEinheit Nr. 8 SchienenneubaustreckeNürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin– Drucksache 14/1208 –
scher , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Re-nate Blank, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUPrivatisierung öffentlicher Dienstleistungen imFahrerlaubniswesen– Drucksache 14/1209 –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
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3954 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undF.D.P.Einsetzung des Parlamentarischen Kontroll-gremiums gemäß § 4 des Gesetzes über dieparlamentarische Kontrolle nachrichten-dienstlicher Tätigkeit des Bundes– Wahl der Mitglieder des ParlamentarischenKontrollgremiums gemäß § 4 des Gesetzesüber die parlamentarische Kontrolle nach-richtendienstlicher Tätigkeit des Bundes– Drucksachen 14/1218, 14/1220, 14/1221 – b) Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäߧ 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes zurKontrolle der Beschränkung des Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnisses– Drucksache 14/1222 – c) – Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undF.D.P.Einsetzung des Gremiums nach Artikel 13Abs. 6 Grundgesetz– Wahl der Mitglieder des Gremiums nachArtikel 13 Abs. 6 Grundgesetz– Drucksachen 14/1219, 14/1223, 14/1224 –Für die nachher durchzuführende Wahl zum Parla-mentarischen Kontrollgremium benötigen Sie Ihrenweißen Wahlausweis. Diesen können Sie, soweit nochnicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen.Außerdem benötigen Sie eine weiße Stimmkarte, die imEingangsbereich und hier im Saal verteilt wird.Die Fraktion der PDS hat zu den gemeinsamen An-trägen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zurEinsetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiumsund zur Einsetzung des Gremiums nach Art. 13 Abs. 6GG jeweils einen Änderungsantrag eingebracht. Mirwurde mitgeteilt, daß die Fraktion der PDS das Wort zurBegründung ihrer Änderungsanträge wünscht.Das Wort hat der Kollege Roland Claus, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die PDS-Fraktion greiftmit ihrem Änderungsantrag einen Vorschlag der Koali-tionsfraktionen der SPD und des Bündnisses 90/DieGrünen vom Herbst 1998 auf, nach dem die Geheim-dienstkontrollgremien mit 15 Mitgliedern besetzt wer-den sollen, um alle Fraktionen des Deutschen Bundesta-ges zu beteiligen. Ich kann mir vorstellen, daß Sie sichjetzt nicht mehr so gerne an Ihren eigenen Vorschlagerinnern, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Ko-alitionsfraktionen. Aber Sie können nicht ernsthaft – dashaben Sie heute morgen wieder getan – der CDU/CSUmangelndes Vermögen, sich an 16 Jahre Politik zu erin-nern, vorwerfen, und sich selber noch nicht einmal einhalbes Jahr zurückerinnern.
Einen kleinen Unterschied gab es allerdings, wennman sich erinnert: Sie sind damals nach der konservati-ven Kritik eingeknickt. Heute versuchen Sie bereits vorder konservativen Kritik, diese rechts zu überholen.Unsere Fraktion sieht in der jetzigen Beschlußvorlageeine unzulässige Einschränkung ihrer parlamentari-schen Rechte und sieht diese Vorlage auch als verfas-sungsrechtlich bedenklich an. Es war immerhin derFraktionsvorsitzende der SPD, Herr Peter Struck, derhier sinngemäß gesagt hat, man müsse das Parlamentari-sche Kontrollgremium klein halten, damit eine Fraktiondraußen bleibe. Darin sehen wir eine unzulässige Ein-schränkung unserer Rechte. Im übrigen stehen wir mitdieser Kritik nicht allein. Sie können uns in dieser Fragegesellschaftlich nicht so locker überstimmen, wie Sie essicherlich gleich im Bundestag tun werden.Vizepräsidentin Petra Bläss
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Nun haben Sie eingewendet, daß es eine Reihe klei-nerer Gremien gebe, in denen wir nicht vertreten seien.Das stimmt natürlich. Wir haben es als eine Härte emp-funden, nicht im Briefmarkengremium des Bundestagesvertreten zu sein. Aber hier gibt es einen Unterschied,den ich Ihnen erklären möchte: Während wir uns überdie Themen, die in den Gremien diskutiert werden, indenen wir nicht vertreten sind, über das Fragerecht undim Rahmen der Plenardiskussionen durchaus kundigmachen und uns zu diesen Themen einbringen können,können wir das bei den Themen, die in den Geheim-dienstgremien diskutiert werden, nicht, wenn wir vondiesen Gremien ausgeschlossen werden. Ich möchte hiernicht gleich mit dem Gang nach Karlsruhe drohen; denndas würde Ihnen die Möglichkeit zum Umdenken neh-men, auf die ich noch hoffe.Etwas Gutes ist mir in Ihrem Wahlvorschlag dochnoch aufgefallen: Sie haben die Freien Demokraten vonder Besetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiumsnicht ausgeschlossen, obwohl die F.D.P. nur etwa dieHälfte der Stimmen der PDS bei den letzten bundes-weiten Wahlen bekommen hat. Wir begrüßen ausdrück-lich, daß sie die F.D.P. nicht ausgeschlossen haben, keinZweifel. Aber wie Sie es dann rechtfertigen können, diePDS unbedingt aus der parlamentarischen Kontrolle derGeheimdienste herauszuhalten, leuchtet uns nicht ein.Das leuchtete im übrigen auch dem Sächsischen Lan-desverfassungsgericht nicht ein.Ein Ruck soll durchs Land gehen, sagte der scheiden-de Bundespräsident. Wir haben verstanden, sagte derKanzler, und wandte seine Hau-Ruck-Methode an.Sollten Sie sich bei so vielem Ruck im Lande nicht aucheinen kleinen Ruck geben, um alle Fraktionen des Bun-destages an der Kontrolle der Geheimdienste zu beteili-gen? Ich denke, die Wählerinnen und Wähler würdenIhnen das alsbald danken; denn eine Entscheidung gegendie Beteiligung der PDS an der parlamentarischen Kon-trolle der Geheimdienste wäre unseres Erachtens aucheine Entscheidung gegen den Osten, gegen die neuenLänder.Wir haben es Ihnen mit unseren Anträgen leichtge-macht. Jetzt haben Sie die Wahl.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktionen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU
und der F.D.P. erwidert jetzt der Kollege Wilhelm
Schmidt.
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Claus,
es geht natürlich nicht darum, die Ergebnisse der letzten
bundesweiten Wahlen oder andere in diesem Fall nicht
zu beachtende Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Es ist
vielmehr entscheidend, wie wir mit den wichtigen Gre-
mien dieses Hauses umgehen und wie wir diese beset-
zen, um dem Auftrag, den wir nach der Verfassung ha-
ben, gerecht zu werden.
Darum antworte ich Ihnen im Namen der vier ge-
nannten Fraktionen, daß wir die bisherige Tradition fort-
führen und die Zahl der Mitglieder der Gremien zur
Kontrolle der Geheimdienste wie bisher belassen. Wir
wollen – das ist das Entscheidende –, daß dort die not-
wendige Vertraulichkeit gesichert ist und daß dort der
Kontrollauftrag wirksam und zielsicher ausgeübt werden
kann. Dies soll auch in der Zukunft mit der knappen
Zahl von neun Mitgliedern sichergestellt werden. Nach
unserer gemeinsamen Auffassung entspricht dies genau
dem Auftrag, den wir nach der Verfassung und nach den
Spezialgesetzen zu erfüllen haben.
Diese Festlegung richtet sich ausdrücklich nicht ge-
gen die PDS, obwohl ich zugebe, daß Sie es uns in den
vergangenen Monaten nicht sehr leichtgemacht haben,
über Ihr Anliegen neutral und objektiv zu entscheiden.
Die PDS-Fraktion hat in diesem Hause alle Rechte, die
einer Oppositionsfraktion zukommen. Es war die Koali-
tion, die Ihnen bei der Konstituierung das Amt einer Vi-
zepräsidentin sowie die anteilige Zahl von Ausschuß-
vorsitzenden gesichert hat. Daß wir durch die Festle-
gung der Größe des Vermittlungsausschusses der PDS
dort keinen Sitz zugestanden haben, entspricht übrigens
der Entscheidung, die wir heute treffen, vom Grundsatz
her. Insoweit verweise ich auf meinen Debattenbeitrag
vom 3. Dezember des letzten Jahres in diesem Hause.
Ich will zur verfassungsmäßigen Bewertung – das
haben Sie ja anklingen lassen – kurz auf folgendes hin-
weisen. Die Verfassung gewährt diesem Parlament seine
autonomen Rechte bei der Festlegung der Organisation
und der Strukturen. Die nehmen wir wahr – wenn es
notwendig ist, auch im Streit und mit Mehrheitsent-
scheidungen. Dabei werden die Rechte der PDS als
Fraktion – zumal als Oppositionsfraktion – nicht be-
schnitten. Nach herrschender Lehre hat nämlich nicht
jede Fraktion den Anspruch, in jedem Gremium vertre-
ten zu sein.
Aus diesen Gründen kann und will ich auch nicht an-
ders, als Ihnen allen zu empfehlen, den Anträgen der
PDS nicht zuzustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir kommen damitzum Tagesordnungspunkt 4 a. Es handelt sich um dieEinsetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiumsgemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Gesetzes über die parla-mentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeitdes Bundes. Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag derFraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-nen und F.D.P. vor.Wie Ihnen bereits bekannt ist, hat die Fraktion derPDS einen Änderungsantrag eingebracht, über den wirzunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan-trag der PDS auf der Drucksache 14/1235 ? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-trag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei dreiRoland Claus
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3956 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Enthaltungen aus der Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-nen abgelehnt worden.Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Antrag derFraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-nen und F.D.P. zur Einsetzung des ParlamentarischenKontrollgremiums auf der Drucksache 14/1218 ab. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen die Stimmen derPDS-Fraktion angenommen worden. Damit ist das Par-lamentarische Kontrollgremium eingesetzt; die Mitglie-derzahl ist auf neun festgelegt.Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Parlamentari-schen Kontrollgremiums kommen, bitte ich um IhreAufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfah-ren: Nach § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamenta-rische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit istgewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitgliederdes Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer minde-stens 335 Stimmen erhält. Auf der weißen Stimmkartekönnen Sie höchstens neun Namensvorschläge ankreu-zen, da das Parlamentarische Kontrollgremium nachdem vorhin gefaßten Beschluß neun Mitglieder habensoll. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als neun An-kreuzungen, andere Namen oder Zusätze enthalten. Wersich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.Die Wahlen finden offen statt. Sie können dieStimmkarten also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Siedie weiße Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen,bitte ich Sie, den Schriftführerinnen und Schriftführernan der Wahlurne Ihren weißen Wahlausweis zu überge-ben. Die Abgabe des Wahlausweises dient als Nachweisder Teilnahme an der Wahl.Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnenbesetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Wahl.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimmkarte nicht abgegeben hat? – Das ist offensicht-lich nicht der Fall. Ich schließe die Wahl.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mitder Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis dieser Wahlwird Ihnen später bekanntgegeben werden.*)Wir setzen die Beratungen fort. Wir wählen jetzt dieMitglieder des Gremiums gemäß § 41 Abs. 5 des Au-ßenwirtschaftsgesetzes zur Kontrolle der Beschränkun-gen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Esliegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, derCDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und derF.D.P. auf Drucksache 14/1222 vor. Es ist verlangt wor-den, über die Vorschläge einzeln abzustimmen.Wer stimmt für Hermann Bachmaier, SPD? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Kolle-ge Hermann Bachmaier bei Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für den Kollegen Christian Lange, SPD?– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der*) Seite 3967 BKollege Christian Lange bei Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für den Kollegen Dr. Ditmar Staffelt,SPD? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damitist Dr. Ditmar Staffelt bei einigen Enthaltungen derPDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für die Kollegin Uta Zapf, SPD? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Kolle-gin Uta Zapf bei einigen Enthaltungen aus der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für Kollegen Ruprecht Polenz,CDU/CSU-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist der Kollege Ruprecht Polenz beiEnthaltung der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für den Kollegen Dr. Andreas Schocken-hoff, CDU/CSU-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Damit ist der Kollege Dr. AndreasSchockenhoff bei Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für Rudolf Kraus, CDU/CSU? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Kolle-ge Rudolf Kraus bei Enthaltung der PDS-Fraktion ge-wählt.Wer stimmt für den Kollegen Hans-Christian Ströbe-le, Bündnis 90/Die Grünen? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Damit ist der Kollege Hans-ChristianStröbele bei einer Enthaltung aus der F.D.P.-Fraktiongewählt.Wer stimmt für den Kollegen Hildebrecht Braun,F.D.P.-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Damit ist der Kollege Hildebrecht Braun beieinigen Stimmenthaltungen der PDS-Fraktion gewählt.Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 4 c: Ein-setzung des Gremiums nach Art. 13 Abs. 6 des Grund-gesetzes. Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der Frak-tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/DieGrünen und der F.D.P. vor.Die Fraktion der PDS hat, wie Ihnen bereits vorhinmitgeteilt wurde, einen Änderungsantrag eingebracht,über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für denÄnderungsantrag auf der Drucksache 14/1236? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-trag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei zweiEnthaltungen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenabgelehnt worden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an die-ser Stelle nachtragen, daß es vorhin bei der Be-schlußempfehlung zum ersten Änderungsantrag der PDSeine Ja-Stimme aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DieGrünen gab. Ich konnte sie leider nicht erkennen, weilhinten an der Wahlurne dichtes Gedränge war. Ich bitte,mein Versehen zu entschuldigen, aber das ins Protokollaufzunehmen.Ich möchte Sie daher noch einmal ermahnen, bei Ab-stimmungen tatsächlich auf den Plätzen zu bleiben, da-mit die Präsidentin bzw. der Präsident die Übersicht hat.Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Antrag derFraktionen der SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DieVizepräsidentin Petra Bläss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3957
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Grünen und F.D.P. zur Einsetzung des Gremiums nachArtikel 13 Abs. 6 des Grundgesetzes auf Drucksache14/1219 ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen die Stimmen derPDS-Fraktion und bei einer Enthaltung von BÜNDNIS90/Die Grünen angenommen. Damit ist das Gremiumnach Artikel 13 Abs. 6 des Grundgesetzes eingesetzt unddie Mitgliederzahl auf neun festgelegt.Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder des Gre-miums nach Artikel 13 Abs. 6 des Grundgesetzes. Esliegen Wahlvorschläge der Fraktionen der SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/Die Grünen sowie F.D.P. undPDS vor, Drucksachen 14/1223 und 14/1224. Auch hierist Einzelabstimmung verlangt.Wer stimmt für Hans-Peter Kemper, SPD? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Kolle-ge Hans-Peter Kemper bei einigen Stimmenthaltungenaus der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für Dr. Jürgen Meyer, SPD? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Kolle-ge Dr. Jürgen Meyer bei einigen Stimmenthaltungen ausder PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für die Kollegin Ute Vogt, SPD? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Kolle-gin Ute Vogt bei einigen Stimmenthaltungen aus derPDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für Hedi Wegener, SPD? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Damit ist Hedi Wegener,SPD, bei einigen Stimmenthaltungen aus der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für den Kollegen Joachim Schmidt,CDU/CSU-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist der Kollege Joachim Schmidt,CDU/CSU, bei Stimmenthaltungen aus der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für den Kollegen Eckart von Klaeden,CDU/CSU-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist der Kollege Eckart von Klaeden beiEnthaltung der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für den Kollegen Wolfgang Zeitlmann,CDU/CSU-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist der Kollege Wolfgang Zeitlmann,CDU/CSU, bei Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.Wer stimmt für den Kollegen Cem Özdemir,BÜNDNIS 90/Die Grünen? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Damit ist der Kollege Cem Özdemir beieinigen Stimmenthaltungen aus der PDS-Fraktion ge-wählt.Wer stimmt für den Kollegen Jörg van Essen, F.D.P.?– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist derKollege Jörg van Essen bei einigen Stimmenthaltungenaus der PDS-Fraktion gewählt.Damit sind die neuen Mitglieder gewählt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vorhinbeschlossen, daß das Gremium nach Artikel 13 Abs. 6des Grundgesetzes aus neun Mitgliedern bestehen soll.Es liegt jedoch ein weiterer Wahlvorschlag vor, über denwir befinden müssen. Sollte auch dieser Wahlvorschlagangenommen werden, wäre damit die Zahl der Mitglie-der neu festgelegt.Wer stimmt für die Kollegin Ulla Jelpke, PDS? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Kolle-gin Jelpke gegen die Stimmen der PDS-Fraktion, gegeneine Stimme aus der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünenund bei einer Enthaltung aus der SPD-Fraktion und einerEnthaltung aus der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünennicht gewählt.
– Zwei Ja-Stimmen von BÜNDNIS 90/Die Grünen undeine Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Beidieser Abstimmung war das etwas schwierig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit amEnde dieses Wahlprozederes.Ich rufe nun den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENPolitische Schlußfolgerungen aus dem Be-schluß der Katholischen Bischofskonferenzzur SchwangerschaftskonfliktberatungIch eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist dieKollegin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Wir wollen keine Tricks“, sagte Bischof Lehmann nochvor vier Tagen in Würzburg. Aber offensichtlich bliebder Deutschen Bischofskonferenz nichts anderes übrigals ein Trick. Im Ergebnis scheint rechtlich alles beimalten zu bleiben; doch nach vier Jahren Diskussion istfestzustellen: Der Versuch der katholischen Bischöfe,eine größtmögliche Eindeutigkeit im Sinne des Schutzesdes Lebens herzustellen, hat zu einer noch größerenZweideutigkeit geführt. Das Aushalten dieser Zweideu-tigkeit wird den Frauen und in Teilen den Ärzten zuge-wiesen.Die Männer der Bischofskonferenz haben eine schil-lernde Entscheidung getroffen und rücken damit sichund ihren Einsatz für das Leben ins Zwielicht. Der un-säglichen Geschichte wurde ein weiteres Kapitel hinzu-gefügt.
Erinnern wir uns: Im Jahre 1995 haben wir nach über25jähriger leidenschaftlicher Debatte hier im Parlamenteinen breit getragenen Kompromiß gefunden. In dieserDebatte hatten sich die Kirchen ebenfalls engagiert, undsie sind auch gehört worden.Vizepräsidentin Petra Bläss
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3958 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Ein wesentlicher Bestandteil dieses Kompromisses istdie Schwangerschaftskonfliktberatung. Sie soll demSchutz des ungeborenen Lebens dienen, und gleichzeitighat sie zu berücksichtigen, daß dieses nur mit und nichtgegen die Frau geschützt werden kann. Deshalb muß dieBeratung ergebnisoffen sein. Sie ist Voraussetzung füreinen straffreien Schwangerschaftsabbruch.Der Gesetzgeber hat sich verpflichtet, ein flächendek-kendes und plurales Angebot an Beratungsstellen vorzu-halten. Im Rahmen dieses Angebotes leisten die katholi-schen Beratungsstellen eine anerkannt gute Arbeit. Aberbereits im Schatten der unerträglichen Scheindebattendes letzten Jahres sind nach Aussage des Sozialdiensteskatholischer Frauen die Schwangerschaftskonfliktbera-tungen nach dem Gesetz zurückgegangen.In dieser vom Vatikan aufgezwungenen Debatte ginges niemals wirklich um die betroffenen Frauen, sondernnur um die Probleme des Vatikans und eines Teils desKlerus mit dem Schein. Anstatt Frauen in einer existen-tiellen Notsituation wirklich beizustehen, wurden ihnenzusätzliche „Scheinprobleme“ von Männern aufgehalst.
Die Entscheidung der Bischofskonferenz hat diesesDilemma nur schlimmer gemacht. Die Quadratur desKreises ist eben nicht gelungen. Wenn der Vatikanmeint, er könne am bestehenden Staat-Kirche-Verhältnisfesthalten, indem er den Spagat zwischen kirchlicherLehre und gesellschaftlicher Verantwortung zur Zer-reißprobe ausgestaltet, dann täuscht er sich. Das, was dieRömisch-Katholische Kirche seit Jahr und Tag ihrenGläubigen abverlangt, nämlich ein Leben in der struktu-rellen Unwahrhaftigkeit – ich nenne als Beispiele nurdie Familienplanung und die Sexualmoral –, kann unddarf sie nicht auf die gesamte Gesellschaft übertragen.
Es ist eine Selbsttäuschung, wenn die Bischofskonfe-renz das grundgesetzlich abgesicherte Recht der Kirchenauf Selbstbestimmung so weit auszudehnen versucht,daß kirchliches Recht staatlichem Recht übergestülptwerden soll.Andererseits ist die Kirche Teil dieser Gesellschaft,und es ist ihr wichtig, im Rahmen der Subsidiarität imstaatlichen Auftrag soziale Dienste zu leisten. Auch dieTätigkeit der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellenist als Beratungsarbeit im Sinne des Gesetzgebers eineAuftragsverwaltung.Nun wird in der römisch-katholischen Bescheinigung„Beratung und Hilfe bei Schwangerschaftkonflikten –Perspektiven für ein Leben mit dem Kind“ ab dem 1.Oktober der Satz eingefügt:Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführungstraffreier Abtreibung verwendet werden.Im Kommentar des Staatssekretariats, der zusammen mitder Erklärung der Bischofskonferenz veröffentlicht wur-de, wird ausgeführt, daß die Umsetzung zur Folge habenwerde – ich zitiere –, „daß die Kirche eine Konflikt-beratung eigener Art anbietet und in einem konkretenPunkt vom Weg des Gesetzgebers abweicht.“ Damitstellt sich die Frage, ob die Voraussetzung für die Auf-tragsverwaltung im Sinne des Gesetzgebers noch gege-ben ist. Der Schein, so Bischof Lehmann in der heutigenAusgabe des „Rheinischen Merkurs“, ist ein kirchlicherSchein, der im Rechtsbereich der Kirchen keine Folge-wirkungen hat. Damit bestätigt er zwar das staatlicheRecht, aber das Pontius-Pilatus-Prinzip läßt grüßen.
Die Formulierung bringt Zweideutigkeiten und Mißver-ständnisse mit sich. Wem ist denn zu erklären, daß sichder eingefügte Satz auf die Lehre der Kirche und nichtauf die Gültigkeit des staatlichen Rechts bezieht? Wiesollen beispielsweise die muslimischen Frauen diesenSatz verstehen, wenn sie eine katholische Schwanger-schaftskonfliktberatungsstelle aufsuchen? Immerhin wa-ren 12 Prozent aller Frauen, die 1997 eine katholischeBeratungsstelle aufgesucht haben, muslimischen Glau-bens.Ein Dilemma gewinnt nicht an Eindeutigkeit, wennman die Verantwortung verlagert. Das Engagement inder Sache wird wirkungsloser. Die einzige Klarheit, dieentstanden ist, ist die, daß den Bischöfen die Einheit mitdem Papst und untereinander wichtiger ist als die Ein-heit mit ihren Gläubigen und mit den Menschen in die-ser Gesellschaft, vor allem mit den Frauen.
In dieser Situation nennt der Passauer Bischof Ederdie Position der Kirche – ich zitiere – „einen entschei-denden Beitrag zur Bewußtseinsbildung und zur geistig-moralischen Zukunft der Gesellschaft“. In welcher Weltleben diese Männer eigentlich? Sie produzieren Rechts-unklarheit, schieben alles auf die Frauen ab. Die Kircheverrennt sich, bis sie nicht mehr zu erkennen ist, nur umkeine wirklichen Entscheidungen zu fällen, sondern Ta-schenspielertricks zu spielen.
Eine so verfaßte Kirche macht sich als Vertragspart-nerin zur Übernahme staatlicher Aufgaben im Rahmender Subsidiarität leider unglaubwürdig. Sie wird zur un-sicheren Kantonistin und betreibt damit selbst ihrenRückzug aus der Gesellschaft. Mit Entscheidungen wiedieser und einem Handeln nach der Devise – ich zitieredie „FAZ“ vom 21. Juni – „unerlaubt, aber gültig“ trägtdie katholische Kirche nicht zum vielbeschworenenWertekonsens bei, von dem der freiheitliche Staat lebt.Ich danke schön.
Als nächste Redne-rin spricht für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ma-ria Eichhorn.Christa Nickels
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Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Frau Nickels, was Sie
gerade gemacht haben, ist überzogen. Sie stilisieren die
Entscheidung der Bischöfe zu einem Streit zwischen
Männern und Frauen hoch. Das ist in der Weise, wie Sie
es gebracht haben, unangemessen.
Ich begrüße grundsätzlich den Beschluß der katholi-
schen Bischofskonferenz, in der bisherigen Schwange-
renkonfliktberatung zu bleiben. Es ist mir wichtig, daß
die katholischen Beratungsstellen in der gesetzlichen
Beratung verbleiben können.
Zugleich ist es für mich beruhigend, daß führende deut-
sche Juristen zu dem von der Kirche geplanten modifi-
zierten Beratungsschein eine rechtlich positive Stellung-
nahme abgegeben haben. Denn in § 7 des Schwangeren-
und Familienhilfeänderungsgesetzes von 1995 kommt es
dem Gesetzgeber allein auf die geforderte Bestätigung
der Beratung an. Die Ergebnisoffenheit muß durch die
Beratung selbst garantiert werden.
Insofern teile ich die Erleichterung der bayerischen
Sozialministerin Barbara Stamm. Sie hat gestern erklärt,
daß nach dem Beschluß in den nächsten Tagen und Wo-
chen in Gesprächen mit den Bischöfen und Beratungs-
stellen eingehend erörtert werden soll, wie die Beratung
im einzelnen künftig auszugestalten ist. Ich appelliere an
alle Bundesländer, etwaige rechtliche Fragen baldmög-
lichst zu klären und die künftige Gestaltung der Kon-
fliktberatung mit der Kirche zu besprechen.
Mein Dank gilt insbesondere dem Vorsitzenden der
Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, für seinen uner-
müdlichen Einsatz für einen Verbleib der katholischen
Kirche im Beratungssystem.
Meine Damen und Herren, als Katholikin bedauere
ich jedoch, daß diese Entscheidung der deutschen Bi-
schöfe so gefällt werden mußte. Die guten Argumente
der Bischofskonferenz für einen Beratungs- und Hilfe-
plan vom Anfang dieses Jahres hätten es verdient, voll
gewürdigt zu werden.
Durch den jetzt von Rom verlangten Zusatz entsteht lei-
der Verunsicherung bei den hilfesuchenden Frauen und
bei den Beraterinnen. Daher ist es notwendig, so schnell
wie möglich eventuelle Rechtsunsicherheiten zu klären
und alles zu tun, damit das bisherige plurale Angebot an
Beratungsstellen aufrechterhalten werden kann.
Mein Anliegen ist, daß auch weiterhin gerade jene
Frauen Rat und Hilfe bei den katholischen Beratungs-
stellen finden, die um eine Entscheidung ringen. Um
diese Frauen geht es uns ja in allererster Linie. Wir wis-
sen, wie qualifiziert die Beratung in den katholischen
Beratungsstellen ist und daß eben hier der Auftrag des
Gesetzgebers, die Frau zur Fortsetzung der Schwanger-
schaft zu ermutigen, in hervorragender Weise erfüllt
worden ist und erfüllt wird.
Dieses wurde in der Vergangenheit auch fraktions-
übergreifend immer wieder hervorgehoben. Wenn dieses
Lob, das die katholischen Beratungsstellen von allen
Seiten erhalten haben, in der Vergangenheit ernst ge-
meint war, dann ist es jetzt Aufgabe aller, dafür zu sor-
gen, daß die kirchlichen Beratungsstellen auch in Zu-
kunft ihre erfolgreiche Tätigkeit fortsetzen können.
Ich wünsche mir, insbesondere im Interesse der hilfe-
suchenden Frauen, daß diese qualifizierte Beratung, die
wir alle anerkennen und für die wir der katholischen
Kirche danken, in vollem Umfang erhalten bleiben kann.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun die Kollegin Hanna Wolf.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gebe si-cherlich die Meinung des ganzen Hauses wieder, wennich zunächst den katholischen Beratungsstellen für ihrebisher geleistete Arbeit in der Schwangerschaftskon-fliktberatung danke.
Aber wie danken es die Bischöfe den Beraterinnen?Die Bischöfe verstehen sich offenbar darauf, Konfliktemit dem Papst zu schlichten. Vom Schwangerschafts-konflikt verstehen sie wenig.
Der Zusatz auf dem Beratungsschein lautet: „Diese Be-scheinigung kann nicht zur Durchführung straffreierAbtreibungen verwendet werden.“ Dieser Zusatz hat dasNiveau eines mittelalterlichen Ablaßhandels.
Er desavouiert die Beraterinnen. Er setzt Frauen in Notnoch weiter unter Druck.
– Ja.
Es mag sein, daß sich die Bischöfe damit im gesetzli-chen Beratungssystem sehen. Sie drohen sogar mit demRechtsweg. Dann aber haben sie dieses Beratungssystemgründlich mißverstanden.Es ist richtig, daß die Bischöfe sagen, daß das Zielder kirchlichen und der staatlichen Ordnung dasselbe ist,nämlich Leben zu schützen. Entscheidend ist aber: Wir
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gehen unterschiedliche Wege. Wir haben uns für einenbestimmten, neuen Weg entschieden. Die Kirche kannnicht zwei Wege zugleich gehen. Die Bischöfe habenunseren Weg verlassen. Wir setzen auf das ergebnisof-fene Beratungsgespräch. Beratung verlangt aber Offen-heit und Ehrlichkeit auf beiden Seiten.
Ein Beratungsgespräch ist um so erfolgreicher, je of-fener es geführt werden kann. Eine Schwierigkeit liegtbereits in der gesetzlichen Pflicht zur Beratung. Trotz-dem haben wir diese Pflicht damals in das Gesetz aufge-nommen, um im Bundestag eine große Mehrheit zu be-kommen und um auch die katholische Kirche mit einzu-binden.
Wir wollten endlich einen Paradigmenwechsel von derStrafe zur Hilfe. Damit wollten und wollen wir werden-des Leben besser schützen als zuvor, Frauen und Ärzteaus der Illegalität holen und die hohe Dunkelziffer zumVerschwinden bringen.Mit diesem Zusatz auf dem Beratungsschein wird dieKonfliktberatung in einer katholischen Beratungsstellezur Farce. Oder handelt es sich hier um einen augen-zwinkernden Trick? Dann kann die ratsuchende Fraudoch keinen Respekt für ihre Nöte erkennen. DieGlaubwürdigkeit ist für sie erschüttert. Der Zusatz sollden Druck auf die Frauen ein weiteres Mal erhöhen. Beieiner Entscheidung für die Abtreibung ist die Schuldzu-weisung an die Frau die Strafe durch die Hintertür. Daskann verheerende Folgen für die Frau haben, mit denensie auch noch fertig werden muß. Der größte Druck aberbesteht darin, ob der Arzt einen solchen Beratungsscheinakzeptiert oder akzeptieren darf. Die Äußerungen dazuhaben Sie hoffentlich zur Kenntnis genommen.Schon seit dem letzten Brief des Papstes im Jahre1998 sind viele Frauen verunsichert. Immer wenigerFrauen, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt be-finden, suchen katholische Beratungsstellen auf. Fürdiesen Vertrauensschwund bei den Frauen ist bisher aus-schließlich der Papst verantwortlich gewesen, und jetztsind es auch die deutschen Bischöfe. Sie schaffen dieergebnisoffene Beratung und den gesetzlichen Bera-tungsschein im Prinzip ab.Das Gesetz sieht ein plurales, wohnortnahes Bera-tungsangebot vor, in dem auch katholische Einrichtun-gen ihren Platz haben sollen. In manchen Bundesländern– das ist ganz eklatant in Bayern der Fall, Frau Eichhorn– ist aber die Pluralität im umgekehrten Sinn nicht ge-währleistet. Zum Beispiel werden 24 von 38 Einrichtun-gen freier Träger in Bayern von der katholischen Kirchebetrieben. Dafür werden sie staatlich alimentiert. Inzwi-schen meiden sogar Katholikinnen die Schwanger-schaftskonfliktberatung der katholischen Kirche.Wenn nun eine Landesregierung der Meinung ist, daßsie katholische Beratungsstellen unterstützen möchte,obwohl diese nicht mehr ergebnisoffen beraten, dannkann sie das – wenn überhaupt – zusätzlich tun. Um denSicherstellungsauftrag zu erfüllen, müssen Frauen abervor Ort ein plurales Angebot vorfinden. Das heißt: DieseLandesregierung muß weitere Einrichtungen andererfreier Träger zulassen.
Die katholischen Beratungsstellen können jetzt nichtmehr mitgezählt werden.Wir haben das Gesetz 1995 abschließend und mitgroßer Mehrheit beschlossen. Dieses Gesetz wollen wirangewendet sehen. Wir wollen nicht jedes Jahr alleswieder von vorne aufrollen. Wir brauchen endlichRechtsfrieden und Rechtssicherheit in diesem Bereich.Danke schön.
Ich gebe der Kolle-
gin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Der Staat hat zu gewährleisten, daß wir inDeutschland eine Vielzahl von Beratungsstellen haben.Wir als F.D.P. wollen das. Wir wollen, daß auch konfes-sionelle Beratungsstellen mitwirken und zu einem Netzgehören, das den in Not geratenen Frauen hilft.Gerade in den letzten Tagen aber ist der Druck aufdie christlich orientierten Frauen durch den Papst-Briefund die Entscheidung der Bischöfe drastisch erhöhtworden.
Der Zusatz auf dem Beratungsschein „Diese Bescheini-gung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtrei-bungen verwendet werden“ bedeutet gerade bei den inNot geratenen Frauen, die sich mit ihrer Entscheidungsehr, sehr schwertun, einen zusätzlichen psychischenDruck. Das müssen wir hier im Parlament kritisieren;das muß ganz deutlich gesagt werden.
Die Bischofskonferenz hat zwar einen Ausweg ge-funden, trägt den innerkirchlichen Konflikt aber auf demRücken der Frauen aus.
Meine Damen und Herren, ist das ein Stück christlichgelebter Lehre?
Hanna Wolf
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Ich denke, die Kirchen hätten die Aufgabe gehabt, denFrauen nicht noch mehr zuzumuten. Deshalb sind derPapst und die Bischöfe, auch wenn sie sich sehr um eineKonfliktbefriedung bemüht haben, zu kritisieren.Schlecht ist, daß die Beraterinnen nun in der Situationsind, daß ihnen wegen der Rechtsunsicherheit Mißtrauenentgegengebracht wird. Deshalb sollten sich die Länderumgehend und umfassend darüber äußern, ob sie wieBayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die-sen Beratungsschein anerkennen oder nicht, und dannmit den katholischen Kirchen vor Ort in Kommunikationtreten.Der Göttinger Verfassungsrechtler Starck, der Staats-rechtler Eser und der Ex-Verfassungsrichter Böckenför-de haben eindeutig gesagt, daß dieser Schein den deut-schen Gesetzen Genüge tue. Ich hoffe, daß dies der Fallist, damit der Rechtsfrieden gewahrt ist.Ich möchte aber noch einmal auf die Aussagen unse-rer Justizministerin, Frau Däubler-Gmelin, zurückkom-men. Diese haben bei mir Unverständnis und Ärger aus-gelöst. Die Aussage, es solle eine genaue Beobachtungder katholischen Beratungsstellen erfolgen, kann ichwirklich nur als Mißtrauen auslegen. Wenn sie etwasanderes meint, soll sie sich gefälligst direkter und ge-nauer äußern. Für mich ist dies Mißtrauen gegenüberden Frauen, die die Beratung durchführen; denn es wirdunterstellt, daß sich die Beratung qualitativ ändert: hinzu einer Beratung im Sinne des Papstes. Ich denke, daßdies nicht zu einer Gewissensprüfung ausarten darf.
Hierzu sollte sich einmal die Familien- und Frauen-ministerin Bergmann klar äußern. Sie sollte Frau Däu-bler-Gmelin auf die Irritationen hinweisen, die sie viel-leicht nicht bewirken wollte, die ich aber aus ihren dpa-Meldungen herauslese.Die Justizministerin sollte hier einmal klar Schiff ma-chen. Wie kann sie denn an die Öffentlichkeit gehen undsagen, das sei rechtlich noch nicht geklärt! Ich denke,eine Justizministerin ist dafür da, erst zu prüfen unddann an die Öffentlichkeit zu gehen und somit für Klar-heit zu sorgen. Das hat sie hier nicht getan.
Ich möchte auch, daß parteipolitischer Streit hier un-terbleibt. Wir sind uns im Grundsatz alle einig, daß dieFrauen diejenigen sind, die unserer Hilfe bedürfen, undnicht die Bischofskonferenz.
Die Selbstbestimmungsrechte der Frau müssen im Rah-men der Gesetzgebung der Frau überlassen bleiben. Siewird mit der schweren Entscheidung alleine gelassen; dakönnen wir als Politiker ihr nicht helfen.Die F.D.P. ist mit der Entscheidung, wie sie die Bi-schofskonferenz und die katholische Kirche getroffenhaben, nicht einverstanden, denn die Verlierer sind diein Not geratenen Frauen.
Für die PDS spricht
nunmehr die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Kollegin-nen und Kollegen! Die katholischen Bischöfe haben mitihrer Entscheidung zur Schwangerschaftskonfliktbera-tung endgültig den Kompromiß zum § 218 aufgekün-digt. Dieser Kompromiß ist hier im Bundestag bekannt-lich nach langem und hartem Ringen zustande gekom-men. Sie alle wissen, daß meine Fraktion von Anfang anfür die ersatzlose Streichung des § 218 gekämpft hat.
Der Kompromiß, der für Frauen in einem Schwanger-schaftskonflikt eine Pflichtberatung vorschreibt, hat dieGrenze des Zumutbaren für die Frauen unseres Erach-tens ohnehin schon überschritten. Ich bin auch heutenoch der festen Überzeugung, daß der tiefe Konflikt, inden schwangere Frauen geraten, nur von ihnen selbst zulösen ist. Sie brauchen dafür Unterstützung, aber, bitteschön, selbst gewählt und ohne Bevormundung.
Nur eine Frau selbst kann letztlich entscheiden, ob sieeine Schwangerschaft fortsetzen möchte oder nicht. Die-se Entscheidung kann und darf ihr niemand abnehmen.Dieses Selbstbestimmungsrecht und diese letztlicheVerantwortung hat ihr die katholische Kirche schon im-mer abgesprochen. Nun trägt sie ihre ideologischenAuseinandersetzungen erneut auf dem Rücken der Frau-en aus.
– Dafür sind Sie bestimmt Experte. – Das ist für gläubi-ge Frauen zutiefst bedauerlich und wird hoffentlich zuDebatten innerhalb der katholischen Kirche führen. DieKirche von unten hat den Bischofsbeschluß heute bereitsheftig kritisiert.Dieser Beschluß ist für alle Frauen eine unerträglicheZumutung. Der Staat darf ein solches Verhalten der ka-tholischen Kirche nicht einfach hinnehmen. Er muß dieRechte von Frauen auch gegenüber den Bischöfen ver-teidigen. Die katholische Kirche wird die Beratungs-scheine mit dem Zusatz ergänzen, daß diese Bescheini-gungen nicht für die Durchführung straffreier Abtrei-bungen verwendet werden dürfen. Damit hat sie meinesErachtens die gesetzlich festgeschriebene Forderungnach ergebnisoffener Zwangsberatung endgültig ad ab-surdum geführt.
Die katholischen Bischöfe nehmen bekanntlich inKauf, daß dieser Zusatz keine rechtlichen Konsequenzennach sich zieht. Aber trotzdem wird der Druck auf dieFrauen immens steigen. Dieser unsägliche Zusatz aufdem Schein wird sie weiter verunsichern und demütigen.Ebenso werden die Beraterinnen, Ärztinnen und Ärzteverunsichert – das haben auch die Umfragen gesternsehr deutlich gemacht –, und zwar immer zu Lasten derbetroffenen Frauen.Ina Lenke
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3962 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Das können und dürfen wir als Gesetzgeberinnen undGesetzgeber so nicht hinnehmen; das muß politischeKonsequenzen haben.
Wir müssen deshalb unbedingt prüfen, ob die katholi-schen Beratungsstellen weiterhin mit Steuergeldern fi-nanziert werden, und in der staatlichen Schwanger-schaftsberatung bleiben können.Im letzten Herbst haben die katholischen Bischöfe inDeutschland Schwangerschaftsabbrüche als „abscheuli-che Verbrechen“ bezeichnet. Auch das dürfen wir alsPolitikerinnen und Politiker nicht hinnehmen, ohne daßdies politische Konsequenzen hat.
Denn solange der § 218 im Strafgesetzbuch steht, sehensich die Bischöfe mit einer solchen zutiefst frauenver-achtenden Haltung von der Politik noch bestätigt. Dersogenannte §-218-Kompromiß muß wieder auf die poli-tische Agenda gebracht werden. Wir müssen zu einerNeuregelung des Schwangerschaftsabbruchrechts kom-men, denn wir müssen endlich mit der unerträglichenBevormundung von Frauen Schluß machen.
Selbstbestimmung über unseren Körper und unser Lebenkönnen wir Frauen erst erreichen, wenn der § 218 ausdem Strafgesetzbuch verschwunden ist.
Diese Diskussion ist doch nur deshalb möglich, weil der§ 218 noch im Strafgesetzbuch steht. Wir brauchenschnellstens Rechtssicherheit für die betroffenen Frauen,aber auch für die Beraterinnen und die Ärztinnen undÄrzte.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition, Sie haben in der Vergangenheit, als Sienoch in der Opposition waren, immer wieder betont, daßauch Sie den § 218 aus dem Strafgesetzbuch streichenwollen. Es gibt in diesem Haus mittlerweile zumindesttheoretisch eine klare Mehrheit für die Streichung des§ 218. Deshalb fordern wir Sie auf, so schnell wie mög-lich eine Neuregelung des Abtreibungsrechts vorzule-gen.Sie können sich jetzt nicht mehr verstecken, wedervor dem Bundesverfassungsgericht noch vor der katholi-schen Kirche. Die Frauen in diesem Land erwarten et-was von Ihnen; denn Sie sind im Herbst des letzten Jah-res auch deshalb gewählt worden, weil Sie mit dieserForderung aufgetreten sind.
Als nächste Redne-rin spricht die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Welche politischen Konsequenzen ziehen wiraus dem Beschluß der Katholischen Bischofskonferenz?Das ist die heutige Frage. Ich fürchte, wir ziehen bun-despolitisch keine Konsequenzen.Die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuchoder zumindest die Abschaffung der Zwangsberatungwären ein Weg aus dem Dilemma. Auch wenn ich weiß,daß dies politisch nicht mehrheitsfähig ist, möchte ichdies doch zumindest erwähnen.Die Länder sind gefragt, politische Konsequenzen zuziehen. Sie haben den Schwarzen Peter, weil die Bischö-fe ihren Streit mit Rom loswerden wollten. Die Ländermüssen juristisch prüfen, ob ein Beratungsschein, aufdem ausdrücklich steht, daß er nicht zur Durchführungstraffreier Abtreibungen verwendet werden kann, dengesetzlichen Bestimmungen entspricht.Ich sehe nicht, daß bei dieser Position wirklich nochvon einer ergebnisoffenen Beratung gesprochen werdenkann. Dennoch: Einzelne Länder haben bereits erkennenlassen, daß sie – besonders mit Blick auf ihre Finanzmi-nister – mit dieser Lösung leben könnten. Nicht mit die-ser „Schein-Lösung“ im doppelten Sinne des Worteskönnen allerdings die Frauen, die Beraterinnen und dieÄrzte und Ärztinnen leben.
Auch wenn sich der Satz, „Diese Bescheinigung kannnicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen ver-wendet werden“, auf die Lehre der Kirche bezieht undnicht auf staatliches Recht, werden die Frauen untermassiven Druck gesetzt. Die katholische Kirche ver-schärft die Konfliktsituation der Frauen zusätzlich undgibt es ihnen sozusagen mit Brief und Siegel, daß das,was sie tun, Sünde ist und Strafe verdient. Das dürfenwir nicht zulassen.
Immerhin sind zwei Drittel der ratsuchenden Frauenin den katholischen Beratungsstellen nicht katholisch.Die Pluralität der Beratungslandschaft bedeutet dochnicht, daß die katholische Kirche um jeden Preis betei-ligt bleiben muß. Setzt sich die Kirche selbst außerhalbdes Gesetzes, so ist politischer Handlungsbedarf gege-ben.Was machen die Frauen, wenn sie mit diesem Scheinzu einer Ärztin oder zu einem Arzt gehen, der ihnen aufGrund des neuen Beratungsscheins den Abbruch ver-wehrt? Muten wir den Frauen zu, daß sie von Pontius zuPilatus laufen müssen? Schon jetzt warnt der Hartmann-bund: „Das wäre eine illegale Abtreibung.“ Der Präsi-dent der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie undGeburtshilfe, Günter Kindermann, vermutet, daß keinArzt das strafrechtliche Risiko eingehen werde, Abtrei-bungen auf Grund solcher Scheine vorzunehmen.Aber auch die Situation der katholischen Beraterin-nen hat sich immens verschärft. Zwar schreibt der Papstin seinem Brief an die Bischöfe, daß die BeraterinnenPetra Bläss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3963
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durch den bereits genannten Zusatz auf den Beratungs-scheinen aus einer Situation befreit seien, die mit ihrerGrundauffassung in der Frage des Lebensschutzes unddem Ziel ihrer Beratung in Konflikt steht. Die Realitätsieht ganz anders aus: Entweder verraten die Beraterin-nen jeden Tag die Lehre der katholischen Kirche undsagen: „Es ist doch nicht so wichtig, was auf dem Scheinsteht“, oder sie nehmen den Satz ernst, und dann ist dieBeratung nicht mehr ergebnisoffen.
– Das ist überhaupt nicht kompliziert, Herr Kollege.Dieses Detail wollten die Bischöfe nicht klären, siehaben es weggeschoben. Wenn nun die katholische Kir-che von der mitgetragenen Verantwortung in den Bera-tungsstellen in Form des Satzes „Dein Bauch gehört dir“Abstand nimmt, zeigt sich der ganze Zynismus, die gan-ze Doppelmoral dieser Männer, die immer sagen, daßsie nur Gutes für die Frauen und die Kinder wollen.Wie sagte Bischof Lehmann gestern noch so treffend:Die Freiheit und die Verantwortung für diese Entschei-dung liegen bei der Frau. Das hört sich gut an. Das hörtsich nach sexuellem Selbstbestimmungsrecht an, ge-meint ist aber eine weitere Disziplinierung der Frauen.
Daß das Ganze in „gewisser Weise eine Provokation“ist, hat Bischof Lehmann selbst eingestanden. Er undseine Kollegen wissen doch genau, daß sich trotz desvon ihnen gewünschten Zusatzes Frauen für einenSchwangerschaftsabbruch entscheiden werden. Nichtzufällig wird in der Presse der Vergleich mit Pilatus her-angezogen: dem Druck von Rom nachgeben und dabeidie eigenen Hände in Unschuld waschen. Das wird derSituation von Frauen in Konflikten nicht gerecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Staat hat dafürSorge zu tragen, daß seine Gesetze angewendet werden.Immerhin handelt es sich – die Kolleginnen vor mir ha-ben es schon gesagt – beim Schwangerschaftskon-fliktgesetz um einen mühevoll zustande gekommenenKompromiß, der 1995 über Partei- und Konfessions-grenzen hinweg gefunden wurde. Dieser Kompromiß,der den Frauen ein Mindestmaß an Selbstbestimmungläßt, darf nicht gefährdet werden. Darum sollten in dennächsten Tagen in aller Ruhe alle Möglichkeiten geprüftwerden. Im Zentrum unserer Überlegungen muß jedochdie wirkliche Hilfe für die Frau stehen.Ich danke Ihnen.
Es spricht nun für
die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dorothea Störr-
Ritter.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau KolleginBläss – sie ist zur Zeit nicht da –, ich habe nicht das Ge-fühl, daß in den letzten Tagen und Wochen auf meinemRücken eine innerkirchliche Debatte ausgetragen wor-den ist.Mit der Entscheidung des Papstes zur Schwanger-schaftskonfliktberatung wurden die Bischöfe vor eineschwierige Situation gestellt. Papst und Bischöfe wollen– so entspricht es der Kirchenlehre – für das ganze Got-tesvolk und für alle Menschen, das heißt auch für jedeneinzelnen, das Beste.
Wer in der Kirche oder in ihrem Namen eine Erklärungabgibt, handelt deshalb in der Verantwortung und Ver-pflichtung gegenüber dem ganzen Gottesvolk. Deshalbkönnen wir, wie ich meine, sicher sein, daß sowohl derPapst als auch die Bischöfe erst nach hartem Ringen undernsthaftesten Bemühungen um den wirksamsten Le-bensschutz für das ungeborene Kind und die beste Hilfefür die schwangere Mutter zu diesen ihren Entscheidun-gen gelangt sind.
Zwar liegt der Erklärung des Papstes eine Haltungzugrunde, die die Argumentation der Kirche inDeutschland zum Verbleib in der gesetzlichen Schwan-gerschaftskonfliktberatung und den Sinn der Aufhebungder Strafandrohung für die Frau nicht ausreichend be-rücksichtigt hat. Dies wird nicht nur von all denjenigenbedauert, die sich höchstpersönlich und mit viel Enga-gement für die Anerkennung des weltweit einmaligenKonzeptes des Lebensschutzes in Deutschland einge-setzt haben. Dennoch hat auch der Papst in seinem Briefnicht den Ausstieg aus der gesetzlichen Schwanger-schaftskonfliktberatung verlangt.Insbesondere Bischof Karl Lehmann ist es zu verdan-ken, daß sich die Deutsche Bischofskonferenz ange-sichts der päpstlichen Entscheidung nicht gespalten undeine Antwort darauf gefunden hat, die wir respektieren.
Mit dieser Antwort einher geht ein neuer Beratungs- undHilfeplan, der voraussichtlich ab dem 1. Oktober 1999nach erfolgter Beratung ausgehändigt werden wird undsowohl konkrete Hilfszusagen wie auch Rechtsansprü-che für schwangere Frauen enthalten wird. Beratungs-stellen anderer Träger haben diese flankierenden Hilfs-maßnahmen nicht zu bieten.
Es wird auch weiterhin viele Frauen geben, die aus un-terschiedlichsten Bedürfnissen gerade die kirchliche Hil-fe in Anspruch nehmen wollen.
Es ist richtig, daß die Entscheidung einen juristischenUnsicherheitsfaktor hinterläßt; diese Frage gilt es zu klä-ren. Die Bischofskonferenz hat die Verantwortung hier-Irmingard Schewe-Gerigk
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3964 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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für den Ländern übertragen. Es ist richtig – und derzeitohne Alternative –, das Ergebnis abzuwarten. Deshalbverstehe ich auch diese Aufgeregtheiten nicht. Es istfalsch und der Sache nicht dienlich, diese Entscheidungder Bischöfe voreilig in einem Ton zu kommentieren,der der Sache nicht angemessen und nur von Vorwürfengeprägt ist.
Damit werden Ängste und Unsicherheiten erst richtiggeschürt.Hier entsteht der Eindruck, daß Sie damit bewußt dasAus der kirchlichen Schwangerschaftskonfliktberatungherbeireden wollen. Sie hatten es eben schon bestätigt.
Diese negative Diskussion soll letztlich dazu führen, denkatholischen Beratungsstellen die staatliche Anerken-nung und Förderung zu entziehen. Ich begrüße deshalbnoch einmal den erklärten Willen der Deutschen Bi-schofskonferenz, aus der Schwangerschaftskonfliktbe-ratung nicht aussteigen zu wollen, und das große finan-zielle Engagement durch die bischöflichen Hilfsfonds.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine,wir sollten immer im Auge behalten: Die grundsätzli-chen Probleme, die uns heute bei der Abtreibungspro-blematik so zu schaffen machen, werden schon baldauch in anderen Zusammenhängen und vermutlich nochgrößeren Dimensionen auf uns zukommen. Ich persön-lich halte es für vermessen, zu glauben, daß wir geradein Fragen des menschlichen Lebens auf Hilfe und Ratder Kirchen verzichten können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Störr-Ritter, dies war Ihre erste Rede in diesem Parlament. ImNamen aller Kolleginnen und Kollegen des Hausesmöchte ich Sie dazu herzlich beglückwünschen.
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Bundesmi-nisterin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr.Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissenalle, wie lang und mühselig der Weg war, bis wir uns1995 endlich auf eine gesetzliche Regelung zum Schutzdes ungeborenen Lebens einigen konnten. Es waren da-mals vor allem die Frauen des Deutschen Bundestages,die über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg einenKompromiß fanden, der dann von einer breiten parla-mentarischen Mehrheit getragen wurde. Das war eineLeistung, die Frauen zustande gebracht haben; dasmöchte ich hier noch einmal deutlich sagen.
Es zeigt sich nun nach Jahren der Rechtspraxis, daß die-se Gesetze auch eine breite Akzeptanz in der Bevölke-rung gefunden haben.In dem Gesetz ist ein Lebensschutzkonzept verankert,in dem die Beratung der Frauen in Konfliktsituationeneine entscheidende Rolle spielt. Es war übrigens die ka-tholische Kirche, die damals besonderen Wert auf diePflichtberatung legte. Diese Schwangerschaftskon-fliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.Sie soll ermutigen und Verständnis wecken. – So stehtes im Gesetzestext. – Sie soll nicht belehren oder be-vormunden. Zu Recht weist der Gesetzgeber darauf hin,daß die Beratung ergebnisoffen geführt werden soll;denn er geht von der Verantwortungsbereitschaft undvon der Mündigkeit der Frau aus.In diesem Sinne haben alle Beratungsstellen ihre Ar-beit sehr engagiert geleistet, kirchliche Beratungsstellenebenso wie nichtkonfessionelle. Ich schließe mich demDank, den Hanna Wolf hier ausgesprochen hat, aus-drücklich an.
Wir haben immer ein Interesse daran gehabt – das hatauch der Gesetzgeber gesagt –, daß die Pluralität desAngebotes umgesetzt wird und erhalten bleibt, weil wirvon den Frauen ausgehen: Jede Frau soll in die Bera-tungsstelle gehen können, in der sie sich am besten auf-gehoben und vertreten fühlt. Ich kann die Vorwürfe, ir-gend jemand hätte ein Interesse daran, diese Pluralität,diese Vielfalt einzuschränken, überhaupt nicht nachvoll-ziehen. Dem ist nicht so.
– Wir wollen das jedenfalls nicht.Die Debatte über den Verbleib der katholischen Kir-che im staatlichen Beratungssystem wird schon seit Mo-naten geführt. Sie zieht sich schon eine ganze Weile hin.Es gibt jetzt die Entscheidung der Bischöfe. Wir kennenden Satz aus dem Papst-Brief, der in Zukunft auf demBeratungsschein stehen soll: „Diese Bescheinigung kannnicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen ver-wendet werden.“ Damit kommen einige Probleme aufuns zu: auf den Staat, auf die Beratungsstellen und vorallem auf die Frauen. Das ist keine Panikmache. Werverantwortlich mit diesem Thema umgeht, der weiß, daßhier einiges zu klären ist.Ich will jetzt gar nicht darüber reden, wie die Frauen,die zwar ihre Kirche ernst nehmen, die sich aus existen-tieller Not heraus aber für einen Abbruch entschiedenhaben, mit einem solchen Satz auf dem Schein lebenkönnen. Das ist eine andere Frage.Ich will auch nicht noch einmal darüber reden, wasman Beraterinnen in diesen Einrichtungen zumutet, dieeinen Schein ausstellen, der Voraussetzung für einenAbbruch ist, die den Frauen aber gleichzeitig erklärenmüssen: Das, was da sonst noch draufsteht, nehmt ihrnicht so ernst.Dorothea Störr-Ritter
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Was wir aber ganz dringend klären müssen – da sindwir uns auch einig –, das sind die rechtlichen Fragen.Die erste Frage ist: Ist der Schein, der Voraussetzung fürStraffreiheit ist, mit diesem Zusatz noch anzuerkennen?Denn eigentlich steht auf dem Schein: Dieser Schein istkein Schein.
– Klar, das ist auch ein rechtliches Problem.Die zweite Frage ist: Ist die Beratung noch als ergeb-nisoffen einzuschätzen? Dazu sage ich gleich auch nochetwas.Die dritte Frage ist: Was sind die Konsequenzen fürdie Länder?Es gibt viel Verunsicherung. Es gibt Verunsicherungbei den Frauen; es gibt sie bei den Ärzten; es gibt sie beiden Beraterinnen. Das war den Bischöfen auch klar.Nicht umsonst spricht Bischof Lehmann, der sich hierwirklich sehr bemüht hat, von einem gewissen „Unbe-hagen“, das mit dieser Entscheidung sicher aufkommt.Unbehagen ist aber noch eine milde Formulierung. Esgibt schlichtweg Unsicherheit. Hier muß sehr schnellrechtliche Klarheit geschaffen werden, weil wir nichtwollen, daß es neuerliche Auseinandersetzungen gibt,die wieder auf dem Rücken der Frauen ausgetragenwerden. Die Hauptleidtragenden sind immer die Frauen.Sie brauchen Hilfe und Verständnis, aber keine neuerli-chen Debatten.Die rechtlichen Fragen sind noch nicht eindeutig ge-klärt. Es geht ja nicht nur um die Frage der Straffreiheit.Es muß klar sein, daß im Sinne des Schwangerschafts-konfliktgesetzes ergebnisoffen beraten wurde. Das sageich auch Ihnen noch einmal, Frau Lenke. Dies meintauch die Justizministerin, wenn sie darauf hinweist, daßder Zusatz ein Problem darstellt. Es muß auf dem Bera-tungsschein dokumentiert sein, daß §§ 5 und 6 Schwan-gerschaftskonfliktgesetz wirklich erfüllt sind. Das istkein Mißtrauen; das ist einfach Voraussetzung für dierechtliche Sicherheit.
In den Ländern werden rechtliche Prüfungen durch-geführt, übrigens auch in Baden-Württemberg und inBayern, weil sich jeder, der sich dem Thema verant-wortlich stellt und neue Unsicherheit und neue Debattenverhindern will, dies natürlich genau anschaut. Wir wer-den uns wahrscheinlich schon in der nächsten Wochemit den Ministerinnen und Ministern der Länder zu-sammensetzen, um alle anstehenden Fragen zu klären.Auch beabsichtige ich, mit Vertreterinnen der Bera-tungsstellen zusammenzutreffen; denn alle brauchen Si-cherheit: die Beratungsstellen, die Ärzte, vor allem aberdie Frauen. Sie brauchen mehr als rechtliche Sicherheit.Sie brauchen Hilfe und Verständnis in ihrer schwierigenSituation. Sie brauchen Hilfe und Verständnis bei derEntscheidungsfindung, aber auch dann, wenn sie sich,aus welchen Gründen auch immer, nicht für ein Kindentscheiden können. Sie brauchen Unterstützung durcheine verläßliche Familienpolitik, damit sie sich für einKind entscheiden können. Hier haben wir sehr vielnachzuholen. Wir sind aber auf einem guten Weg undhoffen, daß wir noch einiges auf die Reihe bringen wer-den.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mi-nisterin hat hier eben ausgeführt, daß wir alle juristi-schen Konsequenzen aus dieser veränderten Schein-Lösung der katholischen Kirche prüfen müssen. Aberjenseits all dieser juristischen Finessen hat uns doch dieKonfliktscheu der Bischöfe mit diesem leidigen und sehrschwierigen Thema wieder ohne Not in eine kompli-zierte Situation gebracht.Die katholische Kirche ist im Zwiespalt: Sie will denGehorsam gegenüber Rom, und sie will weiterhin in dergesetzlichen Schwangerenberatung bleiben, wo sie bis-her eine hervorragende Arbeit geleistet hat. Mir selberwar das plurale Angebot immer sehr wichtig. Es ist not-wendig, daß gläubige katholische Frauen eine Institutionihres Vertrauens haben, die sie unterstützt. Aber mit die-ser Schein-Lösung der Bischöfe ist doch im Grunde ge-nommen ein dreifacher Verrat begangen worden: erstensein Verrat an den Frauen, denen man eine offene Bera-tung verspricht, und denen man dann bescheinigt, daßder Schein nichts wert ist, zweitens am Gesetz, das ein-deutig eine ergebnisoffene Beratung verlangt, und drit-tens an Rom, mit dem man den Konflikt vermeiden will,indem man den Ukas akzeptiert, aber augenzwinkernddem Gesetzgeber, den Beraterinnen, den Ärzten und denungewollt schwangeren Frauen signalisiert, daß es garnicht so gemeint sei. Ich sage das nicht mit Häme, son-dern mit Bedauern: Das tut dieser moralischen Instanzkatholische Kirche wirklich nicht gut. Es tut ihr in dieserZeit nicht gut, es tut ihr grundsätzlich nicht gut. Es istein großer Fehler in bezug auf ihre Glaubwürdigkeit.
Die „FAZ“ hat, wenn auch mit einer anderen Intenti-on, aber doch mit meiner vollen Zustimmung geschrie-ben:Das ist keine Doppelmoral, dafür gibt es keineWorte mehr.So empfinde ich es auch.Frau Störr-Ritter, wir wollen die Kirche nicht aus derBeratung heraus haben. Wir wollen sie in der Beratunghaben und finden, daß diese gute Beratung weitergeführtwerden muß. Aber daß jetzt Bischof Lehmann den Spießherumdreht und sagt, daß eventuell gerichtliche Schritteeingeleitet werden und die Länder versuchen, diesenunwürdigen Schein der Kirche nicht anzuerkennen unddamit die Anerkennung der Beratungsstellen und ihreFinanzierung auf dem Spiel stehen. Das ist aber dochBundesministerin Dr. Christine Bergmann
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3966 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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nicht unser Problem; das hat der Bischof mit seiner Kon-ferenz vielmehr selber so produziert. Wir wollen dasnicht.
Die Last der Frauen wird verdoppelt: Zum Konfliktmit der ungewollten Schwangerschaft, den sie sowiesoschon haben, kommt ein Konflikt durch den Schein hin-zu, der impliziert, daß sie nicht straffrei abtreiben dür-fen, obwohl sie in Not sind und abtreiben wollen. Dawäscht die Kirche ihre Hände auf Kosten der Rechtssi-cherheit und auf Kosten dieser ungewollt schwangerenFrauen, die ihre Hilfen wollen, in Unschuld.
Das Schlimme daran ist, daß wir wieder da sind, wowir hergekommen sind und wo wir nicht mehr hinwoll-ten: Die bundeseinheitliche Praxis wird aufgebrochen;es wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlicheAuslegungen geben; in Ost und West, Nord und Südwerden wir für die Frauen, für die Ärztinnen und Ärztesowie für die Beraterinnen unterschiedliche Verhältnissehaben. Das muß man eigentlich vermeiden.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Kirche soll inder Schwangerschaftskonfliktberatung bleiben. Sie mußaber zu ihren Bedingungen bleiben können. Hier spieltdas Verhältnis zwischen Staat und Kirche eine Rolle,das wir in unserer Verfassung festgelegt haben. Sieräumt der Kirche einen eigenen Raum ein. Der Staat hatin diesen Raum nicht hineinzuregieren. Das muß man,so meine ich, bedenken, wenn man über diese Frage dis-kutiert.
Es gibt innerhalb der katholischen Kirche Bedenkenhinsichtlich der Beteiligung der Kirche an der Schwan-gerschaftskonfliktberatung durch Beratungsstellen, so,wie sie das Gesetz vorschreibt. Diese Bedenken hat dieBischofskonferenz am 25. September 1995, nachdemder Bundestag das Schwangeren- und Familienhilfeän-derungsgesetz Ende Juni 1995 erlassen hatte, formuliert.Seit dieser Zeit gibt es eine Diskussion über die Frage,ob die Kirche in der Schwangerschaftskonfliktberatunggemäß den §§ 5 bis 7 des Schwangerschaftskonfliktge-setzes verbleiben kann.Es gibt innerhalb der deutschen Kirche und zwischender deutschen Kirche und Rom eine Diskussion darüber.Das ist richtig. Es gibt drei Briefe des Papstes. Auch dasist richtig und allgemein bekannt. Dabei geht es aberimmer um die Kernfrage: Kann die Kirche nach ihrenBedingungen in der Beratung bleiben? Hier gibt es fürdie Kirche drei Probleme. Diese bitte ich einmal zu be-denken.Das erste Problem, das in § 218 Abs.1 Ziffer 1 Satz 1des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzesaus dem Jahre 1995 auftaucht, ist die Frage der straffrei-en Abtreibung, damit verbunden das Beratungskonzeptund in der Folge die Vorlage des Scheins, der notwendigist, um eine straffreie Abtreibung zu ermöglichen. Esgibt und gab in der Kirche schon immer Bedenken dar-über, ob die kirchlichen Beratungsstellen einen solchenSchein ausstellen können und sich damit in den Prozeßeinfügen lassen können, der zu einer straflosen Abtrei-bung führt, die die Kirche ablehnt.Der zweite Punkt betrifft die im Gesetz normierteletzte Entscheidungsbefugnis der Frau. Im Verständnisder katholischen Kirche gibt es für niemanden eineletzte Entscheidungsbefugnis über das Lebensrecht einesanderen. Das kann es nach dem Selbstverständnis derkatholischen Kirche nie geben.
