Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-öffnet.Heute vor 46 Jahren begann die Erhebung gegen dasstalinistische Herrschaftssystem in der DDR mit einerDemonstration der Bauarbeiter in der Ostberliner Stalin-allee, die sich bald zu einem allgemeinen Volksaufstandmit dem Ziel freier Wahlen, mit der Forderung nacheinem Rücktritt der Regierung ausweitete. Die spontaneErhebung zeigte die allgemeine Unzufriedenheit der Be-völkerung mit den politischen und wirtschaftlichen Ver-hältnissen in der DDR, die sich in Protestzügen, in Pro-testversammlungen und in dem Marsch von 12 000Hennigsdorfer Arbeitern entlud.Nach dem Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte,die mit Panzern gegen die Aufständischen vorgingen,brach die Volkserhebung zusammen. Die Zahl der To-desopfer ist niemals genau bekanntgeworden. Eine gro-ße Zahl von Beteiligten wurde inhaftiert und zu hohenFreiheitsstrafen verurteilt.Im Jahre 1989, 36 Jahre nach dem Volksaufstand,ließen erneute friedliche Demonstrationen der Bevölke-rung in der DDR den SED-Staat in sich zusammenbre-chen. Wir gedenken heute an dieser Stelle der Opfer desVolksaufstandes und erinnern uns mit Stolz an die muti-gen Bürger, die sich 1953 und 1989 unbewaffnet derDiktatur entgegenstellten.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die ver-bundene Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatz-punktliste vorliegenden Punkte zu erweitern: ZP1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst-und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1999
– Drucksache 14/1088 –
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung desArzneimittelgesetzes – Drucksache 14/1161 – ZP2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Situation der Flüchtlingenach Beendigung der Kampfhandlungen im Kosovo ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(16. Ausschuß)– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKeine weitere Unterstützung der AtomkraftwerkeKhmelnitski 2 und Rovno 4 in der Ukraine– zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr.Klaus W. Lippold , Cajus Julius Caesar, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUFesthalten an den Zusagen zum Bau von sichereren Er-satzreaktoren in der Ukraine– zu dem Antrag der Abgeordneten Angela Marquardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Fraktionder PDSInvestitionen der Europäischen Bank für Wiederauf-bau und Entwicklung in Khmelnitski 2 und Rovno 4– Drucksachen 14/795, 14/819, 14/708, 14/1143 – ZP4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ChristianRuck, Hans-Peter Repnik, Ilse Aigner, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU: Hilfsmaßnahmennder Bundesregierung anläßlich der Hochwasserkata-strophe Pfingsten 1999 in Süddeutschland – Drucksache14/1144 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,Hildebrecht Braun , Ernst Burgbacher, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Hilfsmaßnah-men der Bundesregierung anläßlich der Hochwasserka-tastrophe in Süddeutschland – Drucksache 14/1152 –Nachträgliche AusschußüberweisungDer in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie-sene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatung über-wiesen werden.Antrag der Abgeordneten Erika Reinhardt, Dr. Norbert Blüm,Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU: Gegen den Mißbrauch von Kindern alsSoldaten – Drucksache 14/310 –Überweisungsvorschlag:
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3686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Gerade auf dem letzten Agrarrat wurden dazu zu-kunftsweisende Entscheidungen getroffen. Insbesondereist es Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funkegelungen, eine Legehennenhaltungsverordnung zu ver-abschieden. Damit wurde eine fast 20jährige Diskussionzu diesem Thema abgeschlossen. Wir haben eine euro-paweite Regelung erreicht, die künftig mehr Tierschutzfür die Legehennen bedeuten wird.
Ein zweiter wichtiger Erfolg auf dem letzten Agrarratwar die Verabschiedung der Ökoverordnung im tieri-schen Bereich. Ich halte gerade die EU-Ökoverordnungfür ein wichtiges Signal in der jetzigen Situation, umVerbrauchervertrauen wiederzugewinnen. Wichtig ist,daß dieses Signal von der Verarbeitungsindustrie, vomHandel und von den Verbrauchern anerkannt wird. DieMarktbeteiligten müssen sich entscheiden, ob künftigQualität und Sicherheit oder nach wie vor immer niedri-gere Preise im Vordergrund stehen sollen.Die größte Herausforderung für die deutsche Präsi-dentschaft bestand zweifellos darin, die von der Kohl-Regierung ausgebremsten Agenda-Verhandlungen wie-der in Schwung zu bringen.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen genau,wovon ich rede.
Durch Ihr Nein zum Landwirtschaftsteil hat sichDeutschland in eine Position manövriert, bei der alle an-deren Staaten anderer Auffassung waren. Es war das Ver-handlungsgeschick von Karl-Heinz Funke, das Deutsch-land hier aus der Sackgasse herausgeführt hat
und am Ende einen tragfähigen Kompromiß herbeige-führt hat, der in den wichtigsten Teilen den Interessender deutschen Landwirtschaft Rechnung trägt.Die Botschaft des Berliner Kompromisses ist: wegvon der Intervention hin zu mehr Marktorientierung. Fürdiese schwierige Umorientierung wird es umfangreicheBeihilfen geben. Darauf können sich die Bauern bis zumPräsident Wolfgang Thierse
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Jahre 2006 – so lange ist der Finanzzeitraum – verlas-sen.
– Hören Sie doch bitte einmal zu! – Ihre Einkommens-entwicklung wird aber davon abhängen, wieviel Geldam Markt verdient wird. Das ist weniger eine Frage derEinflußmöglichkeit der Politik. Die Frage wird vielmehrsein: Wie effizient wird künftig die Verarbeitungsindu-strie gestaltet, und wie wird die Verhandlungspositionder Verarbeitungsindustrie gegenüber dem Lebensmit-teleinzelhandel sein?Zusätzlich wird im Agrarbericht deutlich, daß dieBundesregierung gemeinsam mit den Ländern vermehrteAnstrengungen unternimmt, die Lebensverhältnisse derMenschen auf dem Lande zu verbessern. Mit der Agen-da 2000 bestehen gute Voraussetzungen dafür; denn derAusbau der Politik für den ländlichen Raum gehört zueinem zentralen Element der Agenda-Beschlüsse. Eswurde als sogenannte zweite Säule mit der Agenda 2000neu geschaffen.Die Bundesregierung hat für ihre zielstrebige Ver-handlungsführung von den europäischen Partnern großeAnerkennung erfahren. Ich konnte mich erst jüngst aufdem Agrarministertreffen in Dresden persönlich davonüberzeugen. Hier ging es nicht nur um Höflichkeitsflos-keln gegenüber Bundeslandwirtschaftsminister Funke;die deutsche Präsidentschaft hat auf diesem Gebiet einegroße Anerkennung erfahren.
Aus diesem Grunde, meine Damen und Herren vonder Opposition, geht Ihre Kritik hier eindeutig ins Leere.Im Gegenteil: Es gehört eine gehörige Portion Heucheleidazu, wenn Sie hier die Bundesregierung für dieBeschlüsse kritisieren. Tatsache ist, daß die Agenda-Beschlüsse die logische Konsequenz aus der Agrar-reform von 1992 sind, die bekanntlich Ignaz Kiechleund die alte Bundesregierung zu verantworten haben.Sie werden auch zugeben müssen, daß die Uruguay-Runde – im übrigen ebenfalls in Ihrer Regierungszeitzustande gekommen – eine unumkehrbare Entwicklungin Richtung Markt und Wettbewerb forciert hat. DieAgenda 2000 folgt genau dieser Entwicklung. MeineDamen und Herren, ich habe den Eindruck, daß derVerlust der Mehrheit häufig mit dem Verlust des Ge-dächtnisses verbunden ist.
Zu Ihren Zwischenrufen muß man sich nur einmal dieBeschlüsse der Uruguay-Runde und ihre Konsequenzenfür die Agrarpolitik vor Augen führen.
Herr Kollege Thal-
heim, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Michels?
Dr
Aber bitte.
Herr Staatssekretär,
Sie haben eben gesagt, Sie seien angetreten, um die Le-
bensverhältnisse der Menschen auf dem Land zu verbes-
sern. Sind Sie der Meinung, daß es dazu paßt, innerhalb
eines guten halben Jahres die Mehrwertsteuerverrech-
nung um einen Prozentpunkt zu senken, Ökosteuern ein-
zuführen, Kürzungen bei der Unfallversicherung vorzu-
nehmen und jetzt 900 Millionen DM bei der Dieselkraft-
stoffrückvergütung zu streichen? Hinzu kommt noch die
Agenda 2000. Meinen Sie, daß dies alles der Landwirt-
schaft im Lande dient?
Dr
Kollege Michels, Sie vermischen schon bei IhrerFrage, das, was gegenwärtig in der Diskussion ist, unddas, was beschlossen wurde.Zu dem, was beschlossen wurde: Sie wissen, daß mitdem Steuerreformgesetz eine deutliche Entlastung derunteren Einkommen zustande gekommen ist, sowohlwas den Grundfreibetrag anbelangt, als auch was denSteuertarif anbelangt. Auch bei Ihren Vorschlägen zurSteuerreform war eine Verbreiterung der Bemessungs-grundlage vorgesehen. Wenn Sie sich noch einmal mitdem Petersberg-Papier auseinandersetzen würden, wür-den Sie sehen: Alles, was wir beschlossen haben, stehtbereits in Ihren Vorschlägen aufgeführt.Was die künftigen Sparmaßnahmen anbelangt, soreicht ein Blick auf die Entwicklung der Verschuldung.Von rund 400 Milliarden DM, die bei Antritt Ihrer Re-gierung 1982 übernommen wurden, sind wir heute im-merhin bei einer Verschuldung von 1,5 Billionen DMangelangt. Wer angesichts dieser Tatsache leugnet, daßSparmaßnahmen notwendig sind, geht an den Realitätenvorbei.Aber zurück zur Agenda 2000: Die Bundesregierungwird ihren Kurs der agrarpolitischen Neuorientierungfortsetzen. Wir kümmern uns momentan intensiv um dienoch offenen Teile der nationalen Ausgestaltung derAgenda-Beschlüsse, damit möglichst noch im Juni allegrundsätzlichen Entscheidungen fallen können. Hierbeiwerden in der kommenden Woche mit den Länder-agrarministern die einzelnen Themen beraten.Hierzu gehört ebenfalls das nach wie vor strittigeMilchthema. Auch hier haben wir es mit einer schwerenErblast zu tun. Von allen wird gefordert, die aktivenMilcherzeuger zu entlasten, nicht zusätzliche Bürokratieeinzuführen, aber auf der anderen Seite auch den not-wendigen Strukturwandel zu flankieren. Dies sind dreiZiele, die kaum miteinander in Übereinstimmung zubringen sind. Es stellt sich damit die Frage, ob wir nichtso schnell wie möglich aus diesem System aussteigenmüssen, um hier tatsächlich für die aktiven Milcherzeu-ger zu einer Entlastung zu kommen.
Zumindest hat es die deutsche Präsidentschaft er-reicht, daß die Flächenbindung aufgehoben wird undParl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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damit wichtige Voraussetzungen geschaffen wordensind, um hier zu einer Verbesserung zu kommen.
Natürlich werden bei der nationalen Umsetzung auchdie finanziellen Erwägungen eine Rolle spielen. In derZwischenfrage bin ich darauf ja schon angesprochenworden. Ich habe begründet, weshalb auch im Agrar-haushalt gespart werden muß. Wir haben uns allerdingshinsichtlich der Sparbeschlüsse die Ziele gesetzt, daßerstens der Strukturwandel in der Landwirtschaft nachwie vor vom Staat abgefedert wird, daß zweitens dieWettbewerbsfähigkeit der Agrarwirtschaft und die Ent-wicklung der ländlichen Räume gestärkt werden und daßdrittens, soweit Eingriffe in die Leistungen der Agrar-sozialpolitik unabdingbar sind, die Symmetrie mit denSozialversicherungssystemen erhalten bleibt.Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wer-den im Herbst noch ausreichend Gelegenheit haben, daszu diskutieren. Ich bin aber zuversichtlich, daß wir Be-schlüsse hinbekommen, die der von mir vorgetragenenZielsetzung für eine ordentliche Perspektive der deut-schen Landwirtschaft dienen werden.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat nun der Kollege Albert Deß das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wie wir erfahren haben, istHerr Minister Funke krank. Ich darf ihm von hier ausbeste Genesungswünsche überbringen.
Wir hätten uns natürlich gefreut, wenn er heute hier an-wesend gewesen wäre.Welche Wertschätzung die Regierungskoalition derLandwirtschaft entgegenbringt, sieht man auch daran,daß nicht ein Minister auf der Regierungsbank Platz ge-nommen hat.
Im Gegensatz dazu ist die Opposition mit dem Partei-vorsitzenden der CDU, mit dem stellvertretenden Partei-vorsitzenden der CSU und mit dem Parteivorsitzendender F.D.P. vertreten.
Meine sehr verehrten Damen und Herrn, die Rah-menbedingungen für unsere Bäuerinnen und Bauernwaren schon immer Veränderungen unterworfen. Ichkann mich jedoch an keine Zeit erinnern, in der sich dieSituation für unsere Bäuerinnen und Bauern so gravie-rend verändert hat wie seit der Regierungsübernahmedurch Rotgrün.
Im vergangenen Jahr betrugen die Betriebsaufgaben1,9 Prozent – die geringste Zahl seit mehr als 20 Jahren.Daran sieht man, daß die bisherige Bundesregierungdurchaus Erfolge in der Agrarpolitik zu verzeichnenhatte, ist eine geringe Zahl von Betriebsaufgaben dochAusdruck des Erfolgs der Agrarpolitik.Agrarpolitik ist eingebunden in aktuelle Entwicklun-gen, die nicht spurlos an uns vorübergehen. Die Land-wirtschaft pflegt unsere Kulturlandschaft und versorgtunsere Bevölkerung mit frischen und gesunden Nah-rungsmitteln. Die Versorgung mit gesunden Nahrungs-mitteln gerät durch Skandale immer wieder in Mißkre-dit. Ich bin davon überzeugt, daß diese Skandale – ichsage über alle Parteigrenzen hinweg: es werden nicht dieletzten sein – Ergebnis einer vom Ansatz her falschenAgrarpolitik in Europa sind.
Eine Agrarpolitik, die ohne Rücksicht auf unsere Um-welt nur auf Kostendruck setzt, ist mitverantwortlich fürSkandale wie BSE und Dioxin.
In diesem harten Wettbewerb gibt es auch keine Rück-sicht auf unterschiedliche Produktionsbedingungen undsoziale Standards.Interessant dazu ist eine Aussage von Jacques San-ter, über die wir nachdenken sollten. Nach AuffassungSanters bestehen erhebliche Zweifel, ob die BSE-Krisewirklich ein Unfall der Natur ist. Er sagte vor mehr alseinem Jahr – ich zitiere –: Ist die BSE-Geschichte nichtvielmehr die Folge eines Landwirtschaftsmodells, dasauf Produktivität um jeden Preis ausgerichtet ist? DieKonsequenzen dieser Produktionsweise zu minimalenKosten setze die Grundgesetze der Natur außer Kraftund führe letztendlich zu höheren Belastungen der Ge-sellschaft.
Ich muß dem noch amtierenden Kommissionsprä-sidenten vorwerfen, daß er zwar die verfehlte EU-Agrarpolitik erkannt, aber nichts daraus gelernt hat.Unter seiner Präsidentschaft durfte ein AgrarkommissarFischler diesen agrarpolitischen Irrweg weiter perfektio-nieren.Und was hat Herr Minister Funke getan, um diesenIrrweg zu verlassen? Außer großen Sprüchen nichts.
In einer Presseerklärung vom 18. Juli 1997 hat er nocherklärt
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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– jetzt hören Sie einmal zu, was der Minister vor zweiJahren gesagt hat –:Die Agenda-2000-Vorschläge sind eine Kampfan-sage an den ländlichen Raum.
Und was hat er in seiner Verantwortung als Bundesmi-nister getan, um diese Kampfansage an unsere Bäuerin-nen und Bauern zu verhindern? Wieder nichts.
Im Gegenteil, er ist als agrarpolitischer ZwillingsbruderFischlers aufgetreten. Mit einer dilettantischen Ver-handlungsstrategie
hat er gemeinsam mit dem Bundeskanzler die Interessenunserer Bäuerinnen und Bauern, aber auch unsererSteuerzahler verraten und verkauft.
Empfehlenswert ist ein Blick in die Rede von HerrnFunke, die er als niedersächsischer Landwirtschaftsmi-nister vor drei Jahren auf einem Bauerntag in Leipziggehalten hat. Dort stellte er sein Konzept zur „Europäi-schen Agrarpolitik 2000“ vor. Von den damaligen Vor-stellungen sind die jetzigen Agenda-2000-Beschlüssemeilenweit entfernt. Wer so schnell seine Überzeugun-gen ändert wie Herr Minister Funke, kann nur als agrar-politischer Wendehals bezeichnet werden.
Ich habe doch in Leipzig miterlebt, wie er vor 1 000Wiedereinrichtern eine degressive Gestaltung der Flä-chenausgleichszahlungen gefordert hat und wie er vonObergrenzen, von weniger Bürokratie für unsere Bauernund von Instrumenten gesprochen hat, mit denen unteranderem ökologischem und sozialem Dumping entge-gengewirkt werden kann.Was davon hat er in der Agenda 2000 durchgesetzt?
Übriggeblieben sind mehr Bürokratie und mehr Unge-rechtigkeit in Europa. Das englische Königshaus hatnach Presseberichten vor diesem Agenda-2000-Ab-schluß 9,8 Millionen DM Ausgleichszahlungen ausBrüssel erhalten. Nach diesem Abschluß wird das engli-sche Königshaus weit über 10 Millionen DM erhalten.Das ist die neue soziale Gerechtigkeit, die dieser Bun-desminister mit zu verantworten hat.Minister Funke hat nach dem Agenda-2000-Abschlußdie deutschen Bauern aufgefordert, schlagkräftiger zuwerden. Wer den „Focus“ von vor drei Wochen gelesenhat, der weiß, daß er von Schlägen einiges versteht. Erkönnte auf seinem Hof Kurse abhalten, wie man schlag-kräftiger wird.Und wie ist es mit seinen Aussagen zur Milchquote?Wir Landwirte sind schon sehr gespannt, was er vonseinen Ankündigungen umsetzt. Wahrscheinlich bleibenwieder nur Sprüche, Schall und Rauch.Genausoviel ist auch von der Ankündigung desBundeskanzlers übriggeblieben. Auch er hat vor derWahl gefordert, daß im Zusammenhang mit der Finan-zierung der europäischen Agrarpolitik ein Kofinanzie-rungssystem – wie es die CSU schon lange gefordert hat– eingeführt wird. Auch auf dem Parteitag in Saarbrük-ken hat er sich in einer ähnlichen Richtung geäußert. Ichzitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 9. Dezem-ber 1998:In der Agrarpolitik, welche die EU das meiste Geldkostet, forderte Schröder, wieder zu einer nationa-len Finanzierung zurückzukehren.Das Ergebnis auch hier: totale Fehlanzeige, was die Um-setzung der Ziele betrifft, die die Bundesregierung selbstvorgegeben hat.
Es wurde weder mehr Beitragsgerechtigkeit noch eineeiserne Haushaltsdisziplin durchgesetzt. Zusätzliche Mil-liardenbeträge wurden auf dem Berliner Gipfel verteilt,für die der deutsche Steuerzahler aufkommen muß.Der „Spiegel“, unverdächtig, der Union nahezuste-hen,
schreibt mit Recht:Die EU-Ratspräsidentschaft von Gerhard Schröderendet, wie sie begonnen hat: mit großen Sprüchen.Wo der „Spiegel“ recht hat, hat er recht.
Nicht nur dem „Spiegel“ sind die leeren Phrasen auf-gefallen. Auch die Wählerinnen und Wähler in unseremLand haben diese Sprücheklopferei durchschaut. DasErgebnis der Europawahl am vergangenen Sonntag warmehr als eindeutig. Auch die Bauern haben bei dieserWahl auf das Chaos reagiert, das hier in Bonn regiert.Dieses rotgrüne Chaos zerstört die Wettbewerbsfähig-keit der deutschen Landwirtschaft.In Deutschland werden die Landwirte durch die rot-grünen Steuerbeschlüsse in einem Ausmaß belastet, wiees in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlandnoch nie der Fall war.
Im Vergleich dazu werden in Österreich die Landwirtegerade im steuerlichen Bereich entlastet. Es bleibt dasGeheimnis des Landwirtschaftsministers Funke, wiedurch diese Politik unsere Bauern wettbewerbsfähigergegenüber ihren europäischen Kollegen werden sollen.In keiner Rede vor dem Deutschen Bundestag – dar-um bedauere ich auch, daß er heute nicht hier ist – hat ersich bisher mit den Zukunftsängsten unserer BäuerinnenAlbert Deß
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und Bauern auseinandergesetzt. Mit kabarettreifen Auf-tritten, mit Bibelzitaten und höhnischen Bemerkungenwird er seiner Verantwortung als Bundeslandwirt-schaftsminister nicht gerecht.
Ehrlich gesagt, ich habe dies von ihm auch nicht erwar-tet. Von jemandem, der während seiner Amtszeit alsMinister in Hannover eine Halbierung des niedersächsi-schen Agrarhaushaltes mitgetragen hat,
können die bundesdeutschen Bauern nicht erwarten, daßer ihre Interessen hier in Bonn vertritt.Ich fordere aber auch die Verbraucher auf, daß sie ge-rade im Angesicht der Skandale, die wir erleben, kriti-scher einkaufen. Auch die Lebensmittelkonzerne sindaufgefordert, endlich mit dem brutalen Preisdruck ge-genüber den Erzeugern der Land- und Ernährungswirt-schaft aufzuhören.
Der Handel hat nichts davon, wenn das Vertrauen derVerbraucher in die angebotenen Lebensmittel schwin-det. Wenn die Handelsunternehmen gezielt Qualitäts-produkte einkaufen und ihrerseits dazu beitragen, beiden Kundinnen und Kunden Qualitäts- und Herkunfts-bewußtsein zu schärfen, ist das zum Nutzen aller.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieCDU/CSU-Fraktion wird auch in Zukunft die Interessender bäuerlichen Landwirtschaft mit Nachdruck vertreten.Daß die Bauern wissen, daß deren Interessen bei unsbesser aufgehoben sind, haben sie auch bei der Wahl amvergangenen Sonntag zum Ausdruck gebracht. Ichkomme aus einer Gemeinde, in der überwiegend Land-wirte – vor allem solche im Nebenerwerb – wohnen.Dort betrug das Wahlergebnis am vergangenen Sonntagfür die CSU 94 Prozent,
alle anderen Parteien sind an der 5-Prozent-Hürde ge-scheitert.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-
Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Waltraud Wolff.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrter Herr Kollege Deß! Ihre Angriffe auf den Bun-desminister Karl-Heinz Funke und die Aussagen überihn, das sei wohl lächerlich und er habe nichts geschafft,will ich kurz aufgreifen. Ich will verdeutlichen, daß dasnicht der Fall ist. Außerdem möchte ich folgende kleineBemerkung machen: Wenn Sie hier von Wendehälsenreden, dann sollten Sie vielleicht erst einmal in Ihreeigene Partei schauen. Im Osten Deutschlands gibt esnämlich dort die meisten Wendehälse.
Aber jetzt zum Agrarbericht.
Wenn man den Agrarbericht 1999 liest, ist ein roter Fa-den klar erkennbar: die Agenda 2000. Die Verhandlun-gen waren langwierig, hart, und sie bewegen auch heutenoch die Bauern. Aber sie waren erfolgreich. Mit derEinigung auf das Agenda-2000-Paket am 25. März gibtes jetzt Planungssicherheit für alle Bauern in Nord undSüd, in Ost und West, und das bis in das Jahr 2006.
Die Interessen der Bauern sind weitgehend berücksich-tigt worden.Ich will Ihnen die Ergebnisse für die neuen Bundes-länder verdeutlichen. Dank der Verhandlungsführungvon Bundesminister Funke sind wichtige Belange derLänder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sach-sen-Anhalt, Sachsen und Thüringen durchgesetzt wor-den: Erstens ist die größenabhängige zeitliche Degres-sion der Ausgleichszahlung verhindert worden, zweitensbraucht die 90-Tiere-Grenze nicht eingeführt zu werden,und drittens sind die 150 000-Hektar-Grundflächen dau-erhaft zugewiesen.
Die Bundesregierung wird keine Modulation derAusgleichszahlungen vornehmen, und sie wird auchnicht die 90-Tiere-Grenze einführen. Das heißt, es gibteine Chancengleichheit für die landwirtschaftlichen Be-triebe in Mitteldeutschland.
– Sie brauchen gar nicht zu lachen. – Auch für die hiertypischen Großbetriebe sind die europäischen Direkt-zahlungen gesichert.Die neuen Bundesländer bleiben Ziel-1-Gebietund erhalten insgesamt 20 Millionen Euro, das sind2,85 Milliarden Euro jährlich – ich hatte mich bei den20 Millionen Euro versprochen, aber kein Mensch hatdazwischengerufen, es sind 20 Milliarden Euro – undzirka 350 Millionen Euro pro Jahr mehr als bisher. Ost-berlin wird als ausscheidendes Ziel-1-Gebiet eine Über-gangsunterstützung in Höhe von 729 Millionen Euro er-halten. Das ist ein großer Erfolg! Nun müssen diese gu-ten Voraussetzungen in den nächsten Jahren zielstrebigumgesetzt werden.
Albert Deß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3691
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Die Verordnung des Europäischen Ausrichtungs- undGarantiefonds für die Landwirtschaft bildet den inhaltli-chen Rahmen für die ländliche Entwicklung insgesamt,also auch für die Ziel-1-Gebiete. Mittel in Höhe von zir-ka 4,35 Milliarden Euro stehen über die AbteilungenGarantie und Ausrichtung zur Verfügung.In den neuen Bundesländern werden diese Mittel fürdie flankierenden Maßnahmen und die Ausgleichszah-lungen verwendet. Die Fördermöglichkeiten wurdendeutlich ausgebaut und eigenständige Förderung derländlichen Entwicklung in die Zuständigkeit der Agrar-ressorts gegeben.Es steht zweifellos fest, daß es in Zukunft mehr Risi-ken, aber auch mehr unternehmerische Freiheit gebenwird. Ich denke, daß unsere Landwirte, die seit derWende zehn Jahre lang viele Dinge meistern mußten,auch diesen Übergang bewältigen werden.
Viele Landwirte sagten mir bei Veranstaltungen inSachsen-Anhalt, daß es nach dem Beschluß zum Agen-da-2000-Paket zwar gilt, den Gürtel enger zu schnallen,aber sie könnten doch sicher in die Zukunft planen.Deshalb, denke ich, muß endlich Schluß sein mit derSchwarzmalerei, wie Sie, Herr Deß, sie gerade betriebenhaben.
Es muß Schluß damit sein, daß Sie ständig den Bauernein schlechtes Gewissen einreden und Schwarzmalereibetreiben.
– Nein, überhaupt nicht. – Sie müssen damit aufhören,zu sagen, die Landwirtschaft steht am Abgrund. Dasstimmt nicht.Ich möchte an dieser Stelle den Staatsminister fürUmwelt und Landwirtschaft des Landes Sachsen, HerrnDr. Jähnichen, zitieren. Er hat nach der Agrarminister-konferenz in Ludwigsburg am 12. März, auf der es keineEinigung gegeben hat, am 23. März einen Brief an Bun-desminister Funke geschrieben, in dem steht:Ich danke Ihnen ausdrücklich für die Lösung exi-stentiell wichtiger Probleme der ostdeutschenLandwirtschaft, für die ich mich in der Vergangen-heit mit ganzer Kraft eingesetzt habe, und kannIhnen versichern, daß ich bei der Umsetzung derVorschläge jederzeit zu einer engen und vertrau-ensvollen Zusammenarbeit bereit bin.Das sagt ein sächsischer Staatsminister.
Mit der konsequenten Haltung unseres Bundesmi-nisters bei den Beschlüssen des Reformpakets sind dieWeichen für die deutsche Landwirtschaft zum Positivengestellt, und gleichermaßen ist Kompromißfähigkeitbewiesen worden. Die Bauern im Lande – ich denke,alle Bauern – und durch die Bank, behaupte ich, alleAgrarpolitiker wußten, daß nicht alles beim alten blei-ben kann.Ich verstehe die Europäische Gemeinschaft als eineSolidargemeinschaft. Ich denke, daß der Solidargedan-ke des Agendawerks auch von uns Zugeständnisse er-forderlich macht. Vertritt jedes Land eigennützig nurseine eigenen Interessen, dann brauchen wir uns meinerMeinung nach nicht an einen gemeinsamen Tisch Euro-pa zu setzen.
Politik erfordert Kompromißbereitschaft, und dazu müs-sen auch wir unseren Beitrag leisten.Nachdem wichtige ostdeutsche Belange Berücksich-tigung gefunden haben, liegt es an den Betrieben selbst,diese guten Voraussetzungen zu nutzen und so zur mo-dernsten Landwirtschaft Europas zu werden.Lassen Sie mich jetzt noch einmal kurz den Solidar-gedanken aufgreifen. Ich habe zu den Ergebnissen derEuropawahl vom vergangenen Wochenende eine ganzandere Meinung als die bisher geäußerte. Die geringeWahlbeteiligung ist für mich sehr erschreckend gewe-sen. Wir als Politikerinnen und Politiker stehen in dergesellschaftlichen Verantwortung, hier europäischePolitik transparent zu machen und unsere Bevölkerungeinzubeziehen.Vielen Dank.
Dies war die erste
Rede der Kollegin Wolff im Bundestag. Unsere herzli-
che Gratulation!
Nun hat für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Ulrich
Heinrich das Wort.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! In der Broschüre „Landund Forstwirtschaft in Deutschland – Daten und Fakten“sind unter anderem auch die Ziele der Agrarpolitik derBundesregierung dargestellt. Ich zitiere aus dieser Bro-schüre:… die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen undumweltverträglichen Land- und Forstwirtschaft undErnährungswirtschaft voranbringen zu wollen.Dieses agrarpolitische Ziel ist auch unser Ziel. Zwarwerden die Probleme der Landwirtschaft in dieser Bro-schüre hervorragend aufbereitet. Sie ist deshalb sehr gutauch für Nichtlandwirte geeignet, die sich informierenwollen. Deshalb möchte ich mich besonders bei den Per-sonen bedanken, die diese Broschüre erarbeitet haben.Mit ihr kann man wirklich etwas anfangen.Waltraud Wolff
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Der Anspruch aber, der in dieser Broschüre postu-liert wird, und die Wirklichkeit klaffen meilenweitauseinander. Deshalb möchte ich den von mir ebenzitierten Halbsatz etwas genauer analysieren und etwastiefer in die konkrete Agrarpolitik einsteigen. Ichmöchte mit der Agenda 2000 anfangen. Als Ratsvor-sitzender und als Mitglied der Bundesregierung hatteHerr Funke natürlich das Interesse, das ursprünglichePaket, das im Rahmen der Agenda 2000 geschnürtworden ist, vom Tisch zu bekommen. Das hat er auchgeschafft. Aber der Beschluß ist dennoch eher beschei-den ausgefallen. Wer diesen bescheidenen Beschlußauch noch lobt und so tut, als würde er der deutschenLandwirtschaft eine Perspektive eröffnen, mit der sieauch in der Zukunft erfolgreich auf den Märkten seinkönnte, der sollte sich zuerst einmal die eigenen Zahlenverinnerlichen.
Der Herr Staatssekretär hat das gerade eben getan. Erhat den Abschluß der Agenda 2000 als brauchbareGrundlage für die Zukunft bezeichnet.
Ich sage dagegen, daß dieser Abschluß keine brauchbareGrundlage ist. Ich erkläre Ihnen auch, warum. Selbstver-ständlich brauchen wir eine Agrarreform. Auch wirkonnten und wollten nicht so weitermachen wie bisher.Es mußte eine Reform eingeleitet werden, allein schonauf Grund der WTO-Runde, die Ende dieses Jahres be-ginnt. Aber die Reform, die letztendlich beschlossenworden ist, sollte nach unserer Auffassung eigentlichPerspektiven für unsere Bauern eröffnen. Wir FreienDemokraten lehnen eine Politik ab, die teurer für denSteuerzahler wird, die die Probleme der WTO nicht an-geht und die schließlich – das ist das besonders Be-dauerliche an den Ergebnissen – den landwirtschaft-lichen Betrieben keine Chancen am Markt eröffnet, son-dern die Entwicklung der landwirtschaftlichen Einkom-men in weiten Bereichen ausschließlich von politischenEntscheidungen abhängig macht.
Welches Selbstverständnis hat eigentlich diese Regie-rung, wenn sie die Agenda 2000 lobt, weil mit ihr an-geblich das freie Unternehmertum in die LandwirtschaftEinzug hält?
– Wenn Sie, Herr von Larcher, nichts davon verstehen,sollten Sie nicht so laut dazwischenrufen.
Wissenschaftler, die Sie selber zu Ihren eigenen An-hörungen eingeladen haben, haben Ihnen bestätigt, daßdie deutsche Landwirtschaft in den Bereichen Milchund Rindfleisch auf Dauer auf Transferzahlungen an-gewiesen sein wird und auf Grund der Agenda 2000nicht in der Lage sein wird, ihr Einkommen auf denMärkten selber zu erwirtschaften. Genau dieser Fall isteingetreten. Das kann für uns überhaupt keine Zukunftbedeuten.
Meine Damen und Herren, Landwirte sind Unter-nehmer und wollen nicht am Tropf der Steuerzahlerhängen und in ihrer erfolgreichen Bewirtschaftung ihrerlandwirtschaftlichen Betriebe nicht von politischen Ent-scheidungen in Brüssel oder sonstwo abhängig sein.Ich übertrage die Wettbewerbsfähigkeit, die an-fänglich so gut klingend in der Broschüre dargestelltworden ist, noch einmal auf die nationale Agrarpolitik.Lassen Sie mich nur einige Punkte herausnehmen. Dererste ist die Gasölverbilligung. Wir sind heute schon aufGrund bestehender Gesetze im Wettbewerb gegenüberFrankreich im Nachteil. Das macht sich bei einem50-Hektar-Betrieb schon bemerkbar. Wissen Sie, wie-viel das Ganze ausmacht? Nach heutiger Regelungmacht das bei einem 50-Hektar-Betrieb im Schnitt sageund schreibe 2 400 DM aus. Jetzt nehmen Sie die Ver-billigung einmal weg, dann haben Sie genau das Dop-pelte. Dann belasten Sie diesen Betrieb im Wettbewerbmit Frankreich – nicht mit außereuropäischen Ländern –mit sage und schreibe 5 000 DM.Es kommt noch dazu, daß unser Pflanzenschutzgesetznatürlich das strengste ist. Wenn wir von Wettbewerbs-fähigkeit reden, müssen wir auch dies berücksichtigen.Wir belasten unsere deutschen Landwirte – gehen wirvon genau diesem 50-Hektar-Betrieb aus, der 20 HektarMais anbaut – mit zusätzlich über 2 000 DM. Das sindround about schon 7 000 DM.Dann haben Sie Ihre glorreiche Ökosteuer eingerich-tet. Wenn Sie die Petersberger Beschlüsse zitieren, HerrStaatssekretär, dann vergessen Sie immer den einen Teiltotal, nämlich den der Steuersenkung. Wir hatten keineÖkosteuer in dieser Form in den Petersberger Beschlüs-sen drin. Die Petersberger Beschlüsse belasten diesenBetrieb natürlich auch noch einmal mit 1 000 DM.Es geht weiter bei der Umsatzsteuer. Willkürlich ha-ben sie 1 Prozent bei der Umsatzsteuer weggenommen.Einem Betrieb – das Beispiel eines 50-Hektar-Betriebsist nicht von ungefähr, es entspricht in etwa meinemBetrieb zu Hause –, der etwa einen Umsatz von einerhalben Million DM hat, nehmen Sie durch das Streichendes 1 Prozent der Umsatzsteuer noch einmal 5 000 DMweg.Meine Damen und Herren, jetzt sind wir schon beiüber 10 000 DM, die den Wettbewerb zu Lasten derdeutschen Bauern innerhalb Europas verzerren. Im Ge-gensatz dazu steht die Überschrift in dieser Broschüre.Anspruch und Wirklichkeit klaffen meilenweit ausein-ander.
Wir lehnen es ab, im Haushalt weitere Kürzungenhinzunehmen. Wir haben einen Haushalt, der zu überzwei Drittel aus Sozialem besteht, und das nicht, weilder einzelne Landwirt zuviel Geld bekommt, sondernweil der Einzelplan 10 den Strukturwandel finanzierenUlrich Heinrich
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muß, den die Landwirtschaft durchmacht. Das müssenwir doch einmal erkennen. Die 900 Millionen DM fürdie Berufsgenossenschaft rühren doch aus der „altenLast“. Die Defizithaftung des Bundes bei der Alters-sicherung der Landwirte betrifft im Haushalt den Ein-zelplan 10, nicht den Sozialhaushalt. Wer dann anfängt,im sozialen Bereich streichen zu wollen, der muß einmalbegründen, wieso er so vorgehen will. Ich sage Ihneneines: Wir machen dieses Spielchen nicht mit.
Wenn Sie jetzt die Beiträge zur Berufsgenossenschaftabermals absenken wollen – man weiß ja noch nicht,was kommen wird, wie man so schön sagt; wir sind sehrgespannt –, dann belasten Sie die aktiven Landwirte imWettbewerb innerhalb Europas noch einmal. Das kön-nen und wollen wir auf keinen Fall akzeptieren.Lassen Sie mich noch einmal auf die aktuelle Situa-tion eingehen. Herr Staatssekretär, ich war schon erstaunt,daß Sie Dioxin mit der Agrarpolitik in Zusammenhanggebracht haben. Entweder habe ich es völlig falsch ver-standen, oder ich bin auf dem falschen Dampfer.
Hier geht es um ein verbrecherisches Unternehmen: Eswurden hochgiftige Öle, die normalerweise auf eine Son-dermülldeponie gehören, nicht aus Versehen, sondernbewußt und absichtlich eingemischt. Wer nun aber diesenVorfall zum Anlaß nimmt, Dioxin mit der Agrarpolitik inZusammenhang zu bringen, der verunsichert erst recht dieBürger und Verbraucher. Meine Damen und Herren, washier gemacht wird, ist unverantwortlich.
Sprechen Sie doch statt dessen von dem verbrecheri-schen Tun einiger Weniger, denen wir auf die Fingerhauen müssen.Dann geht es noch um die Informationspflicht derStaaten gegenüber der Europäischen Union. Auch denRegierungen müssen wir auf die Finger klopfen, seien esnun Freunde oder nicht so enge Freunde. Hier darfnichts unter den Teppich gekehrt werden, hier mußwirklich Klartext gesprochen werden; denn es geht umdie Gefährdung der Gesundheit unserer Mitbürgerinnenund Mitbürger.
Herr Staatssekretär, ich hätte mir eigentlich gewünscht,daß Sie hier sagen, die logische Konsequenz aus demDioxin-Skandal sei, auf regionale Produkte, auf deut-sche Produkte zurückzugreifen. Dann hätten die Men-schen Gewißheit, mit solchen Dingen nicht konfrontiertzu werden.
– Lieber Herr Vorsitzender Gerhardt, der Werbeblockgeht weiter, um Informationen zu transportieren, diewichtig sind und über die die Menschen leider Gottesimmer weniger verfügen.Auch was Coca-Cola angeht, ist einiges nicht in Ord-nung. Wenn die Softdrinks so in Verruf kommen, dannmüssen wir uns doch fragen, was denn die Ernährungs-industrie unserer Bevölkerung auf den Tisch stellt.
– Verbraucherschutz wird in meiner Fraktion sehr großgeschrieben, und ich wundere mich, daß Sie von derSPD-Fraktion hier über meine Aussagen lästern. Ichwundere mich wirklich über die SPD-Fraktion, die, alssie in der Opposition saß, den Verbraucherschutz selbstin Bereichen hochgehalten hat, die mit Verbraucher-schutz gar nichts mehr zu tun hatten. Aber hier, wo wirdefinitiv Aussagen zum Verbraucherschutz machenkönnen, begleiten Sie sie mit Hohngelächter.Die Konsequenz der Vorfälle bei Coca-Cola kannsein, auf Apfelsaft auszuweichen. Sie kann aber aucheine bessere Kontrolle sein. Hier sind wirklich Kontrol-len angesagt. Einen Dioxinskandal können Sie mitKontrollen nicht vermeiden. Aber bei dieser Form derGefährdung unserer Lebensmittel wäre mit Kontrollensehr viel zu erreichen.Lassen Sie mich zum Schluß – der Herr Präsidentsignalisiert mir, daß meine Redezeit zu Ende ist – ein-deutig und klar feststellen: Die F.D.P. steht auf der Seiteder Landwirtschaft.
Sie steht auf der Seite der unternehmerischen Landwirt-schaft, die ihr Einkommen am Markt erwirtschaften undnicht von Gottes Gnaden, von der Politik abhängig seinwill.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat nun Kollegin Ulrike Höfken
das Wort.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Wenn Herr Heinrich behauptet hat, die F.D.P. steheauf der Seite der Landwirtschaft, dann ist es sicherlichan der Zeit, einmal Bilanz zu ziehen.Herr Deß, Sie haben sich darüber beklagt, daß hierMinister fehlen. Aber wo waren Sie denn gestern wäh-rend der Ausschußsitzung?
Zwei Abgeordnete der CDU/CSU haben da gesessen, alsdie Agenda 2000 das Thema von 17 geladenen Expertenwar. Das war das große Interesse der CDU/CSU!
Ulrich Heinrich
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Auch wenn es nicht direkt zum Agrarbericht gehört,möchte ich darauf hinweisen, daß dies jetzt meine Ab-schiedsrede von Bonn sein wird. Ich bin schon ein biß-chen traurig, daß wir eine grüne Stadt am Rhein, einvolksnahes Parlament verlassen. Zum Abschied winktuns allerdings der Schürmann-Bau als Hinterlassen-schaft der Wirtschaftspartei F.D.P.
Nichts gegen Berlin; Berlin ist auch schön. Aber „datkost“. Als Abgeordnete der nächsten Generation darf ichsicherlich auf die 20 Milliarden DM hinweisen, die fürden Berlin-Umzug ausgegeben werden. Alle Einspar-vorschläge unserer Fraktion sind hartnäckig mißachtetworden. Wer die Musik bestellt, der muß auch bezahlen.Nun steht das Orchester auf der Bühne, und die Rech-nungen sind – wie viele andere – noch offen.Wi
Von 340 Milliarden
DM 1982 auf 1,5 Billionen DM – eine unglaubliche
Zahl. Kann sich das jemand vorstellen? Unsere Steuer-
zahler müssen jede vierte Mark nicht für die Tilgung,
sondern für die Zinsen ausgeben. Herr Ulrich Heinrich,
es sollte wohl offensichtlich sein, daß Handlungsbedarf
besteht.
Sehr geehrte Damen und Herren besonders von der
CDU/CSU und der F.D.P., in den Agrarbereich sind die-
se Milliarden jedenfalls nicht geflossen, ganz im Ge-
genteil. Der Agrarhaushalt wurde in der Regierungszeit
der alten Bundesregierung gerupft und gerupft: seit 1991
minus 16,8 Prozent. Besonders wurde die GA – die
Gemeinschaftsaufgabe – geplündert. Sie war die einzi-
ge Möglichkeit, investiv zu unterstützen, Wirtschafts-
spielräume und neue Handlungsspielräume zu eröffnen.
Zu Lasten der Landwirtschaft und zu Lasten der länd-
lichen Räume wurden Mittel für die Gemeinschaftsauf-
gabe von 2,6 Milliarden DM 1983 auf 1,7 Milliarden
DM 1998 gekürzt. Die Kürzung lag also bei fast 1 Mil-
liarde DM.
Gleichzeitig gingen die Komplementärmittel verlo-
ren. Wenn man das anspricht, entgegnen Sie immer so-
fort: Die Bundesländer wollen ja nicht usw., usf. Aber
das ist doch nicht das Problem. Sie haben ihnen die
Komplementärmittel genommen und damit im übrigen
auch die Möglichkeiten, auf EU-Mittel zuzugreifen. Es
handelt sich um Komplementärmittel von über 1,2 Mil-
liarden DM. So sieht Ihre Bilanz aus. Darauf sollten Sie
wahrhaftig nicht stolz sein.
Die Ergebnisse dieser Agrarpolitik lassen sich auch
im Agrarbericht oder in den Situationsberichten des
Bauernverbandes ohne weiteres nachlesen: Arbeits-
platzvernichtung in einem hohen Ausmaß – über eine
halbe Million Arbeitsplätze sind in der Landwirtschaft
verlorengegangen, eine große Zahl von Betrieben mußte
aufgeben. Herr Deß, darauf sind Sie doch nicht etwa
auch noch stolz? Sie haben den Bauern und ebenfalls
dem ländlichen Raum die Perspektive genommen.
Es ist nun Aufgabe der neuen Regierung, eine neue
Weichenstellung vorzunehmen. Mit der Kritik an der
Agenda 2000 übertünchen Sie doch nur Ihre eigene Un-
fähigkeit, diese Fehlentwicklungen aufzuhalten. Die
Agenda ist in der ersten Säule ganz klar die Fortsetzung
Ihrer Politik der Agrarreform von 1992, nämlich eine
Politik der Preissenkung und des staatlichen Ausgleichs.
In der zweiten Säule, die wir und im übrigen auch die
Kommission unterstützt haben, hat die Agenda 2000
durch Ihre Bundesregierung und durch Ihren Minister
überhaupt keinen Rückhalt erfahren. Sie haben auf ein
„Weiter so“ gesetzt. Sie haben sehenden Auges das
Schiff an den Eisberg gefahren. Minister Funke hat
einen Kompromiß geschaffen, er hat die Situation ent-
schärft, und dafür ist er zu unterstützen.
Was Sie hier machen, ist reiner Populismus und
Wählertäuschung. Auf Dauer trägt auch diese Strategie
nicht. Die Agenda 2000 ist nicht die Ursache, sondern
das Ergebnis einer falschen Agrarpolitik der letzten
Jahrzehnte. Was wir machen, ist der Ansatz der Kor-
rektur und eine Erneuerung.
Das ist auch das Ergebnis der Anhörung gestern.
Auch Ihre eigenen Experten haben deutlich gemacht,
was es in den letzten Jahrzehnten und insbesondere in
den letzten Jahren Ihrer Bundesregierung für einen Re-
formstau gegeben hat. Selbstverständlich habt ihr jetzt
eine komfortable Rolle. Wir müssen die Suppe auslöf-
feln, die ihr uns eingebrockt habt. Wir müssen den
Schmutz wegräumen, den Sie gemacht haben; aber dafür
müssen Sie die Verantwortung übernehmen.
Die alte Bundesregierung, die abgelöste Firmenleitung,
hätte Konkurs anmelden müssen.
Zum Agrarbericht. Die noch gestern getroffene Be-
wertung hinsichtlich der Subventionspolitik ist doch in-
teressant. Nach wie vor kommen allenfalls 50 Prozent,
eher noch 40 Prozent der Subventionen in der Landwirt-
schaft an. Herr Professor Wolffram hat das „Diebstahl“
genannt. Es handelt sich um Geldverschwendungs- bzw.
Geldvernichtungspolitik zu Lasten der Steuerzahler. Es ist
doch nicht die Aufgabe, eine solche Politik weiterzufüh-
ren, sondern vielmehr, etwas ganz anderes zu tun, näm-
lich dafür zu sorgen, daß neue Rahmenbedingungen ge-
schaffen werden, die nicht auf einer solchen Art von staat-
lichen Leistungen oder eben Nichtleistungen bestehen.
Kollegin Höfken, ge-statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?Ulrike Höfken
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Ja.
Verehrte Frau Kollegin
Höfken, Sie haben gerade eben Professor Wolffram zi-
tiert. In der Tat, die Zitate waren richtig. Aber würden
Sie bitte zur Kenntnis nehmen und bestätigen wollen,
daß sich diese Aussagen auf die verabschiedete Agenda
2000 und auf ihre Wirkung bezogen haben?
Das
war alles?
Ich will nur sagen, daß genau diese Agenda 2000 das
ist, was Sie politisch letztendlich immer gewollt haben.
1992 haben Sie die Grundlagen geschaffen; das ist die
Fortsetzung, und es hat kein einziges Konzept und kei-
nen Gegenvorschlag dieser Bundesregierung gegeben.
Das ist nichts anderes als die reine Wahrheit. Nichts an-
deres haben Sie gewollt, sondern Sie haben auf ein
„Weiter so“ gesetzt.
Für die Zukunft kommt es nun darauf an, die Akzente
neu zu setzen und die Rahmenbedingungen für die zu-
kunftsfähigen Wirtschaftsweisen neu zu gestalten.
Kollegin Höfken,
Herr Kollege Heinrich will noch einmal nachfragen.
Ja.
Frau Kollegin Höfken, es
geht heute auch um die Bewertung der Agenda 2000.
Herr Staatssekretär hat sie als eine brauchbare Grundla-
ge bezeichnet und hat sie gelobt. Sie gehen jetzt sehr,
sehr kritisch mit der Agenda 2000 um, bzw. Sie teilen
die Kritik der Professoren an der Agenda 2000. Die
Agenda 2000 wurde in Berlin unter der Ratspräsident-
schaft der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet.
Teilen Sie die Auffassung der Bundesregierung, oder
teilen Sie die Auffassung der Bundesregierung nicht?
Esist ein Unsinn, hier zu erzählen, die Agenda 2000 sei einKind dieser rotgrünen Bundesregierung. Es war nur dieAufgabe und auch nur die Möglichkeit dieser Bundes-regierung, hier korrigierend und unterstützend in diezweite Säule, wo es positive Ansätze gibt, hineinzuwir-ken, und nicht, die Politik fortzusetzen, die in der erstenSäule angelegt worden ist. Das war einzig und alleinIhre Politik.
Es geht jetzt darum, daß es gesunde und rückstands-freie Nahrungsmittel gibt, das heißt, die Nachfrage derVerbraucher und die Anforderungen der Gesellschaft zuerfüllen. Die Skandale kosten doch mehr Geld, als durchSubventionen je ausgeglichen werden kann. Nicht dieBauern sind dabei die Hauptschuldigen – damit dieseUnterstellung nicht wieder kommt –, sondern diese Artvon Agrarpolitik, die zum Beispiel in den Futtermehl-skandalen ihren Höhepunkt findet.Wir werden alles daran setzen, die Ökologisierungder Produktion und die regionale Produktion durch dieHerkunftskennzeichnung, die immer noch nicht umge-setzt wird, durch die Förderung von regionaler Verar-beitung und Vermarktung, durch eine Förderung derökologischen Landwirtschaft, die Stärkung der Agrar-umweltprogramme und eine entsprechende Absicherungder Gemeinschaftsaufgabe zu unterstützen, die wir nichtso rupfen werden, wie Sie das getan haben.Zum zweiten geht es darum, die Umwelt zu erhalten.Gesellschaftliche Leistungen müssen honoriert werden.Auch hier haben wir einen Ansatz geliefert. Ich meinewirkliche, nachvollziehbare Leistungen; es dürfen nichtnur scheinbare Leistungen sein. Wir werden dazu dieAgenda 2000 und die Gemeinschaftsaufgabe nutzen.Das Förderprogramm für erneuerbare Energien ist einAnsatzpunkt, hier Einkommenswirkungen zu erzielen,Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen und auch die Naturund die Umwelt zu schützen.
Zum dritten geht es um die artgerechte Tierhaltung.Auch das ist eine Nachfrage dieser Gesellschaft, dienicht ausreichend befriedigt wurde. Auch hier werdenwir die Abschaffung der Käfighaltung anstreben, dieAufnahme des Tierschutzes in die Verfassung unterstüt-zen und durch eine Verbesserung der Haltungsverord-nung endlich die große Nachfrage nach tiergerechtenProduktionen befriedigen. Das ist eine Nachfrage, dieauch bezahlt wird. Die bisherige Agrarpolitik und dieStrategie des Bauernverbandes haben diese kaufkräftigeNachfrage niemals befriedigt.Ich will nur einen Satz zum Thema Wettbewerbsfä-higkeit sagen. Es geht um die Milchpolitik. Diese Bun-desregierung wird jetzt regelrecht mit Drohungen er-preßt, es werde geklagt werden, wenn man etwa denEigentumswert der Quote unterlaufen wolle. DieserEigentumswert – das muß man sagen – wurde einmaldurch eine staatliche Zuteilung geschaffen. Auf dieseSeite schlagen Sie sich jetzt. Das nennen Sie auch nochMarktmodell. Da müßte der F.D.P. doch eigentlich dieZunge im Mund gebrechen! Was man damit will, ist, eindurch staatliche Zuteilung erfolgtes Privileg zu verteidi-gen. Nur das läßt sich zu den Punkten Wettbewerb undKostenreduzierung sagen.Man kann den Hund nicht zum Jagen tragen, und mankann die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen. Abernichtsdestotrotz muß man feststellen: Wenn ein Erfolgunserer Koalition auf diesem Gebiet nicht möglich ist,dann haben die Bauern das Ihnen und dem Bauernver-band zu verdanken, der nicht bereit ist, eine Reform an-zugehen, sondern der in puncto Wettbewerbsfähigkeit
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3696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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und Belastungen der Bauern alles so lassen will, wie esist.
Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, daß es zueiner realen Stärkung der aktiven Betriebe kommt. Fallsdas von uns Geplante nicht zustande kommen sollte,dann liegt das in Ihrer Verantwortung.Vielen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Gerald Thal-
heim.
Vielen Dank, Herr
Präsident! Herr Kollege Heinrich, Sie haben mir den
Vorwurf gemacht, daß ich in meiner Rede einen
Zusammenhang zwischen dem Dioxinskandal und der
Agrarpolitik hergestellt habe. Diesen Vorwurf möchte
ich ausdrücklich zurückweisen.
Erstens. Wenn Sie richtig zugehört hätten, dann hät-
ten Sie erkennen können, daß der Kollege Deß die glei-
che These vertreten hat.
Wenn ich mich richtig erinnere, haben alle durch Beifall
zugestimmt.
Zweitens. Ihr Vorwurf stimmt auch in der Sache
nicht. Natürlich gibt es diesen Zusammenhang. Wir ha-
ben im Bereich der landwirtschaftlichen Produkte einen
fast ruinösen Preiswettbewerb, der am Ende natürlich zu
solchen Skandalen, wie wir sie gegenwärtig in Belgien
erleben, führt.
Wenn Sie, Herr Kollege Heinrich, meine Rede richtig
verfolgt hätten, dann hätten Sie in Erinnerung behalten,
daß ich ausgeführt hatte: Die Marktbeteiligten müssen
sich entscheiden, ob künftig Qualität und Sicherheit oder
ob weiterhin niedrige Preise im Vordergrund stehen
sollen.
Ich denke, Sie haben das gleiche gesagt. Wir werden das
Ziel, daß Qualität und Sicherheit im Vordergrund ste-
hen, nur erreichen, wenn wir gemeinsam dafür eintreten
und nicht versuchen, mit billiger Polemik Punkte zu ma-
chen.
Herr Kollege Hein-
rich, wollen Sie reagieren? – Bitte.
Herr Staatssekretär, ich
hätte mich gefreut, wenn ich mich verhört hätte. Dann
hätte ich alles zurückgenommen. Dann wäre die Sache
erledigt gewesen.
Da Sie aber den Dioxinskandal mit der Höhe der Le-
bensmittelpreise bzw. mit der in der Landwirtschaft be-
stehenden Situation eines starken Preisdrucks in Zu-
sammenhang bringen, war meine Aussage richtig, daß
das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Selbstver-
ständlich beklagen wir alle die bestehende Preisdruck-
situation. Das ist doch gar keine Frage. Das tun wir von
morgens bis abends, und wir versuchen, dagegen anzu-
gehen.
Das aber, was in Belgien stattgefunden hat, betraf die
Beseitigung von Sondermüll, was normalerweise 2 000
DM pro Tonne kostet. Wenn ich diesen Sondermüll dem
Futtermittel beigebe, dann habe ich sogar noch einen
Vorteil. Das war die eigentliche Ursache, und dies hat
mit der Preisdrucksituation überhaupt nichts zu tun.
Für die PDS-
Fraktion erteile ich das Wort der Kollegin Kersten
Naumann.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Berichte und Unter-richtungen der Bundesregierung werden vorgelegt, umsich mit der Politik kritisch auseinanderzusetzen. Ichhätte deshalb von meinen Vorrednern aus der CDU/CSUund der F.D.P. eine selbstkritische Einschätzung bezüg-lich der Agrarpolitik erwartet.
Zur Bilanz des Agrarberichtes gehört, daß in derdeutschen Landwirtschaft der langjährige Trend der Sta-gnation, ja sogar des sogenannten negativen Wachstumsanhält. Deutlicher Ausdruck dafür ist die rückläufigeEntwicklung der Nettowertschöpfung von 3,6 Prozent.Ein Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion wäredurchaus möglich. Dazu müßte allerdings eine Ent-wicklung gefördert werden, die zum Beispiel zur Ablö-sung der Futtermittelimporte durch Eigenproduktionführt. Damit könnte zugleich ein wirkungsvoller Beitragzur Bekämpfung des Hungers auf der Welt geleistetwerden.
Wachstum wäre auch durch die Förderung regionalerMärkte und des Marketings für ökologisch erzeugteProdukte möglich. Und schließlich ließe sich eine Stär-kung des Binnenmarktes durch den weiteren Anbau vonnachwachsenden Rohstoffen und von regenerativenEnergieträgern erreichen.Ergebnis der Politik der abgewählten Regierung ist,daß ein weiteres Mal die gesetzliche Verpflichtung desLandwirtschaftsgesetzes verfehlt wird, den LandwirtenUlrike Höfken
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vergleichbare Einkommen zu sichern. In über 80 Pro-zent der Haupterwerbsbetriebe liegt das Einkommenunter dem Vergleichseinkommen anderer Berufsgrup-pen. In etwa der Hälfte der Betriebe verringert sich dasEigenkapital. Diese Landwirte, meine Damen und Her-ren, leben von der Substanz. Das sollte einmal demWirtschafts- und Finanzkapital passieren!Es ist nicht zu erkennen, was die neue Bundesregie-rung unternimmt, um dem Gewinnrückgang in denHaupterwerbsbetrieben von 2 bis 6 Prozent im laufendenWirtschaftsjahr entgegenzutreten. Sie setzt vielmehr aufVerdrängungswettbewerb. Außerdem hofft sie auf die„Leidensfähigkeit der Bauern“, auf die Bereitschaft, denGürtel noch enger zu schnallen und auf ein höheres Ein-kommen zu verzichten.Eines der gravierendsten Probleme ist – wie man imAgrarbericht lesen kann – die rückläufige Beschäfti-gung. Gegenüber 1995 sank in Ost und West die Zahlder Beschäftigten und die Gesamtarbeitsleistung auf89 Prozent. Laut Agrarbericht will die Bundesregierungdie Förderung von „alternativen Beschäftigungsmög-lichkeiten in den ländlichen Räumen“ vor allem durch„die einzel- und überbetriebliche investive Förderung“erreichen. Dabei läßt sich doch überall beobachten, daßInvestitionen vor allem der Rationalisierung dienen unddamit Arbeitsplätze vernichten.Zu den Prozessen, die die Agrarentwicklung bestim-men, gehört die weitere Öffnung der Preisschere. Wäh-rend die Preise für Nahrungsgüter seit 1991 auf 109 Pro-zent und die für Betriebsmittel auf 107 Prozent gestie-gen sind, fielen die Erzeugerpreise auf 92 Prozent.Hauptursache für diesen Preisverfall ist die marktbe-herrschende Stellung der hochmonopolisierten Handels-ketten und Verarbeitungsbetriebe. Der von der neuenBundesregierung verfolgte Kurs der weiteren Liberali-sierung heizt diesen Prozeß des Preisdiktates und desruinösen Konkurrenzkampfes weiter an.Im Ergebnis der deutschen Einheit sind zwei sehrunterschiedliche Landwirtschaften aufeinandergetroffen.Dieser Konflikt ist nicht vorrangig ein Ost-West-Konflikt, sondern wird zunehmend ein Konflikt zwi-schen den wettbewerbsfähigen und den nicht wettbe-werbsfähigen Agrarunternehmen. Auch die neue Bun-desregierung besitzt kein Konzept zur Überwindung die-ser wachsenden Konflikte. Sie setzt auf die wettbe-werbsfähigen Betriebe und überläßt die anderen ihremSchicksal. Der Agrarbericht macht deutlich, daß dieBauern mit der neuen Bundesregierung vom Regen indie Traufe gekommen sind. Mit der Agenda 2000 hatsich die Regierung zum Strukturwandel, zur Wettbe-werbsfähigkeit, zu Weltmarktpreisen und somit – aufgut deutsch – zum Arbeitsplatzabbau, zum Höfesterbenund zum Abbau des sozialen Sicherungssystems in derLandwirtschaft bekannt.
Fast eine halbe Milliarde DM sollen laut MinisterFunke im Agrarhaushalt im Jahr 2000 und 1,4 Milliar-den DM im Jahr 2003 eingespart werden. Das ist einweiterer Beweis dafür, daß die Landwirtschaft demProfitsystem untergeordnet wird. Unter diesen Bedin-gungen werden sich Ihre Sprüche vom „Leitbild nach-haltig wirtschaftender Betriebe“, von der Herstellung„möglichst geschlossener Stoffkreisläufe“ und von der„Erzielung angemessener Einkommen“ als das erwei-sen, was sie wirklich sind – als bunt schillernde Sei-fenblasen.Im Gegensatz zur Bundesregierung stehen wir, diePDS, zu regionalen Wirtschaftskonzepten und zumökologischen Landbau und nicht nur zu „unserenStrukturen“, wie Herr Minister Funke in seiner Rede amFreitag behauptet hat. Erstens sind es auch seine Struk-turen, denn er ist Landwirtschaftsminister von Gesamt-deutschland, und zweitens vertreten wir ein sozialorien-tiertes Agrarkonzept, das sehr wohl die kleinbäuerlicheStruktur einbezieht.
Denn diese Familienbetriebe leisten ebenso ihren Bei-trag zur Nettowertschöpfung, zur Kulturlandschaftspfle-ge und zum Erhalt der ländlichen Räume.
Mit der Logik des Ministers – die PDS würde nur diegroßen Betriebe und Agrargenossenschaften vertreten –ignoriert er die Familien der Wieder- und Neueinrichterin den neuen Bundesländern; denn er weiß genauso gutwie ich, daß selbst diese sich größere Betriebsstrukturenals Familienbetriebe im Westen aufgebaut haben, umüberleben zu können. Außerdem ist eine Zusammenfüh-rung von Ökonomie und Ökologie gut möglich – unab-hängig von Betriebsgrößen –, wenn es politisch und ge-sellschaftlich nur gewollt ist und entsprechende Rah-menbedingungen gesetzt werden.
Es dürfte auch ihm nicht entgangen sein, daß ökologi-sche Landbaubetriebe gerade in Mecklenburg-Vorpom-mern und Brandenburg Flächen in Größenordnungenvon unter 100 Hektar bis über 1 000 Hektar bewirt-schaften.Meine Damen und Herren, die PDS hat sich in ihremEntschließungsantrag für eine Änderung der Agrarpo-litik ausgesprochen, erwartet aber eine Qualifizierungdes Berichtes. Dazu gehört für uns, die Vergleichbarkeitvon Daten über einen längeren Zeitraum zu sichern, zumBeispiel in der Einkommensentwicklung, die differen-zierte Entwicklung in der Landwirtschaft in Ost undWest weiterhin zu dokumentieren und die Entwicklungder Eigentumsformen, der Betriebsgrößen und Struktu-ren detailliert darzustellen.Auch wenn Ihnen, Herr Kollege Schönfeld von derSPD, beim Lesen der ersten drei Sätze unseres Ent-schließungsantrags schlecht geworden ist, wie Sie mirgestern ja unbedingt mitteilen mußten,
hätten Sie unseren Antrag ruhig zu Ende lesen können.Denn in ihm steht zum großen Teil das, was Sie in IhrenKersten Naumann
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3698 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Wahlkämpfen den Wählerinnen und Wählern vor derWahl vermittelt haben.
Deshalb dürfte es Ihnen und Ihrer Fraktion nicht schwer-fallen, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.Danke schön.
Für die SPD-
Fraktion spricht unser Kollege Gustav Herzog.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der Dioxinskandal in unseremNachbarland Belgien hat viele Leidtragende. Dazu gehö-ren unsere Landwirte sowie die vor- und nachgelagertenBetriebe der Lebensmittelindustrie und des Handels, diesich völlig unschuldig mit Nachfragerückgängen derVerbraucher herumärgern müssen. Wie so oft bei Le-bensmittelskandalen: der ökologische Landbau und derNaturkosthandel sowie – und das hat nichts mit Öko zutun – die regionalen Erzeugungsinitiativen mit nachvoll-ziehbaren Warenströmen sind in der Gunst der Verbrau-cher gestiegen.