Damit hat die Kirche mit der Beteiligung an der staat-lichen Schwangerschaftskonfliktberatung Probleme. Dasmuß man einmal sehen und, wie ich meine, einfach re-spektieren. Die Bischöfe haben es sich nun wirklichnicht leichtgemacht.Das dritte Problem – es ist hier schon angesprochenworden und gehört in diesen Zusammenhang – ist diesogenannte ergebnisoffene Beratung. Wenn man darun-ter versteht, daß letztendlich die Frau die Entscheidungtreffen muß, dann ist das wohl akzeptabel. Aber wennman darunter versteht, daß sich die kirchlichen Bera-tungsstellen nicht eindeutig für das Recht des Kindes aufLeben entscheiden dürfen – im Konfliktfall auch gegendie Interessen der Mutter –, dann würde das zur Konse-quenz haben, daß die Kirche nicht ergebnisoffen beratenkönnte. Die Kirche kann nie von ihren eigenen Prinzi-pien abweichen. Das muß man verstehen.Trotz dieser Bedenken haben die Bischöfe beschlos-sen, daß die Kirche in der staatlichen Beratung bleibt,aus der sehr respektablen Überlegung heraus, mit einemVerbleiben in der staatlichen Beratung weiterhin Lebenretten zu können. Eine Ausnahme ist Fulda, das konse-quenterweise anders vorgegangen ist. Das ist ein anderesKapitel. Hier gibt es eine andere Betrachtungsweise.Der Kirche ging es pausenlos darum, daß ihr Enga-gement für das ungeborene Leben, wie es der Papst inseinem Brief vom Januar 1998 fordert, nicht verdunkeltwird. Das war das Problem der Bischöfe. Deswegenhaben die Bischöfe am 25. Februar dieses Jahres – alsonoch vor dem jetzigen Papst-Brief – erklärt, daß folgen-de Formulierung in den Beratungsschein aufgenommenwird – ich zitiere –:Die Aushändigung dieses Beratungs- und Hilfe-plans bedeutet keine Akzeptanz des Schwanger-schaftsabbruchs.Rita Grießhaber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3967
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Die Kirche kann den Schwangerschaftsabbruch nichtakzeptieren. Nach der Auffassung der Kirche ist ein sol-cher Abbruch ein schweres Unrecht. Die Berücksichti-gung dieser Auffassung durch den Staat ist die Voraus-setzung, unter der die Kirche in der staatlichen Beratungverbleiben kann. Ich bitte Sie darum, dies bei IhrenÜberlegungen zu berücksichtigen.Es steht außer Frage, daß die Kirche im Sinne desLebensschutzes, wie es unsere Verfassung vorschreibt,berät. Es gibt keine andere Institution in Deutschland,die im Sinne der Verfassung mehr für den Lebensschutzberät als die Kirche. Deswegen habe ich auch gar keineBedenken.
Für die jetzige Regelung des Schwangerschaftsab-bruchs mag es momentan Mehrheiten geben, die aberübermorgen ganz anders aussehen können. Entscheidendist die Verfassung. Die Kirche berät im Sinne der Ver-fassung für das ungeborene Leben. Deswegen habe ichkeine Bedenken. Ich rate Bischof Lehmann, sofort eineKlage anzustrengen, wenn irgend jemand auf den Ge-danken kommen sollte –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Geis, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
– Entschuldigung, ich
bin sofort fertig; ein letztes Wort –, den katholischen
Stellen die Erlaubnis zur Beratung, die durch das
Schwangerschaftskonfliktgesetz ermöglicht wird, zu
entziehen. Nach meinem Verständnis der Verfassung bin
ich mir sicher, daß diese Klage eindeutig zugunsten der
Kirche ausgeht.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor wir in der Rednerliste fortfahren,
möchte ich Ihnen das Ergebnis der Wahl der Mitglie-
der für das Parlamentarische Kontrollgremium mit-
teilen.*) Abgegebene Stimmen 594. Alle sind gültig,
Enthaltungen keine. Von den gültigen Stimmen entfielen
auf die Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier 547 Stim-
Penner 554 Stimmen, auf den Abgeordneten Ludwig
Stiegler 531 Stimmen, auf den Abgeordneten Erwin
Marschewski 507 Stimmen, auf den Abgeordneten
Hartmut Büttner 534 Stimmen, auf den
Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann 478 Stimmen, auf
den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele 329 Stim-
men, auf den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
546 Stimmen und auf die Abgeordnete Ulla Jelpke 73
Stimmen.
Die Abgeordneten Anni Brandt-Elsweier, Volker
Neumann , Dr. Willfried Penner, Ludwig
*) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Jortzig sind damit gewählt. Sie haben die nach § 4
Abs. 4 des Gesetzes über die Parlamentarische Kontrolle
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforder-
liche Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Sie sind damit
als Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums
gewählt.
Wir setzen jetzt die Aktuelle Stunde fort. Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Lehder, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir lassenSie nicht allein!“ – so lautete das Motto einer Schwer-punktaktion zur Schwangerenkonfliktberatung, die imDezember 1998 im Bistum Limburg gestartet wurde.Diese lebensnahe Idee hatte der Limburger BischofFranz Kamphaus selbst. Den Entschluß zu dieser Aktionfaßte er nach monatelangem Austausch mit Mitarbeite-rinnen der bistumseigenen Beratungsstellen und nachvielen Gesprächen mit Frauen, die abgetrieben hattenoder diesen Schritt erwogen. Dabei sei ihm klargewor-den, welche große Bedeutung seine Beratungsstellen fürFrauen in Konfliktsituationen hätten.Deswegen finde ich die lebensferne Entscheidung desPapstes sehr traurig, die Schwangerschaftskonfliktbera-tung der katholischen Kirche in Verbindung mit derAusgabe des Beratungsscheins abzulehnen. Dieser For-derung folgend faßte nun die Deutsche Bischofskonfe-renz einen Beschluß, den ich als absolut scheinheilig be-zeichnen möchte.
Jetzt sollen doch tatsächlich die katholischen Beratungs-bescheinigungen mit dem Vermerk versehen werden,daß diese nicht mehr zum straffreien Schwangerschafts-abbruch verwendet werden können. Damit wird derSchwarze Peter der Entscheidung voll und ganz auf dieFrauen und den Staat abgeschoben; auch die Beraterin-nen in den Beratungsstellen werden damit verunsichert.Hat sich nicht vor ein paar Jahren eine Mehrheit desDeutschen Bundestages dafür entschieden, den betroffe-nen Frauen weniger Strafe, sondern mehr Hilfe anzu-bieten? Daraus ergibt sich nämlich die Möglichkeit einerstraffreien Schwangerschaftsunterbrechung nach einge-hender Beratung. Der Schutz des ungeborenen Lebenskann nur mit der Mutter gemeinsam, nicht aber gegendie Mutter gewährleistet werden. Nur die Frau selbstsollte wirklich darüber entscheiden können. Ihre Per-sönlichkeit und ihre Gewissensentscheidung wurden indiesem Parlamentsbeschluß respektiert.
Im Papstbrief an die Bischöfe ist hingegen von denbetroffenen Frauen und ihrer Persönlichkeit und freienGewissensentscheidung kein einziges Mal die Rede.Wer diesen Frauen nun die ergebnisoffene Beratungverweigert und damit versucht, das ungeborene Lebenzu schützen, der verschließt die Augen vor der gesell-Norbert Geis
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schaftlichen Realität. Man muß respektieren, daß mannicht über den Willen einer Frau verfügen, sondern ihrnur helfen kann.
Bundesweit gibt es insgesamt 1 700 Beratungsstellen,davon 270 von der katholischen Kirche. Allein im Jahr1997 wurden insgesamt 20 097 schwangere Frauen inDeutschland beraten. Dabei leisteten die katholischenBeratungsstellen – das muß man wirklich sagen – bishereinen fachlich und menschlich hochqualifizierten Bei-trag.
Die zukünftige katholische Beratungsarbeit dagegenwird viele Frauen ohne Hilfe und Orientierung lassen.Sie werden in tiefe moralische Konflikte gestürzt, soll-ten sie bei ihrem Beschluß zum Schwangerschaftsab-bruch dem Arzt den neuen Beratungsschein vorlegen.Dann wäre nämlich die Verwendung des Scheines imSinne der katholischen Kirche mißbräuchlich.Für die Frauen aus den neuen Bundesländern – unddas betrifft auch mich – bedeutete die Einführung derSchwangerschaftskonfliktberatung durch die bundes-deutsche Gesetzgebung ohnehin einen massiven Eingriffin unser bis dato gewährtes Selbstbestimmungsrecht.
– Darauf können wir gerne noch einmal eingehen, FrauRönsch. – Zwar ist die Zahl der katholischen Beratungs-stellen in den neuen Ländern mit 33 – davon sechs inmeiner Heimat Thüringen – im Vergleich zum gesamtenBundesgebiet gering, Dennoch ist die Kirche durch ihreHilfe und ihre Beratung für schwangere Frauen auch beiuns in den neuen Bundesländern unentbehrlich gewor-den. Um so unverständlicher erscheint es dann, daß derinnerkirchliche Streit männlicher Würdenträger nun-mehr auf dem Rücken hilfesuchender Frauen ausgetra-gen wird.Für mich ist unerträglich, wie die katholische Amts-kirche durch die von ihr provozierte Diskussion und dennun von ihr gefundenen – in meinen Augen sehrschlechten – Kompromiß Frauen in Schwangerschafts-konflikten verunsichert. Das kann in keinem Fall demLebensschutzkonzept dienen. Es liegt in unserer Ver-antwortung, dafür zu sorgen, daß die Beratungen fürFrauen in Konfliktsituationen unbedingt ergebnisoffenbleiben müssen. Jedoch ist das nunmehr mit dem Ver-merk auf dem Beratungsschein hinfällig. Ich gehe sogarso weit und sage zum Schluß: Wenn diese ergebnisoffe-nen Beratungen nicht mehr – wie wir es im Interesse derkatholischen Frauen wünschen – mit der katholischenKirche möglich sind, dann eben ohne diese Kirche.
Das Ergebnis der Bischofskonferenz vom gestrigen Ta-ge zeigt bedauerlicherweise, daß die katholische Kirchein diesem sozialen Bereich für unseren Staat nun leiderkein verläßlicher Partner mehr ist. Ich finde das sehrschade.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Leh-
der, auch für Sie war das die erste Rede hier im Plenum
des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kollegin-
nen und Kollegen möchte ich Sie dazu recht herzlich
beglückwünschen.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Hannelore Rönsch.
FrauPräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, diesesfür uns alle sehr ernste und für viele bedrückende Themaverdient teilweise eine andere Sprache. Wer Frauen inKonfliktsituationen, in einer schwierigen Lebensphasehelfen will, der braucht Nachdenklichkeit. Wer Sicher-heit und Hilfe geben will, der muß gemeinsame Lö-sungswege vorschlagen und darüber nachdenken, wieman mit dem umgeht, was uns jetzt vorliegt.Ich begrüße sehr nachdrücklich, daß die deutschenBischöfe nach langem und schwerem Ringen eine Ant-wort gefunden haben, die die Weisung, den Brief desPapstes, für uns jetzt handhabbar macht. Ich denkeschon, daß dieser Nachsatz die innere Haltung der ka-tholischen Kirche widerspiegelt. Aber ich meine auch,daß wir alle – in der Politik, in der Bevölkerung, katho-lisch, evangelisch – diese Haltung zu respektieren ha-ben.
Ich fordere Sie sehr nachdrücklich dazu auf.Wir in der Politik sind jetzt aufgefordert, Wege auf-zuzeigen, wie die Beratungsbescheinigung mit diesemZusatz im Sinne der strafrechtlichen Vorschriften auchin der Zukunft anerkannt werden kann. Lassen Sie unsdoch gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen!Frau Dr. Bergmann, Sie haben gleich mitgeteilt, daßSie diejenigen, die dafür in Zukunft Verantwortung tra-gen, innerhalb kurzer Zeit zusammenrufen wollen. Ichglaube, daß dies ein guter Weg ist. Ich halte nichts vonder Vorgehensweise der deutschen Ärzteschaft, die ge-stern unmittelbar nach der Pressekonferenz der Bischöfedie Meinung vertreten hat, diese Beratungsbescheini-gung genüge nicht den strafrechtlichen Vorschriften. DieJuristen sehen das zu einem großen Teil wesentlich an-ders.
Christine Lehder
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Der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Caesar, hat so-fort gesagt: In seinem Bundesland genügt das. AndereJustizminister werden folgen.Um die Unsicherheit, die bei Frauen auftreten kannund die vielleicht auch in den Beratungsstellen, unterden Beraterinnen und Beratern, vorhanden ist, umge-hend abzustellen, sind die Bundesländer und das Bun-desfamilienministerium aufgefordert, unmittelbar etwaszu unternehmen.An dieser Stelle will ich einfügen: Für uns istSchwangerschaft – die Entscheidung für das Leben oderdie Entscheidung für einen Abbruch – immer eine Fragenicht nur der Frauen, sondern auch der Männer.
– Auch die katholische Kirche, die sich mit der Ethikund dem Leben beschäftigt, dürfen wir von dieser Dis-kussion nicht ausschließen, Frau Kollegin Wolf.Es hat sich heute in der Diskussion gezeigt, daß Kol-leginnen wieder ein Vehikel gefunden haben, um diedurchaus nicht immer geliebten Beratungsstellen derkatholischen Kirche ein Stück an den Rand der Beratun-gen zu drängen.
– Ich habe nicht die Absicht, Frau Dr. Höll, auf IhreZwischenrufe einzugehen. Aber ich empfehle jedem, derdas anders sieht, einmal die Protokolle nachzulesen.Daß meine unmittelbare Vorrednerin zu dem Schlußkommt „Dann eben ohne die katholische Kirche“, zeigt,wohin der Weg führt und daß man jetzt wieder Mög-lichkeiten gefunden hat, katholische Beratungsstellen indie Diskussion zu bringen.Frau Kollegin Wolf, Ihnen empfehle ich, ganz ein-fach einmal in Statistiken nachzuschauen, wie und wieoft in katholischen Beratungsstellen beraten wird. Siehaben gesagt, die Zahl der Beratungen nimmt ab. Diestrifft nicht zu.
– Es genügt ein Blick in die Statistik. Die Zahl der Be-ratungen zwischen 1993 und 1996 ist um 33 Prozent an-gestiegen, und im Jahr 1997 stieg sie noch einmal um1,5 Prozent.
– Liebe Frau Kollegin Nickels, mir liegen die Zahlen fürdas Jahr 1998 noch nicht vor. Aber auch in diesem Jahrwird die Beratung weiter kontinuierlich fortgelaufensein.
Aber da die Zahlen noch nicht vorliegen, hat keiner dasRecht zu sagen, in katholischen Beratungsstellen nehmedie Zahl der Beratungen ab.Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir soll-ten alle Möglichkeiten ausschöpfen, damit die Pluralitätder Beratung in der Bundesrepublik Deutschland auchweiterhin gewährleistet wird.
Wir sollten sicherstellen, daß die katholischen Bera-tungsstellen, in denen Frauen in schwierigen Lebenssi-tuationen, die sich genau diese Beratungsstellen ausge-sucht haben, Informationen und Hilfestellungen für ihreKonfliktsituation erhalten, nicht durch das Gezerre derPolitik an den Rand gedrängt werden. Lassen Sie unsgemeinsam einen Weg finden, wie wir hier weiterhelfenkönnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
für die SPD-Fraktion die Kollegin Renate Gradistanac.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! In der Tickermel-dung vom 23. Juni 1999 gestand der Vorsitzende der Bi-schofskonferenz, Karl Lehmann, „die neue Regelungkönne Unbehagen oder Unverständnis auslösen“. –Stimmt! Es gibt wieder keine klare und eindeutige Ent-scheidung zugunsten der Frauen.So ist in der Erklärung des Ständigen Rates der Deut-schen Bischofskonferenz zu lesen, daß die Forderungdes Papstes, Beratungsscheine künftig mit einem Zusatzzu versehen, umgesetzt werden soll. Dieser Zusatz solllauten:Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführungstraffreier Abtreibungen verwendet werden.Dies wäre dann die zweite Einschränkung, die diekatholische Kirche machen würde. Schon bisher steht inden Richtlinien für die katholischen Schwangerschafts-konfliktberatungsstellen:Die Aushändigung dieses Beratungs- und Hilfe-plans bedeutet keinerlei Akzeptanz eines Schwan-gerschaftsabbruchs.Die kritische Haltung der katholischen Kirche gegen-über dem am 25. August 1995 verkündeten Schwange-ren- und Familienhilfeänderungsgesetz ist nicht neu.Schon damals hat die katholische Kirche angekündigt,daß sie sich mit diesem Gesetz nicht abfinden wird.Im Januar 1998 wird öffentlich, daß der Papst in ei-nem Brief erklärt hat, er wolle die Bestätigung für dieBeratung, die auch Voraussetzung für eine straffreieAbtreibung ist, in den katholischen Beratungsstellennicht dulden. Das kam einem Affront gleich, waren esdoch die katholischen Bischöfe, die bei der gesetzlichenNeuordnung des § 218 auf die Pflichtberatung von Frau-en in Schwangerschaftskonflikten gedrungen haben.Hannelore Rönsch
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3970 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Diese verpflichtende Beratung wurde aufgenommen,und so konnte nach zähem Ringen mit breiter parla-mentarischer Mehrheit ein Gruppenantrag verabschiedetwerden. Ein tragfähiger Kompromiß über Parteigrenzenhinweg wurde gefunden.
Wir waren zufrieden.Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setztensich seit den 20er Jahren im Parlament für eine Fristen-lösung ein. Nun haben wir ein Gesetz, das die Würdeder Frau wahrt, die eigene Entscheidung der Frau re-spektiert und auch dem werdenden Leben Schutz undEntwicklungschancen garantiert. Außerdem bringt eserstmals im vereinigten Deutschland Rechtssicherheitfür die betroffenen Frauen in Ost- und Westdeutschland,für die Ärztinnen und Ärzte und für die Beraterinnenund Berater.Nun muß nach dem gestrigen unklaren Ergebnis derBischofskonferenz zum Verbleib in der staatlichenSchwangerschaftkonfliktberatung geprüft werden, obsich eine rechtliche Konsequenz aus dem gefordertenZusatz zu den Beratungsbescheinigungen ergibt.Meine Damen und Herren, unabhängig vom Ausgangdieser Nachprüfung stelle ich mit großem Bedauern fest,daß die katholische Kirche die Frauen offensichtlich mo-ralisch unter Druck setzt und zur zusätzlichen psychi-schen Belastung der Frauen beiträgt. Welchen Auftraghat denn die katholische Kirche in unserer Gesellschaftnoch, wenn sie Frauen in Konfliktsituationen nicht zurSeite steht?Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Anni Brandt-Elsweier,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Hilfe statt Strafe – das warder Leitsatz, der das Schwangeren- und Familienhilfe-änderungsgesetz des Jahres 1995 letztlich prägte. Überdiese Hilfen umfassend zu informieren und zu beratenist Aufgabe der Schwangerschaftsberatungsstellen, de-ren Träger unter anderem in weiten Bereichen auch diekatholische Kirche ist.Nun soll der damals mühsam gefundene Kompromißwieder in Frage gestellt werden, weil der Papst der Mei-nung ist, daß der Beratungsschein, der zugleich notwen-diges Dokument für eine straffreie Abtreibung in den er-sten zwölf Wochen der Schwangerschaft ist, in dieserFunktion – ich betone: in dieser Funktion – von den ka-tholischen Beratungsstellen nicht ausgestellt werdenkann.Bereits das erste Schreiben des Papstes vom 11. Ja-nuar 1998 verdeutlichte dessen Forderung an die katho-lischen Bischöfe, im Text des Beratungsscheins klarzu-stellen, daß er nicht zur Durchführung straffreier Abtrei-bungen verwendet werden könne.In diesem Sinne haben sich nun die deutschen Bi-schöfe auch entschieden. Der Zusatz auf dem Schein isthier mehrfach zitiert worden; ich brauche ihn nicht zuwiederholen. Meines Erachtens entspricht dies nichtmehr den gesetzlichen Anforderungen des § 219 StGB,der letztlich von einer ergebnisoffenen Beratung aus-geht. Schon zeichnen sich widersprüchliche Meinungenzur Auslegungsfähigkeit des neuen Wortlautes ab. Diesführt zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit. Das wol-len wir nicht.
Mit dieser „Schein-Lösung“ ist der Schwangeren ineiner Konfliktsituation nicht geholfen. Es ist fraglich –das sage ich als Juristin –, ob dies nicht faktisch auch ei-nen Ausstieg aus der gesetzlichen Konfliktberatung be-deutet. Dies wird zu prüfen sein.Auf diese Weise hat sich nun die katholische Kirchezunächst einmal geschickt aus der Affäre gezogen. Mirkommt sie dabei vor – er ist schon einmal genannt wor-den – wie Pilatus, der seine Hände in Unschuld wäschtund anderen die Schuld für seine Taten zuschiebt. Dennjetzt ist es der Arzt bzw. die Schwangere, die für eineneventuellen Schwangerschaftsabbruch geradestehenmüssen, und die Kirche stiehlt sich aus ihrer Verant-wortung.Sie muß sich allerdings fragen, sehr geehrter HerrKollege Geis, wenn ihr Schein trotz des Wortlauts dochfür einen straffreien Schwangerschaftsabbruch benutztwird, also seine Funktion behält, ob nicht der Gewis-senskonflikt weiter bestehenbleibt. Wenn ich beidePapst-Briefe lese, habe ich da meine Zweifel.
Ich habe als Katholikin schon früh gelernt, daß Chri-stus sich gerade für die Mühseligen und Beladenen ein-gesetzt hat. Ich frage Sie: Sind damit nicht gerade dieFrauen gemeint, die in seelischer Not, in einer Konflikt-situation besonders dann die Hilfe ihrer Kirche dringendbenötigen?
Hier läßt sie die katholische Kirche in dieser Situationallein.Was Frauen in schwerer Gewissensnot erleiden, istfür Außenstehende nicht nachvollziehbar. Aber die ge-setzlich vorgeschriebene Pflichtberatung ist die großeund oft einzige Chance, Frauen zu erreichen, die viel-fach in Unkenntnis im Abbruch der Schwangerschaftden einzigen Ausweg sehen. Dies zeigt der Erfolg derkatholischen Beratungsstellen auch sehr deutlich.Im Bistum Speyer zum Beispiel verzichteten von An-fang an 15 Prozent der beratenen Frauen auf die Aus-stellung des Scheins, und aus Gesprächen mit dem örtli-Renate Gradistanac
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chen Sozialdienst katholischer Frauen in Neuss weißich, daß zahlreiche Frauen nach der Beratung auf denAbbruch verzichten, wenn sie über die Hilfen ausrei-chend informiert worden sind. Deswegen teile ich dieöffentlich betonte Auffassung des SkF Neuss, die be-sagt, daß ein Ausstieg aus der gesetzlichen Konfliktbe-ratung in der Tat bedeuten würde, daß sich die Kirchekünftig am Tod all jener Kinder mitschuldig macht, diebisher auf Grund der Beratung vor der Abtreibung be-wahrt werden konnten. Im letzten Jahr waren dies beiallen katholischen Beratungsstellen bundesweit immer-hin 5 000 Kinder.Ich schließe mich deshalb dem Appell all derer an,die die Verantwortlichen auffordern, nicht aus der ge-setzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung auszustei-gen, sich ihrer Verantwortung für schwangere Frauen zustellen und den katholischen Beratungsstellen eine Fort-setzung ihrer sinnvollen und unverzichtbaren Arbeit zuermöglichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Aktuelle Stunde
ist damit beendet. Ich rufe nunmehr Tagesordnungs-
punkt 5 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Bu-
ches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
– Drucksachen 14/873, 14/1066 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Klaus
Grehn, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Wiederherstellung des Interessen-
ausgleichs zwischen Arbeitslosen und Beitrags-
zahlern – Interessenausgleichsgesetz
– Drucksache 14/208 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/1205 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor, über den wir im Anschluß an die Aussprache na-
mentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
spricht zunächst der Parlamentarische Staatssekretär im
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Gerd
Andres.
G
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Das Zweite Gesetz zur Än-derung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch, das Ihnenheute zur Beschlußfassung vorliegt, ist ein wichtigerBaustein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das Ge-setz ergänzt die erfolgreichen Sofortmaßnahmen, die dieBundesregierung seit ihrem Amtsantritt zur Verbesse-rung der Situation auf dem Arbeitsmarkt auf den Weggebracht hat.In einem ersten Schritt haben wir das Programm ge-gen Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt. Im Mai nahmen101 000 junge Männer und Frauen an Sofortmaßnahmendes Programms teil. Bis Ende Mai sind 141 792 Jugend-liche in Maßnahmen des Sofortprogramms eingetreten.Das ist ein voller Erfolg, meine sehr verehrten Damenund Herren.
Als zweiten Schritt haben wir die Mittel, die für akti-ve Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen, deutlicherhöht, um schnell und gezielt helfen zu können, wo esnötig ist, aber auch um eine Verstetigung und Verläß-lichkeit der Arbeitsmarktpolitik zu erreichen. Hiermußten wir auch auf das Hochfahren arbeitsmarktpoliti-scher Maßnahmen im Wahljahr 1998 reagieren.Auch mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurfsollen kurzfristig Maßnahmen umgesetzt werden, die imInteresse der vielen arbeitslosen Menschen in unseremLande liegen und zu einer Verbesserung ihrer persönli-chen Lage und der Situation auf dem Arbeitsmarkt bei-tragen können. Nach Auffassung der Bundesregierungmüssen die Weichen in der Arbeitsmarktpolitik neu ge-stellt werden. „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“und „Vorfahrt für mehr Beschäftigung“ sind unserezentralen Ziele. Hierzu muß auch das Arbeitsförderungs-recht in dieser Legislaturperiode umfassend überarbeitetwerden. Dies wird aber sorgfältig und unter Einbezie-hung aller am Arbeitsmarkt Beteiligten geschehen. Hierund heute geht es darum, die Probleme, bei denen wireinen dringenden Handlungsbedarf sehen, sofort anzu-packen und nicht auf die lange Bank zu schieben.Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf hat dreiSchwerpunkte.Erstens. Die aktive Arbeitsmarktpolitik soll effizi-enter und zielgenauer werden. Die Leistungen der Ar-beitsförderung sollen da ankommen, wo sie gebrauchtwerden. Deshalb geht es insbesondere darum, diejenigenzu unterstützen, die es schwer haben, auf dem Arbeits-markt Fuß zu fassen.Zweitens. Die Arbeitsämter sollen von überflüssigerVerwaltungsarbeit und Bürokratie entlastet werden. DieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsämternleisten unter hohem Arbeitsdruck hervorragende Arbeit.Anni Brandt-Elsweier
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Sie haben Anspruch darauf, daß ihr Engagement nichtdurch Vorgaben blockiert wird, bei denen Aufwand undErtrag in keinem Verhältnis stehen.Drittens schließlich wollen wir mit diesem Gesetzauch soziale Härten beseitigen, die mit der Arbeitsförde-rungsreform der früheren Bundesregierung verursachtwurden. Arbeitslose haben ein Recht darauf, daß manfair mit ihnen umgeht.
Mit der verbesserten und zielgenauen Ausrichtungder aktiven Arbeitsförderungsleistung wollen wir insbe-sondere die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslo-sen, älteren Arbeitslosen, aber auch von solchen Ar-beitslosen erleichtern, denen Langzeitarbeitslosigkeitdroht. Diese Arbeitslosen gehören zu den Hauptziel-gruppen der Arbeitsmarktpolitik. Ihre Integration in re-guläre Beschäftigung ist besonders schwierig, so daßvielen von ihnen Dauerarbeitslosigkeit droht. Dem wol-len wir durch flexiblere und besser auf die besonderenVermittlungsprobleme dieser Personengruppen abge-stimmte Arbeitsförderungsleistungen frühzeitig entge-genwirken. Damit leisten wir zugleich einen wichtigenBeitrag zur Umsetzung der beschäftigungspolitischenLeitlinien der Europäischen Union.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich an dieser Stelle nur die wichtigsten arbeitsmarkt-politischen Maßnahmen anführen. Die Förderung ältererArbeitnehmer durch Eingliederungszuschüsse an Ar-beitgeber soll künftig wesentlich erleichtert werden. Diefrühere Bundesregierung hat das Mindestalter für eineFörderung von 50 auf 55 Lebensjahre heraufgesetzt undeine Weiterbeschäftigungspflicht für Arbeitgeber einge-führt. Die Folge war ein Rückgang der Zahl der geför-derten Personen von rund 40 000 Ende 1997 auf 23 000im April 1999 – und das, obwohl wir 1999 weit mehrMittel für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung ge-stellt haben als 1998. Wir haben deshalb das Mindestal-ter für die Förderung mit Rechtsverordnung, zunächstbefristet für die Zeit vom 1. August dieses Jahres biszum Dezember 2001, wieder vom 55. auf das 50. Le-bensjahr herabgesetzt. Eine Förderung ist künftig bereitsnach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit möglich. Bisherwurden Zuschüsse im Regelfall erst nach zwölf Monatengezahlt. Die Zuschüsse können danach dort, wo es not-wendig ist, frühzeitiger eingesetzt werden, um Langzeit-arbeitslosigkeit möglichst zu verhindern.Schließlich beseitigen wir eine weitere Einstellungs-hürde für ältere Arbeitslose. Arbeitgeber müssen die Zu-schüsse nicht mehr zurückzahlen, wenn sie die älterenArbeitnehmer nach der Förderung nicht mehr weiterbe-schäftigen können. Diese drohende Rückzahlungs-pflicht hat viele Arbeitgeber bisher davon abgehalten,ältere Arbeitnehmer einzustellen. Davon erwarten wirzusätzliche Einstellungen insbesondere bei gemeinnüt-zigen Trägereinrichtungen und öffentlichen Körper-schaften.Zum Förderinstrument der Arbeitsbeschaffungsmaß-nahmen berichten Mitarbeiter aus den Arbeitsämtern,daß Langzeitarbeitslosigkeit vielfach auch durch flexi-blere Zuweisungsbestimmungen verhindert werdenkann. Deshalb soll die Zuweisung in eine Arbeitsbe-schaffungsmaßnahme nicht mehr starr nur an das Vor-liegen von Langzeitarbeitslosigkeit geknüpft, sondernkünftig bereits nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeitmöglich sein, um auch hier Langzeitarbeitslosigkeit garnicht erst entstehen zu lassen.Besondere Probleme haben die älteren Arbeitslosen,die in den neuen Bundesländern und in Arbeitsamtsbe-zirken mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeitwieder eine Beschäftigung suchen. Ihnen wollen wirdurch eine Neuregelung gezielt helfen oder eine Brückezum sozialverträglichen Übergang in die Altersrentebauen. Danach können Arbeitslose und von Arbeitslo-sigkeit bedrohte Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahrvollendet haben, bis zu fünf Jahre in ausschließlich fürdiese Personen eingerichteten Strukturanpassungs-maßnahmen gefördert werden. Die Förderfelder fürStrukturanpassungsmaßnahmen werden im übrigen bun-deseinheitlich geregelt und um das Maßnahmefeld„Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur“ er-weitert. Den Arbeitsämtern wird damit ein weiteres In-strument an die Hand gegeben, um die aktive Arbeits-marktpolitik wirksamer als bisher mit der regionalenWirtschafts- und Strukturpolitik zu verknüpfen und zu-sätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslosezu schaffen.Die Arbeiten in diesem Maßnahmefeld müssen anWirtschaftsunternehmen vergeben werden, die dafür be-fristet arbeitslose Arbeitnehmer einstellen. Damit tragenwir auf der Basis arbeitsmarktpolitischer Maßnahmenzur Wertschöpfung bei und schlagen für die Arbeitneh-mer eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt.Unser Ziel ist es, die vorhandenen und neuen Instru-mente genauer und wirksamer als bisher umzusetzen.Mitnahmeeffekte werden soweit wie möglich ausge-schlossen. Dies können die beschäftigten Arbeitnehmerund Arbeitgeber, die mit ihren Beiträgen die Mittel fürdie Arbeitsförderung aufbringen, mit Recht erwarten.
Deshalb konzentrieren wir die Förderung von Struk-turanpassungsmaßnahmen in Wirtschaftsunternehmen inden neuen Bundesländern und Berlin stärker alsbisher auf arbeitsmarktpolitische Zielgruppen. Dennvieles spricht dafür, daß bisher ein Teil der Fördermittelvon Betrieben in Anspruch genommen wird, die ohnehinArbeitnehmer eingestellt hätten.Wir wollen dies korrigieren, ohne die Chancen derArbeitslosen auf einen Arbeitsplatz zu vermindern. Die-se Förderung wird heute zu oft allein als Wirtschaftsför-derung mißverstanden, für die jedoch viele andere Mög-lichkeiten zur Verfügung stehen. Deshalb soll diesesFörderinstrument künftig verstärkt jugendlichen Ar-beitslosen, Langzeitarbeitslosen, älteren Arbeitslosenund Menschen, die behindert sind, die Chance einesWiedereinstiegs in den Beruf eröffnen.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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Neben diesen arbeitsmarktpolitischen Schwerpunktenenthält der Gesetzentwurf weitere wichtige Regelungenfür Arbeitslose und Arbeitsämter. Die von der früherenBundesregierung eingeführte Verpflichtung von Ar-beitslosen, ihre persönliche Arbeitslosmeldung im Ab-stand von drei Monaten zu erneuern, hat in der Praxis zueinem erheblichen Verwaltungsaufwand in den Arbeits-ämtern geführt, ohne daß dadurch die Vermittlungsarbeitverbessert oder die Bekämpfung des Leistungsmiß-brauchs erleichtert wurde.
Die Regelung zur Pflicht, sich regelmäßig zu melden,soll deshalb entfallen.
Zur Mißbrauchsbekämpfung stehen den Arbeitsämternweitaus effektivere Mittel wie zum Beispiel die gezielteEinladung zur Arbeitsberatung zur Verfügung.Die ebenfalls von der früheren Bundesregierung ein-geführte Verlängerung der zumutbaren Pendelzeiten fürVollzeitarbeitnehmer von zweieinhalb auf drei Stundentäglich und für Teilzeitarbeitnehmer von zwei auf zwei-einhalb Stunden täglich wird rückgängig gemacht.
Der Anreiz für Arbeitslose, eine im Vergleich zurfrüheren Beschäftigung niedriger entlohnte Arbeitaufzunehmen, wird verbessert. Arbeitslose, die eine ge-genüber der letzten Beschäftigung niedriger entlohnteArbeit annehmen, sind bei erneutem Beschäftigungs-verlust innerhalb von drei Jahren durch eine Bestands-schutzregelung vor Nachteilen bei der Arbeitslosengeld-bemessung geschützt.Allerdings ist das Arbeitslosengeld jetzt in solchenFällen noch auf das Nettoentgelt der letzten Beschäf-tigung begrenzt. Dies erfordert in jedem Einzelfall eineverwaltungsaufwendige Vergleichsberechnung undführt zu sozialpolitischen Härten für Arbeitslose, diezuletzt eine Beschäftigung aufgenommen haben, derenNettoentgelt das letzte Arbeitslosengeld unterschreitet.Die Regelung zur Begrenzung auf das Nettoentgeltder letzten Beschäftigung wird von uns deshalb aufge-hoben.
Meine Damen und Herren, das vorliegende Ände-rungsgesetz kann und soll die vorgesehene umfassendeReform der Arbeitsförderung nicht ersetzen. Wir könnenin der kurzen Zeit nicht alles anpacken und lösen, waswünschenswert und sinnvoll wäre. Ich bin aber der fe-sten Überzeugung, daß wir mit den vorgesehenen Maß-nahmen und Regelungen eine wirksame Soforthilfe fürArbeitslose und Arbeitsämter leisten.
Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung für dieses Ge-setz und bin fest davon überzeugt, daß mit seinem In-krafttreten am 1. August dieses Jahres die Situation fürArbeitslose und Arbeitsämter wesentlich verbessertwird.Herzlichen Dank.
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hans-
Peter Friedrich.
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dervorliegende Gesetzentwurf – der Staatssekretär hat dar-auf hingewiesen – wird von der Bundesregierung nur alserster Schritt der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpoli-tik bezeichnet. Damit ist zu befürchten, daß auch bei denweiteren Schritten, die folgen werden, die falsche Rich-tung eingeschlagen wird.
Deswegen müssen wir in diesem Hause einmal grund-sätzlich darüber reden, wofür die Gelder der Beitrags-zahler und die Gelder der Steuerzahler in der Arbeits-marktpolitik eigentlich ausgegeben werden sollen.Bisher war es Ziel der Arbeitsmarktpolitik,
möglichst viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt,das heißt: in reguläre Arbeitsverhältnisse, zu bringen.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf macht dierotgrüne Regierung allerdings deutlich, daß sie das of-fensichtlich nicht mehr als vorrangiges Ziel ansieht.
Bisher waren die Instrumente darauf ausgelegt, diePhase im zweiten Arbeitsmarkt für die Beschäftigtenmöglichst kurz zu halten. Mit diesem Gesetzentwurfwird der Arbeitsmarktpolitik statt dessen eine sozialeAuffangfunktion zugewiesen: Statt kurzzeitiger Über-brückung soll jetzt eine staatliche Versorgung bis zufünf Jahren bis zum Eintritt in die Rente möglich sein.Eine solche bloße Auffangfunktion wird aber erstens dieArbeitnehmer auf Dauer nicht befriedigen und zweitensnicht finanzierbar sein, jedenfalls dann nicht, wenn Rot-grün das Problem der Arbeitslosigkeit statt über einevernünftige Wirtschaftspolitik auch weiterhin über öf-fentlich finanzierte Beschäftigung lösen will.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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3974 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Der Bundeskanzler hat in dem zusammen mit TonyBlair formulierten Papier gesagt – ich darf einmal darauszitieren –:Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit,Arbeit zu finden, behindert,– das ist ganz bezeichnend –muß reformiert werden. Moderne Sozialdemokra-ten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen inein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwan-deln.Nach den Maßstäben von Schröder und Blair sindder Bundesarbeitsminister und, wie ich festgestellt habe,auch sein Staatssekretär keine modernen Sozialdemo-kraten. Sonst kämen nämlich die beiden nicht auf dieIdee, die dreimonatige Meldepflicht der Arbeitslosenbeim Arbeitsamt abschaffen zu wollen. Denn Hinter-grund dieser Meldepflicht ist unter anderem, daß derArbeitsuchende, der sich verstärkt um einen Arbeitsplatzbemühen muß, im Dreimonatsturnus beim Arbeitsamtnachweist, was er getan hat, um eine Arbeit zu finden.Es ist ein völlig falsches Signal, wenn diese Melde-pflicht abgeschafft wird. Ebenso falsch ist es, die zu-mutbaren Pendelzeiten für Leistungsempfänger reduzie-ren zu wollen.
Rotgrün mutet den Arbeitnehmern im Lande viel zu.
Rotgrün mutet den Autofahrern und den Steuerzahlernimmer mehr zu. Nur den Arbeitslosen wollen Sie nichtzumuten, was ihnen im Interesse von Millionen vonBeitragszahlern zugemutet werden muß.
Verhängnisvoll ist das Vorhaben, das Betätigungsfeldsubventionierter Beschäftigungsgesellschaften zu er-weitern und damit gute, wettbewerbsfähige Arbeitsplät-ze in der gewerblichen Wirtschaft kaputtzumachen.Nach geltendem Recht sind Arbeitsbeschaffungs- undStrukturanpassungsmaßnahmen dann förderfähig, wennsie an Wirtschaftsunternehmen vergeben werden, also inden Betrieben des ersten Arbeitsmarktes durchgeführtwerden. Die Durchführung dieser Maßnahmen in eige-ner Regie des Trägers ist an außerordentlich restriktiveVoraussetzungen geknüpft, und das zu Recht. Mit die-sem Gesetz aber öffnen Sie die Schleusen für eine mas-senhafte Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaß-nahmen in Eigenregie der Träger.
Heerscharen von hochsubventionierten ABM-Kräftenwerden künftig die Arbeiten ausführen, die bisherHandwerksbetriebe, Gartenbaubetriebe und mittelständi-sche Bauunternehmen ausgeführt haben.
Tausende von Arbeitsplätzen in diesem Bereich werdenvernichtet.Es ist beinahe makaber: Die Arbeitnehmer zahlenBeiträge an die Arbeitslosenversicherung. Und mit die-sen Beiträgen wird die Vernichtung ihrer eigenen Ar-beitsplätze finanziert.
Das ist ein wahres Meisterstück der planwirtschaftlichenSelbstüberlistung.
In dem Schröder/Blair-Papier – ich zitiere wiederdaraus – heißt es:Kleine Unternehmen müssen leichter zu gründensein und überlebensfähiger werden …Wenn Herr Schröder das wirklich ernst meint, dürfte erseinem Arbeitsminister nicht gestatten, ein so unglaubli-ches Gesetz vorzulegen; denn mit diesem Gesetz weitenSie den öffentlichen Beschäftigungssektor zu Lasten dermittelständischen Betriebe aus.Ich gebe ehrlich zu, daß es natürlich Arbeitnehmerund Arbeitsuchende gibt, die zu den marktüblichen Be-dingungen auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht vermittel-bar sind. Für diese Menschen müssen wir etwas tun. Dasist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, das ist auchein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft.Aber es ist Wahnsinn, was Sie mit diesem Gesetz an-richten. Ein 50jähriger wird zum alten Eisen erklärt.
Die Bundesregierung hat ein Trauerspiel in drei Aktenvorbereitet: mit 50 in die altersbedingte ABM,
mit 60 werden alle in die Rente geschickt, und amSchluß werden sie mit einer gekürzten Rente oder einerEinheitsrente abgespeist.
Das ist die Trilogie rotgrünen Sozialchaos.
Man muß etwas für die schwerer Vermittelbaren tun,aber man muß dabei stets deutlich machen: Ziel bleibtDr. Hans-Peter Friedrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3975
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die Überführung in den ersten Arbeitsmarkt. Dies muß –bevor Sie weiterschreien, lieber Herr Gilges – ohne Ein-schränkung auch für Problemgruppen gelten, weil allesandere ein völlig falsches Signal wäre. Richtig ist zwei-fellos, daß bestimmte Problemgruppen zu den Bedingun-gen und insbesondere zu den Kosten auf dem norma-len Arbeitsmarkt nicht eingestellt werden. In diesemFall muß man die Unternehmen von den übermäßigenKosten entlasten. Das Prinzip der Lohnkostenbezu-schussung haben wir bei den Vergabe-ABM ebenso wiebei den verschiedenen Kombilohnmodellen, die Sienicht diskutieren wollen. Die zügige Umsetzung derVergabe-ABM ist meines Erachtens nur eine Frage desökonomischen Anreizes für die Unternehmen, solcheVergabe-ABM durchzuführen.Selbstverständlich muß man jede Lohnbezuschus-sung an eng eingegrenzte Voraussetzungen knüpfen,denn es soll ja ein Ausufern der Dauersubventionen ver-hin
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mitnahmeeffekte einiger weniger
Unternehmen in strukturschwachen Gebieten auf der ei-
nen Seite oder die Aufblähung eines öffentlich finan-
zierten zweiten Beschäftigungssektors, wie Rotgrün ihn
jetzt vorhat, auf der anderen Seite. Vor dem Hintergrund
einer solchen Abwägung sollten wir die marginalen
Mitnahmeeffekte in Kauf nehmen.
Ich bin im übrigen der Auffassung, daß die Rolle der
Städte und Gemeinden bei dem Thema Arbeitslose und
Sozialhilfeempfänger gestärkt werden soll. Diese Rolle
kann aber nur darin bestehen, Bindeglied, Vermittler,
Katalysator zwischen Arbeitsuchenden auf der einen
Seite und Unternehmen auf der anderen Seite zu sein.
Ordnungspolitisch bedenklich ist es allerdings, wenn
die Erfinder des neuen Arbeitsförderungsgesetzes re-
gionale Wirtschafts- und Strukturpolitik über die Ar-
beitsämter mitgestalten wollen. In der Begründung des
Gesetzentwurfes – Sie haben das vorgetragen – heißt es,
daß den Arbeitsämtern Instrumente an die Hand gegeben
werden sollen, „um die aktive Arbeitsmarktpolitik wirk-
sam mit der regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik
zu verknüpfen“. Herr Staatssekretär, das ist die Sprache
der Planwirtschaft.
Wir werden das Problem der Arbeitslosigkeit nicht mit
planwirtschaftlicher Ausrichtung und einem öffent-
lich finanzierten zweiten oder dritten Beschäftigungs-
markt lösen. Was wir brauchen, ist die Schaffung
wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze und nicht ihre Ver-
nichtung durch öffentlich finanzierte Konkurrenzver-
anstaltungen.
Was wir brauchen, ist ein Ausloten der Bedingungen, zu
denen Unternehmen bereit sind, auch Problemgruppen
im ersten Arbeitsmarkt bezuschußt zu beschäftigen.
Die rotgrüne Bundesregierung führt diesen Dialog
nicht frei von ideologischem Ballast; das ist ihr Problem,
und das ist auch das Problem des vorliegenden Gesetz-
entwurfes, dem wir deswegen nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kollegin-nen! Ein zentrales Ziel der Bundesregierung ist es, Ar-beitslosigkeit abzubauen und neue Beschäftigungsmög-lichkeiten zu erschließen. Wir wollen die Grenzen ein-reißen zwischen dem ersten Arbeitsmarkt und denen, diedraußen stehen. Wir wollen Brücken bauen, weil es ein-fach so ist, daß niemand freiwillig arbeitslos ist, aberauch, weil sich unsere Gesellschaft diese hohe Arbeits-losigkeit langfristig nicht leisten kann.Deswegen müssen arbeitsmarktpolitische Maßnah-men effizienter und zielgenauer ausgerichtet werden, ge-rade auf diejenigen Arbeitslosengruppen, die es am Ar-beitsmarkt besonders schwer haben, wie Langzeitar-beitslose oder auch ältere Arbeitslose.
Arbeitslose brauchen die gezielte Förderung und kei-ne Schikane. Arbeitsämter brauchen die Möglichkeit,nicht in Bürokratien zu ersticken, sondern ihrer Bera-tungstätigkeit nachkommen zu können. Genau dasmacht dieses Gesetz.
Da das Gesetz sehr umfangreich ist, kann ich nureinige Punkte nennen. Ich will mich auf sechs beschrän-ken. Erstens: die Abschaffung der Meldepflicht. Sie hatbeschäftigungspolitisch überhaupt nichts gebracht, stattdessen hat sie die Arbeitsämter in Arbeit ersticken las-sen.
Zweitens: die Reduzierung der Pendlerzeiten. Sie istgerade für Frauen wichtig, die versuchen, Berufs- undFamilienarbeit irgendwie unter einen Hut zu bekommen.Das ist auch heute immer noch nicht einfach.Drittens: der erleichterte Zugang zu ABM für Men-schen, die sechs Monate arbeitslos waren. Der erleich-terte Zugang ist deswegen wichtig, weil er so etwas wieein kleiner Kurswechsel dahin gehend ist, Langzeitar-beitslosigkeit vorzubeugen.Viertens: Bestandschutz für das Arbeitslosengeld.Wenn Arbeitslose bereit sind, eine Arbeit aufzunehmen,die geringer bezahlt ist und für die niedrigere Qualifika-tionen notwendig sind, dürfen sie nicht bestraft werden,wenn sie wieder in die Arbeitslosigkeit zurückfallen. Ichdenke, es ist wichtig – es geht darum, die Aktivität derDr. Hans-Peter Friedrich
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3976 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Arbeitslosen zu fördern –, den Bestandschutz für dasArbeitslosengeld zu stärken.
Fünftens: die verstärkte Möglichkeit, ältere Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer zu fördern.Sechstens – dieser Punkt ist uns besonders wichtig –:die Förderung von Existenzgründerinnen und Exi-stenzgründern.
Es gibt sehr viele Arbeitslose, die den Mut aufbringen,eine Existenz zu gründen. Alle, die sich damit ein wenigauskennen, wissen, daß die Bürokratie, zum Beispiel dieSchwierigkeiten, an Kredite heranzukommen, häufig da-zu führt, daß eine zeitliche Lücke zwischen dem Bezugdes Arbeitslosengeldes und der Existenzgründung, dieformell anerkannt werden muß, entsteht.Deswegen ist es ungeheuer gut, gerade an dieserStelle die Lücke im SGB III zu schließen und den Exi-stenzgründerinnen und Existenzgründern das Über-gangsgeld, das als Einstiegsgeld notwendig ist, zu ge-ben. Aber es liegt auf der Hand: Gerade CDU undF.D.P. wollen das nicht. Sie wollen Rücknahmen im Ge-setz. Diese lehnen wir ab.Die PDS hat ebenfalls Änderungsvorschläge ge-macht. Diese Änderungsvorschläge gehen weiter. Ichkann Ihnen nur sagen, wir werden eine Reform des Ar-beitsförderungsgesetzes im nächsten Jahr angehen. Dannkönnen wir auch Ihre Punkte weiter diskutieren.
Frau Kollegin Dük-
kert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Singhammer?
Ja, das tue ich gern.
Immer, Herr
Kollege Gilges.
Frau Kollegin Dückert, Sie haben davon gesprochen,
daß Sie gerade denjenigen, die neu anfangen, den Be-
standschutz der Arbeitslosenversicherung gewähren
wollen. Ich frage Sie: Wie paßt das zusammen, wenn Sie
mit den Sparbeschlüssen die originäre Arbeitslosenhilfe
für einen Personenkreis abschaffen wollen, der noch
nichts einzahlen konnte, weil er beispielsweise bei der
Bundeswehr war, der aber dann eine Existenzgründung
wagen will und deshalb den besonderen Schutz braucht?
Wie paßt es zusammen, wenn Sie den Schutz vor Ar-
beitslosigkeit abschaffen?
Herr Kollege Singhammer, es ist schön, daß Sie mir die-se Frage stellen, aber sie ist doch reichlich konstruiert.Sie wissen doch selber, daß die beiden Personengruppensehr unterschiedliche Personengruppen sind. Ich bedaurees sehr, daß die originäre Arbeitslosenhilfe im Zusam-menhang mit unserem notwendigen Sparkonzept ange-griffen wird.Sie wissen aber auch, daß junge Menschen, die bei-spielsweise ein ökologisches Jahr gemacht oder denWehrdienst abgeleistet haben, nicht zu den Personen-gruppen zählen, die vorrangig Existenzen gründen. Ichwill Ihnen nur eines sagen: Sie können frohen Mutessein,
da wir – übrigens auch im Zusammenhang mit den Dis-kussionen um die Scheinselbständigkeit und um dieWirtschaftsförderung – alles, aber auch wirklich allestun werden, um jungen Menschen bei der Existenzgrün-dung zu helfen.
Auch das ist ein Weg dahin; es erschwert Existenzgrün-dung nicht, sondern unterstützt sie. Gerade deswegenfinde ich das gut.
Meine Damen und Herren, wir können feststellen,daß die Konturen für die zukünftige Reform der Ar-beitsmarktpolitik schon durch dieses Gesetz vorgezeich-net sind. Ein zentraler Punkt ist es, Bürokratie abzu-bauen. Der andere zentrale Punkt ist es, Brücken in denArbeitsmarkt zu bauen und Eigeninitiativen zu stärken.Das ist uns sehr wichtig.
Es geht aber bei den zukünftigen Reformen nicht nurum Effizienzsteigerung und ein besseres Erreichen derZielgruppen, sondern es geht vor allen Dingen darum,Mittel und Wege zu finden, Arbeit statt Arbeitslosigkeitzu fördern. Die Instrumente der aktiven Arbeitsmarkt-politik müssen geöffnet werden und neue müssen ent-wickelt werden, um auf veränderte Bedingungen einge-hen und Antworten auf flexible Formen der Erwerbstä-tigkeit und auf die sehr vielfältigen Probleme am Ar-beitsmarkt finden zu können. Deswegen ist es uns sehrwichtig, daß auch die Bundesregierung eine Beschäfti-Dr. Thea Dückert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3977
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gungspolitik vorantreibt, die zeigt, daß sie bereit und inder Lage ist, Neues auszuprobieren.Es gibt in der Beschäftigungspolitik mit Sicherheitkeinen Königsweg, es gibt aber sehr viele gute Modelleund auch Beispiele aus dem Ausland, die uns weiterhel-fen können. Ich möchte ein Beispiel aus Dänemark nen-nen: Die Dänen wenden seit Jahren das Modell derJobrotation an. Menschen aus den Betrieben werden zuQualifizierungsmaßnahmen freigestellt, da die techni-sche Entwicklung voranschreitet. Dafür werden Ar-beitslose angelernt und schaffen so den Sprung in dieBetriebe. Damit einher geht ein sehr hoher Effekt derIntegration auf der einen Seite und der Qualifikation aufder anderen Seite. Hier werden die Grenzen zwischendrinnen und draußen durchlöchert und überschritten.Dieses Modell sollten wir bei der Änderung des SGB IIIim nächsten Jahr auf jeden Fall aufnehmen.
– Für eine umfassende arbeitsmarktpolitische Reform istdas aus grüner Sicht ein ganz zentraler Punkt.
Meine Damen und Herren, wir müssen aber weiter-gehen, Knoten in den Köpfen zerschlagen und uns auchein Stück weit von alten und überkommenen arbeits-marktpolitischen Modellen lösen, weil es Möglichkeitengibt, dynamische Beschäftigungsverhältnisse weiter vor-anzubringen und gerade auch in den preiselastischenMarktsegmenten, wie beispielsweise im Dienstlei-stungsbereich, Beschäftigungspotentiale zu erschließen.Wir sollten an dieser Stelle die akademische Diskussionbeenden und nicht mehr länger die einzelnen Möglich-keiten und Vorschläge in ihren Beschäftigungseffektenabwägen, sondern wir sollten viele Vorschläge, die aufdem Tisch liegen, einem Praxistest unterziehen.
England macht das längst. Diese Ansätze können wirnicht einfach übertragen. Aber zum Beispiel mit derWorking-family-Tax werden hier in intelligenter Formstaatliche Transferleistungen mit Beschäftigung verbun-den. Das eröffnet gerade Alleinerziehenden und auchLeuten mit Kindern den Weg in den Arbeitsmarkt. Wirkönnen davon nur lernen. Auch in der Bundesrepublikgibt es gute Vorschläge. Deswegen schlagen wir vor,schon im Juni im Bündnis für Arbeit ein Viererpack zuschnüren, das über den Ansatz des Programmes hinaus-geht, das 100 000 Jugendliche in den Arbeitsmarkt brin-gen soll. An vier anderen Stellen, die auch relevant fürden Arbeitsmarkt sind, sollten auch Programme für je-weils 100 000 Beschäftigte aufgelegt werden:Zum einen ein Programm, mit dem Langzeitarbeitslo-se mit einem Einstiegsgeld in Höhe des Regelsatzes derSozialhilfe in den Arbeitsmarkt einsteigen können.Zum zweiten sollen Möglichkeiten geschaffen wer-den, um die Teilzeitmauer zu überwinden, indem ge-staffelte Zuschüsse zu den Beiträgen zur Sozialversiche-rung bei Beschäftigungsverhältnissen, die über 630 DMliegen, gezahlt werden.Drittens über die Modernisierung der Arbeitsver-mittlung. Da können wir auch vom Ausland lernen, zumBeispiel von den Niederlanden. Die Niederlande und üb-rigens auch NRW haben mit den Maatwerken – so hei-ßen diese Einrichtungen – Firmen gefunden, die in Un-ternehmen Klinken putzen, um Beschäftigungsmöglich-keiten für Arbeitslose zu finden. Sie haben hohe Er-folgsquoten bei der Vermittlung gerade auch von Lang-zeitarbeitslosen. So etwas müssen auch wir auf den Wegbringen.
– Ja, wir bringen das ein.
Wir sind im Gegensatz zu Ihnen an der Regierung undhaben gute Chancen, das auch durchzusetzen. Es ist einmodernes Programm. Genau das will diese Regierung.
Der vierte Komplex in diesem Paket ist, Beschäfti-gungspotentiale im Dienstleistungssektor zu erschlie-ßen. Hier liegen große Chancen. Das ist analysiert. AuchStreek und Heinze haben solche Vorschläge gemacht.Wir denken, daß es gut wäre, mit einem Modellprojekteinen Praxistext zu wagen; denn es geht darum, zu über-prüfen, wie groß die Beschäftigungseffekte wirklichsind.Zusammengenommen muß ich eines sagen: Wir ha-ben Veränderungen am Arbeitsmarkt, in der Arbeits-welt. Um Antworten zu finden, müssen wir neue Wegegehen. Wir müssen, denke ich, sehr unideologische Dis-kussionen im Klein-Klein vermeiden und einfach dasausprobieren, was im Entwurf schon längst auf demTisch liegt.
Für die Beschäftigungspolitik bedeutet das, daß wireinen ersten Schritt gegangen sind, daß wir im nächstenJahr das SGB III ändern werden, daß wir in diesem Jahrmit dem „Bündnis für Arbeit“ schnell vorankommenmüssen. Das heißt, wir brauchen auch in der Beschäfti-gungspolitik einen Paradigmenwechsel, um Brücken inden Arbeitsmarkt bauen zu können. Wir brauchen neueInstrumente. In Kombination mit der Herabsenkung derLohnnebenkosten, womit wir begonnen haben, und inKombination mit der ökologisch-sozialen Steuerreformwerden wir, denke ich, einen guten Weg gehen im Hin-blick auf bessere Beschäftigungsmöglichkeiten für dieArbeitslosen in der Zukunft.
Dr. Thea Dückert
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3978 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
(C)
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nun der Kollege Dirk Niebel.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich muß mich schon dar-
über wundern, Frau Kollegin Dückert, was Sie gerade
über das tolle Instrument im Zusammenhang mit der
Firma Maatwerk gesagt haben. Ich weiß aus meiner
eigenen Erfahrung nämlich, daß Grüne und SPD auf
kommunaler Ebene verhindern,
daß Firmen wie Maatwerk damit beschäftigt werden,
Langzeitarbeitslose, die besonders schwer zu vermitteln
sind, in den Arbeitsmarkt einzugliedern.
Herr Kollege Nie-
bel, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Kollegin Thea
Dückert?
Sehr gerne.
Herr Kollege Niebel, ich wäre froh, wenn Sie uns Lern-
prozesse zugestehen würden. Aber das ist an dieser
Stelle gar nicht nötig. In rotgrün regierten Ländern, wie
beispielsweise NRW, sind mit dem Startprogramm – das
wissen Sie – sehr moderne Wege gegangen worden. Üb-
rigens ist das Projekt – das wird die F.D.P. besonders
interessieren – auch wirtschaftlich und hat hohe Be-
schäftigungseffekte. Es stellt zu 50 Prozent Langzeitar-
beitslose ein und kann diese auch vermitteln.
Im übrigen gibt es dieses Projekt auch in Niedersach-
sen.
Frau Kollegin,
vielleicht machen Sie irgendwann einmal ein Fragezei-
chen. Das wäre ganz hilfreich.
Ich frage den Kollegen, ob ihm klar ist, daß es diese
Projekte gibt. Auch in Niedersachsen – übrigens durch
die rotgrüne Koalition vorbereitet, woran ich beteiligt
war – sind diese Projekte angegangen worden. Ich
wollte Sie fragen, ob Ihnen das entgangen ist.
Herr Kollege Nie-
bel, Sie haben jetzt Gelegenheit, darauf zu antworten.
Liebe Frau Kollegin Dückert,mir ist eindeutig nicht entgangen, daß Rotgrün zum Bei-spiel im Rhein-Neckar-Kreis verhindert hat, einen Mo-dellversuch mit der Firma Maatwerk durchzuführen.Aber offenkundig ist Ihnen entgangen, daß sich Rot undGrün hier in diesem Hause vehement dagegen gewehrthaben, Schritte in der privaten Arbeitsvermittlung zugehen.Offenkundig ist Ihnen des weiteren entgangen, daßim Land Baden-Württemberg Modellversuche durchge-führt werden, die den Weg zur Öffnung des sogenanntenNiedriglohnsektors ebnen und dazu dienen sollen, ge-rade bei den Niedrigqualifizierten Arbeitslosigkeit abzu-bauen. Sie dagegen haben sich auch in diesem Hausebisher strikt geweigert, hierüber überhaupt eine Diskus-sion zu beginnen.
Sie lassen die Menschen in der Arbeitslosigkeit und ver-hindern im Niedriglohnsektor, daß durch Bürgergeldoder Kombilohn neue Wege gegangen werden können,um im Bereich der Geringqualifizierten die Arbeitslo-sigkeit abzubauen.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie ha-ben sich den Abbau der Arbeitslosigkeit zur Meßlattegemacht. Auf Grund der demographischen Entwicklungwird die Arbeitslosenquote in nächster Zeit wahrschein-lich sinken. Allerdings ist das kein echtes Absinken derArbeitslosigkeit. Dazu müssen Sie schon in die Trick-kiste von Arbeitsminister Walter Riester greifen; dennIhre Politik bewirkt bisher exakt das Gegenteil dessen,was Sie sich vorgenommen haben.
Beim Antritt der Regierung Schröder hatten wir400 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr. Heute sindes nur noch 200 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr,und saisonbereinigt haben wir erstmals wieder einenAnstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Das ist dieKonsequenz Ihrer Politik: Sie haben die Reformen, dieendlich zu greifen begannen, zurückgedreht.
Das Arbeitsförderungsreformgesetz von 1997 hatdie Erwerbschancen der Arbeitslosen verbessert, die Ef-fizienz der Bundesanstalt für Arbeit erhöht, es ermög-licht, Mißbrauch und illegale Beschäftigung festzustel-len, Beitragszahler entlastet und die Eigenverantwortungaller Betroffenen gefördert. Diese Regierung aber hatnoch nichts dazu beigetragen, die Situation auf dem Ar-beitsmarkt zu verbessern.
Im Gegenteil, Sie haben alle Reformschritte, die geradegreifen konnten, rückgängig gemacht. Die Eile, die Siebei diesem Gesetz, das bereits am 1. August in Krafttreten soll, an den Tag legen, zeigt, daß Sie wieder ein-mal „riestern“. Sie machen wieder nur ein Gesetz miteiner Halbwertszeit von nicht einmal einem Jahr undkündigen ein umfassenderes Reformwerk an, das mannach den bisherigen Erfahrungen schon fast als Bedro-hung für den Arbeitsmarkt ansehen muß.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3979
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Allerdings gibt es auch in diesem Gesetz Positives.Selbstverständlich sind die Liberalen dafür, daß büro-kratische Hemmnisse abgeschafft werden.
Selbstverständlich sind auch die Liberalen dafür, daßArbeitsvermittler von vermittlungsfremden Tätigkeitenentlastet werden, um den Menschen, die dringend derUnterstützung und intensiver Betreuung bedürfen, hel-fen zu können, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.Sie stellen dabei aber die Weichen falsch. Der Ar-beitsmarkt ist kein Testgelände, sondern ein sensiblerBereich, der auf falsche Weichenstellungen sehr negativreagiert.
Ihre Feldversuche aus dem Elfenbeinturm heraus habenschon Tausende von Arbeitsplätzen im Bereich der ge-ringfügig Beschäftigten und der Scheinselbständigenvernichtet. Sie haben die Bürger bisher als Versuchska-ninchen mißbraucht und schaffen keine neuen Arbeits-plätze. Sie stärken den zweiten Arbeitsmarkt, statt dieIntegration in den ersten Arbeitsmarkt zu unterstützen.Das Ziel muß die Förderung des ersten Arbeitsmarktssein, wobei wir zugestehen, daß es bei einigen Zielgrup-pen sinnvoll sein kann, diesen Einstieg mit Subventio-nen zu erleichtern.
Die Aufstockung der Mittel für Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen hingegen ist nicht sinnvoll. Doch alleindurch die Verkürzung der Fristen bei den Zugangsvor-aussetzungen von zwölf auf sechs Monate werden Siediesen Bereich massiv ausweiten.Herr Riester sagt, all das werde nicht mehr kosten.Ich sage Ihnen, Herr Riester irrt. Es wird zu hohenMehrkosten kommen, wie Sie im nächsten Haushaltfeststellen können.Im Bereich älterer Arbeitsloser verzichten Sie auf dieBeibehaltung der Weiterbeschäftigungsfrist. Das istfalsch; denn diese Menschen werden nach Ablauf derFörderung im Zweifelsfall wieder freigesetzt und demArbeitsmarkt zur Verfügung gestellt. Sie sind dann nochälter und noch schwerer vermittelbar. Die Beschäfti-gungspflicht im Anschluß an die Förderung hat verhin-dert, daß diese Menschen nach Mitnahme der Leistun-gen der öffentlichen Hand einfach wieder auf die Straßegeworfen werden. Die Abschaffung der Meldepflicht istein sehr populistisches Vorgehen. Die F.D.P.-Fraktionist der Überzeugung, daß einem Arbeitslosen nicht zu-viel zugemutet wird, wenn er wenigstens einmal in dreiMonaten zu seinem Arbeitsvermittler geht. Das hat auchnoch den Vorteil, daß man sich im wahrsten Sinne desWortes ein Bild voneinander machen
und miteinander darüber reden kann, wie es weitergehensoll. Der Umstand, daß der Arbeitsvermittler einen Ar-beitsuchenden einladen kann, hat eine ganz andere Qua-lität. Die Meldepflicht sorgt dafür, daß die Initiative derVorsprache vom Arbeitsuchenden auszugehen hat. Eingewisses Maß an Eigenbemühungen bei der Wiederauf-nahme eines Arbeitsverhältnisses, Kollegin Buntenbach,kann man auch Arbeitslosen zumuten.
Denn die Solidargemeinschaft hat ein Anrecht darauf,daß Arbeitsuchende nachweisen, daß sie sich bemühen,Arbeit zu finden.
Die Förderung von Existenzgründern war auch deralten Regierung ein großes Anliegen; deswegen hat auchdie alte Regierung Existenzgründer mit Überbrückungs-geld gefördert. Das unterstützen wir ausdrücklich. Aufder anderen Seite ersticken Sie Selbständigkeit – geradein der Gründungsphase – durch Ihr wirres Gesetz zursogenannten Scheinselbständigkeit.
Man müßte Existenzgründer gerade dazu drängen, Lei-stungen nach dem Arbeitsförderungsrecht in Anspruchzu nehmen; denn dadurch sind sie, nach Lesart von Ar-beitsminister Riester, nicht mehr verpflichtet, zu wider-legen, daß sie scheinselbständig sind. Nur derjenige, dersich ohne Staatsknete selbständig macht, ist der Dumme;denn der muß beweisen, daß er wirklich selbständig ist.Das ist rotgrünes Gesellschaftsbild.
Die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung istder eindeutige Beweis dafür, daß die alte Linke in die-sem Land regiert. Von 298 Abgeordneten Ihrer Fraktionsind 244 Gewerkschaftsmitglieder. Selbst Bodo Hom-bach wird jetzt noch in die Wüste geschickt.
Die Bundesregierung ist in Teilen allerdings lernfähig.Sie hat das von uns bis 2001 verlängerte Programm fürLangzeitarbeitslose richtigerweise verlängert. Ich for-dere Sie auf: Verstetigen Sie dieses gute Instrument,überführen Sie es in den Förderungskatalog der Bundes-anstalt für Arbeit, damit man auch in Zukunft mit diesenMaßnahmen weiterarbeiten kann.Ein letztes Wort zum Interessenausgleichsgesetz derPDS: Natürlich ist es im Interesse der Arbeitslosen, vorEinkommensverlusten geschützt zu werden. Auf der an-deren Seite ist es aber auch im Interesse der Solidarge-meinschaft, daß der Arbeitslose so schnell wie möglichwieder Arbeit aufnimmt. Wir alle wissen, daß man auseiner Beschäftigung heraus, auch wenn sie schlechterbezahlt ist, leichter Arbeit finden kann als aus der Ar-beitslosigkeit heraus. Deswegen müssen wir beide Ge-setzentwürfe leider ablehnen.Vielen Dank.
Dirk Niebel
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3980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
(C)
Für die Fraktion der
PDS spricht nun der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen! Liebe Kollegen! Herr Staatssekretär, es mutet
schon merkwürdig an, wenn Sie vor dem Hintergrund
der Debatte um das Sparpaket davon reden, daß die Ar-
beitslosen ein Recht auf mehr Fairneß haben. Sehen Sie
zu, daß auch das Sparpaket den Arbeitslosen Fairneß
angedeihen läßt.
Herr Kollege Friedrich, es ist genauso merkwürdig,
wenn man auf der einen Seite Maßnahmen gegen Ar-
beitslose im Sparpaket beklagt und auf der anderen Seite
die Maßnahmen in diesem Änderungsgesetz ablehnt.
Vor dem Hintergrund der gestrigen und heutigen De-
batte zum Sozialabbau und der Offenbarung des größten
deutschen Reformers aller Zeiten und seiner denkenden
Kleinrechner mutet der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung wie ein Stück sozialdemokratischer
Vergangenheit, wie ein Stück verlorengegangener Tra-
ditionen an. Damals wußte der Kollege Riester noch,
wofür er angetreten war. Er hatte die Empörung und den
Aufschrei der Millionen Arbeitslosen über die unsozia-
len Gesetze der Kohl-Regierung noch im Ohr: diese
ständige Diffamierung, über diese Abstrafung, über die-
se Disziplinierung und Bevormundung. „Einmal drau-
ßen, immer draußen“, und das zu immer geringeren Lei-
stungen – diese Denkhaltung wurde propagiert. So sah
auch das Arbeitsförderungsrecht im SGB III aus.
Ich würde nie wagen, zu behaupten, daß der Herr
Kollege Riester, die Mitarbeiter in seinem Ministerium
und die sozial- und arbeitsmarktpolitisch engagierten
Abgeordneten der regierenden SPD die Lage von Ar-
beitslosen, von Langzeitarbeitslosen, die Lage von so
oder anders sozial Benachteiligten und bereits Ausge-
grenzten nicht kennen. In den Wahlkämpfen, in den Zu-
sammenkünften und Gesprächen vor Ort haben die Ab-
geordneten der SPD die Beweggründe erfahren, warum
gerade diese Menschen ihre Hoffnungen auf einen Poli-
tikwechsel setzen. Soziale Gerechtigkeit wurde als
Firmenzeichen der traditionsreichen Sozialdemokrati-
schen Partei Deutschlands verstanden. Nie wäre es den
arbeitslosen Wählerinnen und Wählern in den Sinn ge-
kommen, daß der SPD-Bundeskanzler und seine Füh-
rungscrew dieses ehrliche Engagement aus mehr als
hundert Jahren Sozialdemokratie preisgeben.
Heute soll offensichtlich den Banken und Konzernen
soziale Gerechtigkeit widerfahren, deren Gewinne in
den letzten Jahrzehnten den Standort Deutschland an-
geblich so geschwächt haben. Wenn Rechnen wichtiger
ist, als Gerechtigkeit zu schaffen, dann seien die Kolle-
gen Eichel und Riester daran erinnert, daß in einem
mathematischen Produkt die Faktoren ausgetauscht wer-
den können. Wenn man sie austauscht, bleibt das Ergeb-
nis gleich. Um ein Produkt von 100 zu erhalten, kann
man 50 mal 2, aber auch 10 mal 10 rechnen. Der Bun-
desfinanzminister nimmt beispielsweise von 50 Armen
jeweils 2 DM. Der Bundessozialminister sollte dafür
sorgen, daß von 10 Reichen jeweils 10 Mark genommen
werden.
Statt dessen werden erneut nur die Armen zur Kasse
gebeten. Erneut bringen Konzerne, Banken und die
boomende deutsche Industrie nichts in das sogenannte
Reformwerk ein. Mit Ihrem Sparpaket haben Sie ein
Damoklesschwert über den Arbeitslosen aufgehängt.
Auch das Zweite Gesetz zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch ist kein ganz großer Wurf.
Allerdings stimmt es – das muß man sehr deutlich sa-
gen – in der Richtung. Aber es enthält eine Fülle von
sehr richtigen und wichtigen Entscheidungen, deren
Umsetzung von den Arbeitslosen sehr begrüßt wur-
de. Dazu gehört die Regelung über die Förderung der
über 55jährigen für die Dauer von 5 Jahren, die drin-
gend notwendig ist. Man kann darüber reden, ob Men-
schen mit 55 Jahren in Rente geschickt werden sollen
oder nicht. Aber ältere Menschen völlig draußen zu
lassen und ihnen gar keine Hoffnung zu geben, das ist
falsch.
Dazu zählt auch die Abschaffung der Meldepflicht für
Arbeitslose, einer Meldepflicht, die in den Arbeitsäm-
tern für kasernenhofähnliche Zustände gesorgt hat, ohne
daß auch nur ein Arbeitsloser einen Arbeitsplatz erhalten
hat.
Und schließlich gehört dazu die Arbeitswegregelung.
Ich könnte noch andere Beispiele auflisten.
Herr Staatssekretär, Sie haben deutlich gemacht, wel-
ches die richtige Richtung ist. Ich bitte Sie: Sorgen Sie
dafür, daß mit dem Sparpaket die richtige Richtung fort-
gesetzt wird. Setzen Sie diese Richtung auch bei der
Neufassung des SGB III durch, die irgendwann kommen
soll.
Eine Gerechtigkeitslücke wird mit dem Änderungs-
antrag der PDS geschlossen, nämlich die noch immer
vorhandene Abwertung der beruflichen Qualifikation
und die Aberkennung des Anspruchs der Arbeitslosen
auf Sicherung ihres Lebensniveaus beendet.
Zum Schluß stelle ich die Frage: Warum soll ein Ar-
beitsloser nicht das Recht haben, entsprechend seiner
Qualifikation und seinem bisherigen Erwerbseinkom-
men eingestellt zu werden? Ein Beschäftigter, der seinen
Arbeitsplatz wechseln möchte, entscheidet selbst, ob er
auf etwas verzichten möchte oder kann. Es ist nicht ge-
recht, einen Arbeitslosen mit der Androhung des Lei-
stungsentzugs zur Aufnahme einer Beschäftigung unter-
halb seiner früheren Entlohnung zu zwingen. Wir for-
dern die Abgeordneten der SPD und der Bündnisgrünen
auf, unserem Änderungsantrag zuzustimmen und ihn
nicht deshalb abzulehnen, weil er von der PDS stammt.
Es geht um Ihre geschundene Wählerschaft, nicht um
die PDS.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Adolf Ostertag.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3981
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Jeder, der renoviert,
weiß: Bevor etwas Neues aufgebaut werden kann, muß
erst das schadhafte Alte beseitigt werden. Mit unse-
rem Gesetz entrümpeln wir das Arbeitsförderungsrecht.
Wir machen Schluß mit einer ganzen Reihe von un-
sinnigen und kontraproduktiven Bestimmungen, die un-
ter Minister Blüm Eingang ins Arbeitsförderungsrecht
gefunden haben. Kein Gesetz ist in den 90er Jahren so
oft geändert worden wie das AFG, das jetzt SGB III
heißt.
Herr Niebel, Sie haben mit einem Halbsatz aus Ihrer
Rede recht: Das AFG ist ein sensibles Instrument. Nur,
weshalb haben Sie dann 16 Jahre lang an ihm herumge-
fummelt, wenn es doch so sensibel ist?
Ich erinnere an die letzte Änderung in der Kohl-Ära, die
die absurdeste war. Damals mußte das neu geschaf-
fene und bereits vom Parlament verabschiedete SGB III
geändert werden, noch bevor es überhaupt in Kraft
getreten war. Sie haben wirklich Kapriolen geschla-
gen.
Sie haben uns in den letzten Wochen und Monaten
immer wieder vorgeworfen, wir würden die Gesetze zu
schnell auf den Weg bringen und sie mit heißer Nadel
stricken. Manchen Kritikpunkt haben wir uns zu Herzen
genommen; das gebe ich zu. Aber erinnern Sie sich doch
an die eigene Regierungsarbeit. Soviel Mut müssen Sie
schon haben. Packen Sie sich doch einmal an die eigene
Nase, bevor Sie Kritik üben.
Bekanntlich hat Ihre ganze Flickschusterei am AFG
nichts gebracht: Die Arbeitslosenzahlen stiegen konti-
nuierlich. Die Lohnersatzleistungen wurden gekürzt. Die
aktiven Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit wurden – krisenverschärfend – ausgerechnet in
Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zurückgefahren.
Ich möchte eine kleine Bilanz ziehen – heute findet
vielleicht die letzte arbeitsmarktpolitische Debatte in
diesem Parlament statt – und mich gerade an Sie, Herr
Schemken, wenden: Ich habe mir ein an Ihre Fraktion
gerichtetes Schreiben von Norbert Blüm vom 12. Ja-
nuar 1998 mitgenommen. Darin findet man wunderbare
Zahlen zur Arbeitsförderung, sozusagen eine Zehn-
Punkte-Auflistung dessen, was Sie bei der Arbeitsförde-
rung angerichtet haben. Nehmen Sie sich dieses Papier
vom 12. Januar 1998 noch einmal zur Hand, wenn wir in
den nächsten Wochen und Monaten über den Haushalt
diskutieren werden. Da heißt es dann im zweiten Ab-
schnitt:
Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung: Entla-
stungswirkungen 1997 … ca. 38 Mrd. DM.
In den zehn Punkten wird dann aufgeschlüsselt:
1. Haushaltsbegleitgesetze 1983/1984 … Entla-
stungswirkung …
– so heißt es immer schamhaft –
3 Mrd. DM.
2. 10. AFG-Novelle … Entlastungswirkung … 7,5
Mrd. DM.
3. Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsoli-
dierungsprogramms … Entlastungswirkung … 1,5
Mrd. DM.
4. Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidie-
rungs- und Wachstumsprogramms …
– tolle Titel hatten Ihre Gesetze schon; aber sie verklei-
sterten die Realität, weil die Arbeitslosen in Wirklich-
keit ständig abgezockt wurden –
Entlastungswirkung … 12,5 Mrd. DM.
Dann folgen Angaben über das Arbeitslosenhilfereform-
gesetz, das Wachstums- und Beschäftigungsförderungs-
gesetz usw. Das summiert sich insgesamt auf ein Minus
von 38 Milliarden DM.
Nehmen Sie sich Ihre alten Papiere noch einmal vor
und schauen Sie, was Sie angerichtet haben, bevor Sie in
den nächsten Tagen und Wochen mit dem Finger auf
uns zeigen und sagen, wir würden schlimme Einschnitte
vornehmen!
Das Gegenteil ist der Fall; wir machen etwas anderes:
Wir stabilisieren die aktive Arbeitsmarktpolitik auf
einem hohen Niveau, das Sie im übrigen nie hatten, und
führen das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosig-
keit fort, das diesem wichtigen Bevölkerungskreis eine
Perspektive bietet.
Herr Kollege
Ostertag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meckelburg?
Natürlich.
Verehrter HerrKollege Ostertag, könnten Sie mir bestätigen, daß Siegerade unter dem sehr schönen Titel „Deutschland er-neuern“ ein Sparpaket größten Ausmaßes vorgelegt ha-ben, das Sie inzwischen als Glorienschein mit sich tra-gen, worin unter anderem der Wegfall originärer Ar-beitslosenhilfe – 1 Milliarde DM –, Einsparungen bei
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3982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
(C)
Strukturanpassungsmaßnahmen Ost für Wirtschaftsun-ternehmen – 800 Millionen DM –, die reduzierte Erhö-hung der Renten 2000 – 0,7 Milliarden DM – usw. vor-gesehen sind? Würden Sie mir bestätigen, daß Sie nurneun Monate gebraucht haben, um ein riesiges Sparpa-ket auf den Weg zu bringen, um das, was Sie Anfangdes Jahres eingebrockt haben, wieder zurückzuholen?
Herr Meckelburg, Sie ver-
gessen eines: Wir sprechen über einen Haushaltsent-
wurf, den die Regierung gestern beschlossen hat. Die
Einzelheiten werden wir – wie ich gesagt habe – in den
nächsten Wochen und Monaten sicherlich mit Ihnen dis-
kutieren.
Wir bringen einen Haushalt der Solidarität ein, der
von allen Bevölkerungsgruppen verlangt, sich in den
nächsten zwei Jahren bei der Erhöhung ihres persönli-
chen Einkommens mit einer Erhöhung zu begnügen, die
den jeweiligen Preissteigerungsraten entspricht. Das er-
warten wir von den Rentnern, von den im öffentlichen
Dienst Beschäftigten und von den Arbeitslosen.
Das ist ein Unterschied zu dem, was Sie gemacht haben,
die Sie Leistungen massiv gekürzt haben.
Diesen Unterschied müssen Sie begreifen. Bei uns wird
der Zuwachs begrenzt, und das machen wir nicht leich-
ten Herzens. Das ist notwendig, weil wir die Erblast, die
Sie uns hinterlassen haben, Schritt für Schritt aufarbei-
ten müssen.
Begreifen Sie eines: Die neue Regierung legt mit dem
Haushalt 2000 erstmals einen originären Haushalt vor.
Der Haushalt 1999 war ja noch einer, der im wesentli-
chen fortgeschrieben wurde – allerdings waren dabei
schon die zwei Punkte, die ich eben genannt habe,
wichtig: Verstetigung der umfangreichen aktiven ar-
beitsmarktpolitischen Maßnahmen und das Jugendpro-
gramm.
Die Flickschusterei in der Arbeitsförderung, die Sie
zu verantworten haben, wird aufhören. Ich sage Herrn
Friedrich, der vorhin gesprochen hat, daß wir mit diesem
Haushalt in der Tat nicht – wie Sie – das machen, was
ich eben aufgelistet habe, also nicht Jahr für Jahr etwas
Neues.
In den letzten Jahren gab es über 38 Änderungen bei der
Arbeitsförderung. Wir bringen eine Verstetigung und
machen eine Strukturpolitik, die sich wirklich sehen las-
sen kann.
Die Arbeitsförderung soll für die Arbeitsämter prak-
tikabler werden – die Verwaltungsvereinfachung ist an-
gesprochen –, und vor allen Dingen gibt es für die ein-
zelnen Arbeitsämter mehr Entscheidungsspielräume,
denn letzten Endes sollen sie aktiv an dieser Reform
mitarbeiten. Diese Gelegenheit haben die Arbeitsämter
jetzt. Herr Friedrich hat vorhin in etwa gesagt, daß die
Arbeitsämter in Bereiche einbezogen werden, die sie
nichts angehen. Dazu möchte ich sagen: Wir in NRW
zum Beispiel haben schon vor vielen Jahren sehr erfolg-
reich die Verzahnung von aktiver Arbeitsmarktpoli-
tik mit regionaler Strukturpolitik begonnen. Bei die-
sem Vorhaben haben wir versucht, alle Akteure der Ar-
beitsmarktpolitik einzubeziehen. Dazu gehören die Ar-
beitgeber genauso wie die Gewerkschaften. Wesentliche
Akteure sind dabei die Arbeitsämter: Sie verfügen über
einen nicht unbeträchtlichen Teil von Mitteln, können
lenkend eingreifen und den Arbeitsmarkt stützen, also
Brücken bauen. Unsere vielfältigen Maßnahmen – ange-
fangen von ABM über Qualifizierungs- und Umschu-
lungsmaßnahmen bis hin zu den sehr erfolgreichen Ju-
gendprogrammen – belegen, daß man von einer sehr er-
folgreichen Verzahnung von regionaler Strukturpolitik
und Arbeitsmarktpolitik sprechen kann.
De
Rede von: Unbekanntinfo_outline
das Arbeitsförderungsgesetz, das SGB III,zu überarbeiten. Wenn wir in den nächsten Monaten andie Vorbereitung dessen gehen, wird unser generellesZiel, die Akteure auf der regionalen Ebene künftig zustärken, sicher fortgeschrieben werden. Allerdings wol-len wir es nicht so hektisch machen, wie das bei Ihnender Fall war. Sie haben Gesetze in so schneller Folgeverabschiedet, daß zu dem Zeitpunkt, als das BMA dieentsprechenden Verordnungen an die Arbeitsämter ge-schickt hat, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnungoder im Plenum schon das nächste Papier zur Abstim-mung auf dem Tisch lag. Sprechen Sie doch einmal mitden Menschen, die das in den Arbeitsämtern umzusetzenhatten: Sie sind gar nicht mehr herausgekommen aus derArbeit mit den Veränderungsvorschriften, die ihnen aufden Tisch gelegt worden sind.Diese Flickschusterei also muß aufhören. Mit diesemVorschaltgesetz machen wir die Arbeitsförderung fürdie Arbeitsämter praktikabler. Es werden – dies istwichtig – zusätzliche Entscheidungsspielräume gewährt.Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition bei diesem Gesetz heute abstimmenwerden. Denn – wir haben sowohl im Ausschuß als auchhier genau hingehört – das eine oder andere befürwortensie. Hier können Sie sich wirklich einmal den berühmtenRuck geben und einem Gesetz zustimmen, das in dennächsten Jahren Weichenstellungen in die richtigeRichtung vornimmt: effizienter, zielgerichteter und we-niger bürokratisch.Nehmen Sie das Beispiel der Meldepflicht: Wenndie Arbeitsämter von sich weiter arbeitslos meldendenMenschen verstopft sind, ist es doch klar, daß die Leutein den Arbeitsämtern keine Zeit für ihre eigentlicheAufgabe haben. Die Arbeitsämter sollten ja in erster Li-nie Dienstleistungszentren für die Betriebe und die Ar-beitslosen sein. Damit, sich den Stempel abzuholen, istWolfgang Meckelburg
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3983
(C)
(D)
es nicht getan. Vielmehr müssen sich die Arbeitsberaterund -vermittler vor Ort um Arbeitsplätze und Arbeitslo-se kümmern. Das, was Sie mit dem SGB III eingeführthaben, ist eine sinnlose Arbeitsvermehrung zu Lastender Beschäftigten in den Arbeitsämtern. Und es stellte ingewisser Weise auch eine Schikane gegenüber den Ar-beitslosen dar; denn Sie wissen: Wenn das Arbeitsamtjemanden einbestellen will, kann es dies tun. Dies wirdauch künftig so sein.Damit keine Mißverständnisse auftreten: Die SPD be-steht darauf, daß jeder Arbeitslose seine Arbeitskrafteinsetzen muß, soweit er oder sie dazu fähig ist. Sofernvon einzelnen Mißbrauch betrieben wird, werden wirdagegen konsequent vorgehen. Aber wir sind gegen einrein bürokratisches Ritual, wie es die dreimonatige Mel-depflicht für die Arbeitslosen darstellt.
Herr Kollege
Ostertag, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Dr. Grehn?
Ja, bitte.
Herr Kollege Ostertag, ich
gehe davon aus, daß wir darin übereinstimmen, daß die-
ses Änderungsgesetz für mehr soziale Gerechtigkeit
sorgt. Stimmen Sie mit mir auch darin überein, daß die-
ses Änderungsgesetz ein kostenneutraler Weg für mehr
soziale Gerechtigkeit ist? Und wie bewerten Sie im Ge-
gensatz dazu die Regelungen des Sparpaketes, die die
Arbeitslosen betreffen?
Herr Grehn, Ihre Frage habeich eigentlich schon mit der Antwort auf die letzte Zwi-schenfrage beantwortet. Aber ich kann mich gerne wie-derholen: Es handelt sich um einen Haushalt der Solida-rität. Damit, daß die Steigerungsraten nicht so sind, wiesich das die Arbeitslosen und die Rentner ausgerechnethaben, verlangt man in der Tat viel. Aber wir tun immernoch wesentlich mehr als die alte Regierung in denletzten Jahren, insbesondere für die Rentner.Wir kürzen nicht bei der Arbeitslosenhilfe, und wirkürzen auch nicht beim Arbeitslosengeld. Wir werdenmit Ihnen auch im Ausschuß intensiv über den Vor-schlag diskutieren, der zur originären Arbeitslosenhilfeauf dem Tisch liegt. Ich glaube nicht, daß er sozial unge-recht ist. Im übrigen: Wenn es tatsächlich gelingt, einenHaushalt der Solidarität hinzubekommen, der alle Be-völkerungsgruppen beteiligt, dann, so glaube ich, wer-den auch die Arbeitslosen und die Rentnerinnen undRentner Verständnis dafür haben, daß sie zwei Jahrelang nur Zuwächse in Höhe der Preissteigerung habenwerden.
Meine Damen und Herren, die neue Bundesregierungist angetreten, um es besser zu machen. Deshalb machenwir Schluß mit dieser Arbeitsmarktpolitik.
– Mit der F.D.P. müssen wir uns in der Frage der Ar-beitsmarktpolitik wirklich nicht auseinandersetzen. Dastun wir lieber mit der alten Regierung insgesamt,
denn was Sie in den letzten Jahren und auch in diesenTagen, etwa in der Ausschußberatung, geboten haben,wenn es um die Arbeitsförderung ging, das sollte manschleunigst vergessen. Das ist es nicht wert, sich damitauseinanderzusetzen.
Die rotgrüne Bundesregierung räumt mit diesem Un-sinn der vergangenen Jahre im SGB III ganz eindeutigauf. Arbeit statt Arbeitslosigkeit fördern – das war einSlogan, den wir in den letzten Jahren immer wieder ge-braucht haben und den wir auch umsetzen wollen. Ersoll und wird kein Lippenbekenntnis für uns sein, son-dern wir wollen daraus konkrete Politik machen. Diekonkrete Politik schlägt sich jetzt erstmals im Gesetz zurÄnderung des SGB III nieder.Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurfist ein notwendiger Schritt zu einer besseren Arbeits-marktpolitik. Sie können sich darauf verlassen, meineDamen und Herren: Diese Bundesregierung wird derBekämpfung der Arbeitslosigkeit über die gesamte Le-gislaturperiode höchste Priorität einräumen. Wir werdenin dieser Legislaturperiode eine grundlegende Reformder Arbeitsförderung durchführen. Wir werden die Mit-tel für die aktive Arbeitsmarktpolitik auf dem hohen Ni-veau von 1999 verstetigen, solange die Arbeitslosenzahldies erfordert. Wir werden keine Stop-and-go-Politikund -Finanzierung betreiben, wie es in den letzten Jah-ren geschehen ist, sondern Verläßlichkeit für Arbeitsloseund Maßnahmeträger bieten. Das gilt trotz der schwieri-gen Haushaltslage des Bundes. Wir haben hier eindeuti-ge Prioritäten gesetzt.Bereits heute steht fest, daß das erfolgreiche Sofort-programm gegen Jugendarbeitslosigkeit auch im näch-sten Jahr fortgesetzt wird.
Die notwendigen Mittel werden in den Bundeshaushalteingestellt.Wir werden die ersten Ergebnisse des Bündnissesfür Arbeit und Ausbildung gesetzgeberisch umsetzen.Bei einigen haben wir es schon gemacht. Wir werdennächste Woche in diesem Haus über einen dieser Mo-saiksteine unserer Arbeitsmarktpolitik diskutieren. Wirwerden einen Antrag zur Wiedereinführung desSchlechtwettergeldes verabschieden. Ich glaube, dieseMosaiksteine passen gut zu einer neuen Perspektive inder Arbeitsmarktpolitik – nicht nur für Bauarbeiter, son-dern auch für andere Menschen.
Im Ergebnis sind wir auf einem guten Weg hin zumehr Beschäftigung und hin zu einer wirkungsvollerenAdolf Ostertag
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3984 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Arbeitsmarktpolitik. Die ersten Schritte sind getan; dieanderen werden konsequent in dieser Legislaturperiodefolgen.Vielen Dank.
Bevor wir zur na-
mentlichen Abstimmung kommen, gebe ich nun dem
voraussichtlich letzten Redner in dieser Debatte, dem
Kollegen Heinz Schemken, für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Ostertag, da fragt man sich wirklich, wer hier fummelt.
Die Diskussion über dieses Vorschaltgesetz macht deut-
lich, wie kurzfristig, wie kurzatmig und, so möchte ich
fast sagen, wie konzeptionslos diese Bundesregierung
und die Koalition dastehen, was den Arbeitsmarkt an-
geht.
Mit diesem Gesetz bringen Sie nicht mehr Menschen in
Arbeit, sondern weniger; das steht außer Frage. Gerade
die Elemente mit Brückenfunktion, die wir mit dem
AFRG eingebaut hatten, werden in wesentlichen Teilen
zurückgenommen. Gerade der Weg in den ersten Ar-
beitsmarkt könnte eine Brückenfunktion ausüben. Sie
aber verstärken die sozialen Leistungen. Sie nehmen die
Zumutbarkeitsgrenze zurück und kommen damit auch
sicherlich gegenüber den Beitragszahlern in die Be-
weislast. Sie nehmen Teile zurück, auch im Verhältnis
der Zumutungen, der Belastungen der Werktätigen und
der Beitragszahler. Das müssen wir auch einmal berück-
sichtigen. Sie stellen damit das Thema geradezu auf den
Kopf.
Ich frage Sie: Ist dies denn gerechter und sozialer?
Unter dieser Prämisse sind Sie ja im Wahlkampf ange-
treten. Ich sage: nein. Zum Beispiel die Verpflichtung,
daß sich Arbeitslose alle drei Monate bei ihrem zustän-
digen Arbeitsamt melden, verstärkt die Bemühungen,
verstärkt die Arbeitssuche, die Arbeitsbereitschaft und
im übrigen auch die Möglichkeit der Vermittlung. Das
war ein positiver Ansatz.
– Konrad, ja.
Dies ist sozial und gerecht – gegenüber den Beitrags-
zahlern, gegenüber den Leistungsträgern und gegenüber
der Wirtschaft.
Dazu gehört auch die tägliche Pendelzeit. Ich kann
gar nicht einsehen, daß jemand, der einer Arbeit nach-
geht, der in einem Arbeitsverhältnis steht, diese Pendel-
zeiten auf sich nehmen muß
und der Arbeitslose, der in Arbeit soll, Pendelzeiten als
Zumutung empfindet. Dies ist unverständlich.
Ich meine, es gehört zu einer gewissen Gerechtigkeit
und einem gewissen Selbstverständnis, daß dies mitein-
ander übereinstimmen muß.
Die Frage der Tätigkeitsfelder, die Strukturanpas-
sungsmaßnahmen, die Regiearbeit, die Sie wieder för-
dern wollen, all das macht deutlich, daß Sie nicht die
Brückenfunktion in den ersten Arbeitsmarkt, in reguläre
Arbeitsplätze, in erster Linie sehen, sondern daß Sie die
Alimentierung durch den Staat weiter verstärken wollen.
Dies ist nicht unser Weg. Wir wollen gerade die mit-
telständische Wirtschaft in den jungen Bundesländern
befähigen, daß sie sich über die Vergabemaßnahmen
bedient
und letztlich im städtebaulichen Bereich, im Denkmal-
schutz, in der Landschaftspflege mit Hilfe des Syner-
gieeffekts mittelständische Strukturen verstärkt werden
können.
Lieber Kollege
Schemken, einen Augenblick. – Ich bitte wirklich, die
Höflichkeit gegenüber dem Redner zu wahren und keine
halben Fraktionssitzungen mitten im Plenarsaal durchzu-
führen.
Ich bitte wirklich, die Besprechungen in der Mitte des
Saales zu beenden.
Konrad, hör docheinmal zu. – Deshalb ist die Rückführung der Struktur-maßnahmen gerade für die jungen Bundesländer nichtdas, was wir eigentlich erwarten, auch im Hinblick aufdie zukünftige Gestaltung des Arbeitsmarktes dort undinsbesondere in der Schaffung von Strukturen mittel-ständischer und handwerklicher Betriebe.
Dort sind die Arbeitsplätze entstanden. Es konnten gera-de im mittelständischen Bereich in den letzten Jahren300 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden.Die grundsätzliche Erfahrung bei der Umsetzung dieserBrückenfunktion sollte meiner Meinung nach nicht un-terbrochen werden.Adolf Ostertag
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3985
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Herr Kollege
Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Grehn?
– Die Frage habe ich allerdings an den Kollege Schem-
ken gerichtet.
Ich muß eigentlichauf diejenigen Rücksicht nehmen, die dort hinten an derWahlurne stehen. Ich kenne das ja. Es tut mir leid, HerrDr. Grehn. Ich hätte Ihre Frage gerne beantwortet. Dashätte sicherlich auch zur Erheiterung beigetragen. Aberich bin davon überzeugt, daß ich in Ihrer aller Sinn han-dele, wenn ich die Ausführungen geschlossen zurKenntnis bringe.Es ist sicherlich auch richtig, daß wir vor Ort mit denKommunen, mit den Handwerkskammern, mit dermittelständischen Wirtschaft und den Arbeitsämtern die-ses Thema angehen. Es ist von Herrn Ostertag eben ge-sagt worden, es würden mehr Spielräume für kreativesHandeln vor Ort geschaffen. Ja, da frage ich mich: Wowaren wir denn vor zwei Jahren? Wir haben diesen In-novationstopf eingeführt, der 10 Prozent der Mittel freiverfügbar macht,
damit vor Ort in Eigenverantwortung gehandelt werdenkann. Sie haben ein kurzes Gedächtnis.
– Sicherlich, Herr Staatssekretär. Das haben Sie abge-schrieben. Sie wissen das doch. Sie waren doch morgensbei den Obleuten dabei.Aber – ich nenne ein Beispiel aus den jungen Bun-desländern – der Druck der regionalen Handwerkskam-mern – etwa in Leipzig – hat es immerhin möglich ge-macht, daß durch Vergabemaßnahmen der Gebäudesi-cherung und Gebäuderestaurierung ein Projekt von 24Millionen DM mit 500 ABM-Kräften verwirklicht wor-den ist. Davon sind 10 Prozent in den ersten Arbeits-markt überführt worden. Das sind die Beispiele, die wirbrauchen. Deshalb ist die jetzige Rückführung in Re-giemaßnahmen der falsche Weg. Wir kommen dabeivom Ziel ab, nämlich den ersten Arbeitsmarkt zu errei-chen. Das wäre sozial, das wäre gerecht.
Gerade die Übernahme in Dauerarbeitsverhältnis-se, soweit sie das Handwerk angeht, möchte ich zumAnlaß nehmen, den Mittelständlern zu danken, die unsdavor bewahrt haben, daß die Arbeitslosigkeit noch hö-her ausgefallen ist.
Denn gerade in den großen Unternehmen und Konzer-nen wurden die Arbeitsplätze zurückgeführt. Es ist si-cherlich unstrittig, daß Arbeitsplätze vom Mittelstandgeschaffen wurden. Dafür können Sie den Ministerprä-sidenten und ehemaligen Wirtschaftsminister des LandesNordrhein-Westfalen, Herrn Clement, als Zeugen neh-men. Er propagiert das alle Tage. Aber Sie machen hiergenau das Gegenteil.
Ich habe es schon gesagt: Sie gehen den Weg zumanderen Ufer der Alimentierung. Wir wollen eine Brük-ke hinüber in den ersten Arbeitsmarkt. Mit Ihren Maß-nahmen bauen Sie nicht Brücken, sondern brechenBrücken ab. Das ist die Wahrheit.
Ihre ständigen Ankündigungen stellen einen nachhal-tigen Unsicherheitsfaktor dar, und diese negative Ent-wicklung macht sich sogar auf dem Arbeitsmarkt be-merkbar. Es gibt – daran beißt keine Maus den Fadenab; das ist Fakt – in diesem Monat im Vergleich zumselben Monat des Vorjahres weniger Arbeitsplätze.
Ich mache jetzt schon darauf aufmerksam: Wir werdendas, was die Jobs und die Arbeitslosigkeit angeht, saubernachhalten, weil sich die Arbeitslosigkeit alleine schonwegen der demographischen Problematik zurückent-wickelt.
Entscheidend ist, was Sie in der Wirtschaft, im innovati-ven Bereich, bewirken. Mit der Erneuerung, mit derModernisierung muß es auch um neue Jobs gehen.Soeben ist hier noch einmal England angeführt wor-den. Frau Dr. Dückert, Sie haben das auch getan. Dieenglischen Verhältnisse wollen wir bei unserem gesell-schaftlichen Verständnis von sozialer Marktwirtschaftnicht haben. Zwei Drittel der Arbeitsplätze in Englandwerden als Jobs angeboten und sind keine gesichertenArbeitsverhältnisse. Deshalb wollen wir Herrn Blairnicht unbedingt als Zeugen holen. Es wäre bedauerlich,wenn das Schröder/Blair-Papier so übernommen würde.Ich bin einmal gespannt, wie Leute vom Schlage Dreß-lers und Schreiners zukünftig dazu stehen.Meine Damen und Herren, alles in allem geht es umdie Glaubwürdigkeit. Was wir in den letzten Tagen er-lebt haben und was auch heute morgen deutlich gewor-den ist, unterhöhlt das Vertrauen und die Glaubwürdig-keit. Wenn Sie Eichels Sparplänen folgen, dann frageich die Sozialpolitiker unter den Sozialdemokraten:Wollen Sie die Rente wirklich innerhalb von zwei Jah-ren auf 67 Prozent kürzen? Ist das wirklich von Ihnen sogewollt? Ich sage Ihnen: Das ist ein Wortbruch. Sie wis-sen, ich bin sonst sehr vorsichtig, aber ich möchte fol-gendes feststellen: Wer von Ihnen in jüngster Zeit denRentnern die Nettolohnanpassung garantiert hat und die-sem Kürzungsvorhaben zustimmt, muß sich vorhaltenlassen, daß er ein politischer Schwindler oder sogarLügner ist.
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3986 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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– Wenn er diesen Vorschlägen zustimmt und den Rent-nern erklärt hat, daß die nettolohnbezogene Erhöhungbleibt und gesichert wird.
– Ja, Frau Barnett. Ich werde Sie daran erinnern, und wirwerden das auch nachhalten.Ich sage Ihnen abschließend noch eines: Ich wunderemich über den DGB. Sie haben da ja sehr großen Ein-fluß. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten auchnur halbwegs das angekündigt, was Sie jetzt vorhaben.Dann hätten die Gewerkschaften einen Sturmmarsch aufBonn unternommen. Aber die Gewerkschaften habendieses Unternehmen im Wahlkampf nun einmal mitfi-nanziert und sind nun mitgefangen. Ich bedauere dassehr. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn Sie weiterhinin dieser Einvernehmlichkeit mit dem DGB Ihre Politikmachen, dann treten Sie am Ende gegen die kleinenLeute an, verschaffen diesen noch Brüder und Schwe-stern, geben aber draußen vor – und da stellt sich dieFrage der Glaubwürdigkeit –, Anwalt der kleinen Leutezu sein.
– Dann handeln Sie anders!Ich kann nur eines sagen: Die Sozialpolitiker aus denReihen der Koalition müßten, wenn das eintritt, was hierheute morgen auf den Tisch gelegt wurde, eigentlich ge-beugt durch die Lande gehen. Sie müßten rot werden,wenn sie vor den Spiegel treten.
Sie wissen sehr wohl, daß wir in den Ausschüssen dar-über reden werden. Es ist nicht nur ein Stück unehrlicherPolitik, es ist auch Arroganz, die sich hier breit macht.Ich bedauere dies sehr. Dieses Unternehmen, wie Sie esjetzt in die Politik einführen, findet nicht unsere Zu-stimmung. Es schafft keine Arbeitsplätze, es bringt einesoziale Schieflage von großem Ausmaß, und das Ver-trauen in die Politik ist vollends gestört.Schönen Dank.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Änderung des Dritten Bu-
ches Sozialgesetzbuch in der Ausschußfassung auf den
Drucksachen 14/873, 14/1066 und 14/1205 Buchstabe a.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
auf der Drucksache 14/1214 vor, über den wir zuerst ab-
stimmen.
Die Fraktion der PDS verlangt dazu namentliche Ab-
stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich eröff-
ne die Abstimmung.
Darf ich fragen, ob Kolleginnen oder Kollegen im
Saale sind, die ihre Stimme noch nicht abgegeben ha-
ben? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstim-
mung.
– Ich habe doch gefragt, ob Kolleginnen oder Kollegen
im Saale sind, die noch nicht abgestimmt haben. Darauf,
daß dies der Fall ist, gab es von den Schriftführerinnen
und Schriftführern keine Hinweise.
Ich schließe also die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Abstimmung
unterbreche ich die Sitzung.
Liebe Kolleginnenund Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder er-öffnet.Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Änderungsantrag der PDS auf Drucksa-che 14/1214 bekannt. Abgegebene Stimmen 587. Mit Jahaben gestimmt 30, mit Nein haben gestimmt 556, eineEnthaltung. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 587;davon:ja: 30nein: 556enthalten: 1JaPDSDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherEva-Maria Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang Gehrcke-ReymannDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi Lippmann-KastenUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthKersten NaumannRosel NeuhäuserChristine OstrowskiPetra PauDr. Uwe-Jens RösselGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyHeinz Schemken
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3987
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Hartmut Büttner
Cajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Axel E. Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundCarl-Detlev Freiherr vonHammersteinGottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithHubert HüppePeter JacobySusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterDr. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerDieter PützhofenThomas RachelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerHannelore Rönsch
Dr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Hans Peter Schmitz
Birgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerWolfgang SchulhoffClemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerErika SteinbachDr. Wolfgang Freiherrvon StettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblDr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerSPDBrigitte AdlerGerd AndresRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthKurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterLilo Friedrich
Harald FrieseArne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnWolfgang GrotthausKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelVizepräsident Rudolf Seiters
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3988 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Christel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumUwe HikschReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Erika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkChristoph MatschieIngrid Matthäus-MaierHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Marlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenSiegfried SchefflerHorst SchildHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserDr. Mathias SchubertReinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Gunter WeißgerberGert Weisskirchen
Hans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Dieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMarieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleDr. Antje VollmerLudger VolmerHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
F.D.P.Hildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich KolbGudrun KoppVizepräsident Rudolf Seiters
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3989
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(D)
Jürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerJürgen W. MöllemannDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. EdzardSchmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Max StadlerDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleEnthaltenBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSylvia VoßEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Adam, Ulrich, CDU/CSUFreitag, Dagmar, SPDLintner, Eduard, CDU/CSUNeumann , Gerhard,SPDSiebert, Bernd, CDU/CSUBehrendt, Wolfgang, SPDDr. Hornhues, Karl-Heinz,CDU/CSULörcher, Christa, SPDDr. Scheer, Hermann, SPDDr. Wodarg, Wolfgang, SPDBindig, Rudolf, SPDHornung, Siegfried,CDU/CSUMaaß ,Erich, CDU/CSUSchloten, Dieter, SPDZierer, Benno, CDU/CSUBühler , Klaus,CDU/CSUJäger, Renate, SPDMüller , Manfred,PDSvon Schmude, Michael,CDU/CSUDann kommen wir zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf in der Ausschußfassung. Wer stimmt für diesenGesetzentwurf in der Ausschußfassung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionund der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und derF.D.P. angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweitenBeratung angenommen.Damit kommen wir zur Abstimmung über den vonder Fraktion der PDS eingebrachten Entwurf eines Inter-essenausgleichsgesetzes auf Drucksache 14/208. DerAusschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt aufDrucksache 14/1205 unter Buchstabe b, den Gesetzent-wurf abzulehnen.Ich lasse nun über den Gesetzentwurf der PDS aufDrucksache 14/208 abstimmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf der PDS zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit denStimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abge-lehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c – Ent-wicklungspolitische Debatte – auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für wirtschaftliche
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENUnterstützung der demokratischen Entwick-lung in Nigeria– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-JürgenHedrich, Dr. Christian Ruck, Karl Lamers, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUDemokratische Entwicklung in Nigeria unter-stützen– Drucksachen 14/315, 14/283, 14/1243 –Berichterstattung:Abgeordnete Ingrid Becker-InglauMarlies PretzlaffHans-Christian StröbeleGerhard SchüßlerCarsten Hübner b) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für wirtschaftliche
– zu dem Antrag der Abgeordneten KarinKortmann, Brigitte Adler, HermannBachmaier, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Angelika Köster-Loßack, Hans-ChristianStröbele, Rezzo Schlauch und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGegen den Einsatz von Kindern als Solda-ten in bewaffneten Konflikten– zu dem Antrag der Abgeordneten Erika Rein-hardt, Dr. Norbert Blüm, Klaus-JürgenVizepräsident Rudolf Seiters
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3990 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Hedrich, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUGegen den Mißbrauch von Kindern alsSoldaten– zu dem Antrag der Abgeordneten Fred Geb-hardt, Carsten Hübner, Dietmar Bartsch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der PDSEinsatz von Kindern als Soldaten wirksamverhindern– Drucksachen 14/806, 14/310, 14/552, 14/1242 –Berichterstattung:Abgeordnete Karin KortmannErika ReinhardtDr. Angelika Köster-LoßackJoachim Günther
Carsten Hübner c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten GabrieleFograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oe-singhaus, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUN-Sondergeneralversammlung – 5 Jahrenach der Konferenz für Bevölkerung undEntwicklung in Kairo – Aktive Bevölke-rungspolitik in der Entwicklungszusam-menarbeit– zu dem Antrag der Abgeordneten MarliesPretzlaff, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. NorbertBlüm, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU5 Jahre nach Kairo: Umsetzung der Be-schlüsse der Konferenz der Vereinten Na-tionen zu Weltbevölkerung und Entwick-lung 1994– Drucksachen 14/797, 14/446, 14/1239 –Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele FograscherMarlies PretzlaffDr. Angelika Köster-LoßackJoachim Günther
Carsten HübnerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als er-ster Rednerin der Kollegin Karin Kortmann von derSPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergange-nen Woche haben wir in der internationalen Staatenge-meinschaft zwei entscheidende Weichenstellungen füreine armutsorientierte Entwicklungspolitik beschließenkönnen.Die Kölner Entschuldungsinitiative der G-7-Staaten ermöglicht es den hochverschuldeten armenEntwicklungsländern, sich endlich aus der Armutsspi-rale zu befreien und in ihren nationalen Haushaltenfinanzielle Mittel für Armutsbekämpfung, wie unter an-derem für Bildung, Gesundheit und Wasserversorgung,bereitzustellen.
Unser gemeinsamer Dank in diesem Parlament sollteheute unserer Entwicklungsministerin Heide Wieczorek-Zeul gelten,
durch deren unermüdlichen Einsatz es in kürzester Zeitgelungen ist, in der Zusammenarbeit mit den NGOs fürGeber- und Empfängerländer zu einer gemeinsamen er-folgversprechenden Grundlage zu kommen. Es zeigtsich, daß es des politischen Willens bedurfte, festgefah-rene Strukturen zu verändern und nach langem Stillstandauf internationaler Ebene wieder ein Einvernehmen her-zustellen.
Die zweite entscheidende Weichenstellung, die wirauch hier im Parlament beraten haben, wurde vor genaueiner Woche vorgenommen. Da haben nämlich in Genf174 Mitgliedstaaten der Internationalen Arbeitsorgani-sation, ILO, eine neue Konvention zur Beseitigung derschlimmsten Formen der Kinderarbeit verabschiedet.Wir begrüßen die einstimmige Entscheidung der ILO-Konferenz, die schwerwiegenden Formen der Ausbeu-tung von Kindern durch Kinderarbeit weltweit abzu-schaffen.
Es ist kaum vorstellbar, daß nach wie vor schät-zungsweise 50 bis 60 Millionen Kinder im Alter vonfünf bis elf Jahren unter ausbeuterischen und gefährli-chen Bedingungen arbeiten müssen – ein Skandal undein Armutszeugnis für die Welt, in der wir leben und fürdie wir doch alle Verantwortung zu tragen haben.Neben dem Verbot der Sklaverei, des Kinderhandelsund der Prostitution hat die ILO-Konvention unter ande-rem die Zwangsrekrutierung von Kindern für denEinsatz in bewaffneten Konflikten verboten. Dies be-grüßen wir ausdrücklich, denn es war längst überfällig,daß dies geschieht.
Wir wissen, daß Kinder schon immer die Leidtragen-den in bewaffneten Konflikten waren. Sie wurden fürkriegerische Zwecke mißbraucht. Heute stehen wir vorder traurigen Bilanz, daß zirka 300 000 Kinder weltweit,Vizepräsident Rudolf Seiters
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3991
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vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern, inkriegerischen Konflikten eingesetzt werden. Neben demEinsatz als Frontkämpfer in bewaffneten Konfliktenwerden Kinder auch als Handlanger, Spione, Wachen,Leibwächter und sogar als lebendige Schutzschilde oderVoraustrupp für Minenfelder mißbraucht – eine Auf-zählung, die, wie ich meine, kaum tragischer seinkönnte.Das Alter der Rekrutierten liegt meist zwischen 15und 18 Jahren; jedoch belegen Veröffentlichungen, daßimmer mehr Heranwachsende unter 15 Jahren und sogarKinder unter zehn Jahren zum Dienst an der Waffeherangezogen werden. Neben dem direkten Anwerbenkommt es zunehmend zu Zwangsrekrutierungen durchErpressung oder Entführung. Meistens stammen dieOpfer aus sozial und wirtschaftlich benachteiligtenGruppen oder aus Konfliktzonen; sie sind Vertriebeneund Flüchtlinge. Es sind häufig die Armut, die mangeln-de Versorgung und die fehlende Zukunftsperspektive,die diese jungen Menschen in bewaffnete Gruppen trei-ben.Besonders grausam – und deswegen besonders her-vorzuheben – ist das Schicksal von Mädchen. In zahl-reichen Rebellenorganisationen sind sie fester Bestand-teil. Sie werden dort nicht nur wie die Jungen im Kriegeingesetzt, sondern sie sind nach wie vor leider häufigOpfer sexuellen Mißbrauchs und sexueller Ausbeutung.Der Begriff Soldatenbräute ist ein beschönigender Aus-druck für ein nicht wiedergutzumachendes Verbrechenan diesen Kindern, unter deren seelischen Folgen sie einLeben lang leiden und das ihnen häufig eine Rückkehrin ein ziviles Leben unmöglich macht. Ich glaube, es istnicht übertrieben, wenn man sagt, es ist ein Verbrechengegen die Menschlichkeit, das an Millionen von Kindernverübt wird.
Mit unserem Antrag „Gegen den Einsatz von Kindernals Soldaten in bewaffneten Konflikten“ unterstreichenwir, daß es Aufgabe der Politik ist, den umfassendenSchutz von Kindern in bewaffneten Konflikten zu ga-rantieren. Dazu haben wir einen umfassenden Maßnah-mekatalog vorgelegt, der helfen soll, die Menschen-rechte der schutzbedürftigen Kinder zu sichern. Dazugehört für uns zuallererst, daß wir uns bei den Ver-handlungen über ein Zusatzprotokoll zur Kinderrechts-konvention für die Festlegung eines Mindestalters von18 Jahren für Kinder in bewaffneten Konflikten einset-zen. Das schließt sowohl die direkte als auch die indi-rekte Teilnahme an Kampfhandlungen ein. Es muß einZusatzprotokoll verabschiedet werden, das die Rekrutie-rung und Einberufung von Kindern unter 18 Jahren inArmeen sowie ihre aktive Teilnahme an bewaffnetenFeindseligkeiten ausschließt. Das ist dringend erforder-lich.Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierungdarauf hinwirken, daß minderjährige Flüchtlinge, die inihrer Heimat als Kindersoldaten eingesetzt wurden, beiihrer Ankunft in Deutschland psychosoziale Betreuungerhalten. Wir müssen vor allem sicherstellen, daß eineerneute Rekrutierung ehemaliger Kindersoldaten aufDauer ausgeschlossen wird.
Wir haben große Verpflichtungen im Bereich der Rü-stungsexportpolitik und der Waffenherstellung. Ichmöchte Sie auf drei Punkte aufmerksam machen, derenUmsetzung wir vorhaben.Erstens. Gemäß des von der Bundesregierung unter-stützten EU-Code-of-Conduct für Waffenexporte ausden EU-Staaten in Drittländer muß die Menschenrechts-situation im Empfängerland als ein wichtiges Kriteriumfür die Untersagung von Waffenexporten betrachtetwerden.Zweitens. Gemeinsam mit der Bundesregierung wer-den wir uns in Anlehnung an die von ihr initiierte ge-meinsame Aktion der EU weiterhin für Maßnahmen zurBekämpfung der exzessiven und unkontrollierten An-sammlung und Proliferation von Kleinwaffen einsetzen.Drittens. Wir erwarten, daß die Bundesregierung auchweiterhin darauf hinwirkt, daß das Ottawa-Übereinkom-men über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, derHerstellung und der Weitergabe von Antipersonenminenund über deren Vernichtung Universalität erlangt undinternationale Bemühungen zur Minenräumung gestärktwerden.
Wir freuen uns, daß die Bundesregierung unsere An-regung für eine für den Herbst diesen Jahres von der„Coalition to Stop the Use of Child Soldiers“ inDeutschland geplante Konferenz unterstützt undDeutschland Gastgeberland ist.
Es zeigt wieder einmal, wie wichtig die Zusammenarbeitmit den Nichtregierungsorganisationen ist.Ich möchte an dieser Stelle stellvertretend all denje-nigen danken, die sich wie UNICEF, Terre des hommesoder das Jugendrotkreuz national und weltweit gegenden Einsatz von Kindern als Soldaten in bewaffnetenKonflikten einsetzen. Ihnen möchte ich an dieser Stelleausdrücklich Dank sagen. Bleiben Sie uns auch weiter-hin kritische Solidaritätspartner! Die Kinder und wirbrauchen Sie. Dafür danken wir Ihnen ganz herzlich.
Das war die ersteRede der Kollegin Karin Kortmann. Ich möchte ihr dazuim Namen des Hauses herzlich gratulieren.
Karin Kortmann
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3992 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. ChristianRuck, CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige
entwicklungspolitische Debatte findet vor dem Hinter-
grund mehrerer wichtiger Ereignisse der letzten Tage
statt, die unsere Arbeit und unsere Politik beeinflussen
werden. Dazu gehört die ILO-Entscheidung zur Kinder-
arbeit und zu den Kindersoldaten. Darüber sind wir uns
einig. Dazu gehört auch die auf dem Weltwirtschaftsgip-
fel in Köln beschlossene Entschuldung armer Entwick-
lungsländer.
Auch wir begrüßen ausdrücklich die Verhandlungs-
ergebnisse, gemäß denen die Bundesrepublik in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten auf die Rückzahlung
von 3 bis 3,5 Milliarden DM verzichtet. Wir setzen da-
mit die Tradition der Schuldenerlasse in der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit, wie zum Beispiel unter
den Ministern Spranger und Johnny Klein, fort; bisher
wurden bereits Schulden in einer Größenordnung von
9,1 Milliarden DM erlassen. Wir begrüßen auch, daß die
anderen wichtigen Gebernationen für eine Paketlösung
respektablen Ausmaßes gewonnen werden konnten, daß
die Zielmarge für tragfähige Entschuldung abgesenkt
wurde und daß das Fristen- und Mengengerüst flexibili-
siert werden konnte.
Alles in allem gehen wir damit einen für viele hoch-
verschuldete Entwicklungsländer wichtigen Schritt in
die richtige Richtung, der geschlossen vom Parlament
unterstützt wird, zu dem wir aber auch durch eine Viel-
zahl von Nichtregierungsorganisationen, einschließlich
der beiden großen Kirchen in Deutschland, angestoßen
und gedrängt wurden. Auch diesen gilt unser Dank und
unsere aufrichtige Anerkennung.
Eine entscheidende Frage wurde jedoch nicht geklärt,
nämlich wie Entschuldung konkret in Entwicklung um-
gesetzt werden kann. Zwar haben alle Beteiligten, auch
die 16 Bischöfe, die vor kurzem in Bonn waren, versi-
chert, daß die Notwendigkeit einer Konditionierung un-
strittig sei. Wie diese aber konkret aussehen soll, wurde
weder von den Kirchenvertretern noch von anderen Gip-
felteilnehmern endgültig beantwortet. Auch die Gegen-
wertfonds kommen in den Abschlußdokumenten nicht
vor. Das Thema wurde dem IWF und der Weltbank bis
zur Herbsttagung als Hausaufgabe mit auf den Weg ge-
geben.
Ich glaube, wir sind nicht nur deswegen gut beraten,
in der Frage der Konditionierung einen sehr strikten
Kurs zu fahren, weil es um das Geld des deutschen
Steuerzahlers geht. In vielen Fällen besteht die Gefahr,
daß die Entschuldung wirkungslos verpufft, wenn nicht
gleichzeitig in den Ländern selbst grundlegende wirt-
schaftliche, politische und soziale Reformen stattfinden.
Nach einem Neuanfang darf es nicht mit der gleichen
Verschwendung, der gleichen Mißwirtschaft, der glei-
chen Ausbeutung der Armen und der gleichen Umwelt-
zerstörung weitergehen.
Wir haben bis zum Herbst Zeit, den potentiell großen
Einfluß der Bundesrepublik auf Weltbank und IWF zum
Festzurren von Methoden geltend zu machen, damit die
Entschuldungsinitiativen tatsächlich der breiten Bevöl-
kerung und „good governance“ zugute kommen, zum
Beispiel durch wasserdichte und trotzdem unbürokrati-
sche Gegenwertfonds oder durch hieb- und stichfeste
Anpassungsvereinbarungen, die mehr als makroökono-
mische Grunddaten beinhalten.
Die Einmischung in verkorkste innere Angelegen-
heiten mancher Entwicklungs- und Schwellenländer hat
natürlich einen Preis, der über die Entschuldung hinaus-
geht. Wir müssen glaubwürdig und Schritt für Schritt
auch den Protektionismus der EU abbauen und den
Welthandel so liberalisieren, daß auch schwächere Ent-
wicklungsländer ihren komparativen Vorteil zum Tragen
bringen können.
Herr Kollege Ruck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, Frau Staatsse-
kretärin.
Herr
Kollege Ruck, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß bei der Kölner Entschuldungsinitiative sehr wohl
eine Konditionalität eingeführt worden ist, nämlich die
der guten Regierungsführung? Das heißt, daß in Zukunft
Regierungen bzw. Länder sich nicht qualifizieren bzw.
von der Entschuldung ausgeschlossen werden, wenn sie
keine gute Regierungsführung aufweisen, wenn also
zum Beispiel ihre Ausgaben für militärische Zwecke
steigen oder Korruption nicht unterbunden wird.
Nehmen Sie dies bitte zur Kenntnis. Sie haben es näm-
lich eingefordert und so getan, als gäbe es diese Kondi-
tionalität nicht. Deswegen meine Frage, ob Sie zur
Kenntnis nehmen würden, daß es diese Konditionalität
gibt.
Ich antworte Ihnendarauf wie folgt, Frau Eid: Ich habe davon gesprochen,daß diese Konditionierung im Detail nicht endgültigund zufriedenstellend gelöst ist. Auch ich kenne dieTexte, aber wenn „good governance“ wirklich als Krite-rium zum Tragen kommen soll, gibt es noch genug Ar-beit, um für all die Länder, die in Frage kommen, Fallfür Fall zu definieren, was darunter spezifisch für diesesund jenes Land zu verstehen ist. Ich möchte Ihnen einVizepräsident Rudolf Seiters
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Beispiel nennen, wo dieses meines Erachtens schiefge-gangen ist.
– Das gehört allerdings auch noch zur Beantwortungmeiner Frage.
– Ich sage das wegen der Redezeit.Der Fall Elfenbeinküste ist auch unter dem Stichwort„good governance“ geregelt worden; das ist eigentlichschon abgehakt. Trotzdem haben wir, glaube ich, einenFehler gemacht: Wir haben den Forstsektor länderspezi-fisch nicht genau festgezurrt. An der Elfenbeinküsteliegt ein wichtiger Schwerpunkt auf dem Forstsektor. ImRahmen des Klimaschutzes müssen an der Elfenbeinkü-ste die letzten Regenwälder gerettet werden. Wir habenRiesenschwierigkeiten, mit der Elfenbeinküste zusam-menzuarbeiten. Ich will jetzt gar nicht die Details nen-nen; Sie kennen sie wahrscheinlich. Es wäre meiner An-sicht nach wichtig gewesen, in der HIPC-Akte die Ko-operation der Elfenbeinküste auch für den Forstsektor zufordern. Das ist nicht geschehen.Meiner Ansicht nach sind wir im Fall der Gegenwert-fonds, die gerade von den NGOs eingefordert wurden,noch nicht konkret genug geworden, obwohl das einMittel ist, das wir, wenn wir einiges daran verbessern,gut in die Diskussion einbringen könnten. Ich hoffe, ichhabe Ihre Frage damit beantwortet.
Wir haben damit ei-
nen klassischen Fall erlebt, wie man seine Redezeit ver-
längern kann.
So wollte ich das
gar nicht verstanden wissen.
Die Entwicklungsereignisse des Kölner Gipfels treten
angesichts des großen Ereignisses der letzten zwei Tage
allerdings völlig in den Hintergrund, nämlich angesichts
des furchtbaren Desasters, das rotgrüne Politik in unse-
rem Entwicklungshaushalt anrichtet. Die allenfalls
60 Millionen bis 80 Millionen DM pro Jahr, die dem
Bundeshaushalt durch die Entschuldung verlorengehen
und den Entwicklungsländern zugute kommen, sind
nämlich tatsächlich Peanuts im Vergleich zu dem Kahl-
schlag von über 570 Millionen DM im Ressort für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung allein für
das Jahr 2000. Die Katastrophe weitet sich auf ein
Minus von fast 1 Milliarde DM bis zum Jahr 2003 aus.
Meine Damen und Herren, mir klingeln noch die Oh-
ren von den jährlichen entrüsteten Vorwürfen der dama-
ligen Oppositionsredner, wenn unser Haushalt nur leicht
erhöht wurde oder gar – übrigens zu unserem eigenen
Mißfallen – leicht gesunken ist. Im Gegensatz zu uns
haben Sie den Wählern große Zeiten auch im Entwick-
lungshaushalt angekündigt, und dies noch Ende letzten
Jahres. Sie, Frau Ministerin, haben die Trendwende in
der Entwicklungspolitik beschworen – völlig zu Recht;
denn jetzt fallen wir mit unserem Entwicklungshaushalt
auf den Stand von 1988 und 1989 zurück. Sie haben der
dritten Welt sogar noch auf dem Gipfel in Köln eine Er-
höhung der deutschen Entwicklungsmittel zugesagt, und
zwar schriftlich. Das ist nichts anderes als ein giganti-
scher Fall von nationalem und internationalem Vertrau-
ensbruch.
Was haben Sie Minister Spranger und uns damals bei
viel bescheideneren und trotzdem ärgerlichen Kürzun-
gen immer vorgeworfen? Wir hätten uns in der Gesamt-
politik nicht durchsetzen können. Das, was jetzt ge-
schieht, ist im Vergleich dazu ein Erdrutsch, unter dem
Sie alle begraben liegen, ein entwicklungspolitischer Of-
fenbarungseid erster Qualität.
Eines möchten wir festhalten: Unser Entwicklungs-
haushalt wurde verfrühstückt von Lafontaine mit seinen
unverantwortlichen Haushaltssteigerungen im konsum-
tiven Bereich, im Personalbereich an der falschen Stelle,
durch die Rücknahme von Reformen im Renten- und
Gesundheitsbereich, durch die Aufblähung in der Ar-
beitsmarktpolitik usw. usf. Den großen entwicklungs-
politischen Sprüchen folgt nichts anderes als Kahl-
schlag, Steinbruch und Wortbruch; Wortbruch gegen-
über den Kirchen und Stiftungen und anderen engagier-
ten NGOs, deren Mittel Sie in dramatischer Weise
zusammenstreichen – zuerst um 70 Millionen DM
und bis zum Jahr 2003 um sage und schreibe 140 Mil-
lionen DM –, Wortbruch beispielsweise auch gegenüber
den Transformationsländern, die auf unsere Hilfe mehr
denn je angewiesen sind, und Wortbruch auch gegen-
über den Menschen in den Entwicklungsländern.
Die Entwicklungspolitiker der CDU/CSU-Fraktion
hängen zu sehr am Thema, als daß sie Schadenfreude
entwickeln könnten. Wir können auch nachempfinden,
wie den Kollegen der Koalition zumute ist. Aber mit
diesem entwicklungspolitischen Scherbenhaufen können
und wollen wir uns nicht abfinden. Diese Regierung
steht auch in der Entwicklungspolitik für „bad go-
vernance“. Wenn die rotgrüne Bundesregierung dies
nicht schnell korrigiert, können Entwicklungsländer und
Entwicklungspolitiker nur auf einen schnellen Regie-
rungswechsel hoffen. Wir jedenfalls arbeiten darauf hin.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Werner Schuster von der
SPD-Fraktion das Wort.
Deswegen antworteich Ihnen auch, Herr Ruck.Mit Ihrem heutigen Beitrag haben Sie der Entwick-lungspolitik einen Bärendienst erwiesen. Sie wußtenganz genau, daß für die heutige Sitzung primär eineDiskussion über Nigeria beantragt worden war. Es warDr. Christian Ruck
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3994 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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mühsam genug, zu diesem Thema – es geht um dasvolkreichste Land in Afrika; dazu wird Herr Tappenachher noch etwas sagen – eine Beschlußempfehlunghinzubekommen. Dann sind die Themen Kindersoldatenund Weltbevölkerung draufgesattelt worden. BeideThemen hätten einen eigenen Tagesordnungspunkt ge-rechtfertigt. Ich nehme an, daß Sie das genauso sehen.
Daraus ist nun ein entwicklungspolitischer Eisenbahn-zug geworden, den wir alle nicht wollten.Jetzt mißbrauchen Sie diese Debatte nachträglich so-gar noch zu einer Grundsatzdiskussion, obwohl Sie wis-sen, daß wir über den Haushalt im September und No-vember ausführlich reden werden.Nun möchte ich Ihnen aber noch den kleinen Unter-schied deutlich machen: Es tut niemandem mehr weh alsuns Entwicklungspolitikern, daß Kürzungen in diesemBereich stattgefunden haben. Aber wir haben keineSchattenhaushalte zur Verfügung, wir haben die Ver-schuldung nicht verfünffacht. Sie haben es nie geschafft,30 Milliarden DM einzusparen. Wir haben die Beschlüs-se des Bundesverfassungsgerichts nicht zu verantworten.Das ist die Konsequenz Ihrer Familienpolitik. Damitmüssen wir jetzt fertig werden. Wir haben ganz andereVoraussetzungen. Sie haben bei steigendem Gesamt-haushalt gekürzt. Wir kürzen im Rahmen eines drastischgesenkten Haushaltes. Wenn das kein Unterschied ist,Herr Ruck, dann haben wir Probleme, miteinander zudiskutieren.
Deswegen, Herr Blüm, meine herzliche Bitte an Sie:Lassen Sie uns in den nächsten Monaten bis zum No-vember, wenn über den Haushalt entschieden werdenwird, gemeinsam zwei Dinge tun: Erstens. Wenn ge-kürzt werden muß, dann lassen Sie uns bitte schön mitentwicklungspolitischem Sachverstand und nicht mitHaushältersachverstand kürzen und umschichten. LassenSie uns zweitens gemeinsam versuchen, durchzusetzen,daß für den BMZ-Haushalt dasselbe wie für den For-schungshaushalt gilt, daß er nämlich den Zusagen, dieaus gutem Grund in der Koalitionsvereinbarung enthal-ten sind, wenigstens annähernd gerecht wird. Darübersollten wir im Herbst, nicht aber heute im Rahmen einerSachdebatte diskutieren.
Vorsorglich weise
ich darauf hin, daß eine Kurzintervention als Antwort
auf die Kurzintervention des Kollegen Schuster nicht
möglich ist. Allenfalls darf der angesprochene Kollege
Ruck antworten, sofern er dies möchte.
Lieber Kollege
Schuster, daß ich Ihre Interpretation der Ursachen der
Haushaltslage nicht teile, habe ich schon vorhin deutlich
gemacht. Der frühere Finanzminister Lafontaine hat mit
einer beispiellosen Aufblähung des Haushaltes vor allem
im komsumtiven Bereich, die nicht nötig gewesen wäre,
die Grundlage dafür geschaffen, daß der rotgrünen Bun-
desregierung auf allen Feldern das Geld ausgeht. Das ist
die Wahrheit und nichts anderes.
Natürlich sind das Thema Nigeria – ich habe an dem
Antrag selbst mitgestrickt – und noch mehr das Thema
Kindersoldaten sehr ernste Themen; da gibt es kein
Vertun. Aber wenn eine Haushaltsvorlage bekannt wird,
die vorsieht, daß der Entwicklungshaushalt um bis zu
1 Milliarde DM pro Jahr zusammengestrichen wird,
dann geht es um Dimensionen, die wirklich alles in den
Schatten stellen. Durch solche Kürzungen produzieren
wir nicht nur ein Nigeria, sondern viele Nigerias. Des-
wegen bin ich nicht bereit, zu akzeptieren, daß Sie mir
die Themen der heutigen entwicklungspolitischen De-
batte vorschreiben wollen. Gestern ist die Bombe ge-
platzt, heute ist die erste Gelegenheit, darüber zu disku-
tieren. Deswegen müssen wir es heute auch tun.
Das Wort hat nun-mehr für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kol-legin Angelika Köster-Loßack.
Kollegen! Zu dem, was der geschätzte Kollege Ruck ge-rade sagte, nur eine Bemerkung: Der frühere Bundes-kanzler Kohl hat beim UNCED-Gipfel 1992 in Rio ei-nen Aufwuchs des entwicklungspolitischen Budgets auf0,7 Prozent zugesagt. Statt dessen hatten wir 1998 mit0,26 Prozent den Tiefstand erreicht.