Aber auch vor diesem Skandal gab es eindeutigeHinweise für den weiter wachsenden Erfolg der ökologi-schen Erzeugung. Von einem boomenden Absatz beiBioprodukten im britischen Einzelhandel berichtete derAbsatzförderungsfonds im Mai dieses Jahres, nachzule-sen in der regelmäßigen Berichterstattung der ZMP imMai 1999. Die Prognosen für das Wachstum im Jahr2000 gegenüber 1997 scheinen schwindelerregend: über800 Prozent bei Schweinen und immerhin 150 Prozentbei Milchprodukten. Begrenzend hierfür, so sagen dieMarktforscher, seien nur die Lieferschwierigkeiten,
weil die inländische britische Erzeugung gar nicht soschnell von konventioneller Wirtschaftsweise auf ökolo-gische Erzeugung umstellen könne.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es nichthierhergehört, will ich, weil es meiner persönlichenÜberzeugung entspricht, hinzufügen: In den britischenRegalen bleiben die gentechnisch veränderten Produktestehen. Das sind Ladenhüter, die vom Handel wieder zu-rückgenommen werden.
Das Geschäft in Großbritannien allerdings wollen vorallem die Dänen machen. In den nächsten fünf Jahrensollen mit Hilfe eines großen Aktionsplans im Auftragdes Landwirtschaftsministeriums 10 Prozent der ge-samten dänischen Nutzfläche umgestellt werden. Dannwollen die Dänen vor allem auch deutsche Supermärktemit Bioprodukten beliefern. Das, meine Damen undHerren, wäre ausgesprochen ärgerlich. Tatsache ist aber:Deutschland ist längst nicht mehr Europas großer Öko-vorreiter.Der Grund dafür: In Deutschland ist unter der altenRegierung die Entwicklung auf dem Sektor ökologischeErzeugung verschlafen worden. Die Phrase von der„kleinen Marktnische“, aus der der Ökolandbau ohnehinniemals herauskommen werde, haben wir uns viele Jah-re lang fast gebetsmühlenhaft anhören müssen.
Alle parlamentarischen Initiativen, die aus den Rei-hen der SPD-Bundestagsfraktion und von Bündnis 90/Die Grünen immer wieder in Richtung einer Ökologisie-rung des Landbaus eingebracht worden sind, sind vonder damaligen Regierung abgeschmettert worden. DieSondergutachten des Sachverständigenrates für Umwelt-fragen, die sich kritisch mit den Folgewirkungen desPflanzenschutzes auseinandersetzten, sowie die von unsin Anträgen aufgegriffenen Warnungen vor den zuneh-menden bakteriellen Resistenzen auch durch antibioti-sche Leistungsförderer und vieles andere mehr ver-schwanden in den Schubladen der alten Bundesregie-rung.
Forschungsmittel des BML waren lange Zeit Fehlan-zeige.Durch diese Politik von gestern haben unsere Land-wirte erhebliche Marktanteile auf dem Biomarkt nicht er-obern können. Das haben andere für sie erledigt. Wenneinmal Förderungsmittel bewilligt wurden, dann gingensie immer nur in die Erzeugung. Daran, die Förderung derVermarktung voranzutreiben, haben Sie nicht gedacht.Österreich hat bereits 30 Prozent seiner Fläche auf ökolo-gische Bewirtschaftung umgestellt; in Deutschland sind esweniger als 3 Prozent.Auch wenn wir in Deutschland wie beschrieben hin-terherhinken: Der wirkliche Durchbruch für Ökopro-dukte kann kommen, wenn die Verbraucher größeresVertrauen in die Ökokennzeichnung haben. In einerCMA-Umfrage haben kürzlich noch zwei Drittel der Be-fragten Skepsis geäußert, ob „Bio“ drin ist, wo „Bio“draufsteht. Nach Jahren des Verhandelns haben sichCMA und die Anbauverbände des ökologischen Land-baus endlich auf ein gemeinsames Zeichen geeinigt. Eswird neue Absatzwege eröffnen und für den Verbrau-cher hoffentlich Licht in den Kennzeichnungsdschungelbringen.
In der gestrigen Anhörung zu den Folgen der Agenda2000 haben die Experten in schriftlichen Ausführungenfast ausnahmslos steigende Absätze für den ökologi-schen Landbau vorhergesagt.
Meine Damen und Herren, der Agrarbericht weistwieder einmal aus, wie schwierig die Einkommensver-Kersten Naumann
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hältnisse der landwirtschaftlichen Betriebe sind. Dasgilt auch für die ökologische Landwirtschaft. Sie ist ins-besondere gefordert, ein hohes Maß an Kreativität undRisikobereitschaft sowie die Fähigkeit zu zeigen, neueWege zu erkennen und Partner dafür zu finden, sie be-gehbar zu machen. Das heißt auch für die Ökolandwirte,daß sie sich zusammenschließen müssen, um größerePartien zu erstellen und um den Markt mit Ökoproduk-ten zu beliefern. Hierzu müssen eine Reihe von Durch-führungsverordnungen verändert werden. Hiervon wirddie gesamte Landwirtschaft profitieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Dies war die erste
Rede des Kollegen Gustav Herzog im Bundestag. Dazu
unsere herzliche Gratulation.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Car-
stensen, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Zuerst ein Wort zu Albert Deß. Lieber Kollege Deß, ichkann mir gut vorstellen, daß du sehr stolz auf das Wahl-ergebnis in deiner Gemeinde bist. Ich darf dir sagen, daßdie CDU in Nordfriesland ähnliche Ergebnisse erreichthat.
– Nun hört doch einmal zu und freut euch mit mir! – Inmeiner Gemeinde Elisabeth-Sophien-Koog hat die CDUmehr als 94 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von weitüber 60 Prozent erreicht.
In meiner Gemeinde haben wir nur ein kleines Pro-blem: Ein Einwohner hat Grün gewählt, und wir wissennicht, wer das unter den 29 Wahlberechtigten ist.
Aber bei nur 29 Wahlberechtigten finden wir ihn heraus.
– Nein, diese Vermutung kam zwar auf, aber ich war esnicht. Das Wahllokal ist nämlich das Wohnzimmer mei-nes Bruders, der der Bürgermeister ist. Wer richtigwählt, bekommt von ihm ein Frühstück. Deswegen ha-ben wir immer eine ganz gute Übersicht.
Meine Damen und Herren, der Agrarbericht ist einSpiegelbild für die Agrarpolitik der letzten Jahre. LieberHerr Staatssekretär Thalheim, in all den Jahren, in denenich im Deutschen Bundestag bin, habe ich es noch nieerlebt, daß ein Agrarbericht so kümmerlich vorgetragenworden ist wie heute. Sie sind nicht auf eine Zahl einge-gangen, die im Agrarbericht enthalten ist. Ich kann diesnatürlich verstehen: Sie hätten über eine Ernte sprechenmüssen, für deren Aussaat und Pflege Sie die Verant-wortung nicht zu übernehmen brauchten, weil JochenBorchert und der Bundeskanzler in den letzten Jahrendies für die Landwirtschaft getan haben. Deswegen ha-ben Sie sich gescheut, die Zahlen über diese gute Arbeitaus dem Agrarbericht vorzutragen.Wenn im Agrarbericht die Aussage enthalten ist, daßwir einen Strukturwandel von weniger als 2 Prozent ha-ben, dann bin ich einmal gespannt, wie sich in den näch-sten Jahren der Strukturwandel nach Ihrer Agrarpolitikdarstellen wird.
Es hat sich etwas in der Agrarpolitik geändert. Daswar auch die Meinung des Staatssekretärs Wille auf derGrünen Woche. Er hat nämlich gesagt: Die Agrarpoli-tik hat bei der jetzigen Bundesregierung einen anderen– einen niederen – Stellenwert.
Wenn man sich einmal mit Beamten des Ministeriumsund mit Beamten, die in den letzten Jahren mit Agrar-politik zu tun gehabt haben, unterhält, dann hört manvon ihnen: Die alte Regierung hat uns aufgefordert, Be-gründungen zu finden, um den Bauern Geld zu geben,wie zum Beispiel im Fall der Vorsteuerpauschale, desWährungsausgleichs und ähnlicher Dinge. Heute werdenwir aufgefordert, Begründungen zu suchen, um bei denBauern Geld einsparen zu können. – Das ist eine funda-mental andere Agrarpolitik und Einstellung, Herr Kolle-ge Weisheit. Ich staune darüber – darauf komme ichgleich noch zu sprechen –, wie ihr in der Arbeitsgruppe,wie ihr in der Fraktion da noch mitmacht.Meine Damen und Herren, die Neuentwicklung derAgrarpolitik wird von drei Punkten geprägt sein. Siewird geprägt sein von der Agenda 2000, die vollzogenist, aber in einigen Punkten noch ausgefüllt werden soll.Sie wird geprägt sein von WTO-Verhandlungen. Siewird davon geprägt sein, wie die Bundesregierung mitdiesen beiden Punkten umgeht. Bei allen drei Punktenverheißt es für die Bauern nichts Gutes.Ein paar Worte zur Agenda 2000. Wir haben gesterndie Anhörung gehabt. Wie die SPD in einer Pressemit-teilung behaupten kann, daß der eingeschlagene Kursbestätigt worden ist, kann ich nach der Anhörung – ichbin die ganze Zeit dabeigewesen – überhaupt nichtnachvollziehen. Frau Wolff, Sie haben von Planungs-sicherheit gesprochen. Die ersten Sachverständigen ha-ben alle gesagt, Planungssicherheit sei überhaupt nichtmehr gegeben. Nun verzeihen wir Ihnen das; in die ersteRede kann man so etwas einmal hineinbringen. Aberdadurch wird es nicht richtiger. Planungssicherheit istüberhaupt nicht mehr vorhanden.Es ist bei dieser Anhörung auch nichts schöngeredetworden. Wenn die Nordrhein-Westfalen, die wirklichGustav Herzog
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nicht in Verdacht stehen, in ihrer Politik CDU-freundlich zu sein, gestern über die Agenda 2000 gesagthaben, das seien Kompromisse gewesen, die niemandenzufriedenstellen, dann können Sie doch nicht sagen, dassei ein spitzenmäßiges Ergebnis. Karl-Heinz Funke istdoch nicht hier für eine Büttenrede. Insofern brauchenwir das nicht zu wiederholen. Die Leute wissen doch,was Sie mit der Agenda gemacht haben. Die Quittunghabt ihr doch am letzten Sonntag gekriegt.
– Aber natürlich habt ihr sie gekriegt. Nun erzählt mirnoch, daß das ein Wahlsieg von euch war; dann werdeich aber verrückt.Wenn Mecklenburg-Vorpommern erzählt, MatthiasWeisheit – es ist ja auch kein CDU-Minister, der dasitzt; ich sehe Herrn Backhaus gerade hier; schön, daßzwei Länderminister hier sind –, daß es in seinem Landwahrscheinlich zu Verlusten in Höhe von 180 DM proHektar kommen wird, wobei der Bauernverband von ge-ringeren Verlusten spricht – er spricht von 1,5 Milliar-den DM Verlusten in der deutschen Landwirtschaft –,dann können Sie doch nicht sagen, daß das ein spitzen-mäßiges Ergebnis ist.Wenn die Länder sagen: „Leute, ihr bringt uns einenbürokratischen Aufwand, der überhaupt nicht mehr zufinanzieren ist, mit Anlastungsgefahren und ähnlichenDingen,“ – wenn ich es richtig im Ohr habe, KollegeRonsöhr, hat Niedersachsen gesagt, daß 150 Beamtemehr notwendig sind, um das zu vollziehen – „mit riesi-gen Kosten, mit mehreren 100 Millionen DM an Ver-waltungskosten in Deutschland“, dann muß man dasdoch ernst nehmen, wenn jemand sagt, es werde schwerwerden, den Bauern zu erzählen: Paßt mal auf, wir ha-ben einen höheren Verwaltungsaufwand für das, was wireuch dann weniger geben. – Da kann man sich dochnicht hierhinstellen und sagen, das sei ein Erfolg mit derAgenda 2000 gewesen.Der Verwaltungsaufwand wird riesengroß. Herr Mi-nister Buß, Klaus, ich habe gehört, daß es in Nordfries-land schon eine Initiative gibt. Da wollen die Leute vonder Bullenmast runter. Sie wollen in den Betrieben jetztKänguruhs züchten, und zwar nicht wegen des besserenFleisches, sondern weil sie in ihren Beuteln die Formu-lare tragen können, die gebraucht werden, um die An-träge zu stellen.
Das zeigt doch, daß diese Agrarpolitik wirklich in dieHose geht.Ich zitiere einmal, was der Minister vor wenigenTagen beim Raiffeisenverband in Lübeck gesagt hat:Die deutsche und europäische Ernährungswirtschaftmuß von den sich abzeichnenden Chancen auf demWeltmarkt profitieren können. Dazu muß ihreWettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.Jetzt geht es los mit der Wettbewerbsverschärfung.Wenn man den Wettbewerb stärken will, dann muß manin der Agrarpolitik doch auch einmal ein paar Ziele se-hen können. Haben Sie, meine Damen und Herren, beiirgendeiner Rede des Ministers schon einmal Ziele for-muliert bekommen und gehört?
– Ja? Dann kennt ihr diese Rede. – Es ist ja so, daß man-ches, was in dieser Regierung an neuen Perspektivenformuliert wird, nicht in Deutschland gesagt wird. DerHerr Schröder macht das mit Blair zusammen in Lon-don, und Karl-Heinz Funke nennt die Ziele bei derSPÖ in Österreich. Da finde ich in einer Rede, die er imMärz in Österreich gehalten hat:Die amtierende Bundesregierung hat sich insbeson-dere folgende Ziele in der Agrarpolitik gesetzt undwird diese nicht nur national, sondern auch aufeuropäischer Ebene verfolgen:Erstens die Landwirtschaft muß umweltverträg-licher werden. Die Flächennutzung muß künftignatur- und landschaftsverträglich gestaltet werden.
Da möge man mir bitte einmal sagen, ob das vorhereigentlich nicht der Fall gewesen ist.
– Das ist vorher nicht gewesen? Herr Weisheit, dann er-zählen Sie das bitte auch vor den Bauern, daß sie vorherkeine natur- und landschaftsverträgliche Landwirtschaftgemacht haben. Dann stellen Sie sich hier hin und sa-gen: Ihr habt in den letzten Jahren keine naturverträgli-che Landwirtschaft gemacht.Ich fahre aus der Rede des Ministers fort:Zweitens ist ein großflächiges Biotopverbundsy-stem mit 10 Prozent der Landesfläche zu schaffen.Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?
Glaubt ihr, daß das die Zukunftsfähigkeit der Landwirt-schaft nach der Agenda und nach der WTO stärkt? Nein,ganz im Gegenteil. Man müßte dort andere Punkte se-hen. Man muß dort andere Punkte anpacken, um etwaszu erreichen.Nun könnte man fragen: Was machen die Jungsdenn? Was bekommen sie hin? Was tun sie denn? Läßtsich hier nicht etwas finden, das die Position der Land-wirtschaft am Weltmarkt stärkt?
Kollege Carstensen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Aber natürlich.
HerrCarstensen, zum Thema eines Biotopverbundsystemsmöchte ich auf die FFH-Richtlinie zu sprechen kommen.Ist es nicht reine Heuchelei, zu sagen, es sei ein Unding,die Naturata 2000 sowie Natur- und Umweltschutz zuunterstützen, und das noch als gegen die Bauern gerich-Peter H. Carstensen
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tet zu begreifen, wenn gleichzeitig die alte Bundesregie-rung 1992 die FFH-Richtlinie mit allen Konsequenzenunterschrieben hat
und Sie nun plötzlich, gerade Sie aus Schleswig-Holstein, einen Kampf um sogenannte Enteignung füh-ren?Das ist ein Politikverständnis, das jenseits der gutenSitten liegt und das ignoriert, daß die Landwirtschaft,die Bauern mit der Honorierung gesellschaftlicher Lei-stungen im Natur- und Landschaftsschutz Einkom-mensmöglichkeiten haben, die akzeptiert sind, die dieGesellschaft unterstützen möchte und die auch dieseBundesregierung unterstützen möchte.
Ichhabe gar nichts dagegen, wenn Leistungen in der Naturwie Biotopverbesserungen und ähnliche Dinge gemachtund dann auch finanziert werden, Frau Kollegin Höfken.
Sie wissen, daß die Diskussion bei der FFH-Richtlinie über die Entschädigung ging. Wir haben einesder wenigen klaren Worte, die von Karl-Heinz Funke imAusschuß gekommen sind, gehört, indem er gesagt hat:Wer Auflagen macht, die über die ordnungsgemäßeLandwirtschaft hinausgehen, muß sie auch finanzieren.
Da haben wir gesagt: Das kennen wir doch, das habenwir doch im letzten Jahr diskutiert. Er hat dann gesagt:Nein, euer Vorschlag war ein anderer. Ihr habt immergesagt, die Länder müssen das finanzieren, und ich sage,jeder der die Auflagen macht, muß das finanzieren. –Legen Sie das doch bitte einmal auf den Tisch! LegenSie einen Antrag vor! Wir werden ihn unterstützen.Zur Ihrer Frage zu den von mir diskutierten Punkten,Frau Kollegin Höfken: Sie können doch nicht erwarten,daß die Bauern, die Sie im Moment in tieferes Wasserschicken, denen Sie schwerere Bedingungen für ihrWirtschaften auferlegen – es ist unbestritten, daß es soist –, denen Sie ohne Schwimmweste noch zusätzlicheBelastungen ans Bein binden, dann besser schwimmen.Das kann ich nicht begreifen.Ich kann nicht begreifen, daß Sie über eine bessereWettbewerbsfähigkeit für die Landwirte sprechen, daßSie davon sprechen, daß Sie die Landwirte in den Marktstellen wollen, und dann mit Maßnahmen kommen, wieSie sie in den letzten Wochen ergriffen haben. Die ge-genwärtige Haushalts- und Steuerpolitik führt zu Ein-kommensverlusten, und ihr macht das mit. Die Absen-kung der Vorsteuerpauschale bringt für die Landwirt-schaft eine Belastung von 400 Millionen DM mit sich,und ihr macht das mit. Die Streichung und Absenkungvon Freibeträgen machen für die Landwirtschaft 350Millionen DM aus, und ihr macht das mit. Der Abbauder allgemeinen Regelungen im Steuerrecht bedeutetnoch einmal 500 Millionen DM Einbußen, und ihrmacht das mit, ohne daß hier von euch Protest kommt.Die Ökosteuer bedeutet 350 Millionen DM Belastungfür die Landwirtschaft. Ihr macht das mit, ohne daßProtest kommt.Ihr sagt, das ist richtig, und ihr sagt, es ist richtig, daßsich die Landwirte in den Markt stellen. Ihr sagt, es istrichtig, daß man den Landwirten Klötze ans Bein bindet.Matthias, ihr habt in der Fraktion die neuen Schwei-nereien schon mitgemacht, die offensichtlich nochkommen: Da haben wir den Abbau von Vergünstigun-gen wie der Dieselkraftstoffrückvergütung, die berech-tigt gewesen sind, sowie einen Prozentpunkt weniger beider Vorsteuerpauschale. Die Österreicher erhöhen dieVorsteuerpauschale, und ihr senkt die Vorsteuerpau-schale. Wenn ihr da einen weiteren Prozentpunkt her-untergeht, wißt ihr genau, daß die Vorsteuerpauschaledamit gestorben ist. Dann braucht ihr sie überhaupt nichtmehr. Dann müßt ihr das den Bauern aber mal ehrlichsagen.Nein, meine Damen und Herren, nur andersherumkann das etwas werden: Wir brauchen die Mittel, die fürdie Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung stehen, für diewirtschaftenden Betriebe. Ich sehe, daß die mir verblei-bende Redezeit schon auf Null ist, aber ich will noch daseine sagen: Klaus Buß, bei aller Freundschaft, das, wasin Schleswig-Holstein gemacht wird – daß in den letz-ten Jahren, von 1996 an, nahezu 30 Millionen DM Bun-desmittel nicht ausgegeben worden sind, damit 49 Mil-lionen DM Zuschuß nicht an Bauern gingen und da-durch mehr als 200 Millionen DM Investitionen in derLandwirtschaft nicht getätigt worden sind –, kann nichtangehen.Ich habe natürlich gesagt: Wenn Klaus Buß im Amtist, wird sich das ändern. An den Zahlen des letzten Jah-res konnte man erkennen, daß nicht noch mehr zurück-geführt wurde. Aber ihr macht einen schönen Trick: Ihrruft weniger ab. Dann wird natürlich auch nichts mehrzurückgegeben. Hier habe ich die Zahlen: Für Schles-wig-Holstein waren im Rahmenplan 93,6 Millionen DMbewilligt, und davon wurden nur 87,6 Millionen DMabgerufen. So kann man das natürlich auch machen, umdie Bilanz zu schönen.Nein, das Geld, das zur Verfügung steht, muß in diewirtschaftenden Betriebe fließen. Darüber hinaus muß– auch das ist gestern bei der Anhörung deutlich gewor-den – der Abbau von Restriktionen in Angriff genom-men werden. Ihr in den Ländern habt doch die „schwar-ze Liste“ der Wettbewerbsverzerrungen zwischen deneinzelnen Bundesländern. Wir können doch nicht aufder einen Seite Wettbewerbsverzerrungen zwischen denBundesländern zulassen und auf der anderen Seite dasZiel verfolgen, unsere Bauern wettbewerbsfähiger zumachen. Leute, es ist doch genügend zu tun. Aber dannmüßt ihr, Matthias Weisheit, die ihr in der Fraktion et-was von Landwirtschaft versteht, auch einmal aufschrei-en, wenn euer Finanzminister solche Sachen vorhat.Das, was im Moment passiert – mehr Wettbewerbs-fähigkeit zu fordern, aber dann zusätzlichen Belastungenzuzustimmen –, geht nicht. Das ist ein Knoten, den auchihr nicht auflösen könnt. Wir werden uns wundern, wieUlrike Höfken
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die Agrarberichte in den nächsten Jahren aussehen. Einweiterer Strukturwandel wird dazu führen, daß die Bau-ern ersaufen, weil sie angesichts dieser Belastungennämlich nicht mehr schwimmen können.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Kollegin Steffi
Lemke.
HerrPräsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! Der Agrar-bericht 1999 ist der erste Agrarbericht der rotgrünenBundesregierung. Ihm liegen allerdings vorwiegend dieDaten des letzten Wirtschaftsjahres zugrunde. Insofernhandelt es sich im Feststellungsteil um eine Dokumen-tation des Zustandes der deutschen Landwirtschaft imZeitraum vor dem Regierungswechsel. Herr Carstensen,Sie haben sich als bisher einziger Redner der Oppositionbemüht, sich wenigstens mit dem Agrarbericht ausein-anderzusetzen.
Sie hätten aber nicht selektiv nur die positiven Zahlenherausziehen sollen, sondern hätten eine Gesamtbe-trachtung der positiven und der negativen Aussagen an-stellen müssen. Dann könnten Sie, Herr Carstensen,nicht ausblenden, daß Sie uns mit Ihrer Politik einstrukturelles Haushaltsdefizit von 30 Milliarden DMhinterlassen haben.
Glauben Sie, mir macht die Politik, die wir jetzt hier zuvertreten haben, in allen Punkten Spaß? Auch ich würdelieber die Gasölbeihilfe aufstocken oder die Vorsteuer-pauschale für bestimmte Betriebe auf ihrem Niveau be-lassen bzw. erhöhen. Aber das Haushaltsdefizit, das Siezu verantworten haben und das abzutragen die rotgrüneBundesregierung sich zum Ziel gesetzt hat, lastet aufmeiner und den nachfolgenden Generationen. Dafür tra-gen Sie die Verantwortung.
Der Agrarbericht 1999 dokumentiert die neueSchwerpunktsetzung in der Agrarpolitik der Koalition.Er stellt deshalb die Ziele der Bundesregierung an zen-traler Stelle des Berichtes, nämlich am Anfang, dar undthematisiert erstmals und ausdrücklich die Wechselwir-kung mit anderen Politikbereichen. Die Bundesregie-rung hebt mit diesem Agrarbericht auch die zentraleRolle des Verbraucherschutzes für die Zukunft derlandwirtschaftlichen Betriebe hervor und wird darin lei-der durch den aktuellen Dioxinskandal bestätigt. ImAgrarbericht heißt es:Die Bundesregierung wird den vorsorgenden ge-sundheitlichen Verbraucherschutz und den Schutzvor Täuschung stärken sowie die Verbraucher-information verbessern.
Diesem Ziel messen wir allerhöchste Priorität bei.
Die Herstellung und der Vertrieb gesundheitsgefährden-der Lebensmittel – sei die Gefährdung nun durchSchlamperei oder durch kriminelle Energie verursacht –,sind kein Kavaliersdelikt. Hier geht es nicht nur darum,die akute Gefährdung von Personen abzuwehren, son-dern es geht gleichermaßen um die wirtschaftliche Exi-stenz der Betriebe. Denn auch wenn die deutsche Land-wirtschaft für den aktuellen Dioxinskandal nicht dieVerantwortung trägt – das will ich deutlich sagen –,
so sitzt sie doch mit der europäischen Landwirtschaft indiesem Punkt in einem Boot.Verehrter Kollege Heinrich – –
– Er ist weg? – Gut, macht nichts. – Was er hier darge-stellt hat, hat nichts mit Landwirtschaftspolitik zu tun.Genau diese Art von „Augen zu und durch“ ist es, wel-che die Verbraucher immer wieder in Verunsicherungstürzt und von bestimmten Produkten Abstand nehmenläßt. Der belgische Dioxinskandal stellt nur einen Höhe-punkt in der langen Liste von Lebensmittelskandalendar. Wir sollten deren Auswirkungen auf das Verbrau-cherverhalten und vor allem auf das damit verbundeneMarktgeschehen nicht unterschätzen.Die Bundesregierung hat im Dioxinfall umgehendreagiert, und die zuständigen Landesbehörden habensämtliche verdächtige Ware überprüft. Was wir aberbrauchen, ist ein viel umfassenderer Vorsorgeansatz zurVermeidung derartiger Entwicklungen. Dazu hat dieBundesregierung erstens im Dezember im Agrarmi-nisterrat das Verbot für antibiotisch wirksame Futter-mittelzusatzstoffe, die in der Humanmedizin sehr starkeingesetzt werden, durchgesetzt, eine Entwicklung, dieSie längst hätten vorantreiben müssen, wenn es Ihnenmit dem Verbraucherschutz so ernst wäre, wie Sie esheute dargestellt haben.
Die Bundesregierung wird zweitens entgegen derWTO-Entscheidung der Aufrechterhaltung des Import-verbots für Hormonfleisch aus den USA höchste Prio-rität beimessen, und sie wird sich ebenso massiv für dieAufrechterhaltung des Exportverbots für britischesRindfleisch einsetzen, solange ein wissenschaftlicherNachweis für die Minimierung des BSE-Risikos nichtvorliegt.Ein dritter Punkt in diesem Sinne ist der Beschluß desAgrarministerrates vom vergangenen Dienstag zur Ab-schaffung der Käfigbatteriehaltung von Legehennen.Auch wenn mir dieser Schritt nicht weit genug geht, soPeter H. Carstensen
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ist er doch ein deutliches Signal, daß aus diesem Hal-tungsverfahren ausgestiegen wird, so daß mit dieser Kä-fighaltung in Zukunft Schluß sein wird.
Damit wird übrigens ein Wirtschaftszweig für die land-wirtschaftliche Produktion zurückgewonnen, der fürBauern in der Vergangenheit doch weitgehend verlorenwar.
Als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern willich hier noch einmal die positiven Entwicklungen derAgenda 2000, die für die neuen Bundesländer erreichtworden sind, herausstellen, denn das haben selbst dieostdeutschen Oppositionsabgeordneten bisher nicht fer-tiggebracht.Die vorgesehene Degression der Ausgleichszahlun-gen ab einer bestimmten Betriebsgröße wurde ersatzlosfallengelassen. Damit wurde einer großen Anzahl vonwirtschaftlichen Betrieben Planungs- und Investitions-sicherheit gegeben. Die 90-Tiere-Förderobergrenze beiden Rinderprämien wird zugunsten der ostdeutschenLandwirte nicht eingeführt. Außerdem konnten im Inter-esse der neuen Bundesländer die 150 000 Hektar Grund-flächen gesichert werden.Ich denke, daß diese positiven Entwicklungen eineUrsache in den Verhandlungen der Bundesregierunghaben,
weil vor dem Regierungswechsel klar war, daßCDU/CSU und F.D.P. keineswegs bereit gewesen wä-ren, sich in diesem Sinne für die neuen Bundesländereinzusetzen.Herr Carstensen, Sie haben die Entwicklung derAgenda 2000 heftig kritisiert, Sie haben die Steuerent-scheidungen der rotgrünen Bundesregierung heftig kriti-siert,
Sie haben die Entscheidungen zur Ökosteuer heftig kriti-siert, und Sie haben immer wieder auf die Wettbewerbs-fähigkeit der deutschen Betriebe abgehoben. Ich darfdarauf hinweisen – das ist auch gestern in der Anhörunggefallen –, daß die Steuerbelastung in europäischenVergleichsstaaten um 25 000 DM pro Betrieb höherliegt. Ich bitte Sie, das in die Wettbewerbsdiskussion miteinzubeziehen.
Ich komme zum Schluß. Nur dann, wenn es die deut-schen Betriebe schaffen, den Anforderungen der Ver-braucher an saubere und gesunde Lebensmittel aus derRegion gerecht zu werden, bleiben sie wettbewerbsfähigund haben sie die Möglichkeit, ihre Marktstellung inZukunft noch zu verbessern. Vor dieser Aufgabe stehtdie Landwirtschaft. Die Bundesregierung wird sie beider Bewältigung dieser Aufgabe tatkräftig unterstützen.Danke.
Das Wort hat nun
der Minister für ländliche Räume, Landwirtschaft, Er-
nährung und Tourismus des Landes Schleswig-Holstein,
Klaus Buß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es istin den letzten Jahren zu einer guten Tradition geworden,daß sich Landesminister an der Debatte zum Agrarbe-richt beteiligen. Auch auf diese Weise wird die notwen-dige Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei derWeiterentwicklung und Durchführung der Agrarpolitikauch hier im Bundestag dokumentiert.Nach meinem Amtsantritt vor einem Jahr war dieSonderkonferenz der deutschen Agrarminister zurAgenda 2000 für mich ein herausragendes Ereignis undeine wichtige Erfahrung; eine wichtige Erfahrung des-halb, weil die Agrarminister über Parteigrenzen hinwegerfolgreich um eine gemeinsame Haltung gerungen ha-ben. Ich war und bin davon überzeugt, daß wir nur sogünstige politische Rahmenbedingungen für die Land-wirtschaft und die ländlichen Räume schaffen können.Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, möglichst vielenLandwirten die Chance zu geben, die vielfältigen Funk-tionen der Landwirtschaft für die Gesellschaft und ins-besondere die ländlichen Räume wirtschaftlich erfolg-reich zu erfüllen.
Wenn Herr Abgeordneter Carstensen hier derartignegativ im Hinblick auf die Landwirtschaft allgemeinspricht, dann, lieber Peter Harry, wundere ich mich einbißchen und frage mich: Was hat eigentlich die vorigeBundesregierung getan?
Der Agrarbericht ist im Laufe der Jahre zu einer In-formationsquelle von ungewöhnlicher Qualität gewor-den. Er hat in diesem Jahr durch die Aufnahme des Ka-pitels „Agrarpolitische Aspekte anderer Politikbereiche“noch an Wert gewonnen. Politischen Signalcharakter hatsicherlich auch die stärkere Gewichtung des Abschnittes„Verbraucherorientierte Agrar- und Ernährungspolitik“.Der aktuelle Dioxinskandal in Belgien, der hier ja auchschon erwähnt worden ist, zeigt ganz deutlich: Wenn sienicht gesunde Nahrungsmittel von hoher Qualitätbereitstellt, kann sich die Landwirtschaft die schwererkämpfte finanzielle Solidarität der GesellschaftSteffi Lemke
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abschminken. Auch hier gilt es im Interesse unsererBauern zusammenzustehen, um die Schäden nicht ver-meidbarer krimineller Handlungen so gering wie mög-lich zu halten.Viele Landwirte stehen wirtschaftlich mit dem Rük-ken zur Wand. Der Agrarbericht zeigt im einzelnen einegroße Bandbreite zwischen erfolgreichen und wenigererfolgreichen Betrieben. Bei 39,4 Prozent der Betriebewar im eigentlich nicht schlechten Wirtschaftsjahr1997/98 die bereinigte Eigenkapitalbildung negativ. Dasheißt im Klartext – das ist hier schon einmal gesagtworden –: Diese Betriebe haben von der Substanzgelebt. Man braucht dies gar nicht als Kritik an der altenBundesregierung zu interpretieren. Vielmehr zeigt esschlicht, daß die Grenzen der klassischen Agrarpolitikerreicht sind.Der Strukturwandel läßt sich schon lange nichtmehr aufhalten. Ich füge hinzu: Wir sollten es auch garnicht versuchen. Der Agrarbericht zeigt: Es gibt in allenRegionen eine wettbewerbsstarke Gruppe landwirt-schaftlicher Betriebe, die sich in der Regel durch einewachsende Faktorausstattung und eine hervorragendeBetriebsführung auszeichnen. Im Zeichen der Markt-orientierung, wie sie in der Agenda 2000 vorgesehen ist,kommt es darauf an, durch eine entsprechende nationaleAgrarpolitik die wettbewerbsstarke Gruppe durch mög-lichst viele Betriebe zu vergrößern. Hierfür gibt es keinLeitbild von der Stange. Die Agrarpolitik darf einzelneBetriebs- und Rechtsformen nicht benachteiligen.Wenn der Abgeordnete Carstensen vorhin ein Bei-spiel aus Nordfriesland brachte, wo angeblich ein be-stimmtes Beuteltier gezüchtet wird, dann mag man dar-über lachen, aber man kann bei ihm nie völlig ausschlie-ßen, daß auch etwas Ernstes dahintersteckt. Das Ver-halten des betreffenden Bauern zeigt, daß er sich offen-sichtlich marktwirtschaftlich verhält; er produziert näm-lich das, was er am Markt am besten losschlagen kann.Das ist das Ziel.
In Schleswig-Holstein haben wir den höchsten Anteilan Vollerwerbsbetrieben; sie bewirtschaften 87 Prozentder landwirtschaftlich genutzten Fläche und habenSchleswig-Holstein zu einer Spitzenregion gemacht. Dasgilt sowohl im Hinblick auf die Agrarstruktur als auchim Hinblick auf die Produktivität und die Gewinne inder Landwirtschaft. In Schleswig-Holstein haben dieLandwirte im letzten Wirtschaftsjahr einen Rekordge-winn erzielt. Es ist Ihnen vielleicht nicht unbekannt, daßdort nicht die CDU regiert.Ministerpräsidentin Simonis hat kürzlich in Molfseebei Kiel die Ausstellung über das schleswig-holsteinische Expo-Projekt „Sicherung der Welternäh-rung“ eröffnet. Sie hat dabei zu Recht herausgestellt,daß nur die moderne nachhaltige Landwirtschaft eineglobale Ernährungssicherheit gewährleisten kann. Aufder Expo 2000 zeigen wir Schleswig-Holsteiner, wie esgeht.Ein entscheidender Punkt ist aus meiner Sicht diehohe Ausbildungsleistung und der hohe Ausbildungs-stand in der Landwirtschaft. Vor diesem Hintergrundmuß ich sagen, daß in der Landwirtschaft etwas sehr gutklappt, was uns in der mittelständischen Wirtschaft sonsteinige Sorgen bereitet, nämlich der Technologietrans-fer. Hierzu trägt auch ein hochwertiges Netz landwirt-schaftlicher Berater bei. Solche Aspekte sind es, diemeinen Optimismus in die Zukunftsfähigkeit der Land-wirtschaft begründen.
Der agrarpolitische Kompromiß bei der Agenda 2000bestärkt meine Zuversicht.Ich möchte an dieser Stelle Bundesminister Karl-Heinz Funke, der heute leider nicht hier sein kann,ausdrücklich für seine umsichtige und erfolgreicheVerhandlungsführung danken.
Dazu möchte ich einige Argumente nennen:Als erstes sollten wir alle froh sein, daß die monate-lange Diskussion endlich abgeschlossen ist. Es ist einunerträglicher Zustand, wenn das Politikrisiko größer istals das Marktrisiko. Jetzt sind die Eckpunkte bis zumJahre 2005 festgeklopft.Als zweites möchte ich anerkennen, daß die europäi-schen Haushaltsmittel für den Agrarbereich gesichertworden sind. Die vereinbarten Ausgleichszahlungensind jetzt planungsfest und damit betriebswirtschaftlichbesonders wertvoll.Als drittes ist wichtig, daß die Marktanpassung mitihren Preissenkungen in zeitlich gestreckter Form er-folgt. Wir haben jetzt die Chance eines Gleitflugs in dierichtige Richtung. Diese Richtung heißt Marktorientie-rung, Vorbereitung auf die Osterweiterung und Aufbaueiner zweiten Säule der europäischen Agrarpolitik.
Zu dieser Richtung gibt es keine ernstzunehmende poli-tische Alternative, Herr Carstensen.
Das haben die Diskussionen der vergangenen Monateauch mit Ihnen deutlich gezeigt.
– Wir haben noch nie Probleme gehabt.
Auch der Deutsche Bauernverband hat seine Blok-kadehaltung dankenswerterweise aufgegeben. Der Be-rufsstand erkennt nun an, daß die Berliner Beschlüssekein vorzeitiges Einknicken, sondern im Gegenteil einegute Ausgangsposition für die anstehenden WTO-Verhandlungen sind, die es gemeinsam zu verteidigengilt. Die Haltung von Herrn Sonnleitner ist in den eige-Minister Klaus Buß
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nen Veröffentlichungen nachlesbar. Diese sollte mannatürlich hin und wieder lesen.Lassen Sie mich noch etwas zur sogenannten zweitenSäule der europäischen Agrarpolitik sagen. Hiermit istdie neue Verordnung zur Entwicklung der ländlichenRäume gemeint. Sie ermöglicht eine integrierte Förde-rung, die die multifunktionale Rolle der Land- undForstwirtschaft in den Mittelpunkt stellt.Für die Länder heißt das konkret: Wir können auch inZukunft unsere bewährten Förderprogramme mit euro-päischer Unterstützung fortsetzen.
Ich denke zum Beispiel an die einzelbetriebliche Inve-stitionsförderung, die Agrarumweltprogramme und dieFörderung des ökologischen Landbaus. Zusätzlich kön-nen wir auch Neuland betreten, etwa bei der Fortschrei-bung unserer Dorfentwicklungsmaßnahmen oder bei derVerbesserung der Infrastruktur für den ländlichen Tou-rismus.
Kollege Buß, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin
knapp dran, aber bitte.
Herr Minister, im
Parlament wird immer – man kommt sich fast miß-
braucht vor – der Deutsche Bauernverband zitiert. Das
ist vorhin schon einmal passiert, jetzt wieder. Es wird
gesagt, daß der Deutsche Bauernverband – so wird es
herausgestellt – die Beschlüsse von Berlin lobt. Das hat
auch der Fraktionsvorsitzende der Grünen bereits getan.
Wenn man herausstellt, daß der Vorschlag von Herrn
Funke im ersten Agrarkompromiß noch einmal auf
Druck der Franzosen nachgebessert wurde und wir nur
noch 2,5 Milliarden DM Verluste haben, und wenn das
dann so umgemünzt wird, daß es heißt, wir begrüßen
das, dann halte ich das für eine unverschämte Fehlinter-
pretation.
Haben wir als Deutscher Bauernverband – das ist
meine nächste Frage – je begrüßt, daß man jetzt im
Haushalt bis zu 1 Milliarde DM für die agrarische Un-
terstützung streichen will? Hat das die CDU/CSU-
Fraktion je begrüßt? Haben wir je das Zurücknehmen
der Bundeszuschüsse für die Berufsgenossenschaft be-
grüßt? Haben wir die Verluste in Höhe von über 2 Milli-
arden DM bei der Steuerbelastungsreform begrüßt?
Herr Minister, ist es fair, so immer wieder als Zeuge
in Anspruch genommen zu werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich weißnicht, so lange habe ich gar nicht zu diesem Punkt gere-det. Ich habe lediglich Herrn Sonnleitner sinngemäßzitiert, der vor einiger Zeit gesagt hat, daß er die Berli-ner Beschlüsse für eine gute Grundlage hält, um in dieWTO-Verhandlungen zu gehen. Nicht mehr und nichtweniger habe ich gesagt, und das ist nachlesbar.
Leider ist die zweite Säule von ihrer Finanzausstat-tung her noch ein zartes Pflänzchen. Um so wichtiger istes, so meine ich, sorgsam mit ihr umzugehen und für eingutes Gedeihen zu sorgen. Die Agrarminister der Länderwerden sich am nächsten Dienstag mit BundesministerFunke treffen – ich hoffe, daß er dann wieder gesund ist– und über die Hausaufgaben reden, die nach demAgendabeschluß umgesetzt werden müssen.Obenan steht natürlich die Ausgestaltung der Milch-quotenregelung. Die Milchbeschlüsse in der Agendawirken auf den ersten Blick positiv für die Landwirte.Die Reform ist auf das Jahr 2005 verschoben worden,erst dann sollen die Marktordnungspreise in drei Schrit-ten gesenkt werden. Aber die Kehrseite der Medaille ist:Auf diese Weise ist die Quotenregelung bis 2008 ver-längert worden. Das ist für die Planungen gerade derJungbauern, die investieren wollen, schlecht. Ich bin mirsehr sicher, daß wir eine Regelung finden werden, dienicht Schall und Rauch ist, Herr Deß, sondern sehr ver-nünftig sein wird. Die Mehrzahl der Länder wird ein-deutig für eine möglichst unbürokratische und markt-wirtschaftliche Lösung eintreten. Wir müssen für unsereBauern so schnell wie möglich Klarheit erzielen.Lassen Sie mich zum Schluß einen Punkt aufgreifen,auf den Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestagesunmittelbar Einfluß haben – er ist hier auch schon ange-sprochen worden – und der aus meiner Sicht für dieUmsetzung der Agenda 2000 in Deutschland von ent-scheidender Bedeutung ist. Ich meine damit die Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruk-tur und des Küstenschutzes“ in Verbindung mit derschon erwähnten zweiten Säule der europäischen Agrar-politik. Es ist wohl nicht übertrieben, diese Gemein-schaftsaufgabe als Vorbild für die zweite Säule der eu-ropäischen Agrarpolitik zu bezeichnen, und zwar sowohlhinsichtlich der Inhalte als auch hinsichtlich der charak-teristischen Mischfinanzierung. Aus meiner Sicht ist dieGemeinschaftsaufgabe das zentrale Instrument für eineerfolgreiche Etablierung der zweiten Säule in Deutsch-land. Die meisten Länder können ohne die Gemein-schaftsaufgabe keine zweite Säule aufbauen, weil dieLandesmittel allein schlicht nicht zur Kofinanzierungder EU-Gelder ausreichen.Herr Carstensen hat natürlich recht, wenn er daraufhinweist, daß Schleswig-Holstein nicht alle Mittel abge-rufen hat. Wir haben nur die Mittel abgerufen, die wirabrufen konnten. Das werden wir auch weiterhin tun.Ich hoffe zwar, daß es mehr wird. Aber dieses Geld fehltnatürlich nicht nur im Bereich der Agrarwirtschaft, son-dern auch im Bereich des Küstenschutzes, besonders fürdie Ostsee. Das muß man deutlich sehen.Zweifellos müssen wir die Gemeinschaftsaufgabe in-haltlich verschlanken und weiterentwickeln. ZentraleAnsatzpunkte sind im Koalitionsvertrag genannt. Aberunzweifelhaft ist auch, daß der Finanzrahmen der Ge-Minister Klaus Buß
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meinschaftsaufgabe erhalten bleiben muß. Nur so kannder Bund seine koordinierende Funktion bei der Förde-rung der ländlichen Räume behalten. Ich weiß, daßBundesminister Funke das ganz genauso sieht. Er hat esmir erst vor kurzem gesagt. Ich bitte Sie alle sehr herz-lich, ihn in diesem Punkt besonders bei den Haushalts-beratungen intensiv zu unterstützen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen
Sie auch mich zunächst auf meine Vorredner eingehen.
Als erstes hat der Parlamentarische Staatssekretär
Gerald Thalheim hier festgestellt, daß er weiß, was er
weiß. Das will ich Ihnen gar nicht bestreiten. Aber hof-
fentlich wissen Sie, Herr Thalheim, immer, was Sie tun.
Ich habe hier einen Zeitungsartikel vorliegen, den ich
Ihnen nachher gerne geben kann. Dieser Artikel ist nicht
vor irgendeiner Wahl erschienen, wenn man die Hes-
senwahl außer acht läßt. In diesem Artikel wird Herr
Thalheim mit dem Satz zitiert, daß die Gasölbeihilfe
und die Berufsgenossenschaftsmittel in vollem Um-
fang gerettet seien. Er hat dies auch hier im Parlament
gesagt. Was gilt denn jetzt eigentlich? Der hier vorlie-
gende Zeitungsartikel stammt vom 16. Februar dieses
Jahres.
Kurze Zeit später, nach den hessischen Landtagswahlen,
werden die Mittel für die Berufsgenossenschaften ge-
kürzt, obwohl Herr Thalheim hier dafür eingetreten ist,
daß die Berufsgenossenschaftsmittel nach der Agenda
2000 – in einer ganz schwierigen Situation für die
Landwirtschaft – unbedingt erhalten werden müssen.
Was ist aus der Gasölbeihilfe geworden? Ich habe
heute keine Aussage – komischerweise auch nicht von
Ihnen, Herr Buß – über die Gasölbeihilfe gehört. Wenn
Sie hier schon über die Interessen der schleswig-
holsteinischen Landwirtschaft referieren – das erachte
ich für sehr sinnvoll –, muß ich fragen, warum Sie nicht
ein Wort zur Gasölbeihilfe gesagt haben. Wird hier
der nächste Anschlag auf die deutsche Landwirtschaft
geplant?
Zur Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft ha-
be ich von Ihnen, Herr Thalheim, eine ganz interessante
Aussage gehört, nämlich daß wir angeblich in unserer
Wettbewerbsposition ungeheuer gestärkt worden seien.
Gestern haben die Professoren etwas ganz anderes dazu
gesagt. Diese Professoren sind hier schon zitiert worden.
Ich möchte Frau Ulrike Höfken nur raten, etwas vor-
sichtiger zu sein, wenn sie sich auf Herrn Wolfram
bezieht. Ich bin der Meinung, daß ihr dann, wenn ihr
davon ausgeht, daß sich die bisherigen Tendenzen fort-
setzen, nicht der Agenda 2000 hättet zustimmen und sie
verabschieden dürfen.
Im übrigen – das sage ich einmal ganz klar –: Wenn
man die Kritik aufnähme, gäbe es in Deutschland keine
Landwirtschaft mehr.
Ich dachte immer noch, daß wir das in diesem Hause
gemeinsam verhindern wollten.
Sie haben zur Gasölbeihilfe nichts gesagt. Was ist da
denn schon wieder geplant? Warum hört man hier von
keinem Koalitionsredner etwas? Vielleicht wird ja der
Koalitionsredner, der nach mir spricht, noch etwas dazu
sagen.
Ich muß wohl gestern auch auf einer anderen Veran-
staltung gewesen sein.
Peter Harry Carstensen hat das hier schon ausgedrückt.
Selbst die sozialdemokratisch regierten Länder haben
dort ausgeführt, daß die Agenda 2000 im Bereich Rind-
fleisch kaum zu administrieren ist. Sie haben von dem
Anlastungsrisiko für die Länder und für die einzelnen
Betriebe gesprochen, das in dem Bereich herrscht. Herr
Backhaus, Sie waren selbst da. Ich glaube, Sie haben es
sogar mit gesagt. Das Ganze wird so kompliziert gestal-
tet, daß alleine die Einrichtung eines EDV-Programms
in Bayern 18 Millionen DM kosten wird.
Ich sage Ihnen schon heute, da werden auch Mittel
für eine aktive Gestaltung der Agrarpolitik entzogen;
manchmal hat man ja den Eindruck, daß es heute in der
Agrarpolitik darum geht. Mir hat neulich einmal ein
Landwirt gesagt: Mein Vater war Bauer, ich bin Land-
wirt, und mein Sohn hat höchstens noch eine Chance,
Agrarbürokrat zu werden. Wenn das die Perspektiven
sind, die Sie hier vermitteln, dann sind es schlimme Per-
spektiven für die deutsche Landwirtschaft.
Herr Kollege Ron-
söhr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heinrich?
Bitte,
gerne, dann kann ich solange trinken.
Lieber Herr Kollege Ron-söhr, Sie haben gerade Professor Wolfram zitiert bzw.die Aussage gegenüber seiner Person gemacht: Wenndas die Agrarpolitik wäre, gäbe es heute keine Landwirt-schaft mehr. Frage: Sind Sie nicht mit mir der Meinung,daß es Aufgabe der Wissenschaft ist, FehlentwicklungenMinister Klaus Buß
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der Politik aufzudecken und ihre negativen Auswirkun-gen bei Anhörungen schonungslos darzustellen?
Selbst-verständlich ist das eine Aufgabe der Wissenschaft.Aber alle anderen Wissenschaftler haben ausgesagt, daßdie Landwirtschaft in Deutschland auf keinen Fall unterWeltmarktbedingungen existieren kann.
Wenn ich das mit den Ausgleichszahlungen so kriti-siere: Wir sind hier dafür eingetreten, daß die Landwirtevor allem über Marktpreise ihr Einkommen erzielen.Das ist aber bei der Agenda 2000 von dieser Bundes-regierung nicht durchgesetzt worden.Nun halte ich zwar diese Politik, die BundesministerFunke dort gefahren ist, für sehr katastrophal, aber ichmuß doch heute die Realitäten erkennen. Ich muß er-kennen, daß wir in der Politik jetzt leider mit dieserAgenda 2000 umgehen müssen.
– Nein, ich habe eine Zwischenfrage gestattet. Ich bitte,jetzt keine zweite mehr zu stellen.Ich muß doch feststellen, daß es kaum Alternativengibt. Wenn ich dem Landwirt jetzt die unzureichendenAusgleichszahlungen auch noch nehme, wie können wirdann überhaupt noch Existenzsicherung betreiben? Na-türlich müssen wir die Landwirtschaft wettbewerbsfähi-ger machen. Das ist von vielen Rednern zum Ausdruckgekommen. Deswegen wirkt eine Kürzung oder Strei-chung der Gasölbeihilfe so verheerend. Sie wirkt dochwirklich verheerend; denn die Franzosen bezahlen über-haupt keine Mineralölsteuer. Unsere Landwirte werdenunter dieser Koalition ständig mit Mineralölsteuererhö-hungen konfrontiert. Sie bekommen dann nicht einmalmehr die Gasölbeihilfe, die sie vorher immer bekommenhaben.
Ich kann nur unterstützen, was Herr Thalheim hiergesagt hat. Ich kann es Ihnen vorlesen. Herr Thalheimist für die Beibehaltung der Gasölbeihilfe und für dievollständige Beibehaltung der Berufsgenossenschafts-mittel eingetreten. Setzen Sie es doch bitte um, Sie be-kommen von uns dann Rückenstärkung! Wir sind gernebereit, Sie zu stärken.Was ist denn bei der Agenda 2000 zitiert? Herr Buß,Sie haben hier davon gesprochen, daß Sie einen gemein-samen Beschluß zwischen Bund und Ländern geschaf-fen haben. Nur, wer ist denn von dieser Gemeinsamkeitabgerückt? – Diese Bundesregierung, Herr Thalheimund Herr Minister Funke.Herr Minister Funke hat damals davon gesprochen,daß es, wenn die Agenda 2000 auch nur teilweise umge-setzt werde, einen Kahlschlag im ländlichen Raum gebe.
Ich kann ihm da folgen. Nur, wer ist jetzt eigentlich derHolzfäller? Das ist Karl-Heinz Funke neben Fischlerund einigen anderen; das muß hier doch einmal ganzdeutlich gesagt werden.
Meine Damen und Herren, wo bleiben denn nun diePerspektiven, die diese Bundesregierung den Bauernaufzeigt? Ich bedaure ja sehr, daß Karl-Heinz Funkeheute nicht anwesend ist. Ich will das nicht kritisieren.
– Ich habe ihn nicht kritisiert, und ich wollte ihn auchnicht kritisieren. Ich bitte Sie, einmal zuzuhören.Wenn Herr Minister Funke hier das Wort ergriffenhat, dann hat er weder darüber gesprochen, wie die Ziel-setzung seiner Agrarpolitik aussieht, noch darüber, wiesich die Agrarpolitik in Deutschland und in Europaweiterzuentwickeln hat. Es geht doch jetzt auch um diekonkrete Ausgestaltung der Agenda 2000, um das innereRegime dieser Agenda 2000. Wir möchten wissen, waseigentlich mit dem passiert, was in Berlin festgelegtworden ist. Zuvor hat man in Brüssel unter der Regievon Karl-Heinz Funke beschlossen, daß es beim Rind-fleisch keine Interventionen mehr geben soll. In Berlinhat man dagegen von Ad-hoc-Interventionen gespro-chen. Gibt es sie, oder gibt es sie nicht? Wie wird dennjetzt intern ausgestaltet?Zur internen Ausgestaltung des Milchquotenregimesist faktisch gar nichts gesagt worden. Jeden Tag wird derBauer in Deutschland mit einer neuen internen Ausge-staltung des Milchquotenregimes durcheinanderge-bracht. Bei uns in Niedersachsen – ich sage das jetzt fürNiedersachsen, weil ich es für andere Teile Deutsch-lands nicht nachvollziehen kann – steigen die Quoten-preise deswegen ganz extrem. Die Bauern werden stän-dig verunsichert; sie wollen jetzt aber endlich Sicherheithaben. Dazu sagt die Regierung kein Wort.Zwar hat es auch früher Unsicherheiten gegeben.Allerdings war die Agenda 2000 die einzige Chance, indiesen Bereich wieder Sicherheit hineinzubringen undFehlentwicklungen bei der Milchquote abzubauen. Dieshaben Sie ständig angekündigt. Aber Sie haben sichschon bei den Verhandlungen nicht durchgesetzt, undheute ist von der Koalition nichts dazu gesagt worden.Es geht hier doch um Fragen, die wir zu stellen undgemeinsam zu beantworten haben.Der Bauernverband, den Sie immer zitieren, hat einModell vorgelegt. Wo bleibt das Modell dieser Bundes-regierung? Wo bleibt eine gewisse Planungssicherheitfür die Landwirte? Frau Wolff, ich rufe Ihnen in Erinne-rung, daß gestern bei der Anhörung überhaupt nicht überPlanungssicherheit gesprochen wurde. Die meisten Be-schlüsse im Rahmen der Agenda 2000 laufen im Jahre2006 aus. Wie kann ich angesichts dessen von Planungs-Ulrich Heinrich
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sicherheit sprechen, wenn ich in meinen landwirtschaft-lichen Betrieb investieren will? Ich glaubte immer, daßich Investitionen für einen längeren Zeitraum und nichtfür einen Zeitraum von nur fünf oder sechs Jahren tätige.Planungssicherheit ist hier doch nicht gegeben.
Hinzu kommt dann noch eine hausgemachte Verunsi-cherung. Früher haben wir auf den bäuerlichen Betrie-ben mit vom Eingemachten gelebt. Heute geht es beiRotgrün nicht mehr nur an das Eingemachte, sondernganz massiv an die Substanz der Bauern. In diesem Zu-sammenhang erinnere ich an die Vorsteuerpauschale:Ihr habt sie vor der Wahl gemeinsam mit uns auf10 Prozent erhöht, Gerald Thalheim. Nach der Wahlwird sie auf 9 Prozent, jetzt möglicherweise auf 8 Pro-zent gesenkt. Hätten wir das gemacht, hättest du vondieser Stelle aus von Wahlbetrug gesprochen. Ich tuedies nicht; aber ihr solltet euch einmal überlegen, wasihr dort tut. Es wird immer weiter gekürzt. Das bringtdoch keine Sicherheit in den Wettbewerb, dem sich diebäuerlichen Betriebe zu stellen haben.Jetzt wird deutlich, daß die Agenda 2000 offenbarnicht reicht. Ich habe hier eine Pressemitteilung, dieüber das berichtet, was Karl-Heinz Funke vor dem Mäl-zerbund gesagt hat. Nach diesem Bericht geht er davonaus, daß die Preise für landwirtschaftliche Rohstoffenoch weiter sinken würden. Ich hatte sogar den Ein-druck, daß er die Auffassung vertrat, sie müßten weitersinken, weil die Mälzer möglichst günstig an Rohstoffeherankommen wollen. Er hat natürlich gewußt, vor wemer dort spricht. Nur, ob das der Interessenlage der deut-schen Bauern entspricht, wagen wir wohl alle zu be-zweifeln, wenn wir mit den Bauern in diesem Landenoch ehrlich umgehen.
Ich kann nur sagen: Führt die Agrarpolitik endlicheinmal aus der Flickschusterei heraus. Ihr reißt Löcherim Haushalt auf, und die deutschen Bauern müssendafür geradestehen.
Lest doch einmal den Bundesbankbericht: Ihr habt die30 Milliarden DM doch ausgegeben, über die ihr hiergesprochen habt. Jetzt müssen die Bauern dafür gerade-stehen. Das kann nicht sein.In einer Zeit, in der ihr diese Bauern mit großen Bela-stungen durch die Agenda 2000 konfrontiert, wäre eswichtig, daß sich die Bauern zumindest national wiederauf eine zuverlässige Politik verlassen können. Aberoffenbar sind sie bei Rotgrün nur verlassen, weil die jet-zige Bundesregierung zumindest im agrarpolitischenBereich unzuverlässig ist
und weil sich die Agrarpolitik von Minister Funke nurdarauf beschränkt, Rabattgeber für die agrarpolitischeUnvernunft der grünen und der roten Fraktion zu sein.Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben. HerrSchwanhold, auch Ihnen vielen Dank. Es mußte Ihneneinmal gesagt werden, was für eine Politik Sie betreiben.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heino Wiese. Wie ich gehört
habe, ist es seine erste Rede.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon etwas
Besonderes, das erste Mal im Deutschen Bundestag zu
reden. Ich finde das sehr spannend, und ich bin ein biß-
chen aufgeregt. Dennoch sollte ich ein bißchen ruhiger
als Herr Ronsöhr reden,
weil ich diese Temperamentsausbrüche nicht nachvoll-
ziehen kann. Es ist mir immer wieder ein Rätsel, wie
man sich über eine Politik, die in großen Teilen schon
von der alten Regierung in die Wege geleitet worden ist,
so erregen kann.
Was die Planungssicherheit betrifft, Herr Ronsöhr:
Diese Planungssicherheit ist zumindest im letzten Jahr
deutlich größer geworden, auch wenn sie vielleicht noch
nicht optimal ist.
Wollen Sie
gleich eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ronsöhr
beantworten?
Ich möchte in mei-ner ersten Rede keine Zwischenfragen beantworten. Dasbringt mich nur durcheinander.
Ich möchte mich in meinem Beitrag zum Agrarbe-richt der Bundesregierung mit der Entwicklung desländlichen Raumes beschäftigen. Der Strukturwandelin der Landwirtschaft vollzieht sich schrittweise imZuge des Generationenwechsels. Die gesteigerte Wett-bewerbsfähigkeit führt zu einem immer geringeren Be-schäftigungsgrad in der Landwirtschaft, und zwar nichterst seitdem wir an der Regierung sind, sondern schonetwas länger. Von 1960 bis 1998 sind 3,6 MillionenArbeitsplätze weggefallen, und über 1 Million Betriebewurden aufgegeben. Heute sind nur noch etwa 2 Prozentder Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschafttätig. Die Zahl, über die wir hier reden, ist also gar nichtso groß. Auch im Agrarsektor ist Rationalisierung eineFolge des immer stärkeren Wettbewerbes. UnsereLandwirte machen eine hervorragende Arbeit mit außer-ordentlichen Produktivitätssteigerungen.
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
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Man könnte in diesem Zusammenhang vielleicht sogarsagen: Vielleicht arbeiten sie sogar ein wenig zu gut.Ökonomische Nachhaltigkeit durch wettbewerbs-fähige Betriebe ist unter regionalpolitischen Gesichts-punkten nur die eine Seite der Medaille. Die Landwirt-schaft hat ohne Zweifel als erste Aufgabe, möglichstkostengünstig und umweltverträglich Nahrungsmittel zuproduzieren.
– Das tut sie an vielen Stellen.Ein nicht hoch genug zu bewertender Beitrag derLandwirtschaft für die Gesellschaft ist aber auch in derErhaltung der historisch gewachsenen Kulturlandschaftzu sehen. Das abwechslungsreiche Nebeneinander vonAckerflächen, Wald, Bauernhöfen und Weiden ist dasSpiegelbild der Lebensbedingungen unserer Vorfahren.Dies soll auch so bleiben.Die Entwicklung ländlicher Räume soll zu einerzweiten Säule der gemeinsamen Agrarpolitik werden.Das ist in der Agenda 2000 festgelegt worden. Über8 Milliarden DM jährlich werden von der EU in dennächsten sieben Jahren für die Entwicklung der länd-lichen Räume ausgegeben. Natürlich ist das nicht hinrei-chend, aber auf der anderen Seite kann man damit auchschon eine ganze Menge bewegen.Die Leitlinien einer neuen ländlichen Entwick-lungspolitik sind Dezentralisierung und Flexibilisie-rung. Die Länder sind aufgefordert, ihre Vorschläge fürEntwicklungsprogramme für den ländlichen Raum vor-zulegen.
– Das will ich gar nicht bestreiten. – Sie können dabeiaus dem Menü, das die neue Verordnung zur ländlichenEntwicklung anbietet, entsprechend ihren Bedürfnissenauswählen. Dabei ist es eine deutliche Vereinfachung,daß die bisher neun Verordnungen zu einer einzigenVerordnung zusammengefaßt wurden. Zu den geför-derten Maßnahmen gehören zum einen Investitionenfür landwirtschaftliche Betriebe zur Verbesserung derBetriebsführung, Investitionen zur Verbesserung derHygiene und des Tierschutzes, alternative Vermark-tungsformen von Agrarprodukten, Weiterbildungsmaß-nahmen und Niederlassungsbeihilfen für Jungbauern.Daneben können auch Vorruhestandsregelungen, Unter-stützung von Dorferneuerungsprogrammen sowie Maß-nahmen des Natur- und Umweltschutzes gefördert wer-den.
– Es hätte mich gewundert, wenn ich heute keinen Zwi-schenruf von Ihnen gehört hätte, Herr Hornung. Als jun-ger Abgeordneter liest man ja zur Vorbereitung, was imvergangenen Jahr zum Agrarbericht gesagt worden ist.Ich habe in der damaligen Debatte 29 Zwischenrufe desKollegen Hornung zählen können.
Es waren aber nicht unbedingt Zurufe, aus denen ichetwas lernen konnte.
Grundsätzlich sollen die Fördermaßnahmen derzweiten Säule künftig nicht ausschließlich auf dieLandwirtschaft fokussiert werden, sondern die gesamtewirtschaftliche und soziale Dimension der ländlichenRäume berücksichtigen.Im übrigen gab es in der 70er Jahren während derÖlkrise in Frankreich den Spruch: On n'a pas de petrol,mais on a des idées. Das heißt soviel wie: Wir habenzwar keinen Sprit, aber wir haben gute Ideen. Dies sollteman in den Zeiten der knappen Kassen berücksichtigen.Gute Ideen sind immer in der Lage, fehlende Subventio-nen zu ersetzen.An dieser Stelle muß ich sagen, daß ich immer sehrerstaunt bin, wenn Herr Heinrich über Wettbewerb undWettbewerbsfähigkeit redet, aber dabei eigentlich dieErhöhung von Steuersubventionen meint.
Ich denke, daß wir gute Ideen brauchen. Deshalb be-grüße ich sehr, daß das Landwirtschaftsministerium einExpoprojekt aufgelegt hat, in dem zwölf ausgewähltedeutsche Dörfer ihre Ideen zum idealen Dorf 2000 zu-sammengetragen haben. Gute Beispiele sind immer dererfolgreichste Weg zur Verbesserung der Verhältnisse.Ich möchte zum Abschluß noch ein paar Dinge zuHerrn Carstensen sagen. Er ist nicht mehr hier.
Herr Carstensen, von Ihnen habe ich heute und auch ge-stern schon eine Menge gelernt. Zum einen haben wireine Vorstellung von der nordfriesischen Demokratiebekommen: Die 4 Prozent, die ihn noch nicht wählen,bekommen wir auch noch heraus. Zum anderen hat ermir gestern erzählt, daß man als Landwirt eines lernenmüsse: jammern ohne zu leiden. Das beherrschen somanche Landwirte doch sehr gut.
Deshalb ist es dann weniger glaubwürdig, wenn diejeni-gen, die wirklich leiden, ihre Argumente vorbringen.Zum Abschluß eine kleine Geschichte, die mir aufge-fallen ist.
Herr Kollege,
auch bei ganz großzügiger Auslegung Ihrer Redezeit:
Eine ganze Geschichte dürfen Sie jetzt nicht mehr
erzählen.
Es ist ein ganz kur-zes Zitat, das ich Ihnen aus einer Debatte der 13. Wahl-Heino Wiese
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periode vorlesen möchte. Da sagte Herr Carstensen, vondem ich immer dachte, er sei ein Mann, der zu seinemWort steht:Schröder hat bei der Vorstellung seiner Kernmann-schaft nicht einmal Andeutungen über die Beset-zung eines eigenständigen Ministeriums für Ernäh-rung, Landwirtschaft und Forsten gemacht. Ichverwette mein volles Haupthaar, daß wir im Herbstdieses Jahres keinen SPD-Landwirtschaftsministerhaben werden.Ich sehe nicht, daß er sein Haupthaar geopfert hat.Danke schön.
Herr Kollege,
der Beifall hat Ihnen schon gezeigt, daß Ihnen das ganze
Haus zu Ihrer ersten Rede gratuliert.
Ich weiß aus eigener Erfahrung: In Agrardebatten gibt es
nicht nur besonders viele Zurufe, sondern da wird auch
besonders viel geduzt.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/347 und 14/348 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen
14/1155, 14/1156 und 14/1158 sollen an dieselben Aus-
schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 sowie Zusatzpunkt 5
auf:
5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Michael Luther, Dr. Angela Merkel, Ulrich
Adam, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der beruflichen Reha-
bilitation der Opfer politischer Verfolgung im
– Drucksache 14/1001 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder(federführend)InnenausschußRechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der SED-Unrechtsbereinigungs-
gesetze
– Drucksache 14/1165 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Dr. Michael
Luther.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist der17. Juni 1999. Vor 46 Jahren, am 17. Juni 1953, for-derten Arbeiter, Angestellte, Bauern und auch Studentenin der damaligen DDR Demokratie, Rechtsstaatlichkeitund soziale Gerechtigkeit. Warum ist dieser 17. Juni füruns noch heute von so großer Bedeutung? Der 17. Juniwar Höhepunkt und Ende des ersten Versuches, dasSED-Regime im Osten Deutschlands zu beseitigen.Erinnern wir uns: Vorausgegangen war der Tod Sta-lins am 5. März 1953. Hierdurch geriet das politischeSystem der damaligen DDR in Bewegung. Es kursiertenGerüchte, daß Walter Ulbricht abgelöst werden soll. Dieinnenpolitische Situation der DDR war durch schlechteVersorgung mit Lebensmitteln, staatlichen Terror undwillkürliche Verhaftungen geprägt. Hinzu kam eine vomMinisterrat Ende Mai 1953 beschlossene allgemeine Er-höhung der Arbeitsnormen, was erhebliche Unruhenhervorrief und die Fluchtbewegung aus der DDR ver-stärkte.Auch wenn ein neuer Kurs und wirtschaftliche Zuge-ständnisse verkündet wurden: Am 16. Juni 1953 streik-ten und demonstrierten Bauarbeiter in der OstberlinerStalinallee, dem Vorzeigeobjekt in Berlin. Daraus ent-wickelte sich dann am 17. Juni der Arbeiteraufstand inder gesamten DDR, in dessen Verlauf es in mehr als 250Orten – darunter in allen Industriezentren – zu Streiksund Demonstrationen kam. Rund 10 Prozent der Arbei-ter haben sich damals an diesem Aufstand beteiligt.Die SED war der innenpolitischen Situation nichtmehr Herr und hat deshalb die sowjetischen Truppenaufgefordert, diesen Aufstand niederzuschlagen, wasdiese dann auch getan haben. Der Aufstand forderteviele Todesopfer. Hiernach erfolgte eine Verhaftungs-welle. Rund 1 200 Menschen wurden verhaftet.Meine Damen und Herren, nach dem Selbstverständ-nis der DDR verkörperte sich im Staat die Herrschaftdes Volkes. Kritik und Opposition richteten sich dem-nach gegen das Volk und mußten entsprechend verfolgtwerden. Auf diese Weise wurde Opposition kriminali-siert. Nicht nur der politischen Opfer des 17. Juni istheute zu gedenken, sondern es ist an die politischen Op-fer des DDR-Regimes insgesamt zu erinnern. Denn dieBetrachtungsweise, daß Opposition kriminell ist, ziehtsich durch die gesamte Zeit der SED-Herrschaft. Sieprägte das politische und gesellschaftliche Verständnisder Mitglieder der SED.Für Oppositionelle, auch wenn sie sich nur in einemganz geringen Maße gegen das Regime wandten und esin nur geringem Maße kritisierten, war das mit verhee-renden Folgen verbunden: Sie wurden politisch verfolgtund inhaftiert. Ihre Lebensbiographie war von Diskrimi-nierung und Ausgrenzung gekennzeichnet. Das warenHeino Wiese
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nicht wenige. Wir wissen heute, daß weit über 100 000Menschen in der DDR politisch verfolgt wurden. Des-halb haben wir in der Vergangenheit das Strafrechtliche-,das Berufsrechtliche- und das VerwaltungsrechtlicheRehabilitierungsgesetz beschlossen. Diese drei Gesetzebringen zum Ausdruck, welch vielfältige Nachteile Op-positionelle im Zuge politischer Verfolgung in der DDRhinnehmen mußten.Ich gestehe ein: Die bisherigen Rehabilitierungsge-setze können nicht alle Probleme lösen. Deshalb ist esrichtig, daß wir über Nachbesserungen nachdenken. Ichfreue mich darüber – das sage ich an dieser Stelle un-verblümt –, daß sich die jetzige Bundesregierung vorge-nommen hat, auch hier etwas zu tun und zum Beispieleine Haftentschädigung in Höhe von 600 DM für alleeinzuführen.
Was mich allerdings wundert, ist – diese Bemerkungsei an dieser Stelle gestattet –: Es gab zur ersten Sitzungdes Bundestages in Berlin im umgebauten Reichstags-gebäude eine Regierungserklärung. Heute gibt es wiedernur einen Antrag; der Gesetzentwurf liegt noch immernicht vor. Darauf warten wir noch. Wir werden, wennder Gesetzentwurf vorgelegt wird, diesen Überlegungennicht entgegenstehen und konstruktiv mitarbeiten.Ich will aber auf folgenden Punkt aufmerksam ma-chen: Ein zentrales Problem von Opfern politischer Ver-folgung lösen wir mit den Überlegungen der Bundesre-gierung nicht. Das Strafrechtliche-, das Verwaltungs-rechtliche- und das Berufsrechtliche Rehabilitierungsge-setz versuchen jeweils, einzelne Benachteiligungen aus-zugleichen. So versuchen wir zum Beispiel seit Jahren,dem Problem der Anerkennung von gesundheitlichenHaftschäden Herr zu werden. Es ist aber schwierig,dramatische psychologische Haftschäden zu fassen.Wie können wir zum Beispiel benachteiligte Le-bensschicksale von verfolgten Schülern ausgleichen?Wir gleichen Rentenzeiten für den Zeitpunkt der Verfol-gung aus und versetzen die Opfer in den Stand, als wä-ren sie beruflich nicht zurückgesetzt worden. Aber wasgerade bei verfolgten Schülern besonders deutlich wird,ist, daß man keine hypothetischen Lebensbiographienzeichnen kann. So geht es Schülern, die damals politischverfolgt wurden, heute schlechter, als hätten sie sichunter freiheitlich-demokratischen Verhältnissen entwik-keln können.Hinzu kommt: Wer einmal als politisch Verfolgterstigmatisiert war, war für sein ganzes Leben gekenn-zeichnet. Er hatte es schwer, Arbeit zu finden. Es warfür ihn schier unmöglich, eine qualifizierte Ausbildungzu bekommen oder abzuschließen. Damit sind sowohldie Rentenbiographien – wenn ich beim Thema Rentebleiben darf – als auch das Einkommen derjenigen, dieheute noch keine Rentner sind, wesentlich schlechter alsdie derjenigen, die sich systemkonform verhalten haben.Weder das Strafrechtliche- noch das Verwaltungsrecht-liche-, noch das Berufliche Rehabilitierungsgesetzkonnten dieses Problem bislang umfänglich lösen.Vergleicht man aber auf der anderen Seite die Situa-tion der Täter, dann zeigt sich, daß diese durch ihre be-sondere Systemnähe in der DDR ein hohes Einkommenhatten, was heute in der Regel zu einer guten Renteführt. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesemPunkt jüngst noch einmal nachgebessert und festgestellt,daß es sich hierbei um ein schützenswertes Eigentumnach Art. 14 GG handelt. Das heißt, der Rentenanspruchvon Verantwortlichen, von Systemkonformen ist hoch,der Rentenanspruch derjenigen, die politisch verfolgtwurden, ist niedrig. Deshalb ist dieses Urteil des Bun-desverfassungsgerichts für die politisch Verfolgten einbesonderer Schlag ins Gesicht.
Gerade vor dem Hintergrund dieser Entscheidung desBundesverfassungsgerichtes muß etwas für die Opfergetan werden. Da hilft der Ansatz der jetzigen Koalitionnicht. Die Forderungen der Opferverbände nach einerEhrenrente werden gerade vor dem Hintergrund diesesVerfassungsgerichtsurteils lauter – aus meiner Sicht zuRecht.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat das Problemder Nichtausgleichbarkeit von Lebensbiographien schonin der letzten Legislaturperiode erkannt. Deshalb habenwir § 8 des Berufsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzesgeändert. Danach bekommen Opfer zusätzliches Ein-kommen, wenn es ihnen besonders schlechtgeht. Auchwenn momentan eine Einkommensgrenze für diesenAnspruch besteht, ist vom Grundansatz her dem Anlie-gen Rechnung getragen: Denjenigen, die politisch ver-folgt worden sind, muß, weil es ihnen heute oftmals be-sonders schlechtgeht, ein zusätzliches Einkommen ge-währt werden. Vor dem Hintergrund des jüngsten Ur-teils des Bundesverfassungsgerichts, das den deutschenSteuerzahler sehr viel Geld kosten wird, fordere ich des-halb diesen Anspruch für alle.Ich glaube, daß der Ansatz, den die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewählt hat, einen Schritt in dierichtige Richtung darstellt. Es ist ein moderater Schritt,und er ist bezahlbar. Es ist keine überhöhte Forderung.Ich verstehe auch die andere Seite, die Opferverbände,die unseren Gesetzentwurf kritisieren und sagen, dieHöhe der Ehrenrente – oder wie auch immer man dasbezeichnet – ist mit 200 oder 300 DM viel zu niedrig.Aber das können wir in der parlamentarischen Beratungnoch besprechen, und vielleicht kommen wir zu einembesseren Ergebnis.Meine Damen und Herren, wir haben heute den17. Juni 1999. Ich erinnere mich, Herr Hacker, an IhreWorte anläßlich eines Gespräches mit politischen Op-fern in Ihrer Heimatstadt Schwerin. Sie sagten damals,daß diese Koalition jetzt ein Abschlußgesetz in denBundestag einbringen will. Ich glaube, wir sollten diesesSignal nicht aussenden. Es wird den 17. Juni nicht nur1999, sondern auch 2000, 2001 und in den folgendenJahren geben. Ich meine, es ist mehr als notwendig, die-sen Tag im Gedächtnis des deutschen Volkes zu bewah-ren.
Dr. Michael Luther
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3712 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Wir sollten an diesem Tag immer wieder daran erin-nern, daß es eine Diktatur im Osten Deutschlands gab,und wir sollten daran erinnern, daß es dafür Verantwort-liche gibt. Die Menschen sind Erinnerungsoptimisten;sie verfallen manchmal in DDR-Nostalgie. Aber bei al-lem Erinnerungswerten: Die DDR war eine Diktatur miteinem Unterdrückungsapparat, die viele Menschen inStasi-Gefängnisse gebracht hat. Das gehört zur Wahr-heit, und daran müssen wir erinnern.
Ich würde mir wünschen, daß wir jedes Jahr am17. Juni im Deutschen Bundestag eine Debatte zu die-sem Thema führen. Der 17. Juni hat gezeigt, daß desMenschen hohes Gut Frieden und Freiheit sind. Diepolitischen Opfer vom 17. Juni 1953, aber auch aus derganzen DDR-Zeit haben dafür gestritten. Sie warenKristallisationspunkt für die Wende vor zehn Jahren.Diese Wende, die uns diese Debatte im DeutschenBundestag überhaupt erst ermöglicht, hat vor zehn Jah-ren – auch daran möchte ich erinnern – in Ungarn, inSopron, begonnen. Dort wurde das Loch in den Zaungeschnitten.Wir alle profitieren heute von der Lebensleistung die-ser Menschen, die sich für Frieden und Freiheit einge-setzt haben. Deshalb ist es mir am heutigen Tage ein be-sonderes Anliegen, ihnen einen besonderen Dank zu sa-gen.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hacker.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, am 17. Juni,kann die Debatte im Plenum zu dem Gesetzentwurf derCDU/CSU nicht geführt werden, ohne den historischenBezug zum 17. Juni 1953 herzustellen – ein Datum inder deutschen Geschichte, das für Widerstand gegenDiktatur und Gewalt und für Freiheit, Demokratie unddeutsche Einheit steht.Am 17. Juni 1953 unterdrückten sowjetische Panzerin Ostberlin und an anderen Orten der DDR den Volks-aufstand gegen das Ulbricht-Regime. Erst im Herbst1989 konnte erreicht werden, was am 17. Juni 1953 mitWaffengewalt verhindert wurde. Das Scheitern desSED-Regimes war die logische Konsequenz, weil essich von Anfang an auf Unfreiheit und Mißachtung derbürgerlichen Rechte gründete.Der Untergang der DDR war sicherlich auch das En-de einer Illusion – vor allen Dingen bei einigen West-deutschen –, daß es mit der DDR vielleicht doch diebessere Bundesrepublik Deutschland geben könnte.Herr Luther, in der Bewertung der historischen Be-deutung des 17. Juni 1953 sind wir uns sicherlich einig.Die Schlußfolgerungen, die wir ziehen, sind aber andere.Wir sind dafür, daß wir jetzt handeln, daß wir schnellhandeln und daß wir denen, die sich um die Werte Frei-heit, Demokratie, deutsche Einheit verdient gemacht ha-ben, jetzt Hilfe anbieten.
Gegenüber den Opfern politischer Verfolgung in derDDR haben wir die Pflicht, ihr Schicksal zu würdigenund alles Mögliche zu tun, um ihre heutige Lebenssitua-tion zu verbessern. Rehabilitierung und materielle Aus-gleichsleistungen können nicht die Jahre der politischenHaft, den Tod an der Berliner Mauer, die Schäden an derGesundheit und die beruflichen Benachteiligungen mil-dern oder ungeschehen machen. Die Opfer bzw. ihreAngehörigen fordern jedoch zu Recht, daß die offen-sichtlichen Defizite in der Rehabilitierungsgesetzgebungendlich beseitigt werden. Dies – das sage ich hier wieauch in Schwerin – wird die jetzige Bundesregierungleisten. Die Koalitionsfraktionen haben sich über denHandlungsrahmen, der dazu notwendig ist, abgestimmt.Wir werden alsbald einen Gesetzentwurf in den Deut-schen Bundestag einbringen; unser Antrag ist dafür dieGrundlage.Ich möchte Sie, Herr Dr. Luther, daran erinnern, daßSie bis 1994 gebraucht haben, um die Anstöße, die dieletzte Volkskammer, wie Sie wissen, noch im September1990 mit dem Rehabilitierungsgesetz gegeben hatte, imZweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz umzusetzen.Ungefähr sieben Monate nach der Bundestagswahl stre-ben wir an, Ihren Zeitplan deutlich zu unterschreiten.Das kann ich Ihnen versprechen.Wir alle tragen die moralische und geschichtlicheVerantwortung gegenüber dem Schicksal der Opfer desSED-Regimes und halten die Zusagen ein, die die SPDund insbesondere Bundeskanzler Gerhard Schröder denOpfergruppen vor und nach der Wahl gegeben haben.Wenn sich Diktatur – in welcher Form auch immer –in Deutschland nicht wiederholen soll, ist dafür nichtzuletzt die Auseinandersetzung mit dem Unrecht desSED-Systems notwendig. Wenn sich bei den Bürgerin-nen und Bürgern in Deutschland das Bewußtsein stärkensoll, daß es richtig ist, sich für Demokratie und Rechteinzusetzen, dann muß für die Opfer der politischenVerfolgung in der SBZ und DDR Gerechtigkeit ge-schaffen werden. Diese Menschen haben sich nicht ge-beugt und sind trotz Druck aufrecht geblieben. Sie habendafür in Tausenden Fällen in Haft gesessen – in Baut-zen, Hoheneck, Brandenburg, Bützow und anderswo.An der Berliner Mauer, die nach dem Willen der SEDnoch hundert Jahre stehen sollte, an der innerdeutschenGrenze und auf der Ostsee haben Hunderte Menschenihr Leben verloren, nur weil sie in die Freiheit wollten.Für sie alle stehen die Namen Peter Fechter und ChrisGueffroy. Wir werden ihr Schicksal und das ihrer Fami-lien nicht vergessen.
Bevor ich zu Inhalten der notwendigen gesetzlichenRegelungen und zu den Vorschlägen der CDU/CSUDr. Michael Luther
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komme, möchte ich unterstreichen, daß bei aller Kritikan der Inkonsequenz der früheren Bundesregierung inder Rehabilitierungsgesetzgebung der Deutsche Bun-destag mit der Ehrenerklärung vom 17. Juni 1992 eindeutliches Zeichen gesetzt hat. Ich bedaure zugleich, daßdiese Ehrenerklärung für alle Verfolgtengruppen inder Öffentlichkeit Deutschlands kaum wahrgenommenwurde.
Deshalb rege ich an, in den Rehabilitierungsbehördender Länder diese Bundestagserklärung in geeigneterForm für jedermann sichtbar darzustellen.
Das wäre ein weiteres öffentliches Bekenntnis, daß sichGesetzgeber und Landesbehörden der Verantwortunggegenüber den Opfern bewußt sind. Ich appelliere andie zuständigen Landesminister und Behördenleiter, die-sen Gedanken aufzugreifen und umzusetzen. Das kostetwahrlich nicht viel – weder Arbeitszeit noch Geld.Ich möchte jetzt auf den vorliegenden Gesetzentwurfder CDU/CSU kurz eingehen. Auch dieser Gesetzent-wurf wird den Erfordernissen und meines Erachtens denberechtigten Erwartungen der Opfer nicht gerecht. Erenthält im wesentlichen zwei Vorschläge: Leistungsver-besserungen für verfolgte Schüler und zusätzliche finan-zielle Ausgleichsleistungen bei mindestens drei JahrenVerfolgungszeit, also eine Art Opferrente. Diese Vor-schläge, Herr Dr. Luther, die wir in den Berichterstatter-gesprächen ausführlich erörtern werden, bleiben unzu-reichend und enthalten Widersprüche in sich. Ich meine,es gibt insbesondere Widersprüche hinsichtlich der Zu-gangsvoraussetzung drei Jahre Verfolgungszeit. Aberdarüber werden wir sprechen.Was mich besonders irritiert, ist die Tatsache, daß dieCDU/CSU die Notwendigkeit schnellstmöglicher Ver-besserungen – ich zitiere jetzt aus Ihrer Begründung –der Situation der Opfer des SED-Regimes mit denEntscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom28. April 1999 in einen rechtsstaatlich nicht haltbarenZusammenhang bringt.
Herr Kollege Dr. Luther, ich denke auch, Ihre heuti-gen Ausführungen waren nicht hilfreich. Wir haben hierim Plenum des Deutschen Bundestages immer wiederNebeldebatten um Stasi-Renten, um Renten aus Son-der- und Zusatzversorgungssystemen geführt. Dieshat mit unserer Gesetzgebung zum Rehabilitierungsrechtformaljuristisch nichts zu tun.
Die Begründung dafür, daß wir die Defizite in der Re-habilitierungsgesetzgebung jetzt ausgleichen wollen,brauchen wir nicht aus Stasi-Renten abzuleiten. Wirleiten sie aus einer Verantwortung gegenüber den Op-fern ab. Ich denke, da ist ein grundsätzlicher Unter-schied in der Betrachtungsweise.
Wo liegt bei der CDU/CSU die Logik, frage ich Sie,wenn Sie die Gerechtigkeit gegenüber den Opfern desSED-Systems abhängig machen von der Gestaltung derRentenansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- undSonderversorgungssystemen der DDR? Wo liegt da dieLogik? Es gibt keine Logik.
Sie bleiben sich also treu: Weder in der Regierungs-verantwortung noch in der Oppositionsrolle bringen Siebei der Rehabilitierungsgesetzgebung Entscheidendesauf den Weg, um Gerechtigkeit zu schaffen. Auch dieserGesetzentwurf bleibt Stückwerk. Er wird von den Op-ferverbänden nicht ernst genommen werden, weil dieDefizite der beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetzeund der unvollkommenen Novellierungen entwedernicht erkannt oder ignoriert werden.Die Schwachstellen Ihrer Gesetzgebung sind bekannt.Wir haben sie Ihnen in den Berichterstattergesprächen,in den Beratungen im Rechtsausschuß und auch im Ple-num aufgezeigt.Die Defizite der bisherigen Gesetzgebung und diedaraus resultierende Enttäuschung bei den Opfern undihren Angehörigen ergeben sich daraus, daß Sie wegenIhres fiskalisch bestimmten Ansatzes den Blick für dieSituation der Opfer verloren haben.Mit dem Gesetzentwurf vom 19. März 1996 habenwir Ihnen den Mängelkatalog Ihres Handelns aufgezeigt.Wir haben noch in der letzten Runde der Beratungen zuIhrem damaligen Gesetzentwurf mit Änderungsanträgenin der Drucksache 13/7502 versucht, die entscheidendenProbleme zu lösen. Sie haben damals blockiert; das mußman auch heute so deutlich sagen. Mit dem von Ihnenvorgelegten Gesetzentwurf gewinnen Sie keine Glaub-würdigkeit zurück.
Ich rufe noch einmal die Punkte in Erinnerung, dieaus der Sicht der SPD von besonderer Bedeutung sindund mit dem Koalitionspartner abgestimmt sind und diein einen Gesetzentwurf und dann in ein Gesetz für dieBetroffenen Eingang finden werden.Es ist dies die einheitliche Kapitalentschädigung inHöhe von 600 DM pro angefangenen Haftmonat. Essind Verbesserungen bei der Anerkennung von haftbe-dingten Gesundheitsschäden und bessere Leistungen fürdie Verschleppten jenseits von Oder und Neiße.Warum sind das für uns die entscheidenden Rege-lungspunkte? Sie sind es, weil ein Jahr Haft in Bautzenfür alle Betroffenen die gleiche Wirkung hatte, egal obder Betroffene später in der DDR blieb, in die Bundes-republik Deutschland flüchtete oder freigekauft wurde.Hans-Joachim Hacker
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Sie sind es zum anderen deshalb, weil seit den schä-digenden Ereignissen Jahrzehnte vergangen sind undheute der Kausalzusammenhang zwischen der politi-schen Haft und den Schädigungsfolgen, den menschen-unwürdigen Haftbedingungen und den heutigen Ge-sundheitsschäden schwer nachweisbar ist und dasSchicksal der Verschleppten aus Gebieten jenseits vonOder und Neiße – es handelt sich um etwa 80 000 Men-schen, vor allem Frauen und Mädchen – nun endlich imRehabilitierungsgesetz Berücksichtigung finden muß.Ich will an dieser Stelle auch zum Ausdruck bringen,daß ich die Bemühungen aller Mitglieder des Rechtsaus-schusses, die sich in Vorbereitung auf die Ausschußreisevor wenigen Wochen nach Moskau mit diesem Themabefaßt und sich in den offiziellen Gesprächen in Moskaufür die Rehabilitierung der Verschleppten eingesetzt ha-ben, als hilfreich empfinde.Nicht zuletzt kommt es uns darauf an, endlich einegesetzliche Regelung über Ansprüche derjenigen zuschaffen, die ihre Angehörigen in politischer Haft verlo-ren haben oder deren Angehörige an der Mauer zu Todegekommen sind.Dies, meine Damen und Herren, sind Regelungsvor-schläge, die von den Betroffenen erwartet werden unddie wir, die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis90/Die Grünen, einfordern. Unser Antrag auf Druck-sache 14/1165 greift genau diese Fragen auf.Herr Dr. Luther, ich habe schon gesagt, daß wir auchbereit sind, alle weiteren Fragen, die insbesondere vonOpferverbänden vorgetragen werden, auch jene, die Sievortragen werden, im Kreise der Berichterstatter gründ-lich zu beraten und uns ihnen nicht zu verschließen.Auch wir wissen, daß Gesetzentwürfe, die Fraktionenin den Deutschen Bundestag einbringen, das Haus nichtso verlassen, wie sie ursprünglich geschrieben waren. Indiesem Sinne lade ich Sie alle ein, sich in die Diskussionzu der vielleicht doch abschließenden Regelung in derRehabilitierungsgesetzgebung einzubringen, Ihre Vor-schläge vorzulegen und einen Weg zu finden, nunmehreine tragfähige und gerechte Regelung zur Rehabilitie-rung und Wiedergutmachung für die Opfer der kommu-nistischen Diktatur in der SBZ/DDR zu schaffen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Auch in der 14. Legislaturperiodemüssen wir uns mit dem gesellschaftlichen Trümmer-haufen, den uns die DDR hinterlassen hat, beschäftigen.Der Einsatz vieler Bürger der DDR für Freiheit undDemokratie hat regelmäßig zu persönlichen Nachteilenbei denjenigen geführt, die sich auf ihr Menschenrechtder Meinungsfreiheit berufen haben, und das nicht nuram 17. Juni, sondern die ganzen Jahre über. Die Unter-drückungsmittel der SED-Diktatur waren dabei viel-fältig. Wir haben lange gebraucht, auch hier im Bun-destag, um diese vielfältigen Repressionsarten überhauptauflisten zu können.Das wiedervereinigte Deutschland hat in den letztenLegislaturperioden auch im Bereich der beruflichenRehabilitierung, über den wir heute im wesentlichensprechen, vieles erreicht. Aber die vielfältigen und un-terschiedlichen Behinderungen, mit denen sich die Bür-ger und Bürgerinnen konfrontiert sahen, werden – hiersollte der Gesetzgeber auch keine falschen Hoffnungenmachen – nie vollständig durch Rehabilitationsvor-schriften wiedergutgemacht werden können.
Wir werden als Gesetzgeber auch nie alles Furchtba-re, das Bürgern der DDR im Berufsleben widerfahrenist, gesetzlich aufgreifen können. Auch heute noch sehenwir Auswirkungen von Maßnahmen gegenüber Bürgern,die in ihrem beruflichen Fortkommen behindert wordensind, ohne daß sie überhaupt eine Entschädigung be-kommen haben.Allerdings müssen wir auch ehrlich zugeben, daß esnoch keiner Gesellschaft gelungen ist, alles Unrecht, dasin der Vergangenheit geschehen ist, wieder gutzuma-chen. Dasselbe gilt zum Beispiel für die „alte“ Gesell-schaft der Bundesrepublik Deutschland, was das Un-recht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern betrifft,das die Nazidiktatur über uns gebracht hat.Dabei ist auch die geldliche Entschädigung, diefinanzielle Entschädigung letztlich keine Wiedergut-machung im engeren Sinne, sondern nur der Tropfen aufden heißen Stein, der das erlittene Unrecht im nachhin-ein ein wenig erträglicher macht.
Deshalb darf neben der Verbesserung der materiellenEntschädigung der Opfer nicht vergessen werden, daßder Vorgang der Rehabilitierung im Rechtsstaat wesens-notwendig auch eine immaterielle, nämlich eine symbo-lische Seite hat oder, wie es Professor Schmidt-Jortzigeinmal formulierte, das für alle sichtbare Wieder-ins-Recht-Setzen der Opfer bedeutet.
Diese Symoblik, diese Wirkung nach außen ist ganzwichtig.Ich begrüße es daher, daß die CDU/CSU einen Ge-setzentwurf zur Verbesserung der beruflichen Rehabili-tation der SED-Opfer vorlegt. In allerletzter Minute ha-ben nun auch die Koalitionsfraktionen einen – wennauch wenig präzisen – Antrag mit Absichtserklärungeneingebracht. Wir werden den Antrag bzw., wenn er alsGesetzentwurf eingebracht wird, gemeinsam mit demder CDU/CSU intensiv im Rechtsausschuß beraten müs-sen. Ich nehme Ihre Anregung, Herr Hacker, auf: Wirwerden gemeinsam mit den Berichterstattern im Rechts-ausschuß, aber auch in den anderen Ausschüssen inten-siv daran zu arbeiten haben, zunächst einmal das „factfinding“ vorzunehmen, also festzustellen, wo noch FälleHans-Joachim Hacker
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zu regeln sind, was an Unrecht geschehen ist, und dannfestzulegen, wie dies finanziell einigermaßen angemes-sen entschädigt werden kann. Ich weiß aus der Vergan-genheit, wie schwierig es ist, die vielfältigen Repressi-onsmittel überhaupt zu erfassen. Wir sollten uns imRechtsausschuß und in den anderen Ausschüssen abergroße Mühe geben, hier zu einem vernünftigen Ergebniszu kommen. Dazu werden wir sicherlich mit beitragen.Schon beim Abschluß der Arbeit der Enquete-Kommission waren alle der Ansicht, daß noch einigeLücken zu schließen sind. Der Gesetzentwurf derCDU/CSU ist schließlich ein Teil der Umsetzung derHandlungsempfehlungen, und auch der Antrag der Ko-alitionsfraktionen findet sich fast wortwörtlich in demAbschlußbericht wieder, was um so mehr die gute Ar-beit der Kommission – das sollte man auch hier nocheinmal erwähnen – aufzeigt.Der Gesetzentwurf der CDU/CSU wird hoffentlichauch von denjenigen Kollegen aus der CDU/CSU, dieich hier nicht sehe, unterstützt, die jene Forderungen, diedie Fraktion jetzt erhebt, noch in der letzten Legislatur-periode aus finanzpolitischen Gründen abgelehnt haben.
Beispielsweise die Mitarbeit von Herrn Waigel möchteich gerne einfordern.Die F.D.P. wird jedenfalls alle notwendigen undfinanzierbaren Maßnahmen zur Verbesserung der Situa-tion der Betroffenen unterstützen; denn gerade dieRehabilitierung ist eine essentielle Notwendigkeit fürdas Einfinden der von der SED-Diktatur Verfolgten indie Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele.
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich gehörezu denen hier im Deutschen Bundestag, für die der17. Juni ein Tag gewesen ist, an dem feierliche Redengehalten wurden, die immer den Eindruck hatten, daßviele aus dem Westen Deutschlands den 17. Juni, dasEngagement und den Kampf der Menschen im OstteilDeutschlands für ihre politischen Zwecke zu mißbrau-chen versucht haben, und die deshalb an den Feierlich-keiten zum 17. Juni entweder gar nicht teilgenommenoder diesen Reden mit einem sehr unguten Gefühl zuge-hört haben.
Es ist sicherlich richtiger und besser, daß sich derDeutsche Bundestag am 17. Juni 1999 mit denjenigen inder ehemaligen SBZ – zunächst hieß sie ja so – unddann in der DDR befaßt, die tatsächlich gekämpft undgelitten haben und Nachteile erdulden mußten. Dem tra-gen die beiden heute vorgelegten Papiere Rechnung, dervon der CDU/CSU vorgelegte Gesetzentwurf und dervon der Koalition vorgelegte Antrag. Hier kann es nichtdarum gehen, den Menschen eine Wiedergutmachung zuverschaffen. Es ist sicherlich mit materiellen Zahlungen– und seien sie noch so hoch – nicht möglich, ihnen diein den Gefängnissen verbrachten Jahre, die Bildungs-und Berufschancen, die ihnen auf Grund politischer Ver-folgung genommen wurden, zurückzugeben. Es kannnur darum gehen, ein Signal zu setzen und auch durchZahlungen anzuerkennen, was sie erduldet und erlittenhaben, und ihnen damit eine angemessene Entschädi-gung zuteil werden zu lassen.Wir kommen damit auch einer Forderung des Eini-gungsvertrages nach. Art. 17 des Einigungsvertrageserlegt der Bundesrepublik Deutschland – jetzt der ge-samten Bundesrepublik Deutschland – die Verpflichtungauf, eine angemessene Entschädigung zu leisten. Daswollen wir nun tun, auch wenn inzwischen viele Jahrevergangen sind.Der Antrag von CDU und CSU ist ein Antrag, denwir eigentlich vor vier oder fünf Jahren erwartet hätten,als diese Parteien die Möglichkeiten hatten, hier imDeutschen Bundestag Gesetze zu verabschieden, Zah-lungen zu bewilligen und das zu tun, was sie jetzt for-dern. Dieser Antrag entspricht in wesentlichen Teileneinem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vom Novem-ber 1995. Die Forderung ist deshalb nicht falsch; sie istund bleibt richtig. Es ist nur traurig, daß Sie sich in derZeit, als Sie die Möglichkeit hatten, diese Zahlungen zubewilligen und zu leisten, unseren Forderungen nichtangeschlossen haben und jetzt, wo Sie in der Minderheitsind, wo Sie nicht mehr die Verantwortung für denHaushalt tragen, alle möglichen Zahlungen verlangenund aufsatteln.Wir haben in unserem Antrag das berücksichtigt, wasan der bisherigen Rehabilitations- und Entschädigungs-regelung eigentlich das Offensichtlichste an Ungerech-tigkeit ist. Ich als Rechtsanwalt, der immer auch mit In-haftierten in der Bundesrepublik zu tun hatte, habe niebegriffen und konnte nie nachvollziehen, wieso ein Mo-nat, von einem Gefangenen in einem Gefängnis in derDDR unschuldig verbracht, nur die Hälfte von dem wertsein sollte, was ein Lebensmonat für einen Menschen,der unschuldig in einem Gefängnis in der Bundesrepu-blik Deutschland in Haft gewesen ist, wert war. Ein In-haftierter in der Bundesrepublik bekam 20 DM pro Tag,ein Inhaftierter in der ehemaligen DDR bekam 10 DMpro Tag als Entschädigung. Das ist nicht nachzuvollzie-hen. Das ist sogar am Rande der Diskriminierung derer,die lange Zeit in DDR-Gefängnissen unter den dort vieldramatischeren und viel schlechteren Bedingungen in-haftiert waren.Wir sehen nun mit der Regelung, wie wir sie auch invielen Gesprächen – deshalb dauert das auch so lange –mit den Opferverbänden besprochen haben, eine Zah-lung von 600 DM pro Monat vor. Damit wird die Ent-schädigung für DDR-Häftlinge der Entschädigung, dieim Westen für unschuldig erlittene Haft gezahlt wurde,angeglichen. Ich denke, das ist richtig und angemessen.Rainer Funke
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Es ist an der Zeit, daß diese Regelung endlich Gesetzes-kraft erlangt und daß die Zahlungen geleistet werden.Wir versuchen weiterhin, denen zu helfen, denen baldnicht mehr zu helfen ist, weil sie dann nicht mehr leben.Das sind die Menschen aus den Gebieten jenseits derOder und Neiße, die in die UdSSR verschleppt wordensind. Es sind alte Menschen, sehr häufig alte Frauen.Wir müssen jetzt – wenn nicht jetzt, wann denn dann? –,so viele Jahre nach dem Krieg und nach der Verschlep-pung, endlich dafür sorgen, daß diese Menschen wenig-stens einen Teil der materiellen Entschädigung bekom-men.Wir versuchen, denen zu helfen – daß dies nicht ge-schah, war immer schwer nachvollziehbar und einsehbarfür mich –, die Angehörige verloren haben. Es ist hierbeklagt worden, daß Menschen an der Mauer erschossenworden sind, daß Menschen, auch während der Ereignis-se vom 17. Juni 1953, gestorben sind und daß die Hin-terbliebenen dieser Menschen keine Entschädigung, je-denfalls keine angemessene Entschädigung, erhalten ha-ben. Ich denke, es ist auch hier an der Zeit zu helfen.Das sind die am heftigsten Betroffenen, bei denen über-haupt nicht einzusehen ist, warum eine Entschädigungangemessener Art bis heute verweigert wird. Auch fürsie wollen wir endlich eine Regelung schaffen. Auch daswird von den Opferverbänden gefordert; es ist in denGesprächen immer wieder ganz nachdrücklich verlangtworden.Zu diesen drei Punkten haben wir eine gesetzlicheRegelung vor. Ich gehe davon aus, daß diese gesetzlicheRegelung noch dieses Jahr in Kraft treten kann.Zu guter Letzt ist daran zu denken, daß wir es denMenschen nicht vorwerfen können, wenn sie die An-tragsfristen, die in den Gesetzen vorgesehen waren,nicht eingehalten haben. Viele Menschen erinnern sichüberhaupt erst dann, wenn sie in das Rentenalter kom-men und ihre Renten beantragen, daran, daß es dieMöglichkeit gibt, zusätzliche Leistungen zu erhalten. Siewollen dann Anträge stellen, aber die Fristen sind abge-laufen. Deshalb ist es dringend erforderlich, die Fristen,wie es ja auch in der Vergangenheit geschehen ist, im-mer wieder zu verlängern. Es kann nicht sein, daß we-gen Fristablaufs einer Person, die in den Gefängnissender DDR gelitten hat oder die in der DDR durch Verfol-gung staatlicher Organe nächste Angehörige verlorenhat, die angemessene Entschädigung nicht gezahlt wird.Deshalb muß auch hier eine großzügige Verlängerungder Fristen in das Gesetz aufgenommen werden, damitdie Unsicherheit beseitigt wird und Gerechtigkeit herge-stellt wird.Wir denken, wir sind mit diesem Gesetz, das in Ar-beit ist, auf einem guten Weg. Es gab viele Gespräche.Es gab eine weitgehende Übereinstimmung mit denVertretern der Opferverbände. Wir wollen dieses Gesetznunmehr im Deutschen Bundestag einbringen; wir wol-len es verabschieden, und wir wollen erreichen, daß esnoch in diesem Jahr zu Zahlungen auf Grund der verän-derten gesetzlichen Lage kommt.Damit können wir für die Verfolgten ein wirklichesSignal setzen, daß die rotgrüne Regierung die Verspre-chen einlöst, die gerade diejenigen der Bündnisgrünen,die vom Bündnis 90 her kommen, immer wieder ge-macht haben. Wir haben im Wahlkampf diese Verspre-chen gemacht. Ich denke, dabei handelt es sich durchausum eine Verbesserung, die sich sehen lassen kann, wenndie Menschen, die in DDR-Gefängnissen gelitten haben,nun mit einer Verdoppelung der Beträge rechnen kön-nen, die ihnen von der vorherigen Bundesregierung, vonden vorherigen Koalitionsparteien zugebilligt wurden.Wir lösen damit ein Versprechen aus dem Wahlkampfein; wir lösen damit ein Versprechen ein, das die neueRegierung beim Regierungsantritt durch den Kanzlerpersönlich gegeben hat. Ich denke, das ist zum 17. Juni1999 das richtige Zeichen, das dieser Bundestag setzenkann.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Die PDS hat sich dem Gedankenund der Forderung der Rehabilitierung von Menschen,die in der DDR Unrecht erlitten haben, nie entzogen, imGegenteil: Auch wir haben das immer für eine notwen-dige Voraussetzung für die Herstellung der innerenEinheit Deutschlands und für die Grundlage der Her-stellung des Rechtsfriedens in unserem Land gehalten.
Darum haben wir im Mai 1997 dem seinerzeitigen Ent-wurf der SPD zur Gesetzesverbesserung zugestimmt,den Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,ablehnten.Damals wie heute verkennen wir nicht, daß für dieeinzelnen Betroffenen gerechte Lösungen nötig sind –und das nicht nur im Interesse des Rechtsfriedens imLande, sondern auch und vor allem, um diesen Men-schen ganz individuell späte Gerechtigkeit widerfahrenzu lassen.Im besonderen Maße ergibt sich diese Forderung na-türlich für jene, die auf Grund staatlichen Unrechts inder DDR ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten oderihre Ausbildung aufgeben mußten, womit die Grundlageihrer späteren Existenz gefährdet wurde. Wie viele Men-schen das betrifft, vermag ich nicht zu sagen.Daß die für die Entschädigung vorgesehenen Mittelbisher nicht ausgeschöpft wurden, hat gewiß vieleGründe, denen man sorgfältig nachgehen muß. Offen-sichtlich ist, daß es sich als Thema für politische Propa-ganda nicht eignet.
Ich möchte Sie auf ein weiteres Problem aufmerksammachen: Das geltende Recht ermöglicht es, auch Straf-täter, die nach damals gültigem DDR-Recht, also recht-mäßig, verurteilt worden sind, heute zu rehabilitierenund zu entschädigen. Das hat zum Beispiel dazu geführt,Hans-Christian Ströbele
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daß die frühere KZ-Aufseherin Margot Kunz für eine inder DDR wegen ihrer Verbrechen im faschistischenDeutschland verbüßten Haftstrafe im Jahre 1994 64 000DM Entschädigung erhalten hat.
Zu solchen Ergebnissen kann es kommen, wenn dienotwendige Rehabilitierung zu Unrecht politisch Ver-folgter zu einer Generalabrechnung mit dem besiegtenpolitischen Gegner mißbraucht wird.
Leider wird der vorliegende CDU/CSU-Gesetz-entwurf nicht seinem im Titel genannten Anliegen ge-recht. Es geht Ihnen nicht vorrangig um die Opferent-schädigung, sondern um eine Abrechnung mit der DDRals Unrechtsstaat. Die Verfasser unterscheiden offenbarnur noch zwischen SED-Mitgliedern als Tätern auf dereinen Seite und Opfern auf der anderen Seite. Diese Op-fer wiederum werden unterteilt in allgemein Benachtei-ligte und in – als politisch Verfolgte besonders – Benach-teiligte.
Ein zweiter problematischer Punkt ist ein Teil derunter „A. Problem“ gemachten Ausführungen im CDU/CSU-Gesetzentwurf. Darin heißt es:Die Entscheidungen des Bundesverfassungsge-richtes vom 28. April 1999 zu Fragen der Überlei-tung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zu-satz- und Sonderversorgungssystemen der DDR indie gesetzliche Rentenversicherung des wiederver-einigten Deutschlandverändern die bisherige Situation erheblich. – Die Aus-sage an sich geht in Ordnung. Rentenkürzungen alsStrafmaßnahmen sind Unrecht und können so nichtweiter praktiziert werden. Das ist das, was dahintersteht.Inwiefern das jedoch die Besserstellung von Opfern po-litischer Verfolgung in der DDR nach sich ziehen muß,bleibt unklar. Logisch ist der Schluß jedenfalls nicht. ImGrunde kritisieren Sie mehr oder weniger unverhohlenein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das heißt, Siesuchen sich aus, wann Ihnen der Rechtsstaat paßt undwann nicht. Wahrscheinlich steht jedoch der Gedankeeiner Gleichstellung bzw. Nichtschlechterstellung da-hinter.Auch wenn es hier nicht zum Thema paßt, möchte ichSie daran erinnern, daß Sie sich dem Grundsatz derGleichbehandlung der Bergleute in Ost und West inSachen sozialer Leistungen seit Jahren verweigern,
und zwar zu Lasten der ostdeutschen Bergleute. Hierfindet tatsächlich eine allgemeine Benachteiligung statt.
– Das stimmt ja nicht! Wir können noch öfter darüberstreiten, und wir werden noch darüber streiten. Ich sageIhnen: In Berlin werde ich dieses Thema weiter voran-treiben.
Aber zurück zum Thema: Eine Gleichstellung istnoch in anderer Hinsicht geboten. Es ist nicht einzuse-hen, warum die Opfer politischer Verfolgung in derBundesrepublik Deutschland – das sind zwischen1952 und 1968 immerhin 8 000 bis 10 000 Personen –weiterhin von Rehabilitierung und Entschädigung aus-geschlossen bleiben sollen.
Ebenso müßten Tausende Opfer der vom EuropäischenGerichtshof für völkerrechtswidrig erklärten Berufsver-botspraxis auf der Basis des sogenannten Radikalener-lasses von 1972 rehabilitiert und entschädigt werden,
ganz zu schweigen davon, daß auch heute noch vieleOpfer des deutschen Faschismus vergeblich auf Rehabi-litierung und Entschädigung warten.
Solange wir nicht auch für diese Personengruppen trag-fähige Lösungen erarbeiten, werden wir mit der Gegen-wart und Zukunft vor allem im Hinblick auf die Her-stellung der deutschen Einheit große Probleme haben.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Jüttemann, zu Ihren Redebeiträgen zu Themenwie dem heutigen Thema fällt mir meistens nichts mehrein. Ich will zunächst in aller Form zurückweisen, daß esbei der Würdigung und Rehabilitierung von politischVerfolgten in der Zeit der SBZ bzw. DDR in irgendeinerForm um ein ideologisches Rehabilitierungsrecht geht.Es geht einfach um einen Auftrag aus der deutschenEinheit, den wir nicht diffamieren lassen dürfen, schongar nicht in einer solchen Debatte.
Herr Jüttemann, ich möchte in aller Ruhe feststellen:Daß Ihre Fraktion zu diesem Thema ein besonderesVerhältnis hat oder haben müßte, kann man – bei allerVorsicht – sagen. Dabei kann es nicht nur darum gehen,Herr Jüttemann, daß Sie einem Antrag zustimmen, dervon einer Seite des Parlaments eingebracht wird. Ichwürde mir durchaus etwas mehr Tätigkeit von IhrerGerhard Jüttemann
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Seite wünschen, vor allem dann, wenn Sie in derÖffentlichkeit darstellen, Sie seien die reformierte,gewandelte politische Kraft. Ich mache Ihnen einenVorschlag, Herr Jüttemann: Führen Sie einen Sonder-beitrag für die Mitglieder der PDS ein! Helfen Sie finan-ziell mit, Wiedergutmachung zu leisten. Das wäre einAufarbeitungsbeitrag.
Seit 1990 debattiert und streitet der Deutsche Bun-destag über Möglichkeiten zur Verbesserung derSituation der SED-Opfer und über Möglichkeiten zurVerbesserung der völlig unzureichenden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze aus der 12. und 13. Legis-laturperiode. Allein die Sozialdemokraten haben in denzurückliegenden acht Jahren fünfzehn parlamentarischeInitiativen gestartet. Bündnis 90/Die Grünen waren hierähnlich intensiv tätig. Diese parlamentarischen Initiati-ven wurden allerdings in den letzten acht Jahren von derdamaligen Mehrheit im Deutschen Bundestag entwederverschleppt oder einfach „abgebügelt“. Auch das mußman sich in Erinnerung rufen.Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich die heuti-ge Debatte; denn die Verbesserung der Regelungen fürRehabilitierung und Wiedergutmachung ist ein zentralesAnliegen der Bundesregierung. Dies hat der Bundes-kanzler in seiner Regierungserklärung zum Stand derdeutschen Einheit am 19. April dieses Jahres in Berlinausdrücklich bekräftigt.Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß ich in derheutigen Debatte – neben der positiven Würdigung derLeistungen der Bundesregierung – in einer deutlichenSprache auch auf den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion näher eingehe, um die Hintergründe,die ich für wichtig halte, aufzuzeigen. Ich möchte es aufden Punkt bringen: Den Gesetzentwurf, der heute vonder CDU/CSU-Fraktion eingebracht worden ist, halteich für völlig unzureichend. Ich halte ihn für inhaltlichverfehlt und auch handwerklich für das Schlechteste,über das wir in den letzten Jahren zu diesem Thema de-battiert haben. Ich möchte meine Behauptung an fünfPunkten festmachen.Daß hier handwerklich schlechte Arbeit geleistetworden ist, kann man schon am Titel des Gesetzent-wurfs sehen. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß es hier um„Rehabilitierung“ und nicht um „Rehabilitation“ geht?
Ist Ihnen das wirklich nicht aufgefallen? Ist derCDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht aufgefallen, daß esbei der Wiedergutmachung um Rehabilitierung undnicht um Rehabilitation, um gesundheitliche Wiederher-stellung geht, etwa nach Abnahme eines Beines, nacheinem Autounfall? Ist Ihnen das allen Ernstes entgan-gen?
Soll Wiedergutmachung künftig zu einer Unterabteilungdes Kur- und Reha-Wesens werden? Oder was habenSie sich unter dem Begriff „Rehabilitation“ vorgestellt?Das möchte ich gern einmal wissen. – Herr Luther, ichbin sehr enttäuscht. Ich registriere, daß Sie das nichternst nehmen. Ich unterstelle, daß Ihnen hier ein Mißge-schick unterlaufen ist.
Der Begriff „Rehabilitation“ steht schon in der Über-schrift des Gesetzentwurfs, die ja das Aushängeschildeines Gesetzes ist, Herr Luther. Ich möchte hier keineAbsicht unterstellen; vielmehr gehe ich von einem Miß-geschick aus. Aber Sie sollten diesen peinlichen Ausrut-scher im parlamentarischen Verfahren aus der Weltschaffen. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie zum Bei-spiel einen Änderungsantrag stellen und daß sich dieFraktionen der Opposition diesem Änderungsantragnicht verschließen werden. Diese Peinlichkeit in IhremGesetzentwurf muß dringendst korrigiert werden.Zweitens. Ich möchte mir den Hinweis erlauben, daßSie acht Jahre Zeit hatten, um im Deutschen BundestagVerbesserungen durchzusetzen. Ich erinnere mich nochan die Debatte, die wir 1996 geführt haben. Damals hatdie SPD-Bundestagsfraktion ihren Entwurf zu einemVerbesserungsgesetz eingebracht. Diesen Entwurf habenSie ein Jahr lang im parlamentarischen Verfahren – inden Ausschüssen – hängenlassen und verschleppt. An-schließend haben Sie einen eigenen, aber ganz dünnenGesetzentwurf unter der Überschrift unseres Gesetzent-wurfes hier präsentiert. Sie haben jeglichen Kredit beiden Opferverbänden verspielt. Daran wird auch Ihrejetzige parlamentarische Initiative überhaupt nichts än-dern.
Drittens. Sie bedienen sich eines perfiden Kunstgrif-fes – der ist vom Kollegen Hacker auch schon angespro-chen worden –, nämlich der Verknüpfung des Themasder Rehabilitierung und Wiedergutmachung mit derEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts über dieRenten aus den Sonder- und Zusatzversorgungs-systemen. In Ihrem Gesetzentwurf – ich will das einmalzitieren – heißt es:Die aufgrund dieser Entscheidung– gemeint ist eine Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts –notwendig werdende Verbesserung der renten-rechtlichen Ansprüche der Staats- und Systemna-hen des SED-Regimes macht es zwingend, auch dieSituation der Opfer des SED-Regimes schnellst-möglich zu verbessern.
Meine Damen und Herren, welch eine Heuchelei, unddas am 17. Juni! Als ob die Situation der Opfer vor die-sem Urteil eine bessere gewesen wäre.
Staatsminister Rolf Schwanitz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3719
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Was sollen denn die Opferverbände, die seit Jahrengegen Ihre Gesetze Sturm laufen, denken, wenn sie soetwas in Ihrem jüngsten Gesetzentwurf lesen? Die müs-sen sich doch vorkommen, als hätten sie gegen etwasgeklagt, wofür es überhaupt keine moralische Legitima-tion gibt. Das ist wirklich pure Heuchelei!Außerdem – auch das muß in dieser Runde gesagtwerden; ich gehe etwas weiter als Kollege Hacker inseiner freundlichen Zurückhaltung – muß an dieserStelle noch einmal etwas über die Motivlage gesagtwerden. Sie verwischen mit dieser Kombination zweiDinge: Sie decken erstens ganz bewußt Ihr eigenes un-zureichendes Handeln gegenüber den Opfern des SED-Regimes zu,
und Sie verknüpfen es zum zweiten mit einer verfas-sungsrechtlich höchst fragwürdigen Rentenentschei-dung, die Sie selber herbeigeführt haben.
Ich erinnere mich noch an die lebhaften Debatten hierim Deutschen Bundestag über die verfassungsrecht-lichen Risiken bei den Sonder- und Zusatzversorgungs-systemen. Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie nichtsgewußt! Ich kann mir sogar vorstellen, daß es eineMotivlage gab, das Ganze so zu machen, weil für dieSeite der Opfer nichts geschehen war. Nun stellen Siesich hin und tun so, als sei der Urteilsspruch aus Karls-ruhe wie ein Naturereignis über uns hereingebrochen.Meine Damen und Herren, das ist Heuchelei! Das mußman an der Stelle öffentlich deutlich ansprechen.
Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Sie wissen– das macht die Sache ganz besonders bitter – um dieSensibilität der Opferverbände – Herr Luther, liebeKolleginnen und Kollegen, wir debattieren diese Fragenseit Jahren – bezüglich der Situation der Opfer auf dereinen und der Renten für die Staatsnahen auf der ande-ren Seite. Sie wissen, wie sensibel dieses Thema ist. Siescheuen nicht davor zurück, diese Dinge in einem Ge-setzentwurf miteinander zu verknüpfen. Sie spielen mitder Frustration und mit den Enttäuschungen der Opfer-verbände. Es geht Ihnen nicht um eine sachliche Verbes-serung der Situation, sondern es geht Ihnen darum,etwas politisch zu instrumentalisieren. Das ist einfachunwürdig, meine Damen und Herren.
Viertens: Man muß ansprechen, daß Ihr Gesetzent-wurf ganz handfeste inhaltliche Mängel hat. Wenigstensein paar will ich noch erwähnen: Es gibt bei Ihnen keineBereitschaft, in Kernbereiche der Defizite des Erstenund Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes hinein-zugehen. Der Schwerpunkt Ihrer Novelle ist die berufli-che Rehabilitierung. Nicht bei der strafrechtlichen Re-habilitierung – wo der größte Defizitbereich bei denLeuten ist, die aus politischen Gründen „gesessen“ ha-ben – soll etwas verbessert werden, sondern bei der be-ruflichen Rehabilitierung. Da bieten Sie eine Verbesse-rung an. Sie sind nicht bereit, in den wirklichen Kernbe-reich hineinzugehen. Allein das ist inhaltlich eine völli-ge Fehlleistung, gemessen an den Defiziten, über die wireigentlich zu reden haben.
Meine Damen und Herren, die Botschaft, die aus Ih-rem Gesetzentwurf spricht – ich will es deutlich anspre-chen –, ist ganz klar: Noch immer ist Ihnen die eigenepolitische Selbstrechtfertigung – bezogen auf das, wasSie in den zurückliegenden acht Jahren gemacht odernicht gemacht haben – wichtiger, als wirklich einenSchritt zur Beseitigung von zentralen inhaltlichen Defi-ziten bei diesem Thema zu tun. Deswegen definieren Sieden Anlaß neu. Deswegen ist der Anlaß für Sie nicht dasDefizit, sondern der Spruch aus Karlsruhe. Deswegengehen Sie auch nicht in den Kernbereich hinein, nämlichin den Bereich der Rehabilitierung von Haftopfern. Siesprechen hier vielmehr von der Frage der beruflichenRehabilitierung.Zum fünften will ich noch etwas zum Krebsschadender Regelung sagen, die Sie vorgelegt haben, nämlichzur Ungleichbehandlung und zur Spaltung der Opfer.Bei dem zentralen Entschädigungsinstrument, der Ka-pitalentschädigung, wird überhaupt nichts geändert. Dashaben Sie gar nicht angesprochen. Statt dessen führenSie eine neue Spaltung ein, indem Sie zum Beispiel– Herr Hacker hat es angesprochen – Ausgleichsleistun-gen bei der beruflichen Rehabilitierung künftig erst dannermöglichen wollen, wenn eine Verfolgung mehr alsdrei Jahre angedauert hat. Wie kommen Sie denn darauf,ein solches Entscheidungskriterium zu definieren? Sollder Student, der aus politischen Gründen drei Jahre indie Produktion geschickt worden ist, für diese Zeit poli-tischer Verfolgung künftig eine verbesserte Ausgleichs-leistung bekommen, derjenige aber, der eineinhalb Jahreaus politischen Gründen im Knast war und dann viel-leicht durch Freikauf in die alte Bundesrepublik kam,wegen seiner geringeren Verfolgungszeit außen vorbleiben? Hier fügt man dem alten Unrecht eine neueUngleichbehandlung hinzu, und das kann nicht sein.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, denSie vorgelegt haben, wird – dessen bin ich mir sicher –parlamentarisch sorgfältig beraten werden. Wir werdenunseren Gesetzentwurf einbringen, sobald er im Rahmender Länderkoordinierung von allen Ländern gesichtetund bewertet worden ist. Wir wollen eine Verabschie-dung unseres Gesetzentwurfs noch in diesem Herbst er-reichen.Ich bin sehr dankbar dafür, daß die beiden Koali-tionsfraktionen mit ihrem Antrag genau die vier zen-tralen Punkte markieren, an die wir uns nach meinerfesten Überzeugung heranbegeben müssen. Das kostetnatürlich Geld, das ist klar. Aber wir müssen uns dochwenigstens dem Anspruch unterwerfen, daß der Gesetz-geber und die Bundesregierung es ernst damit meinen,die zentralen Defizite zu beseitigen. Deswegen auch vonmeiner Seite die Bestätigung: Wir werden die Kapital-Staatsminister Rolf Schwanitz
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3720 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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entschädigung einheitlich auf 600 DM festlegen. Wirwerden das Thema der Hinterbliebenenregelung für dieam schwersten Verfolgten, nämlich für die zu Tode Ge-kommenen, für die Maueropfer, aufgreifen. Wir werdendie Frage der östlich von Oder und Neiße Verschlepp-ten, die bisher völlig außen vor geblieben sind, zumpolitischen Thema machen und in unsere Novelle auf-nehmen. Schließlich werden wir auch die Anerkennungder gesundheitlichen Haftschäden, zu denen Sie inIhrem Entwurf überhaupt nichts gesagt haben, auf diepolitische Tagesordnung setzen. Darauf können sich dieOpferverbände verlassen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Jüttemann das Wort.
Herr Kollege Schwa-
nitz, Sie haben mich angegriffen und gesagt, ich hätte zu
scharf formuliert und übertrieben. Ich habe zu DDR-
Zeiten als Katholik im Eichsfeld keine Karriere ge-
macht. Ich bin nicht der SED beigetreten, ich habe kei-
ner Kampfgruppe angehört, und ich habe bei der Muste-
rung verweigert, an der Grenze zu dienen. Aber ich habe
bereits zu DDR-Zeiten den Mut gehabt, das kritisch zu
sagen, was kritisch gesagt werden muß. Das tue ich auch
heute; denn vieles ist kritikbedürftig. Im Handbuch ist
mir jedoch aufgefallen, daß Sie als Diplomjurist zu
DDR-Zeiten eine gewisse Karriere gemacht haben. Was
haben Sie in der Zeit getan, um sich für die Opfer einzu-
setzen?
Herr Staatsmi-
nister, Sie können darauf antworten.
Herr Jüttemann, Sie erwarten von mir hoffentlich jetzt
nicht, daß wir Biographien diskutieren. Ich habe über-
haupt keinen Grund, mich hier persönlich angegriffen zu
fühlen. Aber ich kenne Ihre Strategie. Immer, wenn ein
Argument unbequem ist, dann wendet man es gegen
denjenigen, der es vorbringt. Das kennen wir; das kenne
ich übrigens auch schon aus DDR-Zeiten. Insofern hat
sich nichts geändert.
Das zentrale Problem ist nicht Ihre Kritik. Ich kann
mit Kritik leben; Kritik gehört zum Parlament. Das zen-
trale Problem ist – das habe ich deutlich zu machen ver-
sucht –, daß immer dann, wenn es im Deutschen Bun-
destag um Rehabilitierungsfragen geht, Ihre Fraktion
– früher waren Sie eine Gruppe – andere Defizitbereiche
nennt und es ihr um die eigentliche Frage überhaupt
nicht geht. Sie reden von ganz anderen Dingen.
Herr Jüttemann, das geschieht in der Situation, in der
Sie sich befinden.
Ich kann Ihnen nur sagen: Solange es Ihrer Fraktion
und auch Ihrer Partei nicht gelingt, wirklich deutlich zu
machen, daß sie diesen Schritt durch einen außerordent-
lichen persönlichen Akt selber tut, durch einen Akt, den
eine andere Partei einfach nicht erbringen kann, weil
keine der Fraktionen im Deutschen Bundestag hinsicht-
lich dieses Themas eine Vergangenheit hat wie Ihre
Partei, werden Sie sich solchen kritischen Bemerkungen
nicht entziehen können.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Nooke.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staats-minister Schwanitz, Sie haben den Mund sehr voll ge-nommen; allerdings haben Sie nichts zum 17. Juni ge-sagt. Für die Vertreter der Bundesregierung, die heutesprechen, ist das vielleicht nicht notwendig. Im übrigen,ich gebe zu, Sie haben recht: Es muß „Rehabilitierung“und nicht „Rehabilitation“ heißen; 1 : 0 für Sie. Aufmeinem Zettel steht es aber richtig. Sie können also si-cher sein, daß wir das beherrschen.Zu einem anderen Punkt sage ich für alle Anwesen-den: Wer erst am gestrigen Abend seinen Antrag einge-bracht hat, der hat gar nicht gemerkt, daß unser Gesetz-entwurf am 17. Juni hier auf der Tagesordnung steht, derhat überhaupt nicht daran gedacht, daß der heutige Tageigentlich ein Tag ist, an dem dieses Thema in die öf-fentliche Debatte gehört.
Zu dem entscheidenden Punkt, der hier mehrfach kri-tisiert wurde: Berufliche Rehabilitierung hat sehr wohlmit dem zu tun, was an Renten aus Sonder- und Zusatz-rentensystemen gezahlt wird; insofern hat sie durchausmit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu tun.Wir können sehr wohl sagen, daß wir darüber politischstreiten dürfen. Wir sind nämlich der Deutsche Bundes-tag und nicht das Verfassungsgericht. – Herr Staatsmi-nister, vielleicht hören Sie einmal zehn Minuten zu, umzu verstehen, wie die Dinge zusammenhängen.Letzten Freitag sagte der Direktor der Bundesversi-cherungsanstalt für Angestellte, Klaus Michaelis, ineinem dpa-Gespräch zu den Nachzahlungen für „Staats-und Systemnahe des SED-Regimes“ auf Grund desKarlsruher Rentenurteils:Im Interesse der Betroffenen sollten bald Entschei-dungen getroffen werden.In der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Ar-beit und Sozialordnung vom 28. April 1999 heißt es:Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts führennach Auffassung der Bundesregierung die notwendi-ge Klärung herbei und tragen zum Rechtsfrieden bei.Staatsminister Rolf Schwanitz
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Viele sorgen sich in Deutschland um den innerenFrieden. Aber leider hat es in Deutschland auch einegewisse Tradition, daß den Mächtigen der Friede mitden Tätern politisch wichtiger erscheint als der Friedemit den Opfern. Zu einem Zeitpunkt, in dem den Opfernder SED-Diktatur wenigstens Genugtuung widerfahrensollte, sind Täter, Profiteure und Mitläufer dieser zwei-ten Diktatur in Deutschland bereits ins Recht gesetzt,Herr Funke. Sie sprachen an, daß heute die SED-Opferins Recht zu setzen sind. Ich will nur deutlich machen:Das ist für Täter, Profiteure und Mitläufer bereits seitlangem geschehen.Ich bin weit davon entfernt, diese etwa 500 000 vomKarlsruher Urteilsspruch betroffenen Personen alle alsTäter oder auch nur als „Staats- oder Systemnahe“ zubezeichnen. Dazu kenne ich all die Gruppen viel zu ge-nau. Aber angesichts dieses Urteils des Bundesverfas-sungsgerichts ist eine schnelle und unbürokratische Lö-sung für die Verfolgten des SED-Regimes unausweich-lich geworden. Wer jetzt nicht handelt, der will denFrieden mit den Tätern. Wer jetzt nicht handelt, der trägtdie Verantwortung, wenn Menschen nur funktionieren– gleich, ob in Rechts- oder Unrechtssystemen – undwenn demokratische Gesinnung, Freiheitsstreben undEngagement für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeitin Deutschland wenig gelten.Die nicht angemessene Entschädigung der Opferder zweiten Diktatur in Deutschland, wie sie in denJahren seit der Wiedervereinigung geregelt oder ebennicht geregelt wurde, ist beschämend. Die alte Bundes-regierung aus CDU/CSU und F.D.P. hat hier große Ver-säumnisse einzugestehen. Offensichtlich wurde schonfrüher manchmal weniger politisch als vielmehr nachKassenlage entschieden.Eine im allgemeinen großartige Erfolgsbilanz derdeutschen Einheit wird gerade jenen Menschen persön-lich vorenthalten, die nicht an die Ewigkeit des Sozia-lismus, sondern an die Freiheit des Westens glaubten.Diejenigen, die sich gegen das SED-Regime einsetzten,die deshalb zu DDR-Zeiten politisch verfolgt wurdenund Nachteile in Kauf nehmen mußten, sind heute viel-fach enttäuscht, nicht selten resigniert und manchmalsogar sozial am Ende. Ihnen ist – anders als den Bezie-hern von Renten aus Sonder- und Zusatzrentensyste-men – bisher nicht Gerechtigkeit widerfahren. Nichteinmal hinreichende öffentliche Anerkennung wurde ih-nen zuteil.Heute ist der 17. Juni. Der Bundespräsident hat derOpfer und Kämpfer dieser Junitage von 1953 kurz ge-dacht, wofür ich ihm danke. Es ist ja inzwischen schonetwas wert, wenn wir diesen Tag im Tagesgeschäft nichtvöllig vergessen. Übrigens wäre es meines Erachtens invielerlei Hinsicht sogar sinnvoller – vielleicht sollten wirdarüber hier einmal gemeinsam nachdenken –, diesenTag der deutschen Einheit und nicht das Verwaltungs-datum 3. Oktober zu feiern.