Wir müssen die Gesamtentwicklung sehen, was diesenHaushalt angeht, auch wenn wir darüber ebenfalls nichtglücklich sind.Nun komme ich zu den Themen, die wir heute be-handeln wollen, also zur Problematik der Kindersoldatenund zu den Perspektiven der Bevölkerungspolitik fünfJahre nach der Konferenz in Kairo.Es ist erfreulich, daß wir beim Thema Bevölkerungs-politik zu einer interfraktionellen Beschlußempfehlunggekommen sind. Auch bei den Anträgen zu den Kinder-soldaten ist in vielen Punkten Einigkeit festzustellen. Inallen Anträgen wird gefordert, daß der Einsatz vonKindern in bewaffneten Konflikten endlich internatio-nal verboten wird. Das schließt auch an das letzte Wo-che beschlossene ILO-Übereinkommen zu den schlimm-sten Formen der Kinderarbeit an. Der Fortschritt dieserneuen Konvention besteht darin, daß die Altersgrenzevon 15 auf 18 Jahre hochgesetzt wurde. Leider wurde –hauptsächlich auf Druck der Vereinigten Staaten vonAmerika und von Großbritannien – nur die Zwangsre-krutierung von Kindern für den Einsatz in bewaffnetenKonflikten verboten. Ich finde es dagegen notwendig,Dr. R. Werner Schuster
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daß jeder Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflik-ten künftig geächtet wird.
In diesem Zusammenhang sollte auch der deutscheVerteidigungsminister ernsthaft prüfen, die Ausbildungund den Dienst von unter 18jährigen an der Waffe ein-zustellen. Dies würde die internationale Glaubwürdig-keit Deutschlands erhöhen, die wichtig dafür ist, endlichein Abkommen zum Verbot jeder Teilnahme von Kin-dern an bewaffneten Konflikten durchsetzen zu können.
Psychosoziale Betreuung für geflüchtete Kindersol-daten in Deutschland muß möglich gemacht werden;denn ohne den Versuch, wenigstens die schwerstenTraumatisierungen abzubauen, wird die Spirale der Ge-walt in die nächsten Generationen hineingetragen.Wir wollen auch die Menschenrechtssituation inden Empfängerländern als wichtiges Kriterium für dieUntersagung von Waffenexporten einführen. Gerade indieser Frage wird sich zeigen, ob wir die richtigen Leh-ren aus dem Kosovo-Krieg ziehen.Wir müssen die Instrumente der zivilen Krisenprä-vention stärken und Waffenexporte in Zukunft viel re-striktiver handhaben.
Dazu gehört für mich auch eine bessere Mittelausstat-tung in den kommenden Haushalten im Hinblick auf diezivile Krisenprävention. Krisenprävention im Vorfeldkriegerischer Auseinandersetzungen ist menschenrecht-lich geboten und in jeder Hinsicht billiger als militäri-sche Gewalt. Das haben wir immer wieder – leider meistohne Erfolg – schon bei der alten Regierung angemahnt.Die Vorgeschichte des Kosovo-Krieges liefert hier einabschreckendes Beispiel von unterlassener Hilfeleistung.
Aber auch unsere eigene Regierung wird an der Ge-wichtung von Krisenprävention gemessen werden.Mädchen sind als Kindersoldaten einer doppeltenDiskriminierung ausgesetzt; insbesondere sind sie Opfersexueller Gewalt. Wir fordern die Bundesregierung auf,sich auch in diesem Zusammenhang für die Beseitigungeklatanter Menschenrechtsverletzungen einzusetzen.Zur Überprüfung von Verstößen gegen internationaleÜbereinkommen ist es außerdem wichtig, daß wir daraufhinarbeiten, daß Kinder Dokumente erhalten, aus denenihr Alter hervorgeht. Auch setzen wir uns gemeinsamdafür ein, daß sich die Bundesregierung für die univer-selle Geltung des Ottawa-Übereinkommens zum Verbotvon Antipersonenminen einsetzt; denn Minen stellen inbewaffneten Konflikten insbesondere für Kinder einebesondere Gefährdung dar.In diesem Zusammenhang verdient auch die von denEU-Entwicklungshilfeministern aufgenommene Initiati-ve der neuen Regierung zur Eindämmung der Verbrei-tung von Kleinwaffen jede Unterstützung. Ich finde eswichtig, darauf hinzuweisen, daß es dem Einsatz derBundesregierung zu verdanken ist, daß eine der vierweltweiten Regionalkonferenzen zum Thema Kinder-soldaten im Herbst in Berlin stattfinden wird, wo allediese Fragen nicht nur diskutiert werden können, son-dern hoffentlich auch zu einem guten Abschluß gebrachtwerden.
Wenn wir uns das riesige Problem der Überbevölke-rung und der zunehmenden Armut in vielen Entwick-lungsländern vergegenwärtigen, wird klar, daß Bevölke-rungspolitik auch in Zukunft ein Schwerpunkt der Ent-wicklungszusammenarbeit sein muß. Bisher werden dieZiele des Kairoer Aktionsprogramms von der Bundesre-gierung mit jährlich 450 Millionen DM unterstützt. Ausmeiner Sicht muß vor allem die Sexualaufklärung vonJugendlichen gefördert werden; denn ungewollteSchwangerschaften und gefährliche Methoden desSchwangerschaftsabbruchs gefährden eine verantwortli-che Familienplanung und vor allem die reproduktiveGesundheit von Mädchen und Frauen.Entscheidend für den Erfolg aller dieser Maßnahmenist die Stärkung der Stellung der Frauen. Nur wenn dieseZugang zu Grundbildung, Basisgesundheitsdiensten undzu unabhängiger Existenzsicherung erhalten, läßt sichder fatale Kreislauf von Unwissenheit, Armut und Über-bevölkerung durchbrechen.
Ich komme zum Schluß. Es ist besonders notwendig,mit Regierungsinstitutionen, aber auch mit den Initiati-ven der Zivilgesellschaft in Nord und Süd zusammenzu-arbeiten, die die von mir beschriebenen Ziele vertretenund unterstützen. Mit den Regierungen gibt es in diesemZusammenhang oft Probleme.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner
spricht für die F.D.P.–Fraktion der Kollege Gerhard
Schüßler.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte eineVorbemerkung machen – Herr Schuster hat schon daraufhingewiesen –: Für eine entwicklungspolitische Debattemit drei wichtigen Themen ist eine Zeit von einer Stun-de absolut unangemessen.
Dr. Angelika Köster-Loßack
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3996 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Es stimmt einen sicherlich nachdenklich, wenn man sichfragt, ob diese kurze Debattenzeit nicht einen Hinweisauf den Stellenwert der Entwicklungspolitik in diesemHause gibt. Ich habe es besonders schwer, weil ich insieben Minuten zu drei wichtigen Themen etwas sagenmöchte. Ich werde es versuchen.Mit der Vereidigung des neuen Präsidenten Obasanjoin Nigeria am 29. Mai 1999 ist nach mehr als 15 Jahrendie Militärdiktatur zur Demokratie zurückgekehrt. Oba-sanjo, der sein Land 1979 aus freien Stücken zur Demo-kratie zurückgeführt, freie Wahlen organisiert und dieMacht an eine zivile Regierung übergeben hat, bietetjetzt wohl Gewähr dafür, daß der Demokratisierungs-prozeß fortgesetzt wird und die Generäle keinen Vor-wand mehr haben, wieder die Macht an sich zu reißen.Jedoch hat der neue Präsident außerordentlichschwierige Aufgaben zu bewältigen. Einige Landesteilestreben nach Unabhängigkeit. Die Wirtschaft steht trotzreicher Ölvorkommen am Rande des Zusammenbruchs.Korruption und Mißwirtschaft erschweren den Neube-ginn. Zur weiteren Festigung der Demokratie und zurwirtschaftlichen Stabilisierung ist Nigeria gerade in die-ser Übergangsphase stark auf Hilfe von außen angewie-sen. Die Unterstützung Nigerias kann und darf sich nichtauf positive politische Signale beschränken, sondernmuß sich auch auf die Aufhebung der gegen Nigeriaverhängten Sanktionen sowie auf die Wiederaufnahmeder Entwicklungszusammenarbeit erstrecken.
Die Bundesregierung hat auch am Ende ihrer EU-Ratspräsidentschaft bezüglich dieser Unterstützung einebesondere Verantwortung.Die vom Kölner G-8-Gipfel verabschiedete Entschul-dungsinitiative kommt für Nigeria eigentlich genau zumrichtigen Zeitpunkt. Für uns, die F.D.P.-Fraktion, diediese Initiative begrüßt hat, ist es besonders wichtig, daßEntschuldungsmaßnahmen zukünftig von wirtschaftli-chen Rahmenprogrammen und solider Haushaltsführungabhängig gemacht werden sollen, die für die wirtschaft-liche Gesundung Nigerias von essentieller Bedeutungsind.
Wir bedauern außerordentlich, daß es nicht gelungenist, an dem ursprünglich geplanten interfraktionellenAnsatz festzuhalten und einen gemeinsamen Antragvorzulegen. Aber da wir den nunmehr vorliegenden An-trag der Regierungskoalition aktiv mitgestaltet haben,werden wir ihm auch zustimmen.Noch schrecklicher als die Bilder hungernder Kindersind die erschütternden Bilder kleiner Geschöpfe, dienicht in die Schule, wo sie hingehören, sondern mit demGewehr unter dem Arm in den Krieg geschickt werden.Als manipulierbare Werkzeuge mißbraucht, kommenHunderttausende von ihnen bei Kampfeinsätzen, beiMinenräumungen und bei Selbstmordkommandos umsLeben. 600 000 Kinder und Jugendliche wurden allein inden 90er Jahren bei Kampfeinsätzen verwundet oderverstümmelt. Diejenigen, die mit dem Leben davon-kommen, sind zumeist drogenabhängig und in jedemFalle seelisch verroht. Neben Sklavenhaltung und Folterist der Einsatz von Kindersoldaten eine der verab-scheuungswürdigsten Politiken unserer Zeit.
Die zivilisierte Staatengemeinschaft muß diesemUnwesen überall dort, wo es auftritt, entschlossen undentschieden entgegentreten. Die F.D.P.-Bundestagsfrak-tion begrüßt, daß es gelungen ist, zwischen den Mit-gliedstaaten der Internationalen Arbeitsorganisation,ILO, einen Konsens über die Konvention zum Verbotgefährlicher Kinderarbeit einschließlich der Zwangsre-krutierung minderjähriger Soldaten zu erzielen.Diese Konvention muß jetzt zügig ratifiziert werden.Es ist zu hoffen, daß von ihr die gleiche disziplinierendeWirkung wie von vielen anderen großen UNO-Konventionen ausgeht. Es kann nicht hingenommenwerden, daß sich einige Staaten von einem Mindeststan-dard an humanitärer Verantwortung für die jüngere Ge-neration verabschieden und die eigenen Kinder als Ka-nonenfutter in den Krieg schicken.Gerade auch im Lichte der soeben unterzeichnetenKonvention ist es aus Sicht der F.D.P.-Bundestagsfrak-tion unerläßlich, daß die deutsche und die von uns mit-getragene europäische Entwicklungspolitik konsequentund kompromißlos jede Form der entwicklungspoliti-schen Zusammenarbeit mit solchen Regimen ablehnt,die die Rekrutierung von Kindersoldaten fördern oderdulden. In diesem letzten Punkt hat der Antrag derCDU/CSU-Fraktion eine wesentlich eindeutigere For-mulierung als der Koalitionsantrag. Deswegen wird dieF.D.P.-Fraktion dem CDU/CSU-Antrag zustimmen.Lassen Sie mich zuletzt ein paar Sätze zur Weltbe-völkerungskonferenz sagen. Seit der Weltbevölke-rungskonferenz von Kairo sind Bevölkerungspolitik undFamilienplanung bereits unter der früheren Bundesregie-rung ein zentraler fachlicher Schwerpunkt der entwick-lungspolitischen Zusammenarbeit gewesen. Sie wardurch einen integrierten Ansatz gekennzeichnet, der dieAkzente auf die Erweiterung des Angebotes von Fami-lienplanungsleistungen und die Verbesserung der wirt-schaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerung insbe-sondere in den Bereichen allgemeine Gesundheit, Bil-dung und Frauenförderung legte. Wir nehmen mit Ge-nugtuung zur Kenntnis, daß die neue Bundesregierungdiese erfolgreiche Politik fortzusetzen gedenkt.
Nach den statistischen Erhebungen der VereintenNationen hat sich das Bevölkerungswachstum in die-sem Jahrzehnt erstmals verlangsamt. Diese positiveEntwicklung ist in erster Linie auf die verbesserte Auf-klärung insbesondere der weiblichen Bevölkerungzurückzuführen. Das zeigt, daß der Aktionsplan desWeltbevölkerungsgipfels in vielen Ländern umgesetztwird.Dennoch gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Denntrotz erster sichtbar werdender Erfolge ist ein wirklicherDurchbruch nicht erzielt worden. Daher dürfen wir inunseren Anstrengungen nicht nachlassen. LangfristigGerhard Schüßler
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 3997
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kommt es darauf an, daß sich eine erfolgreiche Bevölke-rungspolitik als Querschnittsaufgabe versteht, die beiallen Entwicklungsanstrengungen berücksichtigt werdenmuß. Die Regierungen der Entwicklungsländer müssenFamilienplanung und Aufklärung in ihre Entwicklungs-strategien aufnehmen. Diese müssen integraler Be-standteil aller Projekte der entwicklungspolitischen Zu-sammenarbeit werden.
Meine Damen und Herren, die beiden vorliegendenAnträge unterstützen diesen Ansatz und stimmen im üb-rigen in ihrer Analyse und in ihren operativen Forderun-gen weitgehend überein. Es handelt sich um eine umfas-sende Zwischenbilanz des fünf Jahre nach Kairo Er-reichten und der noch erforderlichen Anstrengungen.Die Förderung der Eigenverantwortlichkeit einzelnerLänder und nationaler Regierungen zur Verbesserungder rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturenwird nachhaltig eingefordert.Der gemeinsamen Beschlußempfehlung des Aus-schusses stimmen wir zu, weil sie die Kernforderungenliberaler Entwicklungspolitik enthält.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Carsten Hübner von der
PDS das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Eines ist noch nicht ange-sprochen worden, deswegen mache ich das jetzt: DieEntscheidung dieses Hohen Hauses, die Entwicklungs-politik endlich einmal wieder in der Kernzeit und nichtimmer in den frühen Nachtstunden zu debattieren, wareine gute Entscheidung. Denn die Fragen der Entwick-lungszusammenarbeit, die Fragen nach einer gerechtenWeltwirtschaftsordnung, die Fragen nach ziviler Kon-fliktprävention und -bewältigung, die Fragen nach derLösung globaler Probleme und die Fragen nach den so-zialen, ökologischen und menschlichen Auswirkungender neoliberalen Globalisierung in weiten Teilen derWelt müssen im Zentrum einer Politik stehen, die nichtnur Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit im Munde führt,sondern sich auch tatsächlich die Bekämpfung vonElend, Hunger, Krieg und Unterentwicklung auf dieFahnen geschrieben hat und die in einem weiteren Sinneine nachhaltige Entwicklung in allen Teilen der Weltbefördern will.Die Freude darüber, daß die Entwicklungspolitik imBundestag zu einer öffentlichkeitswirksamen Tageszeitdiskutiert wird, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,daß dieses eigentlich positive Moment durch das relati-viert wird, was ich einmal als einen entwicklungspoliti-schen Gemischtwarenladen bezeichnen möchte. Ich fra-ge mich ernsthaft: Wer ist eigentlich auf die Idee ge-kommen, die Themen Kindersoldaten, Bevölkerungspo-litik und Entwicklung in Nigeria in einem einzigen Ta-gesordnungspunkt abhandeln zu wollen?
Die Kollegen Schuster und Günther haben darauf bereitshingewiesen. Fachliche Aspekte können dafür jedenfallsnicht das Motiv gewesen sein. Viel eher war wohl derWunsch, drei Fliegen mit einer Klappe aus der parla-mentarischen Welt zu schaffen, ursächlich für diesenTagesordnungspunkt.
Damit ist der Status quo der Entwicklungspolitik lei-der wiederhergestellt, obwohl doch gerade der Kosovo-krieg und der G 7/G 8-Gipfel nachdrücklich daraufaufmerksam gemacht haben, wie wichtig es ist, sichrechtzeitig mit dem nötigen Ernst und in ausführlicherDiskussion mit entwicklungspolitischen Fragen zu be-fassen. Im Ergebnis bedeutet die jetzige Situation, daßeine kleine Fraktion wie die PDS – ähnlich wie dieF.D.P. – drei wichtige entwicklungspolitische Themenin fünf Minuten abhandeln muß. Ich konnte das im Kopfausrechnen: 1,6 Minuten für jedes Thema – das ist beimbesten Willen absurd.
Das ist um so bedauerlicher, als der parlamentarischeWerdegang von zwei der drei Themen, die hier zur De-batte stehen, nicht gerade als politisches Glanzlicht auf-leuchtet. Ich beziehe mich nur einmal auf die Frage derKindersoldaten. Bei den Anträgen zu den Kindersol-daten haben die mitberatenden Ausschüsse für Auswär-tiges, für Menschenrechte und für Verteidigung dem fe-derführenden Ausschuß für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung in ihren Stellungnahmen ange-raten, die drei Anträge von SPD und Grünen, vonCDU/CSU und von PDS auf Grund offenkundiger in-haltlicher Parallelen zu einem interfraktionellen Antragzusammenzufassen. Das war letzte Woche.Und was ist gestern im AWZ geschehen? Angeblichauf Grund zeitlicher Probleme stand ein interfraktionel-ler Antrag gar nicht erst zur Debatte. Jeder Antrag stehtnun doch einzeln zur Abstimmung, obwohl wir uns wohlalle einig sind – dahin gehend wurde auch gesprochen –,daß uns in dieser brisanten Frage ein einheitliches frak-tionsübergreifendes Votum durchaus gut zu Gesichtegestanden hätte, als ein Signal der Geschlossenheit die-ses Parlaments gegenüber all jenen, die meinen, siekönnten Kinder für ihre schmutzigen Kriege mißbrau-chen und damit ihr Leben zerstören.
Aber wie so oft siegt auch hier offenbar Parteiegoismusüber Fachlichkeit. Man muß das einfach so empfinden.Bei der Bevölkerungspolitik ist es, wenn auch anders,ähnlich unbefriedigend gelaufen. Ich gehe darauf jetztGerhard Schüßler
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nicht weiter ein. Es hätten noch viele Fragen diskutiertwerden müssen, zum Beispiel die Frage, ob Armut,Elend und Unterentwicklung tatsächlich ein Ergebnisder sogenannten Überbevölkerung sind oder ob die er-bärmliche Lage in vielen Teilen der Welt nicht eher Er-gebnis einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, einerungerechten Ressourcenverteilung zugunsten der Rei-chen und auf Kosten der Armen ist.
Statt dessen ist in den Anträgen viel von regionalen Ur-sachen und Interventionen die Rede. Im AWZ konntenwir diesen Widerspruch allerdings nicht klären, lediglichrudimentär diskutieren. Auch dafür galten zeitlicheGründe als Argument.Ich frage Sie deshalb hier: Machen wir es uns insge-samt nicht ein wenig einfach mit dieser Thematik? Wirddiese Thematik durch diesen Tagesordnungspunkt nichtim Grunde diskreditiert?Punkt drei ist Nigeria, was im wahrsten Sinne desWortes ein weites Feld wert gewesen wäre. Denn sosehrman den Demokratisierungsprozeß dort begrüßt, sowichtig ist es, dennoch abzuwägen zwischen dem, wasunsere Wunschvorstellungen sind, was eingeleitete Re-formen sind und was sich in der Praxis tatsächlich be-reits bewegt hat. Es gibt Anzeichen, die sowohl eine po-sitive als auch eine negative oder eine interessiert-abwartende Haltung begründen könnten; denken Sie nuran die derzeitigen bürgerkriegsähnlichen Auseinander-setzungen in den Ölförderregionen. Aber auch daraufkann ich jetzt leider nicht weiter eingehen.Deshalb möchte ich hier nur abschließend sagen: Ichkann nur hoffen, daß die interessierte Öffentlichkeit eineausführlichere Auseinandersetzung einfordern wird. Ichbin mir sicher, sie wird diese Diskussionsprozesse umeiniges sorgfältiger und mit einem sehr viel größerenZeitfonds organisieren. Den Themen wäre es angemes-sen.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Tappe von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Trotz der kurzen Zeit freut esmich, daß wir wieder einmal Gelegenheit haben, eineafrikapolitische Debatte führen zu können, die im Ge-gensatz zu der in den Medien weit verbreiteten Darstel-lung Afrikas als Kontinent der Katastrophen steht.Durch diese undifferenzierte Form der Berichterstattungwird doch in der Öffentlichkeit viel zuwenig wahrge-nommen und gewürdigt, daß es in diesem gebeuteltenund geschundenen Kontinent eine Vielzahl positiverTrends und Entwicklungen gibt, die bei allen zeitweili-gen Rückschlägen hoffnungsvolle Perspektiven eröff-nen. Das trifft besonders auf Nigeria zu.Weil wir, die entwickelten Länder, Teile der Proble-me sind, unter denen Afrika leidet, müssen wir verstärktunsere Verantwortung wahrnehmen und Teil der Lösungwerden. Angesichts unserer Mitverantwortung verdienendie positiven Entwicklungen, die in vielen LändernAfrikas trotz allem stattgefunden haben, nicht nur unse-ren Respekt, sondern vor allem unsere tatkräftige Unter-stützung.
Das trifft besonders auf die vier Schlüsselländer Sub-sahara-Afrikas zu, die sowohl für eine friedvolle Ent-wicklung des gesamten Kontinents als auch für die je-weilige Region von zentraler Bedeutung sind: die Re-publik Südafrika für den südlichen Teil Afrikas, derSudan für das östliche Afrika, der Kongo für die Regionder großen Seen und eben Nigeria für Westafrika.Gerade aus Nigeria kommen seit Monaten eine Füllehoffnungsvoller Signale. Der friedliche Übergang vonder Militärdiktatur und der SchreckensherrschaftAbachas über Abubakar, der an der aktuellen Entwick-lung in Nigeria großen Anteil trägt, bis hin zum frei ge-wählten neuen Präsidenten Obasanjo gibt Anlaß zu gro-ßer Hoffnung.Obasanjo hat sehr schnell deutliche Zeichen gesetzt.Für Menschenrechtsverletzungen und Ausbeuteraktivi-täten mitverantwortliche Offiziere sind entlassen wordenund sollen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Men-schenrechtssituation hat sich spürbar verbessert. Vielepolitische Gefangene sind wieder auf freiem Fuß. Nachdem Beispiel Südafrikas ist eine Wahrheitskommissioneingesetzt worden, die die Verbrechen der Militärdikta-tur aufarbeiten soll. Der Kampf gegen Korruption istglaubhaft in Gang gesetzt worden, und – das finde ichein wichtiges Symbol – die sterblichen Überreste KenSaro-Wiwas und seiner hingerichteten Gefährten sollenehrwürdig beigesetzt werden können.Für mich sind das mutmachende Zeichen dafür, daßes Obasanjo ernst meint mit good governance. Dennochmuß uns klar sein: Wenn auch wir wollen, daß ObasanjoErfolg hat und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und dieEinhaltung der Menschenrechte in Nigeria auf Dauer ei-ne realistische Chance haben sollen, dann geht das nurmit massiver westlicher Hilfe.
Aber dazu ist es erforderlich, daß wir die Konditio-nierung unserer Entwicklungszusammenarbeit gegen-über Nigeria relativieren. Herr Schüßler, da wage ichIhnen zu widersprechen; denn jeder von uns weiß, daßdieses Land auf Grund seiner Ölvorkommen – es istweltweit der zehntgrößte Erdölproduzent – nicht unterdie Kriterien eines Entwicklungslandes fällt, aber den-noch durch die verbrecherische Politik der Militärs alleMerkmale eines solchen Entwicklungslandes aufweist.Der größte Teil der Bewohner in diesem mit120 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten LandAfrikas lebt unterhalb der Armutsgrenze, und die Ver-schuldung ist so groß, daß trotz des Ressourcenreich-tums die Probleme der Unterentwicklung aus eigenerCarsten Hübner
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Kraft über eine absehbare Zeit leider nicht gelöst werdenkönnen. Allein die Altschulden gegenüber Deutschlandbetragen nach meiner Information rund 7 MilliardenDM. Genau hier liegt das größte Problem für eine nach-haltige positive Entwicklung Nigerias.Die Wiederaufnahme bzw. Verstärkung der deut-schen und europäischen Entwicklungszusammenarbeitund die Aufhebung der verhängten Sanktionen werdenihren Beitrag leisten, das Land zu stabilisieren. Ich be-fürchte jedoch, daß Nigeria ohne ein umfassendesSchuldenmoratorium nicht die Kraft finden kann, seineProbleme in absehbarer Zeit zu lösen. Das wäre einVerhängnis für die gesamte Region.Nigeria hat mehr Einwohner als alle anderen afrikani-schen Länder Westafrikas zusammen. Deren Volkswirt-schaften sind in der regionalen WirtschaftsgemeinschaftECOWAS eng miteinander verflochten. Ein erneuterAbsturz Nigerias hätte somit zwangsläufig schlimmeFolgen auch für solche Länder in der Region, die sich inden letzten Jahren mit Erfolg auf den Weg gemacht ha-ben, eine soziale Demokratie zu entwickeln. Ich willbeispielhaft Benin, Ghana, die Côte d'Ivoire, den Sene-gal und Mali nennen. Wenn wir also eine Balkanisierungder Verhältnisse in ganz Westafrika vermeiden wollen,dann braucht Nigeria unsere uneingeschränkte Unter-stützung und Hilfe.
Ich bin deshalb froh, daß wir uns in der Beurteilungund der Bedeutung der nigerianischen Situation in die-sem Hause einig sind. Die gemeinsame, heute zur Ab-stimmung stehende Entschließung zur Unterstützung derdemokratischen Entwicklung in Nigeria macht das deut-lich. Sie ist ein wichtiger Schritt zu einer neuen GATT-Runde, nicht auf der Grundlage der Uruguay-Verhandlungen, sondern, wie mir neulich ein Afrikanergesagt hat, als „German-African think-tank“.Danke schön.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marlies Pretzlaff von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Herrn Tappe fürdiese ausführliche Darstellung der Probleme Afrikas undNigerias sehr dankbar. Ich möchte auch aus unseremHause hier dem neugewählten Präsidenten Nigerias,der noch nicht einmal einen Monat im Amt ist, HerrnObasanjo, und seiner neuen Regierung eine glücklicheHand und gute Entscheidungen wünschen.Es ist wirklich kein leichtes Unterfangen, die schwe-ren Versäumnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten, dieimmer noch andauernden Konflikte zwischen den ver-schiedenen Ethnien dieses Völkerstaates zu befriedenund, wie er es sich vorgenommen hat, einen breitenKonsens zwischen allen Parteien und einer völlig ver-armten Bevölkerung herzustellen.Es wird – das ist auch meine Befürchtung; die Ent-wicklungspolitiker haben Nigeria im Mai besuchen kön-nen – ein schwerer Weg für ihn werden. Nigeria brauchtunsere Hilfe. Auch in der Entwicklungspolitik müssenwir wieder verstärkt versuchen, den Menschen dort zuhelfen.Ich denke, eine der Ursachen der wirklich schlimmenZustände in Nigeria – das ist mein zweites Thema – istdas Bevölkerungswachstum. Nigeria hat 3 Prozent Be-völkerungswachstum, eines der höchsten der ganzen Er-de. Dies ist zeitweilig sogar forciert worden.Meine Damen und Herren, seit dem Rio-Gipfel 1992wird in fast allen entwicklungspolitischen Reden undDebatten die Senkung des Bevölkerungswachstums alsVoraussetzung jeglicher nachhaltigen Entwicklung undZukunftssicherung beschworen. Aktionspläne und Ab-sichtserklärungen nutzen aber wenig, selbst wenn sievon 180 Staaten unterzeichnet werden, wenn die Umset-zung nur halbherzig geschieht und die Finanzierung derMaßnahmen nicht gesichert ist.Ich möchte Sie wirklich ernsthaft darauf aufmerksammachen, daß im Jahre 1800 die erste Milliarde Men-schen auf der Erde erreicht war und daß wir damalsnoch 130 Jahre brauchten, um die zweite Milliarde zuerreichen. In nur 70 Jahren – von 1930 bis 1999 – ist dieErdbevölkerung auf nun sechs Milliarden Menschen an-gewachsen. Da wir alle wissen, daß sich die Erdoberflä-che nicht vergrößert, können wir uns ausrechnen, wiedringend dieses Problem ist und daß wir darüber eigent-lich eine eigene Debatte hätten führen müssen.
Wir alle wissen um die negativen Auswirkungen desschnellen Bevölkerungswachstums in den Entwick-lungsländern. Ich will nur einige aufzählen: die Ver-knappung der natürlichen Ressourcen, die Verschärfungder Ernährungsprobleme, die rasante Verstädterung undMigration, vermehrte Krisen und Konflikte, erhöhterDruck auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt ein ver-zögertes Wirtschaftswachstum. Wir alle wissen auch,daß Frauen besonders betroffen sind. Denn Frauen undMädchen sind vor allen Dingen in den Entwicklungslän-dern immer noch unterprivilegiert, auch in den Familien.Ungeplante Schwangerschaften, zu frühe Heiraten undzu frühe Geburten sowie eine immer noch viel zu großeKinder- und Säuglingssterblichkeit beeinflussen ganzwesentlich den Zuwachs der Bevölkerung.Seit der Konferenz in Kairo im Jahre 1994 bemühensich die Industrie- und die meisten Entwicklungsländer,das Bevölkerungswachstum mit ihrer jeweiligen wirt-schaftlichen und sozialen Leistungsfähigkeit in Einklangzu bringen, und tatsächlich ist die Geburtenrate leichtgesunken. Die durchschnittliche Kinderzahl ist in denletzten 30 Jahren beachtlich gefallen, und zwar immer-hin von 6,1 auf 3,5 je Elternpaar. Aber selbst bei weiterfallender Geburtenrate wird die Bevölkerung wachsen,und zwar auf neun Milliarden bis zwölf Milliarden Men-Joachim Tappe
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schen in den nächsten 50 Jahren. Dies ist ein Zeitraum,der zumindest für unsere Kinder noch wichtig sein wird.Ich will dies begründen: Erstens. Tatsache ist, daßderzeit eine Milliarde Jugendliche im Alter von 15 bis24 Jahren, also im heiratsfähigen Alter sind, die großeMehrheit von ihnen ohne jegliches Wissen um Familien-planung, Geschlechtskrankheiten und Vorsorgemöglich-keiten.Zweitens. Die Eltern von morgen sind schon heutegeboren; denn in vielen Entwicklungsländern sind 40Prozent bis 50 Prozent der Gesamtbevölkerung unter 15Jahre alt.Drittens noch ein anderer Aspekt: Die weltweit ver-besserte Gesundheitsversorgung und der medizinischeFortschritt verlängern zunehmend auch die Lebenser-wartungsspanne der älteren Menschen in den Entwick-lungsländern.Die Weltbevölkerung wird also weiter wachsen. Aberwir können dieses Wachstum beeinflussen, zum Beispieldurch Frauenförderung und eine – wie wir es in unse-ren Anträgen formuliert haben – bevölkerungspolitischeKomponente, die in allen Entwicklungsprojekten Einzughalten sollte.Zum Schluß möchte ich noch etwas mir ganz Wichti-ges betonen: Zwangsmaßnahmen, die einem auch in denSinn kommen, wenn man das Bevölkerungswachstumbeeinflussen will, zum Beispiel Sterilisation, erzwunge-ne Schwangerschaftsabbrüche oder die Tötung weibli-cher Föten, lehnen wir mit aller Entschiedenheit ab, FrauKöster-Loßack.
Denn die Zahl der Nachkommen und die Abständeder Geburten frei und eigenverantwortlich zu bestimmenist ein Menschenrecht, und zwar ein Menschenrechtnicht nur der Männer, sondern auch der Frauen.Dieses Recht auf Familienplanung umfaßt auch denZugang zu modernen Verhütungsmitteln, zu den erfor-derlichen Kenntnissen und muß allen Menschen welt-weit ermöglicht werden. Deshalb unsere erneute Initiati-ve zur aktiven Bevölkerungspolitik. Wir meinen, fünfJahre nach Kairo ist es wichtig, daß wir wieder einmaldarüber sprechen.In einigen Tagen findet eine Sondergeneralver-sammlung der UNO statt. Wir in diesem Hohen Hausewollen – ich hoffe, einstimmig – dazu beitragen, daß wirMenschen auch künftig auf dieser Erde leben und über-leben können.Danke.
Alsnächster Redner hat der Kollege Christian Ströbele vomBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Kollegen! Entwicklungspolitik muß das Ziel haben,menschenwürdige Lebensbedingungen für die Völkerherzustellen und den Schutz sowie die Wahrung der na-türlichen Lebensgrundlagen zu erreichen. Darüber sindwir uns in dieser allgemeinen Form im Deutschen Bun-destag inzwischen wohl einig.Einig sind wir uns inzwischen offenbar auch darüber,daß den ärmsten Ländern mindestens ein Teil ihrerSchulden – am besten alle – erlassen werden muß. Eswar ja nicht immer so, daß darüber Einigkeit bestand.Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist bei dem Gip-fel am letzten Wochenende in Köln geschafft worden,und das war gut so.Wir haben auch gehört – und das ist richtig –, daßEntschuldung allein aber der großen Mehrheit der Be-völkerung in diesen Ländern nicht hilft, daß trotzdemArmut bleibt, daß Abhängigkeit bleibt, Unterdrückungbleibt. Deshalb muß die Entschuldung an Konditionengebunden werden. Die Frage ist – darüber sollten wiruns dann im Ausschuß und sicherlich auch in zukünfti-gen Debatten hier im Bundestag weiter unterhalten –:Wie müssen diese Konditionen aussehen? Wie sind siekontrollierbar, und wie kann garantiert werden, daß siewirklich zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisseder großen Mehrheit der Bevölkerung führen?Wir reden hier aber heute nicht über eines der ärm-sten Länder, für die Entschuldung in Betracht kommt,sondern wir reden hier heute über Nigeria, an sich einreiches Land: reich an Bodenschätzen und nicht nur anÖl. Aber wir müssen feststellen, daß dieser Reichtumdes Landes keineswegs einen Reichtum für die Gesamt-bevölkerung bedeutet. Ein großer Teil der BevölkerungNigerias hat nichts von dem Reichtum des Landes. DieUmweltschäden sind unermeßlich. Wir erinnern uns anFernsehbilder von zerstörten Gegenden, an die Schädendurch Emissionen von Raffinerien, die von Firmen, dieauch hier in Deutschland oder in Europa ansässig sind,angerichtet werden. Diese Emissionen haben in großenTeilen des Landes Landwirtschaft unmöglich gemacht.Mangroven- und Regenwälder sind vernichtet worden.Die Bevölkerung kann nicht einmal das Benzin bezah-len, das nach Nigeria reimportiert werden muß. Größ-tenteils lebt sie in Armut und leidet sogar Hunger. DieGesellschaft dort leidet in den letzten Jahrzehnten unterKorruption, Unterdrückung, Aggression und Krieg.Wir erinnern uns – auch das ist angesprochen worden– an den Schriftsteller Ken Saro-Wiwa, der 1995 ver-urteilt und gehenkt wurde, weil er sich für mehr Demo-kratie in seinem Land eingesetzt hat. International wurdeNigeria isoliert, und es wurden Sanktionen verhängt unddurchgehalten. Jetzt hofft Nigeria auf internationaleHilfe.Die Situation hat sich in den letzten Monaten tatsäch-lich verbessert, wenn ich auch die Euphorie der Hoff-nungen nicht teilen kann. Bei den Wahlen, die in Nigeriastattgefunden haben, gab es nur eine ganz geringe Be-teiligung der Bevölkerung – das hatte Gründe; zum Teillag die Wahlbeteiligung bei 10 Prozent; das muß mansich einmal vor Augen führen –, und es gab auch Unre-gelmäßigkeiten bei der Durchführung der Wahl. DasMarlies Pretzlaff
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dürfen wir nicht vergessen. Wir müssen auch feststellen,daß zwar politische Gefangene freigelassen wordensind, daß aber immer noch politische Gefangene in denGefängnissen sind und daß es in der Bevölkerung immernoch Aufstände gegen Armut, gegen Hunger und Unter-drückung gibt.Wir haben uns entschlossen, mit dem fraktionsüber-greifenden Antrag, den wir im Bundestag eingebrachthaben, die Bundesregierung aufzufordern, den begonne-nen Reformprozeß – dieser ist ohne Zweifel vorhanden– nachhaltig zu unterstützen. Das heißt, wir setzen unsdafür ein, daß alle politischen Gefangenen freikommen,daß die Menschenrechte gewährleistet werden, daßRechtsstaatlichkeit gesichert und demokratische Struktu-ren entwickelt werden.Demokratie heißt für uns natürlich auch, daß die Be-völkerung, und zwar alle ethnischen Bevölkerungsgrup-pen, bei der Umverteilung der Erdölerlöse beteiligt wird,daß sie mitbestimmen kann. Es darf in Zukunft nicht soweitergehen, daß die Militärs ihre Taschen und ihreKonten in der Schweiz und in anderen Ländern Europasfüllen. Vielmehr muß erreicht werden, daß dieserReichtum des Landes der gesamten Bevölkerung zugutekommt.
Rechtsstaatlichkeit muß für uns heißen: Bekämpfungvon Korruption und Vetternwirtschaft. Nur wenn dasgeschieht, soll auch die technische ZusammenarbeitSchritt für Schritt wieder aufgenommen werden, um dieLebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern unddie unermeßlichen ökonomischen Schäden wenigstenszu lindern.Zu einer gerechten Wirtschaftsordnung gehört, daßdie ökologische Situation und die Lebensgrundlagen derMenschen verbessert werden. Ebenso wie bei der Ent-schuldung der ärmsten Länder wollen wir auch bei Ni-geria die Entwicklungshilfe, die wieder aufgenommenwerden soll, konditionieren, also von überprüfbaren Be-dingungen abhängig machen, die sicherstellen, daß dieseHilfe der Gesamtbevölkerung nützt. Sonst droht dieEntwicklungshilfe – das hört sich absurd an, aber es istso – eine Hilfe zur Unterdrückung der Bevölkerung undzur Aufrechterhaltung von Elend und Armut zu werdenund einer ungerechten Wirtschaftsordnung geradezu zudienen. Deshalb sind die Konditionen und deren Über-prüfung so ungeheuer notwendig.Wir im Deutschen Bundestag und die deutsche Bun-desregierung sind aufgefordert, dafür zu sorgen, denMenschen dort so zu helfen, daß sie ihre Verhältnisseselber regeln können, daß sie mitbestimmen können unddaß sie eine bessere Zukunft haben werden.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Erika Rein-
hardt von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir alle habenbegrüßt, daß auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln einSchuldenerlaß beschlossen worden ist. Aber dem 1995auf dem Weltsozialgipfel gesteckten Ziel, bis 2015 dieabsolute Armut zu halbieren, sind die Industrieländerdurch diesen Schuldenerlaß leider nicht nähergekom-men.Der Schuldenerlaß ist die eine Seite, eine nachhaltigeEntwicklungspolitik die andere. Im Zentrum jeder ge-meinsamen Anstrengung muß die Verbesserung derrechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen stehen. Dazu gehören die Verbesserung derGesundheitsvorsorge, der Zugang zu Bildung undAusbildung genauso wie eine Verbesserung der Stel-lung der Frau und die Notwendigkeit der Familienpla-nung.Der in Köln beschlossene Schuldenerlaß für die ärm-sten Länder soll davon abhängig sein, ob diese die Men-schenrechte achten und sich verpflichten, das einge-sparte Geld – soweit man hier überhaupt von einge-spartem Geld sprechen kann – nicht zum Waffenkaufzu verwenden. Die Bundesregierung muß kontrollie-ren, ob diese Voraussetzungen, nämlich die Achtungder Menschenrechte und die Nichtverwendung des Gel-des für den Kauf von Waffen, wirklich eingehalten wer-den.Das heißt auch, daß die Länder, die die deutscheEntwicklungshilfe empfangen, nicht gleichzeitig denEinsatz von Kindersoldaten billigen und fördern dür-fen.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, strikt dar-auf zu achten, daß deutsche Gelder nicht in Entwick-lungsländer fließen, in denen Kindersoldaten eingesetztwerden.In kriegerischen Auseinandersetzungen werden zu-nehmend Kindersoldaten eingesetzt. Nach dem Berichtdes zuständigen Berichterstatters der Vereinten Natio-nen, Otunnu, sind rund 300 000 Jungen und Mädchenunter 18 Jahre weltweit als Soldaten in Regierungsar-meen und Rebellenverbänden aktiv. Das entspricht – dasmuß man sich einmal vorstellen – der Stärke unsererBundeswehr. In mindestens 25 Konfliktgebieten werdenKinder ab sieben Jahre für Minenräumen, Spionage undSelbstmordanschläge eingesetzt. Dabei werden die spe-ziellen Eigenschaften von Kindern gezielt genutzt: Siesind leichter zu manipulieren und zu kontrollieren alsErwachsene; sie kosten weniger in bezug auf Essen undSold.Die Rekrutierung der Kinder erfolgt durch Zwang.Um sie gefügig zu machen, wird sehr oft mit Drogen ge-arbeitet. Oft werden die Kinder gezwungen, ihre Ge-schwister zu töten, um sie noch gefügiger zu machen.Kinder sind aber die Zukunft der menschlichen Zivilisa-tion. Sie dürfen nicht als Schachfiguren in einem Krieg,weder als Opfer noch als Täter, mißbraucht werden.Wir fordern die Bundesregierung auf, sich weltweitfür die Rechte der Kinder und für die Umsetzung desHans-Christian Ströbele
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Verbots der Rekrutierung von Kindern in bewaffnetenKonflikten einzusetzen.
Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die Mobilisierungder öffentlichen Meinung. Nur so kann ein politischesKlima erzeugt werden, das den Mißbrauch von Kindernals Soldaten verhindert. Über das bittere Unrecht, dasdiesen Kindern zugefügt wird und unter dem sie ihr Le-ben lang leiden, muß öffentlich gesprochen werden. Da-bei darf es keine Tabus geben.Es gibt eine vorbildliche Kampagne, die „Youth mustact“ des Deutschen Jugendrotkreuzes – die KolleginKortmann hat ebenfalls eine Kampagne genannt; es gibtverschiedene –, die sich gegen den Einsatz von Kinder-soldaten richtet. Davon ist ein enorm positives Signalausgegangen; es ist auch eine Öffentlichkeitswirksam-keit erreicht worden. Es gibt viele Institutionen und Or-ganisationen, die sich dem angeschlossen haben. Ichmöchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all denen,die sich an dieser Kampagne beteiligt haben, bedanken.Ich glaube, daß sie alle auch unsere Unterstützung brau-chen.
Entwicklungspolitik muß auch vorbeugen. Es kannund darf nicht sein, daß Kinder, statt lesen und schreibenzu lernen, zum systematischen Töten erzogen werden.Der Zugang zu Bildung und Ausbildung für Kinder inden armen Ländern muß deshalb deutlich verbessertwerden. Hier sind natürlich in erster Linie die Regierun-gen der Entwicklungsländer gefordert. Hierfür muß esAnreize geben, und da können wir Hilfestellung leisten.Ich glaube, dies ist ganz wichtig; denn nur gebildeteKinder sind starke Kinder, und starke Kinder sind nichtmanipulierbar.In der zukünftigen Entwicklungsarbeit muß verstärktdarauf geachtet werden, daß Maßnahmen zur Demobili-sierung und Resozialisierung von Kindersoldaten geför-dert werden. Die Wiedereingliederungsprojekte sindvermehrt anzubieten.Meine Damen und Herren, Kinderrechte sind Men-schenrechte. Deshalb muß das Thema „Kindersoldaten“in der Entwicklungspolitik verstärkt berücksichtigt wer-den. Ich fordere die Bundesregierung auf, alles zu tun,damit es ein Ende des Mordens von Kindern gibt.Wir haben unseren Antrag bereits im Januar vorge-legt. Leider Gottes ist es nicht zu einem gemeinsamenAntrag gekommen; wir haben uns darum bemüht. Wirhaben und werden uns auch jetzt wieder bei der Ab-stimmung über den Antrag der SPD und der Grünen, derRegierungskoalition, enthalten. Es würde Ihrerseits einStück Glaubwürdigkeit bedeuten, wenn Sie unseren An-trag hier nicht ablehnten, wie es im Ausschuß geschehenist.Herzlichen Dank.
DasWort hat nun die Bundesministerin für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczo-rek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurdevorhin angesprochen: Am letzten Wochenende hat derGipfel der G 7/G 8 eine umfangreiche Entschuldungs-initiative beschlossen, die aus meiner Sicht mit Fug undRecht als Jahrhundertwerk bezeichnet werden kann. Da-durch sollen den ärmsten Entwicklungsländern im Um-fang von 70 Milliarden US-Dollar die Schulden erlassenwerden, was für viele Millionen Menschen, vor allenDingen für die Kinder, dort eine Chance eröffnet.
Das ist der erste multilaterale Schuldenerlaß. Das Zu-sammenwirken von Nichtregierungsorganisationen undRegierungen ist auch ein Beispiel dafür, wie es in derglobalen Entwicklung der Weltwirtschaft möglich ist,Elemente der Strukturen sozial und wirtschaftlich zu ge-stalten, ein Beispiel, das von fortschrittlichen Regierun-gen und Nichtregierungsorganisationen in vielen ande-ren Initiativen aufgegriffen und nachgemacht werdensollte.Es wird eine bilaterale Entschuldung der Bundesre-gierung gegenüber Nicaragua, Honduras, Bolivien, El-fenbeinküste, Guyana und darüber hinaus gegenüberGhana, Senegal und Kamerun geben, und zwar unterden Kriterien, die vorhin genannt worden sind. Wir, vorallem ich, werden selbstverständlich auch bei der Welt-bank dafür sorgen, daß die Kriterien, die wir gesetzt ha-ben, wirklich befolgt werden.
Heute morgen haben wir den Entwurf des Bundeska-binetts für den Haushalt 2000 diskutiert. Er zeigt einenzweiten Handlungsstrang der Bundesregierung auf. Wirmüssen nämlich nach der verheerenden Finanzpolitikder früheren Bundesregierung auch eine Entschul-dungsinitiative für die Finanzpolitik des Bundes einlei-ten.
Dies führt zu einem enormen Einsparpaket, an dem sichalle Einzelhaushalte beteiligen müssen. Wer auch immerin den kommenden Tagen und Wochen mit irgendwel-chen Rechenkunststückchen Politik machen will: Ichwerde mich daran nicht beteiligen. Fakt ist, daß in derEntwicklungspolitik im kommenden Jahr 576,5 Millio-nen DM eingespart werden müssen. Dies bedeutet einenschmerzhaften und von mir nicht gewollten Einschnitt inallen wichtigen Bereichen der Entwicklungszusammen-arbeit.Wir werden bei der Umsetzung dieser Einschnittestreng darauf achten, daß wir unsere erfolgreiche Arbeitin der bilateralen und multilateralen ZusammenarbeitErika Reinhardt
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dennoch fortsetzen können, und wir werden vor allenDingen unsere neuen Akzente und Schwerpunkte deut-lich machen.
Das gilt etwa für den Zivilen Friedensdienst, der neugeschaffen wird und jetzt in Gang kommt. Ich sage andieser Stelle: Ich hoffe, daß, wenn der erste Einsatz desZivilen Friedensdienstes stattfindet, auf ihn mindestensso viele Kameras gerichtet sind, wie das sonst bei militä-rischen oder anderen Einsätzen der Fall ist.
Frau
Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Weiß?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Ger-
ne.
Herr
Weiß, bitte schön.
Frau
Bundesministerin, nach Ihren Äußerungen zum Entwurf
des Bundeshaushaltes: Müssen Sie nicht Ihre gesamten
Ankündigungen – Erhöhung des Entwicklungshilfeetats
bzw., wenn es zu Kürzungen kommt, dann doch wenig-
stens bei der Entwicklungshilfe weniger kürzen als an-
derswo – als gescheitert und konterkariert erklären,
nachdem der Entwicklungshilfeetat um 8,7 Prozent ge-
senkt wird, während der gesamte Bundeshaushalt durch-
schnittlich um 1,6 Prozent gesenkt wird, das heißt der
Entwicklungshilfeetat der Etat ist, der weit überdurch-
schnittlich abgesenkt wird? Stehen Sie nicht vor dem
Bankrott Ihrer eigenen Erklärung und Ihrer eigenen
Entwicklungspolitik?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Er-
stens habe ich gesagt, daß der gleiche Anteil für jeden
Etat gilt. Das können Sie auch nachlesen. Das ist die
Zahl, die ich Ihnen eben genannt habe.
Zweitens. Ich gehöre zu den Personen, die sich auch
in schwierigen Situationen nicht der politischen Verant-
wortung entziehen. Entwicklungspolitik ist eine Aufga-
be, die auch und gerade unter solchen Bedingungen ge-
leistet werden muß. Jetzt kommt es darauf an, daß wir
die Schwerpunkte, die wir uns vorgenommen haben, tat-
sächlich umsetzen.
Jetzt will ich dazu noch folgendes sagen. Auch bei
dem Zivilen Friedensdienst, den ich eben angesprochen
habe, geht es darum, dafür zu sorgen, daß die Arbeit öf-
fentlich stärker anerkannt wird. Ich habe gesagt, ich
kann immer nachmittags um 15 Uhr im BMZ ein Brie-
fing über den Fortgang der Friedensarbeit des Zivilen
Friedensdienstes geben, damit auch die öffentliche
Aufmerksamkeit auf diese wirklich friedenssichernde
Arbeit gelenkt wird.
Alles, was zur Friedenssicherung geleistet werden
kann – das gilt für das Engagement gegen den Einsatz
von Kindersoldaten, für das Engagement gegen Waf-
fenexporte und genauso für das Engagement gegen den
illegalen Transfer von Kleinwaffen –, gehört zu den
Schwerpunkten, die wir weiterhin setzen werden, ebenso
wie die Entschuldungsinitiative.
Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, will
ich auf folgendes hinweisen: Wir werden – das ist den
geschätzten Kollegen der CDU entgangen – mit dem
Wiederaufbau in Südosteuropa einen zusätzlichen
Schwerpunkt in unserer entwicklungspolitischen Zu-
sammenarbeit setzen. Dafür stehen unserem Ministeri-
um 200 Millionen DM zur Verfügung, die dazu beitra-
gen sollen, daß der Wiederaufbau der Region, vor allem
aber die Hilfe für die betroffenen Menschen im Kosovo
unterstützt wird. Das ist eine Aufgabe, die sich unser
Ministerium besonders vorgenommen hat und der wir
uns mit aller Entschlossenheit stellen werden.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen
Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU.
Herr Präsi-dent! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! FrauMinisterin, ich hatte Ihnen in der Debatte im Mai gera-ten: Nehmen Sie den Mund nicht zu voll! Damals – daswar im letzten Monat, nicht im letzten Jahr – haben Sieangekündigt: Es gibt eine Trendwende, die Mittel wer-den aufgestockt. – Sie haben es in der Tat geschafft –das haben Sie persönlich zu verantworten –, eineTrendwende einzuleiten, nämlich mit 8,7 Prozent vonden Soll-Zahlen.Aber das ist noch nicht alles. Wir haben die Kollegenauch darauf hingewiesen, daß sie beim Haushalt von denIst-Zahlen ausgehen müssen. 1998 wies der Entwick-lungshilfeetat knapp 8 Milliarden DM aus. Sie landenjetzt bei 7 Milliarden DM. Das ist eine Kürzung vonmehr als 10 Prozent. Es ist überhaupt keine Trendwendezum Besseren zu erwarten, sondern Ihr Etat wird zu denwenigen Einzeletats des Bundeshaushalts gehören, beidenen weiter gespart wird. Es werden 1,9 Prozent in2001, 1,7 Prozent im Jahre 2002 und 2 Prozent im Jahre2003 eingespart.Ich kann auf eines verweisen: Sie haben einen beam-teten Staatssekretär im Finanzministerium, der seit Jahrund Tag – ich sage das in aller Deutlichkeit – versucht,dem Entwicklungshaushalt ans Leder zu gehen. Wir ha-Heidemarie Wieczorek-Zeul
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4004 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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ben mit Mühe und Not eine stärkere Reduzierung derMittel verhindern können. Wir haben es im letzten Jahrgeschafft, daß die Mittel gestiegen sind. Zum erstenmalist dieser Mann bei Ihnen wirklich im wahrsten Sinn desWortes erfolgreich gewesen, und Sie stehen vor denScherben Ihrer Politik.Vor dem Hintergrund der Entschuldungsinitiative, dievon uns begrüßt wird, möchte ich einen weiteren Punktansprechen. Es handelt sich um Peanuts. Der KollegeRuck hat darauf hingewiesen. Sie haben gestern im Aus-schuß gesagt, es gehe um 60 bis 80 Millionen DM Ent-lastung für die Entwicklungsländer. Im Haushalt geht esjetzt um 580 Millionen DM. Um es pathetisch und emo-tional zu formulieren: Sie nehmen den Armen im näch-sten Jahr 500 Millionen DM weg. Das ist das ErgebnisIhrer Politik.Es kommt aber noch schlimmer. Sie haben wissent-lich und vorsätzlich Ihren G-7-Partnern etwas Falscheserzählt. Sie haben den Bischöfen etwas Falsches erzählt,und Sie haben der Öffentlichkeit etwas Falsches erzählt;denn Sie haben in dem Dokument von Köln erklärt, dieMittel für die Entwicklungshilfe würden steigen. DasGegenteil ist der Fall, und das ist nicht anständig.
Frau
Ministerin, wollen Sie erwidern? – Ja, bitte schön.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Ich
möchte auf eines hinweisen: Einen Schuldenerlaß in ei-
nem Umfang von 70 Milliarden US-Dollar hat es über-
haupt noch nicht gegeben. Er umfaßt in der Tat 60 bis
80 Millionen DM, die dem deutschen Haushalt fehlen
werden. Das ist eine Leistung zugunsten von vielen
Millionen Menschen mit einem vergleichsweise gerin-
gen Aufwand. Das, denke ich, ist eine gute Sache. Das
ist eine Trendwende; denn Sie haben bisher jeden mul-
tilateralen Schuldenerlaß verhindert.
Sie haben ihn über Jahre hinweg blockiert. Das ist eine
Neuorientierung, weil Sie sich in den internationalen
Gremien als Bremser aufgeführt haben. Deshalb, Herr
Hedrich, sage ich es Ihnen an dieser Stelle noch einmal:
Wer selbst über Jahre hinweg in der Verantwortung ge-
standen und dazu beigetragen hat, daß solche Sachen
blockiert wurden, der sollte sich dafür schämen und sich
nicht in einer solchen Diskussion zu Wort melden.
Ein Zweites möchte ich noch sagen: Es geht in der
entwicklungspolitischen Debatte darum, daß die
Schwerpunkte, die wir gesetzt haben, auch wirklich um-
gesetzt werden. Es stellt doch ein gewisses Maß an Heu-
chelei dar, wenn die Redner Ihrer Fraktion in der De-
batte heute morgen sagen, es sei nicht genug gekürzt
worden, Sie aber bei konkreten Diskussionen das genaue
Gegenteil sagen. Gelinde gesagt halte ich das für sehr
unehrlich.
Sie haben die Haushaltsmisere zu verantworten. Ste-
hen Sie auch dazu, wie Sie Ihre Verantwortung über 16
Jahre hinweg wahrgenommen haben! Nehmen Sie die-
ses auf sich, und halten Sie sich mit Kritik dieser Art an
der Finanzpolitik sehr zurück!
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die
Kollegin Gabriele Fograscher von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Es tut mir schon etwasleid, daß wir die knapp bemessene Debattenzeit jetzt füreine Haushaltsdebatte verwenden, die ja an andererStelle ausführlich geführt werden müßte. Sie wird jaauch noch stattfinden.
Natürlich ist die Frage, wieviel Geld vorhanden ist,wichtig. Aber gerade in der Entwicklungspolitik geht esauch darum, wie und wo das Geld eingesetzt wird.Das Thema Entwicklung der Weltbevölkerung um-faßt in der Tat einen Bereich, in dem Geld benötigt wird.Es geht da aber auch um mehr: um Aufklärung, Bildungund den Zugang von Frauen zu Bildungsmaßnahmen. Esist ein aktuelles Thema, denn im Herbst dieses Jahreswird der sechsmilliardste Mensch auf der Erde geboren.In welchem Land oder auf welchem Kontinent diesesKind geboren wird, wissen wir nicht. Die Zukunftschan-cen, die dieser sechsmilliardste Mensch haben wird,hängen davon ab, ob er in einem Land Europas, Ameri-kas, Lateinamerikas, Asiens oder Afrikas geboren undaufwachsen wird.Wenn dieser sechsmilliardste Mensch – egal ob Jungeoder Mädchen – in einem Industrieland geboren wird,hat er die Chance, zur Schule zu gehen, in sozialer Si-cherheit zu leben, einen Arbeitsplatz zu erhalten und inWohlstand aufzuwachsen. Seine Lebenserwartung wirddann etwa 75 Jahre betragen.Wird dieser sechsmilliardste Mensch aber als Mäd-chen in Afrika geboren, wird es vermutlich in den erstenLebensjahren an den Genitalien verstümmelt werdenund psychisch und physisch an diesem Eingriff ein Le-ben lang leiden müssen. Die Chancen, daß dieses Mäd-chen zur Schule gehen und Lesen, Schreiben und Rech-nen lernen kann sowie eine Ausbildung erhalten und ei-nen Beruf ergreifen wird, sind gering. Dieses Kind wirdschwer schuften müssen. Es wird schlimmstenfalls sogarKlaus-Jürgen Hedrich
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zur Prostitution gezwungen. Seine Lebenserwartung be-trägt im günstigsten Falle 45 Jahre.Unser Ziel – das ist ja durchaus ein gemeinsames Zielaller Entwicklungspolitiker – ist es, einem Kind, egal,wo es geboren wird und ob es ein Mädchen oder einJunge sein wird, die Chance zu geben, ein menschen-würdiges Leben zu führen und es eigenverantwortlich zubestimmen. Unsere „Eine Welt“, die ja immer wiederviel beschworen wird, hat aber nur begrenzte Ressour-cen. Deshalb ist es wichtig, Bevölkerungspolitik zu be-treiben und als wichtigen Faktor einer nachhaltigenEntwicklung zu begreifen. Der Prozeß des Umdenkensauf diesem Gebiet hat 1994 in Kairo begonnen. Es sindMaßnahmen eingeleitet worden, die durchaus Effektezeigen: Die Vereinten Nationen haben die Prognosen zurEntwicklung der Weltbevölkerung reduziert. Für dasJahr 2050 wird mit nur noch 9 Milliarden Menschen ge-rechnet werden müssen.Wir müssen diesen Ansatz weiter verfolgen. Die heu-tige Debatte ist auch deshalb aktuell, weil die stattfin-dende UNO-Sondergeneralversammlung den Folgepro-zeß „Kairo plus fünf“ einleiten und natürlich auch Bi-lanz ziehen wird.Daß die großen Fraktionen des Bundestags zu einergemeinsamen Position gekommen sind, ist zum einenwichtig, um der Bundesregierung den Rücken zu stär-ken. Es ist zum anderen aber auch ein Signal an dieEntwicklungsländer, ihre Eigenanstrengungen zu forcie-ren.Zum Gipfel von Köln ist heute schon einiges gesagtworden. In der Tat: Von dem vereinbarten Schuldener-laß und der Konditionierung dieses Schuldenerlasses anMaßnahmen der Gesundheitsvorsorge, der Bildung undAusbildung sowie der Frauenförderung können wahr-scheinlich 36 von 41 Entwicklungsländern, die hochverschuldet sind, profitieren.In den Bereichen reproduktive Gesundheitsversor-gung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Sicherunggesundheitlicher Grundversorgung muß investiert wer-den. Die Geberländer werden diese Maßnahmen unter-stützen. Sie werden natürlich darauf achten, daß diefreiwerdenden Mittel den schwächsten Bevölkerungs-gruppen zugute kommen. Wir wissen, daß gerade dieÄrmsten der Armen am wenigsten aufgeklärt sind, amwenigsten über Familienplanungsmaßnahmen wissenund keinen oder nur schweren Zugang zu Familienpla-nungsdiensten haben.Neben diesen Maßnahmen sind auf dem Kölner Gip-fel auch Strategien zur Verhütung, zur Impfstoffent-wicklung, für wirksame Therapien und zur AIDS-Verhütung beschlossen worden. Auch sie werden positi-ve bevölkerungspolitische Wirkungen haben.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja. – Ich bedanke
mich bei den Kolleginnen und Kollegen für die Zusam-
menarbeit, durch die die gemeinsame Beschlußempfeh-
lung zustande gekommen ist. Ich bedanke mich natür-
lich auch bei der Frau Ministerin für ihre Initiative auf
dem Kölner Gipfel, für ihre Bemühungen, der Entwick-
lungspolitik einen weiterhin hohen Stellenwert innerhalb
der Regierungspolitik einzuräumen.
Schönen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zurBeschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung zu den Anträgender Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünensowie der Fraktion der CDU/CSU zur Unterstützung derdemokratischen Entwicklung in Nigeria auf Drucksache14/1243. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf denDrucksachen 14/315 und 14/283 in der Ausschußfas-sung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Bei Enthaltung der PDS-Fraktion ist die Beschlußemp-fehlung angenommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen gegen den Einsatz von Kindern alsSoldaten in bewaffneten Konflikten, Drucksache14/1242 Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 14/806 anzunehmen. Wer stimmtfür diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Bei Enthaltung von CDU/CSU-Fraktion und F.D.P.-Fraktion ist die Beschlußempfeh-lung angenommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU gegenden Mißbrauch von Kindern als Soldaten auf Drucksa-che 14/1242 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 14/310 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlußempfehlungabgelehnt; denn die Mehrheit war eben auf der rechtenSeite des Hauses.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung der Ausschus-ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur wirksa-men Verhinderung des Einsatzes von Kindern als Sol-daten, Drucksache 14/1242, Buchstabe b. Der Ausschußempfiehlt – ich bitte Sie, aufzupassen –, den Antrag aufDrucksache 14/552 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlußempfehlung ist mit denStimmen von SPD, CDU/CSU und F.D.P. sowie einigenGabriele Fograscher
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Stimmen bei den Grünen gegen die Stimmen von PDSund einigen Stimmen bei den Grünen angenommen.Wir kommen nun zur Beschlußempfehlung des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zu den Anträgen der Fraktionen von SPD undBündnis 90/Die Grünen sowie der Fraktion derCDU/CSU zu einer aktiven Bevölkerungspolitik in derEntwicklungszusammenarbeit sowie zur Umsetzung derBeschlüsse der Konferenz der Vereinten Nationen zuWeltbevölkerung und Entwicklung, Drucksache14/1239. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf denDrucksachen 14/797 und 14/446 in der Ausschußfas-sung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ist die Be-schlußempfehlung angenommen.Ich gebe bekannt, daß vom Kollegen Carsten Hübnervon der PDS eine Erklärung zum Abstimmungsverhal-ten nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegt. DieseErklärung wird zu Protokoll genommen.*)Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzeszur Änderung des Arzneimittelgesetzes– Drucksache 14/898 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 14/1240 -Berichterstattung:Abgeordnete Annette Widmann-MauzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatdie Kollegin Regina Schmidt-Zadel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedungeines Neunten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-gesetzes macht der Bundestag heute den Weg für denmedikamentösen Schwangerschaftsabbruch frei. Damitsteht endlich auch Frauen in Deutschland die Möglich-keit offen, diese im Vergleich zu herkömmlichen Me-thoden mit geringerem gesundheitlichen Risiko behaf-tete Methode zu wählen.
––––––––––––*) Anlage 3Der Weg hierher war mühsam und von jahrelangen,zum Teil sehr emotional geführten Debatten begleitet.Während der medikamentöse Schwangerschaftsabbruchin einigen Ländern, vor allem in Frankreich, für vieleFrauen, die sich zum Abbruch entschlossen haben, eineseit Jahren angewandte und inzwischen selbstverständ-lich gewordene Methode des Abbruchs darstellt, habenwir uns in Deutschland in dieser Frage bisher sehrschwer getan. Dabei, meine Damen und Herren, war esnicht die Politik allein, die eine frühere Einführung desmedikamentösen Abbruchs in Deutschland blockiert hat.Vielmehr hat der Versuch einiger gesellschaftlicherGruppen, die Grundsatzdebatte um den Schwanger-schaftsabbruch neu zu entfachen, eine sachliche Debatteunnötig behindert.Es ist das Verdienst des französischen Herstellers desPräparates Mifegyne, das früher unter der BezeichnungRU 486 bekannt war, mit seinem Zulassungsantrag auchin Deutschland ein Ende dieser jahrelangen Auseinan-dersetzungen herbeigeführt zu haben.
Der Antrag des Herstellers und die für Juli zu erwar-tende Zulassung des Präparates stellen klar: Es gehtnicht mehr darum, ob der medikamentöse Schwanger-schaftsabbruch auch deutschen Frauen zur Verfügungsteht, sondern nur noch um die Frage, wie wir den Frau-en die Präparate für diese Abbruchmethode verfügbarmachen.Wir haben es uns in dieser Frage nicht leichtgemacht.Die Gesundheitspolitik stand vor der grundsätzlichenFrage, ob überhaupt ein besonderer Vertriebsweg fürPräparate zum medikamentösen Schwangerschaftsab-bruch notwendig ist.
Dazu stelle ich zunächst fest: Prinzipiell ist ein Sonder-vertriebsweg sicher nicht notwendig.
– Hören Sie gut zu; es kommt noch etwas. – Sollte dasBundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte inden kommenden Tagen die Zulassung für Mifegyne er-teilen, wäre das Präparat nach den geltenden gesetzli-chen Regelungen in jeder Apotheke zu haben.