Es geht uns mit unserem Gesetzentwurf zuerst um die-se Menschen, um Menschen, deren berufliche Entwick-lung in der DDR abgeschnitten wurde und die im verein-ten Deutschland für eine zweite oder dritte Karriere schonzu alt waren. Es geht, meine sehr verehrten Damen undHerren, vor allem und zuerst um die politischen Häftlinge,die unter unmenschlichen Bedingungen in Bautzen, Ber-lin-Hohenschönhausen oder Cottbus oft jahrelange Haft-strafen abbüßten – für erfundene und konstruierte Straf-taten, auf die die Schubladenparagraphen der SED-Diktatur paßten. Kein Rechtsstaat hätte sie je verurteilt.Aber so manche Scheinjuristen von damals sind heuteverbeamtet, und so mancher, der die gegebenen Hand-lungs- und Entscheidungsfreiräume bewußt und eiferndzum Nachteil der politisch Angeklagten nutzte, beziehtheute als Anwalt der Täter oder als Richter eines Rechts-staates gutes Gehalt und hohe Pension.
Uns, meine sehr verehrten Damen und Herren, gehtes um die Menschen, die zum Beispiel völlig unschuldigin NKWD-Lager kamen und zu DDR-Zeiten nicht ein-mal darüber reden durften, Herr Jüttemann. Deshalbmüssen wir genau hinschauen und hinhören, wie unserUmgang hier im Deutschen Bundestag mit 40 JahrenSED-Diktatur bei diesen Opfern ankommt.Die Forderungen der Opferverbände sehen ganzanders aus. Sie fordern nicht nur, die Entschädigung derim Antrag der Koalitionsfraktionen angesprochenenProblemfälle oder auch die Entschädigung für geleisteteZwangsarbeit zu verbessern. Die Opferverbände fragenauch nach einer Verfolgtenrente, die sich in der Höhe anden VdN-Renten für die Verfolgten des Naziregimesorientiert.
Diese wurden mit dem Einigungsvertrag übernommenund 1992 einheitlich auf 1 400 DM festgesetzt.
– Hören Sie erst einmal zu, Herr Meckel. – Gerade des-halb kann uns nicht billiger Opportunismus vorgeworfenwerden. Wir haben mit einer Rente für die Opfer desSED-Sozialismus von lediglich 300 DM monatlicheinen Vorschlag gemacht, den fast alle anderen Frak-tionen des Hohen Hauses noch um den gleichen Betragaufbessern können, ehe wir zum Beispiel diese 1 400DM erreichen. Wir erheben keinen Prioritätsanspruchund wollen auch nicht die Autorenschaft für dieses Ge-setz. Wir wollen wirklich die Lage der Betroffenen ver-bessern, und deshalb spreche ich hier. Es könnte sein,Herr Schwanitz, daß Ihre Verhandlungsposition auch inbezug auf das Geld dadurch verbessert wird.Um diese Forderung angesichts der knappen Kassender Finanzminister von Bund und Ländern ins rechteLicht zu rücken, lassen Sie mich auf das Rentenurteil desBundesverfassungsgerichts zurückkommen. Zum Ver-gleich: Seit der Wiedervereinigung hat die Bundesrepu-blik Deutschland für die Opfer des Nationalsozialismusinsgesamt etwa 1 Milliarde DM ausgegeben. Für die Op-fer des SED-Regimes ginge es, selbst wenn wir die vonden Opferverbänden geforderten Monatsrenten von 1 400DM ins Auge faßten, um weniger als 1 Milliarde DMjährlich. Aber: Allein bei den Nachzahlungen aus denGünter Nooke
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3722 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Sonder- und Zusatzversorgungssystemen, allein für dieje-nigen unter den 500 000 vom Bundesverfassungsge-richtsurteil Betroffenen, die SED-Kader, Mitarbeiter desMfS und anderer bewaffneter Organe waren, und diejeni-gen, die als sogenannte GesellschaftswissenschaftlerMarxismus-Leninismus oder sozialistisches Recht lehrtenund exekutierten, geht es schon um zweistellige Milliar-denbeträge. Und in Zukunft bekommen Tausende, diekeine Not leiden, nicht 300 DM mehr im Monat, sonderneinige tausend Mark. Der Ausgleich der durch die politi-sche Verfolgung bedingten Minderanwartschaften beiSED-Opfern ist im Vergleich zur Regelung der Sonder-renten geradezu lächerlich.
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen, was heißt hier eigent-lich Rechtsfrieden? Herr Staatsminister, was meinen Sie,was in diesem Kontext „soziale Gerechtigkeit“ bedeu-tet? Der ehrenwerte Urologe Professor Mebel hat vordem Bundesverfassungsgericht geklagt und recht be-kommen. Der Staat und die Partei, für die er 18 Jahre alsKandidat bzw. Mitglied im Zentralkomitee saß, habenihm nur dieses halbe Leben soziale Sicherheit bietenkönnen. Die Renten in der DDR waren keineswegssicher. Nach Kassenlage war 1989 Schluß. All das, wasder Rechtsstaat heute zahlt, ist Geld, das in einem ande-ren System erwirtschaftet wurde, das die meisten derSED-staatsnahen Bediensteten bekämpften und das fürsie historisch zum Untergang verurteilt war.
Aber auch eine andere Ungeheuerlichkeit muß hierbenannt werden. Es steht einem Bundestagsabgeordne-ten an dieser Stelle nicht zu, das Bundesverfassungsge-richt zu kritisieren.
Aber ich habe Fragen zum Rentenurteil vom 28. April1999. Ich kann das sehr wohl auseinanderhalten. Dennangesichts der dargestellten Spannungen zwischen De-Luxe-Zahlungen für Täter, zu denen wir – rechtsstaat-lich akzeptabel – verpflichtet wurden, und schäbigenAlmosen für Opfer, für die kein Geld vorhanden ist, darfich folgende Fragen schon stellen:
Reichen für uns hier in der politischen Debatte rechts-positivistische Positionen bei hochbrisanten politischenUrteilen aus, wenn der Sache wirklich gedient werdenund das Recht nicht zum Selbstzweck verkommen soll?Natürlich weiß ich, daß es nicht um das Gute und schongar nicht um das Gutgemeinte geht. Aber ist es wirklichgut, wenn es nur noch um das Rechte, um das Paragra-phenmäßige geht?Sollen wir dieses Rentenurteil wirklich so verstehen,daß damit in einem freiheitlich-demokratischen Rechts-staat jedes Raubgut einer Diktatur durch Art. 14 desGrundgesetzes, dem Schutz des Eigentums, unantastbargeworden ist?
Herr Kollege
Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?
Am Ende meiner Rede,
bitte. Ich bin gleich fertig.
Geht hier diese „Verrechtsstaatlichung im nachhin-
ein“, die selbst die „FAZ“ als „grotesk“ bezeichnete,
nicht entschieden zu weit? Welchen Dienst am Grund-
gesetz leisten wir wirklich, wenn diejenigen, die an das
Recht einer Diktatur nicht glaubten, jetzt vom demokra-
tischen Rechtsstaat vorgeführt werden und zu den Ver-
lierern gehören?
Jene aber, die den freiheitlichen Rechtsstaat mit allen,
selbst mit staatsterroristischen Mitteln bekämpften und
zu bekämpfen bereit waren, können mit dem politischen
Scheinrecht aus DDR-Zeiten ihren neuen Reichtum im
freiheitlichen Westen begründen? Werden dadurch bei
den Staatsbürgern Eigenverantwortung sowie politi-
sches, rechtsstaatliches und demokratisches Bewußtsein
gestärkt? Woher wissen wir eigentlich, daß wir das zu-
künftig nicht mehr brauchen werden? Wenn wir es brau-
chen, darf auch ein Urteil unseres höchsten Gerichtes
diese Werte nicht mit Füßen treten.
Aber ich will unserem höchsten Gericht – das ist der
entscheidende Punkt – auch bei diesem Urteil gerne
einen verantwortlichen Abwägungsprozeß zugestehen.
Es steht zwar nicht im Urteil des Bundesverfassungsge-
richts; aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß
nach einer unangemessenen Entscheidung für viele
Mitläufer und Täter wenigstens eine angemessene Ent-
schädigung der Opfer folgen muß. Je länger und je öfter
ich darüber nachdenke, um so deutlicher wird mir, daß
eine Entschädigung eher bei 1 400 DM als bei den von
uns vorgeschlagenen 300 DM liegen muß.
Herr Kollege
Nooke, leider ist Ihre Redezeit jetzt weit überschritten.
Bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich bin fast fertig. –
Verehrter Herr Staatsminister, angesichts Ihres Vor-
schlages, Opfergruppen besserzustellen, möchte ich Ih-
nen versichern, daß wir Sie unterstützen werden. Aber
ich möchte Sie auffordern, unseren Vorschlag der Op-
ferrente aufzugreifen. Noch haben Sie die Chance, für
die SED-Opfer mehr zu erreichen als die Vorgängerre-
gierung. Unser Entwurf ermöglicht ein schnelles und
unbürokratisches Handeln. Ich würde mich freuen, wenn
Sie Ihre Ankündigungen beenden und begreifen würden,
daß für die Opfer die Zeit drängt.
Danke.
Dann kommenwir jetzt zur Nachfrage des Kollegen Seifert. – Bitte.Günter Nooke
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Herr Kollege Nooke, Sie
sprachen sehr oft davon, daß der Rechtsstaat geschützt
werden muß. Glauben Sie nicht auch, daß dazu gehört,
die Biographie von einzelnen Menschen nicht zu verun-
glimpfen? Glauben Sie nicht auch, daß die Tatsache, daß
Sie einen Mann wie Professor Moritz Mebel, der ein
weltweit geachteter Nierenspezialist ist, der viele Men-
schen aus der Bundesrepublik Deutschland operiert hat,
der ihnen geholfen bzw. ihr Leben gerettet hat, als je-
manden darstellen, der sich unverdienterweise Westgeld
unter den Nagel reißen will, weit über das hinausgeht,
was unter Persönlichkeitsschutz zu verstehen ist?
Das ist eben der Irrtum,
den Sie begehen. Ich habe deutlich gemacht, daß ich die
DDR nicht für ein rechtsstaatliches und freiheitlich-
demokratisches System im Sinne der Bundesrepublik
Deutschland halte.
Man muß damit leben, daß nicht alles, was man zum
Beispiel als ZK-Mitglied für diesen Staat, der dann un-
tergegangen ist, erreichen wollte, von einem anderen
Staat übernommen wird. Wenn es Ihnen wirklich um
Freiheit und Demokratie ginge, dann müßten Sie sich für
die Opferrenten genauso einsetzen wie für die Renten
der anderen.
Seit dem Urteil müssen wir über ganz andere Sum-
men reden, damit der Rentenausgleich auch für die Op-
fer gewährleistet ist.
Wir können in diesem Bereich keinen Unterschied zu-
lassen. Wenn Sie sich nicht dafür einsetzen, dann sind
Sie nichts weiter als eine Lobbyorganisation der Täter.
Das kommt bei Ihnen immer mehr oder weniger durch.
– Es geht darum, daß Sie zwischen dem, was Renten-
sicherheit zu DDR-Zeiten bedeutet hat – nur politisch
Privilegierte waren in diesem System –, und dem, was
sichere Renten heute bedeuten, einen Unterschied ma-
chen müssen. Darüber reden wir noch.
Danke.
Herr KollegeSeifert, es geht nicht, daß Sie dazwischensprechen.Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen, dann müssen Siedie Antwort so nehmen, wie sie kommt.
Ich möchte im Namen des Hauses Herrn Günter Nookezu seiner ersten Rede in diesem Plenum gratulieren
und schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-entwurfes auf Drucksache 14/1001 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. DieFederführung soll beim Ausschuß für Angelegenheitender neuen Länder liegen. Der Antrag der Koalitions-fraktionen auf Drucksache 14/1165 soll an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesenwerden. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Ab-stimmungen und zu einigen persönlichen Erklärungen.Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 14a bis14o und 14q bis 14r sowie die Zusatzpunkte 1a und 1bauf: 14. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Zusatzprotokoll vom 26. März 1998 zumÜbereinkommen vom 18. August 1948 überdie Regelung der Schiffahrt auf der Donau
– Drucksache 14/1007 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Auswärtiger AusschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zumAbkommen vom 20. April 1998 zwischender Bundesrepublik Deutschland und Ja-pan über Soziale Sicherheit– Drucksache 14/1018 –
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zumAbkommen vom 2. Mai 1998 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Re-publik Ungarn über Soziale Sicherheit– Drucksache 14/1019 –
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 4. Mai 1998 zwi-schen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der Re-publik Armenien über den Luftverkehr– Drucksache 14/1020 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Finanzausschuß
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3724 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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e) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Protokoll vom 15. Juni 1998 zur Er-gänzung des Luftverkehrsabkommens vom2. März 1994 zwischen der BundesrepublikDeutschland und den Vereinigten Arabi-schen Emiraten– Drucksache 14/1021 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenf) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Protokoll vom 12. November 1997 zurErgänzung des Abkommensvom 2. No-vember 1987 zwischen der BundesrepublikDeutschland und Neuseeland über denLuftverkehr– Drucksache 14/1022 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungsweseng) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 10. März 1998 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschlandund der Republik Südafrika über denLuftverkehr– Drucksache 14/1023 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Finanzausschußh) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 29. Mai 1998 zwi-schen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der Mon-golei über den Fluglinienverkehr– Drucksache 14/1024 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Finanzausschußi) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 23. April 1998zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung derTschechischen Republik über den Luftver-kehr– Drucksache 14/1025 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Finanzausschußj) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 3. Dezember 1997zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund der Republik Belarus über den Luft-verkehr– Drucksache 14/1026 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)Finanzausschußk) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Übereinkommen vom 5. September1998 zwischen der Regierung der Bundes-republik Deutschland, der Regierung desKönigreichs Dänemark und der Regierungder Republik Polen über das Multinatio-nale Korps Nordost– Drucksache 14/1103 –
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes– Drucksache 14/864 –
brachten Entwurfs eines … Gesetzes zurErleichterung der Verwaltungsreform in
– Drucksache 14/640 –
brachten Entwurfs eines … Strafrechtsände-rungsgesetzes – Graffiti-Bekämpfungs-gesetz –
– Drucksache 14/872 –
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-regelung des Schutzes von Verfassungsor-ganen des Bundes– Drucksache 14/1147 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung(federführend)InnenausschußRechtsausschußVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3725
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(D)
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sa-bine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Hel-
tion der F.D.P.Haltung der Bundesregierung zu den Men-schenrechtsverletzungen in der Volksrepu-blik China– Drucksache 14/661 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe(federführend)Auswärtiger AusschußAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungr) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Michael Luther, Andrea Astrid Voßhoff undder Fraktion der CDU/CSUEntschädigungspflicht nach dem Vermö-gensgesetz bei Einziehung von beweglichenSachen regeln– Drucksache 14/1003 –
fahren
Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überdie Anpassung von Dienst- und Versorgungs-bezügen in Bund und Ländern 1999
– Drucksache 14/1088 –
eingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge-setzes zur Änderung des Arzneimittelgeset-zes– Drucksache 14/1161 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für GesundheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Das Bundesbesoldungs- und -versorgungs-anpassungsgesetz 1999 auf Drucksache 14/1088 – Zu-satzpunkt 1a – soll zusätzlich an den Haushaltsausschußzur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnungüberwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15j auf:Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommenvom 17. Januar 1995 zwischen der Bundes-republik Deutschland und dem Unabhän-gigen Staat Papua-Neuguinea zur Vermei-dung der Doppelbesteuerung auf dem Ge-biet der Steuern vom Einkommen und vomVermögen– Drucksache 14/486 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 14/880 –Berichterstattung:Abgeordnete Detlev von LarcherHeinz Seiffertb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommenvom 8. Dezember 1997 über wirtschaftlichePartnerschaft, politische Koordinierungund Zusammenarbeit zwischen der Euro-päischen Gemeinschaft und ihren Mitglied-staaten einerseits und den Vereinigten Me-xikanischen Staaten andererseits– Drucksache 14/684 –Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/1167 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. Fritzc) Zweite Beratung und Schlußabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom-men vom 21. Dezember 1995 über den Bei-tritt der Republik Österreich, der RepublikFinnland und des Königreichs Schwedenzu dem Übereinkommen über die Beseiti-gung der Doppelbesteuerung im Falle vonGewinnberichtigungen zwischen verbun-denen Unternehmen– Drucksachen 14/748, 14/984 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 14/1153 –Berichterstattung:
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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3726 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung desÜbereinkommens vom 4. August 1963 zurErrichtung der Afrikanischen Entwick-lungsbank– Drucksache 14/907 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung
– Drucksache 14/1154 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. R. Werner SchusterDr. Christian RuckHans-Christian StröbeleCarsten Hübnere) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie zu dem Antragder Abgeordneten Hans Martin Bury, ErnstSchwanhold, Klaus Barthel , wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Werner Schulz
, Margareta Wolf (Frankfurt) und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFörderung der Luftfahrttechnologie– Drucksachen 14/395, 14/686 –Berichterstattung:Abgeordneter Max Straubingerf) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen zu demAntrag der Abgeordneten Christine Ostrows-ki, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf, Dr.Gregor Gysi und der Fraktion der PDSFortführung des Wohnraum-Modernisie-rungsprogramms der Kreditanstalt fürWiederaufbau bis zum Jahr 2000– Drucksachen 14/126, 14/652 –Berichterstattung:Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohligg) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen zu demAntrag der Abgeordneten Christine Ostrows-ki, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf und derFraktion der PDSVerbesserte Förderung der Wohnungsmo-dernisierung im Altbaubestand und beiWohnhochhäusern nach dem Investitions-zulagengesetz 1999– Drucksachen 14/127, 14/767 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Christine Lucygah) Beratung der Beschlußempfehlung desRechtsausschusses
Übersicht 1über die dem Deutschen Bundestag zuge-leiteten Streitsachen vor dem Bundesver-fassungsgericht– Drucksache 14/842 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Rupert Scholzi) Beratung der Beschlußempfehlung und des
desrechnungshofBericht des Bundesrechnungshofes gemäߧ 99 BHO über die Aufgabenwahrneh-mung in ausgewählten Servicebereichender Bundesverwaltung– Drucksachen 14/220, 14/305 Nr. 1.2,14/846 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Werner HoyerGunter WeißgerberCarl-Detlev Frhr. von HammersteinOswald MetzgerDr. Christa Luftj) Beratung der Beschlußempfehlung und des
ums für Wirtschaft und TechnologieRechnungslegung über das Sondervermö-gen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Si-cherung des Steinkohleneinsatzes“ für dasWirtschaftsjahr 1997– Drucksachen 14/258, 14/847 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred HampelDankward BuwittAntje HermenauDr. Werner HoyerDr. Christa LuftWir kommen zu Tagesordnungspunkt 15 a. Der Fi-nanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/880, denGesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte dieje-nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sichzu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommenworden.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 15 b. Esbestehen Wünsche zur Abgabe einer persönlichen Erklä-rung, zunächst von der Abgeordneten Ulla Lötzer.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3727
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Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Ich lehne den Gesetzentwurf ab, weil die
Verhandlungen zwischen der EU und Mexiko noch nicht
abgeschlossen sind, zentrale Fragen noch nicht geklärt
wurden und deshalb zu diesem Zeitpunkt keine Notwen-
digkeit der unmittelbaren Ratifizierung besteht.
Ich lehne ab, weil das gesamte Verfahren in hohem
Maße nicht transparent war und eine kritische Diskus-
sion in den Parlamenten und mit den zivilgesellschaft-
lichen Akteuren in der EU und in Mexiko verhindert
hat.
Ich lehne ab, da die Durchsetzung und Überwachung
der Menschenrechts- und Demokratisierungsklausel
nicht konkretisiert ist und keine Sanktionsfähigkeit bei
Verstößen vorgesehen ist.
Ich lehne ab, da die in Art. 4 bis 6 getroffenen Ver-
einbarungen zum Handel keine Sozialklauseln beinhal-
ten und keine Sanktionsfähigkeit hinsichtlich der Durch-
setzung und Überwachung, wie sie beispielsweise im
Handelsvertrag zwischen den USA und Guatemala fest-
gelegt sind.
Ich lehne ab, weil die in Art. 8 und 9 geforderte Libe-
ralisierung und Deregulierung des Kapitalverkehrs der
notwendigen Regulierung der Finanzmärkte zuwider-
läuft und die Gefahr von zukünftigen Finanzmarktkrisen
erhöht – und das, obwohl Mexiko bereits zweimal eine
solche leidvolle Erfahrung gemacht hat.
Ich lehne ab, weil in Art. 11 eine Wettbewerbsord-
nung vorgesehen ist, die den Schutz ausländischer Di-
rektinvestitionen in der Weise erhöht, daß eine „Positiv-
diskriminierung“ mexikanischer Unternehmen nicht
mehr möglich sein wird und damit zentrale Instrumente
einer nationalen und regionalen Wirtschaftspolitik abge-
schafft werden, die insbesondere dem Schutz der Land-
wirtschaft dienen, nachdem den durch die NAFTA her-
vorgerufenen Krisen nicht Rechnung getragen wird.
Ich lehne ab, da in Art. 10 die zuvor geschilderte In-
tention der Wettbewerbsordnung auch noch auf den öf-
fentlichen Bereich ausgedehnt wird und damit der ge-
samte mexikanische öffentliche Sektor bei der Auftrags-
vergabe der Konkurrenz überlegener Anbieter aus den
EU-Staaten unterworfen wird.
Ich lehne ab, da die Vereinbarung zwischen der EU
und Mexiko wesentliche Elemente des zur Zeit unter-
brochenen MAI-Prozesses beinhaltet, sie auf bilateraler
Ebene festschreibt und somit die darüber zu führende
kritische Diskussion umgeht.
Ich lehne vor allem deshalb ab, weil insbesondere die
Ignoranz gegenüber den Bedenken und Forderungen von
48 Menschenrechtsorganisationen – unter ihnen die
mexikanischen Gewerkschaften, Kleinunternehmer und
Bauern – und ihren dringenden Aufforderungen an die
EU-Parlamentarier, diesen Vertrag nicht zu ratifizieren,
eines demokratischen Miteinanders der Völker unwürdig
ist.
Danke.
Eine weiterepersönliche Erklärung des Abgeordneten Carsten Hüb-ner wird zu Protokoll gegeben.*) Sind Sie damit einver-standen?
– Dann können wir jetzt abstimmen.Zur Abstimmung über den von der Bundesregierungeingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen überwirtschaftliche Partnerschaft, politische Koordinierungund Zusammenarbeit zwischen der EuropäischenGemeinschaft und den Vereinigten MexikanischenStaaten, Drucksache 14/684. Der Ausschuß für Wirt-schaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache14/1167 unter Ziffer 1, den Gesetzentwurf unverändertanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmtdagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derCDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDSangenommen worden.**)Der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt unter Ziffer 2 seiner Beschlußempfehlung aufDrucksache 14/1167 die Annahme einer Entschließung.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derCDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDSangenommen worden.Tagesordnungspunkt 15 c, Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zudem Übereinkommen über den Beitritt der RepublikÖsterreich, der Republik Finnland und des KönigreichsSchweden zu dem Übereinkommen über die Beseitigungder Doppelbesteuerung. Das sind die Drucksachen14/748 und 14/984. Der Finanzausschuß empfiehlt aufDrucksache 14/1153, den Gesetzentwurf unverändertanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gibt es Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall.Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzenHauses angenommen worden.Tagesordnungspunkt 15 d, Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zurÄnderung des Übereinkommens zur Errichtung derAfrikanischen Entwicklungsbank. Das ist die Drucksa-che 14/907. Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung empfiehlt auf Drucksache14/1154, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, sich zuerheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses beieinigen Enthaltungen aus der Fraktion der PDS ange-nommen worden.Tagesordnungspunkt 15 e, Beschlußempfehlung desAusschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem––––––––––––**) Anlage 2**) Siehe hierzu Anlage 3
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3728 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen zur Förderung der Luftfahrttech-nologie, Drucksache 14/686. Der Ausschuß empfiehlt,den Antrag auf Drucksache 14/395 anzunehmen. Werstimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU,F.D.P. und einige Stimmen aus der PDS sowie Enthal-tungen aus der PDS angenommen worden.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15 f. Auch hierliegt der Wunsch nach einer persönlichen Erklärung vor.Diese Erklärung wird von der Abgeordneten ChristineOstrowski abgegeben.
Frau Präsidentin! Mei-
ne Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich auch
den zweiten Antrag, der gleich zur Abstimmung ansteht,
in diese Erklärung mit einbeziehe.
Der erste Antrag beschäftigt sich mit der Fortführung
des Modernisierungsprogrammes der Kreditanstalt für
Wiederaufbau; der zweite Antrag beschäftigt sich mit
der Gleichstellung der Investitionszulage im Wohnungs-
bestand Ostdeutschlands mit der Investitionszulage für
den Neubau. Ich werde aus folgenden Gründen für beide
Anträge stimmen:
Erstens. Diese Anträge sind vor allem deshalb not-
wendig, weil die konkrete Situation des ostdeutschen
Wohnungsmarktes und der Wohnungswirtschaft ein ent-
sprechendes Handeln dringend erfordert. Zirka 40 Pro-
zent des dortigen Wohnungsbestandes müssen noch
saniert werden. Darunter sind Häuser des Althausbe-
standes und Hochhäuser mit vorwiegend hohem Investi-
tionsaufwand, demzufolge hohen Investitionskosten und
damit hohen Mieten nach der Modernisierung. Schon
unter den momentanen Bedingungen, das heißt unter
Nutzung beider Instrumente, klettern die Kaltmieten
nach der Modernisierung auf 10 bis 11 DM pro Qua-
dratmeter und sind damit analog den Miethöhen im frei
finanzierten Wohnungsbau. Modernisierung und Sanie-
rung sind in den neuen Ländern der Preistreiber Num-
mer eins.
Zweitens. Wenn die Investitionszulage im Rahmen
des Modernisierungsprogramms nicht erhöht wird, wer-
den für einen großen Teil der Mieter bezahlbare Woh-
nungen zu einem echten Problem, auch und gerade weil
die Mieter auf dem Wohnungsmarkt nicht mehr auf eine
preiswertere Wohnung ausweichen können. Die Anzahl
dieser Wohnungen sinkt zunehmend durch Sanierung
und Modernisierung.
Drittens. Auch die Notwendigkeit, die staatliche För-
derung auf den Wohnungsbestand und nicht auf den
Neubau zu konzentrieren – dies ist erklärtes Ziel der
Koalitionsvereinbarung –, spricht für die Annahme un-
serer Anträge.
Nicht zuletzt verweise ich auf den Beschäftigungsef-
fekt und auf den positiven finanziellen, steuerpolitischen
Effekt für Bund, Länder und Kommunen, die die Fort-
setzung des Modernisierungsprogramms und die Gleich-
setzung der Investitionszulage für den Altbau mit sich
bringen würden. Diese Effekte entgehen aber dem Bund,
den Ländern und den Kommunen, wenn unsere Anträge
nicht angenommen werden.
Im übrigen greifen beide Anträge Forderungen der
ostdeutschen Landesregierungen – unabhängig, von
welcher Partei sie gestellt werden –, der Kommunen, der
Verbände von Mieterinnen und Mietern und der Ver-
bände von Vermieterinnen und Vermietern auf.
Zum Schluß möchte ich noch deutlich machen, daß
sich Positionen ändern, wenn man an der Regierung ist.
Die Koalitionsparteien hatten, als sie noch in der Oppo-
sition waren, analoge Forderungen an die damalige
Bundesregierung gestellt. Diese Forderungen sind, so
scheint es, heute vergessen.
Danke.
Wir kommennun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung desAusschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zudem Antrag der Fraktion der PDS zur Fortführung desWohnraum-Modernisierungsprogramms der Kreditan-stalt für Wiederaufbau bis zum Jahr 2000, Drucksache14/652. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Druck-sache 14/126 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlußempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmendes ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS ange-nommen worden.Tagesordnungspunkt 15 g, Beschlußempfehlung desAusschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zudem Antrag der Fraktion der PDS zur verbessertenFörderung der Wohnungsmodernisierung im Alt-baubestand und bei Wohnhochhäusern nach demInvestitionszulagengesetz 1999. Der Ausschuß emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/127 abzulehnen.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschus-ses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlußempfehlung des Ausschusses ist mit den Stimmendes ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS ange-nommen worden.Tagesordnungspunkt 15 h, Beschlußempfehlung desRechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesver-fassungsgericht, Drucksache 14/842. Das ist die Über-sicht 1. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlußemp-fehlung ist einstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 15 i, Beschlußempfehlung desHaushaltsausschusses zu dem Bericht des Bundesrech-nungshofs über die Aufgabenwahrnehmung in ausge-wählten Servicebereichen der Bundesverwaltung,Drucksachen 14/220 und 14/846. Wer stimmt für dieseBeschlußempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen worden.Tagesordnungspunkt 15 j, Beschlußempfehlung desHaushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesmi-nisteriums für Wirtschaft und Technologie zu der Rech-Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3729
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nungslegung über das Sondervermögen des Bundes„Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsat-zes“ für das Wirtschaftsjahr 1997, Drucksachen 14/258und 14/847. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlußemp-fehlung ist damit ebenfalls einstimmig angenommenworden.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSituation der Flüchtlinge nach Beendigung derKampfhandlungen im KosovoIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Abgeordnete Marieluise Beck.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am 9. Juni wurde zwischen der serbischenFührung und den NATO-Kommandeuren das Abkom-men zum Abzug der serbischen Militärs, Paramilitärsund Polizeieinheiten aus dem Kosovo unterzeichnet.Damit wurde das barbarische Morden auf dem Kosovoendlich beendet.Wer hat nicht in den vergangenen Monaten mit Ban-gen darauf geschaut, ob es gelingen würde, der archai-schen Gewalt im Kosovo Einhalt zu gebieten? Wer hatnicht das Entsetzen geteilt, daß man nur ahnen konnte,welchen gnadenlosen Torturen die eingeschlossenenMenschen und auch die Flüchtlinge, die rausgegangensind, ausgeliefert waren? Hin- und hergeschoben dieEingeschlossenen als Flüchtlingstrecks im Land voneiner unbarmherzigen Soldateska, ohne Versorgung mitLebensmitteln und, was vielleicht das Dramatischstewar, ohne Kontakt nach außen.Ich bin mir in den vergangenen Wochen nicht immersicher gewesen, ob NATO und UNO in der Lage seinwürden, den Menschen wirklich die Rückkehr in ihrHeimatland vor dem Wintereinbruch zu ermöglichen.Wie gut ist es, nun zu sehen, daß der Abzug der jugo-slawischen Einheiten nach Plan verläuft und daß dieKFOR-Truppen als Schutzmacht für die Menschen insLand einziehen konnten.Der UNHCR ist seit Sonntag mit mehreren Teamswieder im Kosovo vertreten. Das Büro des UNHCR inPrizren soll schnellstmöglich wieder eröffnet werden.Von dort aus sollen Hilfskonvois die Dörfer im Südwe-sten des Kosovo anfahren und die Menschen mit Le-bensmitteln und Medikamenten versorgen, die zum Teilseit zweieinhalb Monaten von jeder Versorgung abge-schnitten waren.Doch die Situation im Kosovo selbst ist nach wie vorlabil. Es entladen sich jetzt lang angestauter Haß undWut der albanischen Bevölkerung gegenüber den abzie-henden serbischen Militärs, aber auch gegen die serbi-sche Zivilbevölkerung, die nun selber zu Flüchtlingenwird und zu Tausenden das Kosovo in Richtung Monte-negro und Serbien verläßt.Wenn es nicht gelingt, auch der serbischen Bevölke-rung glaubhaft zu machen, daß die KFOR-Truppen auchfür sie da sind, wird es wieder eine ethnische Trennunggeben und der Geist des Milosevic wird unter der Handwieder ein Stück gesiegt haben. Das wäre ein Drama.
Die UCK-Kämpfer versuchen, das Machtvakuum,das durch die abziehenden serbischen Truppenverbändeentsteht, zu nutzen. Die Gefahr, von Heckenschützenbeschossen zu werden, ist weiterhin gegeben, und vorallem besteht Minengefahr. Es gibt erste Nachricht vonzurückkehrenden Flüchtlingen, die auf den Feldern vonMinen getötet worden sind.Nahezu alle Hilfsorganisationen warnen daher davor,daß die Kosovo-Flüchtlinge zu schnell in ihr Land zu-rückkehren. Bis zum vollständigen Abzug der Truppen-verbände sollten die Flüchtlinge in den Anrainerstaatenverbleiben, weil es ansonsten sehr schwer wird, für ihreSicherheit zu garantieren. Dennoch drängen schon vieleFlüchtlinge jetzt zurück; wir alle sehen die Bilder in denMedien. Sie können es kaum erwarten, Haus und Hofoder das, was davon übriggeblieben ist, zu besichtigenund mit dem großen Aufräumen zu beginnen.Den Berichten des Auswärtigen Amtes ist zu ent-nehmen, daß Malteser, Deutsches Rotes Kreuz, Caritas,THW und GTZ sich vornehmlich an Standorten desdeutschen KFOR-Kontingents betätigen werden. Ichglaube, eine der besten Ideen ist, dort Bauhöfe einzu-richten, damit mit dem Wiederaufbau auch durch dieKosovaren selbst schnell begonnen werden kann.
Aber niemand hat bisher einen Überblick über dasAusmaß der Zerstörung, und niemand weiß, ob die La-ger in Albanien und Mazedonien überhaupt bis zumWinter geleert werden können. 800 000 Menschen zu-rückzuführen ist eine gigantisch große Aufgabe.Deswegen finde ich es absolut daneben, jetzt inDeutschland eine Rückkehrdebatte loszutreten, hier inDeutschland, wo wir 15 000 Menschen aufgenommenhaben und wo wir als reiches Land uns wirklich Zeit las-sen können, mit der Rückführung zu beginnen. Wennein Land wie Bosnien-Herzegowina, selbst noch vomKrieg gezeichnet, es sich leisten kann, 70 000 Kosova-ren als Flüchtlinge aufzunehmen,
dann haben wir noch einige Monate Zeit, um mit derRückführung der Kosovaren aus Deutschland zu begin-nen.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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3730 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Ich möchte die Worte des Bosnien-Beauftragten,Herrn Koschnik, aufnehmen, der sagt: Wir müssen unssogar darauf vorbereiten, daß möglicherweise noch ein-mal eine vorübergehende Notaufnahme von Flüchtlin-gen hier notwendig ist, wenn die Lager im Winter nichtbefestigt sein können und bis dahin die Rückkehr nichtgelingt.Die Hilfsorganisationen weisen darauf hin, daß sienach wie vor dringend auf Spenden, auch private Spen-den, angewiesen sind. Ich möchte von diesem Platz ausalle Menschen noch einmal auffordern, nicht nachzulas-sen mit der Großzügigkeit, die es in unserer Bevölke-rung in ganz bewundernswerter Weise gegeben hat.Schönen Dank.
Ich gebe jetzt
der Kollegin Lietz das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Der Krieg im Kosovo ist aus – das ist gut –, aber esherrscht noch kein Frieden. Wir befinden uns in einemSchwebezustand, und die Zukunft der Menschen im Ko-sovo und damit auch die Zukunft des ganzen Balkanswird davon abhängen, wie wir jetzt handeln und welcheEntscheidungen wir jetzt treffen. Deshalb wollen dieseEntscheidungen gut überlegt sein.Es beginnt ein schwerer Teil unserer Aufgabe, deruns noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Nebender militärischen Sicherung eines von beiden Kon-fliktparteien akzeptierten Friedens gilt es jetzt, humani-täre und medizinische Hilfe für geschundene und viel-fach entwurzelte Menschen zu gewähren. Wir alle habennoch sehr deutlich die Bilder vor Augen, wie Hundert-tausende von Flüchtlingen über die Grenzen in dieNachbarländer drängten, um unter schwierigsten Bedin-gungen in riesigen Flüchtlingslagern untergebracht zuwerden. Sie alle kommen jetzt zurück. Sie kommen zu-rück, weil wir ihnen die Rückkehr versprochen haben.Sie zählen auf uns, und sie müssen wissen, daß sie aufuns zählen können, meine Damen und Herren.Was zu befürchten steht, ist allerdings, daß dieserRückzug nicht ganz so kontrolliert ablaufen wird, wiewir uns das vielleicht wünschen. Diese Menschen habenzum Teil keinen Nachweis für ihren Besitz. Sie habenAngst um ihren Besitz, und sie werden zurückkommen,wenn sie es für richtig halten, und nicht dann, wenn wires ihnen sagen.Am wichtigsten ist es, die Flüchtlinge zunächst ein-mal mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen, ihreGrundbedürfnisse zu befriedigen. Hilfe vor Ort muß zu-nächst heißen, ihnen Nahrungsmittel zur Verfügungstellen. Sie sind Hunderte von Kilometern gegangen, umdieses Land zu verlassen; sie kommen Hunderte vonKilometern zurück. Sie sind entkräftet. Sie brauchen un-sere Hilfe.Wir haben hier im Deutschen Bundestag entspre-chende Beschlüsse gefaßt, wie den Einsatz von AFORzur humanitären Hilfe in Albanien und die Hilfe derBundeswehr beim Aufbau von Zeltstädten und der hu-manitären und medizinischen Versorgung der Lager inMazedonien. Gerade auf Grund dieser Hilfe für dieFlüchtlinge ist das Ansehen der Bundeswehr auf der al-banischen Seite sehr hoch. Wir haben bewiesen, daß wirhelfen können.
Wir brauchen aber vermehrt auch die Hilfe ziviler Orga-nisationen wie THW, Care, Rotes Kreuz und „CapAnamur“. Und ich wünschte mir, daß wir auch auf„Ärzte ohne Grenzen“ und andere „non government or-ganizations“ zählen können, um für die Koordinationder Flüchtlingshilfe sorgen.
Wir brauchen außerdem – das hat Staatssekretär Kol-bow gestern schon kurz in der Fragestunde angedeutet –Material und Gerät, damit diese Flüchtlinge vor Ort ihreHäuser wieder aufbauen und sie winterfest machen kön-nen, um sich im Winter dann selber zu schützen. Wirbrauchen Material, damit sie Schulen bauen und ihrenKindern möglichst bald wieder Unterricht erteilen kön-nen. Wir brauchen landwirtschaftliche Hilfen wie Saat-gut, damit sie, nachdem die Minen geräumt sind, wiederden Boden bearbeiten können.Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Finanzierungder humanitären Hilfe sagen. Tatsache ist, daßDeutschland den Wiederaufbau nicht alleine bewäl-tigen kann. Wer das leichtsinnig verspricht, wecktErwartungen, die wir nicht halten können. Wir müssendieses Land zusammen mit den Amerikanern undden anderen Europäern wiederaufbauen, wobei ichsicher bin, daß auf die Europäische Union eine ganzbesondere Verantwortung zukommt. Wir, die andereneuropäischen Länder und die Amerikaner werdenuns nicht auseinanderdividieren lassen. Der Druck, denwir über fast drei Monate in Jugoslawien gemein-sam aufrechterhalten haben, wird auch nötig sein, umdie zivile Wiederaufbauhilfe gemeinsam durchzufüh-ren.Jetzt dürfen nicht nur Ankündigungen, nicht nur leereWorte folgen, wie das im Zusammenhang mit Europa-politik in diesem Plenum so oft der Fall war, jetzt müs-sen Taten folgen. Ich fordere die Regierung und HerrnBundeskanzler Schröder auf: Nutzen Sie die letzten Ta-ge Ihrer Ratspräsidentschaft, um eine solidarische euro-päische Finanzierung des Wiederaufbaus zu verhandelnund zu beschließen!
Diese Menschen glauben an uns, sie brauchen unsereHilfe. Es ist auf alle Fälle besser, jetzt zu investieren,jetzt Geld in den Kosovo zu geben, als nach weiterenungeschickten Vorgehensweisen eine erneute, womög-lich bewaffnete Auseinandersetzung zu riskieren, diedann wiederum von uns finanziert werden muß. DasGeld ist anders besser angelegt.Marieluise Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3731
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Unbedingt erhalten bleiben muß eine zufriedenstel-lende medizinische Versorgung unserer eigenen Trup-pe, aber auch der Bevölkerung. Wenn ich höre, daß mitden serbischen Truppen und den insgesamt 40 000 Ser-ben, die ins restliche Jugoslawien zurückkehren, auchdas gesamte serbische medizinische Personal aus denKrankenhäusern abgezogen wird, dann wird mir angstund bange. Denn ich bin der Meinung, daß wir zum jet-zigen Zeitpunkt die medizinische Versorgung der Be-völkerung nicht garantieren können. Deshalb muß ge-prüft werden, inwieweit Ärzte aus den Nachbarländerndazu überredet werden können, neben den NGOs unddem Roten Kreuz vorübergehend in den Kosovo zukommen, um dort zusammen mit den Soldaten derKFOR die medizinische Versorgung sicherzustellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit! Wir sind in einer Aktu-
ellen Stunde.
Ich bin sofort am Ende. –
Lassen Sie mich zum Schluß noch das eine sagen: Wenn
wir die Sanitätstruppen, die wir jetzt drüben haben,
weiter bereitstellen wollen, dann müssen wir uns dar-
über unterhalten, wie wir die Versorgung hier vor Ort
sicherstellen wollen. Die Soldaten hier in Deutschland
müssen schon jetzt mit 20 Prozent weniger Personal ver-
sorgt werden.
Ich glaube, daß wir diesen Einsatz im Kosovo auch
als eine Chance sehen müssen, neu über unser Sanitäts-
personal und die personelle Ausstattung nachzudenken
im Sinne unserer Bundeswehr als der Armee unserer
Söhne und Töchter mitten in der Gesellschaft, die sich
gerade im Kosovo bewähren.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt für
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Walter Kolbow.
W
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank, daßich an dieser Stelle sprechen darf, weil ich um 14.15 Uhrzurück nach Mazedonien möchte, aber doch in dieserDebatte einige Punkte aus der Sicht des von der Bundes-regierung mit der Koordinierung der humanitären HilfeBeauftragten machen möchte.Es ist zweifelsohne so, daß die Lage der Flüchtlingein Mazedonien, aber auch in Albanien und selbstver-ständlich im Kosovo selbst durch die jüngsten Entwick-lungen im Kosovo neue Aktualität gewonnen hat. Wäh-rend es sich bisher darum drehte, die humanitäre Situa-tion außerhalb des Kosovo zu meistern, wird es nun– das ist beredt angesprochen worden – vorrangig darumgehen, im Rahmen unserer Möglichkeiten ein unkon-trolliertes Zurückfluten der Flüchtlinge, Vertriebenenund Deportierten in ihre Heimat zu vermeiden.Aus eigenem Erleben verfüge ich über ein detail-liertes Bild von der Lage der Flüchtlinge, die sich wiefolgt beschreiben läßt. Die Lebensverhältnisse, geradein Mazedonien, haben sich durch die politischen Ereig-nisse der vergangenen Woche nicht grundlegend ver-ändert. Allerdings hat sich die psychologische Situa-tion signifikant gewandelt. Deutlich sind Auf-bruchstimmung und Unruhe spürbar. Dies äußert sichvehement vor allem in politischen Diskussionen in denLagern. Die Menschen in den Camps sind verständ-licherweise ungeduldig und suchen ständig nach siche-ren Nachrichten aus der Heimat. So sind bereits am13. Juni mehrere hundert Familienväter zu ersten Lage-feststellungen in den Kosovo aufgebrochen. Heute sindetwa 8 000 über den Ort Blace aus Mazedonien inRichtung Kosovo unterwegs. Deshalb kommt einerumfassenden, verläßlichen und allen Vertriebenen zu-gänglichen Informationspolitik durch die Hilfsorgani-sationen eine ganz besondere Bedeutung zu. Wir kön-nen sie vor Ort auch leisten.Die Zahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer ausAlbanien und Mazedonien wird derzeit mit zirka 8 000angegeben. Es ist bereits jetzt erkennbar, daß es ohneeine die mazedonische Regierung unterstützende Orga-nisation – das gleiche gilt für die albanische Seite – anden Grenzübergängen zu chaotischen Verhältnissenkommen kann. Denn in den Lagern in Mazedonien be-finden sich derzeit noch immer zirka 105 000 Flüchtlin-ge. 120 000 Vertriebene halten sich in diesem Land inGastfamilien auf. In Albanien sind die Zahlen weit hö-her, wie Sie wissen. Wir sprechen hier von etwa 450 000bis 500 000 Vertriebenen.Mit einer Ausnahme sind die Camps frei zugänglich.Von den gerade erwähnten 105 000 in mazedonischenLagern untergebrachten Personen sind etwa 80 000Menschen in den drei Massenlagern Cegrane, Stenko-vac I und II untergebracht, was ungeheure Probleme inder sanitären und der hygienischen Versorgung gebrachthat, die wir mit der tatkräftigen Hilfe insbesondere, HerrBundesinnenminister, des THWs, aber auch der GTZund in der anfänglichen Notsituation mit Hilfe unsererSoldatinnen und Soldaten einigermaßen haben bewälti-gen können. Aber es ist gerade in diesen Lagern nochimmer viel zu tun.Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist durch dieAngebote an den Verkaufsständen örtlicher Händler si-chergestellt. Auch das World Food Program hilft zuse-hends. Die Wasserversorgung und die sanitären Ein-richtungen – ich spreche es noch einmal an – entspre-chen zwar noch immer nicht dem Standard des UNHCR,sind aber inzwischen deutlich verbessert. Die medizini-sche Versorgung ist sichergestellt. Es gibt nun in jedemLager Einrichtungen für Vorschulkinder, Frauen- undMütterberatungsstellen sowie Informationsstände. Woimmer möglich, werden nun auch in der Nähe der Lagerin ortsansässigen Schulen Klassenräume und Lehrkräftezur Verfügung gestellt.Ursula Lietz
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3732 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Die soziale und wirtschaftliche Lage der zirka120 000 Flüchtlinge in Mazedonien, die in den Gastfa-milien Aufnahme gefunden haben, ist äußerst ange-spannt. Dies gilt vor allen Dingen auch für die Gastfa-milien selbst, die durch ihre Aufnahme- und Hilfsbereit-schaft vielfach unter die Armutsgrenze gerutscht sind.Inzwischen haben die Regierungen in Mazedonien undauch in Albanien die Unterstützung der Gastfamilienleider eingestellt. Die Hilfsorganisationen, von unsererSeite insbesondere ADRA, Caritas, Arbeiter-Samariter-Bund, Kinderberg und Rotes Kreuz, versuchen mit gro-ßem Einsatz, guter Organisation und in enger Koopera-tion mit der albanischen Hilfsorganisation El Hilal zu-mindest den Grundbedarf an Lebens- und Hygienemit-teln, aber auch an Bekleidung zu decken. Ich gehe davonaus, daß auch aus den Spenden, die für das Kosovo vor-behalten sind, nunmehr wesentliche Mittel gerade vonden Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt werden.Der UNHCR, der mit unseren Kräften vor Ort in en-ger Kooperation steht, mißt einer weiteren Unterstüt-zung der Gastfamilien auch deswegen höchste Bedeu-tung zu, weil sonst – je nach zeitlicher Streckung derRückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimat – Ausgaben inerheblichem Umfang für das Herstellen der Winterfe-stigkeit zumindest einiger Lager entstehen könnten.Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort wa-ren, Besuche gemacht haben, die sich durch Inaugen-scheinnahme informiert haben, wissen, wie kompliziertes sein wird, in den Lagern Winterfestigkeit herzustel-len. Es könnte sein, daß wir auf feste Gebäude auswei-chen müssen, die aber auch erst gefunden werden müß-ten.Der UNHCR hat zur finanziellen Unterstützung derGastfamilien ein Programm in einer Größenordnung vonmittlerweile 2,5 Millionen US-Dollar aufgelegt, aus demin erster Linie Ausgaben für Wasser und Strom gedecktwerden sollen. Da sich die Flüchtlinge in den Gastfami-lien vorwiegend in den Ballungszentren des Landes auf-halten – in Skopje zum Beispiel 40 000, in Tetovo zirka50 000, in Gostivar 20 000 oder in Kumanovo 10 000Menschen –, erhöht sich durch die beginnende Verelen-dung das bevölkerungspolitische Konfliktpotential, daszu innerstädtischer Polarisierung und natürlich auch zuUnruhen führen kann und auch schon geführt hat.Seit dem 12. Juni ist die Flüchtlingswelle aus demKosovo faktisch zum Erliegen gekommen. Wir habenbisher zirka 14 000 Flüchtlinge nach Deutschland aushumanitären Gründen evakuiert und stehen damit imVergleich mit anderen Ländern, bezogen sowohl aufden Gesamtumfang als auch auf die Quotenerfüllung,in der Spitze. Dies ist in Mazedonien und in der Regionbekannt und wird als Beweis unserer Verbundenheitund Verläßlichkeit gewertet. Vor dem Hintergrund dertrotz aller Anstrengungen der internationalen Staaten-gemeinschaft bedrückenden Lebensverhältnisse derFlüchtlinge ist deren Bereitschaft zur Rückkehr in dasKosovo grundsätzlich ungebrochen. Es kann davonausgegangen werden, daß die Rückkehr jetzt schnellerfolgen wird. Dabei wird sicher eine organisatorischeUnterstützung durch die Hilfsorganisationen gerne an-genommen.Zusammenfassend ist nach diesen ersten Erkenntnis-sen über die veränderte Lage festzustellen, daß die all-gemeine Lage im Kosovo, auch was die Schadensfest-stellung angeht, unterschiedlich ist. Sie ist in Teilen vonStädten besser als in der Fläche. Wir mußten auch aufGrund der Erkenntnisse unserer Aufklärung per Droh-nen feststellen, daß bis zu 300 Ortschaften nach derMethode „Im Untergeschoß eine Gasflasche, im Ober-geschoß eine brennende Kerze“ in die Luft gesprengtworden sind. Dabei sind natürlich die Dächer wegkata-pultiert worden.Neben der rein humanitären Hilfe kommt der Schaf-fung eines sicheren Umfeldes große Bedeutung zu. Da-bei wird der Einsatz von Streitkräften zumindest in einerlänger andauernden Anfangsphase zum großen Teil auchhumanitäre Aufgaben beinhalten. In Mazedonien undAlbanien wird es zunächst darauf ankommen, in engerZusammenarbeit mit den verantwortlichen Organisatio-nen im Kosovo eine annähernd geordnete Rückkehr zuorganisieren.Ebenso dringlich ist es, möglichst bald Klarheit dar-über herbeizuführen, welche und wie viele Flüchtlingein Mazedonien und Albanien während des Winters blei-ben müssen. Die Bereitschaft beider Regierungen, dieszu unterstützen, wird um so größer sein, je sichtbarer derWille der Staatengemeinschaft und besonders der Euro-päischen Union ist, zur Herstellung von Stabilität in derRegion die notwendigen wirtschaftlichen, gesellschaftli-chen und gesamtpolitischen Maßnahmen auf den Wegzu bringen. Hier gilt es, jetzt gemeinsam die richtigenZeichen zu setzen.Ich danke den vielen Mitgliedern aller Fraktionendieses Hauses, die mich und meine Mitarbeiterinnen undMitarbeiter nicht nur vor Ort besucht, sondern auch tat-kräftige Ratschläge erteilt haben. Ich danke den Spende-rinnen und Spendern in Deutschland, die die NGO in dieLage versetzt haben, kompetent und ihrem Leistungs-profil entsprechend zu helfen.Ich danke den Soldatinnen und Soldaten und denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern von TechnischemHilfswerk und GTZ für ihre Hilfe in höchster Not für dieVertriebenen.Ich danke für die Geduld.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Knapp eine Woche nach dem politi-schen Durchbruch in New York ist die Rückkehr derVertriebenen und Flüchtlinge in den Kosovo in vollemGange. Dies zeigt eines: Es herrscht Vertrauen in diepolitischen und militärischen Rahmenbedingungen. Dasist eine gute Nachricht.
Parl. Staatssekretär Walter Kolbow
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3733
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Es ist sehr bedauerlich, daß sich offensichtlich Zehn-tausende gegen den Rat von Experten und Hilfsorgani-sationen voreilig in Gang gesetzt haben, weil sie sichdadurch selbst gefährden. Es wäre tragisch, wenn dieje-nigen, die Vertreibung und Flucht überlebt haben, jetztbei der Rückkehr in die Heimat noch durch explodieren-de Minen, durch Heckenschützen usw. zu Schaden kä-men. Wir wünschen, daß die Flüchtlinge, die zurückkeh-ren wollen, dies unbeschadet an Leib und Leben tunkönnen.Für uns alle ist klar, daß Europa eine umfassende An-schubhilfe für den Wiederaufbau im Kosovo leistenmuß. Gerade wir Deutsche, die wir unseren Weg zurücknach Europa durch den Marshallplan erlebt haben, ste-hen in besonderer Verantwortung.Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung mit denVorarbeiten für die Eröffnung eines deutschen Koordi-nierungsbüros für die zivile Aufbauhilfe im Kosovo inPrizren bereits begonnen hat. Das Büro muß alsbald sei-ne Arbeit aufnehmen können.Ebenso wichtig ist die Eröffnung eines zentralen Ko-ordinierungsstabs für den Wiederaufbau des Kosovo.Wir bitten die Bundesregierung, die verbleibende Zeitihrer EU-Präsidentschaft dafür zu nutzen, eine Initiativezu ergreifen, um die möglichst baldige Benennung einesSonderbeauftragten der UNO für das Kosovo zu bewir-ken. Die schlechten Erfahrungen in dieser Hinsicht ausBosnien-Herzegowina haben gezeigt, daß eine enge Ko-ordinierung der internationalen Hilfe die erste Voraus-setzung für einen Erfolg ist.Meine Damen und Herren, es ist sicher richtig, daß esvorrangige Aufgabe ist, die Häuser im Kosovo wiederbewohnbar zu machen. Zugleich muß dafür gesorgtwerden, daß diejenigen, die vor Einbruch des Wintersnicht in den Kosovo zurückkehren können, winterfesteQuartiere in ihren Lagern vorfinden.Empfinden Sie es bitte nicht als kleinlich, wenn ich indiesem Zusammenhang sage, wir sollten als Deutschedarauf achten, daß deutsche Anbieter in ausreichendemMaß berücksichtigt werden, wenn es um die Durchfüh-rung von Aufträgen geht. Das ist nicht kleinlich. Es gehtnämlich nicht an, daß hier erneut nach dem Motto ver-fahren wird: Die Deutschen zahlen, und die anderen füh-ren durch.
Auf jeden Fall muß verhindert werden, daß die Hilfe,die zu leisten ist, mittelbar oder unmittelbar demKriegsverbrecher in Belgrad zugeschrieben wird. Es wä-re unerträglich, wenn sich Milosevic jetzt als Friedens-fürst und Verteiler der internationalen Hilfsgelder auf-spielen könnte und damit seiner eigenen Bevölkerunggegenüber die eigenen Greueltaten vergessen machenkönnte.Ich betonte aber zugleich, daß die Aufbauhilfe imKosovo nicht nur den vertriebenen Albanern zugutekommen darf. In gleichem Maße müssen auch die Ser-ben im Kosovo von dieser Hilfe erfaßt werden. Ich emp-finde es als geradezu schrecklich, daß jetzt so viele Ser-ben aus Angst vor Racheakten der zurückkehrenden Al-baner ihr Land, das auch ihre Heimat ist, verlassen. Eswäre wirklich schön – das ist nur eine vage Hoffnung –,wenn es doch noch ein multiethnisches Zusammenlebenim Kosovo geben könnte.
Die politischen und militärischen Voraussetzungen dafürsind gegeben. Wir können jetzt nur an die Menschlich-keit aller dort lebenden Menschen appellieren, daß siewirklich alles in ihren Kräften Stehende tun, um dieAussöhnung zu suchen und sie auch zu finden.Für uns Europäer ist ganz entscheidend, daß wir eininternationales Konzept für die zukünftige politischeOrdnung auf dem Balkan entwerfen. Wir fordern eineüberregionale Südosteuropa-Konferenz, auf der dieOSZE eine entscheidende Rolle spielen muß. Es müssendauerhafte Voraussetzungen für Demokratie, Minder-heitenschutz und regionale Zusammenarbeit geschaffenwerden. Allen Ländern der Region muß jetzt konkret inAussicht gestellt werden, daß sie in Europa willkommensind. Es muß sich auszahlen und sichtbar werden, daßanständiges, zivilisiertes menschliches Verhalten vonder Staatengemeinschaft auch honoriert wird. Wir haltenes daher für dringend angezeigt, daß jetzt alsbald denLändern Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowinaund Kroatien Assoziierungsabkommen mit der Europäi-schen Union angeboten werden. Das wird eine derwichtigsten politischen Aufgaben der näheren Zukunftsein.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen, daß wir selbst-verständlich auch Restjugoslawien, also auch Serbien,die Tür nach Europa nicht endgültig versperren dürfen.Voraussetzung dafür ist, daß in diesem Land demokrati-sche Zustände eintreten. Es liegt im eigenen Interesseder Serben, sich dafür einzusetzen; denn dann werdenauch sie bei uns in Europa willkommen sein.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Eberhard Brecht, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen! Es gibt unter den Paradigmen, die wir für die west-liche Balkanpolitik definiert haben, zwei, die besondersherausragen. Das eine Prinzip ist, daß wir keine neuenGrenzen auf dem Balkan akzeptieren. Das andere Prin-zip ist, daß wir eine ethnische Säuberung auch nachträg-lich nicht akzeptieren. Das sind, glaube ich, Grundprin-zipien, die bisher in diesem Hause unstreitig waren.Aber schon der Krisenfall Bosnien-Herzegowina hat ge-zeigt, wie schwierig es ist, diese Prinzipien durchzuhal-ten. Trotz des Dayton-Vertrages ist die ethnische Tei-lung in Bosnien-Herzegowina – jedenfalls in Teilen –Realität. Die Rückkehr von etwa 100 000 kroatischenUlrich Irmer
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und muslimischen Bürgern in die Republika Srpska ge-staltet sich außerordentlich schwierig.Ich möchte auch noch an ein totgeschwiegenes Pro-blem erinnern. Noch immer warten 40 000 Krajina-Serben auf die Rückkehr in ihre Heimat. Die Öffentlich-keit schweigt zu diesem Skandal.
Wir sehen uns jetzt auf ähnliche Weise mit einem an-deren Konflikt konfrontiert, nämlich daß die Serben– von uns nicht gewollt – aus dem Kosovo abziehen,und zwar nicht nur die Militärkräfte und diejenigen Ser-ben, die sich irgendwelcher Menschenrechtsverletzun-gen schuldig gemacht haben, sondern auch ganz nor-male serbische Familien, die nun Angst um ihr Lebenhaben. Natürlich bleibt uns nichts anderes übrig, als zuakzeptieren, daß sich Menschen entscheiden, nicht mehrmit ihren Nachbarn zusammenzuleben. Aber wir stehenin der Verantwortung, für die Sicherheit derjenigen zugarantieren, die sich entscheiden, in ihrer Heimat zubleiben. Genauso sind wir auch dafür verantwortlich,daß diese Menschen in die Hilfe einbezogen werden, diewir allen Menschen im Kosovo gewähren.Meine Damen und Herren, wir stehen gleichzeitignatürlich in der Pflicht, dafür zu sorgen, daß nun endlichgeklärt wird, welchen Status die UCK bekommen kann.Der Begriff „Entmilitarisierung“ ist etwas vage. Derzeitscheint sich eine Entwicklung abzuzeichnen, bei der dieUCK quasi zur Polizei im Lande wird. Es muß sicherge-stellt werden, daß wir zu einer Polizeistruktur kommen,die weit über das hinausgeht, was wir IPTF in Bosnien-Herzegowina zugestanden haben: Die internationaleGemeinschaft muß der Garant für die Sicherheit der dortlebenden Menschen sein. Wir können die Sicherheit imKosovo nicht alleine in die Hand nur einer Konfliktpar-tei legen.
Dazu gehört ebenfalls, meine Damen und Herren, daßdie in Bosnien-Herzegowina etwas unterbeschäftigtenECCM-Monitore tatsächlich schwerpunktmäßig im Ko-sovo präsent sind.Es gibt auch eine ganze Reihe anderer Erfahrungen,die wir aus Bosnien-Herzegowina übernehmen können.Bei meinem Besuch im März in Bosnien-Herzegowinahörte ich überall dieselbe Klage. Es tummeln sich eineVielzahl von Nichtregierungsorganisationen im Lande.Jede dieser Nichtregierungsorganisationen moniert, esgäbe praktisch keine Koordination, hingegen einen bru-talen Wettbewerb. Dies heißt, es fehlt eigentlich an einerkoordinierenden Hand. Ich glaube, hier und im Kosovosind die westlichen Staaten gefordert, ein Stückchen re-gulierend einzugreifen, damit die von Menschen frei-willig gespendeten Mittel auch richtig plaziert und Dop-pelausgaben vermieden werden können.Umgekehrt sind die NGO mit einem Problem kon-frontiert, was ihre eigene Arbeit betrifft. Immer wiederstoßen engagierte Aufbauhelfer in Bosnien-Herzego-wina bei der Bewilligung von EU-Projekten auf Proble-me. Wenn sie dann schließlich bewilligt sind, fließt derFinanzstrom so spärlich, daß diese NGO im Prinzip zwi-schenzeitlich gar nicht mehr arbeitsfähig sind.Bilaterale Projekte dagegen arbeiten relativ unbüro-kratisch. Die alte Bundesregierung hat dieses Problemaufgegriffen. 1998 wurde auf deutsches Betreiben hindie EU-Wiederaufbauverordnung geändert, um eine Be-schleunigung der Mittelabgabe zu ermöglichen undgleichzeitig den Verwaltungsaufwand zu minimieren.Zur gleichen Zeit wurde eine EU-Präsenz vor Ort ge-schaffen, nämlich in Sarajevo, wogegen die EU-Juristengleich wieder Einwände vorgebracht haben.Ich will damit nur etwas zur Übertragung auf den FallKosovo sagen: Wir brauchen eine seriöse, aber gleich-zeitig auch schnelle Mittelvergabe, damit wir dem Ziel,ziviles Leben im Kosovo noch vor dem Winter wiederzu ermöglichen, möglichst rasch näherkommen.Ich glaube, daß eine spezielle Aufgabe des Nachfol-gers von Herrn van den Broek sein sollte, für einen ra-schen Mittelabfluß zu sorgen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluß.
Der letzte Satz.
Kollege Irmer hat gerade auf eine Notwendigkeit
hingewiesen, die ich aus meiner Sicht nur unterstützen
kann. Alle Anstrengungen für eine langfristige Befrie-
dung des Kosovo werden erfolglos bleiben, wenn es
nicht gelingt, in Belgrad eine demokratische Regierung
zu installieren. Ich glaube, an dieser Stelle sind wir mit
in der Verantwortung.
Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! So erleichtert wir und mitSicherheit eine Mehrheit der Menschen waren, daß end-lich die Waffen im Kosovokrieg schweigen, war unsdennoch klar, daß es nicht Friede ist, der erreicht wurde.Ob aus dem Zustand des Nichtkrieges Friede wird oderob heute die Keime für neue Kriege gelegt werden,hängt aus meiner Sicht auch davon ab, wie mit der Re-solution des UN-Sicherheitsrates umgegangen wird. Wirsollten darauf bestehen, daß sie nach Geist und Buchsta-be erfüllt wird.Uns sollte klar sein, daß Unrecht nicht mit neuem Un-recht beantwortet werden kann. Massenflucht und Ver-treibung der nichtalbanischen Bevölkerung des Kosovodürfen nicht die Antwort auf Massenflucht und Vertrei-bung der Kosovo-Albaner sein. Unrecht kann man nichtgegeneinander aufrechnen. Aber ich befürchte, daß ge-Dr. Eberhard Brecht
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nau das passieren wird: daß mit der Auf- und Abrech-nung begonnen wird.Eine gesicherte Rückkehr von Flüchtlingen in denKosovo erfordert aus meiner Sicht neben humanitäremEngagement vor allen Dingen eine rasche Behebung derKriegsschäden und berechenbare politische Entschei-dungen. An berechenbaren politischen Entscheidungenmangelt es nach wie vor. Zur Berechenbarkeit gehörtauch, unsere Bevölkerung über die Kosten des Kriegesaufzuklären. Wir müssen sagen, was wir gemeinsamaufbringen wollen, wenn wir uns engagieren, und dürfennicht weiterhin dazu schweigen. So überzeugt manMenschen nicht.