Voraussetzung wäre nur eine ärztliche Verordnung unddie Bereitschaft des Herstellers, das Präparat nach er-folgter Zulassung auch auf dem deutschen Markt anzu-bieten.Allen Kritikern dieses Gesetzentwurfs und des Prä-parats selbst halte ich noch einmal vor Augen: Kämediese 9. AMG-Novelle nicht, dann wäre die von ihrenGegnern so genannte Abtreibungspille in Deutschlandohne besondere Regelungen erhältlich, dann wäre derVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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von vielen befürchtete graue Markt nicht mehr aufzu-halten.
– Ich sage nichts Falsches. Herr Zöller, regen Sie sichdoch bitte nicht so auf! Hören Sie mir mal zu!
Die Koalitionsfraktionen haben sich daher dazu ent-schlossen, für Präparate zum medikamentösen Schwan-gerschaftsabbruch einen besonderen Vertriebsweg ein-zuführen. Das hat einen guten Grund.
Die gesetzlichen Regelungen für einen Schwanger-schaftsabbruch schreiben vor, daß ein Abbruch nur inEinrichtungen gemäß den Regelungen im Schwanger-schaftskonfliktgesetz vorgenommen werden darf undauch nur dann, wenn zuvor eine obligatorische Beratungerfolgt ist, die den Frauen zudem bescheinigt werdenmuß. Diese Regelung ist der Kern des Schwanger-schaftskonfliktgesetzes, das seinerzeit nach langer undschwieriger Diskussion als Gruppenantrag parteiüber-greifend als Kompromiß verabschiedet wurde und dasnach verfassungsrechtlicher Überprüfung seitdem Be-stand hat und funktioniert. Daher ist es wichtig, daß die-ser gesellschaftliche Konsens auf der Grundlage desSchwangerschaftskonfliktgesetzes bestehenbleibt. Wirwollen keine neue Grundsatzdebatte zum § 218 anfan-gen.
Die Zulassung des medikamentösen Schwangerschafts-abbruchs muß mit einer gesetzlichen Regelung verbun-den werden, die verhindert, daß auch nur ein einzigerSchwangerschaftsabbruch mit den Präparaten außerhalbder gesetzlich vorgesehenen Einrichtungen und damitillegal erfolgt.
Eine freie Verfügbarkeit auch mit Verordnungspflichtkann dies nicht garantieren. Es gilt, jedwede illegaleAnwendung und jeden grauen Markt zu verhindern.Diesen Zweck erfüllt die vorliegende neunte Novelle desArzneimittelgesetzes. Jedes Präparat für den medika-mentösen Schwangerschaftsabbruch wird vom Herstel-ler direkt an den Arzt oder die Einrichtung geliefert, dieim Sinne des Schwangerschaftskonfliktgesetzes den Ab-bruch vornehmen darf.Ich wünsche mir in Deutschland eine ebenso sachli-che, von medizinischen und gesundheitlichen Argu-menten bestimmte Debatte wie in Frankreich.
Die Beratung in den Ausschüssen hat bereits gezeigt,daß es in dieser Frage zumindest in der Politik einenWandel gegeben hat. Für die Diskussion in den Aus-schüssen bin ich Ihnen dankbar.
Das Präparat selbst ist nicht in Frage gestellt worden;dem größten Teil der Kolleginnen und Kollegen derUnion und der F.D.P. ging es in der Ausschußberatung –damit komme ich Ihnen entgegen –
letztlich nur um Details des Vertriebswegs, wie zumBeispiel um die Apothekenfrage. Ich freue mich daherüber diesen grundsätzlichen Konsens. Das will ich aus-drücklich in dieser Sache sagen.Wir kommen Ihnen ja entgegen, indem wir zu diesemGesetzentwurf eine Entschließung eingebracht haben,die nach zwei Jahren – zwei Jahre sind eine kurze Zeit –einen Bericht über die Erfahrungen mit dem Sonderver-triebsweg fordert.Ich möchte noch einmal zum Grundsätzlichen zu-rückkommen: Ich fordere auch die Gegner des medika-mentösen Schwangerschaftsabbruchs, allen voran diekatholische Kirche auf: Respektieren Sie die Tatsache,daß es immer Schwangerschaftsabbrüche gegeben hatund daß es sie auch in Zukunft leider weiterhin gebenwird! Respektieren Sie, daß der Schwangerschaftsab-bruch in Deutschland durch eine demokratische Mehr-heitsentscheidung gesetzlich klar geregelt ist! Respektie-ren Sie bitte auch, daß es innerhalb dieser gesetzlichenRegelungen allein Sache der Frau und des Arztes ist,welche Methode des Abbruchs unter medizinischen Ge-sichtspunkten angebracht ist!
Im übrigen diskreditiert die Haltung der katholischenKirche in der Frage der Schwangerschaftsberatung –damit komme ich noch einmal auf das Thema der Aktu-ellen Stunde zurück – jede kirchliche Äußerung zur Ab-bruchmethode.
Es ist schon ein starkes Stück – lassen Sie mich dasso klar sagen –, daß sich ausgerechnet diejenigen, dieaus der Beratung aussteigen wollen und damit die Frau-en in ihrer Notlage im Stich lassen, in der Frage der Ab-bruchmethode auch noch gegen jede Minderung des ge-sundheitlichen Risikos aussprechen.
– Sie haben das doch in den letzten Tagen gehört.
Regina Schmidt-Zadel
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– Die Kirche will nur unter besonderen Bedingungennicht aussteigen, Herr Zöller. Im Grundsatz hat derPapst die katholische Kirche in Deutschland aufgefor-dert, aus dem staatlichen Beratungssystem auszusteigen.Das ist Fakt.
Keine Frau entscheidet sich leichtfertig für einenSchwangerschaftsabbruch. Keine Frau bürdet sich ohneNot eine solche schwere Gewissensentscheidung auf.Keine Frau nimmt grundlos die psychischen Belastun-gen eines Abbruchs, auch eines medikamentösen Ab-bruchs auf sich. Es gibt keinen Grund mehr, Frauen eineSchwangerschaftsabbruchmethode zu verweigern, die inbestimmten Fällen, bei einer bestimmten Anzahl vonFrauen unbestritten die Methode mit dem geringeren ge-sundheitlichen Risiko ist.Mit der AMG-Novelle wird sichergestellt, daß ab-bruchwilligen Frauen in Kürze die medikamentöse Me-thode zur Verfügung steht. Ich bitte Sie daher sehr ein-dringlich, heute unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Annette
Widmann-Mauz von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich findees sehr mutig von Frau Schmidt-Zadel, daß sie heute ih-re Fraktion in der Auseinandersetzung um die Änderungdes Arzneimittelgesetzes in diesem Hohen Hause ver-tritt. Eigentlich hätte dies gerechterweise – wenn mandie inhaltlich vorherrschenden Vorstellungen in ihrerFraktion bedenkt – die gesundheitspolitische Sprecherinder SPD-Fraktion, Frau Schaich-Walch, tun müssen. Ichwerde später noch intensiver darauf eingehen.„Wir haben verstanden!“ – Mit diesen Worten ziehtGerhard Schröder Bilanz seiner desaströsen Regierungs-arbeit und gelobt Besserung. Endlich, möchte man mei-nen. Doch der Crashkurs dieser Bundesregierung gehtweiter. Beinahe jedes Gesetzesvorhaben von Rotgrünsorgt für Kopfschütteln. Nach dem vermurksten 630-Mark-Gesetz, dem Versuch, die Scheinselbständigkeitzu bekämpfen, der Ökosteuer, Funkes Bauernopfer undRiesters Rentenchaos droht nun ein weiteres Stück ausdem Tollhaus.
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung, also ab-schließend, über eine Gesetzesänderung mit weitrei-chender Bedeutung. Ministerin Fischer hat vor acht Wo-chen die 9. AMG-Novelle durch Rotgrün hier einbrin-gen lassen. Wir haben damals in erster Lesung darüberdiskutiert und sind einhellig zu der Auffassung gelangt,daß es hier Beratungsbedarf gibt und daß man nocheinmal gründlich darüber nachdenken muß, ob der Ver-triebsweg geändert werden muß.
Oppositions- und Regierungsparteien haben gemein-sam beschlossen, eine Anhörung zu diesem Gesetzent-wurf durchzuführen und dann zu entscheiden, was amsichersten ist.Wir alle wissen, worum es geht. Das Abtreibungsprä-parat wird demnächst in Deutschland zugelassen. Wirmüssen einen Vertriebsweg finden, mit dem sicherge-stellt ist, daß die Pille nicht in die falschen Hände gerätund kein Mißbrauch mit ihr betrieben werden kann.In der Anhörung standen zwei Vorschläge, zwei klareAlternativen zur Diskussion. Die Regierung hat vorge-schlagen, die Apotheken außen vor zu lassen, also einVertriebsweg ohne die Apotheken. Wir von derCDU/CSU-Fraktion plädieren indessen für die direkteBelieferung durch die Apotheken an die Ärzte, also füreinen Vertriebsweg mit den Apotheken.Was hat diese Anhörung im Gesundheitsausschußnun eigentlich ergeben? Das Ergebnis war eindeutig:Alle Sachverständigen – ich betone: alle –
haben die Position von CDU/CSU geteilt. Mit der di-rekten Belieferung der Ärzte durch die Apotheken, sodie Sachverständigen, ist ein Vertriebsweg gewährlei-stet, ohne daß die Frau das Präparat in der Apotheke freierwerben kann und damit unkontrolliert in die Hand be-kommt. Das ist die einhellige Meinung der Sachverstän-digen gewesen. Selbst die extra auf Wunsch der SPDaus Frankreich angereiste Sachverständige Dr. Aubenyhat den deutschen Vertriebsweg für die Arzneimittelüber die Apotheken als vorbildlich und als in hohemMaße sicher bezeichnet. Sie sagte, sie könne sich denvon CDU/CSU vorgeschlagenen Weg sogar auch fürFrankreich vorstellen.
Erlauben Sie mir, die Kollegin Schmidt-Zadel –wohlgemerkt von der SPD – zu zitieren. In einem Brief,den sie an die Ministerin Fischer geschrieben hat, heißtes:Sehr geehrte Frau Ministerin, in der Sachverständi-genanhörung im Ausschuß für Gesundheit für eine9. AMG-Novelle haben die Vertreter der Apothe-kerschaft noch einmal dafür plädiert, die Apothe-ken bei der Regelung des Vertriebsweges für Prä-parate zum medikamentösen Schwangerschaftsab-bruch doch mit einzubeziehen. Ich bitte Sie daher,als Alternative zum vorliegenden Entwurf in IhremHaus eine gesetzliche Regelung ausarbeiten zu las-sen, die die Einbeziehung der Apotheken in denVertriebsweg vorsieht.
Liebe Frau Schmidt-Zadel, Sie haben verstanden!
Regina Schmidt-Zadel
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– Es ist ganz nett, daß Sie das dazwischenrufen; aber Siewerden verstehen, daß ich in diesem Hohen Hause nichtKolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion bloßstellenmöchte.
Frau Schmidt-Zadel hat verstanden: Nicht die Apo-theken sind das Problem, im Gegenteil: In der Apothekestehen Männer und Frauen, die ihr Fach gelernt haben.Die Apotheken und die Apotheker sind kein Risikofak-tor.Frau Ministerin Fischer, wo ist denn eigentlich IhrAlternativentwurf? Warum rücken Sie die Apothekerin-nen und Apotheker immer noch in ein schräges Licht?Sie haben doch in der vergangenen Debatte gesagt, Sietäten das nicht, und Sie hätten Vertrauen in die Apothe-ken. Warum wollen Sie ihnen dann die Verantwortungfür den Vertriebsweg wegnehmen? Lassen Sie die Fin-ger von unserem Apothekensystem! Ich sage Ihnen: Wirbrauchen keinen Bruch in diesem gut funktionierendenApothekensystem. Wenn Sie jetzt damit beginnen, dieApotheken aus dem Vertriebsweg zu nehmen, wo wol-len Sie dann denn aufhören?
Handelt es sich um eine einmalige Ausnahme oder dochum einen schleichenden Systemwandel? Ist das der Ein-stieg in das Dispensierrecht für die Ärzte? Von HerrnDreßler wissen wir, daß er diese Dispensierung will.Aber Frau Fischer, was wollen denn eigentlich Sie? Istdas auch Ihre Politik? Wer regiert denn? Sie oder HerrDreßler? Sie wissen doch ganz genau: In allen Ländern,wo dieses Recht gilt, steigen die Kosten – zur Freude derPharmaindustrie.Frau Schaich-Walch, stimmt es eigentlich, daß sichbei einer Probeabstimmung in Ihrer Fraktion – ich mei-ne, in der Arbeitsgruppe der SPD – die überwiegendeMehrheit der Mitglieder für unser Modell ausgesprochenhat und nur Sie, Frau Schaich-Walch, nicht? Ich weiß,Sie haben in Ihrem Wahlkreis viel Pharmaindustrie. Dasist aber nicht das, was ich unter Wahlkreisarbeit verste-he.
Aber es kommt noch schlimmer. Der von Rotgrünangedachte Systembruch eines Vertriebsweges ohne dieApotheken sei, so die Sachverständigen in der Anhö-rung, ein unkalkulierbares Risiko. Diese Anhörung waran Eindeutigkeit nicht zu überbieten. Das Regierungs-modell ist bei allen Sachverständigen ohne Wenn undAber durchgefallen.
Jetzt muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Daß Sie den-noch – trotz dieser eindeutigen Haltung – an Ihrem Ge-setzentwurf festhalten und wir heute darüber entschei-den müssen, ist ein absoluter Skandal.
Sie ignorieren komplett den Sachverstand. Da frage ichmich: Warum haben wir diese Anhörung eigentlichüberhaupt gemacht?
Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Sie haben nichtsverstanden. Jetzt machen Sie mit dem gleichen Geset-zesmurks weiter, von dem wir alle gehofft haben, daßendlich Schluß damit ist. Gegen den Rat – man kann dasgar nicht oft genug sagen – aller Sachverständigen wol-len Sie ein Gesetz beschließen, das sich gegen die Apo-theken, gegen ein seit Jahrzehnten bewährtes System,gegen eine Kultur der Sicherheit, die sich bewährt hat,richtet.Bei alledem ist Ihr Vorhaben keinen Deut sicherer alsdas bewährte System. Im Gegenteil, viele Fragen blei-ben offen. Es bleibt eine Ungewißheit. Es bleibt ein un-kalkulierbares Risiko. Ich habe den Eindruck – das sageich ganz offen –: Ihnen geht es in dieser Frage nichtmehr um die Sache, um eine strenge Kontrolle des Ver-triebsweges, sondern offensichtlich nur noch darum, dasGesicht der Ministerin zu wahren.
Wie sonst ließe sich denn Ihr Entschließungsantrag ver-stehen? Da heißt es – ich zitiere -:Die Bundesregierung wird gebeten, innerhalb vonzwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes darüberzu berichten, wie sich der … vorgesehene Sonder-vertriebsweg bewährt hat, insbesondere ob Proble-me im Hinblick auf … die Überwachung des Ver-triebs aufgetreten sind.
Sie selbst haben also offenbar Zweifel an der Sicherheitdes von Ihnen eigens vorgeschlagenen Weges. Ich glau-be, Sie verkennen den Ernst der Lage. Hier geht es nichtum irgendeinen Hustensaft, hier geht es um ein Abtrei-bungspräparat.
Wo sind wir denn eigentlich, Frau Schaich-Walch?Sie machen hier Gesetze nach dem Trial-and-error-System: Mal sehen, ob es klappt, wenn nicht, na ja, dannprobieren wir es halt später mit etwas Neuem. – Siesollten das permanente Nachbessern nicht zu Ihrer Ma-xime machen. Gesetze mit sinkender Halbwertszeit ge-winnen kein Vertrauen. Sie haben überhaupt nichts ver-standen.
Wir von unserer Fraktion haben Änderungsanträgeeingebracht, die ganz klar und deutlich den Rat derSachverständigen berücksichtigen und die Apotheken indie Verantwortung nehmen. Wir wollen die Apotheke-rinnen und Apotheker in den Vertrieb von RU 486 miteinbinden, ohne daß die Abgabebeschränkung im Sin-ne des § 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes unddie Nachweispflichten verletzt werden. Dazu haben wirdie notwendigen Gesetzesänderungen erarbeitet und imAusschuß eingebracht. Das ist die einzig richtige Alter-Annette Widmann-Mauz
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native, die eigentlich Sie, liebe Frau Ministerin, hierhätten vorlegen sollen. Im Ausschuß hat Ihr Haus nichtein einziges Wort zu diesen Vorschlägen gesagt, undauch heute habe ich in dem Redebeitrag der Vertreterinder größten Fraktion davon wieder nichts gehört. Dadrängt sich schon die Frage auf: Warum verweigern Siesich dieser Diskussion?Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SPD: Lassen Sie uns gemeinsam den Weg ein-schlagen, den auch Sie im Grunde für den richtigen hal-ten! Zeigen Sie, daß Sie tatsächlich etwas verstandenhaben! Nicht nur wir würden es begrüßen, auch IhrKanzler würde es Ihnen sicher danken.Herzlichen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Bundesministerin für Gesund-
heit, Andrea Fischer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gehtheute nicht um die Frage, wie wir überhaupt zur Mög-lichkeit des Schwangerschaftsabbruchs mittels des Me-dikamentes Mifegyne stehen.
Die Entscheidung darüber wird das Bundesinstitut fürArzneimittel und Medizinprodukte treffen. Eines willich allerdings zur Einführung doch grundsätzlich sa-gen: Es geht dabei um nicht mehr und nicht wenigerals um eine Alternative zum chirurgischen Eingriffbeim Schwangerschaftsabbruch. Das mag für mancheFrauen eine schonendere Methode sein; für manche magsie auch belastender sein als ein chirurgischer Eingriff.Es gibt kein eindeutiges Ergebnis der Erfahrungen.Wenn das Medikament allerdings die Anforderungendes Arzneimittelgesetzes erfüllt, dann sollte es als eineweitere Möglichkeit den Frauen zur Verfügung gestelltwerden.Ich habe den bisherigen Beiträgen entnommen, daßhier im Plenum Einigkeit darüber besteht, daß die Er-möglichung einer solchen Alternative, also die Verab-reichung dieses Medikamentes, keine erneute Diskus-sion über den § 218 erfordert. Die Entscheidung überden Schwangerschaftsabbruch ist schon gefallen, wenndieses Mittel zum Einsatz kommt. Ich bin dankbar dafür,daß offensichtlich wenigstens in diesem Punkt im HauseEinigkeit besteht.Nun geht es heute um die Frage: Brauchen wir einenbesonderen Vertriebsweg? Ihrem kritischen Beitrag,Frau Widmann-Mauz, entnehme ich, daß Sie der Mei-nung sind, daß wir durchaus einen streng kontrolliertenVertriebsweg brauchen, daß wir aber die Kontrolle mitder von uns vorgeschlagenen Verkürzung des Ver-triebsweges zu weit treiben – wenn ich das, was Sie ge-sagt haben, einmal so interpretieren darf.Wir wollen keinen Schwarzhandel, und wir wollenkeinen Mißbrauch dieses Medikaments.
Darüber sind wir uns auch einig, denke ich. Das istder Grund, warum wir – übrigens durchaus auch mitBlick auf das Ausland; darauf komme ich gleich nocheinmal – gesagt haben, wir wollen das Mittel nichtdirekt an Frauen abgeben,
sondern nur an die zum Schwangerschaftsabbruch be-rechtigten Einrichtungen, und wir wollen, daß es nurdurch einen Arzt angewendet werden darf. Es muß sosein, daß auch diese Form des Schwangerschaftsab-bruchs nur unter ärztlicher Kontrolle stattfindet, weil dasein drastischer Eingriff ist.
Die Änderung des Arzneimittelgesetzes, wie sie fürden Sondervertriebsweg erforderlich ist, wie wir ihnuns vorstellen, ist notwendig – das wurde auch in demBeitrag der Kollegin eben ganz deutlich –, weil bislangdie Abgabe eines Arzneimittels vom pharmazeutischenUnternehmer über den Großhandel an die Apothekenund den Endverbraucher vorgesehen ist.Ich weiß sehr wohl, daß sich die Sachverständigender Apothekerschaft in der Anhörung für eine Beibe-haltung des bestehenden Vertriebsweges und für eineRegelung zur Abgabe des Mittels von der Apotheke andie Einrichtungen ausgesprochen haben.
Ich denke – das ist gerade in dem Beitrag von FrauWidmann-Mauz auch ganz deutlich geworden –, dahin-ter steckt die Befürchtung, daß man hier einen Präze-denzfall für weitere Sonderregelungen schaffen will.
Ich will noch einmal darauf hinweisen: Sie haben diefranzösische Expertin genannt. Sie hat nach meinemKenntnisstand ebenfalls gesagt, daß man auch in Frank-reich anfangs ausgesprochen vorsichtig,
vielleicht sogar auch übervorsichtig gewesen ist. Wirsind jetzt hier ebenfalls am Anfang, Herr Kollege Parr.Ich glaube, daß Sie mit der Art und Weise, wie Sieüber unseren Gesetzentwurf reden, überhaupt erst dazubeitragen, daß das entsteht, was Sie dann beklagen, dieAnnahme nämlich, ich würde die Apotheker in einschräges Licht rücken. Der Gesetzentwurf und vor allemauch seine Begründung gibt das nicht her;
wir haben im Gesetzentwurf vielmehr vollkommen klargesagt, es geht um einen Sondervertriebsweg, und erAnnette Widmann-Mauz
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wird ausschließlich bezogen auf Arzneimittel, die zurVornahme eines Schwangerschaftsabbruches geeignetsind. Weil Sie nach meiner Position dazu gefragt haben:Wir wollen keine Abkehr vom bewährten Vertriebswegüber Großhandel und Apotheken.
Sie wissen, daß der Weg, den Sie vorgeschlagen ha-ben, der Weg der Direktabgabe, genausogut den Vor-wurf begründen kann, einen Präzedenzfall zu schaffen.Auch er hat seine Tücken und seine weitergehendenFolgen.
Ich halte es für überhaupt nicht klug, daß Sie jetzt –das machen nicht wir, das machen Sie – die Debatte umeinen Sondervertriebsweg für Mifegyne, die schwieriggenug ist, wie wir beim täglichen Blick in die Zeitungfeststellen können und alle wissen,
mit einer Debatte darüber verknüpfen, ob Sie aus unse-ren Absichten, die wir dort haben, irgendwie auf tiefer-liegende Absichten zur grundlegenden Abschaffung desApothekensystems schließen können.
Ich habe es in der ersten Lesung erklärt, und ich bin gernbereit, es heute noch dreimal zu sagen –
ich weiß nicht, wie oft ich irgend etwas sagen muß, da-mit es bei Ihnen ankommt –: Ich habe ein Interesse dar-an, durch ein sehr strenges Verfahren sicherzustellen,daß es zu keinem Mißbrauch bei diesem Medikamentkommt, und ich bekenne mich ausdrücklich zum Ver-triebsweg über die Apotheken, wie wir ihn haben. Ichhalte allerdings die besonderen Bedingungen, wie sie beiMedikamenten zum Schwangerschaftsabbruch gegebensind, für eine hinreichende Begründung dafür, für dieseMittel einen besonderen Vertriebsweg zu wählen.
Das Arzneimittel wird von einer begrenzten Zahl vonEinrichtungen angewandt. Es soll dort vorgehalten wer-den dürfen und direkt an die Patientinnen ausgehändigtwerden.
Hier geht es um Beratung und auch Überwachung ineinem ganz anderen Ausmaß, als es in Apotheken übli-cherweise der Fall ist. Wir wollen deshalb einen kurzenVertriebsweg.
Meines Erachtens konnten die Sachverständigen derApothekerschaft nicht überzeugend darlegen, warum dieBeibehaltung des Vertriebswegs über den Großhandelund die Apotheke in diesem besonderen Fall aus Grün-den der Qualitätssicherung erforderlich ist.
Abschließend will ich Sie darauf hinweisen, daß derBundesrat mit 15 : 1 Stimmen diesem Gesetzentwurfzugestimmt hat. Ich gehe davon aus, daß auch dem Bun-desrat die Ergebnisse der Expertenanhörung bekanntsind.
Wenn wir mit dem Entschließungsantrag darauf hin-weisen, daß wir nach zwei Jahren überprüfen wollen, obwir mit diesem Gesetzentwurf das Ziel erreicht haben,das wir erreichen wollten, könnte das Ergebnis einersolchen Überprüfung auch sein, daß wir nicht so strengsein müssen, wie wir es jetzt sind.Ich finde, in einer Situation wie der jetzigen, wo dieAbgabe dieses Medikaments so heiß umstritten ist, sindwir auf dem richtigen Weg, wenn wir sagen, wir sindlieber übervorsichtig als zu wenig vorsichtig. Ich haltees für genauso richtig, darüber nachzudenken, daß mansich das im Ergebnis noch einmal anschaut und sagt:Vielleicht können wir diesen Vertriebsweg doch lok-kern.Ich halte es für vollkommen unangemessen, dies alsein Stück aus dem Tollhaus zu bezeichnen. Ich glaube,daß wir hier ausgesprochen verantwortungsvoll denWeg für die eventuell demnächst erfolgende Zulassungdes Medikaments Mifegyne freimachen. Ich bitte des-wegen um Zustimmung für diesen Gesetzentwurf.
Als
nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Frau Ministerin, den Bundesrat können Siewohl nicht zum Zeugen anrufen, wenn er den Beschlußvor der Anhörung gefaßt hat und die Ergebnisse der An-hörung gar nicht in seine Entscheidungsfindung einbe-ziehen konnte.
Ich möchte mit einem Zitat beginnen, meine Damenund Herren:Es geht um eine für mich sehr grundsätzliche Fra-ge, da kann ich keine Kompromisse machen. IchBundesministerin Andrea Fischer
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habe ein anderes Menschenbild als jenes, das die-sem Entwurf – gemeint ist die Strukturreform –zugrunde liegt.So Hans-Ulrich Klose heute in der „Rheinischen Post“.Recht hat Ihr früherer Fraktionsvorsitzender.
Mißtrauen gegenüber der Verantwortung des Ein-zelnen durchzieht jeden Gesetzentwurf, den Sie, FrauFischer, hier einbringen.
Es ist Mißtrauen gegenüber Patientinnen und Patienten,denen Sie mehr und mehr Wahlmöglichkeiten wegneh-men.
Es ist Mißtrauen gegenüber der Ärzteschaft, die Siegängeln und die Sie – ich zitiere wieder Hans-UlrichKlose – „per Gesetz zu Scheinselbständigen machen“.
Es ist Mißtrauen gegenüber den Apothekerinnen undApothekern, denen Sie absprechen, auch zukünftig fürsichere Vertriebswege in sensiblen Arzneimittelberei-chen Sorge zu tragen.
Dabei gibt es nach den bisherigen Erfahrungen über-haupt keinen Grund, daran zu zweifeln.Vielfältige rechtliche Vorgaben im Apothekengesetztragen zur Sicherheit und Effizienz der Arzneimittelver-sorgung bei. Ich nenne als Beispiele das Betäubungs-mittelrecht, das Transfusionsgesetz, weitgehende Do-kumentationspflichten auch für Importarzneimittel undRückrufsysteme. Sie belegen das bisherige Vertrauen inden Vertriebsweg Apotheke.Dieses Vertrauen hat auch die französische Sachver-ständige Dr. Aubény in der Anhörung deutlich gemacht.Sie sagt:Es scheint möglich, daß das Produkt vom Arzt ver-schrieben und von der Patientin in der Apothekegekauft wird, eventuell unter verstärkter Kontrollewie bei morphinhaltigen Produkten, um jeglichenSchwarzhandel zu unterbinden.So die französische Sachverständige, die zehn Jahre Er-fahrung im Hinblick auf den Vertrieb von Mifegyne hat.Sie setzen jetzt Vermutungen über die Richtigkeit Ih-res am Schreibtisch erdachten Sondervertriebswegsüber die tatsächlichen Erfahrungen der bisherigen Pra-xis. Das ist ordnungspolitisch völlig falsch und gegenjeglichen Sachverstand.
Die Anhörung hat Ihnen bescheinigt: Anspruch undWirklichkeit klaffen bei Ihnen weit auseinander. Siefordern zu Recht außerordentliche Sorgfalt und Umsichtfür die hochsensible Produktgruppe von Arzneimittelnzum Schwangerschaftsabbruch. Tatsächlich schaffen Sieaber neue, unkalkulierbare Risiken, wenn wir nur an dieAufbewahrungsmöglichkeiten denken.
Sie heben ohne Not die klare Trennung der Funktio-nen – Arzneimittelverordnung und -anwendung durchden Arzt und Distribution durch die Apotheken – auf.Da ist es natürlich kein Wunder, daß Befürchtungen lautwerden, Sie seien klammheimlich dabei, den Einstieg indie Umgehung des pharmazeutischen Großhandels undder öffentlichen Apotheken zu betreiben.In einem scheint die Anhörung bei Ihnen allerdingsFrüchte getragen zu haben. Dies beweist Ihr Entschlie-ßungsantrag zur Einführung eines Sondervertriebswegesauf Probe. Nach zwei Jahren soll über eventuelle Pro-bleme im Hinblick auf die Versorgung und Überwa-chung berichtet werden. Ich denke, das ist ein Beweisfür Ihre eigene Unsicherheit.
Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,Frau Schmidt-Zadel, sparen Sie sich diese Probezeit!Setzen Sie auf die Stärke eingeübter und vielfach be-währter Verfahren.Frau Ministerin, abschließend möchte ich Ihnen einweiteres Zitat mit auf den Weg geben. Der österreichi-sche Schriftsteller Robert Musil hat einen Leitsatz for-muliert, der die aktuelle Lage der gesundheitspolitischenDebatte trefflich beschreibt: „Wir irren vorwärts!“ Wannendlich bemerken Sie es?
Als
letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin
Dr. Ruth Fuchs von der PDS-Fraktion das Wort. Bitte,
Frau Fuchs.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Frau Kollegin Widmann-Mauz, wirhaben im Ausschuß und auch an anderer Stelle bishereine wirklich sachliche Diskussion geführt. Wir hattenlediglich Meinungsverschiedenheiten. Ich finde es sehrtraurig, daß heute persönlich gefärbte Argumente dieSachlichkeit der Argumentation getrübt haben.
– Ich habe eine Meinung, und diese darf ich doch wohläußern. Ich möchte das zum Ausdruck bringen, weil ichglaube, daß dies der Sache, über die wir diskutieren,nicht dient.
Detlef Parr
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Das Wichtigste, um das es im Zusammenhang mitdiesem Gesetz geht, ist die Tatsache, daß die Frauenhierzulande endlich auch die Möglichkeit erhalten, unterärztlich kontrollierten Bedingungen einen medikamen-tösen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen,wenn dies im Einzelfall nach ärztlichem Rat und indivi-dueller Entscheidung als das schonendste Verfahren an-gesehen wird.
Wir jedenfalls begrüßen deshalb, daß die Zulassung desMedikaments in Kürze zu erwarten ist. Darüber gibt esGott sei Dank auch keine Meinungsverschiedenheiten.
Bei der jetzt notwendigen Festlegung des Verfah-rensweges – nur darum geht es heute in diesem Gesetz –halten wir es auch für verständlich, vielleicht auch fürverantwortlich, daß die Bundesregierung in besondererWeise bestrebt ist, ein Maximum an Vorsicht und Si-cherheitsvorkehrungen beim Umgang mit diesem Präpa-rat walten zu lassen. Bekanntlich verfügt im eigenenLand noch niemand über einschlägige Erfahrungen imHinblick auf möglichen Mißbrauch. Ich glaube, die Er-fahrungen in Frankreich nützen uns nicht viel, und ichdenke, es ist ratsam, das Präparat zwei Jahre lang zu er-proben, wie dies im Entschließungsantrag gefordertwird.
Lassen Sie uns dann noch einmal sachlich darüber re-den.
Der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gewählteWeg, die vorgesehenen Nachweispflichten und die nocheinmal präzisierten Aufbewahrungsvorschriften, bietenunseres Erachtens die Gewähr dafür, daß die genanntenZiele erreicht werden können. Das gleiche gilt für dienotwendige Vorkehrung zur Sicherung der Anonymitätder Frauen.
– Vier Minuten, ja. – Ihre Befürchtungen hinsichtlichmöglicher unbekannter Risiken halte ich persönlich imMoment, bezogen auf den veränderten Vertriebsweg, füreine künstlich aufgebaute Drohkulisse, die in der Reali-tät gar nicht existiert. Wir werden dem Gesetz zustim-men, und wir werden auch dem Entschließungsantragzustimmen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer
Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsord-
nung gebe ich dem Kollegen Hubert Hüppe von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Nachdem Frau Schmidt-Zadel eini-
ges zu RU 486 allgemein gesagt hat, was eigentlich
nicht zum Thema gehört, möchte ich noch einmal deut-
lich machen, daß nicht alle Mitglieder des Ausschusses,
daß zumindest meine Person nicht grundsätzlich mit RU
486 einverstanden ist. Ich stimme heute nicht deswegen
gegen den Antrag, weil es mir um den Vertriebsweg
geht, sondern weil ich der Auffassung bin, daß es sich
bei RU 486 um ein Mittel zur Tötung menschlichen Le-
bens handelt und ich dies unter dem Begriff „Medika-
ment“ nicht führen möchte.
– Weil auch auf Grund der Ausführungen von Frau
Fischer der Eindruck entstanden ist, es gebe grundsätz-
lich Übereinstimmung über das Mittel, möchte ich nur
noch einmal sagen: Es gibt auch Kolleginnen und Kol-
legen innerhalb des Hauses, die bei RU 486 grundsätzli-
che Bedenken haben und die nicht nur Bedenken haben,
was den Vertriebsweg angeht.
Frau Schmidt-Zadel, ich darf an dieser Stelle auch
sagen: Es hat mich schon sehr gewundert, daß Sie, als
Frau Aubény gesagt hat, daß man das Mittel bei Frauen
in der Dritten Welt angewandt habe, daß man also Frau-
en als Versuchsmenschen benutzt hat, kein einziges
Wort der Kritik geäußert haben. Ich denke, wenn Sie
sich darauf allgemein eingelassen haben, hätten Sie auch
dies betonen müssen.
Ich stimme heute dagegen, auch weil ich den Ein-
druck habe, daß die Übereile, die ja von Ihnen an den
Tag gelegt worden ist, anscheinend auch damit zu tun
hat, das BfArM von einer objektiven Beurteilung abzu-
halten und politisch unter Druck zu setzen. Dieses Ver-
fahren halte ich nicht für richtig. Ich bitte, daß auch
meine Meinung hier wahrgenommen und toleriert wird.
Vielen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-brachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arz-neimittelgesetzes, Drucksachen 14/898 und 14/1240. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Ge-setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Dritte Beratung und Schlußabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Le-Dr. Ruth Fuchs
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sung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derPDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P.angenommen.Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt unter Ziffer 2seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1240 dieAnnahme einer Entschließung. Ist Ihnen bewußt, wor-über wir da abstimmen?
– Gut. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann istdiese Entschließung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Zweite und dritte Beratung des Entwurfs einesVierten Gesetzes zur Änderung des Elften Bu-ches Sozialgesetzbuch – 4. SGB XI-Änderungs-gesetz
– Drucksachen 14/407, 14/580 –
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 14/1203 –Berichterstattung:Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/1204 –Berichterstattung:Abgeordnete Walter SchölerManfred KolbeMatthias BerningerJürgen KoppelinDr. Christa LuftEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derCDU/CSU vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat dasWort der Kollege Dr. Martin Pfaff von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Der Ausschuß hat ein einstim-miges Votum abgegeben, diesen Gesetzentwurf zu un-terstützen, er hat aber auch ein einstimmiges Votum ab-gegeben, daß noch etlicher Handlungsbedarf in diesemBereich der Pflegeversicherung besteht, und hat sich vorallem mit dem Thema der psychisch Kranken und derDemenzkranken befaßt. Dabei wurde beschlossen –auch das war einstimmig –, daß wir eine Anhörung ge-nau zu diesem Thema durchführen wollen, um danneinen gediegenen Bericht vorlegen zu können. So imBericht des Ausschusses vom 22. Juni nachzulesen. Ichsage dies aus gegebenem Anlaß. Denn es geht ja nichtnur um dieses Gesetz, es geht auch um weitergehendeAnliegen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, daß diegesetzliche Pflegeversicherung die Situation vieler Men-schen stark verbessert hat, aber nicht grundsätzlich dieSituation aller Menschen in allen Bereichen. Das mußman einfach sagen. Die positiven Seiten sind aber anzu-erkennen. Dies ist ein Meilenstein in der Entwicklungdes Sozialstaates in Deutschland. Denn nicht längersollen Männer und Frauen 30, 40 oder mehr Jahre ar-beiten, Beiträge zur Sozialversicherung zahlen und dannim Alter, wenn sie pflegebedürftig werden, von der So-zialhilfe – das trifft in Heimen für 70 Prozent zu – ab-hängig sein. Nicht länger sollen sie zuerst ihre Erspar-nisse, dann das Häuschen und am Ende gar – bis auf einTaschengeld – die Rente verlieren. Das empfinden sieals sozialen Skandal, und ich sage, ich empfinde esebenfalls so.
Das wurde durch die gesetzliche Pflegeversicherung ge-ändert.Wenn Männer oder Frauen – in der Regel sind es jaFrauen – Oma und Opa pflegen – 90 Prozent der Pflegefindet ja in der Familie statt –, dann sollen sie nichtdreimal bestraft werden: zum einen, weil sie auf eineigenes Einkommen verzichten, zum zweiten, weil siedadurch keine Anwartschaften für das Alter erreichen,und zum dritten, weil, da kein Einkommen vorhandenist, auch keine private Absicherung möglich ist. Auchdas war ein Skandal. Das ist geändert worden. Festzu-stellen ist, daß dies für viele in diesem Lande eine wich-tige Verbesserung darstellte.
Aber es verbleiben noch Lücken im System. Verän-derungen sind nötig. Das heutige Gesetz verändert eini-ges, aber nicht alles:
Erstens. Es sieht deutliche Verbesserungen bei derAnrechnung von Pflegegeld auf die Unterhaltsansprü-che vor. Nicht länger sollen die Unterhaltsansprücheeiner geschiedenen Frau deshalb gemindert werden, weilsie Pflegegeld für die Pflege des eigenen behindertenKindes bekommt. Dies ist zu begrüßen. Das ist ein Fort-schritt.
Zweitens. Auch bei Ersatzpflege im Falle von Un-fällen oder anderen Ausfällen der häuslich pflegendenPersonen müssen die betroffenen Menschen nicht erstein Jahr pflegend tätig sein, bevor sie eine Ersatzpflegefinanziert bekommen. Auch dies sowie die Tatsache,Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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daß wir dies gemeinsam beschlossen haben, ist gut undrichtig.
Drittens. Was Verhinderungen und die Möglichkeitder Urlaubspflege angeht, sage ich: Gerade Pflegeper-sonen haben Anspruch auf Urlaub. Dies wird in demvorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt. Auch das istrichtig.
Viertens. Beim Tod der Pflegebedürftigen mußtendie Angehörigen bisher das Pflegegeld für den Monat, indem der Pflegebedürftige gestorben ist, ab dem Sterbe-datum zurückzahlen. Dies wurde von vielen nicht nur alspietätlos und unwürdig empfunden. Die Ironie dieserSache war auch, daß der Verwaltungsakt oft viel teurerwar als die wiedereingetriebenen Beträge. Ich finde, esist höchste Zeit, daß wir dies heute gemeinsam verän-dern.
Daß die Leistungen der Tages- und Nachtpflege denleistungsrechtlichen Höchstbeträgen bei der Pflege-sachleistung angepaßt werden, ist auch richtig. Wennschließlich die Kosten der Pflichtpflegeeinsätze – siedienen ja nicht nur der Information; wir sagen direkt,daß damit auch ein Element der Kontrolle der Qualitätder Pflege verbunden ist – nicht von den Betroffenen,sondern von der Versicherung gezahlt werden, wird dieAkzeptanz dieser Pflichtpflegeeinsätze verbessert.
Auch das ist richtig, und so ist es in dem heute vorlie-genden Gesetzentwurf vorgesehen.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen,daß damit nicht alle Probleme der Pflegebedürftigengelöst sind. Denn wir dürfen niemals vergessen, daß miteinem Beitragssatz von 1,7 Prozent nur eine Grundsi-cherung finanziert wird. Dies ändert natürlich nichts anden Bedürfnissen und Problemen der Menschen; ich er-wähne es nur.Der echte Überschuß von 5,7 Milliarden DM – ichlasse die Rücklagen und die Betriebsmittel von 4 Milli-arden DM weg – soll für die Abdeckung des demogra-phischen Kostenrisikos dienen. Die uns vorliegendeArbeit von Prognos zeigt uns, daß bis zum Jahre 2040mit einem Anstieg des Beitragssatzes auf 2,6 oder gar2,8 Prozent zu rechnen ist, und zwar allein demogra-phiebedingt. Wir wissen auch, daß bis zum Jahre 2010350 000 Menschen mehr pflegebedürftig sein werden.Deshalb brauchen wir diese Rücklagen, und deshalb istes richtig, daß wir die Grenzen des Machbaren erken-nen.Aber dennoch – auch wenn die Pflegeversicherungim Spannungsfeld zwischen Bedarfsdeckung und Finan-zierung liegt, das ist die Realität; das ist die Wahrheit –muß doch gelten: Die sozialpolitische Qualität des Sozi-alstaates kann nicht von der Kassenlage diktiert werden.
– Darauf habe ich gewartet. Die Spezialisten für dieseArt der Politik sind Sie. Ich weiß das. Ich kann mir vor-stellen, daß Sie deshalb entsprechende Papiere mit sichführen.Deshalb müssen wir uns fragen, was noch in dieserLegislaturperiode verändert werden muß: Notwendigsind ein Abbau der Bürokratie und eine deutliche Quali-tätsverbesserung bzw. Qualitätssicherung. Vor allem istnotwendig, daß wir die Problembereiche der Behinder-ten in der stationären Einrichtung der Behindertenhilfeangehen. Eine ganzheitliche Betreuung ist ohne Wennund Aber erforderlich. Hier müssen wir den Bestrebun-gen der Sozialhilfeträger in Richtung Umwidmung – diesgeschieht doch aus finanziellen Gründen – entgegentre-ten. Die Probleme der Abgrenzung zwischen Pflege-versicherung und Sozialhilfe werden heute weitgehend– liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist die traurigeWahrheit – auf dem Rücken der Behinderten „gelöst“.Damit muß Schluß sein.Dabei trifft uns alle in diesem Haus eine hohe Ver-antwortung; denn die gemeinsame Entschließung, diewir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben,hat dieses Problem nicht gelöst. Wir müssen die Ab-grenzung zwischen Pflegeversicherung, Sozialhilfe undgesetzlicher Krankenversicherung in dieser Legislatur-periode präzise regeln.
Herr
Kollege Pfaff, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Seifert von der PDS-Fraktion?
Natürlich, sehr gerne.
Bitte
schön, Herr Dr. Seifert.
Herr Kollege Pfaff, muß ich
Ihre Bemerkung, daß Sie die Pflege von behinderten
Menschen in stationären Einrichtungen verbessern wol-
len, dahin gehend verstehen, daß die, die außerhalb der
Einrichtungen leben, in dieser Legislaturperiode nicht
bedacht werden sollen? Das wäre natürlich eine Kata-
strophe.
Nein, ich bin noch bei derAuflistung; ich bin erst bei der Hälfte angelangt.Dr. Martin Pfaff
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Herr Dr. Seifert, Sie haben mich zu diesem Themabereits an anderer Stelle gehört. Deshalb will ich garnicht polemisch antworten. Natürlich ist dies nicht derFall; das ist doch klar.
Die Situation der geistig Behinderten und der psy-chisch Kranken ist ein ganz großes Problem. Ich freuemich, daß wir im Ausschuß eine gemeinsame Positionbezogen haben. Ich kann aber wirklich nicht verstehen,warum Sie jetzt wieder Ihre alte Entschließung hervor-geholt haben, das Problem des Kapitalstocks weglassenund einen Termin setzen, der im Widerspruch steht zueiner gediegenen Beratung eines so wichtigen undschwierigen Themas.
Ich muß es einmal in aller Deutlichkeit sagen: DieProbleme der psychisch Kranken, der Demenzkranken,sind viel zu ernst, als daß damit parteitaktische Spiel-chen betrieben werden könnten.
Sie wollen uns doch vorführen. Sie wollen, daß wir Ih-ren Entschließungsantrag ablehnen, den wir in großenTeilen nicht nur mitgetragen haben; wir haben dies in-haltlich auch gefordert.
Sie haben ihn mit einem Termin versehen, der nicht ak-zeptabel ist. Wir werden ihn deshalb auch ablehnen.Diesen Gefallen werden wir Ihnen tun.
Ich finde es aber wirklich schäbig – ich sage es einmalauf deutsch –, daß eine Gruppe, die so große Schwierig-keiten hat, für eine parteitaktische Auseinandersetzungin diesem Haus herhalten muß. Irgendwo muß eineGrenze sein.
Sie hatten die Möglichkeit, das Problem selber zu lö-sen, haben es aber nicht getan. In Ihrem Regierungsbe-richt steht:Eine Benachteiligung der psychisch Kranken undder geistig Behinderten gegenüber Pflegebedürfti-gen mit körperlichen Erkrankungen in der Pflege-versicherung ist deshalb insgesamt nicht festzu-stellen.Ich finde, dies ist eine weltfremde Beobachtung, liebeKolleginnen und Kollegen.
Sie weicht leider sehr von der Realität ab.Wir müssen Prävention und Rehabilitation im Be-reich der Pflege ernst nehmen. Wir müssen den Begriffder Pflegebedürftigkeit überprüfen. Wir müssen denganzheitlichen Ansatz nicht nur im stationären, sondernauch im ambulanten Bereich überprüfen.
Wir müssen die Defizite bei der Forschung – über be-sondere Risikogruppen, über Frühdiagnostik bei begin-nender Demenz und Depression – abbauen. Wir müssendie Aus- und Fortbildung von Fachärzten auf dem Ge-biet der Geriatrie und der Gerontopsychatrie verbessern.Wir müssen auch die Pharmakotherapie verbessern. Wirmüssen die Einflußfaktoren besser in den Griff bekom-men. Wir müssen die gesellschaftlichen Bedingungen,die zu diesen Alterserkrankungen führen, genauer unterdie Lupe nehmen, die Versorgungsforschung vorantrei-ben und vieles andere mehr.Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Legis-laturperiode stehen wir im Bereich der Pflegeversiche-rung vor wirklich großen Herausforderungen. Wir habengemeinsam – ich spreche vor allem die rechte Seite desHauses an – einen Meilenstein in der Entwicklung desSozialstaates Bundesrepublik Deutschland gesetzt. Wirhaben die Probleme zwischen Bedarfsdeckung undFinanzen erkannt und einen Mittelweg gefunden. Daskann aber nur ein Schritt in die richtige Richtung sein.Deshalb fordere ich Sie auf, zur Gemeinsamkeit zu-rückzukehren. Streit gehört zur Kultur des Parlamentes.Die größten Stunden des Parlamentes zeichnen sich aberdadurch aus, daß in einem so wichtigen Bereich dieGemeinsamkeit der Demokraten bemüht wird.
Ich denke, die Pflegebedürftigen werden es uns danken.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulf Fink von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Professor Pfaff, wirstreiten uns gerade darüber, ob wir Ihnen zu 95 Prozentoder zu 99 Prozent attestieren sollen, daß es eigentlicheine ganz gute Rede war, die Sie gehalten haben.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem vor-liegenden Gesetzentwurf zu. Er enthält notwendige undsinnvolle Verbesserungen für die Pflegebedürftigen. Siewurden im übrigen bereits in der letzten Legislaturperi-Dr. Martin Pfaff
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ode im Bundesarbeitsministerium konzipiert, konntenaber parlamentarisch nicht mehr durchgesetzt werden.Wir hätten uns gewünscht – Sie sind darauf einge-gangen, Professor Pfaff –, bei dieser Gelegenheit zu-gleich die Situation der Altersverwirrten verbessernzu können. Die Gruppe der Altersverwirrten stellt einengroßen und immer weiter wachsenden Anteil an den Hil-fe- und Pflegebedürftigen dar. Fast die Hälfte aller Pfle-geheimbewohner haben altersbedingte demenzielle Er-krankungen.Die Absicherung dieses Personenkreises hat von An-fang an ein Problem der Pflegeversicherung dargestellt.Die Pflegeversicherung kennt nur einen sehr engen, ver-richtungsbezogenen Begriff der Pflegebedürftigkeit,
der auf Körperpflege, Ernährung und Mobilität sowiehauswirtschaftliche Versorgung abstellt. Personen mitgeistigen Behinderungen und psychischen Erkrankun-gen, wie zum Beispiel die Altersverwirrten, haben aberoft einen Hilfebedarf, der außerhalb dieser Verrichtun-gen anfällt. Deshalb muß an dieser Stelle zusätzlich et-was getan werden.
In der Koalitionsvereinbarung hat die Regierungsko-alition die Notwendigkeit anerkannt, hier zu Änderun-gen zu kommen. Dann haben das Land Bayern und dasLand Baden-Württemberg konkrete Gesetzentwürfeerarbeitet, um dieses Problem zu lösen. Sie sind mit die-sen Gesetzesanträgen allerdings an der Mehrheit imBundesrat gescheitert. Auch ein entsprechender Ent-schließungsantrag unserer Fraktion ist an der Stimmen-mehrheit der Regierungskoalition gescheitert. Die not-wendigen Verbesserungen für die Altersverwirrten wirdes also zumindest jetzt nicht geben. Ich bedaure das imInteresse dieser Mitbürger sehr. Ich hätte ihnen gerne ei-ne bessere Nachricht überbracht.
Die Regierungskoalition hat die Ablehnung unsererAnträge auf der einen Seite damit begründet, daß sie ge-sagt hat, sie brauche noch Zeit für die Beratung; das warjetzt insbesondere auch Ihre Begründung. Sie hat aberauf der anderen Seite auch finanzielle Gründe angeführt.Sie hat gesagt, die Gesetzesanträge von Baden-Württemberg und Bayern seien so nicht finanzierbar.In der Tat scheint es so zu sein, daß die Zeiten dergroßen Überschüsse der Pflegeversicherung vorbeisind. In dem Hearing des Ausschusses für Gesundheitund dann in einem ausführlichen Schreiben vom 9. Junidieses Jahres hat sich das Bundesversicherungsamt inBerlin zur finanziellen Entwicklung der Pflegeversiche-rung geäußert. Danach betrug das Gesamtvermögen derPflegeversicherung am Ende des vergangenen Jahreszwar 9,64 Milliarden DM – davon muß man natürlichdie gesetzlich vorgeschriebene Rücklage abziehen –,aber das Vermögen hat sich in 1998 nur noch um250 Millionen DM erhöht, und für 1999 erwartet dasBundesversicherungsamt lediglich ein ausgeglichenesErgebnis. Übrigens erwartet das Bundesversicherungs-amt auch für die kommenden Jahre nur noch ausgegli-chene Ergebnisse.Wir wissen alle miteinander: Prognosen sind unsi-cher. Auch das Bundesversicherungsamt mag sich irren.Deshalb fordern wir heute in einem Entschließungsan-trag, daß die Koalition darlegen soll, wie sie denn dasVersprechen, den Altersverwirrten zu helfen, das sie ge-geben hat, nun einlösen will. Das Abstimmungsergebniswird – nicht nur wegen des Punktes Dezember; über denhätten wir ja reden können – vor allem deshalb auf-schlußreich sein, weil Sie letztendlich die spannendeFrage beantworten müssen, wie Sie es zwar einerseitsfür finanziell unvertretbar halten, jetzt den Altersver-wirrten in dem Umfang zu helfen, wie es Bayern undBaden-Württemberg vorgeschlagen haben, es aber ande-rerseits für vertretbar halten, der Pflegeversicherungjährlich mindestens 600 Millionen DM – der VdAK sagtsogar: 1 Milliarde DM – an Einnahmen zu entziehen.Denn Sie haben ja den Sparbeschlüssen von HerrnEichel zugestimmt, und diese sehen vor, daß die Pflege-versicherung künftig Hunderte von Millionen DM weni-ger von der Arbeitslosenhilfe bekommt und wegen dergeringeren Rentenanpassung weitere Hunderte von Mil-lionen DM bei der Pflegeversicherung ausfallen.
Das ersparte Geld, Professor Pfaff, kommt nicht denPflegeversicherten und auch nicht den Pflegebedürftigenzugute, sondern es wird genutzt, um den Etat von HerrnEichel zu sanieren.
Das Geld der Pflegeversicherung gehört den Pflegever-sicherten und Pflegebedürftigen. Es ist nicht dazu da,Lücken zu schließen, die als Folge einer verfehltenWirtschafts- und Finanzpolitik im Bundesetat aufgeris-sen wurden.
Herr
Kollege Fink, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Professor Pfaff?
Sehr gern.
Mit dem letzten Satz stimmeich zu mehr als 95 Prozent überein. Aber, geschätzterHerr Kollege Fink, ist Ihnen bekannt, daß zum Beispieldie neuen Schätzungen des BMG einen Ausfall in Höhevon 350 Millionen DM bedeuten würden, wenn dieBeiträge für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe zurPflegeversicherung in der nur diskutierten und bisher inkeiner Weise verabschiedeten Form umgesetzt würden?Es geht also nicht um 500 Millionen DM à la „Handels-blatt“ oder um andere Schätzungen. Im schlimmsten Fallgeht es nach BMG-Schätzung, so wurde mir berichtet,Ulf Fink
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4018 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
(C)
um 350 Millionen DM. Das ändert nichts am Prinzip,aber an der Größenordnung.
Professor Pfaff, der VdAK
schätzt die Beitragsausfälle durch Senkung der Bei-
tragsbemessungsgrenze – es wird statt 80 Prozent nur
noch der tatsächliche Zahlbetrag bei der Arbeitslosenhil-
fe berücksichtigt – nicht auf 350 Millionen DM, sondern
auf 604 Millionen DM. Das wollen wir aber mal offen-
lassen. Sie müssen aber zu den 350 Millionen DM hin-
zurechnen, daß der Übergang der originären Arbeitslo-
senhilfe auf die Kommunen weitere Beitragsausfälle bei
der Pflegeversicherung verursacht. Hinzurechnen müs-
sen Sie, daß durch die geringere Rentenanpassung – sie
soll in den nächsten zwei Jahren nicht mehr nach den
Nettolöhnen erfolgen, sondern nur nach der Preissteige-
rungsrate – auch weniger Einnahmen bei der Pflegever-
sicherung ankommen. Dafür müssen Sie mindestens 200
bis 300 Millionen DM einsetzen. Dann kommen Sie auf
wenigstens 600 Millionen DM, die der Pflegeversiche-
rung durch die Sparbeschlüsse fehlen werden.
Damit wir uns recht verstehen: Wir verneinen natür-
lich nicht die Notwendigkeit, zu sparen, aber wenn man
spart, dann muß man nach einem klaren und einsichtigen
Konzept vorgehen. Wir waren es, die das große Werk
der Pflegeversicherung umgesetzt haben, und zwar zu
einer Zeit, als es die großen Aufgaben der Wiederverei-
nigung zu bewältigen galt. In einer solchen Zeit das gro-
ße Werk der Pflegeversicherung umzusetzen, das war
wirklich eine beachtliche politische Leistung.
Wir sind aber nicht blind gegenüber den Problemen.
Von den Altersverwirrten habe ich bereits gesprochen.
Daneben gibt es aber noch weitere Probleme, die mit
den Stichworten „Abrechnung und Pflege im Minuten-
takt“, „Verschiebebahnhöfe zu Lasten der Pflegebedürf-
tigen zwischen Sozialämtern und Pflegeversicherung“
und dem letztlich nicht befriedigend gelösten – und in
dieser Konstellation vielleicht gar nicht lösbaren – Pro-
blem des Verhältnisses von Eingliederungshilfe für Be-
hinderte zu Pflegeversicherung beschrieben sind.
Wenn man diese Probleme lösen will, dann braucht
man dazu ein klares und überzeugendes Konzept. Dann
reicht es eben nicht aus, Professor Pfaff, daß der so
plötzlich aus dem Amt geschiedene ehemalige Finanz-
minister Lafontaine aus heiterem Himmel erklärt, die
Pflege solle künftig aus Steuermitteln finanziert werden
und sich an der Bedürftigkeit orientieren, und der sich
noch im Amt befindliche Wirtschaftsminister Müller
diesen Vorschlägen von Herrn Lafontaine ausdrücklich
zustimmt.
Man darf auch nicht, wie jetzt beabsichtigt, die Kas-
sen der Pflegeversicherung für Zwecke plündern, für die
diese gar nicht vorgesehen sind. In der sozialen Markt-
wirtschaft unterliegt nicht nur der wirtschaftliche Teil
ordnungspolitischen Prinzipien. In der sozialen
Marktwirtschaft muß sich auch der soziale Teil an ord-
nungspolitischen Prinzipien orientieren. Ich glaube, dar-
über sind wir einer Meinung. Leider vermissen wir diese
ordnungspolitischen Prinzipien nicht nur in der Wirt-
schafts- und Finanzpolitik dieser Koalition, sondern
auch in der Sozialpolitik.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Fink, die Art und Weise, in der Sie gerade die Kri-tik an unserer Politik vorgetragen haben, stimmt michfür die weiteren Beratungen über die Pflegeversicherungund über die wichtigen Aufgaben, die zur Lösung anste-hen, doch sehr hoffnungsvoll. Daß wir heute alle ge-meinsam diesem Gesetzentwurf zustimmen, ist Aus-druck der Einmütigkeit von Opposition und Regierungs-fraktionen in der Frage, daß die Weiterentwicklung derPflegepolitik eine gemeinsame Aufgabe ist und gemein-same Anstrengungen verlangt. Wenn man einmal vonmeiner Person und meiner Fraktion absieht, ist sie hierja auch von allen gemeinsam konzipiert worden. Ichnehme aber das Erbe, das man mir weitergegeben hat,gerne an.
– Ich versichere Ihnen, Herr Lohmann, daß ich diesesErbe ganz sorgsam verwalten werde.
Ich will nicht verhehlen – vielleicht mögen sich eini-ge von denen, die damals dabei waren, erinnern –, wiezornig ich vor einem Jahr war, als die Verabschiedungdieses Gesetzes gescheitert ist. Ich freue mich, wenn unsseine Verabschiedung jetzt gelingt. Wir haben es nichtverändert, damit alle die Möglichkeit haben, zuzustim-men, die schon vor einem Jahr darüber verhandelt ha-ben. Es geht um leistungsrechtliche Verbesserungen beider Tages- und Nachtpflege, die ich für sehr notwendighalte, um einen leichteren Zugang zur Kurzzeitpflegesowie um die Kostenübernahme bei Pflichtpflegeeinsät-zen. Der Kollege Pfaff hat ja eben schon ausführlichdargestellt, um welche Bereiche es geht. Man sollte hiernoch einmal in Ergänzung zu dem, was Sie ausgeführthaben, darauf hinweisen, daß es sich angesichts der Tat-sache, daß die Mehrheit derjenigen, die die Pflege inprivaten Haushalten wahrnehmen, Frauen sind, immerauch um ein Stück Frauenpolitik handelt, wenn wir indiesem Bereich Verbesserungen verabschieden.
Es ist – auch das gehört zu meiner Art, wie ich dasErbe annehme, Herr Kollege Lohmann – durch die Ein-führung der gesetzlichen Pflegeversicherung zweifels-ohne ein großer Fortschritt erreicht worden. Dieser Fort-Dr. Martin Pfaff
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schritt drückt sich für mich nicht nur in der Zahl von 1,8Millionen Menschen aus, die als pflegebedürftige Men-schen regelmäßig Geld- oder Sachleistungen bekom-men. Wichtig ist über die reinen Geldzahlungen hinaus,daß hier Selbstbestimmungsspielräume geschaffenwerden und es das Selbstwertgefühl stärkt, wenn manandere für ihre Arbeit entlohnen kann. Man sollte esnicht geringschätzen, daß die Pflegeversicherung überdas hinaus, was sie für Individuen getan hat, die Kom-munen ganz deutlich von Sozialhilfezahlungen entlastethat.Gleichzeitig – da stimme ich ausdrücklich den Kolle-gen Pfaff und Fink zu – gibt es eine Reihe von Proble-men innerhalb der Pflegeversicherung, die wir nichtignorieren dürfen und die dringend einer Lösung zuge-führt werden müssen. Viele der Probleme, die Kritik vonBetroffenen, Wohlfahrtsverbänden und Selbsthilfegrup-pen auslösen, sind auf den Charakter der Pflegeversiche-rung als Teilabsicherung zurückzuführen, also derart,daß die Leistungssätze nach oben begrenzt sind und derPflegebegriff nur einen Teil der Hilfen umfaßt, auf dieviele Pflegebedürftige angewiesen sind.Ich kann die Forderung nach Umsetzung eines ganz-heitlichen Pflegebegriffs der Sache nach vollkommennachvollziehen. Ich hielte es für angemessen, auf kör-perliche, seelische und soziale Aspekte der Pflege glei-chermaßen zu verweisen.
Trotzdem werden auch wir diese Forderungen unter dengegebenen Bedingungen nicht vollständig erfüllen kön-nen. Eine Öffnung des Pflegebegriffs würde die Zahl derLeistungsberechtigten und damit natürlich auch dieAufgaben der Pflegeversicherung drastisch steigen las-sen. Dann wären wir mit der Frage konfrontiert, ob wirauf Dauer bereit sind, eine Deckelung des Beitragssat-zes, also seine Begrenzung, zu akzeptieren. Ich denke,daß auch Ihre Seite durchaus anerkennt, daß es einernsthaftes Problem bei der Ausweitung des Pflegebe-griffs gibt. So interpretiere ich jedenfalls Ihren geänder-ten Entschließungsantrag.Wir haben zwei Hauptaufgaben bei der Weiterent-wicklung der Pflegeversicherung. Eine besteht darin –darauf hat der Kollege Fink eben schon hingewiesen –,die verschiedenen an der Absicherung des Pflegerisikosbeteiligten Sozialleistungssysteme gut aufeinander abzu-stimmen.
Frau Ministe-
rin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wolf?
Ja.
Die Botschaft hör‘ ich
wohl, allein mir fehlt der Glaube. Frau Ministerin, wie
passen Ihre Ausführungen dazu, daß Sie Herrn Eichel
oder Herrn Riester – ganz, wie Sie wollen –, obwohl für
die Pflegeversicherung so viele neue Aufgaben anste-
hen, jetzt 500 Millionen oder 600 Millionen DM – dar-
über läßt sich trefflich streiten; jedenfalls beachtlich viel
Geld – schenken? Früher bestand in diesem Haus Kon-
sens darüber, daß die Rücklagen der Pflegeversicherung
allein den Pflegebedürftigen zugute kommen und daß
damit keine Haushaltslöcher gestopft werden sollen.
Diesen Konsens verlassen Sie mit diesen Beschlüssen.
Wie passen Ihre Sorgen um die Pflegeversicherung und
um ihre künftigen Aufgaben dazu, daß Sie dieses Geld
jetzt einfach weggeben?
Ich habe gestern den Kollegen Blüm gegen frühereVorwürfe in Schutz genommen, daß man sich diebischverhalte, wenn man Änderungen bei Beitragssätzen,Einnahmen und Ausgaben, der Sozialversicherungenvornehme. In diesem Fall möchte ich meinen KollegenEichel gegen die Behauptung in Schutz nehmen, dawerde ihm persönlich etwas geschenkt. Der Haushalt,den wir als Bundesregierung gerade sanieren, ist unseraller Haushalt. Wir alle sind die Gesellschaft, der Staat.Die Frage, wieviel Schulden wir haben und wie wir mitden Staatsfinanzen umgehen, geht uns alle an.
Ich halte es wirklich für unangemessen, das so zu be-schreiben. Ich will nicht verhehlen, daß es für mich bit-ter ist und daß ich es gerne anders gehabt hätte. Ich habeauch die Kürzung in meinem Haushalt, dem Haushaltdes BMG, selbstverständlich nicht gerne vorgenommen.Aber wenn man eine Gesamtschau der Probleme vor-nimmt, dann muß man, glaube ich, sagen, daß die Bela-stung der Pflegeversicherung vertretbar ist. Sie wissen,daß wir das bei der Krankenversicherung entgegen denursprünglichen Plänen gelöst haben. Ich kann das So-zialsystem an einem solchen Punkt nicht isoliert be-trachten,
sondern muß es als ein Gesamtpaket sehen. Leider müs-sen wir eine Hypothek abtragen.Ich will noch einmal ganz deutlich sagen: Ich finde,es ist falsch, Worte wie „Wegschenken“ oder „Dieberei“oder „Jemandem wird fälschlicherweise Geld genom-men“ zu wählen. Wenn Sie es insgesamt betrachten,können Sie sagen: Das ist unser aller Geld, das Geld al-ler Bürgerinnen und Bürger. Wir suchen im Momentnach einer Balance, mit diesem Geld umzugehen.
Die beiden Hauptaufgaben, die ich sehe, habe icheben schon angesprochen. An der Absicherung desPflegerisikos sind verschiedene Leistungsträger be-teiligt: die Pflegeversicherung selber, die Krankenversi-cherung und die Sozialhilfe. Ich glaube, daß es für einenBundesministerin Andrea Fischer
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hohen Pflegestandard in der Zukunft wichtig ist, die Lei-stungspotentiale der verschiedenen Beteiligten voll aus-zuschöpfen. Das können wir erreichen, indem wir siebesser aufeinander abstimmen, Reibungsverluste undBürokratie abbauen. Das halte ich für eine der wichtig-sten Aufgaben, denen wir uns stellen müssen.Ein zweites Problemfeld der Pflegeversicherung, dasich für noch vordringlicher halte, ist die Frage der Qua-lität von Pflegeeinrichtungen. Dazu haben uns in denletzten Wochen und Monaten durchaus alarmierendeBerichte erreicht. Ich glaube, es herrscht große Einigkeitdarüber, daß man den Großteil der professionell Pfle-genden gegen den Vorwurf schlechter Pflege
in Schutz nehmen muß. Wir sind um so mehr aufgeru-fen, diejenigen, die schlecht arbeiten, zu guter Arbeit zuzwingen. Wir sind darüber im Gespräch mit den Lei-stungserbringern, mit den Verbänden; auch die Ländersind einbezogen. Auch die Initiative, die aus Bayern undBaden-Württemberg kommt, wird berücksichtigt wer-den. Ich glaube, daß wir schon im Laufe dieses Som-mers oder Herbstes eine Vorlage haben werden, mit derwir weiterkommen können.Ich meine, die Frage der besseren Berücksichtigungder Altersdementen und der psychisch Kranken mußganz oben auf unserer Agenda stehen; da bin ich mitIhnen selbstverständlich vollkommen einer Meinung.Gleichwohl werden Sie mir zugestehen: Als jemand, derdie Teilabsicherung der Pflegeversicherung, den einge-schränkten Pflegebegriff geerbt hat, bin ich manchmaldoch ein bißchen überrascht, wie Sie nach dem Regie-rungswechsel die Pflegeversicherung und ihre grundle-genden Regeln kritisieren – so, als hätten Sie nie etwasdamit zu tun gehabt. However!
Ich habe über diese Fragen ausführlich mit dem Bun-despflegeausschuß geredet, der mir – bei allen Differen-zen im Detail – in der Problembeschreibung recht gege-ben hat. Wir werden auch die Frage der Behandlung derDementen und der psychisch Kranken ebenso wie dieAbgrenzung der verschiedenen Systeme – Herr Finkhatte ja vollkommen recht, als er darauf hinwies –in enger Abstimmung mit dem Bundespflegeausschußangehen.Aber gerade Sie, die Sie immer sagen, wir seien beidem, was wir machen, zu hurtig, sollten uns mit IhremEntschließungsantrag nicht eine Deadline zum Ende desJahres setzen.
Wir werden es auch so hinbekommen; das ist jedenfallsunsere ernsthafte Absicht. Sie brauchen bestimmt keineSorge zu haben, daß wir uns ohne eine solche Deadlinenicht um dieses Thema kümmerten.
Herr Fink, eine
Zwischenfrage kann ich leider nicht mehr zulassen.
Aber ich gebe Ihnen gerne das Wort zu einer Kurzinter-
vention.
Frau Ministerin, da Sie Ihre
Rede schon beendet hatten, hatte ich nicht mehr Gele-
genheit zu einer Frage. Deswegen wähle ich die Form
einer Kurzintervention, auf die Sie dann ja antworten
können.
Sie haben zu Recht gesagt, daß Sie ganz offenbar mit
Herrn Eichel oder Herrn Riester eine Vereinbarung ge-
troffen haben, wonach die Beitragsausfälle, die durch
die Eichelschen Sparbeschlüsse auftreten, bei der Kran-
kenversicherung aufgefangen werden sollen. So habe ich
es jedenfalls verstanden. Zumindest haben Sie gesagt,
daß Beitragsausfälle nicht stattfänden. Eine vergleich-
bare Vereinbarung für die Pflegeversicherung haben Sie
offenbar nicht angestrebt und auch nicht getroffen.
Dazu möchte ich Ihnen eine Passage aus dem Schrei-
ben des Bundesversicherungsamtes vom 9. Juni vorle-
sen. Zunächst wurde ausgerechnet, was geschähe, wenn
die Pflegeversicherung mit jährlich zusätzlich 500 Mil-
lionen DM belastet würde. Die Beitragsausfälle auf
Grund der Eichelschen Sparbeschlüsse sind wahrschein-
lich sogar höher. Herr Sartori vom Bundesversiche-
rungsamt endet wie folgt: Die Zahlen des Mittel-Ists
zeigen, daß die Mehrbelastung mit 500 Millionen DM
jährlich die Mittel des Ausgleichsfonds in wenigen Jah-
ren aufbraucht. –
Wie wollen Sie die Verbesserung für die Altersver-
wirrten durchsetzen, wenn bereits durch diese Maßnah-
men das ganze Geld der Pflegeversicherung – es gehört
nun einmal den Pflegeversicherten – aufgebraucht wird?
Herr Kollege Fink, ich habe selbstverständlich darumgekämpft, daß die Beitragsbemessungsgrundlage für diePflegeversicherung genausowenig abgesenkt wird wiefür die Arbeitslosenhilfe. Ich bekenne hier, daß ich die-sen Kampf nicht erfolgreich bestanden habe. Insoweitweise ich erst einmal Ihre Unterstellung zurück, ichhätte mich nicht für die Pflegeversicherung eingesetzt.Ich habe eben in meiner Rede schon zum Ausdruckgebracht, daß ich nicht verhehle, daß das eine schwieri-ge und für mich persönlich bittere Entscheidung ist.Gleichwohl weise ich darauf hin, daß die Entwicklungder Finanzen der Pflegeversicherung, wenn wir weiter-hin an einem gesetzlich festgelegten Beitragssatz fest-halten, wie wir ihn jetzt haben, natürlich auch davon be-Bundesministerin Andrea Fischer
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einflußt wird, ob es uns gelingt, das mit dem großenHaushaltskonsolidierungspaket und den anderen Maß-nahmen angestrebte Ziel, eine Wiederbelebung derKonjunktur und damit auch eine Verbesserung der Be-schäftigungssituation, zu erreichen. Dies wird natürlichauch Folgen für die Finanzen der Pflegeversicherunghaben. Vor diesem Hintergrund empfand ich es als ver-tretbar, daß diese Entscheidung so getroffen wurde, auchwenn ich sie mir anders vorgestellt hätte. Aber davon,daß bei den Bemühungen um Haushaltskonsolidierungnicht jeder das bekommt, was er am liebsten möchte,können Sie sicherlich auch aus eigener Erfahrung einLied singen, auch wenn Sie es jetzt öffentlich nicht gerntun wollen. Trotzdem macht es im Interesse des großenGanzen Sinn, sich an einem solchen Prozeß zu beteili-gen, zumal es auch positive Rückwirkungen auf die Ein-zelteile haben wird. Vor diesem Hintergrund halte ichdas für vertretbar.
Jetzt erhält der
Abgeordnete Dr. Dieter Thomae das Wort.
Frau Präsidentin! Mei-
ne sehr geehrten Damen und Herren! Wir stimmen die-
sem Gesetzentwurf zu. Aber eines möchte ich hier schon
betonen: Wenn Sie in dem Bereich der Pflege um 500
Millionen DM kürzen, treffen Sie die Ärmsten. Das
empfinde ich als ausgesprochen unsozial; das muß man
sehr deutlich sagen.
Und ich bin schon erstaunt, daß Sie den Mut aufbringen,
den Bürgern zu sagen, daß bei Pflegefällen erheblich
gekürzt wird. Das werden Ihnen die Bürger eines Tages
vergelten. Sie sind seit wenigen Tagen eine unsoziale
Partei; denn Sie zeigen sehr deutlich, daß Sie gerade den
schwachen Bürgern soziale Leistungen entziehen. Das
ist das Brutale an Ihrer Politik.
In der Tat: Noch werden wir einige Leistungen in der
Pflegeversicherung finanzieren können. Herr Fink hat
aber sehr deutlich darauf hingewiesen – und auch Herr
Satori hat das noch einmal sehr deutlich gemacht; er war
in dieser Woche bei uns in Bonn –, daß, wenn das so
weitergeht, in fünf Jahren alle Reserven aufgebraucht
sind, zumal sich in der Pflegeversicherung neue Ent-
wicklungen abzeichnen. Die ambulante Pflege nimmt
ab, der Trend geht in Richtung stationäre Pflege. Das ist
eine ganz wichtige Entwicklung, die berücksichtigt wer-
den muß. Außerdem müssen wir – das sage ich sehr
deutlich – darüber nachdenken, den Demenzkranken zu
helfen. Daran kommen wir nicht vorbei.
Aber wir haben uns entschieden: Die Pflegeversiche-
rung ist keine Vollversicherung. Diesen Eckpunkt wird
man nicht aufgeben können. Außerdem muß man wis-
sen, daß wir die Pflegeversicherung nach diesen Jahren
auf ihre Struktur hin überprüfen, um herauszufinden,
inwieweit es die eine oder andere Einsparmöglichkeit
gibt. Ich weiß – und das wissen Sie fast alle –, daß es in
einigen Bereichen durchaus die Möglichkeit gibt, Ein-
sparungen vorzunehmen, um diese Leistungen zu finan-
zieren.
– Es gibt beispielsweise Einsparmöglichkeiten bei der
Zurverfügungstellung von Hilfsmitteln, zum Beispiel bei
Betten oder Rollstühlen.
– Wenn man sich das in der Praxis näher anschaut, Herr
Kirschner, dann sieht man, daß das nicht der Fall ist. Ich
könnte mir andere Lösungsmöglichkeiten vorstellen, die
effektiver und preisgünstiger sind. Ich behaupte nicht,
daß ich die Ideallösung habe. Ich sage nur: Bei neuen
Leistungen bedarf es einer Überprüfung des jetzigen
Leistungspaketes. Keine Kürzungen, aber wo es sinnvoll
ist, sollten wir Einsparungen auf den Weg bringen.
Wir wollen die Veränderungen in diesem Gesetzes-
werk. Wir wollen ebenfalls genau überprüfen, wie man
Demenzkranken und anderen Personengruppen helfen
kann. Das aber muß in Einklang stehen mit den Aussa-
gen des Bundesversicherungsamtes und der jetzigen Re-
gierungspolitik, die in diesem Bereich nennenswert ge-
kürzt hat. Das wird kein einfacher Weg sein. Aber dieser
Personenkreis muß von uns unterstützt werden. Diesen
Weg wollen wir gehen.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Zunächst stelle ich mit großer Freudefest, daß es möglich ist, in diesem Hause in Sachfragenzu einheitlichen Lösungen zu kommen. Wir werden jaalle dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Ichhoffe, daß das nachher, wenn wir über das Teilhabesi-cherungsgesetz reden, auch der Fall sein wird; es handeltsich um den gleichen Sachverhalt.Zweitens stelle ich fest, daß hier die Gelegenheitgenutzt wird, darüber zu reden, was man in Zukunftmachen müßte. Dazu muß ich sagen: Im Gegensatz zuIhnen, Herr Kollege Pfaff –der CDU brauche ich daserst gar nicht zu sagen –, halte ich die Pflegeversiche-rung in keiner Weise für ein erfolgreiches Werk; sie hatnämlich eine Menge Schaden angerichtet.
Jede Menge Behinderteneinrichtungen werden zum Bei-spiel in Pflegeeinrichtungen umgewandelt. Dadurch fälltjegliche pädagogische, soziale und kulturelle Betreuungweg. Das halte ich für eine Katastrophe.Weiterhin stellen wir fest, daß Sie – das finde ichwichtig – einen Weg vorgezeichnet haben, der so etwaswie ein Rückzug aus der Sackgasse ist. Das ist schon einBundesministerin Andrea Fischer
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4022 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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gewisser Fortschritt. Wenn wir aus der Sackgasse heraussind, kommen wir an einen Kreuzweg. Und da müssenSie sich entscheiden. An diesem Scheideweg stehenganz viele Wegweiser von der „Lebenshilfe“, von derBAGH, vom VdK, vom Reichsbund und vom ABiD. Ichkönnte noch mehrere Behinderten- und Wohlfahrtsor-ganisationen aufzählen. Alle Schilder weisen in eineordentliche Richtung. Ich hoffe, daß wir diese Richtungauch gemeinsam einschlagen werden.Es wird hier immer davon geredet, daß die Pflege-versicherung auch bei dementen Menschen greift. Je-der von Ihnen weiß, daß die Pflegeversicherung dafürabsolut ungeeignet ist; denn bei dementen, bei geistigbehinderten und bei psychisch kranken Menschen gehtes nicht darum, denen – mit Verlaub – den Hinternabzuwischen.
– „Auch.“ – Es geht vor allem darum, daß jemand die-sen Menschen im entscheidenden Moment sagt, wannsie sich den Hintern wischen sollen. Diese Menschenmachen es nicht, wenn es Zeit ist, sondern nur dann,wenn es ihnen gesagt wird. Entschuldigung, daß ich hierin drastischen Worten gesagt habe, worum es in derPflege eigentlich geht.Bevor wir über die Verbesserung der Bedingungenfür demente Menschen reden, müssen wir zuerst dafürsorgen, daß diese Menschen in der Gesellschaft über-haupt akzeptiert werden. Wir müssen dafür sorgen, daßes nichts Unanständiges ist, wenn ein FamilienmitgliedAlzheimer oder andere demente Erscheinungen hat. Wirkönnen diesen Menschen vor allen Dingen dadurchhelfen, daß wir sie als Teil unserer Gesellschaft akzep-tieren.Wenn wir das vorliegende Gesetz, das nur einen ge-ringen Fortschritt bedeutet, gleich verabschiedet habenwerden, freue ich mich auf die Debatten darüber, wieMenschen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, so ge-holfen werden kann, daß sie soweit wie möglich einselbstbestimmtes Leben führen können, soweit wiemöglich frei entscheiden können, wo sie leben wollen– also nicht in Einrichtungen, sondern möglichst zuHause – und wie sie ihren Tag strukturieren wollen.Darum geht es in Zukunft.Ich bitte, daß wir den heutigen Konsens in wichtigenPunkten beibehalten. Wenn wir das schaffen, könnenwir uns über 500 Millionen DM oder noch größereSummen gerne streiten. Ich hätte vor allen Dingen nochein paar inhaltliche Vorschläge einzubringen. Darübermüssen wir nachher diskutieren.Danke schön.
Ich schließedamit die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-derung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Das sinddie Drucksachen 14/580 und 14/1203. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.– Stimmt jemand dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses,also einstimmig, angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache14/1217. Der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert hat eine per-sönliche Erklärung zu seinem Abstimmungsverhaltenabgegeben.*) Sind Sie damit einverstanden? – Dankeschön. Dann nehmen wir sie mit Ihrer Zustimmung zuProtokoll.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsan-trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. sowie gegen dreiStimmen der PDS bei Enthaltung der übrigen Stimmender PDS abgelehnt.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zudem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen zur Änderung des ElftenBuches Sozialgesetzbuch, Drucksache 14/1203. DerAusschuß für Gesundheit empfiehlt, den Gesetzentwurfauf Drucksache 14/407 für erledigt zu erklären. Werstimmt für diese Beschlußempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDSgegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-nommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenKoppelin, Hildebrecht Braun , ErnstBurgbacher, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Feierliche Gelöbnisse der Bundeswehr in derÖffentlichkeit– Drucksache 14/284 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichAdam, Paul Breuer, Georg Janovsky, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUÖffentliche feierliche Gelöbnisse der Bundes-wehr– Drucksache 14/641 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuß*) Anlage 4Dr. Ilja Seifert
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(D)
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidiLippmann-Kasten, Dr. Winfried Wolf, Fred Geb-hardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSKeine feierlichen Gelöbnisse der Bundeswehrin der Öffentlichkeit– Drucksache 14/642 –Überweisungsvorschlag:VerteidigungsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobeidie PDS sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Abge-ordnete Braun das Wort.
Frau Prä-sidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mil-lionen junge Deutsche haben den Grundwehrdienst ge-leistet und sind damit dem Auftrag des Grundgesetzesund des Deutschen Bundestages nachgekommen. Siehaben unserem Land zwischen zehn und 18 Monatengedient und sind Soldat geworden. Sie mußten persönli-che Interessen hintanstellen und Einkommensverluste inbeträchtlichem Umfang hinnehmen bzw. haben wichtigeZeit in ihrer beruflichen Ausbildung verloren. Sie habenunserem Land ein großes Opfer gebracht.
Wenn die jungen Menschen ihren Wehrdienst antre-ten, geloben sie nicht nur, unserem Staat einen Teil ihrerJugend zur Verfügung zu stellen. Sie geloben zugleich,das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapferzu verteidigen. In anderen Worten: Sie geloben, ihrLeben, wenn es denn sein muß, für unser Land einzu-setzen. Das ist keine Kleinigkeit! Die deutsche Öffent-lichkeit schuldet diesen jungen Männern Dank undAnerkennung.Es ist daher sehr naheliegend, daß diese Gelöbnisseöffentlich stattfinden und daß Repräsentanten diesesStaates und der zivilen Gesellschaft an diesen Feiernteilnehmen. Oft kommen Familien von Soldaten mit, diediese Gelöbnisse mit bangem Herzen, aber auch mitStolz verfolgen. Schließlich ist das Soldatwerden einwichtiger Einschnitt im Leben der Söhne, Brüder undmanchmal auch schon Väter. Kein Soldat und schon garkein Wehrpflichtiger muß sich in unserer Gesellschaftverstecken oder für seine Bereitschaft, diesem Lande zudienen, entschuldigen. Wer Soldaten und die Gelöbnissein die Kasernen verbannen oder sie gar abschaffen will,macht einen großen Fehler.
Es gibt viele Menschen, die die Notwendigkeit einerArmee nicht verstanden haben, weil sie die Bedro-hungspotentiale in unserer sich verändernden Welt nichtzur Kenntnis nehmen wollen. Noch am 7. Juni 1995 er-klärte die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen,Angelika Beer:Der 40. Jahrestag der Bundeswehr ist für uns dieHerausforderung für eine radikale Abrüstung undReduzierung der Bundeswehr. Erst dann, nach Ab-schaffung der Bundeswehr, haben wir einen wirk-lichen Grund zu feiern. Wir gratulieren allenKriegsdienstverweigerern.
Meine Damen und Herren, mittlerweile hören wir imVerteidigungsausschuß gar seltsame Schalmeienklängevon Frau Beer und von Herrn Nachtwei. Aber es gab jaschon einmal einen großen Evangelisten, der sehr plötz-lich vom Saulus zum Paulus wurde. Nur war es damalsdie göttliche Eingebung, die die Veränderung zustandegebracht hat, jetzt war es der Umzug von den Opposi-tionsbänken auf die Regierungsbank.
Der Einsatz der Bundeswehr im Oderbruch, in Bosni-en, in Mazedonien oder jetzt im Kosovo muß auch demverbohrtesten Ideologen die Zweifel an der Lauterkeitder Motive der Friedenspolitik unseres Staates und derHaltung unserer Soldaten genommen haben. Wenn den-noch unheilbare Irrwische in der Politik von Militarisie-rung des öffentlichen Lebens sprechen und deshalb öf-fentliche Gelöbnisse angreifen, dann stößt diese Haltungauf den erbitterten Widerstand all derer, denen unsereSoldaten, die ausschließlich dem Frieden verpflichtetsind und dem Frieden dienen, am Herzen liegen.
Für die Frage der öffentlichen Gelöbnisse scheint inder Regierung Herr Minister Trittin zuständig zu sein.
Seine schrillen und unverantwortlichen Äußerungen ha-ben nicht nur nachhaltige Zweifel an seiner Eignungzum Bundesminister aufkommen lassen. Es gibt vieleMenschen im Land, die „Trittin“ für ein Umweltgifthalten. Sie haben gar nicht so unrecht, denn was Trittinmit seinen unsäglichen Äußerungen zu öffentlichenGelöbnissen, speziell in Berlin, gesagt hat, war geistigeUmweltvergiftung in einer Art, die für ein Mitglied derBundesregierung schlechterdings unerträglich ist.
Sicherlich ist es Sache des Kanzlers, zu entscheiden, ober in seinem Team derartige Leute haben will, die er-hebliche Zweifel an ihrer Haltung zum Grundgesetzaufkommen lassen.Der Deutsche Bundestag wird aber heute mit großerMehrheit – das läßt sich schon jetzt sagen – klarstellen,daß er hinter den wehrpflichtigen Soldaten und hinterVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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der Bundeswehr insgesamt steht, da die Bundeswehr un-ser aller Vertrauen hat und wir der Bundeswehr und de-nen, die in ihr dienen, die Gewißheit geben wollen undmüssen, daß die Entgleisungen eines Herrn Trittin fürdieses Parlament nicht repräsentativ sind.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
SPD spricht jetzt der Kollege Johannes Kahrs.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herrn! Die F.D.P. beantragt,daß wir hier und heute den Bundesminister der Verteidi-gung, Rudolf Scharping, unterstützen. Das ist eine guteSache. Das tun wir als Sozialdemokraten natürlich im-mer gerne.
Aber ich frage Sie: Braucht man dafür einen Antrag derF.D.P.?
– Natürlich nicht! Aber es geht der F.D.P. ja auch garnicht darum, unserem Vereitigungsminister den Rückenzu stärken. Es geht ihr und der CDU noch nicht einmaldarum, der Bundeswehr ein Zeichen der Unterstützungzu geben. Worum es der Opposition hier geht, sind par-teipolitische Tricks, sonst nichts.
Wir Sozialdemokraten haben in den vergangenen Jah-ren immer wieder festgestellt, daß die Bundeswehr einParlamentsheer ist. Sie gehört weder der Regierungnoch einer Partei, sondern ist Teil unserer ganzen Ge-sellschaft.
Die Bundeswehr beruht auf der allgemeinen Wehr-pflicht. In einem feierlichen Gelöbnis bekennt der wehr-pflichtige Soldat seine Treue zur BundesrepublikDeutschland. Öffentliche Gelöbnisse sind der sichtbareAusdruck dafür, daß die Bundeswehr in der Mitte unse-rer Gesellschaft steht.
Als ich 1984 mit meinen Kameraden vom Panzergre-nadierbataillon 322 in Schwanewede gelobte, der Bun-desrepublik Deutschland treu zu dienen und das Rechtund die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu vertei-digen, war dies für mich ein wichtiger Moment. Inzwi-schen bin ich Hauptmann der Reserve und habe vieleGelöbnisse miterlebt und mit vielen Wehrpflichtigendarüber gesprochen. Eines kann ich Ihnen sagen: DieKameraden wissen genau, was sie da tun, und sie wissenauch, wofür sie es tun.
Sie stehen persönlich dafür ein, diese Gesellschaft undihre Werte zu schützen und gegebenenfalls zu vertei-digen. Deswegen sind öffentliche Gelöbnisse im Prin-zip an fast jedem Ort und zu fast jedem Zeitpunkt mög-lich.Wie oft allerdings ein feierliches Gelöbnis in der Öf-fentlichkeit abgehalten werden soll, ist – jetzt kommenSie – eine Frage des Einzelfalls.
Nach der einschlägigen Dienstvorschrift – die ist hof-fentlich auch Ihnen nicht unbekannt – ist das Gelöbnisin der Kaserne die Regel und das öffentliche Gelöb-nis die Ausnahme. Die war auch gültig, als Sie regier-ten. Das soll auch so bleiben. Auch an welchem Ortund zu welchem Zeitpunkt ein feierliches öffentlichesGelöbnis stattfinden soll, ist eine Frage – jetzt hören Siegut zu, Herr Breuer – des politischen Gespürs und Takt-gefühls, auch und gerade gegenüber den Wehrpflich-tigen.
Wir jedenfalls mißbrauchen unsere Bundeswehrnicht. Wir provozieren nicht bewußt Streit und Unruhedurch eine absichtlich kontroverse Auswahl von Ort undZeit der Gelöbnisse und schlachten dies für die Innen-politik aus. Wir lassen die jungen Soldatinnen und Sol-daten nicht auspfeifen, nur damit wir einen Grund ha-ben, den politischen Gegner anzuschwärzen.
Diesen Standpunkt – ja zu öffentlichen Gelöbnissen,aber mit Vernunft und Sachlichkeit – haben wir Sozial-demokraten in den letzten Jahren in diesem Hohen Hau-se schon des öfteren vertreten. Wir haben das bei denDebatten im Juni 1996, im Januar 1998 und erneut beider Fragestunde im Januar 1999 getan.
– Entschuldigung, Herr Kollege.Dieser Standpunkt ist richtiger als je zuvor. Die ge-meinsamen öffentlichen Gelöbnisse der deutschen Bun-deswehr mit jungen Soldatinnen und Soldaten ausFrankreich, Polen und der Tschechischen Republik, umnur einige zu nennen, sind ein sinnstiftendes und schö-nes Zeichen für die neue Art des Miteinanders in Euro-pa.
Kurzum: Wir Sozialdemokraten haben keinen Grund,unseren richtigen und hier beständig vorgetragenenHildebrecht Braun
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Standpunkt zu ändern. Das wissen Sie genau, meineDamen und Herren von der Opposition.
Warum zetteln Sie dann diese überflüssige Debatte an?
Diese Debatte, die schon zweimal verschoben wurde,weil sie während der Kampfhandlungen im Kosovo –jetzt möge die F.D.P. zuhören – kleinkariert gewirkthätte, ist heute, wo unsere Soldaten im härtesten und ge-fährlichsten Einsatz ihrer Geschichte stehen, nicht weni-ger kleinkariert.
Sie tun dies weder für die Bundeswehr, meine Damenund Herren von der Opposition, noch für Rudolf Schar-ping, noch für eine ernsthafte Sachdebatte. Ein Kollegeder CSU hat kürzlich klar und deutlich ausgesprochen,worum es Ihnen hier geht. Er hat die Ansicht vertreten,daß diese Debatte geführt werden muß, weil da endlichklar werden würde, wie es die verschiedenen politischenLager mit der Bundeswehr halten.Das ist Ihr Ziel: Sie wollen uns vorführen, weil wirIhre abstrakten Treueschwüre nicht unterschreiben wer-den. Um diese Art von Gelöbnissen, Herr Breuer, gehtes Ihnen.
In den gleichen Sack gehört auch das durchsichtigeStück der CDU zum Thema Verunglimpfung der Bun-deswehr. Außerdem wollen Sie ablenken, ablenken vonIhren eigenen Versäumnisse der letzten Jahre.
Die Regierung von Union und F.D.P. und ihr letzterVerteidigungsminister haben die Bundeswehr in ein fi-nanzielles und organisatorisches Desaster geführt,
wobei das Wort Führung da noch geschmeichelt ist.
Sie hat die Investitionen gekürzt – das wissen Sieauch, Herr Breuer – und die Ausrüstung so auf denHund gebracht, daß hochwertiges Gerät heute ausge-schlachtet wird. Sie hat eine Atmosphäre des Jasager-tums gefördert, statt militärische Vordenker zu ermuti-gen.
Seien Sie einmal glücklich – und hören Sie sowiesoeinmal zu –, daß wir wegen der Lage im Kosovo ausTaktgefühl zur Zeit diese Bilanz von Volker Rühe nichtstärker thematisieren. Dazu haben wir im Wahlkampf inSchleswig-Holstein Zeit genug.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kahrs,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Selbstverständlich.
Herr Kol-
lege, würden Sie mir bitte erläutern, welcher Satz in dem
Antrag, den wir gestellt haben, Ihr Mißfallen erregt, so
daß Sie überhaupt darüber nachdenken können, den An-
trag eventuell insgesamt abzulehnen, wie Sie das im
Moment signalisieren?
Herr Kollege, in IhremAntrag hat mir überhaupt kein Satz mißfallen.
– Lassen Sie mich doch ausreden.Sie loben in diesem Antrag die SPD, den Bundesver-teidigungsminister, diese Regierung, und das ist gut so.Das können wir alle nur unterstützen.
Es ist aber relativ selten, daß die Opposition sich hierhinstellt und die Regierung lobt,
und dann fragt man sich natürlich, was dahintersteckt.
Wenn man genauer guckt, dann stellt man fest, daß Siehier Debatten über öffentliche Gelöbnisse und ähnlichePunkte führen wollen,
aber die wesentlichen Punkte, um die es hier geht, ver-schleiern, nämlich den katastrophalen Zustand der Bun-deswehr, den Sie zu verantworten haben.
Und jetzt, da Verteidigungsminister Scharping dieArbeit macht und neben seinen anderen Pflichten, dieweiß Gott groß genug sind, auch noch die von Ihnenhinterlassenen Zustände aufräumen muß, kommen Siedaher und bauen hier Pappkameraden wie diese Gelöb-nisanträge oder die sogenannte Ehrenschutzkampagneauf. – Ablenken wollen Sie, meine Damen und Herren,einfach nur ablenken!
Johannes Kahrs
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Die gleiche Art, den politischen Gegner auf Kostender Truppe vorführen zu wollen, haben Sie schon be-trieben, als Sie noch die Mehrheit in diesem Hause hat-ten.Bei uns Sozialdemokraten zieht der von Ihnen ge-wünschte Showeffekt sowieso nicht mehr, weil inzwi-schen jeder sieht, daß Rudolf Scharping die Arbeit bes-ser macht, als Sie das je gemacht haben.
Gleichzeitig wollen Sie mit diesen Anträgen einenKeil zwischen SPD und Grüne treiben. Das wird Ihnennicht gelingen. Die Kollegen von den Grünen habennach ernsthaften Debatten,
denen Respekt gebührt, Herr Breuer, Verantwortungübernommen.Ob die kindischen Spielchen der Union und derF.D.P. ebenfalls die Worte „ernsthaft“ und „verantwor-tungsvoll“ verdienen, das beantworten Sie mal besserselbst.
Wissen Sie, wir Sozialdemokraten sind das von Ihnenschon gewohnt, uns langweilt das ja auch schon. DieGrünen werden das auch überleben.Nur daß die PDS auf Ihr durchsichtiges Manöver her-einfällt und sich mit ihrem üblichen Tamtam vom preu-ßischen Militarismus produziert, das ist peinlich. IhrVokabular war schon lange vor Eduard von Schnitzlerdas gleiche. Bei Ihrer Art von Pazifismus kommt einemdas kalte Grausen.
Sie plakatieren in Hamburg mit verschämten Ein-schüben „Soldaten sind Mörder“ und meinen damit dieSoldaten der Bundeswehr. Aber als in den letzten Mo-naten Vertreibungen und Massenmorde stattgefundenhaben, wie die grauenvollen Funde dieser Tage bestäti-gen, da waren Sie stolz darauf, als erste im serbischenStaatsfernsehen aufzutauchen und Herrn Milosevic dieHand zu schütteln.
Sie haben in den letzten Monaten also deutlich gezeigt,was wir von Ihnen zu halten haben. Soweit also nichtsNeues.Aber daß Sie, meine Damen und Herren von derF.D.P. und der CDU/CSU, sich nicht schämen, ausge-rechnet jetzt, da die Bundeswehr im Einsatz steht, schonwieder mit aufgesetztem Pathos Ihre parteipolitischenSpielchen auf dem Rücken der Soldaten auszutragen,das ist wirklich neu. Lassen Sie das doch bitte bleiben,zum Wohle der Bundeswehr, dieses Hauses und zumWohle unseres Landes.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kahrs,
dies war Ihre erste Rede hier im Deutschen Bundestag.
Ich beglückwünsche Sie ganz herzlich im Namen des
ganzen Hauses.
Es ist besonders hervorzuheben, daß Sie sowohl eine
Frage zugelassen als auch die Zeit mehr als eingehalten
haben. Das kommt, wie wir alle wissen, in diesem Hau-
se selten vor.
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kol-
lege Werner Siemann.
Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeKahrs, ich kann Ihr Erstaunen nicht so ganz verstehen,weshalb die Opposition die Regierung so selten lobt. Esgibt auch keinen Grund, die Regierung zu loben,
bei dem Unsinn, bei dem Murks, der in den letzten Wo-chen und Monaten gemacht worden ist.
Ich finde es auch sehr bedauerlich, Herr Kahrs, daßSie die Debatte mit Begriffen wie „parteipolitischeTricks“ führen. Ich denke, das ist der Sache nicht ange-messen. Hier geht es um unsere Soldaten und um nichtsanderes. Man muß die Unterstellung zurückweisen, daßin diesem Punkt parteipolitische Tricks angewendetworden seien.
Herr Kahrs, ich habe Ihre Worte sehr wohl gehört,aber in Frankfurt/Oder ist das feierliche Gelöbnis nichtdaran gescheitert, daß die hiesigen Oppositionspar-teien das feierliche Gelöbnis nicht wollten, sondern dar-an, daß die SPD-Fraktion gemeinsam mit der PDS dage-gen war.Herr Kahrs, wir würden natürlich auch gerne an Ih-rem Wohnsitz – ich glaube, Sie kommen aus Hamburg –einmal ein öffentliches Gelöbnis durchführen. Vielleichtschaffen Sie es, dort ein feierliches Gelöbnis statt-Johannes Kahrs
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finden zu lassen, wenn Sie ein paar Dienstgrade höhersind.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, wir leben ineiner Welt, die noch weit von Kants apostrophiertem„ewigen Frieden“ entfernt ist. Dies hat uns der Kosovo-Krieg erneut deutlich vor Augen geführt.Seit mehr als drei Monaten befinden sich deutscheSoldaten im Kosovo-Einsatz. Dort setzen sie sich fürGerechtigkeit, Frieden und die Einhaltung der Men-schenrechte ein. Wenn es nach dem Willen eines Teilsder Grünen und der PDS geht, sollen sie in Deutschlandallerdings hinter Kasernentore verbannt werden.
Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen wert-vollen Beitrag bei dem Wiederaufbau des ihnen zuge-wiesenen Sektors und genießen nicht nur bei unserenPartnern, sondern auch bei der leidgeprüften Bevölke-rung des Kosovos hohes Ansehen. Die übertragenenFernsehbilder von der freudigen und dankbaren Auf-nahme unserer Soldaten in Prizren haben sicherlich nichtnur mich tief bewegt. Die NATO-Soldaten wurden alsBefreier gefeiert, und wer in die Gesichter der Befreitenschaute, wußte, daß der NATO-Einsatz richtig war.
Während wir zu Recht stolz auf die Leistungen unse-rer Soldaten im Einsatzgebiet sein dürfen, wollen PDSund Teile der Grünen ihnen zu Hause das Recht abspre-chen, in der Öffentlichkeit zu bekennen, der Bundesre-publik Deutschland treu zu dienen und das Recht unddie Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.Es ist geradezu paradox, wenn sich deutsche Soldatenin der Kosovo-Region für die Erhaltung der Freiheit derdorthin nun zurückkehrenden Bevölkerung einsetzen,ihnen aber im eigenen Land die Freiheit genommenwerden soll, öffentlich zu geloben und zu schwören, ge-nau diese Freiheit zu schützen.
Wie können wir von unseren Soldaten einerseits ver-langen, ihr Leben für die Freiheit anderer einzusetzen,ihnen andererseits aber das Recht nehmen, diese Freiheitin Form von feierlichen Gelöbnissen in der Öffentlich-keit zu demonstrieren?Für die Unionsfraktionen sind und bleiben öffentlicheGelöbnisse eine Selbstverständlichkeit. Es hätte fataleAuswirkungen, gerade die Soldatinnen und Soldaten derUnterstützung der gesamten Öffentlichkeit zu berauben,die persönlich Verantwortung für Frieden, Freiheit undGerechtigkeit übernehmen. Wir verlangen von ihnenMut, Hilfsbereitschaft und in letzter Konsequenz denEinsatz ihres Lebens. Im Gegenzug sind wir verpflichtet,ihnen den nötigen Rückhalt zu geben. Mit der Teilnah-me an den öffentlichen Gelöbnissen zollen wir den Sol-datinnen und Soldaten den Respekt, den sie als Staats-bürger in Uniform verdienen und genießen sollten.Durch die Teilnahme an den öffentlichen Gelöbnis-feiern dokumentieren zudem die Angehörigen ihre Ver-bundenheit mit den Grundwehrdienstleistenden. DieWehrpflicht stellt daher auch in Zukunft einen Garantfür die Einbindung der Streitkräfte in unsere Gesell-schaft dar.
Was die Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktionangeht, so bestehen keine Zweifel darüber, daß wir dieBundeswehr so oft wie möglich und bei den verschie-densten Anlässen und Gelegenheiten in der Öffentlich-keit sehen wollen. So eindeutig und unmißverständlichsteht es auch in unserem Antrag. Die Bundeswehr gehörtin unsere Mitte.
– Frau Fuchs, daß Sie zu den größten Zwischenruferngehören, wundert mich sehr.Auch in der Bevölkerung besteht der Wunsch nachfeierlichen Gelöbnissen in der Öffentlichkeit. Ich bin ge-spannt, ob wir uns heute auf eine gemeinsame Linie ver-ständigen können oder ob der Spuk der vermeintlichenMilitarisierung der Gesellschaft immer noch durch einpaar Köpfe geistert. Wir sind nicht bereit, einer schlei-chenden Abschaffung der Bundeswehr das Wort zu re-den.
Wenn ich mir den Antrag der PDS und seine Zielset-zung vor Augen führe und auch die Aussagen bestimm-ter Politiker der Grünen in den vergangenen Monatenund Jahren bewerte, so steckt System dahinter, wenn Siees zulassen und befürworten, daß Soldaten „Mörder“genannt werden dürfen.
– Warum sind Sie eigentlich so aufgeregt? Ich verstehedas überhaupt nicht.
Wer lieber heute als morgen die Anzahl der Soldatenauf die Hälfte reduzieren möchte, wer die Wehrpflicht,obwohl eines der erfolgreichsten Modelle, welches unserStaat hervorgebracht hat, ständig in Zweifel zieht,
wer die Bedeutung feierlicher Gelöbnisse in der Öffent-lichkeit mit höchst fragwürdigen und vordergründigenArgumenten abqualifiziert,
wer generell die Soldaten in die Kasernen und aus demStraßenbild und damit aus der Gesellschaft verbannenWerner Siemann
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will, kann kein Freund der Bundeswehr und letztlichauch kein Freund unserer freiheitlich-demokratischenGrundordnung sein.
Das feierliche Gelöbnis in der Öffentlichkeit, ob ein-mal im Jahr oder zehnmal am Tag, bedeutet keineswegs,daß die zivile Gesellschaft an die Mittel des Militäri-schen gewöhnt werden soll. Diese völlig haltlosen Vor-würfe hat – Herr Braun ist schon darauf eingegangen –der heutige Bundesumweltminister Trittin Mitte desvergangenen Jahres erhoben.
Hinter der Forderung nach dem Verzicht auf öffentli-che Gelöbnisfeiern verbirgt sich in Wahrheit eine ge-fährliche Politik von Teilen der Grünen und der PDS.Sie wollen der Bundeswehr die Symbole nehmen. Dasöffentliche Gelöbnis ist ein solches Symbol.
Die Gelöbnisfeiern sind integraler Bestandteil der Kulturdes demokratischen Deutschlands. Sie sind deshalb kei-nesfalls ein militärisches Relikt. Sie stellen eine blei-bende Verpflichtung in Gegenwart und Zukunft dar.
– Herr Nachtwei, warum regen Sie sich so auf? Sie ha-ben doch vielleicht die Möglichkeit, nachher noch zu re-den.
Gerade vor dem Hintergrund, daß die Bundeswehrzur Zeit ihren gefährlichsten Einsatz in ihrer Geschichtemeistert, ist es wichtig, daß ihr Rückhalt in der Bevölke-rung zuteil wird. Dieser Rückhalt drückt sich eben auchin öffentlichen Gelöbnissen aus. Der Verzicht hieraufwäre gleichbedeutend mit dem Versuch, die Bundes-wehr ins politische Abseits respektive ins politischeNiemandsland zu stellen.Für die CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause bekräf-tige ich, daß die gute Tradition dieser Treuebekenntnisseunserer Soldaten gegenüber der Bundesrepublik weitergepflegt und auch weiter ausgebaut werden soll. WennHerr Verteidigungsminister Scharping hier wäre, hätteich an ihn appelliert: Lassen Sie unsere Bundeswehrauch weiterhin Teil der Öffentlichkeit sein. Auf die Un-terstützung der CDU/CSU-Fraktion könnte er sich dannverlassen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Ange-
lika Beer.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt
hier eine ganz neue Form der großen Koalition in Sachen
politischer Instrumentalisierung der Bundeswehr: Auf der
einen Seite liegen die Anträge der F.D.P. und der CDU/
CSU vor, auf der anderen Seite der Antrag der PDS.
Selbstverständlich versuchen alle drei Parteien, wenn auch
mit widersprüchlichen Inhalten, das Thema, wie so oft im
letzten Jahr, erneut zu instrumentalisieren. Hierbei zeigen
sie Phantasielosigkeit und machen deutlich, daß sie immer
noch nicht in der Lage sind, eigene Vorstellungen zu ent-
wickeln, obwohl sie jetzt doch in der Opposition sind
und eigentlich etwas offener diskutieren könnten als in
den letzten Jahren.
Ich will mich daran aber nicht zu lange festhalten.
Die neue Regierung versucht in vielen Bereichen, die
Bundeswehr weiterzuentwickeln. Der Minister hat er-
freulicherweise einen neuen Stil der Diskussion in der
Bundeswehr eröffnet, von dem ich aus vielen Gesprä-
chen auch mit Soldaten weiß, daß er positiv aufgegriffen
wird. Wir als Grüne werden, soweit es möglich ist, dazu
aktiv beitragen, ob Ihnen das paßt oder nicht.
Das Gelöbnis, das am 20. Juli in Berlin im Bendler-
block stattfinden wird, ist Ausdruck eines neuen Tradi-
tionsverständnisses. Ich weiß, daß das für Sie ein
Fremdwort ist, aber ich möchte das hier unterstreichen.
Wir begrüßen dieses Gelöbnis, weil damit einmal mehr
deutlich wird, daß die neue Regierung sich von der Tra-
ditionstümelei, die Sie in der liberal-konservativen Re-
gierung betrieben haben, absetzt und an den Widerstand
gegen Hitler anknüpft.
Das ist eine Tradition, die wichtig ist und die auch von
der Armee und von der Gesellschaft getragen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Beer,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Nein, danke.
Das zeigt ein neues Verständnis des Umgangs derBundeswehr mit Tradition. Der vorherige Verteidigungs-minister hat durch seine Definition des Bürgers in Uni-form zur praktischen Tabuzone – das ist nämlich das, wasVolker Rühe betrieben hat – ein Traditionsverständniszementiert, das sich an vermeintlichen soldatischenWerner Siemann
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Tugenden festgemacht hat. Ich will das hier unterstrei-chen, weil das auch das Thema des Untersuchungsaus-schusses Rechtsextremismus in der Bundeswehr war unddas dort zutage getretene Verständnis Ihrer Partei, HerrBreuer, gezeigt hat, daß Sie auf dem falschen Weg waren.Der vorherige Verteidigungsminister hat damit ver-hindert – und das ist schlimm, schlimm in den Auswir-kungen –, daß die Soldaten sich reflexiv mit der beson-deren Verantwortung der Bundeswehr für die demokra-tischen und liberalen Traditionen Deutschlands ausein-andersetzen konnten.
Die preußischen Reformen wurden von Ihnen viel-leicht in Sonntagsreden erwähnt, in der Praxis aber wur-de nicht der mitdenkende Gehorsam des Soldaten geför-dert, sondern Duckmäusertum und Sekundärtugendengefordert.
Damit ist Schluß. Das ist der Stil der neuen Bundesre-gierung. Ich muß sagen: Es freut mich, daß ausgerechnetdie F.D.P. diesen neuen Weg mit ihrem ansonsten über-flüssigen Antrag aktiv unterstützt.
Herr Siemann, die Basis für Gelöbnisse in dieserZentralen Dienstvorschrift 10/80
– 10/8, ja –
– ich rate Ihnen: werfen Sie doch einmal einen Blickhinein – ist Grundlage seit dem Jahr 1983. Ich will fol-genden Satz hier noch einmal zitieren, denn er ist ja of-fensichtlich nicht bekannt:Vereidigungen und feierliche Gelöbnisse sind imRegelfall innerhalb militärischer Anlagen durchzu-führen.Diesen Satz hat Ihre Partei, als Sie die Regierung ange-führt haben, ad absurdum geführt.
Sie haben im gröbsten Stil mit der Bundeswehr Wahl-kampf gemacht, sie auf öffentliche Plätze gezwungenund eine gesellschaftliche Kontroverse erzwungen, dieSie für den Wahlkampf instrumentalisiert haben. Ich binfroh, daß das nicht gelungen ist.
Wir wollen diese Zentrale Dienstvorschrift nach ih-rem Wort und ihrem Sinn durchführen. Wir glauben,daß es richtig ist, feierliche Gelöbnisse in Kasernen ab-zuhalten. Wir glauben, daß es richtig ist, Kasernen fürdie Gesellschaft weiter zu öffnen, und wollen damitauch symbolisieren, daß die Bundeswehr für die Gesell-schaft transparent sein muß. Das erzwingen Sie nichtdurch Bestrafung oder durch öffentliche Gelöbnisse aufPlätzen, die umstritten sind, sondern indem diese Bun-deswehr ihre Tore öffnet.Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich will ganz klarbetonen, daß das, was die alte Regierung gemacht hat,unserem Demokratieverständnis klar widersprochen hat,weil eine Zentralisierung der Zuständigkeit für Gelöb-nisse, wie Minister Rühe sie durchgeführt hat, indem erdie Entscheidung der Kommandeure an sich gezogenhat, nicht ein bewußter Akt der Demokratie war, son-dern eben dieser Instrumentalisierung, die wir immer –das unterstreiche ich heute nach wie vor – zurückgewie-sen haben.Gleichzeitig – und dafür hat er dann auch die Ver-antwortung in der Vergangenheit zu übernehmen –
muß die Bundeswehr als Armee in der Demokratie,wenn sie instrumentalisiert wird, natürlich auch damitrechnen, daß Bürgerinnen und Bürger sich im öffentli-chen Raum gegen eine solche Instrumentalisierung aus-sprechen. Und was ich faszinierend finde: Die Soldatenhaben mit einem demokratischeren Umgang, mit einemdemokratischeren Selbstverständnis die Tatsache, daßeine solche Instrumentalisierung kritisiert wird, beant-wortet, als Sie von der Union offensichtlich auch heutein der Lage sind. Das ist ein Trauerspiel.
Zurück zu dem Bild des Soldaten der inneren Füh-rung – dieses Bild wollen wir unterstreichen –, dem Bildvom Staatsbürger in Uniform, das auf die Eigenverant-wortung des Soldaten und auf seine Verpflichtung aufdie Achtung der demokratischen Grundwerte undPflichten abzielt, die übrigens im Grundgesetz allenBürgern zugesichert sind, also auch den Soldaten: Diesfestzuschreiben und umzusetzen, dem Soldaten zu si-gnalisieren, daß er die gleichen Rechte hat wie jeder an-dere Bürger, was ihn zum Staatsbürger in Uniformmacht, das ist von Ihrer Regierung einem Teil der Sol-daten weitestgehend verweigert worden.
In die gleiche Kerbe schlägt Ihr Antrag zum Eh-renschutz von Soldaten – wir haben das neulich erstdebattiert; wir werden das in Kürze wieder tun –, derinteressanterweise auch in der Bundeswehr umstrittenist.
Das demokratische Selbstbewußtsein der Bundeswehrist groß genug, um Kritik – auch wenn sie manchmalunberechtigt ist – aushalten und sich mit ihr auseinan-Angelika Beer
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dersetzen zu können, um darüber zu diskutieren undAntworten zu geben.
– Ich finde es beruhigend, Herr Breuer, daß Soldatendiese Diskussion häufig gelassener betrachten als dieKollegen und Kolleginnen Ihrer Fraktion.
Weder das Strafrecht noch Rechthaberei tragen zurIntegration der Bundeswehr in die Gesellschaft bei.
Wir können auf der Basis von Diskussion, Transparenzund Umgang mit den Widersprüchen von Demokratieund Militär andere Wege der Integration gehen, die mitdem Bild vom Staatsbürger in Uniform praktizierbargeworden sind. Wenn wir dies tun, dann können Sie IhreAnträge als Altpapier ad acta legen. Denn dann zeigenwir den Soldaten, daß wir uns mit den Problemen derheutigen Bundeswehr, die Sie – es wurde schon ange-sprochen – mitverursacht haben, aktiv und im Dialogauseinandersetzen und sie bekämpfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Frak-
tion spricht jetzt die Kollegin Heidi Lippmann.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Kollege Kahrs, auch ichgratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede. Aber ich hätte mirgewünscht, sie wäre etwas weniger polemisch ausgefal-len und Sie hätten bei der Recherche zu Ihrer Rede be-merkt, daß wir, die PDS-Fraktion, einen originalen SPD-Antrag eingebracht haben,
der von Ihrer Fraktion 1996 hier in diesem Parlament alsKritik gegenüber der damaligen Regierung eingebrachtwurde.
Das kommt davon, wenn man seine Hausaufgaben nichtmacht. Dann geht einem das durch, und man kennt dieeigenen Anträge nach dem Machtantritt nicht mehr.
– Das kann man natürlich auch so sehen.Frau Kollegin Beer, bei Ihnen haben wir in demDreivierteljahr seit dem Machtantritt von Rotgrün schoneiniges erlebt. Aber daß Sie sich hier heute hinstellenund ein öffentliches Gelöbnis begrüßen, das ist, so findeich, ein starkes Stück.
Ich möchte ganz einfach daran erinnern, was Sie nochvor einem Jahr gesagt haben: „Gelöbnisse in der Öffent-lichkeit sind Bestandteil der Relegitimierung des Mili-tärs und der Militarisierung der Gesellschaft. Gelöbnissegehören in die Kasernen, nicht auf öffentliche Plätze.“
Aber – das habe ich Ihnen schon gestern im Ausschußgesagt –, der Kopf ist rund, damit das Denken die Rich-tung wechseln kann. Dies haben wir in den vergangenenMonaten immer wieder ganz intensiv erlebt.
Kommen wir zurück zu dem Grundauftrag, den diereformorientierten Gründerväter der Bundeswehr damalsim Kopf hatten, als sie davon sprachen, Soldaten seienStaatsbürger in Uniform. Sie hatten diesen Begriff alsErgebnis der Auseinandersetzung mit dem preußischenMilitarismus und der Hitler-Wehrmacht entwickelt. Die-ses Konzept – das auch heute noch gültig ist – beinhal-tete seinerzeit nicht nur, daß Regeln des zivilen Lebenssoweit wie möglich in den Streitkräften realisiert wer-den.
Vielmehr beinhaltet es auch, daß die Streitkräfte derparlamentarischen und öffentlichen Kontrolle unterwor-fen sind.
Mit diesem Konzept sollte unter allen Umständen ver-mieden werden, daß sich wieder ein Staat im Staate her-ausbildet.Die Soldaten sollten gesellschaftlich integriert wer-den. Für eine solche Integration tritt auch die PDS ein,
so lange die Bundesrepublik noch Streitkräfte unterhält.Wir interpretieren diese Integration als Beitrag zu einermöglichen Zivilisierung des Militärs. Was wir allerdingsablehnen, ist der umgekehrte Prozeß, nämlich die Milita-risierung des öffentlichen Raums. Und der Verdachtliegt nahe, daß die Anträge von CDU/CSU und F.D.P.darauf abzielen.Wir sind nicht dafür, Soldaten zu stigmatisieren. Wirwollen aber auch keine Heroisierungen, mit denen derVerstand ausgeschaltet wird. Spektakulär inszenierte öf-fentliche Gelöbnisse und Zapfenstreiche sind eine Mi-Angelika Beer
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schung aus militärischem Imponiergehabe und weihe-voller Andacht,
die nicht frei von martialischen und grotesken Zügen ist.Die Verklärung und auch die quasireligiöse Überhö-hung, die derartige Inszenierungen zur Folge habenkönnen, sind überaus gefährlich; denn sie erinnern anvergangene Zeiten, die mit der Neugründung der Bun-deswehr gerade überwunden werden sollten.
Aus diesem Grund fanden die Gelöbnisse über langeZeit nur in den Kasernen und nur im engsten Kreis derSoldaten und ihrer Familienangehörigen statt.
Die Intention von CDU und F.D.P., dieses Spektakelverstärkt öffentlich zu inszenieren, ist nicht neu, auchnicht die dazugehörige Debatte. Neu aber sind, wie ge-sagt, einige Entwicklungen, die wir in den vergangenenMonaten erlebt haben.
– Nein, Herr Breuer, das ist meine eigene Rede. Daswerden Sie auch gleich merken; denn ich komme gleichzu aktuellen Dingen, die von Frau Beer damals nochnicht angesprochen werden konnten.Kommen wir zum Beispiel einmal zu dem Sprach-gebrauch, der sich in den vergangenen Monaten ent-wickelt hat. Wir erleben eine Militarisierung der Gesell-schaft, die weiter zunimmt; das merken wir auch amSprachgebrauch. Wenn ich zum Beispiel sagen würde,die Bundeswehr habe in den vergangenen Wochen einenAngriffskrieg geführt, dann würden Sie mir vehementwidersprechen; denn es war in Ihrem Sprachgebrauchkein Angriffskrieg, sondern allenfalls ein „Krisenein-satz“. Bombardierungen werden heute nicht mehr alsBombardierungen bezeichnet; es wird vielmehr von„humanitären Lufteinsätzen“ gesprochen. Das ist dieganz große Gefahr, vor der ich Sie warnen möchte: dieNormalisierung des Abnormalen. Abnormal ist es, zutöten.
Wir tragen weder diese Politik noch diesen Sprachge-brauch mit; denn es gibt keine humanen Bomben.Doch eine stärkere Militarisierung verlangt natürlichauch nach erhöhter Akzeptanz in der Gesellschaft.Was Sie – damit meine ich Sie alle in diesem Haus –brauchen, ist die Akzeptanz für die neue NATO-Strategie – die Sie vehement verteidigen –, mit der sichdie NATO als neue militärische Ordnungsmacht ohneterritoriale Grenzen präsentiert. Sie brauchen Akzeptanzfür die neue europäische Militärunion, die vor wenigenWochen auf dem Gipfel in Köln beschlossen wurde.Natürlich brauchen Sie alle auch Akzeptanz für die neueBundeswehr, für ihre neue Ausrüstung, für den Ausbauzur Interventionsarmee
und letztlich natürlich auch für die Aufstockung der Kri-senreaktionskräfte. Um diese Akzeptanz werben Sie.Deswegen bringen gerade Sie, meine Herren von derrechten Seite des Hauses, Anträge ein, die tatsächlichüberflüssig sind.
– Unser Antrag war eine Persiflage darauf. Wenn mandas aber nicht bemerkt, kann man nicht entsprechendreagieren.Es wurde schon vor einigen Jahren auch in diesemParlament darüber diskutiert, ob Soldaten Mörder seien.
Vor drei Jahren hat Kardinal Meissner bei einem Solda-tengottesdienst in Köln gesagt: „Wem käme es in denSinn, Soldaten, die auch Beter sind, dann noch als Mör-der zu diskriminieren? Nein, in betenden Händen ist dieWaffe sicher.“Heute, einige Jahre nach diesen Debatten – jetzt darfman solche Debatten gar nicht mehr führen –,
erleben wir kaum eine Plenardebatte, in der den Solda-ten nicht für ihren heroischen Einsatz gedankt wird.
Diese Entwicklung finde ich überaus bedrohlich.
Wenn das so weitergeht, dann ist damit zu rechnen, daßnicht nur deutsche Waffen und deutsches Geld, sondernauch deutsche Soldaten weltweit im Einsatz sind.
Einer solchen Entwicklung, wie sie durch pathetischeZeremonien deutlich wird, setzen wir uns zur Wehr.Meine Fraktion hat vor zwei Jahren einen Antrag zurÄnderung des Soldatengesetzes eingebracht, wonach dieEides- und Gelöbnisformel durch ein Versprechen er-setzt werden sollte. Das Versprechen, das die Soldatenabgeben sollten, lautet:Ich verspreche, meinem Land treu zu dienen, dasGrundgesetz und die Freiheit zu achten und zuverteidigen. Nie wieder sollen Krieg und Völker-mord von Deutschland ausgehen.
Heute, nachdem sich Deutschland über die Frie-denspflicht in Art. 26 des Grundgesetzes hinweggesetzthat –Heidi Lippmann
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lipp-
mann, bitte denken Sie an die Redezeit.
– ich komme zum Schluß –
und an einem völkerrechts- und verfassungswidrigen
Angriffskrieg beteiligt war, ist diese Änderung um so
wichtiger geworden.
Wir werden diesen Antrag deswegen erneut einbringen.
Mit einem Versprechen der Soldaten, –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist überschritten.
– daß nie wieder Krieg und
Völkermord von Deutschland ausgehen sollen, würde
man nicht nur der historischen Verantwortung gerecht,
sondern auch der aktuellen Entwicklung entgegensteu-
ern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Arnold.
Frau Präsidentin! Verehrte
Damen und Herren! Für mich ist es überhaupt kein
schlechtes Zeichen, wenn sich vor dem Hintergrund der
deutschen Geschichte, des Mißbrauchs militärischer
Rituale und Symbole viele Bürger und Bürgerinnen in
unserem Land mit öffentlichen Gelöbnissen ein Stück
weit schwertun. Viele wissen nämlich, daß die große
Zahl öffentlicher Vereidigungen in den Jahren nach der
Versammlung in der Frankfurter Paulskirche in erster
Linie ein Ziel hatte: den demokratisch gesinnten Bürge-
rinnen und Bürgern ihre Grenzen aufzuzeigen.
Ich würde mir deshalb wünschen, daß die Opposition
auch die heutige Debatte als ernsthafte Auseinanderset-
zung gerade mit diesen Bürgern und Bürgerinnen ver-
steht, die sich mit öffentlichen Gelöbnissen schwertun.
Um nicht mißverstanden zu werden: Ich meine damit
nicht diejenigen, die sich durch Randale Gehör verschaf-
fen. Aber unser Parlamentsheer verträgt eine Diskussion
um die richtige Pflege von Tradition und öffentlicher
Darstellung sehr wohl.
Was unsere Soldaten aber auf gar keinen Fall brau-
chen können, sind immer neue Versuche, die Bundes-
wehr parteipolitisch zu instrumentalisieren, wie Sie es
tun.
Nach meinem Eindruck haben Sie Ihre Anträge im Ja-
nuar vor allen Dingen formuliert, um Teile der Regie-
rungskoalition einmal mehr als vaterlandslose Gesellen
brandmarken zu können. Dieser Versuch wirkt an-
gesichts des politischen Einsatzes des Verteidigungs-
ministers, des Außenministers und des Kanzlers, aber
auch angesichts unserer gemeinsamen Anstrengungen in
den vergangenen Wochen wirklich peinlich und kleinka-
riert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Arnold,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Ich würde bei meiner erstenRede eigentlich gerne das Recht für mich in Anspruchnehmen, meine Gedanken zu Ende zu führen. In Zu-kunft, Herr Breuer, wenn ich nicht mehr so nervös bin,sehr gerne.
Wenn nun die andere Oppositionspartei, die PDS, öf-fentliche Gelöbnisse mit dem Verweis auf die unheil-volle Tradition militärischer Aufmärsche in der deut-schen Geschichte ablehnt, muß sie sich schon fragen las-sen, ob sie nur die Massenaufmärsche der Nazizeit imGedächtnis hat. Ich jedenfalls habe die unsäglichen Pa-raden in der DDR nicht vergessen. Dort sind sogar Kin-der instrumentalisiert worden.
Gerade für Ihre Partei ist es deshalb völlig unzulässig,öffentliche Gelöbnisse in unserer Demokratie mit einerMilitarisierung unserer Gesellschaft gleichzusetzen. Daswird der Bedeutung der Bundeswehr nicht gerecht.
Militarismus, Frau Kollegin, entsteht im übrigen nichtdadurch, daß Soldaten Kontakt zu den zivilen Bürgernhaben, sondern Militarismus entsteht – wenn überhaupt– am ehesten, wenn man die Soldaten immer innerhalbder Kasernenmauern läßt. Das ist doch ein entscheiden-der Punkt.
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Nein, wir haben heute weniger Anlaß denn je, unsereSoldaten in den Kasernen zu verstecken. Wir habenvielmehr allen Grund, auch öffentlich deutlich zu sagen,daß es hohe Werte sind, die unsere Soldaten unter ihrenbesonderen Schutz nehmen: Freiheit, Recht, Unabhän-gigkeit, Frieden. Wir erfahren doch dieser Tage ganz be-sonders, daß solche Werte gewiß höher einzuschätzensind als hohles Pathos, den manche diesen Gelöbnisre-den gelegentlich unterstellt haben. Inhaltsleeres Pathoswäre unserer jetzigen jungen Generation von pragmati-schen Soldaten fremd. Er wäre heute gewiß nicht dieangemessene Form für Gelöbnisse, ob öffentlich odernicht.Verteidigungsminister Scharping hat deshalb völligrecht: Die Soldaten gehören in unsere demokratischeMitte. Darum halten wir Sozialdemokraten an diesenGelöbnissen fest. Rudolf Scharping hat ebenso recht,wenn er einen sensiblen Umgang mit der Traditionspfle-ge einfordert, eingeschliffene Rituale oder falsche Vor-bilder entfernt und an die Stelle falscher Heldenvereh-rung zum Beispiel die Erinnerung an den Widerstandsetzt.
Deshalb steht die weitere Stärkung der staatsbürgerli-chen Bildung in der Bundeswehr in einem engen Zu-sammenhang mit dem öffentlichen Bekenntnis der jun-gen Soldaten zu unseren Grundwerten.Öffentliche Gelöbnisse können einen wichtigen Bei-trag zur Integration der Bundeswehr in unsere Ge-sellschaft leisten. Dies gilt vor allen Dingen dann –hierauf hat auch der Generalinspekteur von Kirchbachhingewiesen –, wenn öffentliche Gelöbnisse möglichstdort stattfinden, wo schon vielfältige Beziehungen zwi-schen der Truppe und den Einwohnern bestehen. Wenndieses Umfeld jedoch nicht stimmt und statt dessen denjungen Wehrpflichtigen Trillerpfeifen und massiverPolizeieinsatz in Erinnerung bleibt,
wird der eigentliche Zweck eines öffentlichen Gelöbnis-ses in sein Gegenteil verkehrt.
Herr Siemann, Sie haben vorhin zu Recht gesagt, esgeht um die Soldaten. Das stimmt. Es geht um die Sol-daten, und es geht nicht darum, daß ein Verteidigungs-minister seiner eigenen Partei zeigen kann, wie schnei-dig er ist.
Wir können unterstreichen, daß unsere Demokratiehinter dem Parlamentsheer steht, und die jungen Men-schen, die an den Gelöbnissen teilnehmen, unterstrei-chen ihre Verbundenheit mit der Demokratie. Das zeigt,daß die bürgerlichen Normen auch beim Militär gelten.In diesem Sinn hat die Bundeswehr das Prinzip der inne-ren Führung aufgebaut. Gerade die sozialdemokrati-schen Minister Georg Leber und Helmut Schmidt habenes weiterentwickelt.Auch in Zukunft müssen militärische Normen und ih-re äußere Form immer wieder daraufhin hinterfragt wer-den, ob sie die gesellschaftliche Integration fördern odereher Distanz zum zivilen Umfeld aufbauen. Damit kei-ner Angst bekommt: Unsere Musikkorps müssen nochlange nicht Hip-Hop-Rhythmen spielen. Das ist keineFrage.Auch ein Zeremoniell ist veränderbar und kann wei-terentwickelt werden. Es muß immer wieder neu weiter-entwickelt werden, so daß es möglichst nah ist am Le-bensgefühl der Generation, die wir erreichen wollen.Vor diesem Hintergrund sind öffentliche Gelöbnisseauch in Zukunft der Normalfall, eine Selbstverständlich-keit. Dabei müssen sich unsere Soldaten keinesfallshinter den Kasernenmauern verstecken. So werden wirdas in den nächsten Jahren realisieren. Und das hättenwir auch ohne die Anträge der CDU und F.D.P. ge-schafft.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Arnold,
auch für Sie war das die erste Rede im Plenum des
Deutschen Bundestags. Ich möchte Sie im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen dazu beglückwünschen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kolle-
gin Dr. Barbara Höll, PDS, das Wort.
Herr Kollege, als erstesmöchte ich Sie darauf hinweisen, daß unsere Rednerineine im Westen geborene Bürgerin ist,
die in den alten Bundesländern groß geworden ist, sodaß Sie ihr zumindest nicht das Recht absprechen kön-nen, sich zu äußern; denn sie hat das auf ihrem Lebens-weg hier kennengelernt und daraus ihre Meinung gebil-det.Als zweites möchte ich anmerken, daß es keinemdemokratischen Verständnis entspricht, uns die Lernfä-higkeit absprechen zu wollen. Aber es unterscheidet unsvielleicht, daß wir mit der DDR und den Militarisierun-gen, die es dort gab, sehr kritisch umgehen. Wir habenuns zu diesen Fehlern bekannt und daraus gelernt.
Deshalb legen wir sehr großen Wert darauf, über denUnterschied zwischen Versprechen und Gelöbnis zudiskutieren und zu hinterfragen, ob es notwendig ist,solche Zeremonien öffentlich durchzuführen oder nicht.Rainer Arnold
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Einen Großen Zapfenstreich haben auch wir gehabt.Aus meiner Kindheit kenne ich das zur Genüge. Abergerade deshalb ist es wichtig, daß wir unsere Erfahrun-gen hier einbringen. Wir lassen uns das Recht dazu vonIhnen nicht absprechen.Ich möchte noch einmal auf die Gründe verweisen,warum es notwendig ist, den Inhalt zu ändern und dasGelöbnis durch ein Versprechen zu ersetzen. Da be-steht nämlich ein grundlegender Unterschied.
Ich zitiere einfach aus unserem alten Antrag:Der Wechsel vom Schwur und vom Gelöbnis zumVersprechen trägt den pluralen, religiösen, philoso-phischen und politischen Gegebenheiten der Mo-derne Rechnung, deren plurale Grundlage jede au-toritäre und einseitige Festlegung obsolet macht.
Der Verweis auf die Verhinderung von Krieg undVölkermord konkretisiert die in Art. 26 GG vorge-schriebene Friedenspflicht des Staates. Für die inden Streitkräften dienenden Bürgerinnen und Bür-ger– –
– Das ist vielleicht auch wichtig, Herr Schmidt. Ichmöchte das hier noch sagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Höll,
ich bitte Sie, diese Intervention nicht zum Zitieren zu
benutzen, sondern die freie Rede zu gebrauchen.
Damit schließe ich das Zi-
tat ab.
Ich möchte aber noch auf den letzten Punkt, den wir
bereits damals in unserem Antrag ausgeführt hatten –
jetzt aus dem Kopf und nicht mehr als Zitat –, verwei-
sen: Wichtig ist auch – das haben wir betont –, daß die
Tapferkeit aus der Gelöbnisformel gestrichen wird. Tap-
ferkeit können Sie nämlich nicht per Gelöbnis verord-
nen.