Ich möchte über politische Berechenbarkeit als Be-dingung auch für die Rückkehr der Flüchtlinge lautnachdenken: Im Bundestag ist immer wieder betontworden, welch großes Verdienst Rußland an der Reso-lution des UN-Sicherheitsrates zukommt. Mit Danksa-gungen ist Rußland von dieser Stelle aus förmlich über-schüttet worden. So weit, so gut. Aber jetzt, da es um dieRegelung der Nachkriegsordnung im Kosovo geht, wirdRußland erneut ausgegrenzt und gedemütigt.
Für das Ende des Krieges brauchte man Rußland, fürden Frieden offenbar nicht.Das Argument, kein einziger Flüchtling werde ineinen Sektor gehen, der unter russischer Kontrolle steht,und überhaupt sei ein solcher Sektor im nachhinein einSieg Milosevics, stempelt Rußland nachträglich zueinem Komplizen Milosevics und zeigt, daß Vertrauens-bildung in nur eine Richtung betrieben wird.
Nötig ist aber – auch für eine gesicherte Rückkehr derFlüchtlinge und für die Verhinderung von neuer Mas-senflucht – die Sicherheit, gemeinsam mit Rußland denWiederaufbau gestalten zu wollen. Wir sollten den Men-schen klar sagen, der Friede werde nur tragfähig sein,wenn er von Rußland mitgetragen wird. Dies sollte auchder Deutsche Bundestag klar und deutlich sagen.
Ebenso muß gesichert werden, daß die UCK entmili-tarisiert und entwaffnet wird. Die UCK marschiert der-zeit wie eine siegreiche Armee in den Kosovo ein. DieAntworten, die man erhält, wenn man jemanden auf die-se Tatsache anspricht, sind in der Politik doppeldeutig.Die Bundesregierung sagt, man sei mit der UCK im Ge-spräch. Wenn man in der Lage war, den Abzug der ser-bischen und jugoslawischen Einheiten verbindlich zuregeln, sollte man auch die Demilitarisierung der UCKverbindlich durchsetzen. Das hat ebenfalls mit der gesi-cherten Rückkehr der Flüchtlinge zu tun.Ein weiteres Problem, das auch ich sehe, ist von denKollegen Irmer und Brecht angesprochen worden. Al-lerdings ziehe ich aus diesem Problem eine ganz andereSchlußfolgerung als sie. In den letzten Wochen wurdeimmer wieder lanciert, daß Hilfen für den Wiederaufbauim jugoslawischen Staatsgebiet an die Bedingung ge-knüpft würden, daß Milosevic verschwindet. Auch ichkann mir Demokraten besser als Regierungschefs vor-stellen; ich wünsche mir Demokraten. Aber darüberwird das jugoslawische Volk, werden die Serben selbstentscheiden müssen; das kann nicht von hier aus dekre-tiert werden. Die Wiederaufbauhilfen an den RücktrittMilosevics zu binden halte ich aus mehreren Gründenfür fatal und katastrophal.
Lassen Sie mich Ihnen zunächst die rechtliche Di-mension vorstellen. Man will im Kosovo, in Monteneground in der Vojvodina Wiederaufbauhilfe leisten. Gleich-zeitig haben wir uns verpflichtet, die territoriale Integri-tät Jugoslawiens nicht anzutasten. Nun gehören aber derKosovo, Montenegro und die Vojvodina zu Jugoslawi-en. Mit wem wollen Sie also die Aufbauhilfe vereinba-ren? Es widerspricht der Festlegung des UN-Sicherheitsrates, daß die territoriale Integrität Jugosla-wiens nicht angetastet wird, wenn diese Integrität hin-tenherum über das Instrument der Wiederaufbauhilfeaufgelöst wird. So legt man den Keim für neue Ausein-andersetzungen, die später ausgetragen werden.Ich halte es auch moralisch für bedenklich. Die Men-schen in Jugoslawien haben unter dem Krieg gelitten.Wer wird ihnen helfen? Wer macht die Donau wiederschiffbar, beseitigt die ökologischen Schäden, bautWohnungen, Brücken usw.? Sind Leiden und Wieder-aufbau denn politisch teilbar? Oder soll mit dem Wie-deraufbau der Krieg mit anderen Mitteln fortgesetztwerden?Letztlich fördert Isolation Nationalismus. Armut för-dert nicht gerade demokratisches Verhalten. Wer Natio-nalismus auch in Serbien überwinden will, muß Serbienaus der Isolation heraushelfen. Dazu sollten wir dieHand reichen. Wir dürfen aber nicht durch eine aben-teuerliche Politik der Ausgrenzung neue Gräben aufrei-ßen, wenn alte noch nicht zugeschüttet worden sind.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die
Kollegin Ulrike Merten, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Ich habe gestern etwas gelesen, das mir gutgefallen hat, weil es das, was die NATO in den vergan-genen Wochen getan hat, in den richtigen Zusammen-hang stellt: „Die Gewinner sind die Menschen in Jugo-slawien und die Menschen im Kosovo“, sagte der EU-Beauftragte Martti Ahtisaari, als er nach den Siegern desKosovo-Konfliktes gefragt wurde. Die Menschen in Ju-goslawien hätten nun eine Chance, in Zukunft in einerdemokratischen Gesellschaft zu leben.Nach all den bedrückenden Wochen des Krieges aufdem Balkan ist der Frieden zwar noch lange nicht er-Wolfgang Gehrcke
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reicht – ich glaube, darüber sind wir uns alle im klaren –;denn Frieden bedeutet viel mehr als die Abwesenheitvon Gewalt. Ob wirklich Frieden entsteht, hängt nichtzuletzt von der Bereitschaft der Menschen ab, den Wegder Aussöhnung zu gehen, zu vergeben, ohne die Erin-nerung zu verdrängen und Demokratie als unabdingbareVoraussetzung für Menschenrechte und Menschenwürdezu begreifen.
Ob Demokratie entsteht und der Frieden damit wahr-scheinlicher wird, hängt natürlich auch von den Rah-menbedingungen ab, bei denen wir helfen können.Letztlich hängt es aber von dem Willen und dem Wollender Menschen ab, ihre politische Zukunft selbst in dieHand zu nehmen. Das können und wollen wir ihnennicht abnehmen.Was wir tun können, ist, den Prozeß der Demokrati-sierung und des Wiederaufbaus zu begleiten und abzusi-chern. Erste Aufgabe wird es sein, Sicherheit zu schaf-fen. Wir tun das durch die deutsche Beteiligung an dermilitärischen Absicherung der Friedensregelung für denKosovo. 8 500 Soldaten der Bundeswehr werden esletzten Endes sein, die mithelfen, das Erreichte zu si-chern und das Aufflackern neuer Gewalt zu verhindern.Nur so wird es möglich sein, allen Vertriebenen undFlüchtlingen eine sichere und freie Rückkehr in ihreHeimat zu gewährleisten und den humanitären Hilfsor-ganisationen den ungehinderten Zugang – das ist beson-ders wichtig – in den Kosovo zu verschaffen.Hilfe ist dringender denn je nötig. Wir haben daseben schon gehört. Etwa 580 000 Albanerinnen und Al-baner irren seit Monaten im Kosovo herum. Sie sindüberwiegend in Bergen und Wäldern versteckt. Manspricht von Ansammlungen von mehreren 10 000 Perso-nen. Dort herrschen katastrophale Bedingungen: DieMenschen haben keine Nahrungsmittel, kein Wasser undkeine ärztliche Versorgung – das alles bei sengendenTemperaturen.Der UNHCR und die Caritas sind inzwischen – dasist gut so – von Mazedonien aufgebrochen, um ersteHilfsgüter über die Straßen nach Pristina in den Kosovozu transportieren. Wir haben es der Bundeswehr zu ver-danken, daß die Transportstraßen von Minen geräumtwurden. Es gibt nur Vermutungen, wo sich die Flücht-linge im Kosovo aufhalten; aber es bleibt zu hoffen, daßsie schnell gefunden werden, damit ihnen die Hilfe zu-teil werden kann.Außer den Vertriebenen im Kosovo warten in denLagern oder bei den aufnahmebereiten Gastfamiliennoch über 900 000 Vertriebene darauf, endlich zurück-zukehren, in ein Land, in dem die Felder brachliegen,das Vieh verendet ist, Häuser und Ställe zerstört sind.Das bedeutet, daß etwa 1,5 Millionen Menschen übermehrere Monate mit Lebensmitteln und allen anderenGütern versorgt werden müssen. Der geschätzte Bedarfpro Tag liegt bei 1 000 Tonnen Lebensmitteln.Dies ist eine unglaubliche logistische Herausforde-rung, die auf die Bundeswehr und die internationalenHilfsorganisationen wartet. Wir wissen, daß dies nur ge-lingen kann, wenn die Zusammenarbeit zwischen derBundeswehr und den Hilfsorganisationen weiterhin sohervorragend klappt, wie dies in den letzten Monatengelungen ist.
An dieser Stelle ist es mir wichtig, auf den großenAnteil der Bundeswehr an der humanitären Hilfe hinzu-weisen: Cegrane in Mazedonien und Quatrum in Alba-nien sind das Synonym für die tatkräftige Hilfe beimAufbau von Lagern, die die Größe von Kleinstädten ha-ben – mit all den Erfordernissen im Hinblick auf die In-frastruktur. Es bleibt zu hoffen, daß auch in Zukunft dieHilfe so gut organisiert und geleistet werden kann, wiees in der Vergangenheit war, als nämlich Albanien undMazedonien der innere Kollaps drohte, weil sie auseigener Kraft die Flüchtlingsströme nicht mehr bewälti-gen konnten. Der Bundestag hat damals beschlossen, zu-sätzlich 1 000 Soldaten im Rahmen der Aktion „AlliedHarbour“ zu entsenden.Damit ist damals ein wesentlicher Beitrag geleistetworden, die bedrohliche Situation in den Aufnahmelän-dern zu stabilisieren. Seit dem Beginn des humanitärenEinsatzes der Bundeswehr im März 1999 sind bis An-fang Mai nahezu 2 550 Tonnen Güter, bestehend ausLebensmitteln, Medikamenten, Decken und Zeltmate-rial, in mehr als 250 Flügen nach Albanien und Maze-donien gebracht worden.Es sind 96 Millionen DM an humanitärer Hilfe ge-leistet worden, die aber – abgesehen von der sehr großenpersönlichen Spendenbereitschaft vieler Menschen hierin Deutschland – nur deshalb umgesetzt werden konnte,weil die Bundeswehr mit ihren Möglichkeiten und Fä-higkeiten mit den Organisationen zusammengearbeitethat.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das zumSchluß noch einmal sagen: Aus vielen persönlichen Ge-sprächen in den letzten Wochen mit Soldaten der deut-schen Bundeswehr habe ich erfahren, daß sie besondersmotiviert und gut vorbereitet sind und daß gerade dieserhumanitäre Einsatz ihr Selbstbewußtsein erheblich ge-stärkt hat, waren sie doch in besonderer Weise von derSinnhaftigkeit dieser Einsätze überzeugt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Mer-
ten, denken Sie bitte an Ihre Redezeit?
Ja, danke schön.
– Für den Hinweis danke schön.Ulrike Merten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3737
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist die erste Rede
der Kollegin Merten, deshalb bin ich etwas großzügiger.
Ich glaube, wir sind uns dar-
über einig, daß alle unsere guten Wünsche die Soldaten
der Bundeswehr begleiten. Wir hoffen, daß sie unver-
sehrt wieder nach Hause zurückkehren. Ich möchte den
Soldaten der Bundeswehr an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich für ihren großartigen Einsatz danken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie bereits ange-
merkt, Frau Kollegin Merten, das war Ihre erste Rede
hier im Deutschen Bundestag. Im Namen aller Kolle-
ginnen und Kollegen möchte ich Sie dazu beglückwün-
schen.
Für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt Kollege
Christian Schwarz-Schilling das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Hölle, nämlich Mord und Vertreibung von Zi-vilisten durch staatliche und parastaatliche Stellen, istvorüber. Wir kommen jetzt in die gefährliche Über-gangsphase, in der Ungesetzlichkeit, Ausschreitungenund persönliche Racheakte eine Landschaft überziehenkönnen, und wir sind gefordert, damit dies nicht ge-schieht.Wir waren gerade mit dem Ausschuß für Menschen-rechte und humanitäre Hilfe vor einigen Tagen in Tiranaund in Skopje, und wir haben uns dort wirklich überzeu-gen können, mit welchem Einsatz die Bundeswehr auchgerade diese humanitären Fragen beachtet und sich be-müht, sie zu lösen, natürlich auch die Nichtregierungs-organisationen und das Büro des Beauftragten des Ver-teidigungsministeriums.Meine Damen und Herren, ein Vergleich mit der Si-tuation in Bosnien legt aber nahe, daß wir einen Fehlernicht wieder machen dürfen. Die Voraussetzung fürRückkehr und Lebensqualität von Flüchtlingen ist derenpersönliche Sicherheit an den Orten, an die sie zurück-kehren. Da wir das im Dayton-Vertrag nicht beachtethatten, sondern nur für militärische Sicherheit Vereinba-rungen getroffen hatten und dann zivilen Aufbau ohneSicherheit glaubten voranbringen zu können, ist hier dieerste Schlußfolgerung zu ziehen. Ich meine, es wird ent-scheidend sein, dieses Sicherheitsvakuum dort nicht ent-stehen zu lassen.
Insofern hat dieser russische Handstreich eine vonuns gar nicht vorausgesehene gute Seite. Die NATO istnämlich schneller einmarschiert, als es vorgesehen war,um ja nicht den Russen das Feld zu überlassen.
Aus diesem Grunde sind vielleicht viele Menschen nichtumgekommen, keine Plünderungen erfolgt und Massen-gräber nicht verwischt worden. – Die List der Ge-schichte ist manchmal unerforschlich.
Das, was wir bisher von General Harff und dem ober-sten NATO-Kommandierenden, Michael Jackson, zudiesen Fragen gehört haben, ist ermutigend. Es ist gut,daß Sie sich auch um den entsprechenden Schutz derBevölkerung kümmern. Im übrigen war im Antrag derBundesregierung nicht ganz klar – das habe ich demKollegen Verheugen schon gesagt –, daß dieser Schutzauch für die dortige Bevölkerung und nicht nur für diedort hingehenden eigenen Truppen bzw. zivilen Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter gilt.Jetzt kommt es darauf an, die Flüchtlingsfrage ratio-nal und humanitär zu lösen:Der erste wichtige Punkt ist dabei die Rückkehr derFlüchtlinge innerhalb des Kosovo. Sie halten sich in denBergen auf, sind verschollen und irren umher. Das sinddie ersten, denen geholfen werden muß.Ein zweiter Punkt ist die Stabilisierung der Region.Es muß eine Rückkehr der Vertriebenen aus den umlie-genden Nachbarstaaten erfolgen. Denn wenn man von„vollen Schiffen“ spricht, dann sollte man dort hingehenund sich das einmal anschauen. Ich nenne das BeispielMazedonien: Von den insgesamt 830 000 bis 850 000Flüchtlingen befinden sich dort 280 000. Die Bevölke-rungszahl beträgt 2 Millionen. In dieses Land sindplötzlich, also innerhalb von vier Monaten, 14 Prozentder eigenen Bevölkerung – in Deutschland wären das11,3 Millionen Flüchtlinge – hinzugekommen. – Dassage ich, damit man einmal eine Vorstellung hat, umwas es geht.Wir müssen also dafür sorgen, daß diese Schiffe dortnicht noch nachträglich absaufen. Denn das wäre für dieStabilisierung dieser Region das Schlimmste.Flüchtlinge aus den umliegenden Nachbarstaatenwerden – darüber müssen wir uns im klaren sein –schneller zurückkehren, als wir wollen. Aber es werdenauch Flüchtlinge dort bleiben, die noch gar nicht zu-rückgehen können. Das heißt, wir müssen mit einerVielzahl von Fällen aller Art rechnen. Diejenigen, dieschnell zurückkehren, werden wir davon nicht abhaltenkönnen. Das ist eine Art Naturgewalt. Da müssen wirbegleitend Hilfe leisten, so sehr es geht. Das betrifft dieEntminung und den Schutz der Bevölkerung sowie dieVerhinderung von persönlichen Racheakten aller Art.Denjenigen, die dort bleiben, müssen wir ihre Über-lebensfähigkeit garantieren. Die Läger sind nicht winter-fest. Daher muß geklärt werden, ob diejenigen, die dortbleiben, in Privatfamilien untergebracht werden. Oderrichten wir dort winterfeste Läger her? Machen wir sietransportabel, daß sie später auch in das Kosovo umge-setzt werden können? Das sind Fragen, die noch offensind.Wie viele Menschen in der Nachbarstaaten bleiben,weiß man noch nicht. Bezüglich derjenigen, die jetzt
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privat untergebracht sind – das ist fast die Hälfte –, istfestzustellen, daß die Ressourcen dieser Familien amEnde sind. Sie können nicht mehr das Notwendige kau-fen, was sie zum Leben brauchen, weil sie das Dreifachebis Fünffache der Zahl ihrer eigenen Familienangehöri-gen in zwei oder drei Räumen aufgenommen haben.Ein dritter Punkt ist, daß der Druck auf die Flüchtlin-ge zur Rückkehr aus den Drittstaaten nicht so stark aus-geübt wird, daß er für die betroffene Region destabilisie-rend wirken würde. Aber wir dürfen diejenigen, die jetztfreiwillig gehen wollen, davon nicht abhalten. Ich glau-be, das wäre genauso falsch. Es wird in Deutschland, inden Niederlanden, in Schweden und in anderen Staateneine Menge Menschen geben, die sagen: Jetzt ist derZeitpunkt gekommen; ich gehe wieder zurück bzw.schicke meine Söhne vor. Dann dürfen wir nicht sagen:Ihr seid noch nicht an der Reihe. – Hier müssen diesepersönlichen Schicksale, aber auch in umgekehrter Hin-sicht die Tatsache, daß jemand noch nicht zurückkehrenkann, stärker beachtet werden, als dies bisher der Fallist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, denken auch Sie bitte an Ihre Rede-
zeit.
Ich
komme sofort zum Ende.
Herr Kollege Verheugen, ich hoffe, daß das, was
heute in der Münchener „AZ“ über die deutsche Bot-
schaft, die Hilfe für Menschen, die ausgeflogen werden
mußten und die nach Rom umgeleitet wurden, verwei-
gert hat, erschienen ist, nicht wahr ist. Ich weiß, wie es
in der dortigen Botschaft zugeht.
– Tirana. Es wurden in diesem Zusammenhang mehrere
Fälle genannt. Das Internationale Rote Kreuz spricht
sonst wenig über solche Fälle. Von daher gesehen halte
ich es für außerordentlich wichtig, sich um diese Frage
in Tirana zu kümmern.
Mein Eindruck, was die Botschaft in Tirana angeht,
ist, daß so etwas möglich ist. Daher möchte ich Sie bit-
ten, sich auch darum zu kümmern.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin istdie Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Zu Beginn meiner Ausführungen, die sich miteinem etwas anderen Aspekt der hier vorgetragenenThemen befassen, komme ich auf den Kollegen Kolbowzurück, der von psychologischer Aufbruchstimmung ge-sprochen hat. Ich möchte davor warnen, daß man imRahmen dieser psychologischen Aufbruchstimmung, dieim Moment herrscht, über die langfristigen Schädenhinwegsieht, die durch die extremen Traumatisierungenentstanden sind.Die Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge aus Kosovokonzentrieren sich bislang vorrangig auf die Sicherstel-lung des physischen Überlebens, darauf, daß die Flücht-linge ein Dach über dem Kopf haben – sei es im winter-festen Lager außerhalb des Kosovo oder im Kosovo sel-ber. Die Traumatisierungen durch Vertreibung, FolterVergewaltigung und Demütigungen aller Art bedürfenaber besonderer Aufarbeitung, insbesondere durch psy-chosoziale Betreuung, durch Beratungsangebote unddurch Langzeittherapien. Besonders sensibel müssen wiran die Lage von Frauen, Mädchen und Kindern heran-gehen, die über ihre Erfahrungen nicht mit jedem spre-chen werden.In diesem Zusammenhang begrüße ich es, daß vomBundesinnenministerium, vom Kollegen Schily ein So-fortprogramm auf den Weg gebracht worden ist, dasinsbesondere in diesem Rahmen wirksam werden soll.Dieses Sofortprogramm greift nicht nur bei den Flücht-lingen, die hier bei uns vor Ort untergebracht werden,sondern in der Folge auch dort, wo sie – nachdem sie imnächsten Jahr bzw. schon vorher dorthin zurückgeführtworden sind – vor Ort ihre familiären Zusammenhängewiederaufbauen müssen.Vorgesehene Schritte in diesem Sofortprogramm, indiesem Hilfsangebot, das über die Wohlfahrtsverbände inZusammenarbeit mit den psychosozialen Zentren in derBundesrepublik Deutschland organisiert werden soll, sinddie Inanspruchnahme von Kompetenzen in bezug auf diespeziellen Behandlungsmethoden im Umgang mit trau-matisierten Personen aus Kriegsgebieten und Bürger-kriegsgebieten, die von schweren Menschenrechtsverlet-zungen betroffen waren. Hier ist insbesondere das Zen-trum für Folteropfer in Ulm zu nennen, das in diesem Zu-sammenhang Handlungsbedarf skizziert hat. Ich bin ausBaden-Württemberg darüber informiert worden, daß mo-bile Teams gebildet werden sollen, die interdisziplinär be-setzt sind und die in den Aufnahmeeinrichtungen tätigwerden sollen. Außerdem sind Schulungen für Personalgeplant. Das Generalsekretariat des Deutschen RotenKreuzes hat diese Aufgabe übernommen.Ich möchte an alle Kolleginnen und Kollegen drin-gend appellieren, daß vor Ort – sowohl in den Kommu-nen als auch in den Regionen, wie auch in den Regie-rungsbezirken – darauf hingewirkt wird, daß dieseTeams aufgestockt werden, unter Umständen auch durchdie Koordination von freiwilligen Leistungen. Denn imMoment reicht die personelle Ausstattung einfach nichtaus, um den Anforderungen Genüge zu leisten.Über das Sofortprogramm hinaus, das hier zunächstgreift, möchte ich vorstellen, was nicht allgemein be-kannt ist, was aber im Rahmen des Stabilitätspaktes fürSüdosteuropa wichtig werden wird: Ich möchte dieMittel und Programme vorstellen, die zur Verfügung ge-stellt werden und die von seiten des BundesministeriumsDr. Christian Schwarz-Schilling
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für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungangesetzt werden. In dem Aktionsplan zur Bekämpfungvon Gewalt gegen Frauen soll die Unterstützung geradevon Kosovo-Flüchtlingen ins Auge gefaßt werden. Eswurden aus den Mitteln des BMZ 1,9 Millionen DM fürdie psychologische Betreuung insbesondere von trau-matisierten Frauen und Kindern aus dem Kosovo bereit-gestellt. Diese Maßnahme wird zusammen mit der Ge-sellschaft für technische Zusammenarbeit und dem Köl-ner Verein Medica Mondiale durchgeführt. Inzwischenfindet die Aufbauarbeit dieses Dienstes vor allem in Al-banien statt, aber sie muß natürlich auf Mazedonien undauch auf Kosova selber erweitert werden.Ich denke, in diesem Zusammenhang ist es auch nochwichtig, zu erwähnen, daß wir über den militärischenErfolgen, sage ich einmal, die wir dadurch erzielt haben,daß die Flüchtlinge jetzt wieder in der Lage sind zurück-zukehren, nicht vergessen dürfen, welche Langzeitwir-kungen auch für den Wiederaufbau durch die Folge-schäden der Vertreibung zu erwarten sind. Ebenfallswichtig ist es, darauf hinzuweisen, daß wir, wenn über-haupt eine Stabilisierung der Region erreicht werdensoll, diesen Aspekten keine zu geringe Bedeutung gebendürfen. In diesen Zusammenhang ist auch das einzuord-nen, was wir mit einem zivilen Friedensdienst versu-chen, der die verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit-einander versöhnen soll – auch nach solchen Auseinan-dersetzungen.Es ist hier vorhin beklagt worden, daß jetzt die serbi-sche Bevölkerung – auch diejenigen, die sich nicht anÜbergriffen beteiligt haben – aus Kosova flieht, weil sieAngst vor Racheakten hat. Das zeigt nur, in welch ver-zweifelter Situation sich die Bevölkerung insgesamt dortbefindet. Aus den Erfahrungen früherer Bürgerkriege– nicht nur in Europa – können wir ganz klar die Schluß-folgerung ziehen: Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, istauch keine Versöhnung möglich.
Das bedeutet in diesem Zusammenhang natürlich, daßdiejenigen, die sich Verbrechen gegen die Menschlich-keit haben zuschulden kommen lassen, auch vor Gerichtgestellt und abgeurteilt werden müssen, daß es also nichtangeht, daß mit Kriegsverbrechern jetzt Verträge ge-schlossen werden –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt zum Schluß kommen.
hier auch darauf geachtet werden muß, daß sie sich nicht
die Lorbeeren anstecken können, die Stabilisierung der
Region herbeigeführt zu haben. Deswegen müssen wir
für die Demokratisierung, aber auch für die innere Aus-
söhnung der Bevölkerung in diesem Rahmen arbeiten.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dietmar Schlee.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Beitragdes Kollegen Kolbow hat deutlich gemacht, welch her-ausragende Arbeit von vielen, vielen Helferinnen undHelfern von Organisationen jeder nur denkbaren Art inden letzten Monaten geleistet worden ist, natürlich auchvon unseren Soldaten. Dies verdient Dank und Aner-kennung, und diesen Dank und diese Anerkennungmöchte ich in dieser Stunde aussprechen.
Meine Damen und Herren, je größer die Notlage ist,desto konkreter müssen die Dinge angesprochen werden.Ich meine auch, daß wir die Dinge an all dem messenmüssen, was sich in Bosnien ereignet hat. Wir müssenauch aus dem zu lernen versuchen, was in Bosnienfalsch gemacht wurde. Was muß jetzt ganz konkret ge-schehen?Erster Punkt: Auf die Binnenvertriebenen im Kosovound auf ihre aktuellen Probleme haben Sie, Frau Beck,hingewiesen. Das können die humanitären Organisatio-nen leisten, wenn wir sie entsprechend unterstützen.Der zweite Punkt: Es werden – Sie haben das ja inden letzten 48 Stunden erlebt – jetzt immer mehrFlüchtlinge aus Mazedonien, aus Albanien und ausMontenegro zurückkehren. Wir werden das nicht steuernkönnen, das ist meine feste Überzeugung. Ich möchteeinmal wissen, wie wir das machen sollen. Deshalb mußden Leuten geholfen werden. Ich habe gestern gesagt:mit Startpaketen, Folien, Essen, Handwerkszeug – wennsie mit Traktoren kommen, kann man ihnen auch Bau-stoffe mitgeben –, damit sie ganz konkret etwas bewe-gen können.Dritter Punkt: Wir müssen so rasch wie möglich– Herr Irmer hat das angesprochen – dafür Sorge tra-gen – ich wende mich in diesem Punkt natürlich auch andie Mitglieder der Regierung –, daß die Serben zurück-kehren können. Je schneller, desto besser. Je länger esdauert, desto größer wird das Problem. Das ist meinefeste Überzeugung.
Der nächste Punkt: Wir brauchen sofort – das mußdie Bundeswehr und damit die militärische Seite über-haupt federführend in die Hand nehmen – Programmezur Minenbeseitigung, zur Wiederherstellung derStromversorgung und zur Lösung der Wasserprobleme,sonst werden wir – trotz unserer Bemühungen – nichtschnell genug vorankommen. Zu den Sofortmaßnahmengehört auch, daß die Bundeswehr und die CIMIC ver-gleichbaren Organisationen ander Armeen unverzüglichbeginnen, sich ein Bild davon zu machen, wo was wanngetan werden muß. Danach müssen die Projekte koordi-niert und so rasch wie möglich umgesetzt werden.Wenn wir die Probleme lösen wollen, dann ist esdringend notwendig, daß wir auf internationaler EbeneDr. Angelika Köster-Loßack
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zu anderen Lösungen kommen, als wir sie in Bosnienhatten. Das gilt zunächst einmal für die EU. Es kannnicht sein, daß Anträge in Brüssel gestellt werden undder Bescheid monatelang auf sich warten läßt. EineLösung dieses Problems wäre die Schaffung eines Be-auftragten des Präsidenten der Europäischen Kommis-sion oder einer Agentur vor Ort. Diese Agentur mußaber entscheiden können. Herr Dr. Brecht hat schondarauf hingewiesen, daß die EU in Sarajevo eineAußenstelle hatte; diese aber hat überhaupt nicht funk-tioniert, weil sie keine Zuständigkeiten hatte. Es mußalso in Zukunft mit einem Beauftragten oder mit einerAgentur gearbeitet werden, die ein Budget und Ent-scheidungsbefugnis haben, um einzelne Projekte sofortumsetzen zu können. Ansonsten können wir keinenFortschritt erreichen.Entsprechende Maßnahmen kann man mit dem Euro-päischen Rechnungshof verabreden. Vom Präsidentenund den Mitgliedern des Europäischen Rechnungshofeshören wir, daß sie entsprechende Maßnahmen in diesemAusnahmefall akzeptieren würden. Wir sollten uns jetztdiesbezüglich politisch durchsetzen.Ich will noch darauf hinweisen, daß in Bosnien dieZusammenarbeit mit der Weltbank, mit der EBRD undder EIB in Luxemburg in der Anfangsphase – später wares anders – alles andere als ideal verlief. Als die Pro-bleme den Menschen besonders auf den Nägeln ge-brannt haben, sind die entsprechenden Vorhaben überMonate nicht rund gelaufen.Zur Rolle eines nationalen Beauftragten: Sie kennendie Arbeit von Hans Koschnick. Ich glaube, daß ich vorihm schon einen Beitrag leisten konnte, der zeigte, daßdie Einsetzung eines Beauftragten im nationalen Bereichunerläßlich ist. Ich möchte in diesem Zusammenhangdarauf hinweisen, daß das Anbinden an ein Ressort, dasfür mich schon im Sommer 1997 eine große Rolle ge-spielt hat, völlig falsch ist. Auch Herr Koschnick hältdieses Vorgehen für völlig falsch. Der Beauftragte mußmit allen Ressorts in etwa auf gleicher Ebene Verabre-dungen treffen können. Vor allem muß er ein ständigerAnsprechpartner für die Bundesländer sein. SenatorWrocklage ist anwesend; er kann dies gut bestätigen.Wenn die Maßnahmen zwischen Bund und Ländernnicht koordiniert werden, werden wir nie eine vernünfti-ge Regelung erreichen.Abschließend noch zwei kurze Bemerkungen. LieberHerr Kollege Schily, wir müssen sicherlich noch einmalüber den unkontrollierten Zustrom von Kosovo-Albanern sprechen. Im Augenblick schlägt die Diskus-sion darüber in der Schweiz hohe Wellen. Wir habengenaue Zahlen darüber, wie viele Menschen Tag für Tagunkontrolliert ins Land hereinkommen. In diesem Zu-sammenhang spielt natürlich die Problematik der Ver-teilung auf die Bundesländer eine große Rolle.Meine letzte Bemerkung – im Sinne eines Ceterumcenseo –: Das Problem Kosovo zeigt, lieber Herr Kolle-ge Schily, daß es ganz dringend notwendig ist, zu einereuropäischen Flüchtlingskonzeption zu kommen. Siebrauchen sich nur die entsprechenden Zahlen anzu-sehen, –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich
bitte Sie, nicht noch einen neuen Gedanken anzufangen.
– und zwar die Zahlen
derjenigen, die zum Flüchtlingskontingent gehören, aber
auch derer, die illegal ins Land gekommen sind. Deshalb
meine Bitte an die Regierung, in diesem Bereich zu ver-
suchen, die Probleme zu lösen.
Wenn die Bevölkerung bei uns den Eindruck ge-
winnt, sie hilft, während die anderen über die Hilfe nur
reden, dann wird das zu einer ganz schwierigen politi-
schen Situation führen. Das kann niemand wollen.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht jetzt der Staatsminister im Auswärtigen
Amt, Günter Verheugen.
G
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Ich freue mich, feststellen zu können, daßhier im Hause sowie zwischen diesem Hause und derBundesregierung in der Beurteilung der Situation undder Notwendigkeiten eine große Übereinstimmung be-steht. Ich kann mich nahezu allem anschließen, was hiergesagt worden ist.
– Nahezu. Sie, Herr Gehrcke, beziehe ich ausdrücklichnicht ein.Ich möchte zunächst eine Feststellung treffen: Wirsind noch nicht am Ziel unserer Kosovo-Politik. DasZiel ist erst dann erreicht, wenn die Menschen zurück-gekehrt sind und dort dauerhaft in Frieden und in Si-cherheit leben können.Sie werden dort nur dann dauerhaft in Frieden und inSicherheit leben können, wenn es uns gelingt, nicht nurim Kosovo selbst, sondern in der gesamten Region dieStrukturen zu schaffen, die es uns erlauben, die Regionan die Europäische Union heran- und in die EuropäischeUnion hineinzuführen.Dieses Angebot gilt – dies betone ich – für die ge-samte Bundesrepublik Jugoslawien. Wir haben immergesagt, wir führen keinen Krieg gegen das serbischeVolk oder gegen die Serben. Europa muß sich öffnen,auch für die Bundesrepublik Jugoslawien einschließlichSerbien. Für sie gelten dieselben Regeln wie für alle an-deren auch. Es gibt die Kopenhagener Kriterien. Es gibtdie Normen, die Prinzipien und die Standards. Wer sichan die Standards hält, wer bereit ist, sich auf den Weg zumachen, diese Standards zu erfüllen, der darf mit unse-rer Hilfe rechnen.
Wer es aber nicht tut, der darf doch nicht im Ernsterwarten, daß wir auch noch die Stabilisierung seinesDietmar Schlee
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Unrechtsregimes finanzieren! Das wäre nun wirklichetwas zuviel verlangt.
Bei dem, was hier zu tun ist, stehen drei Aspekte imVordergrund. Erste Priorität hat die Herstellung vonSicherheit im Lande. Hierzu muß ein Wort an dieAdresse der UCK gesagt werden. Die UCK hat in Ram-bouillet die Verpflichtung zur Demilitarisierung unter-schrieben. Diese Verpflichtung gilt. Die Demilitarisie-rung muß in dem Augenblick energisch beginnen, indem die internationale Friedenstruppe vollständig imKosovo präsent ist und ihre Aufgaben wahrnehmenkann. Es kann nicht sein, daß die UCK ihre künftigeRolle so versteht, daß sie eine militärische oder parami-litärische Ordnungsmacht im Kosovo wird. Dann wirdSicherheit für alle Menschen, die dort leben, nicht her-zustellen sein. „Sicherheit für alle“ bezieht ausdrücklichden serbischen Bevölkerungsteil im Kosovo mit ein.
Von der UCK muß erwartet werden – wir haben diesin einer Reihe von Gesprächen zum Ausdruck gebracht –,daß sie sich in eine politische Bewegung transformiert,die am demokratischen Aufbau im Kosovo mitwirkt. Dasist unsere Forderung an die UCK. Als eine paramilitäri-sche oder militärische Organisation kann sie bei der Be-wältigung der Aufgaben dort keine positive Rolle spielen.Zweiter zentraler Aspekt ist der Aufbau wirksamerStrukturen zur Lösung der unmittelbaren Aufgaben. Esgibt hier eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, dieüber große Erfahrungen verfügen und nicht vergessenhaben, was in Bosnien alles schiefgelaufen ist. Ich habeschon mit Nachdruck gesagt: Ich unterstütze das aus-drücklich.Die Vereinten Nationen sind mit der zivilen Imple-mentierung der Sicherheitsratsresolution selbst befaßt.Es hat dazu in dieser Woche in Genf bereits intensiveBeratungen gegeben. Das Schema dafür, wie die Ver-einten Nationen diese Aufgabe erfüllen wollen, liegt be-reits vor. Es ist ein gutes Schema. In diesem Schemawird die Europäische Union, wird die OSZE, werdeneinzelne große Organisationen ihre Aufgabe finden. Dieauf uns als Europäische Union zukommende Aufgabewird der Wiederaufbau sein. Dies ist der dritte Aspekt,der für uns im Vordergrund stehen wird.In der Tat ist es richtig, daß wir hier aus Bosnien Leh-ren ziehen müssen. Ich habe selber von diesem Pult ausso oft kritisiert, daß die Europäische Union in der Bos-nienfrage durch verkrustete, starre bürokratische Struk-turen notwendige Entscheidungen zu lange hinausgezö-gert hat. Das darf diesmal nicht so sein. Darum ist dieIdee einer Agentur der Kommission, die vor Ort ist unddort selber über die Mittel verfügt und über die Mittelauch entscheiden kann, eine Idee, die wir unterstützen.Was die deutsche Seite angeht, so habe ich gesternmit den Hilfsorganisationen, den Bundesressorts undden Ländern ein Koordinierungsgespräch geführt unddabei den Wunsch der Bundesregierung an die Hilfsor-ganisationen herangetragen, soweit sie es können undwollen – da kann kein Druck ausgeübt werden –, ihreMaßnahmen auf den Raum Prizren zu konzentrieren.Ich glaube, es spricht eine Menge dafür, daß wir indem Raum, wo die Bundeswehr die Sicherheitsfunk-tion übernimmt, auch die deutschen humanitären Maß-nahmen konzentrieren. Wir werden in Prizren selbersehr schnell wieder ein Zentrum für deutsche humani-täre Hilfe einrichten – das hat sich sehr bewährt – unddann auch, sobald wir die Strukturen kennen, die dieEuropäische Union und die Vereinten Nationen schaf-fen, die entsprechenden personellen Entscheidungentreffen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kol-leginnen und Kollegen, mittelfristig kommt es jetzt dar-auf an, daß wir eine weitere Lehre aus Bosnien nichtvergessen. In Bosnien ist es sehr wohl gelungen, dassichere Umfeld zu schaffen, in dem sich dann die zivil-gesellschaftlichen Prozesse hätten entwickeln sollen.Aber um diese zivilgesellschaftlichen Prozesse hat sichdie internationale Gemeinschaft zuwenig gekümmert.Ich drücke es sehr vorsichtig aus.Das darf jetzt weder in Bosnien noch in der gesamtenRegion geschehen. Es ist eine Aufgabe, auch für diepolitischen Parteien, die Stiftungen, die Gewerkschaften,die Kirchen, auch alle großen gesellschaftlichen Grup-pen bei uns, die vorhandenen demokratischen Potentialein diesem Raum anzusprechen, zu fördern und ihnenjede nur denkbare Hilfe zu leisten. Wir brauchen demo-kratische Kräfte in der Region selbst. Es kann auf Dauernicht möglich sein, Frieden, Sicherheit und Demokratiein einem Teil Europas durch Truppen aufrechtzuerhal-ten, die von auswärts kommen. Dies kann nur aus denGesellschaften selber kommen. Darum scheint mir dasdie wichtigste und zentralste Aufgabe zu sein.Es wird anhaltenden, stabilen Frieden in diesem TeilEuropas nur dann geben, wenn dort die Demokratiefest und stabil verankert ist. Das halte ich für die wich-tigste Aufgabe, die wir gemeinsam zu lösen haben: dieDemokratisierung des ganzen Raumes einschließlichSerbien.Es ist hier gefragt worden, was das im Zusammen-hang mit Milosevic und dem serbischen Volk bedeutet.Ich will Ihnen das gern sagen: Humanitäre Hilfe für lei-dende Menschen in Serbien ist etwas, worüber nicht dis-kutiert werden muß. Das versteht sich von selbst. Hu-manitäre Hilfe kann nicht von dem Regime abhängiggemacht werden, unter dem die Menschen leiden. Wie-deraufbauhilfe, die Einbeziehung in den Stabilitätspakt –das setzt jedoch politische Veränderungen in Serbienvoraus. Wir alle sollten unsere Möglichkeiten nutzen,den Menschen in Serbien zu verdeutlichen, daß sie unsals europäische Partner willkommen sind und daß esihre Verantwortung und ihre Aufgabe ist, die politischenVerhältnisse im eigenen Land zu ändern.Schönen Dank.
Staatsminister Günter Verheugen
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3742 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der
Diskussion zu den Flüchtlingen aus dem Kosovo fallen
ein paar Dinge auf, die es nicht sehr häufig in diesem
Haus gibt. Da ist zunächst die breite Übereinstimmung
in der Analyse der Situation bei der Opposition und der
Regierung, auch über die Konsequenzen, die wir als
Land daraus zu ziehen haben.
Herr Verheugen hat gerade gegenüber der PDS klarge-
stellt, daß Demokratie eine Grundvoraussetzung für den
Wiederaufbau Serbiens ist, und deshalb kann Ihr Ansatz,
Herr Kollege Gehrcke, daß Wiederaufbauhilfe auch dann
geleistet werden sollte, wenn sich dort noch keine demo-
kratischen Verhältnisse eingestellt haben, keine Zustim-
mung finden. Das muß schon klar sein: Wir können eine
Diktatur nicht unterstützen, indem wir Wiederaufbauhilfe
leisten. Da hat Herr Verheugen völlig recht: humanitäre
Hilfe – ja, aber Wiederaufbauhilfe – nein.
Ob wir als Teil Europas in der jetzigen Lage von uns
aus die Frage der Kriegsverbrecher anschneiden sollten,
muß ich mit einem Fragezeichen versehen. Denn wer
heute nach Bosnien-Herzegowina, nach Srpska schaut,
muß zugeben, daß das nicht geklappt hat: Dort sitzen
nach wie vor schwerbewaffnete Kriegsverbrecher. Of-
fensichtlich war der freie Westen nicht in der Lage, sie
nach Den Haag zu bringen. Dabei habe ich großes Ver-
ständnis dafür, daß die Verantwortlichen ihre eigenen
Leute nicht in Gefahr bringen wollen, um solche Ver-
brecher zu fassen. Ich erhebe da keinen Vorwurf; ich
stelle das nur fest.
Deshalb weiß ich nicht, ob in der jetzigen Situation
Rechtspflege aufoktroyiert werden kann. Ein Rechtsstaat
muß sich im Rahmen der demokratischen Entwicklung,
die Restjugoslawien demnächst hoffentlich nehmen
wird, aus eigener Kraft bilden.
Wir können – einverstanden – alle möglichen Hilfestel-
lungen geben. Aber ich fürchte, daß wir aufpassen müs-
sen mit Aussagen wie denen, die ich heute gehört habe:
„Wir müssen dieses Land aufbauen.“ Meine Damen und
Herren, überheben wir uns nicht! Wir sollten alle Hilfe-
stellungen leisten, aber letztlich muß dieses Land von
der dortigen Bevölkerung aufgebaut werden. Bei aller
gebotenen Hilfe dürfen wir nicht in unserer Bevölkerung
den Eindruck erwecken, wir müßten dort von uns aus
tätig werden. Wir können lediglich Hilfe zur Selbsthilfe
– bitte, in beliebig hohem Umfang – leisten.
Ich möchte noch das in Erinnerung rufen, was der
Kollege Schlee gesagt hat: Daß von uns eine EU-
Agentur gefordert wird, ist sicher richtig und konse-
quent. Das, was wir in den letzten Monaten aus Bosnien-
Herzegowina gehört haben, hat bewiesen, daß sich die
EU dort verzettelt hat, daß die Zuständigkeiten unge-
klärt, die bürokratischen Hemmnisse zu hoch waren.
Dies muß – das ist keine Frage – sich ändern. Nur, wir
müssen bei uns anfangen. Der Beauftragte der Bundes-
regierung darf eben nicht einem Ministerium zugeordnet
sein. Er muß Vollmachten gegenüber anderen Häusern
haben. Er muß ein Beauftragter in vollem Umfang sein
– wenn Sie so wollen: ein Bevollmächtiger – und nicht
nur der verlängerte Arm eines Hauses. Deswegen halte
ich den Vorschlag des Kollegen Schlee für so wichtig.
Wenn wir im eigenen Hause Ordnung geschaffen ha-
ben, gelingt es uns sicher auch, die EU dazu zu bewe-
gen, eine mit aller Vollmacht, mit Geld und mit Ent-
scheidungsrechten vor Ort ausgestattete Agentur zu
schaffen, um die Dinge in den Griff zu bekommen.
Ich will noch einen Satz zur Rückführung sagen. Ich
will keine Debatte darüber anstoßen, ob eine Rückfüh-
rung jetzt notwendig ist. Keine Frage: Die Menschen
gehen, wenn sie es für notwendig halten. Aber wir müs-
sen der Erfahrung Rechnung tragen, die wir in Bosnien
gewonnen haben: Wenn ganz freigestellt wird, wer
wann zurückkehrt, dann wird ein erheblicher Teil hier-
bleiben. Denn es ist natürlich keine so besonders schöne
Perspektive, in ein zerstörtes Land zurückzukehren. Die
Verhältnisse bei uns sind doch bei weitem besser. Des-
wegen, fürchte ich, werden wir irgendwann gelinden
Druck gegenüber denjenigen ausüben müssen, die bei
uns Zuflucht gefunden haben. Wir werden nicht überse-
hen können: Immerhin haben wir nicht nur die 15 000
Kontingentflüchtlinge, sondern einen Bestand von mehr
als 300 000 Kosovo-Albanern aus den vergangenen
Bürgerkriegen. Sie alle müssen irgendwann zurückge-
führt werden. Heute aber ist nicht die Stunde, darüber zu
diskutieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe an dervon Herrn Dr. Schwarz-Schilling schon angesprochenenReise in den Kosovo bzw. nach Albanien und Mazedo-nien vor zwei Wochen teilgenommen. Diese Reise hatzu einem historischen Moment stattgefunden, denn eswar genau das Wochenende, an dem die Friedensver-handlungen stattgefunden haben.Wir haben feststellen können, daß es eine überwälti-gende Hilfsbereitschaft unserer Mitbürger gegeben hat.Wir haben auch feststellen können, daß diese Hilfsbereit-schaft bei den Menschen, die vor Not und Vertreibung ge-flohen sind, gut angekommen ist. Diese Hilfsbereitschafthat geholfen, nicht nur das Elend der Flüchtlinge zu min-dern, sondern auch die Situation in den aufnehmendenLändern zu verbessern. Ich danke infolgedessen allen, diedazu beigetragen haben, daß sich die Situation dort soentwickelt hat. Ich danke insbesondere den vielen NGOs,die in dem Bereich tätig sind, und der Bundeswehr, diegeholfen hat, die großen Lager aufzubauen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3743
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Denn es sind für uns unvorstellbare Mengen vonFlüchtlingen, die unterwegs sind und die in die Armen-häuser Europas geströmt sind. Deswegen möchte ichIhnen, Herr Irmer, doch widersprechen, wenn Sie sagen,wir müßten schauen, daß wir von dem Aufbaukuchenmöglichst ein Stück abschneiden. Wichtig ist meinerAnsicht nach, daß die Wirtschaft Albaniens und Maze-doniens, die durch den Krieg so stark beschädigt wordenist, möglichst schnell wieder auf die Füße kommt. Dazusollte meiner Ansicht nach auch der Wiederaufbau sei-nen Teil leisten.Beim Besuch eines solchen Lagers wird einem klar,daß diese Hunderttausende von Flüchtlingen im Endef-fekt lauter Einzelschicksale sind. Jede Frau hat um ihrLeben und das ihrer Kinder gefürchtet. Jedes Kind hatSchreckliches gesehen, und diese schrecklichen Dingehaben sich im Gehirn der Kinder eingebrannt wie aufeiner fotografischen Platte. Deswegen ist es, HerrZeitlmann, wichtig, daß wir gegen die Verbrecher, diedas herbeigeführt haben, entsprechende Konsequenzendurchsetzen. Das kann nicht irgendwann sein, sonderndas muß möglichst schnell passieren, damit nicht derEindruck entsteht, daß Verbrechen hingenommen wer-den.
In dem Lager in der Innenstadt von Tirana haben wirmit einem alten Ehepaar gesprochen, das sieben Kinderhatte. Es hat durch die Umstände der Flucht nicht erfah-ren können, wo seine Kinder hingekommen sind. ZumTeil sind sie im Kosovo geblieben, zum Teil sind siewohl auf die einzelnen Lager und die einzelnen Länderverteilt. Wir müssen schauen, daß wir die Familienmöglichst schnell wieder zusammenführen, denn auchdas ist für den Wiederaufbau im Kosovo dringend not-wendig.All die Menschen, die wir in den Lagern gesprochenhaben, wollen möglichst schnell zurück in ihre Heimat,denn die Unterbringung in den Zeltstädten, zumal wennes dort 35 Grad im Schatten sind, ist völlig indiskutabel,und der Winter kommt bald. Deshalb muß die Rückfüh-rung schnell gehen. Dabei müssen wir auf der einenSeite versuchen, Sicherheit herzustellen, und auf der an-deren Seite helfen, die Gefahr der Minen möglichstschnell zu beseitigen. Das ist dringend notwendig fürden Aufbau in diesem Land.Es müssen aber auch noch andere Voraussetzungenfür die Rückführung geschaffen werden. Die Hilfspaketesind zum Beispiel angesprochen worden. All das kannman diskutieren. Ich glaube aber, wir sollten etwas nichtvergessen, nämlich daß neben diesen materiellen Hilfenauch die Hilfe für die Seele der Menschen, die dort le-ben, geleistet werden muß, damit diese in ein ganz nor-males Leben zurückkehren können, soweit das möglichist.Dazu ist ein ganzheitlicher Ansatz der Hilfe erforder-lich. Wir haben zum Beispiel in einem italienischen La-ger, das wir gesehen haben, positiv bemerkt, daß mannicht zwischen dem technischen Bereich und dem fürdie Seele getrennt, sondern alles zusammengeführt hat.Frauen müssen wie in Bosnien in die Lage versetzt wer-den, nach dem Tod ihrer Männer und Söhne selbständigfür die Familie zu sorgen und nicht auf einen anderenMann angewiesen zu sein. Ich halte das für ganz wichtigund freue mich, daß das BMI und das BMZ in dieserHinsicht schon tätig geworden sind.Es muß dringend zur Erarbeitung von regionalenKonfliktlösungen kommen, die von den Betroffenen ak-zeptiert werden. Das ist wichtig, wenn wir nicht sehen-den Auges in die nächste Katastrophe rennen wollen.Denn solange die Großmutter den Enkeln den Haß wei-tergibt, wird das Thema immer und immer wieder kom-men.Wir sind dabei alle gefordert. Das Schweigen derWaffen ist noch lange nicht der Frieden und das Endevon Not und Krieg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht jetzt der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch ichfreue mich, daß wir eine sehr konstruktive Debatte ge-führt haben, die weitgehende Übereinstimmung gezeigthat. Ich glaube, wir alle zusammen sind sehr glücklich,daß die Waffen schweigen und daß nun mit dem Aufbaubegonnen werden kann. Ich erlaube mir, in dem Zu-sammenhang auch daran zu erinnern, daß die Vorausset-zungen dafür, daß die Menschen jetzt in ihre Heimat zu-rückkehren können, auch dadurch positiv beeinflußtworden sind, daß wir in der Europäischen Union und inder internationalen Staatengemeinschaft durch die Zu-sammenarbeit mit dem UNO-Flüchtlingskommissar dieGrundlage dafür geschaffen haben, indem wir nämlichdas Prinzip befolgt haben, das lautet: Die Hilfe für dieVertriebenen hat in erster Linie in den Nachbarregionenstattzufinden; es darf keine weitgehende Evakuierunggeben. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich fürdiese Zusammenarbeit bedanken.Die Evakuierungsmaßnahmen, die es gegeben hat,betrafen nur Mazedonien und wurden getroffen, um eineDestabilisierung dieser Region zu vermeiden. Ichmöchte mich dafür bedanken, daß wir auch bei der Eva-kuierung aus diesem Nachbarland des Kosovo gut ko-operiert haben.Herr Schlee hat daran erinnert, daß wir, was den vor-übergehenden Schutz für Flüchtlinge anbelangt, doch imeuropäischen Rahmen zusammenarbeiten sollten unddaß hier eine stärkere Koordinierung und auch eine bes-sere Lastenverteilung notwendig seien. Herr KollegeSchlee, ich weiß, daß hier bei einigen Dingen sicherlichnoch ein Ungleichgewicht herrscht. Aber ich möchtedoch die Situation, die wir damals im Falle Bosnienshatten, mit der vergleichen, die wir jetzt haben. Ich kannfeststellen, daß sich die Situation deutlich verbessert hat.Angelika Graf
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3744 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Das ist sicherlich ein Ergebnis auch des Drucks und derBemühungen der deutschen Ratspräsidentschaft in denzurückliegenden Monaten.
Wenn ich die Zahlen vergleiche, muß ich feststellen:Wir sind sicherlich immer noch an der Spitze. Wir sindmit gutem Beispiel vorangegangen, und wir haben dasLob des UNO-Flüchtlingskommissars für mustergültigePolitik auf diesem Gebiet erhalten. Es ist immerhin ge-lungen, daß jetzt insgesamt etwas über 57 000 Vertrie-bene auch in den Mitgliedstaaten der Europäischen Uni-on Aufnahme gefunden haben. Ich finde, wir sollten dasauch gegenüber unseren Freunden in den Mitgliedstaa-ten anerkennen und ihnen Dank sagen.
Da wir nun so vielen danken, möchte ich mich auchbei meinen Länderministerkollegen – ich sage das, weilheute auch ein Kollege aus den Ländern zugegen ist –ausdrücklich bedanken, die ja in sehr konstruktiver Wei-se an diesen Maßnahmen mitgewirkt haben.Was die Zukunft angeht, so möchte ich sagen, daß ichdie Auffassung aller teile, die gesagt haben: Bevor mannun auf eine schnelle Rückkehr drängt, muß man sichzunächst einen Überblick darüber verschaffen, wie denndie Lage im Kosovo aussieht. Wir müssen bei der Rück-führung eine Reihenfolge einhalten, von der ich glaube,daß es notwendig ist, sie einzuhalten: Die Flüchtlinge,die jetzt in Mazedonien und in Albanien in Zelten leben,die also dort im Winter nicht bleiben können, müssen inerster Linie zurückkehren können. Da, wo das nichtmöglich ist, müssen wir uns darum kümmern, daß win-terfeste Quartiere hergerichtet werden. In Mazedonienbetrifft das etwa 103 000 Menschen, die dort in Zeltenleben. In Albanien sind 50 000 in Zeltlagern und140 000 in nur notdürftig hergerichteten öffentlichenGebäuden.Die Bundesregierung geht selbstverständlich davonaus, daß, wie im Fall von Bosnien-Herzegowina, dieMehrzahl der aus dem Kosovo Vertriebenen freiwillig inihre Heimat zurückkehren wird. Das heißt aber nicht– das sage ich zum Kollegen Zeitlmann –, daß wir dasdem freien Belieben überlassen. Es ist selbstverständ-lich: Bürgerkriegsflüchtlinge haben bei uns ein Aufent-haltsrecht auf Zeit, und wenn man die Bereitschaft derBevölkerung aufrechterhalten will, Bürgerkriegsflücht-linge in Deutschland aufzunehmen, dann muß es bei die-sem Grundsatz bleiben.Ich gebe Herrn Zeitlmann selbstverständlich auchrecht, wenn er sagt, daß auch diejenigen, die in frühererZeit, noch unter der alten Bundesregierung – das sind inder Tat beträchtliche Zahlen; ich habe die genauen Zah-len bisher noch nicht auf dem Tisch, aber manche spre-chen von 180 000 ausreisepflichtigen Personen; das istin etwa die Zahl, die ich kenne, es können aber auchmehr sein –, in die Bundesrepublik gekommen sind, inihre Heimat zurückkehren müssen.Für die Rückkehr der Vertriebenen ist der Wieder-aufbau im Kosovo wichtig. Das haben schon viele ge-sagt. Um ein koordiniertes und effektives Vorgehen si-cherzustellen, erarbeitet die Bundesregierung derzeit einGesamtkonzept für den deutschen Beitrag zum Wieder-aufbau im Kosovo und zur Schaffung der Voraussetzun-gen für die Flüchtlingsrückkehr. Sie geht dabei von ver-schiedenen Zeitphasen aus, die zu berücksichtigen seinwerden.Aus deutscher Sicht ist auch die Einsetzung einesdem Beauftragten der Bundesregierung für die Flücht-lingsrückkehr und den rückkehrbegleitenden Wieder-aufbau in Bosnien-Herzegowina entsprechenden Beauf-tragten überlegenswert. Das werden wir sicherlich imEinvernehmen mit den Ländern prüfen. Auch von Län-derseite ist das ins Auge gefaßt worden.Im übrigen, Herr Kollege Schlee, kann ich nur sagen:Der Kollege Koschnick arbeitet genauso, wie Sie eswährend Ihres Mandats getan haben, sehr gut mit denLändern zusammen. Ich glaube, hier ist keine Mahnungerforderlich.Nach dem Konzept wird sich auch das Bundesinnen-ministerium mit seinen angegliederten Institutionenstark engagieren. Das Engagement des Bundesinnenmi-nisteriums wird sich insbesondere auf den Wiederaufbauzerstörter Wohnungen sowie der zerstörten Infrastrukturdurch das Technische Hilfswerk konzentrieren. Wichtigsind Bauhofprojekte. Das Technische Hilfswerk hat da-zu schon Planungen vorgenommen. So etwas haben wirauch schon in Bosnien-Herzegowina praktiziert. In sol-chen Bauhöfen wird der Bevölkerung nach dem Prinzipder Hilfe zur Selbsthilfe Baumaterial zur Verfügung ge-stellt.Für den Wiederaufbau ist auch wichtig, die notwen-dige Sicherheit für die Menschen im Kosovo zu ge-währleisten. Das kann nicht allein dem Militär überlas-sen bleiben, sondern für eine solche Sicherheitsstrukturbrauchen wir auch Polizeibeamte. Das Bundesinnenmi-nisterium wird sich im Einvernehmen mit den Ländernan einer internationalen Polizei im Auftrag der UN imKosovo beteiligen. Bereits in den nächsten Tagen wirddas Bundesinnenministerium einen Beamten des Bun-desgrenzschutzes entsenden, der gemeinsam mit denMitarbeitern des Auswärtigen Amtes und des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung beim Aufbau ziviler Strukturen helfen soll.Wir werden mit Vorsicht und Bedachtsamkeit zuWerke gehen. Ich will aber bereits jetzt meinen Dankund meine Anerkennung denjenigen aussprechen, diesich an der sehr schwierigen und gefahrvollen Arbeit,auch im zivilen Sektor, im Kosovo beteiligen werden.Das gilt sowohl für die BGS-Beamten als auch für diePolizeibeamten der Länder und ebenso für die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks.Vielen Dank.
Bundesminister Otto Schily
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3745
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Eckhardt Barthel, SPD.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Auch wenn wir uns unter in-nenpolitischen Gesichtspunkten dem heutigen Themanähern, merken wir trotzdem sehr schnell, daß sich dieBilder von den Flüchtlingen im Kosovo in unseren Köp-fen sehr stark eingeprägt haben. Es waren Bilder vonFrauen und Kindern, Alten und Kranken. Diese Bilderhaben gezeigt, wie die Situation in Serbien und im Ko-sovo während des Krieges war; wie sie auch vor derBombardierung war, eine Tatsache, die meines Erach-tens zu häufig übersehen wird. Ich glaube, daß dieseBilder jeden einzelnen von uns gezwungen haben, sichfür oder gegen militärisches Eingreifen zu entscheiden.Es ist richtig, daß man bei der Entscheidung für odergegen den Militäreinsatz nicht fragen kann, wer schuldigist. Aber wenn wir uns fragen – das ist für mich dierichtige Frage –, bei welcher Entscheidung wir mehr, beiwelcher weniger schuldig geworden wären, dann rücktnatürlich sofort die Frage nach der Hilfe für Flüchtlingein den Mittelpunkt der Diskussion. Wenn ich diese Fra-ge unter innenpolitischen Gesichtspunkten beantworte,dann muß ich auf die große Spendenbereitschaft der Be-völkerung verweisen, die für mich an erster Stelle steht.Wenn man schon vielen dankt – das ist auch richtig –,dann sollte die Bevölkerung, die soviel gespendet hat,bei unserer Danksagung an erster Stelle stehen.
Dies ist auch schon deshalb nötig, weil wir heute vonmehreren Rednern gehört haben, wie notwendig auch inZukunft Spenden sind. Vielleicht hilft unser Dank, dieseSpendenbereitschaft aufrechtzuerhalten. Deswegen dan-ke ich noch einmal allen, die gespendet haben.Es gibt aber nicht nur Positives zu berichten. Im Ge-gensatz zu der Spendenbereitschaft hat mich am Anfangder Diskussion das Gezerre um die Frage gestört, wel-ches europäische Land wie viele Flüchtlinge aufnimmt.Herr Schily hat recht: Es ist besser geworden, wenn mandie Situation mit Bosnien oder mit dem Anfang des Ko-sovo-Konfliktes vergleicht. Aber am Anfang war esschlimm. Die Medien waren voller Zahlen darüber, wel-ches Land wie viele Flüchtlinge aufnimmt. Es wurdediskutiert, daß wir zu viele Flüchtlinge aufnehmen, wäh-rend andere Länder zu wenige aufnehmen. Diese Dis-kussion wurde den Verhältnissen im Kosovo, wo esFlucht und Vertreibung gab, nicht gerecht.Es zeigt sich weiterhin die Notwendigkeit koordi-nierten Handelns der EU-Staaten, auch wenn es inzwi-schen Verbesserungen gibt. Das heißt für mich, daß esschlicht und einfach um mehr europäische Solidaritätmit Flüchtlingen geht.
Die Bundesregierung ist viel gelobt worden, wie ichfinde, zu Recht. Das Lob, über das ich mich am meistengefreut habe, war das, das von den Flüchtlingen selbstkam, weil sie am besten unsere Leistung beurteilen kön-nen. Das Lob kam sowohl von Flüchtlingen in Mazedo-nien und Albanien als auch in Deutschland.Ich möchte einen Punkt hervorheben, um einen Ver-gleich zum Bosnien-Konflikt zu ziehen. Ich war sehrfroh, daß die Bundesregierung die Fehler, die währendder Aufnahme der Bosnien-Flüchtlinge passiert sind,nicht wiederholt hat. Ich bin sehr froh, daß sie die Bun-desländer bei der Finanzierung der Aufnahme derFlüchtlinge nicht alleine gelassen hat. Das war damalsein ganz großes Problem. Ich freue mich besonders dar-über, daß wir endlich die gesetzliche Regelung ange-wandt haben, die eigentlich für die jetzt zu uns kom-mende Gruppe von Flüchtlingen geschaffen worden ist,nämlich den berühmten § 32 a des Ausländergesetzes.Dieser Paragraph ist für Bürgerkriegsflüchtlinge ge-schaffen worden. Nun haben wir ihn endlich angewandt.Das war insofern wichtig, als durch ihn die „Lasten“ vielbesser auf die einzelnen Länder verteilt werden konnten.Welches Bundesland wie viele Flüchtlinge aufnimmt, istnicht nur eine materielle Frage, sondern auch eine Frageder in den einzelnen Ländern existierenden Aufnahme-bereitschaft der Bevölkerung.Ich werde mir allerdings nichts in die Tasche lügen:Eine große Spendenbereitschaft ist nicht mit einer gro-ßen Aufnahmebereitschaft gleichzusetzen. Das ist wohlwahr. Hier gibt es einen großen Unterschied, der besei-tigt werden muß.Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland esnicht schaffen, die Flüchtlinge auf die einzelnen Bun-desländer gerecht zu verteilen – diesmal ging es ja gut;ich hoffe, es bleibt dabei –, dann verpuffen auch unsereAppelle an die europäischen Staaten, sich solidarisch zuverhalten. Wir müssen schon im eigenen Land deutlichmachen, daß wir zur Aufnahme bereit sind, damit sichalle Länder in gleicher Weise daran beteiligen, waswichtig ist unter dem Gesichtspunkt der Kosten.Ein Punkt, der mir auch in dieser Diskussion negativaufgestoßen ist: Wir haben in der BundesrepublikDeutschland schon von der Rückkehr von Flüchtlingenin den Kosovo schwadroniert, als die Waffen noch nichtgeschwiegen haben. Da gab es bereits die ersten Diskus-sionen. Das fand ich ausgesprochen peinlich. Ich freuemich, daß jetzt die Diskussion über die Rückkehr vonFlüchtlingen in den Kosovo in sehr sachliche Bahnengelenkt worden ist. Dies sollte man unterstützen.Eines ist klar – jeder, der in der Flüchtlingspolitik tä-tig ist, weiß das –: Der Status eines Bürgerkriegsflücht-lings ist ein Status auf Zeit. Die Frage ist – das ist poli-tisch zu entscheiden –: Zu welchem Zeitpunkt könnendie Flüchtlinge zurück? Dafür gibt es nur ein Kriterium:Das ist die Situation im Herkunftsland. Sie ist heutemehrfach beschrieben worden, so daß man hier zur Zeitnichts tun kann.Wir sollten deutlich sagen: Die Diskussion über dieFrage der erzwungenen Rückkehr von Bürgerkriegs-flüchtlingen steht frühestens im Frühjahr nächsten Jah-res auf der Tagesordnung. Wir sollten uns in der Zu-kunft bei allen großen Problemen, die wir zu lösen ha-ben, nicht darauf konzentrieren, über Rückkehrtermine
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3746 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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zu reden, sondern darauf, über den Wiederaufbau in derRegion zu sprechen. Dies ist nicht nur ein Kriterium fürdie Rückkehr, sondern auch eine Frage für den Friedenin der Region und damit in Europa.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Barthel, auch für Sie war diese Rede die erste hier im
Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen dazu.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
630-DM-Gesetz und Neuregelung der Schein-
selbständigkeit zurücknehmen
– Drucksache 14/1005 –
Überweisungsvorschlag:
Kommen wir wieder auf das 630-DM-Gesetz undScheinselbständigkeit zurück. Mit diesen Gesetzen ha-ben Sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was Sieangekündigt haben. Hunderttausende von Arbeitsplätzenwerden vernichtet, Zehntausende von Existenzen zer-stört.