Deshalb ist diese Formulierung sowieso schon obsolet.
Tatsächlich ist es wichtig, darüber zu diskutieren, um
einen anderen Umgang damit zu erreichen und gleich-
zeitig den verschiedenen Lebenserfahrungen Rechnung
zu tragen. Dabei sollten gerade die Erfahrungen, die wir
in der DDR gemacht haben, nicht geringgeschätzt wer-
den.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, wir müs-
sen uns nicht über den Inhalt von Interventionen streiten.
Ich habe den Stil angemerkt.
Ich lasse mich als Präsidentin an dieser Stelle nicht kriti-
sieren.
Ich habe meine Kritik da angemeldet, wo es Rechtens
war.
Ich frage den Kollegen Arnold, ob er auf diese Inter-
vention erwidern möchte. – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich den letzten Redner in dieser Debatte
auf; das ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Rossmanith.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! An sichkommt es selten bei mir vor, aber heute vermisse ich denHerrn Bundesminister des Äußeren. Es hätte mich näm-lich gerade nach dem Beitrag seiner FraktionskolleginAngelika Beer schon interessiert, wie er zu Gelöbnissender Bundeswehr in der Öffentlichkeit steht.
Ich könnte hier eine lange Reihe von Zitaten des grü-nen Außenministers aus den letzten Wochen vorlesen, indenen er voller Überzeugung und sehr glaubwürdig sei-nen Respekt und seine Anerkennung für die Leistungunserer Bundeswehrsoldaten ausgedrückt hat.
Der Außenminister weiß sehr genau, daß unsere Solda-ten zur Zeit im Kosovo und in Bosnien persönlich Ver-antwortung für Frieden, für die Freiheit der Menschenund für Gerechtigkeit übernehmen.
Unsere Soldaten sind ja längst an vielen Orten dieserWelt zu Botschaftern des demokratischen Deutschlandsgeworden.
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Deshalb stellt sich für mich schon die Frage: Wo bleibtdenn eigentlich der zustimmende Antrag der Grünen zuden öffentlichen Gelöbnissen?
Was muß denn eigentlich noch geschehen, damit diesePartei endlich ihr Verhältnis zur Bundeswehr klärt?
Viele Soldaten haben bis heute nicht die geschmacklo-sen Ausfälle des derzeitigen Umweltministers Trittin –es wurde ja schon darauf hingewiesen – anläßlich desöffentlichen Gelöbnisses in Berlin im vergangenen Jahrvergessen.
– Er ist nicht mehr Minister? Haben Sie ihn heute ent-lassen?
Das Gesagte würde ich mit Freude sofort zurückneh-men, wenn er nicht mehr Umweltminister wäre. Aberoffensichtlich sind Sie nicht ganz auf dem neuestenStand.
Ich muß allerdings auch sagen, daß es Stimmen ver-nünftiger Grüner gab,
die sich nicht zu schade waren, VerteidigungsministerScharping im Februar öffentlich wegen seiner Teilnah-me an einem öffentlichen Gelöbnis von Bundeswehrsol-daten im sächsischen Marienberg zu kritisieren. LieberKollege Nachtwei, Sie haben damals dem Verteidi-gungsminister die zentrale Dienstvorschrift 10/8 ent-gegengehalten – so, wie heute die Kollegin Beer uns –,
nach der Vereidigungen und feierliche Gelöbnisse imRegelfall innerhalb militärischer Liegenschaften durch-zuführen seien.
Ich muß sagen: Ich finde es geradezu rührend, wenn dieGrünen zur Begründung Ihrer Politik militärischeDienstvorschriften zitieren.
Lassen Sie mich einige Fakten nennen. FeierlicheGelöbnisse in der Öffentlichkeit sind längst ein festerBestandteil der Kultur unseres demokratischen Staatesgeworden.
– Da insbesondere, ja. – Ich verstehe nicht, wie man sichder Tatsache verschließen kann, daß Eltern, Verwandte,Freunde, ja große Teile der Bevölkerung gerne an einemfeierlichen öffentlichen Gelöbnis unserer Wehrdienstlei-stenden teilnehmen. Überall im Lande, nicht nur bei unsim Allgäu – ich lade jeden ein: kommen Sie einmal zuuns –, ist es schlicht und einfach nicht denkbar, daß einfeierliches Gelöbnis nicht öffentlich durchgeführt wird,sei es im Winter im Eisstadion – 3 000 bis 4 000 Bürge-rinnen und Bürger sind dabei –,
sei es im Sommer unterhalb des schönen Schlosses Neu-schwanstein, wo noch mehr Bürger anwesend sind. Dassind Festtage für uns, das hat für uns Volksfestcharakter.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibtüberhaupt keinen Grund, unsere Soldaten hinter Kaser-nenmauern zu verstecken.
Nichts drückt die Idee vom Staatsbürger in Uniformbesser aus als ein Gelöbnis in der Öffentlichkeit:
der Staatsbürger in Uniform für die Staatsbürger. VorIhnen legt er sein Gelöbnis ab.
Ich hätte bald gesagt: Um Himmels willen, liebeKolleginnen und Kollegen von den Grünen – von derPDS will ich hier erst gar nicht sprechen –, legen Siedoch endlich Ihre Berührungsängste gegenüber derBundeswehr ab.
Das haben Sie doch gar nicht nötig. Ich frage Sie: Wiesoverharren Sie – ich hätte bald gesagt: bockbeinig – inIhrer eigenen Wahrnehmungswelt? Wer ein öffent-liches Gelöbnis als einen Akt der Militarisierung emp-findet, muß sich – ich kann es in der Tat nicht anders sa-Kurt J. Rossmanith
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gen – schon sehr stark in seiner Ideologie verfangen ha-ben.
Aber die Grünen – Frau Kollegin Beer hat heute leiderwieder ein Beispiel dafür geliefert – haben ein besonde-res Talent, Geister zu verfolgen. Nur sie nehmen siewahr, nur sie sehen sie.Hier den Untersuchungsausschuß einzubringen, lie-be Frau Kollegin Beer, habe ich nicht als sehr hilfreichempfunden.
Auch hier waren Sie es, die in allen Nischen und Eckender Bundeswehr Rechtsradikalismus vermutet und gese-hen haben. Dieser Untersuchungsausschuß hat genau dasGegenteil erbracht.
Aus diesem Grund war ich im nachhinein froh über die-sen Untersuchungsausschuß. Betrachten Sie nicht allesdurch die grüne Brille, setzen Sie sich auch einmalernsthaft mit der Bundeswehr, mit unseren Soldatenauseinander!Öffentliche Gelöbnisse sind längst eine Selbstver-ständlichkeit. Deshalb freue ich mich, daß unser Bun-desverteidigungsminister Scharping dieses Mittel nutzenwill, um der Integration unserer Bundeswehr in der Ge-sellschaft Ausdruck zu verleihen.Öffentliche Gelöbnisse sind für mich Teil einer neu-en, guten Tradition der Bundeswehr. Die Kritik daran istmeines Erachtens nicht glaubwürdig, sondern eine Er-satzhandlung für eine Ablehnung der Bundeswehr ins-gesamt. Das sollten Sie sich, da Sie jetzt in der Regie-rung vertreten sind, doch überlegen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in unseremLande gibt es unter den Bürgern längst einen breitenKonsens über feierliche Gelöbnisse in der Öffentlich-keit. Das feierliche Gelöbnis freier Bürger sollte auchfür uns Parlamentarier eine Selbstverständlichkeit sein.Es geht hier um ein würdevolles Zeremoniell, das wirpflegen und in seiner Form maßvoll ausbauen sollten.Auch in diesem Punkt bin ich mit vielen meiner Vorred-ner einig.Daher möchte ich zum Schluß sagen: Wir sollten unsdies nicht von denjenigen zerreden lassen,
die es bis heute nicht geschafft haben, ihr Verhältnis zurBundeswehr zu klären, und uns uneingeschränkt zu ei-ner modernen, in der Demokratie verankerten Armeebekennen. Das tun wir; deshalb stehen wir auch zu denöffentlichen Gelöbnissen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/284 , 14/641 und 14/642
an den Verteidigungsausschuß vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Wolfgang Lohmann ,
Wolfgang Zöller, Dr. Wolf Bauer, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der CDU/CSU ein-
gebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur
Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
– Drucksache 14/886 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
– Drucksache 14/1216 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion der
CDU/CSU-Fraktion spricht zuerst der Kollege Wolf-
gang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1992 sahen wiruns beim Entstehen des Gesundheitsstrukturgesetzes,das ja bekanntlich über die Fraktionsgrenzen hinweg ingemeinsamer Arbeit zustande gebracht worden ist, durchein Verfassungsgerichtsurteil veranlaßt, ich betone aus-drücklich: endlich auch Arbeiter und Angestellte in ih-ren Rechten gegenüber den Systemen sozialer Sicherunggleichzustellen. Dazu gehörte beispielsweise die Einfüh-rung der freien Wahl der Krankenkasse, was zuvor fürArbeiter ja nicht möglich war. Daraufhin wurde, HerrProfessor Pfaff, auch der Risikostrukturausgleich einge-führt, weil nach Möglichkeit gleiche Startchancen in denverschiedenen Kassenarten gegeben werden mußten. Ichbetone hier aber das Recht, die Kasse frei zu wählen.Das hat uns später in der Überzeugung bestärkt, dieFrage aufzuwerfen, warum eigentlich nur freiwillig Ver-sicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung dasRecht haben sollten, Kostenerstattung zu wählen,Pflichtversicherte aber nicht. Wir wußten andererseitsKurt J. Rossmanith
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auch – das wissen Sie genauso –, daß über Jahre auchein Teil der Pflichtversicherten Kostenerstattung wählenkonnte. Die Kassen haben das auf dem Kulanzwegemitgemacht und teilweise sogar als Werbeargument ge-braucht. Mit den Neuordnungsgesetzen haben wir zum1. Juli 1997 die freie Wahl der Kostenerstattung für alleeingeführt.Nun haben Sie kurz nach Antritt Ihrer Regierung imSolidaritätsstärkungsgesetz, wie Sie es genannt haben,handstreichartig und für manche zunächst unbemerktdieses Wahlrecht wieder abgeschafft. Frau MinisterinFischer, ich muß mich darüber schon wundern. Sie ha-ben vorhin im Zusammenhang mit der Pflegeversiche-rung – ich habe es mir aufgeschrieben – gesagt, Siefreuten sich darüber auch deswegen, obwohl ihre Frakti-on seinerzeit Bedenken gegen die Pflegeversicherunghatte, weil mit der Pflegeversicherung neue Selbstbe-stimmungsspielräume für die alten und pflegebedürfti-gen Menschen eröffnet worden seien.
Diese Ihre Freude haben wir bereits im Jahre 1997 wei-ter verstärkt, indem wir die freie Wahl der Kostener-stattung eingeführt haben. Sie gehört zu den Rechten,die der einzelne haben muß.
In der öffentlichen Anhörung hat der SachverständigeSchulte, der, wie Sie wissen, mit den Krankenkassenverbunden ist, unter anderem gesagt: In der Zeit vom 1.Juli 1997 bis zum 31. Dezember 1998 kann ein großerTeil der Krankenkassenüberhaupt nicht nachvollziehen, welcher Teil derPflichtversicherten in dieser Zeit von der Möglich-keit der Kostenerstattung Gebrauch gemacht hat.Viele Pflichtversicherte haben in den 18 Monaten,weil sie nicht krank gewesen sind, überhaupt keineGelegenheit gehabt, einen Antrag zu stellen. DieAnkündigung der Bundesregierung, in diesem Sin-ne eine Änderung herbeizuführen, hat praktisch zurFolge, daß Krankenkassen im Augenblick das ma-chen, was sie für richtig halten. Das geschieht aufungesicherten rechtlichen Grundlagen. Insoweitmuß derjenige, der A sagt, das heißt Kostenerstat-tung für freiwillig Versicherte und– wie Sie jetzt nach erheblichem Druck von der Öffent-lichkeit einräumen –für einen Teil der Pflichtversicherten,die bis zum 1. September davon Gebrauch gemacht ha-ben –auch B sagen, nämlich Kostenerstattung für alle.Wir sind derselben Überzeugung; etwas anderes ließesich auch niemandem mehr erklären.Professor Neubauer sagt:Es ist nirgendwo ableitbar, daß Kostenerstattungzur PKV gehörten und Sachleistungen zur GKV.Das ist eine völlig irrige Welt. … Umgekehrt hatnoch niemand darlegen können, daß das Kostener-stattungsprinzip nicht zur GKV paßt. Schließlichhaben wir genügend Länder, in denen das in dieserForm praktiziert wird. … Ich bleibe dabei, mehrMitwirkungsmöglichkeiten der versicherten Pati-enten sind wichtig und richtig.Darum geht es uns: um mehr Mitwirkungsmöglichkeitenfür die Patienten.
Wir haben geglaubt, daß das bei Ihnen, Frau Ministe-rin, auf fruchtbaren Boden fallen würde. Aber nein, wirsind auch in diesem Zusammenhang tief getäuscht wor-den.
Von Ihnen und einem Teil der Krankenkassen wurdegesagt, in der Vergangenheit hätten die freiwillig Versi-cherten von dem Recht, das sie ja hatten, relativ wenigGebrauch gemacht, und seit dem 1. Juli 1997 bis zum31. Dezember 1998 die Pflichtversicherten noch weni-ger. Wenn das so ist, muß man um so mehr fragen, war-um man den wenigen, die von diesem Wahlrecht trotz-dem Gebrauch machen wollen, das Recht dazu ab-spricht. Warum werden die Versicherten in der gleichengesetzlichen Krankenversicherung in drei bzw. vier ver-schiedene Gruppen von Versicherten aufgeteilt und mitunterschiedlichen Rechten ausgestattet? Dafür haben wirkein Verständnis.
Wir sprechen über die Verbesserung von Qualität unddarüber, daß die Versorgung der Bevölkerung mit medi-zinischen Leistungen gesichert werden muß. Wir spre-chen aber auch davon, daß die Finanzierung gesichertbleiben muß. Kostenerstattung kostet die gesetzlicheKrankenversicherung keine müde Mark mehr als dasSachleistungssystem – eher ist vielleicht sogar das Ge-genteil richtig. Wenn jemand, der pflichtversichert ist,für sich diese Entscheidung treffen möchte und das Ri-siko eingehen möchte, was in jeder freiheitlichen Ent-scheidung steckt, warum wollen Sie ihm diese Möglich-keit nicht einräumen? Warum sagen Sie: Nein, wir wis-sen besser, was für dich als Versicherten richtig ist? –Ich habe das in der Ausschußsitzung als eine typischideologisch vorgeprägte Zwangsbeglückung bezeichnet.
Das heißt, Sie aus der Politik wissen besser, was für deneinzelnen, der bereit ist, ein Risiko einzugehen, richtigist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Loh-
mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, sicher.
Herr Kollege Lohmann, Siehaben aus den Anhörungen zitiert. Stimmen Sie mir zu,Wolfgang Lohmann
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4038 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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daß die Befunde aus den Untersuchungen, die nicht sehrzahlreich waren, aufzeigen, daß erstens der Informati-onsgehalt der Kostenerstattung etwas besser ist – abernicht dramatisch –, daß zweitens allerdings die systema-tische Kontrollfunktion durch die jeweiligen Kassen-ärzte oder Kassenzahnärzte unterlaufen wird und daßdrittens die Gesamtkosten steigen, weil nämlich die ein-zelnen nach der Dicke ihrer Geldbörse gestaltbare Zu-zahlungen leisten, so daß im Endeffekt das System teu-rer wird und nicht besser?
Ich stimme Ihnen nicht zu; das wird Sie nicht wundern.
Ich will das auch begründen. Wenn für Wilhelm Schulze
oder Karl Meyer nach seiner Entscheidung seine ge-
sundheitliche Versorgung ein paar Mark teurer ist – das
mag in dem einen oder anderen Fall so sein –, dann muß
ich fragen: Was geht das eigentlich uns an? Was geht es
uns an, wenn er das so will, wenn er sagt, meine Kran-
kenkasse, in die ich meine Beiträge zahle, will ich nicht
mehr belasten? Im übrigen geht es den Staat bzw. die
Krankenversicherung einen feuchten Kehricht an, was
ich mit dem Geld mache.
Sie schreiben ja auch niemandem vor, er möge bitte
zum nächsten Händler um die Ecke gehen und dort ge-
fälligst einkaufen, weil es dort möglicherweise billiger
ist. Der Kunde entscheidet doch selbst, ob ihm zum Bei-
spiel der Service zusagt.
– Herr Kirschner hat eben zu Recht geraten, nicht noch
weitere Fragen zu stellen, weil das möglicherweise kon-
traproduktiv sein könnte.
– Aber so etwas ähnliches haben Sie, Herr Kirschner,
schon gesagt. Ich kann gut hören; das wissen Sie ja.
Nachdem großer Druck von der Öffentlichkeit und
immerhin auch vom Verband der Angestelltenkranken-
kassen, der auch irgendwann wach geworden ist und
Ihnen Briefe geschrieben hat, ausgeübt worden ist, ist
die Regierung wenigstens in einem Teilbereich den For-
derungen nachgekommen, indem sie nun sagt: Wer zwi-
schen dem 1. Juli 1997 und dem 31. Dezember 1998 von
der Regelung Gebrauch gemacht hat, der möge sein bis-
heriges Wahlrecht – sozusagen eine Art Besitzstands-
wahrung – behalten. Er hat sich damals entschieden,
deshalb soll er sein Recht auch behalten.
Diejenigen – ich weise darauf noch einmal hin –, die
in diesen 18 Monaten das Pech hatten, nicht krank zu
sein, konnten keine Wahl treffen. Das Thema war für sie
ja nicht akut. Wenn Sie demjenigen, der am 1. Januar
1999 krank geworden ist, auch noch ein Wahlrecht ein-
räumen, weil das mit Blick auf denjenigen, der schon im
Dezember 1998 krank geworden ist, fair wäre, dann
würde sich das – so ist das immer bei Stichtagen – un-
endlich fortsetzen. Sie kommen also letztlich nicht um
eine Entscheidung herum.
Wenn schon auf jeder Seite des Schröder/Blair-
Papiers von mehr Eigenverantwortung und mehr Fle-
xibilität die Rede ist, dann frage ich, warum nicht mehr
Eigenverantwortung dort ermöglicht wird, wo sie wirk-
lich hingehört. Warum geben Sie den Versicherten nicht
mehr Freiheitsrechte? Deswegen sind wir der Auffas-
sung, daß unser Antrag richtig ist. Wir erwarten, daß Sie
ihm zustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! WerteKolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Lohmann, wirwerden Sie enttäuschen.
Ich wundere mich, wie von allen Seiten des Parla-ments einerseits die hohe Leistungsfähigkeit unseresGesundheitswesens und insbesondere die der gesetzli-chen Krankenversicherung – auch im internationalenVergleich gesehen – herausgestellt wird. Aber auf deranderen Seite wird diese Leistungsfähigkeit an den un-tauglichsten Stellen wieder in Frage gestellt. Lassen Siemich ganz deutlich sagen: Zu den Grundprinzipien – dasist eine der Stärken unseres Sozialversicherungssystems,unserer gesetzlichen Krankenversicherung – gehören –
– das glaube ich, daß du das am liebsten hättest – dasSolidarsachleistungs- und Selbstverwaltungsprinzip so-wie die Maxime, daß den Versicherten eine medizinischausreichende und notwendige Vollversorgung zur Ver-fügung gestellt wird.Sie sagen, das stellen wir nicht in Frage. Aber dieVersicherten sollen selbst wählen, ob sie die Sachlei-stungen oder die Kostenerstattung in Anspruch neh-men wollen. Sie haben dabei auf den vor wenigen Stun-den gefaßten Beschluß verwiesen. Ich gebe Ihnen recht.
– Das ist nicht unsystematisch, sondern ein Kompromißzwischen den freiwillig Versicherten, die auch noch dieMöglichkeit haben, Mitglied in einer PKV zu werden,Dr. Martin Pfaff
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und den Pflichtversicherten, die eine Vertrauensschutz-regelung benötigen. Nichts anderes ist das. Ich betonedas ausdrücklich als eindeutiger Anhänger des Sachlei-stungsprinzips.
– Herr Kollege Lohmann, meinetwegen können Sie diesauch Ideologie nennen. Ich empfinde das nicht als Be-schimpfung. Ich bin ganz eindeutig dafür.
Im übrigen bin ich freiwilliges Mitglied in der ge-setzlichen Krankenversicherung – das unterscheidetmich von sehr vielen Abgeordneten in diesem Parlament– und rede nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg.
– Ich habe nicht gesagt „alle“, sondern „viele“. Es soll-ten einmal alle aufstehen, die immer sagen, daß wir diegesetzliche Krankenversicherung verbessern müssen,aber selber nicht Mitglied in ihr sind.Sie von der CDU/CSU und F.D.P. haben mit Ihrensogenannten Neuordnungsgesetzen die vertragszahn-ärztliche Versorgung ausgehebelt und das Prinzip derKostenerstattung eingeführt.
Wohin das geführt hat, haben wir alle gesehen. DieAusgaben für Zahnersatz sind 1998 hier im Westen um27 Prozent und im Osten um 38,5 Prozent zurückgegan-gen.
– Lieber Kollege Lohmann, Sie verwechseln Ursacheund Wirkung.
– Doch! – Diese Entwicklung spricht doch gegen einesolche Regelung. Im ersten Quartal dieses Jahres setztsich diese Entwicklung bisher fort. Fiskalisch ist das fürdie gesetzliche Krankenversicherung gut. Aber gesund-heitspolitisch habe ich bezüglich der Versorgung erheb-liche Zweifel. Diese Fehlentwicklung wird uns nocheinholen. Daraus sollten Sie lernen.Ich möchte Sie noch etwas fragen: Haben Sie nichtdie Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK undder Verbraucherforschung zur Kenntnis genommen, dievor wenigen Tagen veröffentlicht wurde? Zwanzig Per-sonen sind zu jeweils zehn Zahnärzten gegangen. Nichtnur die unterschiedlichen Therapievorschläge – bis zuacht bei einem einzelnen Patienten –, sondern auchPreisunterschiede bis zu 600 Prozent kamen dabei her-aus. So sehen doch die Fakten aus. Das nennen sie einenFortschritt, aus dem Sachleistungsprinzip auszusteigenund zur Kostenerstattung zu kommen! Sie sollten end-lich dazulernen!
Es geht nicht um die Bevormundung des Patienten,wie Sie – wider besseres Wissen – behaupten. DasSachleistungsprinzip ist besser als die Kostenerstattunggeeignet, Qualität, Wirtschaftlichkeit und Effizienzder Versorgung sicherzustellen. Es gewährleistet, daßjeder Versicherte unabhängig von seiner wirtschaftli-chen Leistungsfähigkeit direkten Zugang zu den not-wendigen Dienstleistungen der medizinischen Versor-gung hat. Es sichert zudem den Einfluß der gesetzlichenKrankenkassen auf das medizinische Leistungsgesche-hen und insbesondere – darauf lege ich Wert – auf dieQualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungsempfänger.Das ist ein unverzichtbares Element zur Ausgabensteue-rung. Das sollten Sie doch auch wissen!Nirgends ist ein kostensenkender Effekt durch Ko-stenerstattung empirisch belegt,
weder bei uns noch in anderen Ländern wie zum Bei-spiel in Frankreich oder in den USA. Worin also liegendie Vorteile, auf das Kostenerstattungsprinzip umzu-stellen?
– Ich nenne Ihnen gleich die Nachteile.Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie letzten Endesdie Vertragsbeziehungen zwischen den Kranken-kassen und den Organisationen der Leistungserbringer,also den Kassenärztlichen und den KassenzahnärztlichenVereinigungen, aushebeln. Wenn Sie das wollen – dasbetrifft die direkten Vertragsbeziehungen zwischen denVersicherten und den Ärzten bzw. den Zahnärzten –,dann sagen Sie das aber auch! Sagen Sie, wie Sie Effizi-enzsteigerungen und Wirtschaftlichkeit in der Ver-sorgung erreichen wollen! Das Gegenteil ist der Fall:Die Kassen bleiben außen vor. Damit machen Sie – kon-sequent zu Ende gedacht – die Vertragsebene vonZwischenkassen und den KVen bzw. den KZVen über-flüssig.Sie stärken keineswegs die Versicherten, wie Sie be-haupten und wie es in der Begründung zu Ihrem Ge-setzentwurf steht. Die Kostenkenntnisse der Ver-sicherten sind – das ist unbestritten – zwar besser alsbeim Sachleistungsprinzip. Das hat jedoch keinerleiEinfluß auf die Inanspruchnahme, wie man bei denAusgaben bei den freiwillig Versicherten oder bei derprivaten Krankenversicherung feststellen kann. WennSie das behaupten, dann sage ich Ihnen: Schauen SieKlaus Kirschner
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4040 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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sich doch einmal die Unterlagen an! Die Empirie zeigtdas.
– Kollege Lohmann, dazu komme ich noch.Wenn man allerdings meint – das ist doch Ihre ver-steckte Intention –: „Wer Kostenerstattung wählt, hatAnspruch auf eine bessere Versorgung“, dann sage ichIhnen, daß das fatale Folgen für unsere gesetzlicheKrankenversicherung hat.
Die Versicherten müssen die Gewähr haben, daß derPflichtleistungskatalog im Rahmen der Sachleistungendie notwendige – –
– Ich bitte Sie! Sie tun so, als ob das, was in der gesetz-lichen Krankenversicherung ausgegeben wird, auch tat-sächlich ausgegeben werden müßte. Sie kennen doch dieBeispiele. Der frühere Gesundheitsminister, Herr Seeho-fer, hat das vor nicht allzu langer Zeit auf 25 MilliardenDM beziffert.
– Am 4. Februar 1996. Er hat wörtlich ausgeführt: „Wirhaben versagt.“ Nehmen Sie doch noch Ihre eigenenWorte zur Kenntnis! Denken Sie doch einmal an dieZahlen über die Arzneimittelausgaben der einzelnenKassenärztlichen Vereinigungen! In Südbaden sind es328 DM, in Nordbaden 399 DM und im Saarland 450DM, jeweils umgerechnet je Einwohner. Sie könnendoch nicht so tun, als ob immer alles medizinisch be-dingt sei!
– Verehrter Herr Lohmann, erinnern Sie sich nicht anIhre eigenen Gesetze?
– Die Lehren daraus gezogen?Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal:Die Versicherten müssen die Gewähr haben, daß sichdie notwendige medizinische Behandlung ausschließlicham ausreichenden und zweckmäßigen Bedarf orientiert.Sie dürfen nicht das Gefühl haben, es gäbe da noch et-was Besseres oder Ihre Versorgung sei nicht ausreichendgewährleistet.Ob Sie das wollen oder nicht: Wenn ökonomischeAnreize in der Krankenversicherung so gesetzt werden,daß es für mehr Geld mehr medizinische Versorgungs-leistungen gibt, dann führt dies zu der gesundheitspoli-tisch fatalen Konsequenz, daß bessere Gesundheitslei-stungen nur mit mehr Geld zu kaufen sind. In diese Ge-fahr begeben Sie sich, wenn Sie die gesetzliche Kran-kenversicherung auf das Gleis der Kostenerstattung set-zen wollen.
Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Wir sa-gen nein zu dem von Ihnen vorgeschlagenen Weg.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Gesetzlese ich, Patientenschutz werde in den Mittelpunkt die-ses Gesetzes gestellt. – Wenn ich mir aber überlege, woder Patientenschutz wirklich praktisch umgesetzt wird,dann stelle ich fest: Es gibt keinen. Man nimmt dem Pa-tienten das Recht, wie bisher zwischen Sachleistung undKostenerstattung zu entscheiden.
Das Erstaunliche bei dieser Gesetzgebung ist, daßman nach den unterschiedlichen Versicherungsgruppen,die es im gesetzlichen System gibt, differenziert. Die ei-nen, die freiwillig Versicherten, dürfen wählen. Warum,weshalb, wieso, kann mir mit sachlichen Argumentenkeiner erklären. Sind sie intelligenter, sind sie kapital-kräftiger, oder was steckt dahinter? Sie also dürfen wei-ter Kostenerstattungen in Anspruch nehmen.
Dann gibt es einen weiteren Personenkreis, diePflichtversicherten, die das Wahlrecht schon bisherhatten, weil es klug und vernünftig war. Den Hinzu-kommenden dagegen wird das Wahlrecht untersagt.Diese Logik kann im Grunde genommen keiner nach-vollziehen. Dies wird auf Dauer nicht haltbar sein. Ichsage Ihnen heute voraus: Da wird es Verfassungsklagegeben. Dies kann man in diesem System nur unterstüt-zen.
Auch der nächste Punkt ist hochinteressant. Ein frei-willig Versicherter darf im europäischen Ausland in Zu-kunft Leistungen in Anspruch nehmen, wie die Frau Mi-nisterin sagte. Aber demjenigen, der im Rahmen der Ko-stenerstattung diese Leistungen als Pflichtversicherter inAnspruch nehmen möchte, ist dies verboten. Ich möchtewirklich wissen, wo Sie die Unterscheidung treffen,wenn ein Versicherter Urlaub im Ausland macht unddort Leistungen in Anspruch nimmt. Wollen Sie denPflichtversicherten gegen die Wand laufen lassen?Klaus Kirschner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 4041
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Sie dulden doch schon heute, daß Pflichtversichertesolche Leistungen in Anspruch nehmen, sogar beiNichtvertragsärzten. Dies wird von den gesetzlichenKrankenkassen bezahlt – und Sie unternehmen nichts.Wenn Sie konsequent sind, müssen Sie hier einschreitenund klipp und klar sagen, welche Leistungen in diesemZusammenhang in Anspruch genommen werden dürfen.Nein, Sie sind zu feige, in dieser Frage etwas zu unter-nehmen.Wir müssen überlegen, wie wir den Gesundheitssek-tor in den europäischen Markt einbeziehen können. Siekönnen einen Markt mit einem Volumen von 500 Mil-liarden DM nicht abschotten.
Diesen Weg werden Sie nicht durchhalten.Lassen Sie mich zum Abschluß noch eines sagen: Ichbedauere sehr, daß Sie von der SPD und den Grünen un-seren Vorschlag, die Vergütung in den neuen Bundes-ländern besonders zu verbessern, abgelehnt haben. Siewerden sehen: Die Entwicklung der Krankenhäuser undanderer medizinischer Einrichtungen in den neuenBundesländern wird in den nächsten Wochen – überdie Sommerpause – äußerst negativ sein. Diese negativeEntwicklung werden Sie verantworten müssen. Denn Siegreifen verantwortungslos in den Arbeitsmarkt ein undbehindern so eine vernünftige medizinische Versorgung.Wir werden den Bürgern gerade in den neuen Bundes-ländern klarmachen, daß Sie Ihrer Verantwortung nichtnachkommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin KatrinGöring-Eckardt.
Liebe Herren von der Opposition!
– Ich nehme Sie gerne dazu, liebe Frau Bergmann-Pohl.Aber ich wollte gerne die beiden ansprechen, die hiergeredet haben. – Ich möchte gern am Anfang einmal dieFrage stellen, warum Sie ausgerechnet die Kostener-stattung hier zum Thema machen.
Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, über die wirdiskutieren könnten, was wir gerade im Zusammenhangmit der Gesundheitsstrukturreform machen, zum Bei-spiel, welche Verbesserungen es für Patientinnen undPatienten geben könnte.
Da hätten wir eine breite Diskussionsbasis, aber Sie su-chen sich ausgerechnet die Kostenerstattung aus. Ichvermute, daß Sie sie sich deshalb aussuchen, weil Sieder Meinung sind, daß sich davon die Leistungserbrin-ger etwas versprechen.
Da geht es eben nicht um die Patientinnen und Patien-ten, sondern um die Leistungserbringer. – Wir haben aneiner Stelle nachgebessert, an der es um die Patientinnenund Patienten geht, und dazu werde ich nachher nochetwas sagen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung unddie sie tragenden Fraktionen haben im letzten Jahr mitdem Solidaritätsstärkungsgesetz dafür gesorgt, daß ei-nige der dramatischsten Verschlechterungen im Ge-sundheitsbereich zurückgenommen worden sind. Icherinnere nur an die Versorgung der Jungen mit Zahner-satz, wo Sie nach dem Motto „Sollen sie doch Zähneputzen“ vom solidarischen Prinzip Abschied genommenhaben.
Genau das betrifft auch die Kostenerstattung. Der Soli-daritätsgedanke in der gesetzlichen Krankenversiche-rung wird damit unterlaufen.Die neue Regierung hat sich mit dem Vorschaltgesetzeindeutig dazu bekannt,
mit dieser Art von Zweiklassenmedizin Schluß zu ma-chen. Solidarität darf keine Einbahnstraße sein, meineDamen und Herren. Das sehen wir ja heute in vielen Be-reichen. Dazu haben wir heute schon eine ganze Reihevon Debatten geführt.Ich erinnere an die von Ihnen an die Wand gefahreneHaushaltspolitik Ihrer Regierung, die Sie auf Kosten derJungen gemacht haben. Uns jetzt Vorwürfe zu machen,weil wir das Ruder gerade noch einmal herumgerissenhaben, ist so lächerlich wie unsolide.
Sie haben ein Gesundheitssystem hinterlassen, daseben nicht Patientinnen und Patienten in ihrer eigenenVerantwortung und Selbstbestimmung in den Mittel-punkt stellt,
sondern an den Leistungen herumwerkelte und kürzte,um bestimmte Leistungsabgänger vor Veränderungen zuschützen.
Oder sehen wir uns an, was Sie uns in der Familien-politik hinterlassen haben. Da ist das, was ich zumZahnersatz sagte, doch nur symptomatisch. Das Verfas-Dr. Dieter Thomae
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4042 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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sungsgericht hat es Ihnen ja am Ende auch ins Stamm-buch geschrieben. Die Familien waren die Gekniffenen,weil Sie Lobbypolitik für andere gemacht haben.Oder sehen wir uns an, wie Sie den Solidaritätsge-danken bei der Altersvorsorge ausgehebelt haben. Nachdem Motto: Hauptsache, die Rente der Generation vonHerrn Blüm ist noch sicher,
haben Sie die Jungen gezwungen, in eine Kasse einzu-zahlen, bei der sie heute schon ahnen, daß sie, wenn esso weitergegangen wäre, nichts Adäquates mehr heraus-bekommen könnten.Aber kommen wir zurück zur Kostenerstattung. Mei-ne Bemerkungen zu den anderen Bereichen haben un-termauert, daß das Solidaritätsprinzip nicht nur in dergesetzlichen Krankenversicherung, sondern insgesamtzur Disposition stand. Hier haben wir an einer Stelle ge-sagt: Nein, so geht es nicht mehr weiter. Die Auswir-kungen hat Ihnen Herr Kirschner sehr gut an Hand vonZahlen dargelegt. Wir wollen Ausgleich und Klarheit.
Mit dem jetzt bevorstehenden Entwurf zur Strukturre-form 2000 werden wir dafür sorgen, daß auch in Zu-kunft mit einem modernen Leistungskatalog notwendigeund angemessene Versorgung abgesichert ist.Es geht Ihnen doch gar nicht um Selbstbestimmung.Worum geht es Ihnen denn? – Es geht Ihnen um freiwil-ligen Verzicht auf Leistungen. Selbstbestimmung – ja;dazu stehen wir, das sagen wir, aber die Verunsicherungder Patientinnen und Patienten lehnen wir ab. Das ist mituns nicht zu machen.
Schon die Tatsache, daß Sie mit diesem eingeführtenPrinzip für einen dramatischen Einbruch bei den zahn-ärztlichen Leistungen gesorgt haben, daß man doch tat-sächlich befürchten mußte, künftig Arme am lücken-haften Lächeln zu erkennen, macht den von uns be-schrittenen Weg nachvollziehbar und richtig.
Es geht eben nicht um Kosten, sondern um umfas-sende Versorgung und eben auch um die Unterstützungder Patientinnen und Patienten durch die Kassen. Qua-lität und Wirtschaftlichkeit – das verlangen wir zuRecht.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Argument sagen,die Patientenrechte würden durch dieses Instrument ge-stärkt. Meine Damen und Herren von der Opposition, dakönnen Sie uns wirklich nichts vormachen. Schon imvorliegenden Entwurf zur Strukturreform gibt es eineganze Reihe neuer und sinnvoller Maßnahmen, um dieRechte von Patientinnen und Patienten zu stärken.
Ich erinnere an die geplanten neuen Möglichkeiten derPatientenberatung, die tatsächlich dazu führt, daß manWahlmöglichkeiten kennt und in Anspruch nehmenkann,
oder an die Unterstützung von Selbsthilfegruppen oderan die Verpflichtung der Kassen, den Versicherten beiBehandlungsfehlern beizustehen. Das alles hätten Siemachen können, relativ unspektakulär, sogar kostenneu-tral. Sie haben das nicht gemacht. Sie standen auf derSeite der Leistungserbringer und haben die Interessender Patientinnen und Patienten aus den Augen verloren.Hier brauchen wir eine Kehrtwende, und diese werdenwir einleiten.
Daß wir jenen, die das von Ihnen eingeführte Elementgenutzt haben, dies auch weiter ermöglichen, ist im Sin-ne des Vertrauensschutzes richtig.
Wir werden sehen, ob der Personenkreis nach den jetztvon uns vorgelegten Gesetzesänderungen auch in Zu-kunft davon noch Gebrauch machen will. Meine Pro-gnose ist: Der Anteil dieser Personen wird immer klei-ner werden, weil sich die Leistungen insgesamt nach-vollziehbar verbessern werden.
Meine Damen und Herren, wir haben heute viel übersozialen Ausgleich gesprochen.
Zurück zur Solidarität! Das will diese Regierung. Dafürstehen wir, auch in diesem Detail. Deswegen lehnen wirIhr Zurück zu den alten Wegen ab.Vielen Dank.
Katrin Göring-Eckardt
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt für
die PDS-Fraktion die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf der CDU/CSU-Fraktion soll die mit dem
Vorschaltgesetz abgeschaffte Möglichkeit der Kosten-
erstattung wieder eingeführt werden, und zwar als
Wahlmöglichkeit für alle Pflichtversicherten in der
GKV.
Dies ist nach unserer Auffassung nicht richtig, da das
Sachleistungsprinzip in einer sozialen Krankenversiche-
rung unverzichtbar ist.
Gemeinsam mit der solidarischen und paritätischen Fi-
nanzierung bildet es bekanntlich die Grundlage da-
für, daß die Versicherten entsprechend ihrem ge-
sundheitlichen Bedarf und nicht nach ihrer individuel-
len Zahlungsfähigkeit medizinische Hilfe erhalten kön-
nen.
Nun ist es wahr – keiner will es leugnen –, daß frei-
willig Versicherte Kostenerstattung wählen können,
auch wenn verständlicherweise nicht so viele davon Ge-
brauch machen, wie Sie auf der rechten Seite uns hier
vorgaukeln wollen.
Diese von den Konservativen und Liberalen nun leb-
haft beklagte Gerechtigkeitslücke zuungunsten der
Pflichtversicherten erscheint allerdings tolerabel, wenn
man sich vor Augen hält, daß das mit Abstand wichtig-
ste Gerechtigkeitselement in der gesetzlichen Kranken-
versicherung in einem gut funktionierenden Solidaraus-
gleich besteht.
Ich meine, alles, was diesen Solidarausgleich stärkt –
dazu gehört auch, daß die GKV möglichst viele freiwil-
lig Versicherte hat; ich bin selber auch freiwillig versi-
chert, weil ich das Solidarprinzip für mich als richtig er-
achte –,
fördert Gerechtigkeit weitaus mehr als eine sogenannte
Wahlfreiheit, die für viele Pflichtversicherte in der GKV
eine Scheinwahlmöglichkeit ist, weil sie die Kosten da-
für gar nicht aufbringen können.
Damit schafft man wieder eine soziale Ausgrenzung.
– Ja, das ist so. Ich gehe mit Ihnen in den neuen Bun-
desländern in die Praxen. Dort sitzen Leute, die teilwei-
se nicht einmal den prozentualen Anteil ihrer Zahnpfle-
ge bezahlen können und sich kein Gebiß machen lassen
können.
– Okay, wir haben eine Härtefallregelung. Aber das ist
doch egal.
Außerdem besteht die Wahlfreiheit oft nur darin, daß
eine qualitativ gleiche Behandlung mit zusätzlichen Ko-
sten für den Einzelnen verbunden ist und gar keine bes-
sere Qualität herauskommt.
Lieber Kollege Thomae, es ist für mich auch über-
haupt nicht überzeugend, die Einführung von Kostener-
stattung in der GKV mit den bekannten Urteilen des Eu-
ropäischen Gerichtshofs begründen zu wollen.
So wie Sie Sachverständige angeführt haben, nenne ich
Ihnen ebenfalls einen namhaften Sachverständigen, der
in der Anhörung deutlich gemacht hat, daß man dieses
Problem mit den ausländischen Leistungserbringern
ebensogut über ein Sachleistungsprinzip klären kann. Er
hat es nicht nur für möglich, sondern regelrecht für wün-
schenswert erachtet, damit eine gesetzliche solidarische
Grundlage besteht.
– Hier geht es jetzt darum, daß es möglich ist. Es kommt
dann darauf an, wie in den Abkommen usw. reagiert
wird. Fakt ist: Dieser Weg ist auch gangbar.
Sie sagen, daß die Kostenerstattung richtig war. Ich
dagegen behaupte: Es war einer der Fehler in der vor-
hergehenden Gesundheitsstrukturreform, daß diese
Möglichkeit überhaupt eröffnet worden ist.
Wir bleiben dabei: Die Gewährung medizinischer
Behandlung als Sachleistung ist nach unserer Meinung
in einer solidarischen Krankenversicherung nur konse-
quent. Ich hoffe, daß dies auch in Zukunft nicht verän-
dert wird. Daraus ergibt sich, daß wir Ihrem Gesetzent-
wurf nicht zustimmen können. Ich sage nicht einmal
„leider nicht zustimmen können“, denn ich hoffe, daß
diese Gedanken niemals in der Gesundheitspolitik Fuß
fassen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Zöller,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man dieDebatte verfolgt hat, muß man sich fragen: Zu welchem
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4044 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Tagesordnungspunkt sind eigentlich die Redebeiträgeabgeliefert worden?Es geht hier nicht um die Einführung der Kostener-stattung im Gesundheitswesen. Es geht einzig und alleindarum, daß wir sagen: Wir wollen für die Versichertenwieder Wahlfreiheit einführen. Wer kann eigentlich et-was gegen die Wahlfreiheit von Versicherten haben?
Im übrigen müssen Sie sich schon die Frage gefallenlassen: Wie wollen Sie es mit der Gleichbehandlung derVersicherten in der gesetzlichen Krankenversicherunghalten, wenn Sie den Besserverdienenden mehr Rechtegeben und den weniger Verdienenden weniger Rechte?Was hat das noch mit Gleichbehandlung in der gesetzli-chen Krankenversicherung zu tun?Ein weiteres Argument, das Sie vielleicht noch garnicht erkannt haben: Sie sagen, mit der Ablehnung unse-res Vorschlages würden Sie die gesetzliche Krankenver-sicherung stärken. Genau das Gegenteil werden Sie tun.Die Leute, die freiwillig in der gesetzlichen Krankenver-sicherung versichert sind und jetzt nicht mehr die Mög-lichkeit haben, Kostenerstattung zu wählen, werden essich sehr genau überlegen, ob sie nicht in die privateKrankenversicherung abwandern. Das bedeutet: WennSie heute unseren Gesetzentwurf ablehnen, schwächenSie zum einen die gesetzliche Krankenversicherung undführen zum anderen eine Ungleichbehandlung zwischenBesserverdienenden und weniger Verdienenden ein. Wiedie Sozialdemokraten dies mit ihren Grundsätzen ver-einbaren wollen, bleibt deren Geheimnis. Es ist abereine Fortführung Ihrer Regel: Überschrift – Verbessernder Patientenrechte – hervorragend, Inhalt gerade dasGegenteil und deshalb schlecht. – Stimmen Sie unseremVorschlag zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Ge-
setzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache
14/886. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf
Drucksache 14/1216, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse nun über den Gesetzentwurf der CDU/CSU
auf Drucksache 14/886 abstimmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-
nung eine weitere Beratung.
Ich rufe nun den Tagesordungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christi-
an Ruck, Hans-Peter Repnik, Ilse Aigner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung an-
läßlich der Hochwasserkatastrophe Pfing-
sten 1999 in Süddeutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Hom-
burger, Hildebrecht Braun , Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung an-
läßlich der Hochwasserkatastophe in Süd-
deutschland
– Drucksachen 14/1144, 14/1152, 14/1244 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Max Stadler
Petra Pau
Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. vor. Nach einer interfraktio-
nellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe
Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion der
CDU/CSU hat die Kollegin Ilse Aigner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrteKolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau einemMonat kam es in Süddeutschland zur größten Hochwas-serkatastrophe der letzten hundert Jahre. Es kam zu mas-siven Schäden in Baden-Württemberg und auch in Bay-ern. Menschen starben, fast 20 000 Anwesen sind ge-schädigt, Gewerbebetriebe und Haushalte sind vonÜberschwemmung betroffen. Zahlreiche Verkehrswegewurden erheblich beschädigt, das Tourismusgewerbewurde geschädigt usw.In schneller und unbürokratischer – und ich möchtesagen: in geradezu vorbildlicher – Weise hat die Bayeri-sche Staatsregierung ein umfassendes Hilfsprogramm inHöhe von über 200 Millionen DM aufgelegt.
Darüber hinaus läuft eine landesweite Spendenaktion,die allein bis jetzt mehr als 3,6 Millionen DM erbrachthat.Die gewaltigen Schäden in Süddeutschland haben ei-ne Dimension erreicht, mit der man die Länder nichtmehr allein lassen kann und die auch die Hilfen desBundes erfordern. Vor allem in Bayerisch Schwaben, ander Donau und am Bodensee, sind die Auswirkungenverheerend. Auch in Baden-Württemberg wird die Ge-samtschadenssumme bereits jetzt in dreistelliger Millio-nenhöhe geschätzt. Der Schadensumfang ist erheblichgrößer als das, was nach dem Oder-Hochwasser als na-tionale Katastrophe galt, eine Welle der HilfsbereitschaftWolfgang Zöller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 4045
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auslöste und den Bund zu einer massiven Hilfeleistungveranlaßte. Das Land Brandenburg hatte damals selbstLandesmittel in Höhe von 145 Millionen Mark aufge-bracht.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD undder Grünen, wir erkennen an, daß uns auf Grund unseresAntrages und des Antrages der F.D.P. und auch durchIhre Unterstützung aus Bayern mittlerweile in einigenPunkten entgegengekommen worden ist. In anderenPunkten sind wir uns allerdings noch nicht ganz einiggeworden. Deshalb stellen wir unsere Anträge erneut alsÄnderungsanträge zu dieser Beschlußempfehlung. Wirwollen von Ihnen – ich habe das auch in der letzten De-batte schon angesprochen – vergleichbare Mittel wie beider Oder-Katastrophe im November 1997 erhalten.
Die Landesregierung Brandenburg hatte damals, imNovember 1997, die entstandenen Schäden und Auf-wendungen auf rund 647 Millionen DM beziffert. DerBund hat dort mit 20 Millionen DM als Soforthilfe undmit großzügigen Hilfen zur Schadensbewältigung bei-getragen. Bei gleichem Engagement wie beim Oder-Hochwasser, aber auch nach den Prinzipien von Fairneßund Gerechtigkeit müßten den in Süddeutschland Ge-schädigten unbürokratisch rund 50 Millionen DM alsSoforthilfe zur Verfügung gestellt werden.
Notwendige Hilfen wie beim Oder-Hochwasser wärenSoforthilfen für die Landwirtschaft und gewerbesteuerli-che Erleichterungen, Sondermittel zum Wiederaufbaugeschädigter Verkehrswege.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in der letztenDebatte scheint es ein Mißverständnis gegeben zu ha-ben. Deshalb will ich noch einmal konkret ausführen,um was es bei den Verkehrswegen geht. Sie haben aus-geführt – ich glaube, Herr Kollege Kubatschka war es –,daß selbstverständlich die Bundesstraßen aus Bundes-mitteln wiederhergestellt werden. Das ist schön und gut.Es ist nur die Frage, aus welchem Topf es kommt.Kommt es aus den Pauschalmitteln, die jedes Jahr denLändern vom Bund zur Verfügung gestellt werden unddie eh schon ziemlich eng bemessen sind, oder wirdhierfür ein Sonderposten zur Verfügung gestellt? Nurdarum geht es. Entweder wollten Sie es nicht verstehen,oder Sie haben es nicht verstanden. Ich hoffe, ich konntedieses Mißverständnis jetzt aufklären, und wir bekom-men Mittel.
All diese von uns geforderten Maßnahmen, die ichzuletzt genannt habe, lehnen Sie mit Ihrer Beschlußemp-fehlung ab, und das können wir natürlich so nicht mit-tragen.Im Unterschied zur Regierung Kohl beim Oder-Hochwasser 1997 hat sich beim Pfingst-Hochwasser1999 zunächst niemand aus der Bundesregierung denentstandenen Schaden überhaupt ansehen wollen, nichteinmal der über die bayerische Landesliste gewählteBundesinnenminister Schily. Ich verzichte jetzt darauf,die selbst von SPD-Abgeordneten zu Recht als „sau-dumme Bemerkung“ klassifizierte Äußerung des Regie-rungssprechers Heye erneut zu zitieren, da sich HerrHombach ja mittlerweile Gott sei Dank dafür entschul-digt und das zurückgenommen hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Aig-
ner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Vom Herrn Kollegen Bar-
thel selbstverständlich.
Frau Kollegin
Aigner, Sie laufen in der Öffentlichkeit herum – –
– Warten Sie halt, bis ich den Satz zu Ende habe! War-
um sind Sie denn so aufgeregt? – Sie sind mit der Be-
hauptung herumgelaufen, man setze sich dafür ein, daß
zusätzliche Mittel für den Straßenbau zur Verfügung ge-
stellt werden. Damit wird in der Öffentlichkeit Reklame
gemacht. Sie haben es auch jetzt noch einmal erwähnt.
Das ist ja schön und gut, und ich will es jetzt auch nicht
hinterfragen. Ich will Sie nur einmal fragen, wo in Ihrem
Antrag, in welchem Ausschuß und bei welchem Anlaß
Sie in diesem Hause eine konkrete Anforderung in die-
ser Richtung gestellt haben und inwiefern sich auch die
Bayerische Staatsregierung in diesem Punkt verwendet
hat, die ja mit der Bundesregierung über all das gespro-
chen hat. Ich will also nur einmal wissen, woher die un-
terschiedliche Sprachregelung in diesem Haus und in der
Öffentlichkeit kommt und was tatsächlich hier die An-
liegen sind. Denn sonst kann man sagen, es wird halt
versucht, aus dem Hochwasser politisches Kapital zu
schlagen, aber das hilft niemandem etwas.
Ich kann diese Passagejetzt nicht so auf einen Schlag finden, aber das ist inbe-griffen, weil nämlich auch bei der Oder-KatastropheMittel für den Verkehrswegebau zur Verfügung gestelltworden sind. Deshalb ist das inbegriffen, ganz einfach!
Ich möchte darauf hinweisen, daß Herr MinisterHombach erst am 18./19. Juni in die Region gekommenist und dann gemeinsam mit dem Minister Faltlhauserbeschlossen hat, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, diejetzt klärt, was man tun kann.
– Ich weiß nicht, ob er geflüchtet ist. Ich weiß auchnicht: Ist er jetzt noch Minister, oder ist er nicht mehrMinister?
Ilse Aigner
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Das entzieht sich momentan meiner Kenntnis. Es ist hierauch nicht relevant, ob er noch Minister ist oder nicht.Er ist wohl vom Hochwasserbeauftragten zu einem an-deren Beauftragten geworden.Auf jeden Fall bleibt die Frage bestehen, warum dieArbeitsgruppe nicht schon vor vier Wochen eingesetztworden ist. Die Schäden haben, so glaube ich, auf derHand gelegen. Die hat man sehen können. Man hätteschon vor vier Wochen nach Mitteln im Haushalt suchenkönnen. Wir hätten schon heute konkret über eine Lö-sung diskutieren können. Jetzt ist diese Gelegenheitnicht mehr gegeben, weil wir vor der Sommerpausenicht mehr genug Zeit dafür haben. Das bedauere ichsehr. Ich frage mich, ob das nicht mit Taktik verbundenist. Ich hoffe es nicht.Deshalb fordere ich Sie abschließend auf, den bayeri-schen und baden-württembergischen Bürgern, die nichtsfür diese Katastrophe können, die gleichen Mittel undSoforthilfen zur Verfügung zu stellen, wie es beimOder-Hochwasser der Fall war.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Harald Friese.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Da drei Anträge zu diesem
Thema vorliegen und nachdem in den Ausschüssen
kontrovers entschieden wurde, gehe ich davon aus, daß
wir heute eine kontroverse Abstimmung haben werden.
Aber daß jetzt, nachdem wir darüber schon vor einer
Woche hier im Hause beraten haben, wieder die Aussa-
ge von Herrn Heye zitiert wurde, ist sinnlos.
Er hat sich doch für seine Aussage entschuldigt. Wir
sind uns ja einig, daß diese Äußerung deplaziert war.
Vor einer Woche wurde auch gesagt, daß es sicher bes-
ser gewesen wäre, wenn die Bundesregierung nicht erst
vor einer Woche, sondern früher einen Besuch im Kata-
strophengebiet abgestattet hätte. Es nützt nichts, wenn
wir diese Dinge ständig aufwärmen.
Es geht doch im Prinzip darum, ein Konzept zu ent-
wickeln und auf den Tisch zu legen, wie diesen Men-
schen, die in Bayern und in Baden-Württemberg von der
Hochwasserkatastrophe betroffen sind, effektiv geholfen
werden kann. Dies muß das Ziel unseres politischen
Handelns sein und nicht das Prinzip, nach hinten zu
schauen und über Dinge zu diskutieren, die die Vergan-
genheit betreffen.
Dieses Hochwasser war in seinen Auswirkungen
schlimmer als das Oder-Hochwasser. Das ist richtig. Die
Schäden sind größer. Auch das ist richtig. Wir sind uns,
so glaube ich, darüber einig, daß der Bund verpflichtet
ist, ergänzende Hilfen zu leisten. Dies hat die Bundes-
regierung auch getan: Die Bundesregierung hat die Bun-
deswehr eingesetzt. Die Bundesregierung hat den Bun-
desgrenzschutz und das THW eingesetzt. Diese Institu-
tionen waren im Einsatz zur Rettung von Menschen, zur
Sicherung von Brücken und Fähren sowie zur logisti-
schen Unterstützung der anderen Rettungsdienstorgani-
sationen. Allein das THW hat über 7 000 Helfertage er-
bracht.
Ich möchte hier eines noch einmal feststellen – das
sollten wir gemeinsam betonen –: Es ist angemessen,
den Helfern und Angehörigen der genannten Institutio-
nen, aber auch den Angehörigen der freiwilligen Feuer-
wehren, der Berufsfeuerwehren, der DLRG, der Polizei,
der anderen Rettungsdienstorganisationen und auch den
Mitarbeitern der Kommunalverwaltungen der Städte, der
Gemeinden und der Kreise zu danken.
Ich möchte eindeutig dem Gerücht widersprechen,
das bei Ihnen, Frau Kollegin Aigner, wieder unter-
schwellig auftauchte, daß der Bund nicht geholfen habe.
Der Bund hat durch seine Hilfe bei der Katastrophenbe-
kämpfung unmittelbar und sofort geholfen, und die Kre-
ditanstalt für Wiederaufbau hat nach Pfingsten, Ende
Mai dieses Jahres, einen Kreditrahmen von 200 Millio-
nen DM aufgelegt, um Aufbauhilfe leisten zu können.
Dies ist geschehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
Herr Friese, wie be-
werten Sie denn die Tatsache, daß die Bundeswehr vor-
gestern an die Stadt Immenstadt eine Rechnung für ihren
Hilfseinsatz gestellt hat
und, Herr Stiegler, daß bis heute, obwohl ich dazu eine
Anfrage gestellt habe und ich Bundesverteidigungsmini-
ster Scharping schriftlich zu einer Entscheidung aufge-
fordert habe, keine Entscheidung der Bundesregierung
über einen kostenfreien Einsatz der Hilfskräfte zur
Schadensbewältigung nach dem Katastrophenfall vor-
liegt, wie dies beim Oder-Hochwasser sechs Wochen
später zur Bewältigung der Katastrophe selbstverständ-
lich der Fall war?
– Bis heute liegt keine Entscheidung vor.
Herr Kollege, ich kann denZuruf des Kollegen Stiegler aufnehmen: Sie sind tat-sächlich nicht auf dem neuesten Stand. Die Bundesre-gierung wird die Kosten für den Einsatz der Bundes-wehr, des Bundesgrenzschutzes und des THW nicht inIlse Aigner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 4047
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Rechnung stellen. Dies können Sie als verbindlicheAussage zur Kenntnis nehmen.
Ich habe den Eindruck, daß Sie das, was geschehen ist,gar nicht als einen Hilfseinsatz der Bundesregierungbewerten.
Der bayerische Staatsminister der Finanzen, Herr Faltl-hauser, hat am 28. Mai in einem Schreiben an den Bun-desfinanzminister erklärt, daß er für die wichtige Hilfedurch den Bund danke, und zudem festgestellt, daß dieseHilfe Anerkennung verdiene.
Ich habe das Gefühl, der bayerische Staatsminister derFinanzen ist viel weiter als Sie. Sie haben noch gar nichterkannt, was da geschehen ist.
Herr Faltlhauser hat noch etwas erkannt: Hochwas-serschutz und Katastrophenhilfe sind Aufgaben derLänder. Dies will weder die Bayerische Staatsregierungnoch die baden-württembergische Landesregierung än-dern. Auch wir wollen das nicht ändern, und ich glaube,Sie auch nicht.
Es ist aber unbestritten, daß der Bund ergänzende Hilfenleisten kann und leisten will,
wenn dies erforderlich und notwendig ist. Dies hat ergetan.Wir sind der Meinung, daß der Bund noch etwasmehr tun muß. Deshalb haben wir beantragt, daß dieKredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau für fünfJahre zins- und tilgungsfrei gewährt werden. Hier unter-scheidet sich unsere Position wesentlich von Ihrer. Esführt nämlich nicht weiter, die Vereinbarungen, die an-gesichts der Katastrophe beim Oder-Hochwasser getrof-fen wurden, schematisch auf Bayern und Baden-Württemberg zu übertragen.
– Ich erkläre Ihnen sofort, warum: Die Voraussetzungensind andere.Erstens. Wenn der Bund prüft, ob Gelder zur Verfü-gung gestellt werden sollen – dies muß er tun, wenn erdies freiwillig tut –, muß er auch die finanzielle Lei-stungsfähigkeit des Bundeslandes berücksichtigen.
Ich glaube, daß dies richtig ist. Es geht schließlich umunsere Steuergelder. Wenn ein Bundesland finanziellleistungsfähiger ist als zum Beispiel Brandenburg, dannist es gerechtfertigt
– Sekunde! –, daß die Bundesmittel in diesem Fall ge-ringer ausfallen.Zweitens. Die Lage in Baden-Württemberg ist kom-plett anders als in Brandenburg.
In Baden-Württemberg werden im Rahmen der Gebäu-deversicherung auch Elementarschäden versichert. Des-halb hat die baden-württembergische Landesregierungauch kein Hilfsprogramm aufgelegt. Deshalb besteht garnicht die Notwendigkeit von Soforthilfen. Und deshalbist es der richtige Weg, die Voraussetzungen für eineHilfe zur Selbsthilfe zu schaffen. Dies geschieht durchdas Kreditprogramm der Kreditanstalt für Wiederauf-bau.
– Herr Kollege, ganz ruhig bleiben!In Bayern ist die Situation wieder anders. Hier sindtatsächlich die Bürger und die Betriebe massiv betrof-fen; denn dort gibt es keine Elementarschadensversiche-rung.
Die Bayerische Staatsregierung hat aber dankenswerter-und richtigerweise – das sage ich ausdrücklich – ein sehrbeeindruckendes, detailliertes und auch finanziell um-fangreiches Hilfsprogramm aufgelegt. Das hat sie ausihrer Verantwortung für Hochwasserschutz und Kata-strophenhilfe getan.Deshalb ist das, was wir heute beantragen, sozusagendie idealtypische Ergänzung zu dem, was die BayerischeStaatsregierung getan hat,
nämlich die Stärkung der Hilfe zur Selbsthilfe, um denBürgern und auch den Betrieben, egal ob landwirt-schaftlicher, gastronomischer oder gewerblicher Art, dieChance zu geben, sich wieder in den Wirtschaftskreis-lauf einzuklinken, ihnen die Chance zu geben, sich sel-ber zu helfen. Ich glaube, dies ist der richtige Weg.
Dazu gehören des weiteren Bürgschaften und dieMöglichkeit nachrangiger Kredite durch die Kreditan-stalt für Wiederaufbau. Ganz wichtig ist auch, daß sichdie Kommunen über das Infrastrukturprogramm derKreditanstalt für Wiederaufbau an diesem Hilfspro-gramm beteiligen können. Daß hier auch steuerlicheHarald Friese
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Maßnahmen greifen, auch Stundungen und Aufschie-bungen der Vollstreckungsmaßnahmen, brauche ichnicht weiter auszuführen.Dies aber ist der Unterschied zwischen uns: Mit unse-rem Antrag wird auf die besondere Situation in Bayernund Baden-Württemberg reagiert. Es wird nicht pau-schal und schematisch eine Hilfsmaßnahme, die beimOder-Hochwasser berechtigt war, auf diese Länderübertragen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eini-ge Anmerkungen zu den Punkten IV und V unseres An-trages machen.Mit Punkt IV werden wir sicherlich noch Verände-rungen im Rahmen des Haushaltsvollzugs bewirkenkönnen. Es geht auch um Straßenbaumittel – das be-trifft Kapitel 12 des Haushaltsplans –: Durch Vorabzu-weisungen wird es möglich sein, Bundesstraßen früherinstandzusetzen. Zudem besteht die Möglichkeit, wie esauch im Land Brandenburg der Fall war, daß aus derGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes“ übrigbleibende Haushaltsmittelauf Maßnahmen für den Hochwasserschutz und denDeichausbau übertragen werden können, wenn derPLANAK, der sogenannte Planungsausschuß für Agrar-struktur und Küstenschutz, dem zustimmt. Im Fall Bran-denburg ist dies geschehen. Die Länder sind an diesemAusschuß beteiligt. Ich gehe davon aus, daß sie dieserÜbertragung zustimmen werden.Auch im Bereich der Landwirtschaft, bei den euro-päischen Richtlinien, gibt es erste Erfolge: Die Aussaat-fristen wurden verlängert, und die EU verzichtet auf dieRückzahlung von Beihilfen, wenn Flächen durch dieHochwassereinwirkungen nicht mehr bewirtschaftetwerden können.Sie sollten eines zur Kenntnis nehmen: Der bay-erische Finanzminister ist auch in diesem Fall weiterals Sie. Das ist das, was mich immer verblüfft. Ich zi-tiere ihn gerne. Herr Faltlhauser hat, jedenfalls nach der„Süddeutschen Zeitung“ vom 21. Juni 1999, gesagt,daß er mit den Zusagen des Herrn Ministers zufriedensei
–, der noch im Amt ist; das will ich Ihnen nur sagen,damit es kein Mißverständnis gibt. Er hat abschließendfestgestellt:Damit werden wir bis Anfang Juli eine gemeinsameBasis für die Hilfestellungen des Bundes haben.
– Wenn Sie damit nicht zufrieden sind, dann ist das IhrProblem. Ich glaube, wenn der bayerische Staatsministerder Finanzen bei der besonderen Eigenwilligkeit vonBayern damit zufrieden ist, kann uns das in diesem Fallals Maßstab genügen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn ich gerade höre, wennwir mit dem Antrag nicht zufrieden seien, den Sie vor-gelegt haben, sei das unser Problem, will ich Ihnen sa-gen: Das kann ganz schnell Ihr Problem werden, denndie Menschen, die vom Hochwasser betroffen sind, wer-den die Rede, die Sie gehalten haben, nicht verstehen.
Ich bin froh, daß der Deutsche Bundestag es inner-halb der letzten Woche wenigstens geschafft hat, ge-meinsam zu der Erkenntnis zu kommen, daß es nichtsein kann, daß wir die Länder Baden-Württemberg undBayern mit diesen Fragestellungen, die sich auf Grundder enormen Schadenshöhe ergeben, allein lassen. Dasist wenigstens etwas. Aber allein der Zeitpunkt des An-trags, den Sie im Ausschuß eingereicht haben und deroffensichtlich mit heißer Nadel gestrickt ist, zeigt, daßüberhaupt nicht erkannt worden ist, welche Dimensio-nen die Schäden zwischenzeitlich haben. Außerdemzeigt sich, wenn man den Antrag und den Zeitpunkt sei-ner Einbringung betrachtet, daß die Opposition Sie wie-der einmal hat zum Jagen tragen müssen.
Ich bin froh, daß wir angesichts des Unglücks derBetroffenen die Debatte im Deutschen Bundestag nichtüber Wochen gestreckt haben und daß wir es wenigstensgemeinsam geschafft haben, eine schnelle Beratung zuerreichen, damit den Menschen vor Ort Antworten aufdie Frage gegeben werden können, was die Bundesre-gierung bereit ist an komplementären Hilfen für sie be-reitzustellen. Ob das ausreichend ist oder nicht, dieseEntscheidung ist erst einmal wichtig.Ich freue mich auch, daß Sie in Ihrem Antrag deutlichklargestellt haben, daß die Kosten für den Einsatz vonTHW, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr bei der Be-kämpfung der Katastrophe und bei den Aufräumarbeitenvom Bund getragen werden. Ich hoffe, daß Sie das auchso durchziehen. Ich halte das für ein wichtiges Ergebnis;denn wenn die Kommunen, die betroffen sind, auch die-se Kosten noch übernehmen müßten, stünden einigeKommunen vor dem finanziellen Ruin.
Das allerdings, was Sie für Landwirtschaft, Gewerbeund Private an Hilfen anbieten, ist absolut unzureichend.Es geht über zinsgünstige Kreditprogramme der Kredit-Harald Fiese
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anstalt für Wiederaufbau nicht hinaus. Deswegen for-dert die F.D.P. noch einmal, daß die vom HochwasserBetroffenen in Baden-Württemberg und Bayern schnelleund unbürokratische Hilfe, vor allem dort, wo es umexistenzbedrohende Situationen geht, erhalten, und zwarin Form von nicht zurückzahlbaren Zuschüssen.Ich will Ihnen noch eines sagen. Wir fordern nichtmehr und nicht weniger als das, was von der alten Bun-desregierung beim Oder-Hochwasser an Unterstützunggegeben wurde.
Wir verlangen schlichtweg eine Gleichbehandlung.Deswegen ist es auch gerechtfertigt, daß wir das heutenoch einmal zur Abstimmung stellen.Wenn Sie hier ausführen, Hilfe zur Selbsthilfe sei dasWichtigste, ist das angesichts der Schadensausmaße undangesichts der Existenzbedrohung für viele Landwirte,für viele touristische Betriebe und auch für viele Privateam Bodensee schlicht ein Hohn.
Die Länder tun ihr möglichstes. Das Hochwasser inSüddeutschland übersteigt allerdings die Schäden desOder-Hochwassers um ein Mehrfaches. Entgegen dem,was Sie hier noch in der letzten Woche im Plenum be-hauptet haben, hat die Staatssekretärin Frau Probst ge-stern im Umweltausschuß deutlich erklärt, auch wenndie Schadensbilanz noch nicht abgeschlossen sei, sokönne man doch feststellen, daß die Schäden in Süd-deutschland durch das Hochwasser ein Mehrfaches des-sen betragen, was das Oder-Hochwasser ausgemachthat. Deshalb sagen wir noch einmal, daß unsere Forde-rungen absolut gerechtfertigt sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Hom-
burger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Frau Kollegin, wie
bewerten Sie die Tatsache, daß sich das deutsche Parla-
ment innerhalb von einer Woche das zweite Mal unter
großer Beteiligung mit aller Ernsthaftigkeit dieser De-
batte stellt und um Lösungen und Hilfen für die betrof-
fenen Bürger bemüht ist, während die Bundesregierung
heute genauso wie das letzte Mal nicht bereit ist, uns
eine Antwort zu geben? Die Regierungsbank ist genauso
verwaist, wie es die Rednerliste vermuten ließ.
Wie bewerten Sie die Tatsache, daß die Bundesregie-
rung nicht bereit ist, dem Parlament eine offizielle Ant-
wort zu den Maßnahmen, die jetzt eingeleitet werden
sollen, zu geben?
Herr Kollege, zunächst
möchte ich sagen: Die Regierungsbank ist Gott sei Dank
nicht ganz verwaist. Aber angesichts der Probleme, über
die wir diskutieren, ist sie völlig unzureichend besetzt.
Wir können in der Tat nicht mit einer Antwort der
Bundesregierung auf die Fragen, die wir stellen, rech-
nen. Wir können vor allen Dingen keine Antwort auf die
Frage erwarten, was die Bundesregierung beispielsweise
bei der Europäischen Kommission vorgetragen hat. Dort
ging es nämlich darum, für die Landwirte zu erreichen,
daß stillgelegte Ackerflächen ohne Rückforderung der
Direktzahlung mit überfluteten Flächen getauscht und
abgeerntet werden dürfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Hom-
burger – –
Ich antworte noch auf
die Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Anschließend möchte
der Kollege Diller noch eine Zwischenfrage stellen.
Gerne, wenn ich mit der
Antwort auf die erste Frage fertig bin.
Wir haben vor allen Dingen auf die Frage, warum
immer noch kein Ergebnis erzielt worden ist, warum die
Landwirte immer noch auf unbürokratische Hilfe war-
ten, obwohl es nur einer kleinen schriftlichen Erklärung
bedürfte, keine Antwort bekommen und werden auch
heute keine erhalten. Ich teile Ihre Meinung, daß das
nicht in Ordnung ist. Ich finde dieses Auftreten der
Bundesregierung schlichtweg peinlich.
Verehrte Frau Kollegin, wie erklä-
ren Sie, daß die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P.
im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages ge-
stern ihre Anträge für erledigt erklärt
und darum gebeten haben, sich dem Koalitionsantrag
anschließen zu können? Diesem Antrag hat die Koaliti-
on natürlich gerne zugestimmt.
Ist das, was die Kollegin Aigner und Sie äußern, eine
Kritik an den Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktio-
nen im Haushaltsausschuß?
Herr Kollege, ich beab-sichtige nicht, die Kolleginnen und Kollegen der Frak-tionen der CDU/CSU und F.D.P. im HaushaltsausschußBirgit Homburger
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4050 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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zu kritisieren. Ich möchte anmerken, daß der federfüh-rende Innenausschuß festgestellt hat, daß die Anträgevon F.D.P. und CDU/CSU nicht als erledigt angesehenwerden und daß wir Ihren Anträgen nicht zustimmenkönnen.Ich möchte zum Schluß kommen. Ich bedaure diefehlende Einsicht der Bundesregierung, daß die Hilfenfür die Menschen in Süddeutschland ebenso gestaltetwerden sollten wie seinerzeit beim Oder-Hochwasser.Weil diese Einsicht fehlt, sehen wir uns gezwungen, un-seren Antrag aufrechtzuerhalten. Wir werden nachherüber die Änderungsanträge abstimmen können.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Hans-
Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Bereits in der letzten Woche hat mein Fraktions-kollege Albert Schmidt die bündnisgrüne Position deut-lich gemacht.
Wir nehmen das Ausmaß der Schäden sehr ernst undwollen gemeinsam Hilfestellungen organisieren.
Auch ich will nochmals betonen, daß wir die be-kannten Äußerungen des Regierungssprechers für unan-gemessen und ärgerlich halten. Die Kritik aus Bayerndaran war berechtigt. Dennoch hat die Bundesregierungvon Anfang an geholfen. Spätestens seit dem Besuchvon Herrn Hombach in Bayern, der sicherlich zu spätkam,
ist klar, daß Süddeutschland in bezug auf die Hochwas-serhilfe anderen Bundesländern gleichgestellt wird, dieähnliche Katastrophen zu erleiden hatten.Herr Kollege Dr. Müller, Sie hatten vorhin nach derImmenstädter Rechnung gefragt. Es ist klar – ich habemich heute im Kanzleramt auch noch einmal rückversi-chert –, daß diese Rechnung irrtümlich herausgegangenist und inzwischen zurückgezogen wurde.
Damit ist klar dokumentiert, daß keine Rechnungen fürBundeswehreinsätze und andere Hilfen an die Kommu-nen ausgestellt werden.
Es gibt – das wurde schon mehrfach betont – günstigeKredite der KfW. Neu ist, daß diese Kredite nun so zu-geschnitten werden, daß sie auch von den Betroffenen inAnspruch genommen werden können. Dies war in derVergangenheit zum Beispiel in Brandenburg ein Pro-blem. Die Informationsmaßnahmen über diese Kreditewerden verstärkt, so daß die Menschen auch erfahren,wo sie diese Kredite bekommen und wie sie sie beantra-gen können. Die eingerichtete Arbeitsgruppe wird vielfür die Koordination zwischen Bonn, München undStuttgart leisten.
Klar ist auch, daß diese Hilfen nicht jedes Problemlösen können. Daher möchte ich der Bundesregierungeine Hilfsmaßnahme vorschlagen, die weiter als die bis-her vorgeschlagenen Maßnahmen geht. Die grünenBundestagsabgeordneten aus Bayern haben heute einenentsprechenden Brief an das Bundeskanzleramt ge-schickt. Darin schlagen wir eine direkte Hilfe für dieHeizungsanlagen der Geschädigten vor. Durch dasHochwasser sind viele Ölheizungen zerstört worden.Durch in das Hochwasser gelaufenes Heizöl wurdenschwerwiegende Umweltbelastungen verursacht. ImNormalbetrieb fallen CO2-Emissionen an, die ursächlichfür den Treibhauseffekt sind. Darauf ist ja zum Teil auchdie Zunahme der außergewöhnlichen Regenfälle zu-rückzuführen. Die Heizungen müssen nun schnell er-neuert werden. Gelingt es nun, ökologisch schädlicheHeizungen preisgünstig durch umweltfreundliche zu er-setzen, kann zugleich etwas für die Menschen und dieUmwelt getan werden. Es liegt also nahe, eine Soforthil-fe für die Heizungserneuerung der Betroffenen mit demgleichzeitigen Einbau von umweltfreundlichen Hei-zungsanlagen zu verbinden.
Im ländlichen Bayern macht es großen Sinn, hier gezieltden CO2-neutralen Brennstoff Holz einzusetzen.Wir Grünen haben in dem oben erwähnten Brief dasKanzleramt aufgefordert,
als Soforthilfe die Mittel unseres neuen Programms fürdie Markteinführung von erneuerbaren Energien für dieBetroffenen aufzustocken. Vorgesehen sind dort unteranderem Unterstützungen für den Einsatz modernerPellet-Heizungen. Wir schlagen vor, die vorgesehenenFördersätze für die Hochwassergeschädigten anzuheben.Damit könnten die Geschädigten bald neue Heizungenzu erschwinglichen Preisen installieren.
Selbstverständlich reichen auch diese Hilfen nochnicht aus. Von daher möchte ich an dieser Stelle auf eingrundsätzliches Problem hinweisen: Nach Aussagen derMünchener Rück werden in Deutschland durch Natur-katastrophen jährlich Schäden in Höhe von 500 Millio-nen DM verursacht, die nicht durch Versicherungen ab-Birgit Homburger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 4051
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gedeckt sind. Laut Aussagen der Klimaforscher ist eineZunahme dieser Schäden zu befürchten. Wer neuesteNachrichten über die Oder erhalten hat, weiß, daß indiesen Stunden der Oder eine neue Hochwasserwelledroht. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, daß unsereAussagen bezüglich der Klimaveränderungen stimmen.Öffentliche Haushalte geraten zunehmend an ihreGrenzen, wenn es um den Ausgleich dieser Schädengeht. Wir schlagen deshalb vor, einen bundesweitenElementarschadenfonds einzurichten, wie er in Baden-Württemberg bereits seit Jahrzehnten gute Dienste lei-stet.
Aus einem solchen Fonds könnten auch Vorsorge-maßnahmen wie Deichbauten finanziert werden. Ich re-ge an, diesen Elementarschadenfonds verursacherge-recht zu finanzieren, zum Beispiel aus Abgaben auf Flä-chenversiegelung oder auf den Ausstoß von CO2 oderanderen Klimagasen. Ein solcher Vorschlag muß natür-lich noch detailgenauer formuliert werden. Die Geschä-digten des nächsten Hochwassers, des nächsten Sturmesoder der nächsten Sturmflut werden dankbar sein, wennein solcher Elementarschadenfonds zur Verfügung steht.Meine verehrten Damen und Herren von der Opposi-tion, wir haben Ihre Anregungen sehr wohl aufgenom-men und einen eigenen Antrag formuliert. Die Bundes-regierung und die Regierungsfraktionen nehmen dasHochwasserproblem in Süddeutschland wirklich ernst.Wir haben auch neue Vorschläge gemacht, die in derÖffentlichkeit bisher nicht bekannt waren. Ich würdemich freuen, wenn das gesamte Hohe Haus diese Vor-schläge in einer zielführenden Diskussion aufgreifenwürde.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Daß der
Deutsche Bundestag erst heute, über vier Wochen nach
der Flutkatastrophe in Bayern, einen Antrag der Bundes-
regierung auf Unterstützung der Geschädigten zur Ab-
stimmung vorgelegt bekommt, ist schlichtweg ein Skan-
dal.
Kein Minister dieser Regierung hat sich bis zu der ver-
gangenen Woche in den betroffenen Gebieten sehen las-
sen. Erst auf heftigstes Drängen seiner bayerischen Ge-
nossinnen und Genossen hat sich der ehemalige Kanz-
leramtsminister Hombach, nachdem er seine Gedanken
zu der neuen sozialdemokratischen Mitte verfaßt hatte,
trockenen Fußes nach Bayern aufgemacht und dort die
Lage schildern lassen. Herr Schily, mit bayerischen
Stimmen in den Bundestag gewählt und als Innenmini-
ster eigentlich zuständig in dieser Angelegenheit ist
schlichtweg weggetaucht. Obwohl ich nichts vom Kata-
strophen-Sightseeing von Politikerinnen und Politikern
halte, meine ich: Einige verständnisvolle Worte, werte
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, oder
die Ankündigung adäquater Hilfestellungen wären von
den Betroffenen bestimmt positiv aufgenommen wor-
den.
Im übrigen: Hätte sich eine ähnliche Katastrophe in
Hannover ereignet, wäre dort die Leine oder in Wolfs-
burg der Mittellandkanal über die Ufer getreten, wäre
Kanzler Schröder einer der ersten vor Ort gewesen.
Solidarität ist keine Frage des Parteibuches. Die Bun-
desregierung hat mit ihrer Untätigkeit aber genau diesen
Eindruck erweckt. Sie hat die Betroffenen im Stich ge-
lassen, weil ihr Sprecher meinte, die reichen Bayern
könnten sich allein helfen. Ich weiß, er hat es revidiert.
Das mag für die Spezis der CSU ja gelten; doch der
Landwirt an der Donau oder im Voralpenland wird sich
fragen, welcher Teufel die in Bonn geritten hat, einen
solchen Schmarren zu erzählen.
Wir sind der Meinung: Die Bundesregierung muß den
Geschädigten die gleiche Hilfe zukommen lassen wie
den Opfern der Flutkatastrophe an der Oder vor zwei
Jahren. Es macht keinen Unterschied, ob der Familie im
Oderbruch oder der Familie in Neustadt an der Donau
das Haus voll Wasser läuft. Beide haben den gleichen
Anspruch auf die Solidarität aller Verantwortlichen in
diesem Land.
Außerdem hat das ignorante Verhalten der Bundesre-
gierung auch eine politische Bedeutung. Wir bekämpfen
die CSU nicht glaubwürdig ob ihrer unsolidarischen
Kritik am Länderfinanzausgleich oder ihrer erpresseri-
schen Haltung gegenüber den neuen Bundesländern,
wenn wir den Menschen in Bayern konkrete Solidarität
versagen. Das ist ja geradezu eine Steilvorlage für die
CSU, die sie – so kenne ich die Spezis – in Zukunft des
öfteren aus der Tasche ziehen wird. Sie macht das schon
dauernd; man hört es ja.
Deshalb: Philosophieren Sie weniger über die Neue
Mitte. Wenden Sie sich den konkreten Problemen der
Menschen in diesem Land zu! Helfen Sie den Menschen
in den betroffenen Gebieten schnell und unbürokratisch!
Die PDS wird nach Durchsicht der vorliegenden An-
träge den F.D.P.-Antrag unterstützen, weil er konkret
und schnell die notwendige Hilfe verspricht.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.Hans-Josef Fell
Metadaten/Kopzeile:
4052 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum zweiten-
mal innerhalb einer Woche debattieren wir im Deut-
schen Bundestag über die vom Pfingsthochwasser be-
troffenen Regionen in Süddeutschland. Ich bin davon
überzeugt, daß genau einen Monat nach der Hochwas-
serkatastrophe die Zeit der Worte nun beendet sein muß.
Die Menschen in den betroffenen Regionen erwarten zu
Recht Taten von der Politik in Kommunen, Land und
Bund.
Die vorläufige Bilanz mit Stand vom 18. Juni 1999
ergibt für den Freistaat Bayern Schäden in Höhe von
rund 1 Milliarde DM. In dieser Summe sind die Schäden
des am stärksten betroffenen Landkreises Garmisch-
Partenkirchen aber noch gar nicht berücksichtigt.
In vorbildlicher Weise hat die Bayerische Staatsregie-
rung ein Soforthilfeprogramm mit einem Gesamtvolu-
men von 200 Millionen DM Soforthilfe und weiteren
40 Millionen DM für Deichbaumaßnahmen aufgelegt.
Die Landesregierung von Baden-Württemberg wird dem
Beispiel der Bayerischen Staatsregierung folgen. Erste
Schätzungen gehen in Baden-Württemberg von einer
Schadensumme in dreistelliger Millionenhöhe aus. Die
genannten Zahlen belegen den dringenden Handlungs-
bedarf in dieser Frage. Meines Erachtens bedarf eine
Naturkatastrophe von solchem Ausmaß auch eines Ak-
tes nationaler Solidarität.
Beim Oderhochwasser von 1997 gab es einen solchen
Akt nationaler Solidarität. Die CDU/CSU-geführte Bun-
desregierung hat damals schnell und unbürokratisch mit
dem Bundesland Brandenburg eine Verwaltungsverein-
barung getroffen. Immerhin hat auch der Bundeskanzler
Dr. Kohl das Oderhochwasser zur Chefsache gemacht.
Er hat sogar seinen Urlaub unterbrochen und ist zu den
betroffenen Menschen gefahren.
Insofern ist es nur konsequent, wenn die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion ein vergleichbares finanzielles En-
gagement von der rotgrünen Bundesregierung einfor-
dert. Für eine vergleichbare Lösung müßte die Bundes-
regierung also rund 50 Millionen DM zur Verfügung
stellen.
Meine Damen und Herren, grundsätzlich ist zu prü-
fen, ob ein nationaler Katastrophenfonds geschaffen
und eine nationale Katastrophenkommission mit Ver-
tretern aus Bund und Ländern eingerichtet werden kann
und ob sie dazu beitragen kann, schneller und effektiver
auf Natur- und Umweltkatastrophen wie Sturmfluten,
Lawinenabgänge, Schneestürme und Hochwasser zu
reagieren. Mit etwas Phantasie könnte man einen sol-
chen Nationalfonds aus den Einnahmen aus Sonder-
briefmarken, Lotterien, Benefizveranstaltungen und Zu-
schüssen des Bundes und der Länder speisen.
Bei einer Bereisung der Arbeitsgruppe Tourismus der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf Einladung unserer
baden-württembergischen Kollegen Thomas Dörflinger
und Hans-Peter Repnik konnten wir uns Anfang Juni vor
Ort über die katastrophalen Auswirkungen des Hoch-
wassers am Bodensee vor allem auf die Hotel- und
Gaststättenbranche und die Landwirtschaft informieren.
Die Umsatzeinbußen im Bereich des Tourismus gerade
auf den Inseln des Bodensees haben viele Unternehmer
unverschuldet in eine existentielle Notlage gebracht.
Eine anscheinend mangels Sachkenntnis falsche über-
regionale Medienberichterstattung sorgt zusätzlich da-
für, daß auch weiterhin potentielle Bodenseeurlauber
von einer Reise abgehalten werden, obwohl die Inseln
gar nicht überflutet sind, der Zugang gewährleistet ist
und alle touristischen Angebote wie Hotels und Gast-
stätten ihre Dienstleistungen ohne Einschränkungen an-
bieten können. Allen Deutschlandurlaubern rufe ich zu:
Lassen Sie sich von der Medienberichterstattung nicht
verschrecken! Auch jetzt bietet der Bodensee Ihnen alle
Möglichkeiten für einen erholsamen Urlaub.
Um die entstandenen Schäden und Umsatzausfälle zu
minimieren, die betroffenen Betriebe zu erhalten und die
gefährdeten Arbeitsplätze zu sichern, ist jetzt schnelle,
direkte und unbürokratische Unterstützung notwendig.
Die vorliegende Beschlußempfehlung des Innenaus-
schusses, die auf einem Änderungsantrag der rotgrünen
Regierungskoalition beruht, setzt auf Hilfe zur Selbsthil-
fe, zinsgünstige Kredite der KfW und Appelle zum Tei-
lerlaß von Altkrediten an die Banken. Sie bleibt damit
weit hinter den Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion
zurück.
Herr Kollege,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Hans Georg Wagner?
– Das muß der Kollege schon selbst beantworten.
Nein, ich möchte mei-ne Rede zu Ende führen.Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierungs-koalition, in der Beschlußempfehlung gehen Sie davonaus, daß die Bundesregierung Hilfe leisten wird, appel-lieren an die Banken und fordern die Bundesregierungauf, Verabredungen mit der EU zu treffen. Was die Ho-tel- und Gaststättenbesitzer, die Landwirte und Gärtne-reibetriebe der Region brauchen, ist eine zuverlässigeSoforthilfe, die ihnen eine langfristige Perspektive fürden Fortbestand ihrer Unternehmen bietet, aber keineweiteren Prüfungen und Appelle.Unterstützen Sie deshalb unseren Änderungsantragauf Drucksache 14/1244, in dem wir eine vergleichbareLösung wie beim Oderhochwasser einfordern! SetzenSie ein Zeichen nationaler Solidarität! Entkräften Siedamit den durch die Aussagen des RegierungssprechersKarsten Heye aufgekommenen Verdacht, die Bundesre-gierung würde Solidarität nach parteipolitischen Ge-sichtspunkten ausüben! Sichern Sie Arbeitsplätze in den
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 4053
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hochwassergeschädigten Regionen im Freistaat Bayernund im Land Baden-Württemberg! Geben Sie den Be-troffenen in den Regionen ein Zeichen der Hoffnung!Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Schmidt das Wort.
Liebe Kollegen, auch wenn Sie Ihre eigenen Redner
feiern, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen: Das
Recht zu reden ist parlamentarisches Grundrecht.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei allem Verständnis für die abendliche
Stimmung möchte ich doch versuchen, noch einen
ernsthaften Gedanken hier hineinzubringen.
Ich möchte mich in meiner Kurzintervention auf die
Redner aus beiden Abteilungen dieses Hauses beziehen.
Anders als zu Beginn der letzten Debatte – also der er-
sten Lesung hier im Hause –, ist teilweise ein Ton ange-
schlagen worden, der, so meine ich, dem Anliegen, um
das es uns allen geht, nicht gerecht wird.
Wir haben doch alle miteinander zum Ausdruck ge-
bracht, daß es unser gemeinsames Anliegen ist, nicht nur
das zu tun, was auf Grund gesetzlicher Vorgaben sowie-
so geschehen muß – sprich: Steuerstundungen und Steu-
ervergünstigungen im üblichen Rahmen –, sondern daß
wir alle bemüht sind, den Betroffenen darüber hinaus
möglichst konkrete Hilfe zukommen zu lassen. Diese
Hilfe soll sich nicht nur an Private richten, sondern auch
an Geschäftsleute, an Betriebe und vor allem an die
Landwirtschaft.
Lassen Sie mich einen Gedanken dick unterstreichen,
der vorhin, so meine ich, etwas untergegangen ist. Die-
ser Gedanke ist vor allem für das Allgäu wichtig, Herr
Kollege Dr. Müller. Wir müssen allen Ernstes versu-
chen, daß die Landwirte stillgelegte Flächen, die ihnen
zur Abernte bereitgestellt wurden, gegen andere Flä-
chen, die sie gerne abernten würden, die aber über-
schwemmt sind, tauschen können, ohne daß ihnen da-
durch die Stillegungsprämie gestrichen wird. Diese
Tauschmöglichkeit müssen wir unbedingt eröffnen.
Das ist für die Bauern von entscheidender Bedeutung.
Lassen Sie mich deshalb zum Schluß appellieren –
die Mitglieder des Haushaltsausschusses haben uns doch
vorgemacht, wie es geht –: Die Kolleginnen und Kolle-
gen im Haushaltsausschuß aus den Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. haben festgestellt, daß ihr
Anliegen in der Beschlußempfehlung des federführen-
den Ausschusses gut aufgehoben ist, und haben sich
dem Mehrheitsantrag angeschlossen. Darin, so meine
ich, sind alle wesentlichen Anliegen enthalten. Lassen
Sie es uns gemeinsam nun genauso handhaben, lassen
Sie uns mit einer Stimme sprechen, um deutlich zu ma-
chen, daß es uns allen um dasselbe geht!
Ich danke Ihnen.
WeitereWortmeldungen liegen nicht vor.Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Innenausschusses zu den Anträ-gen der Fraktionen der CDU/CSU sowie der F.D.P. zuHilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläßlich derHochwasserkatastrophe in Süddeutschland. Das ist dieDrucksache 14/1244 , Buchstabe a. Der Ausschußempfiehlt, die Anträge auf die Drucksachen 14/1144 und14/1152 in der Ausschußfassung anzunehmen.Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktionen derCDU/CSU und der F.D.P. vor, über die wir zunächst ab-stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag derCDU/CSU auf Drucksache 14/1265? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDSabgelehnt.
– Wir sind uns alle hier oben im Präsidium einig, daßdas das korrekte Ergebnis war.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P. aufDrucksache 14/1264? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Wir müssen uns eben beraten. – Darf ichdiejenigen, die dafür sind, noch einmal um das Handzei-chen bitten? – Gegenstimmen? – Zwei hier oben habengesagt, daß das die Mehrheit sei; einer meinte etwas an-deres. Bei diesem Stand müssen wir einen Hammel-sprung machen. –
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ände-rungsantrag der Fraktion der F.D.P. Ich bitte Sie, denSaal zu verlassen. – Liebe Kolleginnen und Kollegen,meine Aufforderung war, den Saal zu verlassen, weilwir vorher nicht mit der Abstimmung beginnen können.– Die Nacht ist noch lang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, draußen spielt dieMusik. – Ich bitte jetzt endgültig, den Saal zu verlassen,damit wir die Türen schließen können. Sind dennSchriftführerinnen und Schriftführer an den Türen?Kann ich einmal ein entsprechendes Zeichen haben? –Klaus Brähmig
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4054 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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Ich bitte, die Türen zu schließen. Ich brauche jetzt abereine Nachricht, ob die Schriftführerinnen und Schrift-führer da sind.Kann sich der Kollege Reuter einmal bei mir melden,damit ich weiß, ob er seine Schriftführer zusammen hat?– Herr Kollege Reuter, können wir mit der Abstimmunganfangen? – Ich eröffne die Abstimmung. –Darf ich eine Nachricht bekommen, ob alle Abgeord-neten die Türen passiert haben? – Dann bitte ich, die Tü-ren zu schließen. Die Abstimmung ist geschlossen. Ichbitte, mir das Ergebnis mitzuteilen.Ich gebe Ihnen das Ergebnis des Hammelsprungs be-kannt, mit dem gleichzeitig festgestellt worden ist, obwir beschlußfähig sind: Mit Ja haben gestimmt 167, mitNein haben gestimmt 203.
Es gab keine Enthaltungen. Die Beschlußfähigkeit wur-de auch erreicht. Der Antrag ist damit abgelehnt wor-den.
Ich darf mit den Abstimmungen fortfahren. Werstimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ange-nommen worden.
– Herr Repnik, wollten Sie zustimmen oder dagegenstimmen?
– Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und einigen Stimmen derCDU/CSU, unter anderem des Kollegen Repnik, beiAblehnung durch F.D.P., CDU/CSU im übrigen undPDS angenommen worden.Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache14/1244 , Buchstabe b, weiterhin, die Anträge aufden Drucksachen 14/1144 und 14/1152 in der ursprüng-lichen Fassung abzulehnen. Da diese Anträge soeben inder Ausschußfassung angenommen wurden, erübrigtsich eine Abstimmung darüber.Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolf-gang Börnsen , Eduard Lintner, DirkFischer , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUNationale Verkehrssicherheitskampagne –Sonderprogramm für junge Autofahrerinnenund Autofahrer zur Verhinderung von alko-hol- und drogenbedingten Verkehrsunfällen– Drucksache 14/659 –
den? – Das ist der Fall.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/659 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undF.D.P.Beilegung des Westsaharakonflikts– Drucksache 14/1151 –Auch hier haben die Kollegen gebeten, die Reden zuProtokoll geben zu dürfen. Dies sind die KollegenBrecht, Schockenhoff, Irmer, Hübner sowie Staatsmi-nister Volmer.**) Sind Sie einverstanden, daß wir soverfahren? – Das ist der Fall. Dann kann ich die Aus-sprache über diesen Tagesordnungspunkt beenden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den gemein-samen Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU,Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. zur Beilegung desWestsaharakonfliktes auf Drucksache 14/1151. Werstimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – DerAntrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionensowie der CDU/CSU und der F.D.P. und einigen Stim-men der PDS angenommen worden. Einige Kolleginnenund Kollegen haben, soweit ich es gesehen habe, nichtmitgestimmt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion derPDSVorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollenTeilhabe von Menschen mit Behinderungen oder *) Anlage 5**) Anlage 6Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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chronischen Krankheiten am Leben der Gemein-schaft, zur deren Gleichstellung und zum Aus-
– Drucksache 14/827 –
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Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Silvia Schmidt.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der Antrag der PDS zum Teilhabesicherungsgesetz gibt
uns – wenn auch zu später Stunde – einen Anlaß, zu
aktuellen Fragen der Behindertenpolitik Stellung zu
nehmen. Ich möchte im Vorfeld den Behindertenbeauf-
tragten entschuldigen. Er hatte einen dringenden Ter-
min, war aber vorhin noch einmal hier.
Ob sich allerdings die aktuellen Fragen dieses wichti-
gen Sozialfeldes im Antrag der PDS wiederfinden, wage
ich zu bezweifeln. Wir werden in den Ausschüssen noch
darüber zu diskutieren haben. Deshalb möchte ich hier
meine Kritik nicht in aller Breite darlegen, sondern nur
auf das Wesentliche eingehen.
Sie stellen Forderungen auf, die teilweise schon seit
langem überholt sind. Sie kennen ja Art. 3 des Grundge-
setzes und § 10 Sozialgesetzbuch I. Das Anhörungsrecht
zum Beispiel ist für die Behindertenverbände auf Bun-
desebene eine Selbstverständlichkeit. Teilweise wird ei-
ne unzeitgemäße und unfinanzierbare Vollversorgung
gefordert. Ich nenne nur die Forderungen nach dem um-
fassenden Teilhabesicherungsgeld, im Umfang orientiert
an einer optimalen Eingliederung und Teilhabe sowie an
einer zusätzlichen „Persönlichen Assistenz“ als Regel-
form des Nachteilsausgleichs. Teilweise haben Sie
schlichtweg die Inhalte unserer Koalitionsvereinbarung
abgeschrieben. Darüber will ich mich absolut nicht be-
schweren. Denn wo Sie recht haben, haben Sie recht.
Für uns Sozialdemokraten sind behinderte Menschen
grundsätzlich mündig, selbständig und eigenverantwort-
lich. Das ist für uns oberster Maßstab, und von diesem
Bild lassen wir uns leiten.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage von Dr. Seifert?
Herr Dr. Seifert,ich habe noch gar nicht richtig angefangen. Sie könnennachher gerne Zwischenfragen stellen.Die Eckpunkte des PDS-Antrages sind am 14. Juni1999 in der Verbändeanhörung zum Diskussionspapierfür das SGB IX vorgetragen worden. Eine Übernahmehaben sie nicht erfahren. Vielmehr sind die Grundposi-tionen der maßgeblichen Behindertenverbände zu aktu-ellen Fragen der Fortentwicklung der Rehabilitation inder Grundsatzerklärung festgehalten, die auf diese An-hörung hin verteilt wurde.Auch wenn vieles im einzelnen noch weiter ausdis-kutiert werden muß, sehe ich eine weitgehende Überein-stimmung der Positionen der großen Behindertenver-bände und der Bundesregierung. Über diese grundsätzli-che Übereinstimmung freue ich mich natürlich. Hier se-he ich die Geschäftsgrundlage für eine neue Ausarbei-tung zum SGB IX und zum Gleichstellungsgesetz. Inso-fern, meine Damen und Herren von der PDS-Fraktion,kommen Sie mit Ihrem Antrag zu spät. Und was mit de-nen passiert, die zu spät kommen, das wissen Sie. Dashaben wir ja im November 1989 erlebt.
Die Verbesserung der Lebenssituation der Behin-derten in der Bundesrepublik Deutschland verlangtviel von uns. Vielfältig sind die Versäumnisse in derVergangenheit, groß die Probleme – und hoch ist dieErwartung der Betroffenen. In intensiver Zusammenar-beit mit den Behindertenverbänden und den Selbsthilfe-gruppen arbeiten wir an einer Verbesserung der Lebens-umstände behinderter Menschen.In unserer Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober1998 haben wir für die Behindertenpolitik vier Schwer-punkte festgelegt:Erstens. Wir werden das Recht auf Rehabilitation ineinem neunten Buch der Sozialgesetzgebung zusammen-fassen. Damit gestalten wir diese wichtigen Bereiche derBehindertenpolitik effektiver, effizienter und transpa-renter. Rehabilitationsleistungen müssen schneller ein-setzen. Sie müssen endlich besser aufeinander abge-stimmt werden und möglichst nahtlos ineinandergreifen.Die Umsetzung dieses Gesetzesvorhabens ist eine Chan-ce, bestehende Defizite in der Rehabilitation – die es si-cher gibt – abzubauen und zugleich durch den Abbauvon Wartezeiten sinnvoll Geld einzusparen, das man inanderen Behindertenbereichen einsetzen kann.Wir sollten die Chance nutzen, Verbesserungen beider Zusammenarbeit der Träger umzusetzen und für eineAngleichung der einzelnen Leistungen zu sorgen. Vorallem aber wollen wir es behinderten Menschen leichtermachen, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen; Stichwort:Verbandsklagerecht. Die Behinderten sind die Betroffe-nen und die Experten in eigener Sache. Sie sollen ent-scheiden können, ob sie Hilfeleistungen bei der Lebens-gestaltung in Anspruch nehmen möchten und wenn ja, inwelcher Form.
Trotz der angespannten Haushaltslage werden wirnicht den Fehler der früheren Bundesregierung machen:Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ha-ben die Fortentwicklung der Rehabilitation in den 90erJahren vermeintlichen Sparzwängen geopfert. Wären SieDr. Ilja Seifert
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an der Regierung geblieben, dann hätten Sie die Er-werbsunfähigkeitsrente gekürzt, und der Zugang zu ihrwäre verschlechtert worden.Zweitens. Wir werden dem Haus den Entwurf einesGleichstellungsgesetzes vorlegen. Immer noch sind be-hinderte Menschen in vielen Lebensbereichen erhebli-chen Benachteiligungen ausgesetzt und werden in viel-facher Hinsicht diskriminiert. Das steht zwar jeden Tagin der Zeitung. Viel schlimmer aber ist es, wenn man estagtäglich erleben muß.Es ist also höchste Zeit, das Benachteiligungsverbotdes Grundgesetzes eindeutig zu interpretieren und es mitLeben zu füllen. Auf jeden Fall werden wir unsere be-hinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen mit wirksa-men, einklagbaren Rechten ausstatten. Konkrete Ge-spräche zu diesem Vorhaben fanden bereits zwischendem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung undder Justizministerin statt.
Frau Kollegin,
würden Sie jetzt eine Zwischenfrage gestatten?
Ja.
Frau Kollegin Schmidt, inzwi-
schen hätte ich natürlich schon zwei Zwischenfragen,
aber gut.
Wenn Sie schon behaupten, wir hätten viel aus Ihrer
Koalitionsvereinbarung abgeschrieben, dann müssen Sie
zumindest zugeben, daß etwas mehr hinter unserem An-
trag steckt als nur die drei Sätze in der Koalitionsverein-
barung. Ist Ihnen denn entgangen, daß in unserem An-
trag auf Vorlage eines Gesetzes zur Teilhabesicherung
eben nicht von Rehabilitation die Rede ist, sondern von
einem Leistungsgesetz? Die Behindertenverbände ver-
langen nämlich ein Leistungsgesetz, da sich die Rehabi-
litation ausschließlich an der beruflichen Wiedereinglie-
derung orientiert. Vorrangig müßte es aber um die so-
ziale Rehabilitation gehen. Darüber haben Sie allerdings
noch kein Wort gesagt.
Herr Dr. Seifert,
ich glaube, da mißverstehen Sie mich. Warten Sie doch
ab, was ich noch sage. Im übrigen steht Rehabilitation
auch schwerst- und mehrfachbehinderten Menschen zur
Verfügung. In einem Sozialgesetzbuch IX wollen wir
alle diese Punkte zusammenfassen, also in einem einzi-
gen Leistungsgesetz.
Drittens. Wir werden innovative Ansätze zur Be-
schäftigung von Schwerbehinderten ausarbeiten. Dies
ist dringend erforderlich; denn die Arbeitslosigkeit unter
den behinderten Menschen erhöht sich seit Jahren. Da
sind wir mit Sicherheit einer Meinung. Ich möchte nur
darauf hinweisen, daß die Arbeitslosigkeitsquote in den
letzten vier Jahren von 14,6 Prozent auf 17,9 Prozent
angestiegen ist. Es genügt nicht, die Beschäftigungs-
quote oder auch die Ausgleichsabgabe der Arbeitgeber
zu erhöhen. Wir müssen neue Wege finden, aus dieser
fatalen Entwicklung herauszukommen.
Wir setzen auf die Vermittlung von Behinderten in
den ersten Arbeitsmarkt. So unterstützen wir nicht nur
die Konzepte der Integrationsfachdienste, sondern för-
dern auch den allgemeinen Integrationsgedanken. Inte-
grationsfirmen beweisen sehr deutlich, daß auch stark
beeinträchtigte Schwerbehinderte, auch geistig Behin-
derte, im ersten Arbeitsmarkt tätig sein können.
Der Schwerbehindertenanteil in diesen Firmen erreicht
bereits 80 Prozent. Die Behinderten arbeiten in markt-
und wettbewerbsorientierten Firmen und sind nachweis-
lich in der Lage, sich auf dem ersten Arbeitsmarkt zu
behaupten.
– Wenn Sie der Meinung sind.
Viertens. Wir werden die Anerkennung der deut-
schen Gebärdensprache in die Wege leiten, wohl
wissend, daß sie nur ein erster Schritt sein kann, aber ein
Schritt in die richtige Richtung.
In Zusammenarbeit mit den Ländern werden wir
weitere Ansätze diskutieren und beraten. Dazu gehören
die Früherkennung und Frühförderung, Gebärden-
sprachkurse für Eltern, Betreuer und Erzieher, die Siche-
rung des Rechts auf Information und Unterhaltung und
die Anerkennung des Berufes des Gebärdendolmet-
schers. Der Behindertenbeauftragte wird in den kom-
menden Monaten mit den Arbeits- und Sozialministern
der Länder zusammentreffen und über Zielvereinbarun-
gen beraten.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Regierungsko-
alition geht in der Frage der Behindertenpolitik neue und
richtige Wege. Das Teilhabesicherungsgesetz und das
dafür bestimmte Geld beschreibe ich ganz einfach mit
„Wir bauen wieder einen goldenen Käfig“.
– Für mich ist es so. Bitte akzeptieren Sie auch meine
Meinung.
Das freut mich besonders für die betroffenen Mitbür-
gerinnen und Mitbürger in unserem Land. Die bisheri-
gen Reaktionen der einzelnen Behindertenverbände be-
stätigen mich in meiner Überzeugung, daß unsere Ziel-
setzungen die richtigen sind.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Claudia Nolte.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen um-Silvia Schmidt
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fassenderen Forderungskatalog für ein Gesetz zur Teil-habesicherung von Menschen mit Behinderung undchronisch Kranken kann man sich wohl kaum vorstellen:Von der Gleichstellung, der Neuregelung der Eingliede-rungshilfe über den Nachteilsausgleich bis hin zum Ver-bandsklagerecht und zur Förderung der Selbsthilfe istalles vertreten. Es fehlt eigentlich nur noch die Kodifi-zierung des Rehabilitations- und Schwerbehinderten-rechts in einem SGB IX, was man problemlos in dasArtikelgesetz einbauen könnte.Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich beim Lesendes Antrages an meine frühen Stunden des Staatsbürger-kundeunterrichts in der ehemaligen DDR erinnert ge-fühlt habe. Ich kann mich noch recht gut daran erinnern,wie man vor uns die Vision der kommunistischen Ge-sellschaft entfaltete, in der man kein Geld braucht, weilalle Waren frei verfügbar sind und sich jeder nehmenkann, was er braucht, wobei man selbstverständlich da-von ausgegangen ist, daß man sich nur das nimmt, wasman auch wirklich braucht.
Eine faszinierende Vision, für mich als zwölfjährigesMädchen sehr beeindruckend, allerdings weit entrückt indas Reich der Märchen, weil die Ahnung, daß das mehrals unrealistisch ist, untrüglich war.Ähnlich ist es auch hier: Die Forderungen lassen einBild der Verheißungen entstehen, denen man gar nichtwidersprechen mag, weil sie alle so schön und gut sind.Das Strickmuster der PDS ist dabei immer das gleiche:Sämtliche Erwartungen und Wünsche, die derzeit aufdem Markt sind, werden zusammengeschrieben und ineinem Antrag präsentiert. So sieht sie sich denn auch alsRächer und Vertreter aller benachteiligten Gruppen.Zwangsläufig sind in einem solchen Antrag Dingeenthalten, die ihre Berechtigung haben. Seit dem Jahr1994 gilt der Zusatz im Grundgesetz: „Niemand darfwegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Es ist klar, daß dies mit Leben erfüllt werden muß; dennTatsache ist: Es gibt noch immer in vielen BereichenHandlungsbedarf, auch auf gesetzgeberischer Ebene.So ist es ein großer Nachteil, daß Leistungsansprücheauf viele Einzelgesetze verteilt sind. Damit fehlt es anÜbersichtlichkeit und Einheitlichkeit im Schwerbehin-derten- und Rehabilitationsrecht. Hier zu einer Kodifi-zierung im Rahmen eines SGB IX zu kommen haltenwir für vorrangig.Es ist deshalb bedauerlich, daß die Bundesregierungdem Deutschen Bundestag bis heute noch keine kon-kreten Überlegungen vorgestellt hat. Im übrigen darfman sich nicht täuschen – da spreche ich, was ich mitBedauern sage, aus Erfahrung –: Es ist eine komplizierteMaterie, und man wird einen langen Weg zurücklegenmüssen, um zu einem Kompromiß zu kommen. Deshalbsollte sehr früh damit angefangen werden, wobei ich er-warte, daß die Opposition von Beginn an mit in die Be-ratung einbezogen wird; denn Sie dürften seitens derRegierungskoalition ein Interesse an unserer Zustim-mung haben.Auch im Leistungsrecht bestehen Defizite. Es ist inTeilen unzumutbar, wie stark Familien mit behindertenAngehörigen finanziell belastet werden. Verschärft wirddie Situation durch die nachvollziehbaren Sparbemü-hungen der Sozialhilfeträger, die die Leistungen derEingliederungshilfe gern einschränken würden. Vieler-orts werden Behinderteneinrichtungen dazu gedrängt,sich nach Leistungen der Pflegeversicherung umzu-schauen, um damit aus der Eingliederungshilfe desBSHG herauszufallen – mit der fatalen Folge, daß diesoziale Integration nicht stattfindet.
Dies hat seine Ursachen vor allem in der Ansiedlungder Eingliederungshilfe im BSHG und der daraus nor-malerweise folgenden Nachrangigkeit. Das bedeutetnämlich nicht nur den Rückgriff auf Einkommen undVermögen des Betroffenen bzw. seiner Angehörigen,sondern das führt auch zu der inkompatiblen Konstruk-tion, daß die Eingliederungshilfe zwar eine Vorrang-stellung gegenüber anderen Hilfeformen und Leistungs-trägern wie der Pflegeversicherung eingeräumt be-kommt, durch die Verortung im BSHG aber dieNachrangigkeit anderen Gesetzen gegenüber eigentlichlogisch konsequent wäre. Deshalb halten wir es für not-wendig, Wege zu finden, die Eingliederungshilfe ausdem BSHG herauszulösen, wobei eine Verortung im neuzu schaffenden SGB IX nach unserer Auffassung nahe-liegt.Nun kann man zweifelsohne die Wünsche und Forde-rungen nach Ausweitung des Leistungsrechts ins schierUnendliche treiben. Ein Stück weit übt sich der Antragder PDS darin. So ist zum einen die Forderung nach be-darfsdeckender Grundsicherung und zum anderen dieForderung nach einer umfassenden Nachteilsausgleichs-regelung im Antrag enthalten. Ich finde es sehr proble-matisch, Bewertungs- und Ermittlungskriterien zu fin-den, um einen behinderungsbedingten Mehrbedarf pau-schaliert abdecken zu können. Denn es gibt so vieleFormen der Behinderung und chronischen Krankheiten,daß eine Kategorisierung oder Pauschalierung in meinenAugen eigentlich nicht denkbar ist. Außerdem gibt derGrad einer Behinderung auch nicht automatisch Aus-kunft über den Grad des Hilfebedarfs. Das heißt, es wirdimmer eine individuelle Feststellung des Hilfebedarfsnotwendig sein.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sei-
fert?
Herr Seifert, wir werdenim Ausschuß lange diskutieren, aber nicht um dieseUhrzeit im Plenum.Wir alle, die wir uns damit befassen, wissen, welchkomplexe Bereiche geregelt werden sollen. Es geht umClaudia Nolte
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die Rechte und Ansprüche von Menschen, die es aufGrund ihrer Behinderung noch immer schwer haben, ihrLeben, soweit es möglich ist, tatsächlich selbstbestimmtund gleichberechtigt zu führen. Dabei dürfen wir nichtvergessen, daß es „den“ Behinderten nicht gibt; es gehtimmer um Einzelschicksale. Gerade die Vielzahl derBehinderungen und chronischen Krankheiten macht esunmöglich, allen Interessen mit Pauschalen gleicherma-ßen gerecht zu werden. Deshalb erwarte ich hier baldsehr konkrete Vorschläge seitens der Bundesregierungbzw. der Regierungskoalition.Ein weiterer großer Punkt in dem Antrag ist dasThema Gleichstellung. Dieser ist in der Tat spannend.Es ist diskriminierend und ausgrenzend, wenn ein Roll-stuhlfahrer nicht in ein Gebäude kommen kann, weil ei-ne Rampe fehlt, wenn Schwerhörige und Gehörlose vonjeglicher Kommunikation mit anderen Menschen ausge-schlossen sind, weil sie unsere Sprache nicht verstehen,wenn Blinde zu Hause bleiben, weil es an Leitsystemenfehlt. Es ist also dringend erforderlich, eine Struktur zuschaffen, die Behinderten die Teilhabe an der Gesell-schaft ermöglicht.Das gilt in besonderer Weise, aber nicht ausschließ-lich, für die Bauvorschriften in den Landesbauordnun-gen, in denen Barrierefreiheit konsequent durchgesetztwerden muß. Die Frage, inwieweit wir uns insgesamtbei der Durchsetzung der Teilhabeinteressen beispiels-weise am amerikanischen Vorbild orientieren können,das sich auf die konsequente Umsetzung der Idee derBürgerrechte gründet und so dem Behinderten ein ein-klagbares Zugangsrecht ermöglicht, halte ich für sehrprüfenswert. Auch wenn das amerikanische Rechtssy-stem sich nicht so einfach auf unseres übertragen läßt,finde ich den Ansatz sehr interessant. Zumindest mußdie Beteiligung Behinderter an Entscheidungsprozessen,zum Beispiel an Planfeststellungsverfahren, besser ver-ankert werden. Da reichen die Anhörungen auf Bundes-ebene nicht aus. Gerade im kommunalen Bereich sind inder Umsetzung große Defizite vorhanden.
– Wenn Sie sich die Details anschauen, stellen Sie fest,daß es hier noch große Defizite gibt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte nicht vielvon solchen Wunsch- und Forderungskatalogen, wie diePDS sie vorgelegt hat. Zielführender, natürlich auch an-strengender, ist es, konkrete Einzelschritte vorzuschla-gen und umzusetzen.Die Bundesregierung hat sich laut Koalitionsvertragviel vorgenommen – es ist hier noch einmal ausdrück-lich darauf verwiesen worden –, angefangen bei derSchaffung eines SGB-IX-Leistungsgesetzes mit derNeuregelung der Eingliederungshilfe bis hin zu einemGleichstellungsgesetz. Nun lassen die bisherigen Erfah-rungen mit dem Umgang des Koalitionsvertrags und derUmsetzung von gegebenen Wahlversprechen nichtsGutes vermuten – man muß auch hier befürchten, daßam Ende Enttäuschungen zurückbleiben –, aber wirwerden Sie nicht aus der Pflicht entlassen, endlich kon-struktive Vorschläge vorzulegen, die über allgemeineAussagen hinausgehen.Ich bleibe bei meiner Zusage, daß wir Sie konstruktivbegleiten werden und Sie dort, wo die Situation Behin-derter sichtlich verbessert werden kann, unterstützen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat:Die Koalition hat sich einiges vorgenommen, und wirwerden das nacheinander abarbeiten. Wir wollen dasBenachteiligungsverbot endlich mit Leben füllen undim einfachen Gesetz wirksam werden lassen. Da unter-scheiden wir uns grundsätzlich von der alten Mehrheit,die es jahrelang abgelehnt hat sowohl im Privatrecht wieim Bau- und Verkehrsrecht als auch im SGB IX, dienotwendigen Schritte zu gehen.Diese Debatte war es aber schon fast wert, weil dieKollegin Nolte nun für die CDU erklärt hat, sie fändedie Überlegungen in der amerikanischen Antidiskrimi-nierungsgesetzgebung grundsätzlich interessant. Das istschön. Schöner wäre es gewesen, Sie hätten sie schoninteressant gefunden, als Sie noch den Gestaltungsauf-trag vom Wähler hatten.
Frau Nolte, ich muß sagen, Sie haben den Mund beimSGB IX etwas voll genommen. Ich kann mich noch gutan zwei Große Anfragen der beiden heutigen Mehrheits-fraktionen erinnern. 1995 gab es eine von den Grünen.Die Antwort der Bundesregierung lautete: Noch in die-sem Jahr wird das SGB IX kommen. Im Jahr 1996 lau-tete die Antwort auf die Große Anfrage der SPD: DasSGB IX kommt noch in diesem Jahr. Wir warten immernoch darauf. Es ist in der Tat eine schwierige Materie.
– Wir haben Ihnen noch nicht gesagt, es kommt in die-sem Jahr. Wir haben gesagt: Wir haben mit der Arbeitbegonnen und legen es vor, wenn wir fertig sind. Wirmachen keine leeren Versprechungen.
Wir wollen uns aber nicht nur mit der CDU ausein-andersetzen, sondern auch mit dem vorliegenden Antragder PDS. Ich denke, der Antrag enthält viele wichtigeund gute Anregungen, aber er verspricht in der Tat auchalles und jedes und wird damit ein wenig beliebig. Wennman in der Politik etwas erreichen will, muß man Prio-ritäten setzen und klar definieren, welches der nächsteSchritt sein soll und wie er finanzierbar ist. Da weisenSie nicht den Weg. Sie versprechen alles, werden aberdeshalb in der politischen Auseinandersetzung mit IhrenVorschlägen wenig Wirkung erzielen, zum Teil zuRecht, weil diese Vorschläge unfinanzierbar sind. Ichhalte – by the way – 10 Milliarden DM im Jahr nicht füreine Kleinigkeit. Ich wünschte mir, ich hätte sie undClaudia Nolte
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4060 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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könnte sie freigebig für Behindertenpolitik ausgeben.Ich sehe darin in der Tat eine politische Priorität.Gleichwohl muß man es finanzieren können bzw. sagen,woher man das Geld nehmen will. Diese Antwort zu-mindest sind Sie schuldig geblieben. Damit sind auchalle Ihre schönen finanziellen Versprechungen gegen-standslos.Aber auch in anderen Bereichen sind Ihre Vorschlägenicht präzise formuliert und durchdacht. In bezug auf dieBarrierefreiheit, die ein ganz wichtiges Anliegen ist,sprechen Sie davon, daß Sie in das Gesetz schreibenwollen: „Gebäude und Einrichtungen müssen barrierefreisein.“ So können wir nicht vorgehen. Wir können vor-schreiben, daß alle neu gebauten Gebäude, alle neu zu-gelassenen Verkehrsträger und alle neu zugelassenenKommunikationsmittel behindertengerecht sein müssen.Aber mit der Behauptung, wir könnten von einem Tagauf den anderen die ganze Welt, die leider nicht behin-dertengerecht ist, auf Vordermann bringen, überhebtsich jeder Gesetzgeber. Damit schaden Sie dem Anlie-gen, weil Sie Ängste und Widerstände produzieren.Auch wir wollen, daß die Welt mehr als bisher behin-dertengerecht wird, weil die Teilhabe nur gesichert wird,wenn behindertes Leben zur Norm menschlichen Lebensgehört. Diesen Gedanken muß sich auch der Gesetzge-ber zur Richtschnur nehmen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sei-
fert?
Lassen Sie es uns im Ausschuß besprechen, es ist schon
spät.
Wir treffen uns so oft auf behindertenpolitischen Kon-
gressen, um über diese Fragen zu diskutieren. Neue Ar-
gumente würden wir jetzt sicher nicht austauschen.
Meine Damen und Herren, wir müssen präziser und
realistischer an die vor uns liegenden Aufgaben heran-
gehen. Dann können wir auch erhebliche Verbesserun-
gen erreichen. Es sollte uns schon zu denken geben, daß
wir unsere ICE-Technologie in den letzten Jahren nicht
in die USA verkaufen konnten, weil sie der amerikani-
schen Norm für behindertengerechte Verkehrsmittel
nicht entsprach. Daran zeigt sich, daß wir hier auf dem
Stand eines Entwicklungslandes sind und aufschließen
müssen. Diese Koalition wird den Weg beschreiten. Wir
werden dies auch bei dem wichtigen Thema der Kom-
munikation tun und endlich die deutsche Gebärden-
sprache gesetzlich anerkennen, und zwar nicht nur als
Teil der deutschen Sprache, wie die PDS es fordert, son-
dern als eigenständige Sprache und eigenständiges
Kommunikationsmittel.
Wir werden zeigen, daß uns dieses gelingt.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Kolb.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Ich habe zwar nur einesehr knappe Redezeit, aber ich möchte trotzdem einenTeil dieser Zeit darauf verwenden, Sie über Erfahrungenzu informieren, die ich am letzten Samstag in Darmstadtals Teilnehmer an einer von den Veranstaltern als „Rolli-Demo“ bezeichneten Demonstration von Rollstuhlfah-rern, die für die Durchsetzung des grundgesetzlich ver-brieften Anspruchs des Art. 3 Abs. 3 demonstrierten, ge-sammelt habe. Ich wurde gefragt, ob ich nicht Lust hätte,an dieser Demonstration im Rollstuhl teilzunehmen. Ichhabe spontan gesagt: Ja, ich mache das.Die Stadt Darmstadt, die ich eigentlich gut kenne, ha-be ich in dieser Stunde auf dem zweieinhalb Kilometerlangen Demonstrationsweg aus einer ganz neuen Per-spektive wahrgenommen. Ich hätte nicht gedacht, daßman so hilflos vor einem schon abgesenkten, aber immernoch 10 cm hohen Bordstein stehen kann, daß eineschräg geneigte Fläche oder ein grob gepflasterter Platzeine derartige Kraftanstrengung erfordert – selbst wennman nach einer Stunde wieder aus dem Rollstuhl aufste-hen kann. Ich kann nur jedem raten, dieses auszuprobie-ren. Dann wird es einem sehr viel deutlicher, was mitder Durchsetzung von Teilhabe gemeint ist.Mich hat nachdenklich gestimmt, daß viele der anwe-senden Betroffenen davon berichtet haben, daß in denletzten Jahren, seit wir 1994 Art. 3 Abs. 3 des Grundge-setzes ergänzt haben, die Dinge nicht besser gewordensind, sondern der Nachholbedarf aus ihrer Sicht ehergrößer wurde.Es gibt in diesem Haus schon einen gewissenGrundkonsens. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, daßes darum gehen muß, Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzesmit Leben zu füllen. Über den Weg dahin kann manstreiten, Herr Seifert. Ich frage mich aber, auch nach denGesprächen, die ich am Samstag geführt habe, ob dasTeilhabesicherungsgesetz, das Sie von der Bundesregie-rung vorgelegt haben wollen, von den Menschen, die aufGrund körperlicher oder geistiger Behinderung im tägli-chen Leben beeinträchtigt sind, wirklich in dieser Aus-prägung gewollt ist. Gleichberechtigung bedeutet doch,daß behinderte und nicht behinderte Menschen die glei-chen Rechte haben. Mein Eindruck ist, daß Ihre Vor-stellungen von einem Teilhabesicherungsgesetz weitdarüber hinausgehen. Ich denke da zum Beispiel an denindividuellen Rechtsanspruch für Menschen mit Behin-derungen nach § 14 Schwerbehindertengesetz.Ich bin auch der Meinung, daß Ihre Vorstellungenvom Baugesetz oder von Fahrzeugen im öffentlichenPersonenverkehr zusätzliche Bürokratie und mehrPrüfvorgänge schaffen. In den Unternehmen kommt eszu einem erhöhten bürokratischen Aufwand bei Ein-stellungsmaßnahmen.Volker Beck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999 4061
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(D)
Wir müssen im Ausschuß auch über die finanziellenAuswirkungen der von Ihnen vorgeschlagenen Maß-nahmen beraten. Ich glaube, daß Ihre Rechnung nichtaufgeht, selbst wenn man die Ausgleichsabgabe in Höhedes soziokulturellen Existenzminimums erheben wird.Für die Unternehmen wollen Sie das übrigens – das mußman hier noch einmal deutlich unterstreichen – steuer-lich nicht absetzbar machen. Das bedeutet eine deutlicheMehrbelastung gegenüber dem Status quo.Ich glaube, daß die Leistungen nicht aus einem Fondsbezahlt werden können, wie Sie sich das vorstellen.Wenn ich allein an die Assistenzen denke, die als Regel-fall vorgesehen sind, scheint mir schon relativ klar, daßder von Ihnen kalkulierte Aufwand von 10 MilliardenDM bei weitem nicht ausreichen wird. Als Konsequenz– das deuteten Sie schon an – wären Zuschüsse aus all-gemeinen Steuermitteln wohl unabweisbar. Das allesmuß sehr genau beleuchtet werden.Ich will hier auch sagen, daß ich in der von Ihnengewollten Einführung eines Verbandsklagerechts eineBevormundung der Betroffenen, der Behinderten sehe.Die Entscheidung, ob eine Benachteiligung vorliegt,wird dann nicht mehr von dem Betroffenen selbst ge-troffen, sondern auf Funktionärsebene. Das ist meinesErachtens so nicht haltbar.Auf weitere Feinheiten Ihres Antrags kann ich ausZeitgründen nicht eingehen, obwohl es lohnend wäre,sie zu beleuchten.Ich will nur noch sagen, daß ich den Ansatz des An-trags, alle Leistungen, die Behinderte betreffen, in eineinziges Gesetz zu überführen, unter dem Gesichtspunktder Gleichbehandlung von Behinderten durchaus fürrichtig halte. Das ist ein Ansatz, den die F.D.P. so unter-stützen könnte. Die Behinderten kämen dann aus demBSHG heraus, in das sie eigentlich gar nicht hineingehö-ren. Das wäre auch für das Selbstverständnis der Behin-derten wichtig.Die Idee, daß der öffentliche Sektor mit gutem Bei-spiel vorangehen muß, findet unsere Zustimmung. Dasbetrifft sowohl die weitere Verbreitung der Gebärden-sprache als auch den Einzug der Technik behindertenge-rechten Bauens in die einschlägigen Studiengänge sowiedie Anregungen bezüglich des Wahlrechts.Aber insgesamt – das unterscheidet uns vielleichtdoch, Herr Seifert – setzen wir weniger auf Zwang undmehr auf Überzeugungsarbeit. Wir wollen Aufklärungund Information, um das Bewußtsein in der Bevölke-rung zu schärfen. Die „Aktion Grundgesetz“, von derich eingangs gesprochen habe, leistet hier meines Er-achtens gute Arbeit.Im Ausschuß gibt es noch einiges zu klären. Wie ge-sagt: Wir sehen hier Licht und Schatten. Der Schattenüberwiegt wohl, deswegen in dieser ersten Lesung eineeher ablehnende Tendenz unsererseits. Aber wir werdendas im Ausschuß noch vertiefen können.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/827 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrike Flach, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Erhöhung der Attraktivität des freiwilligen
Umweltaudits durch Deregulierung
– Drucksache 14/570 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Die Kollegen Caspers-Merk, Müller, Hermann,
Homburger und Bulling-Schröter haben gebeten, ihre
Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit
einverstanden? – Dann machen wir das so.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/570 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Kersten Naumann, Dr. Gregor
Gysi und der Fraktion der PDS
Vererblichkeit von Bodenreformeigentum
– Drucksache 14/1063 –
standen? – Dann machen wir das so.
Das Wort hat jetzt als einzige Rednerin die Abgeord-
nete Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die heutige „FrankfurterAllgemeine Zeitung“ findet es kurios, daß ausgerechnet**) Anlage 7**) Anlage 8Dr. Heinrich L. Kolb
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4062 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1999
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wir „gegen eine entschädigungslose Enteignung durchden Staat auftreten und hierbei auf dieVerfassung pochen“. Aber wer, wenn nicht wir, solltedie Bodenreform verteidigen? Lassen Sie mich zu unse-rem Antrag „Vererblichkeit von Bodenreformeigentum“folgendes sagen:Mit dem Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzwurde 1992 in das Einführungsgesetz zum BürgerlichenGesetzbuch ein Abschnitt „Abwicklung von Bodenre-formeigentum“, Art. 233, §§ 11 bis 16, eingefügt. Mitdiesen Regelungen wollte der Gesetzgeber die Rechts-lage vor 1990 nachzeichnen. Man ging davon aus, daßin der DDR im Grunde kein Erbrecht an Bodenreform-eigentum bestand. Die Zuordnung von Bodenreform-eigentum an Erben wurde von der Zuteilungsfähigkeitabhängig gemacht. Zuteilungsfähig ist nach § 12 Abs. 3nur, „wer bei Ablauf des 15. März 1990 in dem in Arti-kel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet in derLand-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft insgesamtmindestens zehn Jahre lang tätig war und im Anschlußan diese Tätigkeit keiner anderen Tätigkeit nachgegan-gen ist und einer solchen voraussichtlich auf Dauer nichtnachgehen wird“.Hiermit werden viele Erben von der Übertragung desBodeneigentums ausgeschlossen. Sie wurden und wer-den gezwungen, das Bodenreformeigentum unentgelt-lich dem Fiskus zu überlassen oder den Verkaufserlösauszukehren.Das ist aus heutiger Sicht eine entschädigungsloseEnteignung von Erben. Es hat sich nämlich erwiesen,daß diese sogenannte Nachzeichnung von DDR-Rechtnicht zutreffend ist, weil sie auf einem Irrtum beruht. Inder Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR wardas Bodenreformeigentum zu jeder Zeit – sowohl unterdem Regime des ZGB als auch dem des BGB – vererb-lich. Das hat inzwischen bei ausdrücklicher Abwendungvon seiner bisherigen Rechtsprechung auch der BGH inUrteilen vom Dezember 1998 anerkannt.
Das Erbrecht war allerdings von Vorschriften überla-gert, die Verfügungsbeschränkungen und Nutzungsge-bote enthielten. Am Bestand des Erbrechts änderte dasnichts. Diese Beschränkungen und Gebote wurden durchdas sogenannte Modrow-Gesetz vom 6. März 1990 auf-gehoben. Damit war die volle Ausübung des Erbrechtswiederhergestellt.Es entspricht der juristischen Logik, daß nach dieserneuen Erkenntnis besagter Abschnitt nicht mehr haltbarist. Er zeichnet die Rechtslage in der DDR unrichtignach. Trotzdem sieht die Bundesregierung derzeit kei-nen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, wie aus derAntwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion er-sichtlich ist.
Sie beruft sich darauf, daß der BGH besagte Vorschrif-ten für verfassungsgemäß hält.In der Tat hat der BGH mit, vorsichtig ausgedrückt,ziemlich eigenwilligen Argumenten diese Regelungenfür weiter anwendbar erklärt. Sie laufen im Kern daraufhinaus, daß die Volkskammer der DDR gar nicht dasgewollt haben kann, was sie mit dem Modrow-Gesetzbeschlossen hat. Es besteht deshalb nach wie vor eine„verdeckte Regelungslücke“, die durch das EGBGB ge-schlossen wurde. Diese Argumente sind in der Literaturvon Joachim Göhring und Beate Grün unter Beiziehungder Protokolle der Volkskammer und ihres Rechtsaus-schusses sowie anderer Materialien eindeutig widerlegtworden.Der in Rede stehende Abschnitt ist nach meiner Mei-nung verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar. Unabhän-gig davon sind diese Regelungen gegenüber den Erbenungerecht und rechtspolitisch fragwürdig. Die Bundes-regierung kann sich nicht auf den Standpunkt zurückzie-hen, daß gesetzgeberischer Handlungsbedarf erst dannentsteht, wenn ein Bundesgericht einen Rechtszustandfür verfassungswidrig erklärt. Bekanntlich hat der Bun-destag in der Vergangenheit des öfteren Heilungsrege-lungen erlassen, wenn es um Ungerechtigkeiten imVermögensrecht ging.Diese Regelung benachteiligt niemanden unangemes-sen. Die Alteigentümer, die durch die Bodenreform ent-eignet wurden, müssen damit leben können, denn siebehaupten ja immer, daß sie nicht neues Unrecht für dieBegünstigten der Bodenreform schaffen wollen. Auchan bestehenden Pachtverträgen würde sich hierdurchnichts ändern.Die PDS-Fraktion fordert deshalb eine erbrechtlicheGleichstellung von Bodenreformeigentum, indem diejeweiligen Grundstücke an die Erben zurückgegebenwerden bzw. dort, wo es nicht mehr möglich ist, dieseentschädigt werden.
Wir verlangen, daß in diesen Fällen Übereignungen vonBodenreformeigentum aus dem Fiskus bis zu einer Neu-regelung unverzüglich ausgesetzt werden. Das entsprichtnach meiner Meinung rechtsstaatlichem Denken undschließt eine Gerechtigkeitslücke in der noch immervielfach gespaltenen Gesellschaft unseres Landes.Danke.
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1063
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Freitag, den 25. Juni 1999, 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.