Mit diesen Gesetzen wird eben nicht gezielt der Wild-wuchs, den es unbestritten gibt, beschnitten, sondern eswird über die ganze Gesellschaft hinweg gemäht.
Schauen Sie sich an, wen Sie treffen: Rentner undZeitungsausträger, Sporttrainer und Chorleiter, alleiner-ziehende Mütter, private Haushalte und junge Ingenieu-re. Millionen kleiner Leute müssen sich als Opfer füh-len. Das ist Politik paradox: Die Schaffung von Arbeits-plätzen und Jobs schlägt in ein Förderprogramm fürSchwarzarbeit um. Davon weiß am allermeisten derHerr Momper ein Lied zu singen.
Die Sozialkassen bleiben leer, und es wird weitergemompert. Diese Gesetze sind gerade für die kleinenLeute eine Ohrfeige, für die Sie sich hier einsetzenwollten.
Getroffen wird aber auch die von Herrn Schröder um-worbene neue Mitte: die Gruppe der Flexiblen, derMutigen, der Risikobereiten.Zusammen mit Tony Blair fordert Herr Schröder nuneine neue Kultur der Selbständigkeit. Gleichzeitig zer-tritt er wie kein anderer in diesem Land mit seinen Ge-setzen unternehmerische Eigeninitiative. Unternehme-rische Eigeninitiative und Mut zur Selbständigkeit wer-den zerstört. Die Vorschläge von Blair und Schröderentpuppen sich als der größte Bluff aller Zeiten.
Wenn Sie das nach Manier von Schröder und Blair fürModernität halten, dann muß ich sagen: Es kommen aufdie Menschen in diesem Lande schlimme Zeiten zu.Dieser Kanzler hat sich zum fahrenden Raubrittergewandelt, der auf seinen Fahrten durch Europa die neueMitte sucht, die ihm in der Politik leider abhanden ge-kommen ist. Mit oder ohne Blair, die neue Mitte glaubtihm nicht mehr. Ich sage Ihnen eines: Sie hat recht.Eckhardt Barthel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3747
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Ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Die Unionwird sich der Verantwortung als konstruktive Opposi-tion nicht entziehen und bietet hier noch einmal dieMitwirkung bei der Ausarbeitung zukunftsweisenderund tragfähiger Reformen im Sozialbereich an. Aberbei der Nachbesserung von Murks machen wir nicht mit.Die von Ihnen hier diskutierten Nachbesserungsvor-schläge zur Scheinselbständigkeit – ich freue mich, daßich auch Sie sehe, Herr Mosdorf; Sie haben gerade ge-stern verkündet, daß das 630-Mark-Gesetz nachgebes-sert werde – führen nur zu neuem Murks.Deswegen fordere ich Sie auf, zuzugreifen, bevor eszu spät ist. Stimmen Sie heute unserem Antrag zu, dieseGesetze zurückzunehmen und in Ruhe über ein neuesGesetz nachzudenken, das auch alle anderen sozialenSicherungssysteme berücksichtigt! Denn wir brauchenin diesen Bereichen tragfähige Konzepte und nicht das,was Sie hier machen, Herr Riester, nämlich einenRundumschlag, der unsere Sozialsysteme zerstört undkaputtmacht. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unseremAntrag zu!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Leyla Onur.
Sehr verehrte Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau KolleginSchnieber-Jastram, wenn dieser Antrag ein Beispiel fürkraftvolle, konstruktive Oppositionsarbeit ist, dann kannich Ihnen nur mein tiefempfundenes Mitleid aussprechen.
In meinen politischen Sturm- und Drangjahren – das istfast 30 Jahre her – hätte ich vielleicht auch einen sol-chen Antrag geschrieben. Damals war ich auch der Auf-fassung, erst einmal weg mit dem Alten, und mußtenicht dazusagen, wofür ich bin. Aber so etwas habe ichselbst Ihnen nicht zugetraut. Ich habe Ihnen mehr Sub-stanz und mehr Verantwortungsbewußtsein zugetraut.
Das, was Sie mit Ihrem Antrag machen, ist ganz ein-fach: Sie stellen falsche und unhaltbare Behauptungenauf, kommen dann zu dem Schluß, diese Gesetze müß-ten zurückgenommen werden, und schlagen vor, einenDialog einzuleiten, der sich wahrscheinlich bis 2050hinziehen würde. Wir sollen also genau das tun, was Siein den letzten 16 Jahren getan haben: Obwohl Sie dasProblem und die Mißstände erkannt hatten – alles warIhnen bekannt –, haben Sie nichts zustande gebracht.Jetzt schlagen Sie uns vor, genauso untätig zu sein. Mituns ist das nicht zu machen. Wir haben gehandelt, undwir bleiben bei unserem Gesetz. Punktum, Schluß.
Mit diesem Antrag setzen Sie sich an die Spitze derBewegung derjenigen, die mit ihrer infamen KampagneBetroffene und Nichtbetroffene verunsichern.
Sie machen sich zu der Wortführerin derjenigen, dieeine Ausnahmeregelung, für die wir ja alle sind, syste-matisch zu Lasten der ehrlichen Beitragszahler ausge-nutzt haben. Sie machen sich zur Wortführerin derjeni-gen, die Teil- und Vollzeitarbeitsplätze gezielt zerstük-kelt haben
und darüber hinaus den Mißbrauch in einer wirklich un-vorstellbaren Weise und ohne Skrupel betrieben haben.Wir haben ja gar nicht gewußt, in welcher Form und inwelchem Umfang Mißbrauch betrieben worden ist.
Das kommt jetzt heraus.Vielleicht hilft Ihnen ein Beispiel weiter, das zeigt,daß die Menschen überhaupt keine Hemmungen mehrhaben, den Mißbrauch zuzugeben. Ich lese von einembayerischen Bestattungsunternehmer – der sich natürlichbitterlich beklagt –, daß er ohne irgendwelches Un-rechtsbewußtsein zugibt, daß der Telefondienst in sei-nem Unternehmen von Ehefrauen der Mitarbeiter über-nommen wurde, die – jetzt hören Sie genau zu –mit mehreren 630-Mark-Tätigkeiten das Familienauf-kommen aufgebessert haben. Das war, ist und bleibtBetrug.
Dieser Herr scheut sich nicht, diesen Betrug auch nochöffentlich zuzugeben.
Dieser Herr hat nicht einmal mehr eine Hemmung ver-spürt, in einer Zeitung öffentlich zuzugeben, daß er dieSozialversicherungssysteme dieses Staats betrogen hat.Soweit sind wir dank Ihrer Untätigkeit nämlich gekom-men.
Ich spreche jetzt nicht davon, daß mehrere Lohn-steuerkarten im Umlauf waren und daß Mehrarbeitschwarz bezahlt worden ist, natürlich aus der schwarzenKasse.
Der Mißbrauch stinkt zum Himmel. Es ist unerträg-lich. Sie haben nichts getan, obwohl Sie wußten, daßgehandelt werden muß.Wir haben, wie wir es im Wahlprogramm angekün-digt haben, mit unserem Gesetz sofort dafür gesorgt, daßBirgit Schnieber-Jastram
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3748 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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der Mißbrauch gestoppt wird, daß Wettbewerbsverzer-rung
– auf Schwarzarbeit komme ich gleich zu sprechen –und die Flucht aus der Sozialversicherung gestoppt wer-den.Bei dieser Gelegenheit will ich einmal sagen: Wir ha-ben der Schwarzarbeit nie das Wort geredet. Sie for-dern die Menschen geradezu zur Schwarzarbeit auf. Sieerklären die Schwarzarbeit zu einer völlig normalenHandlung.
Wo sind wir eigentlich? Warum fordern Sie dennnicht die Konsumenten auf, die Brötchen zu klauen,wenn sie beim Bäcker teurer werden? Das ist doch ge-nau dasselbe.Ich will gar nicht darüber sprechen, was Sie noch al-les in Ihrem fundamentalen Antrag aufgeschrieben ha-ben. Eines steht fest – Sie wissen es, und wir wissen es –:Ihre Behauptung, durch unser Gesetz würden Arbeits-plätze vernichtet, ist falsch.
Sie wissen es und wir wissen es, daß Arbeit weiterhingeleistet werden muß und geleistet wird. Allerdings mußArbeit umorganisiert werden.
Darauf stellen sich auch die Unternehmer längst ein.Einige sind schneller, und andere bestraft das Zuspät-kommen. Das ist völlig klar. Es gibt namhafte Bei-spiele für bekannte Unternehmer, die sich rechtzeitigdarauf vorbereitet haben. Andere handeln jetzt. EinBeispiel ist die Real-Gruppe. Die Real-Gruppe hat alleUntergliederungen angewiesen, ab sofort keine gering-fügigen Beschäftigungsverhältnisse mehr einzugehen,weil es sich nicht mehr rechne und auch viel zu riskantsei, da man unter Umständen bei einer Prüfung er-wischt werde. Genau das wollten wir: Wir wolltendurch Kontrolle sicherstellen, daß für alle Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer Sozialversicherungsbei-träge gezahlt werden.
In dem Moment, wo die Kassen für diese Beschäfti-gungsverhältnisse Geld bekommen, werden sie sich ge-nauer und besser um die Kontrolle kümmern. Das weißdie Kaufhausgruppe Realkauf, das wissen andere. Des-wegen haben wir – dafür gibt es zahlreiche Beispiele –schon jetzt die Beweise dafür, daß wir unser Ziel errei-chen: Aus geringfügigen Beschäftigungsverhältnissenwerden versicherungspflichtige Teilzeit- und Vollzeitar-beitsplätze. Genau das wollten wir, und genau das errei-chen wir.
– Seien Sie einmal ganz friedlich, Frau Schnieber-Jastram.Zu Ihrem zweiten Spiegelstrich. Daß Sie sich nichtschämen, die Behauptung in die Welt zu setzen, derVerwaltungsaufwand sei gar nicht mehr zu bewerkstel-ligen – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Onur,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Von wem denn?
– Herr Kollege, bitte schön, Sie dürfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dafür ist Ihnen der
Kollege dankbar.
Sie geben mir die Gelegenheit,
meine Redezeit beliebig zu verlängern. Dafür bin ich
dankbar.
Ich bezweifle, ob
das eine Freude für Sie ist.
Na, das wollen wir einmal sehen.
Ich habe eine Frage,
Frau Kollegin – Argumente überzeugen Sie ja nicht
sehr –: Ist Ihnen bekannt, daß 630-DM-Angestellte frü-
her schon, also unter der alten Gesetzgebung, angemel-
det werden mußten, oder ist Ihnen das nicht bekannt?
Alles, was Sie hier von Betrug usw. und so fort vortra-
gen, bezieht sich doch auf solche Fälle, in denen Leute
an Gesetzen vorbei etwas machen.
– Aber ich bitte Sie, durch ein Gesetz können Sie doch
den Mißbrauch nicht verhindern, sondern durch ein Ge-
setz können Sie gesetzmäßiges Handeln vorschreiben.
Es war bereits vorgeschrieben, daß diese Jobs angemel-
det werden müssen. Ist Ihnen das überhaupt bekannt?
Wenn es Ihnen bekannt wäre, dann könnten Sie diese
Rede hier nicht halten.
Sehr verehrter Kollege, selbst-verständlich ist uns das immer bekannt gewesen, offen-sichtlich aber nicht denjenigen, die diesen Antrag ge-schrieben haben. – Bleiben Sie ruhig stehen, ich brauchelänger für die Antwort. – Sie haben nämlich aufge-schrieben, daß jetzt ein unerhörter zusätzlicher Verwal-tungsaufwand entstehe.
Leyla Onur
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3749
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Ich sage Ihnen, das ist falsch, und zwar genau mit derBegründung, die Sie mir eben schon in den Mund gelegthaben.Es gab vorher schon Regeln. Es war selbstverständ-lich so, daß ein Unternehmer auch den geringfügig Be-schäftigten bei der Krankenkasse anmelden mußte, sicheinen Sozialversicherungsausweis vorlegen lassenmußte, die Lohnunterlagen führen und aufbewahrenmußte, für diesen geringfügig Beschäftigten beimFinanzamt pauschal Steuern entrichten oder wenigstensin der Lohnsteuerkarte das entsprechende Einkommenvermerken mußte und auch die Unfallversicherungsbei-träge entrichten mußte. Nur, Herr Kollege, was Sieoffensichtlich nicht wissen: Viele, insbesondere diejeni-gen, die jetzt am lautesten schreien, haben Schlupflöchergesucht und gefunden, um dies zu umgehen. Nachweis-lich sind diese Regeln, weil die Kontrolle nicht ausrei-chend funktioniert hat, unterlaufen worden.
– Moment, ich bin noch nicht fertig, Herr Kollege. Siehaben mir eine Frage gestellt und müssen auch bis zumEnde der Antwort zuhören.Es hat sich etwas bei den Privathaushalten geändert.Das war früher etwas einfacher. Wenn Sie hier vonSchwierigkeiten sprechen, dann sage ich Ihnen aberauch einmal ganz freundlich: Es gibt im Ausschuß beiuns eine Kollegin, die immer behauptet, Hausfrauen sei-en zu dumm, ein Formular auszufüllen.
Das werde ich mit Ekel und Abscheu jederzeit von mirweisen.
– Ich habe keine Namen genannt, Herr Niebel.Es ist völlig klar, daß in Zukunft auch für Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter in privaten Haushalten ein Arbeits-vertrag geschlossen werden muß und die Anmeldung, sowie bisher bei der Pauschalbesteuerung, in der gesetzli-chen Unfallversicherung und natürlich auch bei der Kran-kenkasse erfolgen muß. Bauen Sie doch hier nicht soeinen Popanz auf! Dieses Verfahren ist so einfach, daß esjeder ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen kann.
Ich zeige Ihnen einmal – Sie wissen ja immer nicht, wiedie Realität aussieht –
ein solches Formular. Schauen Sie sich das einmal an.So einfach sieht ein Arbeitsvertrag aus. Da müssen Sieeinige wenige Zeilen ausfüllen. Das schaffen Sie auch,Herr Strobl. Die Anmeldung zur Sozialversicherung istauch nicht viel schwieriger. Auch das ist weder Auf-wand noch besonders schwierig, sondern dies kann ge-leistet werden.
Damit, meine Damen und Herren, erreichen wir end-lich, daß alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer denihnen im Gesetz längst zugesicherten Arbeitnehmer-schutz auch bekommen. Das gab es schon längst; daswissen wir. Aber wer hat denn diesen Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern den ihnen zustehenden Urlaubgewährt, das Weihnachtsgeld gezahlt, im Falle vonKrankheit Lohnfortzahlung geleistet? Es ist doch allesunterlaufen worden. Das steht jetzt expressis verbis inden Verträgen, das muß eingehalten werden, kann jeder-zeit nachgeprüft werden. Auch die Sozialkassen habenein Interesse daran, sozusagen den Sündern, den Miß-brauchstätern auf die Spur zu kommen.
Damit erreichen wir, daß die Flucht aus dem Sozial-system gestoppt wird – eine alte Forderung von HerrnBlüm, von der ich glaubte, daß Sie immer dahinterste-hen –, daß die Wettbewerbsverzerrung gestoppt wird,daß wir – zugegebenermaßen schrittweise – mehr Schutzfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und daß wirwieder Ordnung auf dem Arbeitsmarkt erreichen, weilwir in Zukunft weniger geringfügige Beschäftigungs-verhältnisse und dafür mehr sozialversicherungspflichti-ge Teilzeit- oder Vollzeitarbeitsplätze haben werden.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, IhrAntrag ist als traurig zu bezeichnen.
Er ist nicht konstruktiv, er zeigt keine Richtung auf undist schon deshalb negativ geprägt, weil Sie selbst nichtsbeizutragen haben.
Deswegen verdient Ihr Antrag nur eine einzige Be-handlung: Ablehnung und anschließend ab in denPapierkorb!Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Dr. Irmgard Schwaet-
zer.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenenacht Monaten haben wir etwa ein Dutzend Debatten zudiesem Thema hier im Plenum geführt.
Ich vermute einmal, daß dies die vorletzte sein wird;denn nun wird die Rentendebatte das Thema 630-Mark-Jobs ablösen.
Sie haben ja darauf spekuliert, daß nach einer Weile einanderes Thema im Mittelpunkt steht. Aber ich kannIhnen eines sagen: Die Unzufriedenheit in der Bevöl-Leyla Onur
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3750 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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kerung, bei denjenigen, denen Sie ihre Möglichkeiten,Geld zu verdienen, genommen haben, wird bestehen-bleiben, und die werden Sie noch zu spüren bekommen.
Erstaunlich finde ich, daß Sie selbst das Thema füreine Ablösungsdebatte bestimmt haben. Ausgesprochenleichtfertig ist es, das Thema Rente zu nehmen und da-mit eine Bevölkerungsschicht zu verunsichern, dieeigentlich unsere gesamte Solidarität verdient hätte.
Die Rentendebatte wird genauso verlaufen – da mußman kein großer Prophet sein, um das festzustellen –wie die über die geringfügigen Arbeitsverhältnisse. HerrRiester macht einen Entwurf. Die SPD-Fraktion verän-dert ihn einmal, zweimal und dreimal.
Dann kommt ein Kanzlerwort, und dann wird nachge-bessert. Nur, das, was dann herauskommt, ist immernoch falsch.
Deswegen, Herr Riester, sollten Sie nicht nur das Ge-setz über die 630-Mark-Jobs und die Regelung der so-genannten Scheinselbständigkeit aufheben. Sie solltenvielmehr Ihre verheerenden Rentenpläne zurücknehmen.
Sie verunsichern alte Menschen, und Sie erwecken denEindruck, als käme es Ihnen nur darauf an, diejenigen,die zwar der SPD im September zu Ihrer Wahl, am letz-ten Sonntag aber der CDU zu einem Sieg verholfenhaben, mit Ihren Plänen zu bestrafen.
Deswegen möchte ich darauf hinweisen, liebe FrauOnur, daß man hier nicht Ursache und Wirkung ver-wechseln sollte. Von uns kommt dieses bürokratischeMonster, das Sie in die Welt gesetzt haben, nun wirklichnicht, sondern von Ihnen.
Es ist nicht die Aufregung wegen der Abschaffung desMißbrauchs. Das, was die Leute aufregt, ist, daß SieLeistung bestrafen. Das ist es, was den Menschen drau-ßen wirklich gegen den Strich geht.
Ihre Regelungen zur sogenannten Scheinselbständig-keit sind auch nicht besser. Heute morgen habe ich denZeitungen entnommen, daß es zu Nachbesserungenkommen soll. Von Ihnen habe ich dazu noch nichts ge-hört. Offensichtlich ist dieses Thema zwischen der Bun-desregierung und der SPD-Bundestagsfraktion wiederumstritten.
Die Frage, die ich mir stelle, ist, wann sich der Kanzlereinmal durchsetzt.
Ich freue mich ja, wenn die SPD dazulernt. Ich freuemich auch, wenn die Grünen dazulernen.
Ich fürchte nur, daß die Nachbesserung durch die Ein-führung von Ausnahmen das Ganze so kompliziertmacht, daß keiner weiß, woran er wirklich ist, daß dieGerichte beschäftigt werden und nichts verbessert wird.
Darüber hinaus muß das, was man über die zusätzli-che Altersvorsorge hört, die anerkannt werden soll, jawohl geprüft werden. Das, meine Damen und Herren,wird wieder nur eine zusätzliche Bürokratie durchPrüfverfahren bezüglich einer angemessenen Alters-sicherung in Gang setzen. Nein, das alles ist es nicht. Siesollten Ihr Vorhaben aufheben und es beim ursprüngli-chen Rechtszustand belassen. Das wäre wirklich besser.
Auch über die CDU kann man in dieser Debattewirklich nur staunen. Dieser Antrag stammt von derCDU. Da muß ich leider feststellen, daß unser frühererKoalitionspartner offensichtlich unter akutem kollekti-ven Gedächtnisschwund leidet.
Im Bericht des Bundestagsausschusses für Arbeit undSozialordnung – ich kann auch noch ein paar Sachen ausnichtöffentlicher Sitzung zitieren; aber dies ist wirklichöffentlich zugänglich – vom 5. März 1998 zum damali-gen SPD-Entwurf zur Versicherungspflicht der gering-fügigen Beschäftigungsverhältnisse bestätigt die CDU/CSU ausdrücklich, daß es einen Regelungsbedarf gibt,
daß es aber leider wegen des kleinen Koalitionspartnersnicht möglich sei, etwas zu regeln.
Nun muß ich Ihnen sagen: Der kleine Koalitionspartneragiert jetzt selbständig in der Opposition. Wieso, zumTeufel, haben Sie dann noch nichts vorgelegt? Ich kannes Ihnen sagen: weil Sie alles verdrängt haben und ver-gessen wollen, was Sie früher gesagt haben, und weilSie hier auf einer Welle mitreiten und dadurch wohlfeileWählerstimmen bekommen wollen.
Dr. Irmgard Schwaetzer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3751
(C)
(D)
Frau Kollegin
Schwaetzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Meckelburg?
Selbstverständ-
lich.
Verehrte Frau
Kollegin Schwaetzer, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, daß Sie zu Recht zitiert haben, daß die
CDU/CSU-Fraktion in diesem Bereich, gerade was den
Mißbrauch angeht, in der Tat Handlungsbedarf gesehen
hat und auch nach wie vor sieht
und daß wir in der letzten Legislaturperiode nicht etwa
deswegen keine Regelung mehr vorgelegt haben, weil
wir uns in der Koalition nicht haben einigen können,
sondern weil uns völlig klar war, daß das eine der
schwierigsten Regelungen ist und daß eine solche Re-
gelung nur im Zusammenhang mit einer Steuerreform
gefunden werden kann, durch die die Tarife für Arbeit-
nehmer und Unternehmer zurückgehen
und durch die insgesamt ein Klima geschaffen werden
kann, in dem man über diesen Bereich reden kann, weil
nämlich der Unternehmer auf der einen Seite – –
– Ich bin immer noch bei der Frage, es war nur ein
Komma dazwischen.
Lieber Herr
Kollege, eine Frage muß auch einmal ein Ende finden.
Ich bin beim
letzten Weil-Satz, wenn Sie mir den noch gestatten: Ein
solches Klima muß geschaffen werden, weil dann
nämlich der Druck aus der Kiste ist und weil Unter-
nehmer dann für ihren Bereich nicht mehr sagen müs-
sen: Der Tarifdruck und der steuerliche Druck sind
so hoch, daß wir nicht anders können, als solche Jobs
zu machen.
Dann ist auch bei Arbeitnehmern nicht mehr der
Druck da, solche Jobs machen zu müssen.
Herr Kollege,
ich erlaube Ihnen nicht, noch länger zu reden. Sie disku-
tieren mit der anderen Seite des Hauses, Sie stellen aber
keine Frage an die Rednerin.
Wenn Sie diskutieren wollen, müssen Sie eine Kurz-
intervention beantragen. Das geht dann aber erst nach
dem Ende der Rede.
Frau Präsidentin,das war ein so lang gedehntes Fragezeichen, weil HerrMeckelburg versucht, sich in der Frage, warum dieCDU/CSU noch keine Antwort gefunden hat, herauszu-reden.
Sie wollten in der letzten Legislaturperiode nun wirklichetwas anderes, Sie wollten nämlich die Sozialversiche-rungspflicht für die geringfügigen Beschäftigungsver-hältnisse. Ich habe zwar nicht im Ausschuß gesessen,aber eine ganze Reihe von Ihnen, die sich eigentlichnoch daran erinnern sollten, was Ihre Kollegen da gefor-dert haben, haben im Ausschuß gesessen.
Deswegen möchte ich Sie wirklich bitten, hier vielleichtauch einmal daran zu denken, was Sie selbst früher ge-dacht und getan haben. Herr Meckelburg, das hattenichts mit Steuersenkungen zu tun.
Aber lassen Sie uns – das ist eine Bitte an das ge-samte Haus – doch bitte an eine konstruktive Diskussionin dem Bereich herangehen, wo die Lösung des Pro-blems liegen müßte: nämlich im Bereich niedrig ent-lohnter Tätigkeiten Regelungen zu finden, so daß essich auch lohnt, diese Tätigkeiten aufzunehmen – undzwar im ersten Arbeitsmarkt, nicht etwa im zweiten Ar-beitsmarkt.
Hier gibt es eine Beschäftigungslücke von etwa 2 bis 3Millionen Arbeitsplätzen, die von Menschen besetztwerden könnten, die heute arbeitslos sind. Dazu müssendie Gewerkschaften aber einmal über ihren Schattenspringen. Leider haben Sie zu viele Gewerkschafter inIhren Reihen.
Deswegen wird das wohl auf absehbare Zeit noch nichts.
Es müssen in dem Bereich schon einige Kriterien er-füllt werden. Ich will einmal vier Kriterien ganz plakativ
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3752 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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in den Raum stellen: Es muß erstens durch Leistungs-anreize die Arbeitsaufnahme im ersten Arbeitsmarkterleichtert werden. Es muß zweitens ein angemessenesFamilieneinkommen sichergestellt werden. Es mußdrittens die Gefahr von Mitnahmeeffekten möglichstminimiert werden. Es muß viertens die Flexibilität desArbeitsmarktes verbessert werden.Das sind Dinge, die wir in unserem Bürgergeld-Konzept aufgegriffen haben. Als Einstieg hatte die alteKoalition bereits die veränderte Anrechnung des eigenenErwerbseinkommens auf die Sozialhilfe beschlossen.Das war damals ein mühsames Stück Arbeit mit HerrnSeehofer. Wir haben aber eine Regelung vorgelegt.Warum knüpfen wir da nicht wieder an? Das würde denMenschen wirklich mehr helfen als all dieser Murks im630-DM-Gesetz, den Sie gemacht haben.
Und lassen Sie uns einen zusätzlichen Schritt machen– ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin –, indem wirSozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenlegen –natürlich mit einem entsprechenden Ausgleich für dieGemeinden! Das erfordert Pragmatismus. Aber nur sokann man Arbeitsmarktprobleme anpacken. Deswegenappelliere ich wirklich an alle, die Verweigerungshal-tung in diesem Bereich aufzugeben. Wenn wir diesesThema angehen, meine Damen und Herren von derSPD, dann – da bin ich ganz sicher – werden Sie sehen,daß das bürokratische Monster der 630-DM-Regelungvöllig überflüssig ist.Danke.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Margareta Wolf.
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Frau Schnieber-Jastram, ich soll dieWahrheit sagen, und das tue ich jetzt auch.Frau Schwaetzer hat eines gesagt, was richtig ist,nämlich daß Sie nach 14 Jahren Nichtstun damals, imHerbst 1996 und dann 1997, einem Vorschlag der SPD-Fraktion im Vermittlungsausschuß zugestimmt haben.Dieser Vorschlag sah vor, geringfügige Nebenbeschäf-tigungen mit einer Hauptbeschäftigung zusammenzu-rechnen und somit beide sozialversicherungspflichtig zumachen. Dieser Vorschlag unterscheidet sich in garnichts von unserer 630-DM-Lösung.
Verehrte Frau Schwaetzer, Sie haben gerade wiederexemplarisch vorgeführt, in welchem Zustand sich Ihrewunderbare Partei befindet. Auf der einen Seite dockenSie immer noch an die wunderbaren Werbeformeln Ihresphantastischen Generalsekretärs an, der zuerst sagte, Siesind die Partei der Besserverdienenden. Dann waren Siedie Partei, die in den letzten Jahren die soziale Markt-wirtschaft als Gefälligkeitsdemokratie denunziert hat.Jetzt sind Sie in Bremen mit einem kleinen Antragdurchgeflogen, der dazu dienen sollte, das Sozialimageaufzupeppen, weil man genau weiß: Ein zukunftsfähigerStaat muß die Brücke zwischen Sozialpolitik und Wirt-schaftspolitik bauen. Und jetzt hängen Sie sich an dieNiedriglohndebatte an, die unsere beiden Fraktionen aufden Weg gebracht haben, um dieses kleine sozialeI-Tüpfelchen da aufzusetzen. Ich finde das nur nochpeinlich, und die Rechnung haben Sie ja auch bekom-men.
Meine Damen und Herren, ich frage mich in der Tat,warum wir heute schon wieder über die 630 DM undScheinselbständigkeit diskutieren.
Wir haben das schon zahlreiche Male getan. Sie wissen,daß entsprechende Kommissionen an der Arbeit sindund Ihnen ihre Ergebnisse präsentieren werden. Dannwird die Debatte über dieses Ergebnis doch viel span-nender sein.Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, daß sich dieseGesellschaft im Übergang von der Industriegesellschafthin zur Dienstleistungsgesellschaft befindet. In diesemKontext, der zugegebenermaßen ein sehr schwieriger ist,finde ich es naheliegend, Debatten zu führen über dieZukunft der Arbeitswelt, über die Zukunft der Sozial-versicherungssysteme und über die Brückenbildung zwi-schen Flexibilität und Solidarität.
– Was ich sage, entscheide ich immer noch alleine, FrauSchwaetzer, und nicht Sie.Wir befinden uns in diesem Wandel. In diesem Wan-del weiß jeder, daß es keine einfachen Antworten gibt.Sie haben die Rahmenbedingungen für diesen Wandel inden letzten Jahren verschlafen. Das macht es uns soschwer.
Natürlich gibt es auch nicht immer nur richtige Ant-worten, vor allen Dingen dann nicht, wenn man sichimmer nur hinstellt und sagt, wie Sie das jetzt wiedergetan haben: „weg mit …“.Ich möchte Sie mit einem wunderbaren Zitat kon-frontieren. Ich habe am Wochenende ein Buch einesPhilosophen gelesen. Er lebte im 18. Jahrhundert undhieß Montaigne. Über diesen Satz sollten Sie vielleichteinmal nachdenken:Dr. Irmgard Schwaetzer
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Welche Schande für einen Politiker, dessen Rolledoch die Beobachtung der gesellschaftlichen Ent-wicklung ist, wenn er durch die Macht der Ge-wohnheit abgestumpfte Geister als Zeugen derWahrheit heranzieht!Und das tun Sie, wenn Sie hier immer nur „weg mit …“sagen.
Wir haben in zahlreichen Debatten in diesem Hausedargestellt, daß wir grundsätzlich – Herr Niebel, daß Sieimmer nur schreien, aber hier keinen guten Beitrag lei-sten können, das wissen wir schon – an der Sozialversi-cherungspflicht für geringfügige Nebenbeschäftigun-gen festhalten wollen, und zwar unter dem Aspekt derGerechtigkeit. Dieser Gerechtigkeitsaspekt erfordert,daß diejenigen, die Überstunden machen, mit denengleichgestellt werden müssen, die eine geringfügige Ne-benbeschäftigung haben. Dieses Gerechtigkeitsproblemkönnen Sie nicht auflösen, wenn Sie die geringfügigeNebenbeschäftigung aus dieser Regelung wieder her-ausnehmen.
Eine der größten Herausforderungen – und ich würdemich freuen, wenn wir ihr gemeinsam gerecht werdenkönnten – hier in diesem Haus ist es, zu begreifen, daßsich eine Politik der Modernisierung am Ziel der Zu-sammenführung von Flexibilität und Solidarität orien-tieren muß. Wir sind mit einer Flexibilisierung derMärkte als Ergebnis einer immer stärker wachsendenGlobalisierung und damit einhergehender höherer exter-ner Anforderungen konfrontiert.Wir müssen uns darüber verständigen, was sozialeSicherung überhaupt bedeutet. Wir sehen: Es gibt eineFlucht aus den sozialen Sicherungssystemen, die unmit-telbar damit zusammenhängt, daß die Grenze der Bela-stungen auf Grund von Abgaben und Steuern bei denMenschen erreicht ist. Wir wollen für die Wiederher-stellung der Zustimmung zu den sozialen Sicherungs-systemen werben.Frau Kollegin Schwaetzer, wenn wir in den letztenJahren eine gesetzliche Regelung für die Beschäfti-gungsverhältnisse im Sektor zwischen 630 und 1 300DM gehabt hätten, dann hätten wir die Chancen für denDienstleistungsmarkt wie die anderen europäischenLänder und wie die USA nutzen können. Durch dieNichtregelung dieses Sektors haben Sie eine Teilzeit-mauer aufgebaut. Nur 66 000 Menschen sind nämlich indiesem Segment beschäftigt. Sie wissen genau, daß dieNachfrage in diesem Sektor weitaus größer ist.Wir haben im Rahmen des Bündnisses für ArbeitVorschläge gemacht, Modelle zu erproben, um hier zuneuen Beschäftigungsverhältnissen zu kommen. Es gibtin Berlin einen Modellversuch. Diese Modellversuchemüssen aber regionalspezifische Aspekte berücksichti-gen. Nach einem Jahr kann man auswerten und ent-scheiden, welches Modell die beste Lösung ist.Zur Scheinselbständigkeit. Wir wissen alle, daß dasBlüm-Ministerium in den letzten Jahren fieberhaft nacheiner Regelung gesucht hat, wie mit diesem Phänomenumgegangen werden kann. Wir wissen, daß Sie Studienin Millionenhöhe in Auftrag gegeben haben, auf derenZahlen wir uns immer noch beziehen. Sie wußten auch– deshalb haben Sie keinen entsprechenden Antrag ein-gebracht –, daß Sie sich mit einem Gesetz gegen dieScheinselbständigkeit auf ein vermintes Gelände bege-ben und daß dieses Gesetz kein Sonntagsspazierganghinsichtlich der Wirkung in der Bevölkerung ist. Des-halb haben Sie kein entsprechendes Gesetz vorgelegt.Jetzt schütten Sie aber Häme über diesen Diskussions-prozeß aus, den wir angefangen haben. Seit über einemhalben Jahr diskutieren wir mit den verschiedenen be-troffenen Gruppen und den Berufsgruppen. Es wurdeeine Kommission eingerichtet, in der wir diskutieren,um möglichst bald Vorschläge für Veränderungen vor-legen zu können.
Ich sage Ihnen, welche Veränderungen ich für not-wendig halte. Wenn Sie dies interessiert, sollten Sie einwenig leiser sein.
– Ihr Zuruf, wir nähmen die Menschen als Versuchs-kaninchen, ist eine so hummelblöde Aussage, wie ich sieselten gehört habe.
Sie haben ein Gesetz gegen die Scheinselbständigkeitin Kraft gesetzt, das tatsächlich nicht funktionierte, weildie Fälle bei den Gerichten gelandet sind. In diesemPunkt sind wir uns mit allen Interessengruppen einig:Wir wollen der Erosion der sozialen Sicherungssystemeentgegenwirken, den offensichtlichen Mißbrauch be-kämpfen, die Selbständigkeit fördern und die Rechts-sicherheit wiederherstellen. Das ist ein sehr kompaktesund ein sehr ambitioniertes Vorhaben.
– Das ist kein Feldversuch, Herr Niebel.
Liebe HerrenKollegen von der F.D.P., mir fällt auf, daß Sie fast nachjedem Satz dazwischenrufen.
Es ist natürlich Ihr Recht, dazwischenzurufen, aber dieKollegin muß eine Chance haben, ein paar Sätze im Zu-sammenhang sprechen zu können.
Margareta Wolf
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Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ich bedanke mich ganz herzlich, Frau Prä-sidentin. Dieses Verhalten der F.D.P. kenne ich.Ich will Ihnen sagen, worüber wir in der Kommissionnachdenken. Wir denken über den Kriterienkatalognach.
– Sie haben immer alles richtig gemacht. Deshalb sindIhre Reformen in den letzten 16 Jahren so wahnsinnigerfolgreich gewesen; deshalb liegt dieses Land in Euro-pa vorne. Seien Sie auch einmal ein bißchen selbstkri-tisch! Ich habe vorhin gesagt, daß es in dieser Situationnicht immer einfache Lösungen gibt.
– Wenn Sie meine Ausführungen nicht interessieren,dann brauche ich nicht mehr weiterzureden.
Wir diskutieren darüber, ob der Kriterienkatalog zeit-gemäß ist und ob die Lebensversicherung als einzigesInstrument die Rentenversicherung ergänzen kann. Siesind überhaupt nicht an der Sache interessiert. Die Euro-pawahl ist gelaufen. Seien Sie doch froh darüber! Jetztkönnten Sie sich konstruktiv an der Diskussion beteili-gen, damit die Wählerinnen und Wähler, die Sie ausProtest gewählt haben, auch wirklich wissen, was Sieauf der Pfanne haben, nämlich offensichtlich gar nichts.
Wir diskutieren, ob das Kriterium von einem Auf-traggeber angesichts der Tatsache, daß wir eine wach-sende IT-Branche und eine wachsende Ingenieurs-Branche mit oft nur einem Auftraggeber haben, nochzeitgemäß ist. Nach dem Ende der Beratungen in derKommission werden wir dieses Kriterium entsprechendändern.Ich bin ferner der Meinung, daß wir darüber redenmüssen, ob private Altersvorsorge nicht auch heißenkann: lange Bindungsfristen in einem Aktienfonds.Sie können gewiß sein – die Kommission wird baldzu Ende getagt haben –, wir werden mit Hilfe der Bun-desregierung einen ordentlichen Gesetzentwurf vorle-gen. Dann können Sie Ihre Alternativkonzepte hier prä-sentieren.Ich bitte Sie auch im Interesse des Friedens in unse-rem Lande, mit dieser unsäglichen Kampagne aufzuhö-ren. Der Europawahlkampf war ein rein nationaler 630-Mark-Wahlkampf.
Dabei handelt es sich um das gleiche Gesetz, dem Siedamals im Vermittlungsausschuß zugestimmt haben. Ichfinde, das ist fast nicht mehr zumutbar.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich hatte ge-dacht, daß die Kampagne, die zu dem 630-Mark-Gesetzund zur Scheinselbständigkeit außerhalb des Parlamentsgeführt wird, an Verlogenheit nicht mehr zu überbietenist.
Aber das, was hier heute geboten wird, steht dem in kei-ner Weise nach.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, ist dafür ein beredtes Beispiel.In der gesamten Auseinandersetzung hat sich vorallem der Kollege Westerwelle als Bäckerbursche aus-reichend lächerlich gemacht. Aber auch viele andere vonIhnen haben sich angesichts der wirklichen Problemeder geringfügigen Beschäftigung ordentlich blamiert.Sie wissen so gut wie ich, daß mit den 630-Mark-Jobs inden letzten Jahren millionenfach Mißbrauch getriebenwurde. Wenn die Gesetze auch Mängel haben – das istvon der PDS ausreichend kritisiert worden –, für einessind sie immer noch gut, nämlich den Mißbrauch zu be-kämpfen
und endlich die Ausplünderung der sozialen Sicherungs-systeme zu stoppen. Das findet unsere nachdrücklicheUnterstützung.Das übrigens erklärt natürlich auch, daß nun diejeni-gen am lautesten schreien, die von diesem Mißbrauch inden letzten Jahren am meisten profitiert haben:
die Funktionäre des Hotel- und Gaststättengewerbes, derDIHT, die Zeitungsverleger, die Vertreter der Taxiun-ternehmen – von wegen kleine Leute, kann ich da nursagen. Das ist die altbekannte Lobby, die sich schonimmer auf Kosten der Solidargemeinschaft bereicherthat.
In den Kampagnen wird mit Halb- und Falschinfor-mationen zur geringfügigen Beschäftigung agiert. Be-troffene werden verunsichert, Angst wird geschürt.
Insgesamt wird unterstellt, daß die Neuregelungendes Gesetzes eine gigantische Kündigungs- und Jobver-nichtungswelle zur Folge hätte.
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Das aber ist Panikmache, liebe Kolleginnen und Kolle-gen; denn den Beweis bleiben Sie schuldig, im Gegen-satz zum Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, dersehr deutlich das Gegenteil belegt hat.Geklagt wird bei Ihnen über zuviel Bürokratie.
Es geht Ihnen aber gar nicht um die Bürokratie. Darumgeht es den Unternehmern übrigens auch nicht, die sichjetzt als Sachwalter der geringfügig Beschäftigten auf-spielen. Sie ärgern sich am meisten darüber, daß sie nunnicht mehr schummeln können oder – um es drastischerzu sagen – betrügen können,
sondern daß endlich Licht in das Dunkel der geringfügi-gen Beschäftigung gebracht wird. Genau das findet auchunsere Unterstützung.Zusätzlich belastet werden in der Tat diejenigen, dieneben ihrem Hauptberuf einen 630-Mark-Job als Ne-benjob haben. Sie müssen nun Steuern und Sozialab-gaben zahlen; das ist bekannt.
Aber was ist denn anderes passiert, als daß sie mit den-jenigen gleichgestellt werden, die das für Überstundenschon immer tun mußten?Natürlich – das weiß auch ich – sind davon auch vielebetroffen, die wirklich wenig Geld haben.
Wenn Sie sich die Einkommenssituation in Ost-deutschland anschauen, dann wissen Sie, wovon ich re-de. Daß sie sauer sind, wenn sie gleichzeitig erleben,daß die Regierung viel darüber nachdenkt, wie sie dieBesserverdienenden und Vermögenden von Steuernentlasten kann, kann ich noch am ehesten nachvollzie-hen.
Schließlich wird behauptet, für die Unternehmenrechneten sich nun die 630-Mark-Jobs nicht mehr. Dasverstehe, wer will. Ich tue es nicht; denn gerade für dieUnternehmen hat sich nun wirklich überhaupt nichts ge-ändert, es sei denn, sie haben früher gegen die Gesetzeverstoßen und können dies nun nicht mehr so leicht tun,wie sie es früher getan haben,
und sie müssen sich nun überlegen, auf welche andereArt und Weise sie das Bier und die Brötchen an die Frauund an den Mann bringen.Erstaunlicherweise gibt es gerade bei den Unterneh-men schon viel mehr Einsicht als bei Ihnen. Dort gibt eseine Reihe von Lichtblicken, was die Umwandlungvon prekären Beschäftigungsverhältnissen in versiche-rungspflichtige Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze be-trifft. Aber das macht natürlich keine Schlagzeilen in derÖffentlichkeit.
Am ärgerlichsten ist – das will ich auch noch deutlichsagen –, daß die wirklichen Lücken des Gesetzes in deraktuellen Auseinandersetzung überhaupt keine Rollemehr spielen. Wer redet denn heute noch über diealleinerziehende Mutter, die ihren Minijob als einzigeEinnahmequelle hat und trotz der Neuregelung wederausreichend gegen Arbeitslosigkeit noch gegen Alters-armut gesichert ist? Kaum jemand regt sich darüber auf,daß Ehefrauen unabhängig vom Einkommen ihrer Ehe-männer bei einem 630-Mark-Job steuerfrei bleiben unddamit – das halte ich für das Fatale – in die Rolle derZuverdienerin abgedrängt werden. Wen kümmert esnoch, daß es bei den Scheinselbständigen um die Kellne-rin und um den Transportfahrer und nicht um den Com-puterfachmann, die Journalisten und die Volkshoch-schuldozentin ging?
Es ging um diejenigen, die wirklich sozialen Schutzbrauchen. Das war das eigentliche Anliegen des Geset-zes. Genau das haben wir unterstützt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,wenn Sie jetzt Korrekturen vornehmen, dann hoffe ichsehr, daß Sie nicht vor jenen einknicken, denen dieSchutzbedürftigkeit der Menschen und der Bestand un-seres Sozialsystems sowieso relativ Wurst sind.
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derF.D.P., muß ich sagen: Wenn Sie weiterhin gegen diesoziale Absicherung geringfügiger Beschäftigung sopolemisieren, dann müssen Sie sich nicht wundern,wenn Sie auch in Zukunft ziemlich geringfügig gewähltwerden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer.
Sehr geehrteFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Damit es der SPD-Fraktion leichter fällt, beginne ich miteinem Zitat aus einem Brief, den der SPD-Frak-tionsvorsitzende Dr. Peter Struck – er ist auch da – mitDatum vom 20. Mai 1999 an alle Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion gerichtet hat. Hier heißt es:Dr. Heidi Knake-Werner
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Laßt Euch nicht verunsichern durch Berichte übereine neuerliche Änderung der 630-Mark-Regelung.Das Gesetz bleibt unverändert. …
Im übrigen ist feststellbar, daß die Kampagne ge-gen dieses Gesetz schwächer wird.
Ich glaube, Sie sehen hier eine Fata Morgana, ein Trug-bild, ein Wunschbild.
Dann fährt Peter Struck fort:Es treten allmählich genau die Effekte ein, die wirmit dem Gesetz bewirken wollten.Wenn man sich dies vor Augen hält, erhält das Wahler-gebnis der SPD vom letzten Sonntag eine völlig neueBedeutung.
Offensichtlich haben Sie noch nicht bemerkt, daß diesesWahlergebnis auch ein Aufschrei der Betroffenen war,daß die Gesetze gegen Scheinselbständigkeit und gegenden sogenannten Mißbrauch bei der geringfügigen Be-schäftigung eine Gesetzgebung gegen den kleinenMann waren und gegen diejenigen, die gerade im mit-telständischen Bereich mit der geringfügigen Beschäfti-gung versucht haben, beispielsweise saisonale Spitzenabzubauen.
Deswegen erweisen sich diese Gesetze als regelrechteJobkiller, und sie sind praxisfern. Daher ist es auchnicht verwunderlich, was wir aus der „Bild“-Zeitungvom 17. Mai 1999 erfahren haben: „Rudolf Dreßler –sein ganz persönliches 630-Mark-Problem. Betonsozikriegt keine Putzfrau.“ Dann spricht Kollege Dreßlerüber seine Probleme und will erklären, warum er nie-manden bekommt:Verschreckt durch das Chaos bei der Neuregelungvon 630-Mark-Jobs, wollen alle Angesprochenenstatt Geld über Lohnsteuerkarte nur Bares auf dieHand.
– Ja, aber in diesem Fall war es Dreßler.Dazu kann ich wirklich nur sagen: Besser kann man dasProblem nicht erklären.Es ist dann weiter zu lesen, daß der stellvertretendeFraktionsvorsitzende der SPD Ernst Schwanhold im„Lindenhof“, seinem Stammlokal, von der Wirtin gesagtbekommen hat: Lieber Ernst, macht doch vor euremnächsten Gesetz erst einmal einen Ausflug in die Wirk-lichkeit.
Dem kann man wirklich nichts hinzufügen. Sie wissen, wie viele Arbeitsplätze schon verloren-gegangen sind: 300 000 bei den Gebäudereinigern,200 000 bei Kellnern im Gaststättenbereich, 150 000 beiVerkäufern usw.
– Herr Gilges, ich habe es eben schon gesagt: NehmenSie Valium! Sie haben einen tüchtigen Fraktionsge-schäftsführer. Es lohnt nicht, sich hier so aufzuregen. Siesind wohl immer noch wegen Ihres katastrophalenWahlergebnisses vom letzten Sonntag erzürnt. Hier lie-gen wichtige Ursachen für den Schlamassel der SPD, inden Sie sich selber hineingeritten haben.
Wir bekommen auch aus den Reihen von Rotgrünständig recht für unsere Kritik: Wolfgang Clement sieht,wie er gesagt hat, Handlungsbedarf, um ungerechte zu-sätzliche Belastungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmerzu korrigieren. Heide Simonis verlangt eine schnelleÄnderung der neuen Besteuerung. Kurt Beck sieht einebürokratische Überzeichnung bei der Neuregelung. Glo-gowski stößt ins gleiche Horn. Und auch Peter Struck undBundeskanzler Schröder haben gesagt, für bestimmteBranchen, etwa im Medienbereich, müßten Sonderrege-lungen geschaffen werden. Alle sagen, es müsse sichetwas ändern. Nur einer will nicht: BundesarbeitsministerRiester. Er ist genau das, was die „Bild“-Zeitung überDreßler geschrieben hat, ein „Beton-Sozi“.
– Liebe Frau Rennebach, das waren nicht meine Worte;ich habe die „Bild“-Zeitung zitiert. Aber sie hat nicht soschlecht getroffen.Am Wahlabend des vergangenen Sonntags hat Bun-deskanzler Schröder gesagt: „Ich habe die Wähler ver-standen.“ Wenn sich Rotgrün jetzt weigert, diesen Ge-setzespfusch zurückzunehmen, dann hat BundeskanzlerSchröder die Wähler ganz offensichtlich nicht verstan-den. Er kann sie nicht verstanden haben.
Ich begreife auch nicht, warum er die Wähler erst jetztversteht. Wir haben von Anfang an massiv protestiertund auf die Risiken einer solchen gesetzlichen Regelunghingewiesen. Wir haben das von Anfang an so gesehen,wir haben Sie immer gewarnt. Aber Sie wollten dasProblem nicht zur Kenntnis nehmen. Nach dem Wahler-gebnis vom vergangenen Sonntag ist es für Sie zu spät.Man kann das Schauspiel, das Rotgrün bei dieser Ge-setzgebung aufführt, nicht besser charakterisieren alsKurt Kister dies in dieser Woche in der „SüddeutschenZeitung“ getan hat. Er schrieb:Nach Art der russischen Fallschirmjäger in Pristinaprescht ein Ministerium mit einem Entwurf vor, ausder Fraktion gibt es Gegenfeuer, die Grünen sindnicht informiert, Hombach interveniert auf dem klei-nen Dienstweg, und wenn alles in Kraft tritt, moserndie Länder, und eine Kommission muß die Nachteiledes bereits geltenden Gesetzes überprüfen.Dr. Peter Ramsauer
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Schröder hat Angst vor den Betonköpfen in Ihreneigenen Reihen. Man muß ihm den Vorwurf machen,daß er in solchen Fragen – zumal er sagt, er habe dieBotschaft der Wähler verstanden – nicht endlich vonseiner Richtlinienkompetenz Gebrauch macht und die-sen gordischen Knoten durchschlägt. Eines muß Ihnenvon Rotgrün und auch Bundeskanzler Schröder klarsein: Schröder hat angesichts dieses Gesetzesschlamas-sels – das bestätigt das Wahlergebnis vom letztenSonntag – auch die sogenannte zweite Chance, die ihmdie deutschen Medien nach dem Abgang von Lafontaineeingeräumt haben, „vergeigt“. Eine dritte Chance wirder nicht so ohne weiteres bekommen.
Herr Kollege
Ramsauer, die abgemachte Redezeit ist jetzt vorbei.
Ich komme zum
Schluß. – Im Schröder/Blair-Papier steht interessan-
terweise zu dem heutigen Thema:
Wir müssen: … Arbeitgeber durch … die Verringe-
rung der Steuer- und Sozialabgabenlast auf gering-
fügige Beschäftigungsverhältnisse ermutigen …
Ziel dieser Erklärung ist es, einen Anstoß zur Mo-
dernisierung zu geben. Wir laden alle Sozialdemo-
kraten in Europa dazu ein, diese historische Chance
zur Erneuerung nicht verstreichen zu lassen.
Herr Kollege
Ramsauer, es ist nicht mehr möglich, jetzt längere Pas-
sagen vorzulesen. Ihre Redezeit ist vorbei. Bitte denken
Sie daran.
Ich kann nur sa-
gen: Das ist ein Appell an die Fraktionen von Grün und
Rot in diesem Hause. Man kann nur der „Frankfurter
Rundschau“ folgen, die geschrieben hat: Diesen Punkt
haben CDU und CSU schon lange betont. – Schließen
Sie sich uns an und stimmen Sie für unseren Antrag!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Dreßen.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! In seiner Rede am 26. April 1997
„Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ hat Bundespräsident
Roman Herzog gefordert, durch Deutschland müsse ein
Ruck gehen. Diesen Auftrag haben wir verstanden.
Nachdem sich die alte Bundesregierung gequält hat, am
laufenden Band Ungerechtigkeiten produziert hat und
nicht in der Lage war, notwendige Reformen durchzu-
führen, haben wir gehandelt.
Wir haben durch eine Steuerreform und durch die Er-
höhung des Kindergeldes die Familien entlastet.
In der Endphase, im Jahre 2002, sind das 50 Milliarden
DM, die Familien und Arbeitnehmer weniger zu bezah-
len haben. Dazu wären Sie nie imstande gewesen.
Wir haben für 9 Millionen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer den Kündigungsschutz wiederhergestellt
und, wie im Wahlkampf versprochen, die diversen
chaotischen Zustände auf dem Arbeitsmarkt, die Sie zu
verantworten hatten, beseitigt.
– Melden Sie sich doch zu Wort, wenn Sie etwas zu sa-
gen haben, Herr Niebel.
Thema Scheinselbständigkeit: Das Gesetz hat das
Ziel, Arbeitsverhältnisse, die, um die Sozialversicherung
zu sparen, in die Scheinselbständigkeit abgedrückt wor-
den sind, wieder in sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigungsverhältnisse zurückzuführen.
Herr Kollege,
erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege
Dreßen, der Bundeskanzler hat am Sonntag nach der
schlimmen Wahlniederlage der SPD die schon vom
Kollegen Ramsauer zitierten Worte gesagt: „Ich habe
verstanden.“ Was, glauben Sie, könnte er damit gemeint
haben?
Könnte er unter Umständen die 630-DM-Jobs und die
Scheinselbständigkeit gemeint haben?
Ich bin mir sicher, daß derBundeskanzler damit in erster Linie gemeint hat, daßdieses Land wieder Arbeitsplätze braucht und daß wiralles tun müssen, um in diesem Land wieder mehr Ar-beitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeit zu be-seitigen. Das war sicherlich sein wichtigstes Anliegen.
Aber ich bin natürlich nicht sein Psychologe, der irgendetwas in seine Worte hineininterpretieren kann.Dr. Peter Ramsauer
Metadaten/Kopzeile:
3758 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
(C)
Es entspricht nicht der Wahrheit, wenn Sie, die Op-position, behaupten, wir wollten Selbständigkeit verhin-dern. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist verständlich,wenn Zeitungen und andere gegen die Scheinselbstän-digkeit wettern, weil sie selber frei werdende Redakteur-stellen an sogenannte freie Journalisten vergeben. Vieledieser Freien oder auch „Pauschalisten“ sind voll in denredaktionellen Ablauf eingebunden, also in WirklichkeitFestangestellte. Trotzdem hat die Bundesregierung unterVorsitz des Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts,Herrn Dieterich, eine Kommission eingesetzt, die prüft,ob es Verbesserungsmöglichkeiten gibt.Nun sind heute Presseberichte erschienen, die den Ein-druck erwecken, die Kommission sei schon soweit, Er-gebnisse zu präsentieren. Dem ist nicht so. Tatsache ist,daß diese Kommission zwei weitere Sitzungen im Juniund Juli terminiert hat. Arbeitgeber und Gewerkschaftensollen im Konsens über bestimmte Dinge reden. Sicherwerden wir dafür sorgen, daß der Umgang mit Vermu-tungstatbeständen in der Praxis verbessert wird.
– Das heißt, daß wir darüber nachdenken, wie man dieseVermutungstatbestände besser formulieren kann.
Die von der Rechtsprechung entwickelte Abgrenzungzwischen selbständiger Tätigkeit und abhängiger Be-schäftigung wird durch die Neuregelung nicht verscho-ben. Entscheidend bleibt die Gesamtwürdigung in jedemEinzelfall. Auch werden wir an der Rentenversiche-rungspflicht für arbeitnehmerähnliche Verhältnisse fest-halten. Wir werden also in Ruhe abwarten, welche Vor-schläge die Kommission unter Vorsitz des Bundesar-beitsgerichtspräsidenten Dieterich erarbeitet. Hektik istbei uns nicht angesagt.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird für Vorschläge, diezur Verbesserung oder Klarstellung führen, immer einoffenes Ohr haben.Thema 630-Mark-Jobs: Immer mehr Bürgerinnenund Bürger, auch die betroffenen, spüren, daß wir eingutes, sozial gerechtes und auch überschaubares Gesetzgemacht haben.
Mit diesem Gesetz ist Schluß mit den Wettbewerbsver-zerrungen, wie sie zum Beispiel die Gebäudereiniger-innung schon immer beklagt hat.
Auch viele Unternehmer haben doch darüber geklagt,daß sie diese unanständigen, sozial nicht abgesichertenArbeitsverhältnisse aus Wettbewerbsgründen schaffenmußten. Es ist Schluß mit der Ungerechtigkeit, daß Ar-beitnehmer, die Überstunden machen, dafür Steuern undSozialabgaben zahlen, während diejenigen mit einer ge-ringfügigen Beschäftigung nichts zahlen. Und Schluß istauch mit Betrügereien derart, daß Oma oder Opa ange-meldet wurde und so – rechtswidrig – sozialabgabenfreimehr 630-Mark-Jobs von einer Person ausgeübt werdenkonnten, als sie eigentlich gedurft hätte. Die Unterneh-men – das dürfen Sie sich ins Stammbuch schreiben –beginnen nun mit der Umwandlung der 630-Mark-Jobsin Teilzeitstellen – genau das, was wir wollten.
Wie war denn die Situation vorher? Sie von der jet-zigen Opposition haben zugelassen, daß die Sozialver-sicherungsbeiträge von 1992 bis 1998 von 36,8 auf42 Prozent gestiegen sind. Nun muß ich ehrlicherweisedie 1,7 Prozent für die Pflegeversicherung abziehen; esverbleiben aber immer noch 40,3 Prozent, FrauSchnieber-Jastram. Das heißt, Sie haben zugelassen,daß Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die ordentlicheArbeitsverhältnisse haben, der Kragen immer engerzugeschnürt wurde,
und gleichzeitig haben Sie gepredigt: Die Lohnne-benkosten müssen herunter. Ich frage: Was ist nunrichtig? Eine Steigerung um 10 Prozent in fünf Jahren –das konnte doch so nicht weitergehen. Die Zahl der so-zialversicherungspflichtig Beschäftigten ging im selbenZeitraum, von 1992 bis 1998, von 29,1 Millionen auf27,2 Millionen, also um 1,9 Millionen, zurück,
während die Zahl der 630-Mark-Jobs eine jährlicheSteigerungsrate von 20 Prozent aufweist.Probleme auszusitzen, meine Damen und Herren vonder Opposition, oder Ungerechtigkeiten zu belassen, dasist nicht Sache der neuen Bundesregierung und der sietragenden Koalitionsfraktionen.
Die „Stuttgarter Zeitung“ berichtete am 22. Mai diesesJahres von einer Untersuchung der Landesversiche-rungsanstalt Württemberg, wonach 8 000 in 630-Mark-Jobs Beschäftigte älter als 90 Jahre sind – und makabergenug: 2 000 solcher Beschäftigten kann man nur nochzwei Meter unter der Erde, auf dem Friedhof, besuchen.Das war Ihre Bilanz, und das war Ihnen bekannt, meineDamen und Herren von der CDU. Sie haben ja selbstschon erkannt, wie mit den 630-Mark-Jobs Mißbrauchgetrieben wurde. Ich will Ihnen daher nicht alles vor-halten. Aber Norbert Blüm beklagte in einem Interviewvom 19. Oktober 1997, daß ganze Firmengruppen eineStrategie daraus machten, sich der Sozialversicherung zuentziehen, und stellte fest, dies könne der Sozialstaatnicht hinnehmen. Übrigens hat der Kollege Louven, denich hier nicht sehe, vor kurzem ein Interview gegeben, indem er genau dasselbe sagt, was Blüm 1997 gesagt hat.
Peter Dreßen
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(D)
Wenn ich Ihre unsachlichen Äußerungen zu diesemThema aus den letzten Wochen zur Kenntnis nehme,dann werde ich das Gefühl nicht los, daß Sie uns den Er-folg nicht gönnen, dem Sie jahrelang hinterhergehecheltsind.
Nach unseren eigenen Erhebungen wurden im übri-gen in diesem Land schon über 2 Millionen Freistellun-gen gewährt. Also kann es ja so schlimm nicht sein.Jetzt wollen Sie, daß dieses Gesetz, das endlich demMißbrauch Einhalt gebietet, wieder zurückgenommenwird. Das ist doch paradox. Wir haben hier doch keineJournalistendemokratie; hier, im Parlament, wird ent-schieden. Aber Sie verlassen sich nur auf die Journaille.Ich muß Ihnen sagen: Ich bin dem Bundesarbeitsmi-nister dafür dankbar, daß er in dieser Frage standgehal-ten hat – und das trotz der vielen ungerechten Angriffe,die aus Ihren Reihen und aus den Reihen der Journa-listen kamen. Ich bin ihm außerordentlich dankbar, daßer hier standgehalten und gesagt hat: Das muß beseitigtwerden.
Daß Sie, Frau Schnieber-Jastram, und Ihre Par-teifreunde aus Rücksicht auf die F.D.P. in Sachen 630-Mark-Jobs in Ihrer Regierungszeit nichts unternommenhaben, mag man ja noch verstehen. Doch heute sind Siein der Lage, von den Liberalen nicht mehr abhängig zusein. Angesichts der Tatsache, die ich geschildert habe,sollten Sie, meine Damen und Herren von der Oppositi-on, insbesondere Sie von der CDU, sich für die haltlosenVorwürfe gegen dieses Gesetz und für Ihren Vorschlagentschuldigen, das Gesetz einzustampfen. Sie sollten,nachdem Sie sich das Problem genauer betrachtet haben,sagen: Sorry, es tut uns leid; die Regierung hatte recht;wir ziehen unseren Antrag zurück. Das wäre ein Ruckvon der Art, wie ihn der Bundespräsident verlangt hat.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Dre-
ßen, in mindestens einem Punkt irren Sie: Wir gönnen
Ihnen den Erfolg dieser Gesetze.
Meine Damen und Herren, gestern hat die Bundes-
sportwartin des Deutschen Behindertensportverbandes
im Rahmen einer Anhörung zum Behindertensport zu
Ihrem 630-DM-Gesetz folgendes festgestellt: Es steht zu
befürchten, daß das ehrenamtliche Engagement – mit
allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für behin-
derte Spitzensportler, die auf Grund ihrer Behinderung
ohnehin einer großen personellen Betreuung bedürfen –
rückläufig wird. Dies ist eine Facette aus dem Bereich
des Sports. Sie ist auf andere Bereiche des Sports und
gemeinnützige Organisationen zu übertragen: Betroffen
sind Chorleiter und Dirigenten von Musik- und Gesang-
vereinen, Platzwarte, nebenberufliche Geschäftsstellen-
leiter, Haus- und Nachbarschaftshilfe und viele Bereiche
mehr. Das unsinnige Gesetz von Rotgrün ist – praxis-
fern – in den Köpfen von Ideologen und Bürokraten ge-
reift und im Bewußtsein der Folgen durchgedrückt wor-
den.
Mit diesem Gesetz kassieren Sie nicht nur bei Sport-
vereinen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung
ab, Sie kassieren nicht nur bei den geringfügig Beschäf-
tigten ab, nein, Sie zerstören gewachsene ehrenamtliche
Strukturen.
Mit diesem Gesetz hat der Bundeskanzler das von die-
sem Pult aus gegebene Versprechen gebrochen, Bela-
stungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
zu erhöhen. Ziehen Sie Ihr Gesetz sofort zurück!
Das sagen Ihnen die Sportvereine seit Monaten.
Ehrenamtliches Engagement bricht weg, wenn die
Vereine nicht mehr in der Lage sind, die zusätzlichen
Kosten aufzubringen, die Rotgrün ihnen aufgebürdet
hat. Geschröpfte Betroffene kündigen, Vereine und ge-
meinnützige Organisationen werden um Entlassungen
nicht herumkommen.
Von 630 DM verbleiben einem Übungsleiter mit
einem Hauptberuf gut 360 DM. Das sind fast 45 Prozent
Abzüge für eine gemeinnützige Tätigkeit, für die eh
schon nur ein geringes Entgelt gezahlt wird. Die Entloh-
nung hat in nicht wenigen Fällen ohnehin nur anerken-
nenden Charakter. Das ist soziale Gerechtigkeit à la
Rotgrün.
Das Zusammenwirken von Ehrenamt und neben-
beruflicher Tätigkeit sichert die Basis des Sports, der
Musik, des Gesangs und vieler anderer Bereiche. Viele
Vereine können sich keine hauptamtlichen Geschäfts-
führer, keine hauptamtlichen Kassierer und keine haupt-
amtlichen Platz- und Jugendwarte leisten. Nein, unsere
Vereine sind auf diese geringfügigen Beschäftigungen
angewiesen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thön-
nes?
Ja.
Herr Kollege, glauben Sienicht, daß Sie einen großen Fehler machen, wenn Sie dieFrage der geringfügigen Beschäftigung mit der sehrwichtigen Aufgabe des Ehrenamtes in der GesellschaftPeter Dreßen
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3760 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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derartig miteinander verknüpfen, daß Sie sozusagen voneinem bezahlten Ehrenamt sprechen, was selbst die eh-renamtlich Tätigen in dieser Gesellschaft nicht wollen?
Seien Sie doch so ehrlich und nennen Sie es beimNamen. Meinen Sie nicht, daß es besser wäre, darüberzu sprechen, daß bislang eine Aufwandsentschädigung,
die auch im Ehrenamt notwendig ist, gezahlt wurde? Siefiel auch schon früher unter die Grenze der Gering-fügigkeit und hat durch die Steuerfreiheit mit einer Pau-schale in Höhe von 200 DM im Monat auch die notwen-dige Anerkennung erfahren. Jetzt wäre darüber zu dis-kutieren, wie man das Ehrenamt fördern kann,
und nicht darüber, wie die Menschen in diesen Ämternentlohnt werden. Darum geht es doch!Ich will noch eine dritte Frage hinzufügen: Bekommtjemand bei der CDU als Ortsvereinsvorsitzender das Eh-renamt bezahlt? Das ist doch wahrhaftig nicht der Fall.Das ist auch bei uns nicht so.
Lieber Herr Kollege,
wenn Sie die Geduld gehabt hätten, mir zuzuhören, dann
hätten Sie meinen Ausführungen entnehmen können,
daß sich in der Tat viele Vereine keine hauptamtlichen
Geschäftsführer, keine hauptamtlichen Platzwarte, keine
hauptamtlichen Jugendwarte und keine hauptamtlichen
Geschäftsstellenleiter leisten können.
Aber zur Unterstützung des Ehrenamtes, zum Beispiel
des Kassierers, des Jugendleiters und des Vereinsvorsit-
zenden, ist ein Nebenamt zwingend notwendig, damit
das Ehrenamt überhaupt funktionieren kann.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ich habe die Fragen von
Herrn Thönnes noch nicht beantwortet.
Entschuldi-
gung. Sie wollen also noch weitere Ausführungen ma-
chen?
Ja.
Dann beant-
worten Sie in Ruhe zuerst die Fragen von Herrn Thön-
nes. Ich stoppe währenddessen die Zeit. Danach kann
der Kollege Koppelin seine Zwischenfrage stellen.
Es ist ungewöhnlich,
daß jemand drei Fragen stellt, sich sofort nach dem er-
sten Satz der Antwort wieder hinsetzt und sich nicht die
Mühe macht, im Stehen die ganze Antwort abzuwarten.
Die Anhebung der Übungsleiterpauschale, die Sie
richtigerweise angesprochen haben und über deren Höhe
wir uns gegebenenfalls verständigen können, kann kein
Ersatz für ein vermurkstes Gesetz sein. Sie schaffen
neue Ungerechtigkeiten gegenüber dem Platzwart, dem
Geschäftsstellenleiter und anderen Funktionsträgern in
den Vereinen, wenn Sie die Übungsleiter besserstellen.
Hier ist ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Ver-
einsförderung notwendig. Ein solches Konzept haben
wir in dieser Woche im Bundestag eingebracht.
Natürlich werden in der CDU/CSU die Vorsitzenden
der Gemeinde- und Stadtverbände genausowenig bezahlt
wie bei Ihnen. Aber wenn wir nicht die Möglichkeit
hätten, unsere Geschäftsstellen auch mit geringfügig Be-
schäftigten zu besetzen,
dann hätten es die ehrenamtlichen Kräfte vor Ort noch
schwerer, ihre Arbeit zu erledigen.
Bitte sehr,
Herr Kollege Koppelin.
Herr Kollege, sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Kollege Thön-
nes, der eben eine Zwischenfrage gestellt hat, in seinem
Wahlkreis nach einem Gespräch mit Vertretern von
Volkshochschulen erklärt hat, daß das Gesetz über die
630-Mark-Jobs dringend geändert werden müsse?
Stimmen Sie mir auch darin zu, daß dadurch, daß für
Referenten von Volkshochschulen – eventuell – eine
Änderung des 630-DM-Gesetzes angekündigt wird, die
Reinemachefrau, die die Räume der Volkshochschule
sauber macht, natürlich nicht berücksichtigt wird?
Herr Kollege, hier kann
ich Ihnen uneingeschränkt zustimmen.
Herr Riegert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs
von der PDS?
Ja.Franz Thönnes
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3761
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(D)
Herr Kollege Riegert, wir
haben im Sportausschuß über die hier diskutierte Pro-
blematik lange gesprochen. Ich weiß, daß wir auch um
Verbesserungen für die Sportvereine gefochten haben.
Ich gebe Ihnen recht, daß sich nicht alle Sportvereine
hauptamtliche Mitarbeiter leisten können.
Würden Sie meine Auffassung teilen – da es sich hier
um eine gesellschaftspolitisch bedeutende Aufgabe han-
delt –, daß es möglich sein sollte, über eine steuerfreie
Aufwandspauschale für Sportvereine, die es auch in
anderen Bereichen gibt, zu reden? Es gibt nämlich
Übungsleiter, die steuerlich nichts abzusetzen haben.
Man sollte also den Weg einer Pauschale gehen und die-
se Pauschale nicht mit der Frage der 630-DM-
Beschäftigten verknüpfen. Man sollte vielmehr eine
Aufwandsentschädigung, die steuerfrei ist und vielleicht
eine Höhe von 630 DM hat, schaffen, die es auch schon
in anderen Bereichen gibt. Eine solche Aufwandsent-
schädigung sollte nicht nur für Sportvereine, sondern
zum Beispiel auch für Gesangsvereine gelten, die Sie
bereits erwähnt haben. Das wäre doch ein besserer Weg.
Frau Kollegin Fuchs,
wir haben der Koalition im Sportausschuß die Chance
gegeben, diesen Weg einzuschlagen, indem wir den An-
trag gestellt haben, Sportvereine und gemeinnützige Or-
ganisationen von der Versicherungspflicht auszuneh-
men. Diese Chance hat die Koalition leider verpaßt.
Deshalb geben wir der Koalition mit unserem heutigen
Antrag eine erneute Chance, dies zu korrigieren.
In der Tat geht es aber bei gemeinnützigen Organisa-
tionen und Vereinen um ganz andere Dinge. Die Punkte,
die im vorhinein in Anhörungen und im Ausschuß dis-
kutiert wurden, wurden – wider besseres Wissen – in
dem schlampigen Gesetz nicht berücksichtigt, das jetzt
durchgezogen wurde. Deshalb sind wir der Meinung,
daß dieses Gesetz zurückgezogen werden muß.
Ich möchte noch ein paar Worte zu der unerträglichen
Bürokratie sagen. Es ist keinem Bürger klarzumachen,
warum Vereine und nebenberuflich Tätige Energie für
staatlich verordnete Bürokratie verschwenden sollen:
Beantragung einer Freistellungsbescheinigung, Einho-
lung einer Lohnsteuerkarte bei der zuständigen Behörde,
Eintragung des Datums der Bescheinigung, der Steuer-
nummer und des ausstellenden Finanzamtes sowie des
steuerfrei ausgezahlten Arbeitsentgeltes im Lohnkonto,
Erteilung der Lohnsteuerbescheinigung auf der Frei-
stellungsbescheinigung, Anmeldung bei der Kranken-
kasse. Frau Kollegin Onur, Ihr einfaches Verfahren be-
deutet 20 verschiedene Fallgruppen und 57 steuerliche
Variationen.
Das alles muten Sie einem ehrenamtlichen Kassierer,
einem ehrenamtlichen Vereinsvorsitzenden zu, der dies
abwickeln muß.
Wenn er diese komplizierten Gesetze zu den 630-DM-
Jobs und zur Scheinselbständigkeit nicht richtig anwen-
det, dann gibt es noch einen auf die Mütze. Wir wollen,
daß engagierte Übungsleiter junge Menschen trainieren,
ältere Menschen fit halten oder Behinderte betreuen.
Dies wollen auch die Übungsleiter. Statt dessen gibt es
Behördengänge und Formularkrieg.
Ich habe schon angeführt, daß die Koalition im
Sportausschuß den Antrag unserer Fraktion abgelehnt
hat, Sportvereine und gemeinnützige Organisationen
von der Versicherungspflicht auszunehmen. Sie haben
jetzt die Chance, diesen Fehler zu korrigieren. Nutzen
Sie diese Chance! Die Sportler, die nebenberuflich Täti-
gen, vor allem die ehrenamtlich tätigen Helferinnen und
Helfer werden dies zu schätzen wissen. Es bewahrt Sie
auch vor dem Ruf, Gelder in der Staatskasse seien Ihnen
lieber als millionenfach ehrenamtliches Engagement.
Ziehen Sie Ihr bürokratisches Monstrum zurück!
Zu einer Kurz-
intervention erhält jetzt der Kollege Thönnes das Wort.
Lieber Kollege Jürgen Kop-pelin, du solltest die Zeitung etwas genauer lesen undauch etwas hinterfragen und nicht nur an den Wahr-heitsgehalt der Leserbriefe glauben, die du selbstschreibst.
Diese Ausführungen, die du eben im Zusammenhangmit mir angesprochen hast, habe ich nie gemacht, son-dern ich habe mit den Volkshochschulen über die Aus-wirkungen des Gesetzes zur Verhinderung von Schein-selbständigkeit diskutiert. Ich habe ausdrücklich gesagt,daß es bei dem 630-DM-Gesetz bleibt und daß man,wenn man ernsthaft über die Förderung des Ehrenam-tes nachdenken will, dies steuerlich ausgleicht und nichtden Versuch macht, den die F.D.P. und, wie ich leiderfeststellen muß, jetzt auch CDU/CSU machen, dasEhrenamt in ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnisumzudefinieren.
Das wird den vielen hunderttausend ehrenamtlich täti-gen und engagierten Menschen in dieser Gesellschaftnicht gerecht. Sie fragen nämlich nicht in erster Liniedanach „Was bekomme ich dafür?“, sondern „Wie kannich etwas für diese Gesellschaft tun?“. Dies ist zu ihrerAnerkennung zu fördern.
Im übrigen scheint bei der gesamten Argumentationunterzugehen, daß hier immer nur für eine Gruppe plä-diert wird, es aber viele Jugendgruppenleiter gibt, dieüberhaupt nichts dafür bekommen. Wir arbeiten gemein-sam daran – das ist gerade sinnvoll eingeführt worden –,eine Jugendgruppenleitercard herauszubringen, um Er-leichterungen im Alltag zum Beispiel bei der Nutzungvon Verkehrsmitteln, zu ermöglichen. Auch sollte es
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3762 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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möglich sein, die in der Jugendarbeit erworbenen sozialenKompetenzen im Beruf besser anerkannt zu bekommen.Aber im Kern geht es darum, daß wirklich endlichSchluß gemacht wird damit, daß man dort, wo Geld ver-dient wird, glaubt, man könne dieses Geld an der So-zialversicherung vorbei verdienen. Wenn in unserer Ver-fassung steht, daß die Bundesrepublik Deutschland eindemokratischer und sozialer Rechtsstaat ist, dann mußman auch sagen: Der Sozialstaat ist nicht zum Nulltarifzu haben.
Wenn der Redner der CDU/CSU gerade zum Schlußin seiner Begründung den Vorwurf erhoben hat, hierfließe Geld in die Staatskasse, dann zeigt das, wie weiter vom eigentlichen Thema entfernt ist. Hier geht Geldin die Selbstverwaltung. Hier geht Geld in die selbst-verwalteten Sozialkassen hinein, die Berufstätigen einStück Schutz im Alltagsleben und im Alter gewährlei-sten. Diesen Schutz wollen wir auch weiterhin gewähr-leisten, und wir werden uns durch den Sturm im Was-serglas, der gegenwärtig von der CDU/CSU und derF.D.P. inszeniert wird, davon nicht abbringen lassen.Niemand muß befürchten, daß wir umkippen. Aber wirwerden Sie fordern, wenn es darum geht, das Ehrenamtzu fördern. Da werden Sie Farbe bekennen müssen.
Es ist ein bißchen
strittig, ob die angemeldeten Kurzinterventionen statt-
haft sind. Aber zunächst gebe ich Herrn Kollegen Kop-
pelin Gelegenheit, auf Herrn Thönnes zu antworten.
Ich mache es auch sehr
kurz, Frau Präsidentin.
Da der Kollege Thönnes mich angesprochen hat,
stelle ich fest: Er will nach seinen eigenen Aussagen im
Bereich der Scheinselbständigen, was gerade Werkver-
träge mit Volkshochschulen angeht – dazu kommen
dann noch die Universitäten und Fachhochschulen, Herr
Kollege Thönnes –, etwas machen, was in Schleswig-
Holstein über 3 000 Jobs betrifft. Er hat zugesagt, in die-
sem Bereich entscheidend etwas zu tun. Das werde ich
mir ansehen; ich erinnere ihn aber daran, daß er in dem
Zeitungsartikel, auf den ich hingewiesen hatte, seine
eigene Bundesregierung auch hinsichtlich der 630-
Mark-Jobs kritisiert. Wenn Sie, Herr Kollege Thönnes,
diesen Artikel nicht mehr haben, stelle ich ihn gern zur
Verfügung. Ansonsten bin ich gern bereit, Ihren Beitrag
heute im Bundestag und natürlich auch meinen den Me-
dien zur Verfügung zu stellen, die über Sie berichtet ha-
ben. Dann werden sich die Bürger ein Bild machen kön-
nen, und dann wollen wir einmal sehen, was die Bürger
dazu sagen. Ich vermute, daß ich den Artikel richtig in-
terpretiert habe.
Ich habe gerade ge-
lernt, daß Sie eigentlich gar nicht hätten reden dürfen.
Gleichwohl haben wir alle Sie angehört.
Nun gebe ich Herrn Kollegen Riegert das Wort. Da-
nach wird der Kollege Thomas Dörflinger das Wort zu
seinem Redebeitrag erhalten.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der grundsätzlichen Ein-
schätzung des Ehrenamtes trennt uns nichts. Sie müssen
nur begreifen, daß bei Vereinen, die zum Teil bis zu 150
Übungsleiter haben, die Jugendarbeit in großem Stil ma-
chen und ihre Trainer als Honorarkräfte bezahlen, Ihr
Gesetz die Auswirkung hat, daß der Verein für jeden
Übungsleiter monatlich 110 DM an Sozialabgaben zu
bezahlen hat. Genau dort liegt die Krux. Dieses Geld
muß nämlich der ehrenamtliche Vereinsvorsitzende, der
ehrenamtliche Kassierer, der ehrenamtliche Vorstand bei
Sponsoren und bei staatlichen Institutionen einfordern.
Da er diese zusätzlichen Mittel dort nicht mehr be-
kommt, sind Beitragserhöhungen unumgänglich – Bei-
tragserhöhungen sind das Unsozialste, was da passieren
kann –, um die Mehrkosten Ihrer beiden Gesetze aufzu-
fangen. Gegen diese Form der Beschädigung des Ehren-
amtes habe ich mich deutlich gewandt.
Jetzt hat der Kollege
Thomas Dörflinger das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß Gesetz-entwürfe der Regierungsparteien mitunter die Haltbar-keit eines Fruchtjoghurts nur geringfügig überschreiten,ist man ja mittlerweile gewohnt.
Daß aber ausgerechnet diejenigen, die sich selbst auf dieFahne geschrieben haben, etwas gegen Arbeitslosigkeitzu tun, statt dessen etwas gegen Arbeitsplätze tun, isteine völlig neue Dimension politischen Handelns inDeutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich vermute, daßdie wenigsten von Ihnen – ich blicke nach links – inletzter Zeit einmal eine Gaststätte besucht haben; dennsonst wüßten Sie, daß Hotellerie, Gastronomie und Tou-rismuswirtschaft durch das von Ihnen beschlossene 630-Mark-Gesetz vor immensen Problemen stehen. Vermut-lich gehen Sie deswegen in keine Gaststätten, weil Siefürchten, dort auf die Politik Ihrer Regierung angespro-chen zu werden. Das kann ich nachvollziehen.
Meine Damen und Herren, wie sieht die Situation inder Praxis aus? Glauben Sie denn allen Ernstes, daß einFranz Thönnes
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3763
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(D)
Gastwirt im Bayerischen Wald eine zusätzliche Voll-zeitkraft beschäftigt, weil er an 52 Wochenenden imJahr Besuch von Busgesellschaften aus dem Norden be-kommt? Oder können Sie dem Gastwirt erklären, wie erdiese zusätzliche Kraft in der Zwischenzeit, wenn garkeine Arbeit da ist, also von Montag bis Freitag, be-schäftigen soll? Glauben Sie allen Ernstes, daß eineKurverwaltung an der Nordseeküste eine zusätzlicheKraft beschäftigt, deren einzige Aufgabe darin besteht,mit einer Reisegruppe an 52 Wochenenden im Jahr einegeführte Wanderung im Watt zu unternehmen? Oderglauben Sie allen Ernstes, daß ein kleines Busunterneh-men im Schwarzwald eine zusätzliche Voll- oder Teil-zeitkraft beschäftigt, deren einzige Aufgabe wäre, dererwähnten Reisegruppe an den erwähnten 52 Wochen-enden den erwähnten Schwarzwald zu zeigen.
Ich habe drei Beispiele genannt, deren Reihe sich belie-big fortsetzen ließe. Eines zeigt sich: Ihre Regelung der630-Mark-Jobs ist praxisfern, vernichtet Arbeitsplätzeund bringt lediglich zweierlei, nämlich mehr Bürokratieund mehr Schwarzarbeit.
Wirte in meinem Wahlkreis sagen mir, Sie brauchtendie Aushilfen, könnten aber kein zusätzliches Personalbeschäftigen.
Wenn die 630-Mark-Regelung so bleibt, wie sie jetzt ist,dann gibt es eben 500 DM, und zwar schwarz. Das istfür den Arbeitgeber 240 DM billiger, für den Arbeit-nehmer 130 DM günstiger. Damit ist allen Beteiligten– wenigstens diesen zweien – gedient. Das Resultat ist:Wir haben mehr Schwarzarbeit. Sieht so Ihre revolutio-näre Beschäftigungspolitik aus?
Ihr Gesetz ist ein Sofortprogramm für mehr Schwarzar-beit. Beredte Experten auf diesem Gebiet heißen WalterMomper und Karl-Heinz Funke.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Onur?
Ich bitte um Ver-
ständnis, wenn ich angesichts – –
– Danke schön.
Es gibt auch Lernwillige. Ich will das durchaus aner-
kennen. Oswald Metzger hat in der „Frankfurter Rund-
schau“ vom 17. Mai erklärt: Wir haben ein schlechtes
Gesetz gemacht, das eine Einladung zur Schwarzarbeit
darstellt. Er folgert daraus, das Gesetz müsse korrigiert
werden. Es bringt aber nichts, an einem Murks herum-
zudoktern, weil nicht nur die Tourismusbranche, son-
dern auch die Sportvereine, die Universitäten, die
Volkshochschulen und nicht zuletzt auch die Gemeinden
darunter leiden.
Die Konfusion Ihrer Politik zeigt sich auch an anderer
Stelle. In der Antwort auf die Große Anfrage der F.D.P.
zur Wettbewerbssituation der Tourismuswirtschaft – wir
reden noch davon – erklärt die Bundesregierung, sie wolle
die Auswirkungen der 630-Mark-Regelung auf die Tou-
rismusbranche beobachten. Einen Absatz weiter oben fin-
det sich die bemerkenswerte Aussage, Daten über gering-
fügig Beschäftigte in der Tourismuswirtschaft lägen über-
haupt nicht vor. Ich frage Sie: Wie wollen Sie dann die
Auswirkungen überprüfen? Das ist doch Chaos pur. Das
Chaos in Deutschland hat mittlerweile einen oder – wir
wollen gerecht sein – zwei Namen, nämlich Walter Rie-
ster und Gerhard Schröder.
Was steht uns ins Haus? Der Deutsche Hotel- und
Gaststättenverband rechnet mit 200 000 Beschäftigten,
die – wohlgemerkt – aus eigenem Antrieb nicht mehr
weiterarbeiten wollen, weil es sich schlicht und einfach
nicht mehr lohnt. Weiter geht es: Taxigewerbe minus
10 Prozent – die sind schon weg, weitere 30 Prozent
sind auf dem Sprung –; Bäckerhandwerk minus 50 Pro-
zent; Zeitungszusteller minus 35 Prozent.
Die heutige Debatte müßte eigentlich jedem in die-
sem Hause einmal mehr deutlich machen, daß diese
Ausgeburt an Bürokratie, die sich ein Gesetz schimpft,
nicht auf den Prüfstand gehört, sondern in den Reißwolf,
und das ganze schnell.
Vielen Dank.
Herr KollegeDörflinger, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bun-destag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzenHauses.
Damit ist die Aussprache beendet.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/1005 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenErnst Burgbacher, Klaus Haupt, Jürgen Türk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derF.D.P.Wettbewerbsbedingungen für die deutscheTourismuswirtschaft im Euro-Land– Drucksachen 14/591, 14/1079 –Thomas Dörflinger
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3764 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
(C)
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derF.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen ErnstBurgbacher, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit dieser Tourismusdebatte
wollen wir eine oft viel zu sehr unterschätzte Branche
ein Stück weit in den Mittelpunkt der Politik rücken.
3 Millionen Arbeitsplätze, 8 Prozent Anteil am Brutto-
inlandsprodukt und geschätzt 400 000 potentielle Ar-
beitsplätze in den nächsten zehn Jahren – ich glaube, all
dies spricht für die Zukunft dieser Branche.
Die Branche ist weit mehr als andere von der Einfüh-
rung des Euro betroffen. Die positive Botschaft muß
heute eigentlich heißen: Reisen wird billiger. Das ist
eine gute Botschaft, aber der Wettbewerb wird auch
härter werden. Manche in diesem Hause werden das be-
dauern; wir als Liberale begrüßen das. Wir wollen Wett-
bewerb, weil wir Wettbewerb als Herausforderung und
als Chance für die ganze Tourismusbranche begreifen.
Wie schön und richtig klingt doch das Vorhaben der
Bundesregierung, wie sie es in der Antwort auf unsere
Anfrage beschreibt. Ich zitiere: Sie „will den Tourismus
als Motor der Beschäftigung weiterentwickeln und
durch geeignete Rahmenbedingungen in die Lage ver-
setzen, sich stärker am europäischen, aber auch globalen
Wachstum zu beteiligen“. Wenn aber Bekenntnis und
Handeln so weit auseinanderklaffen wie bei Rotgrün,
dann wird aus Politik ein Stück weit Heuchelei.
Das ist eine Methode, die alt ist, sehr alt. In Matt-
häus 23, Kapitel 1 heißt es unter der Überschrift „Gegen
Heuchelei und Verstockung“:
Sie reden nämlich nur und handeln nicht danach.
Wie wahr!
Wirtschaftsminister Müller hat auf der ITB einen re-
duzierten Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie ange-
kündigt. Am vergangenen Freitag hat die rotgrüne
Mehrheit einen Vorstoß der baden-württembergischen
Landesregierung im Bundesrat abgelehnt. Sie reden
nämlich nur und handeln nicht danach.
Der Vorsteuerabzug auf geschäftlich veranlaßte Be-
wirtung und Beherbergung ist abgeschafft worden. Jetzt
soll die steuerliche Abzugsfähigkeit betrieblich beding-
ter Bewirtungskosten gestrichen werden.
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob Ihnen
klar ist, was Sie hier machen. Sie werden Betriebe in
ihrer Existenz gefährden, und zwar gerade die Betriebe,
die am meisten ausbilden. Sie gefährden Ausbildung im
ganzen Bereich. Linkes Neiddenken ersetzt rationale
Politik. Das ist ein Kahlschlag, der die Tourismuswirt-
schaft insgesamt treffen wird.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Aber sehr gern.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Herr Kollege Burg-
bacher, nachdem wir gehört haben, daß der Bundes-
finanzminister festlegen will, daß die Bewirtungskosten
künftig nicht mehr steuerlich geltend gemacht werden
können, darf ich Sie fragen: Was halten Sie von meinem
Vorschlag, daß – wenn das abgeschafft wird – dann
auch der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister
zukünftig bei Einladungen die Bewirtung der Gäste aus
eigener Tasche bezahlen?
Ich kann nur sagen, daßich das für eine sehr gute Idee halte, Herr Kollege Kop-pelin.
Ich fahre fort in der Aufzählung, denn wir müssen dasheute einmal zusammenstellen. In der Antwort der Bun-desregierung finden sich zur Neuregelung der 630-DM-Jobs keine Kenntnisse über deren Zahl vermerkt. Nega-tive Folgen und Wettbewerbsnachteile sieht die Bundes-regierung nicht.Zur sogenannten Ökosteuer: Belastungen durch dieÖkosteuer lassen sich nicht beziffern. Es gibt keineStellungnahme zur DEHOGA-Aussage, daß das Gast-gewerbe netto mit über 1 Milliarde DM belastet wird.Sind das die versprochenen „geeigneten Rahmenbe-dingungen“? Ich sage: Sie reden nämlich nur und han-deln nicht danach.
Wir haben die Bundesregierung nach Wettbewerbs-vor- oder -nachteilen gegenüber den anderen EU-Ländern gefragt. Die Antwort heißt lapidar: Solche Vor-oder Nachteile sind nicht bekannt. In der Praxis aber hö-re ich von strikten Vorgaben und deren Umsetzung imdeutschen Baurecht, von kosten- und arbeitsintensivenAuflagen zum Beispiel im Bereich der Hygiene- undGesundheitsvorschriften, vom Mangel an MöglichkeitenVizepräsidentin Anke Fuchs
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3765
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des flexiblen Arbeitseinsatzes und von der langen Bear-beitungsdauer bei Baugenehmigungen, vom Laden-schluß- und Arbeitszeitgesetz und der Wochenendpro-blematik. All das sind Verschlechterungen und Wettbe-werbsnachteile. Nichts, aber auch gar nichts, kein Wortdavon findet sich in der Antwort der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, vieles wurde in den ver-gangenen Jahren positiv und im Konsens fertiggebracht,vieles übrigens mit liberalen Wirtschaftsministern wieGünter Rexrodt im Bund, Rainer Brüderle, Walter Hir-che und Walter Döring in den Ländern. Konsens gab esim Ausschuß und auch im Plenum.Wir wollen die DZT; sie arbeitet gut. Wir sollten unsdaher über eine bessere Ausstattung der DZT unterhal-ten, auch über eine mehrjährige Sicherheit, damit Wer-bekampagnen durchgeführt werden.
Der Masterplan des Bundesverbandes der deutschenTourismuswirtschaft muß im Dialog zwischen Politikund Tourismuswirtschaft umgesetzt werden. Erhöhungdes Stellenwerts der Dienstleistungen, Gleichgewichtvon Ökonomie und Ökologie, Sicherung der Mobilitätund Entwicklung regionaler Potentiale sind beispielhafteHandlungsbereiche.Wir wollen auch, daß die Expo 2000 gerade für diedeutsche Tourismuswirtschaft ein Erfolg wird.
Nach vielen Flops sind die Weichenstellungen jetzt einStück weit richtig erfolgt.Meine Damen und Herren, vieles ist im Konsens ge-schehen. Aber einen Vorwurf muß ich der Regierungmachen: Günstige Rahmenbedingungen werden imAugenblick massiv gefährdet. Wir, die Politik, müssendafür sorgen, daß die Rahmenbedingungen stimmen.Dann wird die Tourismuswirtschaft ihre Leistungenentfalten, und dann – da habe ich überhaupt keine Sor-ge – wird sie sich im europäischen Wettbewerb be-haupten.
Die F.D.P. fordert deshalb die Bundesregierung auf,im Interesse des Tourismusstandortes Deutschland ihreFehlentscheidungen schleunigst zu revidieren und gün-stige Rahmenbedingungen zu schaffen, statt sie zu zer-stören.
Die in der Tourismuswirtschaft Beschäftigten und dieje-nigen, die hier künftig eine Beschäftigung finden könn-ten, haben mehr verdient als die vorliegende nichtssa-gende Antwort. In deren Interesse hoffe ich, daß wir inder nächsten Debatte sagen können: Sie reden nicht nur,Sie handeln sogar danach.Danke schön.
Ich erteile dem
Kollegen Eckhard Ohl, SPD-Fraktion, das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Damen und Herren! Abgesehen von meinerMeinung, daß die Große Anfrage der F.D.P. mit derÜberschrift „Wettbewerbsbedingungen der deutschenTourismuswirtschaft im Euro-Land“ die Kriterien einerGroßen Anfrage nur unzureichend erfüllt,
weil nur reines Fachwissen abgefragt wird, freue ichmich als neuer Abgeordneter aus den neuen Bundeslän-dern besonders, die Beratung dieser Anfrage hinsichtlichprogrammatischer Politikorientierung zu bereichern.
Grundsätzlich ist die Einführung des Euro für diedeutsche Tourismuswirtschaft positiv zu bewerten,wenngleich hinsichtlich der Wettbewerbsbedingungennoch abzubauende regionale Unterschiede bestehen. DerEuro selbst präsentiert sich momentan nicht wie bei sei-nem von Euphorie geprägten Start. Aber ihn in seinenKinderschuhen bewußt schwachzureden ist wider besse-res Wissen ganz sicher das falsche nationale Signal.
Der momentan starke Dollar auf der Grundlage einerzweifelsohne florierenden US-Wirtschaft erlebte in denvergangenen Jahrzehnten gleichfalls viele Höhen undTiefen dieser Art. Nicht die seit September andauernde,zum großen Teil ironische, hämische und unsachlicheKritik, sondern die gemeinsame Verantwortung für dieErzeugung einer breiten gesellschaftlichen Bereitschaftzur Annahme der Herausforderung eines neuen Jahrtau-sends schafft ein vereintes Europa mit einer stabilenWährung. Davon wird auch die Tourismusbranche be-sonders in den neuen Bundesländern profitieren, wo dasErblühen der Tourismuswirtschaft sehnsüchtig erwartet,aber auch im Prozeß des Aufbaus neuer wirtschaftlicherStrukturen erarbeitet wird.Ausgewiesene Fachleute wie der künftige Präsidentder Bundeszentralbank, Ernst Welteke, stärken demEuro durch ihren Optimismus den Rücken. Die Einfüh-rung des Euro war und ist positiv zu bewerten. Ichschließe mich hier der Meinung der Bundesregierung an.
Die Einführung des Euro ist dementsprechend auchfür die deutsche Tourismuswirtschaft nützlich und vor-teilhaft. Der Euro hat keine Schwächen gezeigt. Wasseine Preisstabilität betrifft, zeigt er keinerlei inflationä-re Tendenzen. Er sorgt im Wettbewerb und so auch imTourismus als einem wichtigen Wirtschaftsfaktor fürgrößere Preistransparenz.Wenn Sie heute durch die momentan elf Euro-Staatenreisen und in jedem Land beispielsweise 100 DM tau-schen würden, hätten Sie am Ende von der Gesamtsum-me des getauschten Geldes allein die Hälfte davon fürGebühren ausgegeben. Das aber ändert sich mit der Ein-Ernst Burgbacher
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führung des Euro als Zahlungsmittel im Jahre 2002.Umtauschgebühren entfallen. Das kommt Millionen vonTouristen zugute, die ihren Urlaub in einem Euro-Staatverbringen – somit auch Deutschland in der Hoffnung,daß uns mehr ausländische Gäste besuchen. Schon jetztentfallen in den Euro-Staaten wettbewerbsverzerrendeWechselkursschwankungen, was unserem Tourismusbereits aktuell hilft.
Von der politischen Verantwortung, Chancengleich-heit zu garantieren, um den Wettbewerb in der Touris-musbranche auch in den neuen Bundesländern anneh-men zu können, um nicht nur national, sondern auch inEuropa zu bestehen – von der EU-Osterweiterung alsneuer Herausforderung gar nicht zu sprechen –, steht inIhrer Anfrage, meine sehr verehrten Damen und Herrender F.D.P., kein Wort.
Sie kehren die besondere Situation der neuen Bundes-länder vollkommen unter den Tisch.
Ich finde es bedauerlich, diesen Punkt nicht vorzufin-den, und bin froh, daß die aktuelle Politik der neuenBundesregierung dies anders sieht, praktiziert, erkenntund berücksichtigt. Trotz aller Probleme ist die Touris-muswirtschaft in den neuen Bundesländern ein Hoff-nungsträger. Wenn Preistransparenz in Europa allge-mein zu einem verstärkten Wettbewerb führt – worin ichIhnen recht gebe –, träfe das die neuen Länder ohne dieChance der weiteren Angleichung besonders hart.Touristische Hauptattraktionen in den neuen Ländernwie Thüringer Wald, Harz, Eichsfeld, Ostsee, Ucker-mark, Altmark oder Erzgebirge sind im Kommen. Städtewie Sondershausen, Bad Langensalza, Mühlhausen,
Eisenach oder die Kleinstadt Schlotheim im Umkreismeines Thüringer Wahlkreises haben in den zurücklie-genden Jahren Hervorragendes zur touristischen Ver-marktung geleistet.
Aber insgesamt konnten trotz aller Anstrengungen An-ziehungskraft und Vermarktung noch nicht den Stand er-reichen wie in gleichgelagerten Regionen in den altenBundesländern. Um ein Drittel müßte die Tourismus-wirtschaft zunehmen, um mit dortigen Standards gleich-zuziehen. Noch deutlicher: Dieses Drittel würde zirka100 000 Arbeitsplätzen entsprechen.Der hohen touristischen Attraktivität der neuen Bun-desländer stand 1990 ein großer infrastruktureller Nach-holbedarf gegenüber, der trotz guter Förderbedingungenauch einen hohen Anteil Fremdfinanzierung bei Hoch-zinsniveau notwendig machte, was sich heute im preis-lichen Angebot zum Teil negativ niederschlägt. DieseUmstände, gepaart mit noch zu geringer Auslastung– was wiederum Mehreinnahmen verhindert –, werdenvon steuerlichen Vorteilen und niedrigen Personalkostennicht kompensiert. Diese große Risikobereitschaft desprivaten Sektors braucht die finanzielle Begleitung deröffentlichen Hand noch über Jahre. Aber genau hiersetzt die Stunde der Wahrheit ein: Staatliche Verant-wortung und Begleitung und gerechtere Kostenvertei-lung in besonderen Situationen sind Ihnen ein Dorn imAuge. Zur Ehre gereicht Ihnen, daß Sie keinen Hehl dar-aus machen.Ein Beispiel zum Thema Ökosteuer: Am vergange-nen Sonntag wurde gegen mich Wahlkampf gemacht mitder Parole „In unserer Stadt im März Benzinpreis 1,48DM, heute 1,67 DM – wollten Sie das?“. 1,48 DM plus6 Pfennige sind für mich 1,54 DM. Wer kassiert unterdem Deckmantel der Ökosteuer die restlichen 13 Pfen-nige, so frage ich Sie. Ich beziehe mich dabei auf denvon jedem zu beobachtenden bundesweiten Trend.
Diese Beispiele könnte ich fortsetzen – besonders ausSicht der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundeslän-der –, über die von Ihnen mit geschaffenen Rahmenbe-dingungen der letzten Jahre bis hin zur Gebühren- undBeitragsentwicklung, besonders in den neuen Ländern.Unter gerechter Lastenverteilung verstehen Sie Steuer-entlastung bei gleichzeitiger Erhöhung der Förderungfür das Großkapital. Sie vergehen sich dabei am Arbeit-nehmer und am Mittelstand, selbstverständlich beson-ders am Dienstleistungsgewerbe und somit an der Tou-rismuswirtschaft. 1999, mitten in einem bisher nicht ge-kannten Globalisierungsprozeß des Großkapitals bei zu-nehmender Verabschiedung dieser Schicht von den na-tionalen Problemen – dies geschieht weltweit –, täu-schen Sie auf einmal Interesse für die kleinen Leute undden Mittelstand vor. Erkennen Sie diese Schieflage, wowir einen mühsamen Reparaturprozeß begonnen haben!Damit leisten Sie einen großen Beitrag auch für die Wett-bewerbsfähigkeit der Tourismuswirtschaft in Europa.
Die Verabschiedung der Agenda 2000 unter derRatspräsidentschaft Deutschlands mit dem Ergebnis derEingliederung der neuen Länder in die Ziel-1-Förderungwar deshalb von größter Bedeutung für die Wettbe-werbsfähigkeit der Tourismuswirtschaft. Dorferneue-rung, Stadtsanierung und Ausbau der Versorgungs-systeme sind für die nächsten Jahre gesichert und schaf-fen die Voraussetzungen für die Teilnahme an einemfairen Wettbewerb. Beseitigung verworrener Organisati-onsstrukturen und falschen Konkurrenzdenkens sindHausaufgaben, die selbstverständlich regional erledigtwerden müssen.
Erfreulich und hilfreich ist die neue Schwerpunktset-zung der Förderung der Inlandsvermarktung durch dieneue Bundesregierung. Zugegebenermaßen gibt es auchEckhard Ohl
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Negativbeispiele der Förderpolitik der letzten Jahre, bei-spielsweise die Spaßbad-Entwicklung in Thüringen, durchdie wertvolles Geld nicht flächendeckend wirksam wird.
Grundlagen für faire Wettbewerbsbedingungen derTourismuswirtschaft im Euro-Land sind mehr als ein-seitige Rahmenbedingungen für einen beispiellosenGlobalisierungsprozeß oder die Einführung einer ein-heitlichen Währung oder eine überschnelle, unbedachteOsterweiterung nur deshalb, um einen Absatzmarkt für80 Millionen Menschen zu bekommen. Ohne die Ver-antwortung für die daraus entstehenden Probleme füruns und die Menschen der beitrittswilligen Länder zubedenken, würde dieser Weg in eine Sackgasse führen.
Herr Kollege, den-
ken Sie an Ihre Zeit!
Annäherung der Steuersysteme,
Tarif- und Solidarsysteme stellt eine Herausforderung
für eine erfolgreiche europäische Politik dar. Dafür wa-
ren trotz aller Unkenrufe noch nie so deutliche Zeichen
erkennbar wie unter der neuen Bundesregierung. Große
und Kleine Anfragen ohne das Ziel programmatischen
Politikwettstreits erfüllen nicht den Anspruch unserer
Bürger, die Politik als gerechten Regulator zwischen
Klassen und Schichten zu sehen und somit für faire
Wettbewerbsbedingungen zu sorgen.
Danke.
Herr Kollege Ohl,
das war die erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
Nun hat das Wort der Kollege Klaus Brähmig,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Damen und Herren! Die heutige Diskussion überdie Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrageder F.D.P.-Fraktion zum Thema „Wettbewerbsbedin-gungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ gibt dem Parlament zum ersten Mal in dieser Le-gislaturperiode die Möglichkeit zu einer Generaldebatteüber die Tourismus- und damit natürlich auch über dieMittelstandspolitik der Bundesregierung.Einleitend schließe ich mich der Meinung meinesKollegen Burgbacher an, der in einer Pressemitteilungvom 27. Mai sinngemäß äußerte, die vorliegende Ant-wort der rotgrünen Bundesregierung sei ein Zeugnismangelnder Branchenkenntnis. Leider äußert sich diesemangelnde Branchenkenntnis nicht nur in der Theorie,sondern auch in der Praxis. Kaum ein Wirtschaftssektorhat eine solche Verschlechterung seiner Wettbewerbs-situation durch die bisherigen politischen Entscheidun-gen der rotgrünen Bundesregierung verkraften müssenwie die Tourismusbranche.
Ausdrücklich zu erwähnen sind hier das 630-DM-Gesetz, die Ökosteuer und das Jahressteuergesetz.Gleichzeitig weist Bundeswirtschaftsminister WernerMüller auf einer internationalen Konferenz privater Wirt-schaftsunternehmen in Dresden auf die großen – aber bis-her ungenutzten – Potentiale für neue Arbeitsplätze imBereich Tourismus hin. Dies ist nicht nur widersprüch-lich, sondern auch peinlich. Wir hoffen, daß wir nächsteWoche im Ausschuß mit Wirtschaftsminister MüllerLicht ins Dunkel des Tunnels bringen werden.Meine Damen und Herren, der Bürger hat bei denEuropa- und Kommunalwahlen ein deutliches Zei-chen gesetzt. Er ist nicht mehr bereit, die wachsendeDifferenz zwischen rotgrünem Reform- und Modernisie-rungsanspruch und der kläglichen Regierungswirklich-keit zu akzeptieren. Die im Wahlkampf von KanzlerSchröder umworbene Neue Mitte wendet sich angewi-dert von der neuen Bundesregierung ab. Ein Beispiel isthier die DEHOGA-Demonstration vor wenigen Tagenauf dem Münsterplatz. Dies mußte Kollegin UllaSchmidt ja vor zirka 5 000 Teilnehmern erfahren, alsman sich bei ihrer Rede tatsächlich abwendete.
Angesichts dieser falschen und fatalen Wirtschafts-politik haben die Tourismuspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits Ende Februar 1999 die Not-bremse gezogen und ein „12-Punkte-Sofortprogrammzur Sicherung und zum Ausbau des TourismusstandortsDeutschland“ verabschiedet. Dieses Papier ist von denFachverbänden mit großem Interesse aufgenommenworden und stellt einen Kompaß für die Verbesserungder Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen derTourismusbranche dar.Angesichts der Kürze der Redezeit erlaube ich mir,nur auf fünf Einzelmaßnahmen von besonderer Bedeu-tung einzugehen.Erstens. Das mittelstandsfeindliche Gesetz zur Neu-regelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisseder rotgrünen Regierung muß zurückgenommen werden.Gerade im Bereich des Hotel- und Gaststättenwesenssind viele Unternehmen in der Saison oder in Kapazi-tätsspitzen auf Beschäftigte aus dem Bereich der gering-fügigen Beschäftigung existentiell angewiesen.
Stellen Sie sich nur im nächsten Jahr einmal die EXPOvor, wo wir 20 Millionen Gäste und 40 Millionen Besu-cher dieses Geländes erwarten und natürlich auch dieGastronomie ein wichtiger Faktor ist, und das mit demjetzigen Gesetz! Ich denke, das ist ein unvorstellbarerZustand. Die mangelnde Flexibilität auf dem deutschenArbeitsmarkt darf nicht durch staatliche Eingriffe nochweiter zementiert werden.
Eckhard Ohl
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Zweitens. Die sogenannte ökologische Steuerre-form, die nachhaltig zur Mehrbelastung und Wettbe-werbsbenachteiligung der deutschen Tourismus- undVerkehrswirtschaft geführt hat, muß zurückgenommenwerden. Neben der Verteuerung von Strom und Kraft-stoffen für die Anbieter touristischer Leistungen, die derKunde zu tragen hat, wird die Kaufkraft des Kundenauch noch durch die erhöhten Anfahrts- und Transport-kosten verringert. Die Kostenbelastung der Betriebeliegt deutlich über der Entlastung durch die Senkung derLohnnebenkosten.
Viele kleine, als Familienbetriebe geführte Unter-nehmen profitieren nicht einmal von der Senkung derLohnnebenkosten.Drittens. Die Abschaffung des Vorsteuerabzugs beiGeschäftsessen und -reisen im Jahressteuergesetz, diezu einer nachhaltigen Wettbewerbsverzerrung für dieTourismusbranche geführt hat, muß zurückgenommenwerden. Weiterhin darf der angebliche Plan des Bundes-finanzministers, wonach Bewirtungsspesen nicht mehrsteuerabzugsfähig sein sollen, gar nicht erst in die Rea-lität umgesetzt werden. Dieser Vorschlag ist ein An-schlag auf die Existenz vieler mittelständischer Unter-nehmen im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Herr Finanzminister Eichel: Hände weg vom Mittel-stand, der Dienstleistungs- und Tourismusbranche, imRahmen Ihres Sparprogramms!
Viertens. Die Bundesregierung wird aufgefordert,sich für eine Erhöhung der finanziellen Mittel für dieMarketingarbeit der Deutschen Zentrale für Touris-mus einzusetzen, um den Tourismusstandort Deutsch-land national und international noch effizienter zu ver-markten und einen Beitrag zur Senkung des ständigwachsenden Defizits in der deutschen Reiseverkehrsbi-lanz von gegenwärtig über 50 Milliarden DM zu leisten.Der DZT steht dieses Haushaltsjahr ein Budget von55 Millionen DM für ihre Auslandsmarketingarbeit zurVerfügung. Von diesem Betrag fließen wegen der hoheninfrastrukturellen Fixkosten nur rund 15 Millionen DMin die operative Marketingarbeit. Im Vergleich dazu in-vestiert unser europäischer Nachbar Schweiz umgerech-net 63 Millionen DM in das Auslandsmarketing, wozudie eidgenössische Bundesregierung 41 Millionen DMbeisteuert. Irland investiert 114 Millionen DM ins Mar-keting – letztendlich mit Erfolg.Fünftens. Nachdem sich die Bundesregierung trotzder deutschen Ratspräsidentschaft auf keine Beibehal-tung des innergemeinschaftlichen Duty-Free-Handelsmit den europäischen Partnern einigen konnte, werdenallein in Deutschland schätzungsweise 10 000 Arbeits-plätze ersatzlos wegfallen, davon 5 700 in struktur-schwachen Regionen der norddeutschen Küstenländer.Daher rufen wir die Bundesregierung auf, eine sechs-monatige Übergangsfrist für den Duty-Free-Handel zuerwirken. Die gewonnene Zeit sollte von der Bundesre-gierung gemeinsam mit den Ländern genutzt werden,geeignete Fördermaßnahmen durch EU und Bund für diebetroffenen deutschen Ferienregionen zu koordinierenund parallel dazu entsprechende finanzielle Mittel zurVerfügung zu stellen.Im großen und ganzen decken sich unsere Forderun-gen mit dem Entschließungsantrag der F.D.P. UnsereZustimmung, lieber Herr Burgbacher, können wir demEntschließungsantrag dennoch nicht erteilen, da wireinen völligen Wegfall der Trinkgeldbesteuerung ausrechtlichen Bedenken ablehnen.Die rotgrüne Bundesregierung ist mit dem Wahl-kampfversprechen angetreten, die hohe Arbeitslosigkeitmassiv zurückzuführen. Der Erfolg kann aber nur danneintreten, wenn personalintensive Bereiche, wie bei-spielsweise die Tourismusbranche, entsprechende Wett-bewerbsbedingungen vorfinden.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Re-gierungskoalition: Lernen Sie aus den Wahlergebnissendes letzten Wochenendes! Ein radikaler Neuansatz inIhrer Wirtschafts- und Sozialpolitik ist dringend geboten.Unser Wunsch ist eindeutig: Entlasten Sie den Mittel-stand und die deutschen Arbeitgeber von staatlicher Be-vormundung und finanzieller Belastung! Sie werden esunserer Gesellschaft mit der Sicherung und Schaffungneuer Arbeitsplätze und Lehrstellen entlohnen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich möchte kurz auf den Antrag derF.D.P.-Fraktion eingehen und danach die Zeit nutzen,um einige Vorstellungen der PDS-Fraktion zu äußern,wie sie sich die Tourismusentwicklung in der Europäi-schen Union vorstellt.Eine Forderung in dem Antrag der F.D.P. befaßt sichmit der Einführung eines verminderten Mehrwertsteuer-satzes für die deutsche Hotellerie. Eine Wende in dieserPolitik und eine Harmonisierung der Steuern in derEuropäischen Union ist für die nächste Zeit aus meinerSicht sicher ein wichtiges Thema, bei dem es sichtbareFortschritte geben muß. Wenn aber Markt und kapita-listische Konkurrenz – Sie sprechen in Ihrem Antragallerdings von „verschärftem Wettbewerb“ – für alle Be-reiche des gesellschaftlichen Lebens in Europa das ent-scheidende Gestaltungsprinzip sein sollen, dann könnenSie doch nicht, wenn dieser Markt versagt, einseitignach einer staatlichen Lösung rufen. Sie von der F.D.P.-Fraktion hätten übrigens während Ihrer RegierungszeitGelegenheit gehabt, diese Bedingungen zu ändern. Ichmöchte Sie auf die Richtlinien der Europäischen Wirt-schaftsgemeinschaft vom Juli 1994 hinweisen, in denenin Abschnitt IX, Artikel 12 Anhang H Punkt 11 Rege-lungsmöglichkeiten gegeben waren.Sie wissen sicherlich genausogut wie ich, daß auf-grund der bisherigen Steuervergünstigungen in denKlaus Brähmig
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letzten Jahren Hotels und Pensionen, besonders in denneuen Bundesländern, wie Pilze aus dem Boden ge-schossen sind.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burg-
bacher?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Frau Kollegin Neuhäu-
ser, würden Sie mir zustimmen, daß – so steht es auch in
unserem Antrag – jetzt die Notwendigkeit besteht, zu
einigermaßen vergleichbaren Steuersätzen, was die
Mehrwertsteuer betrifft, zu kommen? Denn wir haben
seit dem 1. Januar dieses Jahres den Euro, und der Euro
verändert den Wettbewerb fundamental, weil die Men-
schen jetzt Preise vergleichen können. Da die Preise
jetzt vergleichbar sind, macht es bei einem Nettopreis
von 100 Euro einen Unterschied, wenn ich in Deutsch-
land 116 Euro und in Frankreich 105,50 Euro bezahle.
Ich kann Ihnen prinzipiellzustimmen. Deswegen habe ich vorhin gesagt, daß eineGesamtharmonisierung des Steuerwesens im europäi-schen Rahmen notwendig ist. Es geht nicht nur um die-sen Punkt allein.Es wäre sicherlich wichtig zu prüfen, ob Ihr Antraggenau die Lobby bedient, die die günstigen Investitions-und Abschreibungsmöglichkeiten genutzt hat, ohne zu-vor den tatsächlichen Bedarf ermittelt zu haben. Siewollen mit Ihren Forderungen neue Steuergeschenke fürdie Wirtschaft und benutzen die Schaffung von Arbeits-plätzen als Alibi für Ihren Antrag.Ich möchte nun einige Gesichtspunkte meiner Frak-tion zur Zukunft des Tourismus in Deutschland ineinem vereinten Europa aufzeigen.Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten hat die Tou-rismusbranche ein sehr gutes Image, weil sie mit festprogrammierten Wachstumsraten gehandelt wird und sodie Gewähr für die Sicherung von Arbeitsplätzen bietet.Derzeit beschäftigt die Tourismusbranche bundesweit– das hat Herr Burgbacher vorhin schon dargelegt – fast3 Millionen Menschen. Mit nahezu 70 000 Ausbil-dungsplätzen und einem Frauenanteil von zirka 60 Pro-zent erfüllt sie darüber hinaus eine wichtige sozialeFunktion.Für mich und meine Fraktion steht auch unter markt-wirtschaftlichen Bedingungen der Mensch im Mittel-punkt aller Aktivitäten, in diesem Falle der touristischenAktivitäten, ob als Reisender, Beschäftigter, Auszubil-dender oder auch als Gastgeber, wobei zu den Gastge-bern für uns nicht nur die Hoteliers und Pensionsbesitzerzählen, sondern auch und vor allem die Bevölkerungund die regionalen Tourismusinstitutionen, die in mühe-voller ehrenamtlicher Arbeit regionaltypische Besonder-heiten nutzen, um aus ihnen heraus Angebote für diegroße Bandbreite der Zielgruppen zu entwickeln.Sie alle gehören für uns, wenn es um neue konzeptio-nelle Überlegungen der deutschen Tourismuswirtschaftin einem vereinten Europa geht, in die Beratungen umeine neue Produktgestaltung und auch Produktentwick-lung, in die Beratungen um ein stimmiges Preis-Leistungs-Konzept und in die Beratungen um eine neueZielgruppenarbeit. Des weiteren muß es uns gelingen,daß dafür die Tourismusbranche und die Politik aufBundes-, Landes- und Kommunalebene eine weitereVerbesserung der Rahmenbedingungen erwirken.Wichtige Rahmenbedingungen sind für uns – si-cherlich gehen wir da, was die Forderungen der F.D.P.betrifft, inhaltlich ein Stückchen auseinander –: derweitere Ausbau der Tourismusbranche als Dienstlei-stungsunternehmen, attraktivere Arbeitsbedingungen fürdie dort Beschäftigten, die Frage der Entlohnung unddamit die Regelungen im Umgang mit geringfügigenBeschäftigungsverhältnissen – das hat vor allem dievorhin geführte Debatte gezeigt –, flexiblere Arbeits-zeiten, der vorbeugende Arbeitsschutz, die Modernisie-rung der touristischen Infrastruktur. Dazu gehören auchUmgestaltungsprogramme zur Entwicklung eines nach-haltigen Tourismus, kinder-, jugend- und familien-freundliche Urlaubsangebote und Angebote für barriere-freies Reisen.Werte Damen und Herren, in diesem Zusammenhangsei mir gestattet, auf ein Problem der neuen Bundeslän-der hinzuweisen. Die Touristikinformationen, Fremden-verkehrsämter, Tourismusverbände und weitere touristi-sche Institutionen, die ich hier nicht weiter aufzählenwill, sind in den neuen Bundesländern zu mehr als50 Prozent mit ABM-Kräften besetzt, etwas, was in denalten Bundesländern undenkbar ist. Eine ABM-Kraft indiesem Bereich ist da die Ausnahme. Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahmen können auf Dauer keine Lösung fürdie Tourismusbranche sein. Dort, wo Erlebnistourismusund eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus ange-strebt werden, sind Qualität und Kontinuität in der Be-schäftigung der eingearbeiteten und ausgebildeten Per-sonen dringend geboten. Im Rahmen einer Reform derKommunalfinanzen muß hier die notwendige finanzielleSicherheit der Kommunen und Landkreise gewährleistetwerden. Das Initiieren zeitweiliger, mehrjähriger ge-meinsamer Fonds kommunaler Verwaltungen und tou-rismusrelevanter bzw. tourismusfördernder Zweige derWirtschaft, des Gewerbes und der Dienstleistungen inden neuen Ländern zur Überwindung der unbefriedigen-den ABM-Lösungen ist ein weiteres Problem, das unbe-dingt gelöst werden muß, um Provisorien auch in denneuen Bundesländern schrittweise zu überwinden.Vertreter der Fachwelt, insbesondere der Wissen-schaft, warnen vor zu großer Euphorie. Der aktuelleAufwärtstrend ist erfreulich. Er berechtigt aber nicht zueindeutigen Rückschlüssen auf die Perspektive des Tou-rismus insgesamt.Vielen Dank.
Rosel Neuhäuser
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Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Sylvia Voß, Bündnis 90/Die Grünen.
WertePräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 29 Jahrelang hatte die F.D.P. Zeit, die Wettbewerbsbedingungenfür die deutsche Tourismuswirtschaft zu verbessern.Man fragt sich doch, von welchem Sachverstand dieseBemühungen getragen waren, wenn sich die F.D.P.-Fraktion jetzt, acht Monate nach dem Gang in die Oppo-sition, von der rotgrünen Bundesregierung über steuer-liche, arbeitsrechtliche, bauwirtschaftliche, seuchen-hygienische Wettbewerbsvor- und -nachteile der deut-schen Tourismuswirtschaft informieren läßt.
Mit der Einführung des Euro – die F.D.P. möchte jaheute über die „Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ de-battieren – hat sich die Wettbewerbssituation der euro-päischen und damit der deutschen Tourismuswirtschaftverbessert. Wirtschaft und Konsumentinnen und Kon-sumenten profitieren gleichermaßen davon bzw. werdenzukünftig davon profitieren: erstens davon, daß dieFremdwährungskosten – immerhin bis zu 5 Prozentder Reisekosten – grenzüberschreitende Wechsel undÜberweisungsvorgänge und für die Absicherung vonWechselkurs- und Zinsrisiken entfallen. Diese Kostenentstehen bisher hauptsächlich dadurch, daß die Touri-stikunternehmen ihre Reisekapazitäten bereits ein biseineinhalb Jahre im voraus buchen und die Währungenabsichern müssen. Zweitens profitieren sie davon, daßdie Differenzen zwischen An- und Verkaufskursen derbenötigten Devisen nicht mehr anfallen, drittens davon,daß Reisende, die oft mehrere Länder pro Urlaub besu-chen, von den anfallenden Unannehmlichkeiten des De-visenumtauschs und von Wechselgebühren befreit sind,wenn auch in Gänze erst ab Januar 2002. Das Reisen inEuropa wird einfacher, und dies kommt letztlich Urlau-berinnen und Urlaubern und Anbietern gleichermaßenzugute. Sie profitieren viertens davon, daß die Euro-Zone zusätzlich Investoren aus dem Nicht-Euro-Raumanlockt, daß sie sich inzwischen zur weltweit führendenTourismusregion entwickelt,
empfängt doch „Euro-Land“, wie Sie es nennen, schonheute jährlich rund 90 Millionen Besucher von außer-halb und damit fast doppelt so viele Gäste wie die USA.Die mit dem Euro gegebene Möglichkeit zu einervergleichenden Reiseentscheidung wird nur langsam ge-nutzt werden. Laut Forschungsgemeinschaft Urlaub undReisen läßt die Euro-Einführung die deutschen Urlauberderzeit ganz und gar kalt.
Nur 7 Prozent aller Deutschen glauben nämlich, daß dieMöglichkeit, Preise innerhalb Europas besser zu verglei-chen, ihr Urlaubsverhalten beeinflussen wird. 77 Prozentsind der Meinung, daß diese neue Währung bei ihrenReiseplanungen keine Rolle spielen wird.Noch eine Anmerkung zum derzeit beliebten Ka-puttreden des Euro. Es ist unverantwortlich und esschwächt das Vertrauen in die gemeinsame europäischeWährung, das in der deutschen Bevölkerung schließlicherst während der vergangenen Monate ziemlich langsamund immerhin parteiübergreifend aufgebaut werdenkonnte.
Der aktuelle Wechselkurs des Euro gegenüber demUS-Dollar ist nichts so Außergewöhnliches, wie esmancher Parteipolitiker hier glauben machen will, undkann daher mit Gelassenheit betrachtet werden.Claus Köhler, Ex-Direktoriumsmitglied der Deut-schen Bundesbank, hat es klar ausgesprochen: Wie derEuro war auch die deutsche Währung nach innen äußerststabil, schwankte aber nach außen stark. – Der Europäi-sche Rat hat beschlossen, den Euro frei schwanken zulassen, und frei schwankende Währungen – wen wun-dert's? – schwanken halt auch. Immer wieder kommt eszu beachtlichen Kurssteigerungen und Kurssenkungen.Die älteren Auslandsurlauber unter Ihnen werden sichvielleicht noch entsinnen, daß sie 1985 auf den USA-Trip verzichteten, als 3,47 DM für den Dollar zu zahlenwaren. Im April 1995, zehn Jahre später, bekam manden Dollar dagegen für schlappe 1,42 DM. Tja, liebeKolleginnen und Kollegen, so ging es schon immer aufund ab mit unserer schönen deutschen Mark. Wer beimjetzigen Euro-Kurs das Flattern bekommt, sollte sich beiden Deutsche-Bundesbank-Senioren therapieren lassen,statt Unruhe zu stiften.
Da die direkte Vergleichbarkeit der Preise in denEuro-Ländern mittel- bis langfristig den Konkurrenz-druck in der Tourismusbranche erhöhen wird – dassollten die Damen und Herren der Marktliberalen abernicht beklagen, sondern freudig begrüßen –, setzen sichBündnis 90/Die Grünen für faire europäische Wettbe-werbsbedingungen und die Stärkung des Tourismus-standortes Deutschland ein.Stellen wir uns doch einmal vor, CDU/CSU undF.D.P. hätten die Wahl 1998 gewonnen.
– Das kann ich mir vorstellen. – Was wäre denn touris-muspolitisch geschehen bzw. nicht geschehen?Erstens. Die Zuschüsse für die DZT, jetzt immerhinaufgestockt, wären trotz des sicherlich heroischen Wi-derstandes eines einzelnen CDU-Abgeordneten so wiegeplant gekürzt worden.
Zweitens. Der gastgewerbliche Mehrwertsteuersatzbliebe, wie er ist. Die Begründung wäre die, die der da-malige Parlamentarische Staatssekretär Hansgeorg Hau-ser, CDU/CSU, 1997 gab:
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Die Umsatzsteuer ist bei den in Rede stehendenUmsätzen nur einer von vielen preisbestimmendenFaktoren und dürfte nicht für die Entscheidung aus-schlaggebend sein, ob ein Urlaub zum Beispiel inSpanien oder Deutschland verbracht wird.Weiter betonte er, daß das Hauptziel der Regierung dieHaushaltskonsolidierung sei und von daher von der um-satzsteuerlichen Behandlung der Hotelumsätze nicht ab-gegangen werden könne. Bündnis 90/Die Grünen sindfür einheitliche Mehrwertsteuern für Europas Hotels undGaststätten durch europäische Harmonisierung.Drittens. Die Lohnnebenkosten wären, wenn Sie dennan die Macht gekommen wären, obwohl das Gejammerweiter groß wäre, hoch wie eh und je. Erst mit der Öko-steuer wurden reale Verbesserungen in der Wettbe-werbssituation arbeitsintensiver Unternehmen erzielt.
Viertens. Familien, deren steuerliche Entlastung jetztdurch das Steuerentlastungsgesetz erreicht wurde, wür-den weiterhin vergeblich auf eine Verbesserung ihrerfinanziellen Situation warten. Statt dessen freuen sichjetzt die Familien und die Tourismuswirtschaft. Letzteresieht den Grund für die zu verzeichnende verstärkte Bu-chungsfreude der Familien nämlich in der Steuerentla-stung mit ihrem geldwerten, aber auch psychologischenMoment.Wir haben also einiges auf den Weg gebracht.
Vieles von der Hinterlassenschaft der F.D.P. und derCDU/CSU, die für die Wirtschaftspolitik der vergange-nen Jahre verantwortlich zeichneten, ist noch in Ord-nung zu bringen.Einen Satz aus Ihrem Antrag finde ich richtig gut; dawerde ich Sie noch einmal beim Wort nehmen. In ihmwird die Bundesregierung nämlich aufgefordert,darauf hinzuwirken, daß EU-Regelungen konse-quent in das jeweilige nationale Recht umgesetztwerden.Sie haben das jahrelang nicht getan, zum Beispiel beider FFH-Richtlinie. Statt dessen haben Sie sozusagen inStrafgelder investiert, die wir demnächst vielleicht zuzahlen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte hieraber auch daran erinnern, daß Bundesregierung, Länder-regierungen und EU lediglich die Rahmenbedingungenfür die Tourismuswirtschaft schaffen. Entscheidend sinddie unternehmerischen Aktivitäten. Hier liegt nochsehr vieles im argen. Es kann doch zum Beispiel nichtsein, daß massiv in mehr und mehr Hotels investiertwird und man dann klagt, daß diese nicht ausgebuchtsind. Dafür können Sie schwerlich die Bundesregierungin Haftung nehmen.Abschließend einige wenige und sehr kurze Bemer-kungen zur Umweltproblematik, die sich in der Anfrageder F.D.P. nur in der Winzigkeit eines Ligusterblätt-chens – ich habe ein solches einmal mitgebracht; es hatnicht einmal die Größe eines Feigenblattes – findet. Da-bei ist der zentrale Ansatz für die Zukunft des Touris-mus die Umweltpolitik. Intakte Landschaften zusammenmit kultureller und biologischer Vielfalt sind nämlichunersetzliche Ressourcen für jede touristische Aktivität,und zwar überall in Europa.
Auch wir hier in Deutschland tragen Verantwortungfür das Verbauen und Zerstören von Küsten in Südeuro-pa, um bloß ein Beispiel zu nennen. Die Pflege derSchönheit der Orte, des Brauchtums, traditioneller Ge-werbe, Schutz der Natur und der Landschaft sind näm-lich gleichzeitig eine Pflege der wichtigsten touristi-schen Angebotspotentiale. Eine direkte Förderung stadt-bildbewahrender und landschaftspflegender Aktivitätendurch den Tourismus – damit kommen wir zu dem, waswir schon heute früh hatten: als zweites Standbein fürdie Bauern, die Sie so gern vertreten wollen – istgleichwohl eher selten anzutreffen. Hier gibt es noch er-heblichen Nachholbedarf.Den Wechselwirkungen zwischen Tourismus undUmwelt muß erheblich stärker als bisher Rechnung ge-tragen werden. Das schließt eine vernünftige Lenkungvon Besucherströmen ebenso ein wie faire Wettbe-werbsbedingungen zwischen den Verkehrsmitteln. Des-halb bleibt es auch bei unserer Forderung nach Abschaf-fung der Kerosinsteuerbefreiung im Rahmen der Har-monisierung der europäischen Steuern.
Da die F.D.P. nun nicht im Europaparlament vertretenist – als öffentliches Zeichen, wie Herr Brähmig das vor-hin sagte –, wäre es doch schön, wenn Sie uns mindestensim Bundestag tatkräftig dabei unterstützen würden, denTourismus auch durch mehr Umwelt- und Naturschutz zustärken. Denn wenn wir das nicht tun, entziehen wir demTourismus generell die Lebensgrundlage. Dann nutzt unsim „Euro-Land“ auch ein Euro nichts.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Prä-sidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! KeinemWirtschaftszweig in Europa kommt im Bereich Kulturund Völkerverständigung eine größere Bedeutung zu alsdem der Tourismuswirtschaft.
Sylvia Voß
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3772 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Allein aus diesem Grund wären alle Anstrengungen zurechtfertigen, den deutschen Fremdenverkehr im euro-päischen Binnenmarkt konkurrenzfähig zu machen.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wollen unseren Beitragdazu leisten.
Denn der Tourismus hat zudem einen nicht unerhebli-chen Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Es ist daher gera-de jetzt, nach der Einführung des Euro, von eminenterBedeutung, daß von der Bundesregierung Rahmenbe-dingungen geschaffen werden, welche der deutschenTourismuswirtschaft faire Wettbewerbschancen bieten.
Aber gerade das Gegenteil ist der Fall.
Es ist schon reichlich kühn von der Bundesregierung,den deutschen Beherbergungsbetrieben in der Antwortauf die Große Anfrage der F.D.P. klipp und klar zu sa-gen, daß sie, um die Finanzierungslücken der RegierungSchröder zu stopfen, Wettbewerbsnachteile in Milliar-denhöhe zu erdulden haben.
Statt, wie von meiner Fraktion gefordert, die Beherber-gungsumsätze nach dem geltenden Gemeinschaftsrechtmit einem ermäßigten Steuersatz zu belegen
und damit auch für eine Angleichung der Wettbewerbs-bedingungen in der europäischen Tourismuswirtschaftzu sorgen, betreibt die Bundesregierung mit ihrerSteuerpolitik geradezu eine protektionistische Politik,allerdings zugunsten der Beherbergungsbetriebe in denbenachbarten EU-Ländern.
Gerade das Beispiel meiner ohnehin benachteiligtenRegion, der Westpfalz, zeigt sehr deutlich, daß sich dieGäste schon sehr gut überlegen, ob sie mit ihren Über-nachtungen die Preispolitik der Bundesregierung unter-stützen oder ob sie lieber ein paar Kilometer weiter insbenachbarte Elsaß fahren, wo sie 10,5 Prozent wenigeran Steuern für die Übernachtung zu zahlen haben.
Ich habe mit den Hoteliers in meiner Heimat gespro-chen. Sie weisen zu Recht auf diesen Mißstand hin. Dasmacht bei einem Preis von 120 DM rund 13 DM aus,wohlgemerkt pro Nacht.
Auch in Belgien liegt der Steuersatz mit 6 Prozent, inLuxemburg mit 3 Prozent und in den Niederlanden mit6 Prozent erheblich unter den Forderungen des deut-schen Finanzministers.Meine Damen und Herren von der linken Seite, sor-gen Sie dafür, daß dieser Wettbewerbsnachteil beseitigtwird!
Dem Fremdenverkehr wird damit außerdem das wirt-schaftliche Entwicklungspotential genommen, das erbenötigt, um strukturschwache Regionen an einer wirt-schaftlichen Entwicklung teilhaben zu lassen.Die Koalition muß sich schon sagen lassen, daß siemit ihrer Politik ihr möglichstes tut, um den Tourismus-standort Deutschland zu ruinieren.
– Moment, das kommt jetzt. – Deflexibilisierung derArbeitsverhältnisse, Ökosteuer, erhöhte Umsatzsteuer,und als ob das noch nicht genug wäre, droht die Koali-tion auch noch mit der Streichung der steuerlichen Ab-setzbarkeit von Bewirtungsspesen.Was haben Sie vor der Wahl versprochen, und wastun Sie jetzt? Sie lösen auch hier nicht ein, was Sie ver-sprochen haben.
Das alles bedeutet ganz einfach, daß die Regierungbilligend einen gravierenden Wettbewerbsnachteil fürdie deutsche Tourismusbranche in Kauf nimmt, umihren unsoliden Haushalt zu konsolidieren.
In diesem Zusammenhang ist es schon eine seltsameVerfahrensweise, auf einen europäischen Beschäfti-gungspakt hinzuweisen, während man im eigenen Landeine arbeitsplatzvernichtende Politik betreibt.
Das heißt im Klartext, daß man von einer gemeinsamenArbeitsmarktpolitik im Euro-Land die Ausbügelungeigener Unzulänglichkeiten erwartet. Wenn das Ganzeauch noch unter der Ratspräsidentschaft von GerhardSchröder stattfindet, heißt das, in Europa Wein zu predi-gen und den Menschen zu Hause Wasser einzuschenken.Dafür haben Sie zu Recht am letzten Sonntag die Quit-tung bekommen.
Statt mit der Vernichtung ungezählter geringfügigerBeschäftigungsverhältnisse den Fremdenverkehr inDeutschland zu einem Stiefkind der wirtschaftlichenEntwicklung werden zu lassen, stünde es der Bundesre-gierung besser zu Gesicht, endlich den Wettbewerbsver-zerrungen entgegenzuwirken.Meine Damen und Herren, es darf nicht soweit kom-men, daß mit der Währungsunion, die allerorts als großeChance begriffen wird, der Tourismus in Deutschlanddurch die Politik der Bundesregierung schwer geschä-digt wird.Herzlichen Dank.
Anita Schäfer
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Frau Kollegin Schä-
fer, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Renate Gradi-
stanac.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Der Tourismuswird ein immer wichtigerer Wirtschaftsfaktor. Der An-teil am Bruttosozialprodukt von zirka 8 Prozent zeigt,welch große beschäftigungs- und strukturpolitische Be-deutung er hat. Die Wettbewerbsfähigkeit der Touris-muswirtschaft ist deshalb durch qualitativ hochwertigeAngebote und günstige Rahmenbedingungen zu sichern.
Als Tourismuspolitikerin fällt mir wie auch Ihnen, mei-ne Damen und Herren von der Opposition, unter ande-rem ein: Wir könnten den Mehrwertsteuersatz senkenoder halbieren oder eine Neuregelung der Trinkgeldbe-steuerung für diese Branche ins Auge fassen.Unser Wirtschaftsminister, Herr Müller, hat – daranhabe ich mich natürlich auch erinnert – auf der Touris-musbörse in Berlin im Frühjahr das richtige Signal ge-setzt.
– Ja. – Um die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern,hat er den Vorschlag gemacht, die Mehrwertsteuer fürdas Hotel- und Gaststättengewerbe zu halbieren.
Der Vorschlag muß ernsthaft geprüft werden. Er mußjedoch in eine Steuerreform und in eine europäischeHarmonisierung eingebettet werden. Mit unserer Unter-stützung kann er jedenfalls rechnen.
Wenn wir nun einen Blick auf unsere Regelmehr-wertsteuersätze werfen, stellen wir fest, daß wir imeuropäischen Vergleich an zweitgünstigster Stelle lie-gen; nur Luxemburg hat günstigere Sätze. Die niedrig-sten Steuern und – nach Herrn Brähmig – die höchstenSubventionen im Tourismus, das ist nicht zu finanzieren.Wenn wir etwas bei den Mehrwertsteuersätzen ver-ändern wollen, so sehe ich drei Möglichkeiten. Die ersteMöglichkeit wäre, die Beherbungsbetriebe mit einemermäßigten Mehrwertsteuersatz zu besteuern, wie jetztauch Herr Ministerpräsident Teufel vorgeschlagen hat.Dies würde zu Steuermindereinnahmen von 1,35 Mil-liarden DM jährlich führen. Allerdings muß man sichdann auch die Frage stellen, ob dies aus steuersystemati-schen Gründen sinnvoll ist. Andere Branchen wollendann womöglich auch eine solche Bevorzugung.
Die zweite Möglichkeit ist, das Hotel- und Gaststätten-gewerbe zusammen durch eine Halbierung des Mehr-wertsteuersatzes zu entlasten. Die Steuerausfälle würdendann bei 4 bis 5 Milliarden DM liegen. Die dritte Mög-lichkeit ist, den gesamten Dienstleistungsbereich inDeutschland entsprechend zu entlasten. Dazu müßte dasGemeinschaftsrecht geändert werden. Ein Vorschlag derEuropäischen Kommission und ein einstimmiger Be-schluß des EU-Ministerrates wären hierzu nötig. Steuer-ausfälle – ich sage das, damit wir das einfach einmal ge-hört haben – in einer Größenordnung von 30 bis 40 Mil-liarden DM müßten veranschlagt werden. Natürlichdrängt sich nicht nur mir die Frage auf: Wie soll das ge-genfinanziert werden? Nur nach dem Prinzip Hoffnungkann man keinen seriösen Haushalt aufstellen.
Bei der kritisierten Trinkgeldbesteuerung gibt esmehrere Wege. Ministerpräsident Teufel hat gefordert,den Freibetrag von 2 400 DM auf 3 600 DM zu erhöhen.Das ist eine Möglichkeit. Ich gebe aber zu bedenken,daß er damit an der Systemgrenze in unserem Steuer-recht rüttelt. Ich denke, es gibt einen eleganteren Weg,den wir Ihnen bei gegebenem Anlaß vorstellen werden.
– Wir müssen noch ein bißchen in petto behalten.Ich möchte kurz daran erinnern, daß wir bei unsererjüngsten Steuerreform den Mittelstand um zirka 5 Mil-liarden DM entlastet haben
und unsere geplante Umsatzsteuerreform, die von einemmaximalen Steuersatz in Höhe von 35 Prozent ausgeht,nicht nur ein Schritt in die richtige Richtung ist, sondernein Sprung.
Bevor wir aber immer nur darauf schauen, wie derStaat seine Einnahmen verringern kann, wende ich michden wirklichen Problemen der Tourismusbranche zu. Ichstelle fest, daß erstens ein ruinöser Wettbewerb inner-halb der Branche stattfindet und zweitens die Preise ein-kommensbereinigt den niedrigsten Stand erreichthaben. Diese haben drittens dazu geführt, daß Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter regelrecht ausgepreßt werdenund viertens die Servicebereitschaft darunter leidet.
Ich fordere daher die Branche auf, ihr Verhalten aufdem Markt zu überprüfen. Eine weitere Abwärtsspiralezu Lasten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist nichtzu verantworten.
Ich möchte nun drei Schwerpunkte der TourismusAG in dieser Legislaturperiode ansprechen. Wir wolleneine Qualifizierungs- und Weiterbildungsoffensive
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für die Beschäftigten unterstützen. Die neue Bundes-regierung hat dafür im Haushalt 5 Millionen DM zu-sätzlich eingestellt. Nur mit gut aus- und weitergebilde-ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern können wirim Dienstleistungswettbewerb bestehen.
Ich wünsche mir, daß unverwechselbare Regionen-profile entstehen, die durch Regionalleitbilder Gestaltannehmen könnten. Die Einzigartigkeit – das ist dasZauberwort – der jeweiligen Tourismusregion, die zurUnverwechselbarkeit führt und gleichzeitig Identitätstärkt, muß vor Ort herausgearbeitet werden. DiesenProzeß werden wir natürlich zusammen mit den Ländernunterstützen.
Nur wenn ich ein stimmiges Produkt habe, kann iches auch erfolgreich vermarkten. Die neue Bundesregie-rung hat deshalb ein spezielles Standortmarketing fürDeutschland durch eine besondere Förderung der Deut-schen Zentrale für Tourismus unterstützt, das neben dergezielten Auslandsbewerbung seit Anfang 1999 ermög-licht, auch ein länderübergreifendes Inlandsmarketing zubetreiben. Ich wünsche mir, daß sich die Opposition mitden wirklichen Problemen der Tourismuswirtschaft aus-einandersetzt,
anstatt populistische Forderungen aufzustellen, mit de-nen sie nur den Bundeshaushalt belastet.
Ihrem Antrag werde ich übrigens nicht zustimmen.
Frau
Kollegin Gradistanac, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch!
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Hinsken,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Koffer sind für dieschönste Zeit des Jahres gepackt. Die Reiselust ist unge-brochen, anscheinend auch bei der Bundesregierung,weil ich festgestellt habe, daß in den ersten 50 Minutenin dieser Debatte die Bundesregierung nur durch eineneinzigen Mann, nämlich durch Herrn StaatssekretärMosdorf, vertreten wurde. Zwischenzeitlich sind es zweiVertreter der Bundesregierung geworden.
– Sie sind eben erst gekommen. Ich habe Sie gar nichteingerechnet, weil Sie 55 Minuten benötigt haben, umhierherzukommen.Ich möchte gleich eingangs zu dem heutigen Thema,zu dem Herr Burgbacher und andere F.D.P.-Abge-ordnete eine Große Anfrage eingebracht haben, feststel-len, daß inzwischen in den verschiedenen Hotels undGaststätten die Preise auch in Euro ausgewiesen wer-den. Das spricht dafür, daß unsere Gastronomie sehrwohl weiß, worauf es ankommt, und daß sie damit derübrigen Wirtschaft zum Teil um Meilen voraus ist. Des-halb spreche ich dem Deutschen Hotel- und Gaststätten-verband ein großes Kompliment aus, weil er seine Mit-glieder in Sachen Euro schon auf Vordermann gebrachthat.91,4 Milliarden DM ließen sich die Bundesbürger imJahre 1998 ihre Ferienreisen kosten. Das waren 3 Pro-zent mehr als im Jahre 1997. Für eine Reise wurden1998 im Durchschnitt 1 441 DM ausgegeben. Das warenwiederum 16 DM mehr als im Jahre 1997. 1999 planen71 Prozent der Bundesbürger wieder einen Tapeten-wechsel. Auch hier kann man eine Zunahme verzeich-nen. Deshalb möchte ich auch im Namen vieler Kolle-ginnen und Kollegen, die sich der Tourismuswirtschaftverschrieben haben, feststellen, daß allenfalls im undnicht am Urlaub gespart wird.Ich möchte gerade heute darauf verweisen, wie wich-tig der Tourismus für die Volkswirtschaft ist. Die Tou-rismuswirtschaft hat insgesamt ein Volumen von270 Milliarden DM. Das macht einen Anteil von 8 Pro-zent an der Bruttowertschöpfung aus. Im Tourismus gibtes fast 2,5 Millionen Arbeitsplätze und fast 80 000 Aus-bildungsplätze. Ich möchte besonders darauf verweisen,daß diese Zahlen höher sind als zum Beispiel die der ge-samten deutschen Automobilindustrie. Gerade dadurchwird ersichtlich, welches immense Potential im Touris-mus steckt.
Gerade im Bereich des Tourismus werden viele Inve-stitionen getätigt, viele Arbeitsplätze vorgehalten undEntwicklungspotentiale genutzt. Wenn ich hier über dieWertschöpfungskette spreche, dann möchte ich als Bei-spiel die Flughäfen in der Bundesrepublik Deutschlandherausgreifen, zum Beispiel den Frankfurter Flughafenmit 58 400 Arbeitsplätzen und den Münchner Flughafenmit immerhin noch 17 200 Arbeitsplätzen. Es müssenauf allen Flughäfen die Grundlagen dafür geschaffenwerden, daß 120 Millionen Mitbürger jährlich vonDeutschland weg- und wieder zurückfliegen können. Ichmöchte bei dieser Gelegenheit auch darauf verweisen,daß insbesondere auf den deutschen Flughäfen Bauinve-stitionen in der Größenordnung von -zig Milliarden DMgetätigt werden.Die Tourismuswirtschaft ist für mich auch deshalb sowichtig, weil es sich hier um einen Wirtschaftszweighandelt, der weniger konjunkturellen Schwankungen alsandere Branchen unterworfen und deshalb stabil ist. Seitden 70er Jahren gibt es in keinem anderen Wirtschafts-zweig der EU eine derart starke Expansion wie geradeim internationalen Fremdenverkehr. Tourismus in Euro-pa – das besagen verschiedene Studien – birgt in dennächsten zehn Jahren ein Potential von 2,2 bis 3,3 Mil-lionen zusätzlicher Arbeitskräfte in sich. Für Deutsch-Renate Gradistanac
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land dürfte das im gleichen Zeitraum einen Zuwachsvon 300 000 bis 450 000 Arbeitsplätzen bedeuten.Es müssen aber die Rahmenbedingungen stimmen,damit diese Prognosen auch eintreten. Deutschland mußvor allen Dingen versuchen, für seine Bewohner eben-falls als Reiseziel attraktiv zu werden, um an dieserEntwicklung teilzuhaben; denn von den 63,4 Millionendeutschen Urlaubern reisten 44,6 Millionen ins Ausland.Nur 18,8 Millionen deutsche Urlauber hatten inländischeReiseziele. Das heißt, von drei Urlaubern blieb nur einerhier. Dabei ist doch Deutschland mit seinen Bergen, mitseinen Seen, mit seinen Schlössern, mit seinen Burgen,mit seinen Kulturstätten usw. so attraktiv wie selten einanderes Land.
Man braucht nicht unbedingt den Wahlkreis desKollegen Dr. Ramsauer herauszugreifen, dort, woDeutschland mit am schönsten ist – es ist in anderenTeilen natürlich auch schön –, aber, es ist ein StückDeutschland, in dem viel Urlaub gemacht wird.
Die Deutsche Zentrale für Tourismus sagt zuRecht: Wenn richtig angesetzt wird, dann werden wir inden nächsten fünf Jahren 30 Prozent mehr Gäste zwi-schen Nordsee und Alpen erwarten können. Aber danndürfen keine Mittel bei der DZT gekürzt werden. Manhört so einiges läuten, daß der Ansatz erneut gekürztwerden soll.Was ich hier sagen möchte, ist: Wir brauchen, ummehr Urlauber in Deutschland haben zu können, auchfür die deutschen Mitbürger einen Aha-Effekt, nämlichwieder zu erkennen, wie schön es ist, im eigenen LandUrlaub zu verbringen, obwohl das nicht immer seinmuß. Aber ab und zu hier sein, um alles kennenzulernen,ist nicht schlecht.
Viele Mitbürger kennen zum Beispiel den GrandCanyon oder den Yellowstone Park in Amerika. Wennich nach Nationalparks in der BundesrepublikDeutschland frage, dann wird meistens gepaßt. Dabeihaben wir nicht nur den Bayerischen Wald, sonderneben auch die Sächsische Schweiz, das Wattenmeerusw.
Wenn ich auch dem Kulturtourismus das Wort rede,wer spricht denn heute – breit gesehen – davon, daß wirim nächsten Jahr auch hier in der BundesrepublikDeutschland interessante Daten zu verzeichnen haben,zum Beispiel den 250. Todestag von Johann SebastianBach, den 600. Geburtstag von Johannes Gutenberg oderdie Expo in Hannover oder die Passionsspiele in Ober-ammergau oder in diesem Jahr die Agnes-Bernauer-Festspiele in Straubing? Wenn Sie noch nicht dort wa-ren, würde ich Ihnen empfehlen, einmal dorthin zukommen, um zu erleben, wie Kultur im Laienspiel hiergezeigt wird.Ich meine aber, darauf verweisen zu müssen, daß esvermehrten Urlaub in Deutschland nur gibt, wenn mansich mehr auf Kundenwünsche einstellt. Da sind fünfPunkte, die ich ansprechen möchte: Erstens: DerDeutschlandurlaub muß billiger werden. Zweitens: DieDienstleistungsbereitschaft muß zunehmen. Drittens: Essind Angebote für Schlechtwetterphasen zu schaffen.Viertens: Die touristischen Stärken unseres Heimatlan-des müssen stärker herausgestellt werden. Fünftens:Die Wettbewerbsbenachteiligungen und bürokratischenHemmnisse müssen weg.
Deutschland ist momentan vielen zu teuer und wirdleider auf Grund einer falschen Politik von Ihrer Seitenoch teurer.
Ich möchte es mir ersparen, näher auf die 630-DM-Regelung einzugehen. Aber ich sage schon: Eine Frau,die mich am Sonntagnachmittag in einem Biergarten be-dient, ist mir tausendmal lieber als eine Frau, die amMontagmorgen um halb zehn, obwohl arbeitsfähig, zumSozialamt geht, um sich dort die Sozialhilfe abzuholen.
Herr
Kollege Hinsken, kommen Sie bitte zum Schluß.
Es gibt eine Wortmel-
dung.
Herr
Kollege Hinsken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Irber?
Selbstverständlich.
Aber
nach der Beantwortung der Zwischenfrage bitte ich Sie,
umgehend zum Schluß zu kommen.
Bitte schön.
Herr Kollege Hinsken, ge-ben Sie mir recht, daß auch mir eine Frau, die ein Ein-kommen hat, lieber ist, als eine Frau, die darauf ange-wiesen ist, zum Sozialamt zu gehen? Aber geben Sie mirauch darin recht, daß ein ordentliches Arbeitsverhältnis,in dem eine Frau gut bezahlt wird und sozialversichertist, noch besser als ein ungeschütztes Arbeitsverhältnisauf der Basis eines geringen Verdienstes ist?
Ernst Hinsken
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3776 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Das kann man so und
so sehen. Für verschiedene Frauen ist eine Zuverdienst-
möglichkeit, um sich selbst einen Urlaub gönnen zu
können, Frau Kollegin Irber, angebracht. Dieser wollte
ich hier das Wort reden. Deshalb habe ich mich so ge-
äußert. Ich meine, in diesem Zusammenhang natürlich
schon sagen zu müssen, daß es insgesamt gesehen für
uns eine Aufforderung ist, die Grundlagen dafür zu
schaffen, daß es nicht zu weiteren Wettbewerbsbenach-
teiligungen und -verzerrungen kommt, wie dies auch auf
diesem Gebiet der Fall ist.
In diesem Zusammenhang muß ich die Frage stellen
– diese Frage, Herr Präsident, sei mir noch gestattet –,
wie es denn kommt, daß wir in einer Debatte über die
deutsche Tourismuspolitik in einem gemeinsamen Euro-
pa feststellen müssen, daß sich die deutsche Regelungs-
wut in vielen Betrieben negativ bemerkbar macht. Wenn
zum Beispiel dem erkrankten Gast an der Hotelrezeption
keine Schmerztablette ausgehändigt werden kann – –
Herr
Kollege Hinsken, ich habe Sie bereits zweimal gebeten,
zum Schluß zu kommen. Jetzt müssen Sie wirklich zum
Schluß kommen.
Jawohl, Herr Präsident.
– Ich gehe davon aus, daß gerade wir mit unseren Kon-
zepten wissen, wo angesetzt werden muß, damit sich in
Zukunft die Tourismuswirtschaft auch in der Bundes-
republik Deutschland entfalten kann und sie nicht von
weiteren Entscheidungen der Regierung gehemmt wird.
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat der Parlamenta-
rische Staatssekretär Siegmar Mosdorf das Wort.
S
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmalmuß ich auf das Frauenbild des Kollegen Hinsken zusprechen kommen. Warum sind Sie nicht damit zufrie-den, wenn Sie von Männern im Biergarten bedient wer-den? Das wäre doch einmal etwas anderes.
Wir haben die bestqualifizierte Frauengeneration in derGeschichte.
Gerade in der Tourismusbranche fallen mir eine ganzeReihe interessanter sozialversicherungspflichtiger Jobsein, die Frauen mit Erfolg ausüben. Deshalb möchte ichzu Beginn meiner Rede allen Frauen, die in dieser Bran-che arbeiten, für ihren Einsatz und die Qualität ihrer Ar-beit danken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ich nicht nur anden kontroversen Punkten ansetzen möchte, weise ichzunächst darauf hin – auch im Ausschuß haben wir eingutes Arbeitsklima, Herr Vorsitzender –, daß wir uns invielen Punkten sehr einig sind. Wir sind uns zum Bei-spiel darin einig, daß wir in Deutschland eine Touris-muswirtschaft, eine Gastronomie, eine Hotellerie haben,die sich weltweit sehen lassen kann, deren Dienstlei-stungen eine hohe Qualität aufweisen und die auf dieseQualität stolz sein kann. Sie verdient es, daß mehr Leutevon dieser Qualität Gebrauch machen. Das muß ich amAnfang einmal sagen, und da sind wir uns sicherlicheinig.
Hier gibt es durchaus ein Defizit: Man muß mehr aufdiese Qualität hinweisen. Wenn große Unternehmenihre Hauptversammlungen in Deutschland – auch amStandort ihres Unternehmens – durchführen, dann ist esnoch viel zu wenig üblich, daß sich die Versammlungs-teilnehmer um diese Tagungsorte herum erholen unddaß man an solche Versammlungen auch touristischeVeranstaltungen anhängt.Es geht uns also um die Perlen, die wir im Tourismushaben, und zwar nicht nur, lieber Ernst Hinsken, beiPeter Ramsauer in Traunstein. Das ist eine schöne Ge-gend; aber ich hoffe, daß es keine diplomatischen Ver-wicklungen gibt, weil vorhin nur Traunstein erwähntwurde. Man muß auch den Harz, die Ostsee und dieNordsee nennen. Wir haben so viele schöne Gebiete, aufdie wir auch international hinweisen müssen.
– Natürlich ist die Schwäbische Alb besonders wichtig,ebenso der Spreewald. Wir müssen die Heimat TheodorFontanes erwähnen. Es gibt so viele Möglichkeiten, diewir nach meiner Überzeugung noch nicht ausgeschöpfthaben. Deshalb wollen wir eine Menge tun; Sie wissenes.Als Bundesregierung haben wir in den ersten 200Tagen eine Reihe von wichtigen Signalen für dieseBranche gesetzt, die eine Wachstumsbranche von ho-her Bedeutung ist. Manche haben noch nicht erkannt,daß dies eine der wichtigsten Wachstumsbranchen fürdie Zukunft ist, weil sie dienstleistungsintensiv ist undhohe Qualität verlangt.
Gerade weil wir international nicht mehr über dieklassischen Kostenvorteile verfügen, müssen wir auf dieQualität der Dienstleistungen und auf Inhalte, auch aufkulturelle Inhalte setzen. Da haben wir in Europa undbesonders bei uns in Deutschland eine Menge zu bieten.Insofern setzen wir in der internationalen Präsentationunserer Standorte andere Akzente. Ein Schwerpunkt istdie kulturelle Präsentation von Städten und Regionen,die touristisch etwas zu bieten haben.
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Herr
Kollege Mosdorf, wie ich erkenne, erlauben Sie eine
Zwischenfrage. – Herr Seifert, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wenn Sie
schon die vielen Qualitätskriterien hier aufzählen, dann
möchte ich wissen, warum in Ihrer Antwort auf die Gro-
ße Anfrage nicht ein einziges Mal vorkommt, daß der
Ausbau aller Tourismusstandorte für Menschen mit den
verschiedensten Behinderungen ein wesentlicher Punkt
sein könnte, um neue Touristenkreise zu erschließen.
Das wäre wiederum nicht nur für den Tourismus, son-
dern für die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft insge-
samt ein großer Schritt nach vorn.
S
Lieber HerrKollege Seifert, ich muß Ihnen zunächst sagen: GroßeAnfragen funktionieren so, daß man eine Frage stelltund die Regierung darauf antwortet. Die Fragen habenwir alle ordentlich beantwortet – man kann über Inhaltestreiten –, und wir sind durchaus der Meinung, daß es indiesem Bereich Ansatzpunkte gibt. Das ist völlig klar.
Nur, Sie können aus der Tatsache, daß wir bei derBeantwortung eines Fragenkatalogs diese spezielle Fra-ge nicht behandelt haben, nicht ableiten, daß wir diesenSachverhalt negativ sehen.
– Ich gebe Ihnen ja gerade eine Antwort. Wir sind derAuffassung: Wenn man über Standorte mit Qualitätnachdenkt, dann gehören solche Fragen dazu.
Solche Fragen gehören genauso dazu wie die Tatsache,daß wir darüber nachdenken können, wie man Familienund auch alleinerziehende Väter oder Mütter mit ihrenKindern – ich denke an die Kinderbetreuung – in sinn-voller Weise in touristischen Standorten besser unterbrin-gen kann. Das sind alles neue Fragen, die sich stellen undauf die wir gemeinsam mit der Branche Antworten gebenmüssen. Ich glaube, es gibt schon gute Bemühungen. Siesind allerdings in den jeweiligen Bereichen von Hotellerieund Gastronomie sehr unterschiedlich.Ich glaube trotzdem, daß auch die aktuellen Zahlen,die wir alle kennen, die ich aber gern noch einmal inErinnerung rufen möchte, zeigen, daß wir eine leistungs-fähige Branche haben, daß wir auch gute Bedingungenhaben und daß die Branche gewillt ist, dieses Potentialauszuschöpfen. In den 56 000 gewerblichen Beherber-gungsbetrieben wurden 1998 96,4 Millionen Gäste undrund 295 Millionen Übernachtungen registriert. Für daserste Quartal dieses Jahres sieht es noch etwas erfreuli-cher aus. Es gab 4 Millionen Übernachtungen mehr alsim gleichen Vorjahreszeitraum. Das sind mehr als7 Prozent Zuwachs im Inland.
Es ist wichtig, daß wir – Herr Hinsken hat dieseFrage aufgeworfen – nicht immer nur ins Ausland fah-ren, sondern auch einmal im Inland Urlaub machen.Dazu gibt es nämlich viele Möglichkeiten. Damit habensich die positiven Trends des letzten Jahres verstärktfortgesetzt. Wir müssen dazu beitragen, daß sie sichweiterhin so positiv entwickeln.Besonders erfreulich für mich ist, daß auch in denneuen Ländern weiterhin überproportionale Anteile amWachstum mit fast 11 Prozent Leistungszuwachs bisMärz 1999 bestehen. Herausragende Ergebnisse erzieltzum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern, das für die er-sten drei Monate dieses Jahres auf mehr als 20 ProzentZuwachs verweisen kann.
Angesichts der ausgeprägten Saisonproblematik inMecklenburg-Vorpommern ist das im ersten Quartal eingutes Ergebnis. Im Sommer wird es möglicherweisenoch wesentlich besser sein. Ich glaube ohnedies, daß eseine Renaissance der Nord- und der Ostsee gibt, was dasUrlaubsbegehren der Menschen angeht. Die Branchestellt sich darauf ein.Gerade in den auch aus europäischer Sicht struktur-schwachen Regionen – ich rede von den Ziel-1-Gebie-ten – wird es weiterhin um einen effektiven Fördermit-teleinsatz gehen. Der Tourismus partizipiert in hohemMaße an der Regionalförderung im Rahmen der Ge-meinschaftsaufgabe. In den vergangenen acht Jahrenwaren mehr als 17 Prozent der durch Gemeinschaftsauf-gaben geförderten Unternehmen Tourismusbetriebe.7,4 Prozent der Investitionszuschüsse entfielen auf denTourismus.Bei der Infrastrukturförderung ist der Tourismusanteilmit 16 Prozent noch höher. Ich finde, es ist berechtigt,daß wir diesen Weg gehen, weil wir gerade in dieserBranche diese Infrastruktur brauchen. 1998 entfielen aufdiese Branche fast die Hälfte aller Vorhaben der regio-nalen Wirtschaftsförderung. Damit wird auch von denLändern ganz klar der Vorrangigkeit des Infrastruktur-ausbaus Rechnung getragen. Wir haben mit der Regio-nalpolitik gezielt angesetzt, und wir haben gerade instrukturschwachen Gebieten geholfen. Das wollen wirauch in Zukunft tun.Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, derin dieser Debatte mehrfach angesprochen wurde und derauch in den Beratungen unseres Ausschusses immerwieder eine Rolle spielt. Es geht um die Mehrwert-steuersätze. Ich glaube für das ganze Haus sprechen zukönnen, wenn ich sage, daß die Situation unbefriedigendist und zu wirklichen Wettbewerbsverzerrungen führt, diewir nicht akzeptieren können. Deshalb bleibe ich bei mei-ner Meinung: Wenn man in Europa über die Harmonisie-rung von Steuersätzen nachdenkt – ich finde, wir müssendarüber nachdenken –, dann muß man gerade auch hin-sichtlich Hotellerie und Gastronomie darüber nachden-ken, wie es zu einer Harmonisierung der Steuersätzekommt. Dieses Ziel sollten wir gemeinsam verfolgen.
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3778 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Wenn es bisher keine Gemeinsamkeit gab, dann willich das nicht simpel parteipolitisch denjenigen zuschie-ben, die 16 Jahre dazu Zeit hatten, sondern ich will sa-gen: Es ist ein komplizierter Prozeß, aber wir sind indem Anliegen, eine Harmonisierung der Steuersätze zuerreichen, doch wohl einig. Denn es ist ein eklatanterWettbewerbsnachteil, wenn man in Saarbrücken 16 Pro-zent Mehrwertsteuer zahlen muß und 500 Meter weiterfür ein gutes Essen nur 5 Prozent Mehrwertsteuer ent-richten muß.
Deshalb sind wir für eine Harmonisierung der Steuer-sätze, und zwar muß es dazu nicht nur bei den oberen,sondern auch bei den unteren Steuersätzen kommen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluß kommen. Ich glaube, daß wir gerade auch anläß-lich dieser Großen Anfrage eine wichtige Diskussionüber die Bedeutung und die Zukunftschancen der Tou-rismusbranche geführt haben. Ich glaube, daß wir invielen Punkten gemeinsam der Auffassung sind, daß wiraus dieser Branche noch mehr machen können, daß eswirkliche Wachstumspotentiale gibt, daß Tourismus so-gar eine Jobmaschine sein kann, wenn man es gescheitmacht, und wir haben es nötig, da anzusetzen.Deshalb meine herzliche Bitte: Lassen Sie uns ge-meinsam alle Anstrengungen unternehmen, um wirt-schaftspolitisch der Branche zu helfen und um gleich-zeitig dazu beizutragen, daß die schönsten Erlebnisse imJahr eben auch im Urlaub stattfinden können, auf quali-tativ hohem Niveau, in einer guten Atmosphäre, damitwir das, was wir leisten müssen, jeden Tag 16 Stundenzu arbeiten, auch leisten können.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herr
Kollege Hinsken ist persönlich angesprochen worden
und hat sich für eine Kurzintervention gemeldet. Bitte
schön, Herr Hinsken.
Herr Präsident, ich be-
danke mich, daß ich diese Kurzintervention vorbringen
kann.
Zum einen möchte ich dem Kollegen Mosdorf herz-
lich in meinen Wahlkreis einladen. Wir lassen uns dann
in einem schönen bayerischen Biergarten bewirten und
reden mit den 630-DM-Beschäftigten, welche Meinung
sie haben.
Zum anderen: Herr Kollege Mosdorf, Sie haben zu
Recht davon gesprochen, daß es sich bei der Touris-
muswirtschaft um eine Wachstumsbranche handelt. Das
kann doppelt und dreifach unterstrichen werden. Ich ha-
be auch sehr wohl zur Kenntnis genommen, daß man
ansetzen möchte, über die Regionalpolitik weiterhin
einen Beitrag zu leisten, damit sich die Tourismuswirt-
schaft entfalten kann. Aber ich darf bei dieser Gelegen-
heit schon darauf verweisen, daß es nicht nur um Förde-
rungen für die Tourismuswirtschaft insgesamt geht, son-
dern daß wir alle gefordert sind, über Parteigrenzen
hinweg Grundlagen dafür zu schaffen, daß die Rege-
lungswut der Deutschen ins Lot gebracht wird.
Meine Damen und Herren, ich verstehe es nicht, daß
jemand, der sich in einem Hotel aufhält und eine Aspi-
rin- oder eine andere Schmerztablette braucht, diese an
der Hotelrezeption nicht bekommen kann, weil dies dem
Arzneimittelgesetz widerspricht. Dieses Problem müs-
sen wir in Angriff nehmen. Es ist nicht zu verstehen,
wenn ein ausländischer Gast am Flughafen in München
ankommt, vom Hotelier abgeholt wird und dieser sich
dann größten Reglementierungen im Hinblick auf das
Transportgesetz ausgesetzt sieht. Ich verstehe es genau-
so nicht, wenn derjenige, der in einem Straßencafé die
Markise herunterlassen möchte, wegen der Nutzung des
Luftraumes gebührenpflichtig wird.
– Nein, nein, das sind gesetzliche Regelungen, die wir
geschaffen haben.
Deshalb möchte ich der Deregulierung das Wort reden.
– Alle haben wir das geschaffen, alle.
Deshalb muß im Sinne von Deregulierung die
Grundlage dafür geschaffen werden, daß man nicht
mehr gegängelt wird, sondern daß man der Tourismus-
wirtschaft nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten
entgegenkommt, damit sie sich weiterhin trotz des be-
stehenden Konkurrenzkampfes in Europa behaupten
kann.
Ich bedanke mich.
Herr
Kollege Mosdorf, wollen Sie erwidern?
S
Ja, nur
ganz kurz. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Kollege Hinsken, ich möchte die Einladung in den baye-
rischen Biergarten annehmen und vorschlagen, daß wir
beide dann statt der Frauen bedienen.
LiebeKolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.Es ist beantragt worden, den Entschließungsantragder Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1159 feder-führend an den Ausschuß für Tourismus und zur Mitbe-ratung an den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie,den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und denAusschuß für die Angelegenheiten der EuropäischenParl. Staatssekretär Sigmar Mosdorf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3779
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Union zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU„Wort halten“ – Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse– Drucksache 14/1004 –
Die CDU/CSU-Fraktion will mit dem Antrag „Worthalten“ Klarheit schaffen. Hier geht es nicht um die Fra-ge „Bundeshauptstadt Berlin gegen Bundesstadt Bonn“.Hier geht es darum, den Beschluß vom 20. Juni 1991,der die Überschrift „Vollendung der Einheit Deutsch-lands“ trägt und dieser Region eine faire Arbeitsteilungzusagte, in allen seinen Teilen zu verwirklichen. Letzt-lich geht es auch um Menschen und Familien, die mannicht beliebig hin- und herschieben und verplanen kann.Wir wissen, wie schwer sich der Bundeskanzler mitder Umsetzung dieses Beschlusses tut. Schließlichstammt von ihm das Zitat:Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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3780 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Das Parlament hat seine Entscheidung auf Druckder parteiübergreifenden Bonn-Lobby gekippt.Zwei Zentren halte ich für falsch und schädlich. Eindemokratischer Staat braucht ein politisches Zen-trum, nicht zwei, drei oder vier.Soweit der Bundeskanzler.Die Probleme des Bundeskanzlers mit der Umsetzungvon Beschluß und Gesetz dürfen aber nicht dazu führen,daß der Chef des Bundeskanzleramtes, Herr Hombach,ein Gesetz dieses Rechtsstaates lediglich als „Richt-schnur“ bezeichnet, nach der man sich je nach Gustoausrichten wolle oder könne.
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Sofort. – Es
ist geradezu eine Schande, daß das Bundeskabinett –
vorsichtig formuliert – ungeniert über die Umgehung,
die Nichterfüllung eines Gesetzes, und zwar des Ber-
lin/Bonn-Gesetzes – schärfer ausgedrückt: über Geset-
zesbruch –, diskutiert. Dieses Parlament hat ein Anrecht
darauf, daß Gesetze, die es einmal verabschiedet hat,
auch eingehalten werden.
Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Achim Großmann von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! 1991 war die Entscheidung fürBerlin sicherlich ein Schock für die Bonner Region. Esgab anschließend aber einen breiten politischen Kon-sens. Es gab den Konsens, daß es zu einer fairen Verab-redung zwischen Berlin und Bonn kommen müßte. Allewaren der Überzeugung und der Auffassung: Die Bon-ner Region wird nicht allein gelassen. In Bonn war manparteiübergreifend bei den Fraktionen im Rat der Stadtähnlich wie in den Gremien der Region, die Bonn um-gibt, in den Landkreisen, dieser Auffassung. In Bundund Land war man ebenfalls parteiübergreifend dieserAuffassung.Aus dieser Zusammenarbeit und dem Willen heraus,die Bonner Region zu stützen, erwuchs 1994 die Ver-einbarung über Ausgleichsleistungen für die RegionBonn. Die Laufzeit dieser Ausgleichsvereinbarungenreicht bis zum 31. Dezember 2004. Der Bund sollte fürden Ausgleich der Bonner Region 2,81 Milliarden DMzur Verfügung stellen. Heute, meine Damen und Herren,stellen wir fest: Nach nur der Hälfte der Laufzeit dieserVereinbarungen sind Maßnahmen mit einem Volumenvon 2,658 Milliarden DM entschieden. Das heißt, 98Prozent der Ausgleichsmittel sind einvernehmlich fürden Bonner Raum, für die Bonner Region entschieden.
Das ist eine herausragende Leistung und zeigt die Ver-läßlichkeit der Partner, die Qualität der Zusammenarbeitund den Willen aller, die Region Bonn nach vorn zubringen.Optimismus, Wille zur Gestaltung, Vertrauen in dieZukunft: Das waren die Grundlagen für den politischenKonsens über die Parteigrenzen hinaus. Damit wurdenin der Bonner Region Signale gesetzt. Das Signal an dieBonnerinnen und Bonner war: Die Chancen, die darauserwachsen, sollen genutzt werden. Es bilden sich gutePerspektiven, wenn alle gemeinsam an die Aufgabe her-angehen, für die Zeit nach dem Umzug nach Berlin eineZukunft zu entwickeln. Das Signal an Unternehmer, annationale und internationale Behörden war: Jawohl,Bonn ist eine optimistische Stadt mit Zukunft. Die welt-offene und gastfreundliche Stadt Bonn ist weiterhin einsehr guter Standort für die Wirtschaft, für nationale undinternationale Politik und für Kultur und Wissenschaft.Die Vereinbarungen und die politische Gemeinsam-keit haben Bonn – ich wiederhole das – eine hervorra-gende Perspektive gegeben. Daran waren Personen undPersönlichkeiten über die Parteigrenzen hinweg betei-ligt: Bärbel Dieckmann, die Oberbürgermeisterin derStadt Bonn, Franz Möller, der Landrat des Rhein-Sieg-Kreises, Ingrid Matthäus-Maier, die ich stellvertretendfür die Abgeordneten erwähne, weil sie uns als Abge-ordnete bald verläßt, und natürlich das Land Nordrhein-Westfalen mit Wolfgang Clement, dem heutigen Mi-nisterpräsidenten.
– Ich habe gerade gesagt, daß ich stellvertetend für dieAbgeordneten Ingrid Matthäus-Maier nenne; ich kanngerne auch Frau Limbach erwähnen. Ich habe mehrfachbetont, daß es hier parteiübergreifende Initiativen gab,und ich denke, das sollten Sie anerkennen.
– Die Zwischenrufe beweisen, daß das, was ich im An-schluß daran sagen wollte, zutrifft: Der breite poli-tische Konsens hilft einer Region weiter. Wenn manallerdings, vielleicht wegen kurzfristiger wahlpoliti-scher Erfolge, die man anstrebt, versucht, auf kleinemKaro Schach zu spielen, dann ist das für die Region si-cherlich nicht gut.Es ist weitgehend aus dem Auge verloren worden,was das für die Region Bonn bedeutet. Deshalb ist esganz notwendig, daß man das einfach noch einmal er-wähnt. Die Insider mögen das kennen, die meisten Bür-gerinnen und Bürger in Bonn, um Bonn herum und vorNorbert Hauser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3781
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allen Dingen auch im übrigen Deutschland wissen dasmeistens nicht.Ich will einmal aufzählen, welche Ausgleichsmaß-nahmen im einzelnen angeschoben und auf den Weggebracht worden sind:Das ist im Ausgleichsbereich Wirtschaft die StiftungCAESAR, die 1998 ihre Arbeit in angemieteten Räumenaufgenommen hat und für die eine endgültige Unter-bringung in einem Neubau am Rand der Rheinaue erfol-gen soll. Das ist die Fachhochschule Rhein-Sieg, die anden Standorten Sankt Augustin und Rheinbach den Stu-dienbeginn zum Wintersemester 1995/96 aufgenommenhat. Die Baumaßnahmen werden im Herbst 1999 inRheinbach und im Frühjahr 2000 in Sankt Augustin fer-tiggestellt, die Bauten dann zur Verfügung stehen. DieFachhochschule Remagen hat den Studienbetrieb zumWintersemester 1998/99 aufgenommen. Die Baumaß-nahme soll im Jahr 2000 fertiggestellt werden.Ich nenne die Zentren für Europäische Integrations-und Entwicklungsforschung, Institute der UniversitätBonn, 1995 gegründet, deren Unterbringung sukzessivemit dem Ausbau erfolgt; die Erweiterung des Wissen-schaftszentrums an der Ahrstraße mit der bereits abge-schlossenen Erweiterung des DAAD-Gebäudes und mitder ab 1998 laufenden Erweiterung des DFG-Gebäudes;schließlich die Stiftung Begabtenförderungswerk beruf-liche Bildung, die seit 1995 gefördert wird.Im Ausgleichsbereich Kultur sind es die Errichtungdes Hauses der Kultur einschließlich der Anschubfinan-zierung für drei ergänzende Einrichtungen der Kultur-forschung und -dokumentation seit 1996 sowie die Ein-richtung des Museums für Naturgeschichte in Königs-winter und die Planung der Ökologieausstellung im Mu-seum Koenig. Das ist zur Stärkung des KulturstandortsBonn die ab 1996 geförderte Biennale für zeitgenössi-sches europäisches Schauspiel sowie die 1997 mit demMuseumsdepot in Meckenheim begonnene Erweiterungdes Rheinischen Landesmuseums. Und es ist schließlichdas Arp-Museum in Rolandseck, das ebenfalls aus die-sen Mitteln gefördert wird.Im Ausgleichsbereich Wirtschaftsstruktur ist es dieStärkung der wirtschaftsnahen Infrastruktur, beispiels-weise durch den Ausbau von Gewerbeflächen. Bis zumJahresende 1998 waren 166 Hektar Gewerbeflächen er-schlossen und rund 2 600 Arbeitsplätze geschaffen wor-den. Mit dem Investitionsprogramm für mittelständischeWirtschaft – dort gibt es Zinszuschüsse – sind Investi-tionen angestoßen worden, die bei 350 Unternehmen zurund 1 200 Arbeitsplätzen geführt haben. Mit demTechnologie- und Transferzentrum Bonn, mit demGründer- und Technologiezentrum Rheinbach und mitdem Technologiezentrum für Oberflächentechnik inRheinbreitbach sind zukunftssichere Arbeitsplätze imHigh-Tech-Bereich aufgebaut worden.Weiterhin: Das Multimedia-Support-Center mit Sitzin Köln und geplanter Dependance in Bonn wird – ein-gepaßt in die Multimedia-Initiative des Landes Nord-rhein-Westfalen – seit 1997 mit Ausgleichsmitteln ge-fördert. Für die Förderung des Infrastrukturprogrammszur Stärkung des Tourismus in der Region stehen Aus-gleichsmittel bereit, unter anderem zur Anschubfinan-zierung der Tourismus & Kongress GmbH in Bonn,Rhein-Sieg und Ahrweiler.Für die Förderung der StrukturförderungsgesellschaftBonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler wurden zur Unterstützungdes Standortmarketings und der Imagekampagne derStadt Bonn Mittel bereitgestellt.Schließlich wurde zur Stärkung des Gesundheits-standortes ein stattlicher Betrag für den Bau des Kinder-herzzentrums in Sankt Augustin bewilligt.Es gibt den Ausgleichsbereich Verkehr mit einemFinanzierungsabkommen mit dem Land Nordrhein-Westfalen und der Flughafen Köln/Bonn GmbH zurEinbindung der Region in das nationale und internatio-nale Verkehrsnetz. Im Zusammenhang mit Grund-stücksleistungen sind Liegenschaften an die Stadt Bonnübertragen worden.Schließlich gibt es den Bereich der internationalenEinrichtungen. 1996 wurde das Haus Carstanjen demGeneralsekretär als Haus der Vereinten Nationen über-geben. Dort sind zwischenzeitlich 5 VN-Einrichtungender Entwicklungszusammenarbeit und des Umwelt-schutzes mit derzeit zirka 300 Mitarbeitern unterge-bracht.Das Internationale Paralympische Komitee und dieZentraleinheit des Berufsbildungsprojekts der UNESCOhaben zumindest den Willen geäußert, in Bonn ihrenSitz zu nehmen.Die Bundesregierung hat Angebote unterbreitet undverhandelt derzeit – vielleicht wissen Sie das – mit wei-teren internationalen Organisationen und ist bemüht umdie Ansiedlung des Sekretariats der Konvention zumSchutz von Mensch und Umwelt vor gefährlichen Che-mikalien. Sie ist ferner bemüht um die Ansiedlung deseuropäischen Zentrums der WeltgesundheitsorganisationWHO.
Gestern noch hat der Haushaltsausschuß weitereMittel für drei weitere Maßnahmen bereitgestellt, auf dieder Kollege Beucher gleich noch eingehen wird.Noch ein Wort zu dem Schild „Ab morgen geschlos-sen“, das angeblich an die Tür genagelt wird. Die InnereKommission des Ältestenrates – der Bundestag undnicht die Regierung entscheidet, was mit dem Plenarbe-reich weiter geschehen wird – hat gestern dem Ältesten-rat vorgeschlagen, daß die weitere Nutzung desPlenarbereiches des Deutschen Bundestages die Er-richtung eines internationalen Kongreß- und Tagungs-zentrums vorsieht. Diese Lösung hat erhebliche positiveAuswirkungen für die Region Bonn. Dadurch wird bei-spielsweise die geeignete Weiternutzung mit der Ver-besserung der Ansiedlungschancen für internationaleOrganisationen verbunden. Dies gibt natürlich Impulsefür die Bonner Region. Gutachter haben uns bestätigt,daß dieses internationale Kongreß- und Tagungszentrumbis zu 500 neue Arbeitsplätze schafft, erhebliche Steuer-mehreinnahmen bringt und natürlich einen Beitrag zurAchim Großmann
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3782 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Erhaltung des weltweiten Ansehens der Stadt Bonn undder Region leistet. Dies ist eine Verbesserung desStandortfaktors für weitere Ansiedlungen aus dem Be-reich Wirtschaft.Der Wettbewerb unter den Investoren zur Planungund zum Betrieb soll in der Zwischenzeit durchgeführtwerden. Die Kosten – das ist fest vereinbart – teilen sichder Bund auf der einen Seite und das Land und die StadtBonn auf der anderen Seite hälftig.
Der Plenarbereich bleibt mit Leben erfüllt. Es gibt abdem 1. August 1999 einen Weiterbetrieb dieses Plenar-bereiches. Das heißt, er steht für spontane Besuche undfür Führungen offen. Er steht ferner für Veranstaltungenund Kongresse offen; die Bundestagsverwaltung hat unsgestern mitgeteilt, daß bereits entsprechend nachgefragtworden ist. Die technischen Ressourcen werden dafürzur Verfügung gestellt.
Herr
Kollege Großmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hauser?
Ich bin mit meiner Rede
sofort fertig. Danach kann sich der Kollege zu einer
Kurzintervention melden. Ansonsten würde meine Zeit
nicht ausreichen.
Also
keine Zwischenfrage.
Sie sehen also, meine
Damen und Herren, daß es ein herausragendes Ergebnis
bei der Umsetzung des Beschlusses gibt, die Region
Bonn und die Stadt Bonn nach dem Umzug des Bun-
destages nach Berlin nicht alleine zu lassen.
Ich will die wenigen verbleibenden Sätze meiner Re-
de dazu nutzen, mich bei der Stadt Bonn zu bedanken.
Wir haben uns hier immer sehr wohl gefühlt.
Es war auch im Hinblick auf die internationalen Besuche
nicht immer einfach mit uns. Aber die Bonner, denen man
immer rheinische Kleinbürgerlichkeit nachsagt, haben
sich als ganz weltoffene Bürgerinnen und Bürger erwie-
sen. Wir haben uns hier, wie gesagt, sehr wohl gefühlt.
Das eine kann ich den Bonnerinnen und Bonnern heute
versprechen: Der Bund bleibt mit einem Standbein in
Bonn. Wir werden Bonn nicht vergessen; Bonn ist nach
wie vor als Bundesstadt ein ganz wichtiger Bestandteil
der Politik in der Bundesrepublik Deutschland.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Guido We-
sterwelle von der F.D.P.-Fraktion. Bitte schön.
– Ihre Meldung kommt zu spät. Ich habe bereits den
nächsten Redner aufgerufen. Ich bitte um Verständnis,
daß wir in der Debatte fortfahren müssen. Wir sind be-
reits zwei Stunden im Verzug.
Herr Westerwelle, bitte.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatsse-kretär, ich glaube, eine Sache sollten wir vorab klarstel-len: Es geht nicht darum, daß parteipolitisch irgendwel-che Vorteile in der Region hier gesucht werden. Es gehtnicht darum, in dieser Frage einer Bundesregierung, dievon SPD und Grünen gestellt wird, an den Karren zufahren. Das würde niemandem dienen, der hier in derBonner Region Verantwortung trägt. Es geht darum, daßwir zu dem politischen Konsens zurückfinden. Für michheißt dieser Konsens: Pacta sunt servanda.
Es geht nicht darum, in dieser Diskussion dieSchlachten von gestern noch einmal zu schlagen. DieEntscheidung ist demokratisch mit Mehrheit gefälltworden. Ich habe dem Parlament damals noch nicht an-gehört. Ich hätte vermutlich anders abgestimmt als ande-re Kolleginnen und Kollegen. Aber das Entscheidendeist, jetzt nicht diesen Beschluß gewissermaßen zu torpe-dieren. Es geht nicht darum, den Beschluß in Frage zustellen, sondern es geht darum – darauf haben wir Bon-ner auch einen Anspruch –, daß dieser Beschluß wort-getreu umgesetzt wird; denn man muß sich, wenn manhier Verantwortung trägt, wirklich auf das verlassenkönnen, was beschlossen wurde.Es heißt in diesem Umzugsbeschluß vom 20. Juni1991, daß das Verwaltungszentrum der Bundesrepu-blik Deutschland in Bonn bleibt, indem insbesonderedie Bereiche in den Ministerien und die Teile der Regie-rung, die primär verwaltenden Charakter haben, ihrenSitz in Bonn behalten. Wörtlich heißt es dort:Dadurch bleibt der größte Teil der Arbeitsplätze inBonn erhalten.Anschließend hat es das Berlin/Bonn-Gesetz gege-ben. Darin ist festgelegt worden, daß von den Ministe-rien, die in Bonn ihren Sitz behalten, nur 10 Prozent derArbeitsplätze nach Berlin verlagert werden können.Wenn sich jetzt Herr Trittin in einem Interview des-sen rühmt, daß es ihm als Bundesumweltminister gelun-gen sei, diese Quote auf 25 Prozent anzuheben, dannkann es niemanden verwundern, daß die Menschen, diePlanungssicherheit brauchen, irritiert sind.
Das ist doch ganz normal. Das hat mit Parteipolitiknichts zu tun. Es liegt im nationalen Interesse, daß derAchim Großmann
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Deutsche Bundestag, wenn er ein Gesetz macht, daraufachtet, daß die Regierung dieses Gesetz auch wortgetreueinhält, egal wer die Regierung stellt.
Es macht überhaupt keinen Sinn, daß wir in den ver-gangenen Wochen bei zahlreichen Feierstunden eineparteiübergreifende Einigkeit in der Bewertung der50jährigen demokratischen Kultur, die von Bonn ausgeprägt wurde, festgestellt haben, wenn dann so einPrinzip Vergessen eintritt.Die Sorge, die wir hier als Abgeordnete, als Verant-wortungsträger aus Bonn und der Region haben, ist re-lativ einfach: aus den Augen – aus dem Sinn. – UnsereSorge hier ist ganz einfach auf den Punkt zu bringen:Wenn denn die sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen erst in Berlin sind, dann läßt das Verantwortungs-gefühl für Bonn, das diesem Land 50 Jahre lang wert-volle Dienste geleistet hat, nach. Das müssen wir ver-hindern. Ich hoffe, daß wir auch über die Region hinausdafür in diesem Hause überparteiliche Zustimmung fin-den können.
Es geht aus unserer Sicht vor allem darum, einenRutschbahneffekt zu verhindern – das ist das, was hin-ter den besorgniserregenden Äußerungen steckt –, einenRutschbahneffekt, der dazu führt, daß man jeden Monatetwas mehr in Frage stellt, was doch in Gesetzesformvereinbart worden ist. Ich glaube, es kann nicht sinnvollsein, wenn wir bei diesen ganzen Bonn/Berlin-Diskussionen künftig augenzwinkernd auf die Salami-taktik warten: jede Woche, jeden Monat ein Scheibchenweniger für die Region Bonn.Ich möchte nicht, daß die Mittel, deren Einsatz dan-kenswerterweise von der alten Regierungskoalition be-schlossen wurde und die dankenswerterweise von derneuen Regierung so eingesetzt werden, in Frage gestelltwerden. Aber ich möchte auch nicht, daß im Grunde ge-nommen schleichend ein Rutschbahneffekt eintritt.Wenn Sie sagen, der Bund behält ein Standbein in Bonn,dann möchten wir, daß dieses Standbein auch eines ist,auf dem man stehen kann, und daß es nicht nach einigenJahren zu einem läppischen Spielbein verkümmert. Dar-auf sind wir in dieser Region angewiesen.
Das hat nichts mit irgendwelchem Bejammern odermit irgendwelchen resignativen Gesichtspunkten odermit Verärgerung zu tun. Es geht einfach darum: Wennman in Deutschland Arbeitsplätze schaffen will, dannmuß man auch Vertrauen in den Standort schaffen.Wenn man in Bonn Arbeitsplätze schaffen will, dannbraucht man auch hier für die Region Vertrauen in denStandort. Das Wichtigste für Vertrauen ist, daß man sichan das hält, was zugesagt wurde. Darauf legen wir gro-ßen Wert.
Wir möchten, daß Bonn und die Region die Chancendes Strukturwandels nutzen. Dafür werden alle Kräftehier in der Region gemeinsam kämpfen. Dazu braucht esrheinischen Optimismus, aber eben auch preußischeVerläßlichkeit. „Wort halten“ ist deswegen sehr wohldie richtige Devise für diese Debatte.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Kollegen! Herr Hauser, Herr Westerwelle, ich verstehe
nicht ganz, warum Sie hier so eifern müssen und die
beiden Städte Bonn und Berlin und indirekt auch die von
der Föderalismuskommission festgelegten Standorte
jetzt noch einmal gegeneinander ausspielen müssen.
Wir wissen alle, daß es ein sensibles Problem war, den
gerechten Ausgleich zu schaffen und dann auch zu hal-
ten. Bisher sind alle Beteiligten sehr umsichtig mit die-
sem Thema umgegangen. Ich finde es schon etwas pro-
blematisch, wenn Sie jetzt meinen, Sie müßten dem
Bonner Wahlkampf zuliebe auf einen Putz hauen, den es
gar nicht gibt.
Denn was können Sie der neuen Regierung nachwei-
sen? Sie müssen feststellen, daß sie sehr achtsam mit
dem Berlin/Bonn-Gesetz umgeht und sehr genau darauf
achtet, daß entsprechend den Vorgaben des Gesetzes
vorgegangen wird. Da steht nichts von 10 Prozent; Sie
sollten das Gesetz einmal selber durchlesen, Herr Kolle-
ge Westerwelle.
Ich möchte Ihnen einfach nur sagen: Wie Frau
Dieckmann und die rotgrüne Stadtregierung selbstbe-
wußt und optimistisch mit den Bonner Veränderungen
umgehen, finde ich bewundernswert: ohne verkrampftes
Schreien und Jammern. Bonn wird mit diesen Verände-
rungen klarkommen. Das Problem ist inzwischen prak-
tisch gelöst: Die Bonner, die nach Berlin gehen, haben
sich inzwischen umgestellt; alle Bonner, die hier mit
Veränderungen umgehen müssen, haben das inzwischen
in einer sehr konstruktiven Weise geschafft, allen An-
fangsproblemen zum Trotz; die Berliner, die nach Bonn
kommen, tun das inzwischen auch nicht mehr mit Jam-
mern, sondern mit einer positiven Haltung.
FrauKollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des KollegenWesterwelle?
Dr. Guido Westerwelle
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3784 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Bitte
schön, Herr Westerwelle.
Ich will eine Zwi-schenfrage dazu stellen, weil ich glaube, daß es nicht umEifern geht. Es geht auch nicht darum, irgendwelcheStädte gegeneinander auszuspielen.
Ich bin der Meinung – –
– Das ist meine Frage an Sie: Kann es richtig sein, daß,wenn 10 Prozent vereinbart werden, jetzt plötzlich25 Prozent in Interviews verkündet werden? Können Siesich vorstellen, daß eine Menge Dienstleister, die direktgar nicht vom Umzug betroffen sind, das sorgenvoll se-hen? Wie erklärt es sich dann, daß ausgerechnet HerrMetzger aus Ihrer Fraktion sagt, die Regierung müsse intoto nach Berlin?
Können Sie sich nicht vorstellen, daß das zu Irritationenauch hier in der Region führt?
sieht. Ich dachte, Sie hätten eigentlich genug Gelegen-heit, sich zu informieren. Aber ich antworte gerne aufIhre Frage.Erstens. Genau wie unter der alten Regierung verein-bart, verbleiben zwei Drittel der Beschäftigten hier inBonn. Das wird von der jetzigen Regierung ganz kon-kret umgesetzt. Ein Drittel wechselt nach Berlin.Zweitens. Sie beachten nicht, daß es um drei Betei-ligte geht: die Interessen von Bonn, die Interessen vonBerlin und – dafür sind alle Beteiligten gemeinsam ver-antwortlich – die Sicherstellung der Regierungsfähig-keit in Berlin. Da müssen Sie der neuen Regierungschon zugestehen, daß sie geringfügige Veränderungengegenüber dem, was zu Zeiten der Kohl-Regierung alsRegierungsfähigkeit definiert wurde,
im Rahmen des Berlin/Bonn-Gesetzes vornimmt.
Lesen Sie es bitte durch, Herr Kollege Westerwelle! Ichsage Ihnen eines: Auch ein Kanzler Kohl könnte, wenner gewählt worden wäre und diese Regierung führenwürde, nicht einfach die Ministerialverwaltung ad ulti-mum im Status quo festlegen. Auch er müßte Modifika-tionen vornehmen, wenn er ein Interesse daran hätte, dieRegierung zukunftsfähig zu machen. Das sind kleineVeränderungen im Rahmen des Berlin/Bonn-Gesetzes.Wenn Sie sich genau anschauen, was die Regierungmacht, dann werden Sie feststellen, daß sie sich sehrwohl an die Regeln des Berlin/Bonn-Gesetzes und wei-testgehend an die Vereinbarungen hält, die die alte Re-gierung mit den einzelnen Arbeitsbereichen und denMitarbeitern getroffen hat.Das einzige, was verändert worden ist, ist folgendes:Man hat festgestellt, daß die 10-Prozent-Formel für dieErstdienstsitze in Bonn als Zwangskorsett nicht auf-rechtzuerhalten ist, und hat den Ministerien etwas mehrSpielraum gegeben. Nicht das Gesundheitsministeriumoder das Bildungsressort, nicht das Landwirtschaftsmi-nisterium, nicht das Ministerium für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit, sondern nur das Umweltministerium hatdas in Anspruch genommen, und zwar in ganz kleinemUmfang. Es geht nur um 100 Beschäftigte mehr – wobeiteilweise andere Stellen wieder in Bonn verbleiben –, sodaß es wirklich albern ist, zu behaupten, damit werdedas Berlin/Bonn-Gesetz verletzt. Denn im Berlin/Bonn-Gesetz ist von Politikbereichen die Rede und davon, daßdie Mehrheit der Beschäftigten in Bonn bleibt. Das allesist ganz eindeutig gewährleistet.Ich finde das auch völlig richtig. Was ich nicht richtigfinde, ist, daß Sie jetzt zu zündeln anfangen
und meinen, man müsse auf Grund der Verschiebungvon Nuancen ein neues Faß aufmachen und den Bon-nern erneut Ängste einreden, die überhaupt nicht ange-messen sind.Statt bei diesem Thema wieder für Verunsicherung zusorgen, sollte man ganz ruhig damit umgehen und diekleinen Veränderungen, die übrigens im Einvernehmenmit den Betroffenen, also auf freiwilliger Basis, erzieltworden sind, akzeptieren.
– Doch, Herr Hauser, fragen Sie doch bei den entspre-chenden Beteiligten nach!
Regieren kann nicht starr definiert werden, und über-dies müssen auch Sie die Ziele der Regierungsfähigkeitund des sparsamen Umgangs mit Steuermitteln akzeptie-ren. Denn auch dieses Problem haben wir von Ihnen ge-erbt: Sie sind mit den Kosten sehr, sehr großzügig um-gegangen. Aber die neue Regierung hat die Verantwor-tung, jetzt keinen weiteren Kostenaufwuchs zuzulassen.Auch das ist ein Grund dafür, daß die neue Regierungjetzt nicht aufsattelt. Es geht also nicht nur um politischeVernunft, sondern auch um Kostenbewußtsein und dasInteresse an der Fairneß der Arbeitsteilung zwischenBonn, Berlin und den Föderalismusstandorten.Von daher meine dringende Bitte, jetzt nicht Wahl-kampf zu machen, sondern mit dem Thema so umzuge-hen, wie es Frau Dieckmann in Bonn tut: optimistischund selbstbewußt. Insofern stimmt es, was wir zur Zeit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3785
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überall in der Stadt sehen: „Bonn gewinnt“, und zwarmit Rotgrün.
Der
Kollege Norbert Hauser hat um eine Kurzintervention
gebeten. Ich erteile ihm das Wort, mache aber darauf
aufmerksam, daß ich mit diesem Instrument in der näch-
sten Zeit sehr restriktiv umgehen werde, weil wir bereits
viel Zeit verloren haben.
Herr Hauser, bitte schön.
Vielen Dank,
Herr Präsident.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, der Kollege Wester-
welle hat gerade schon darauf hingewiesen: Ihr letzter
Satz war Wahlkampf, nichts anderes.
Ich will nur eines noch einmal deutlich machen, weil
Sie das aufgeworfen haben: Hier geht es überhaupt nicht
darum, Gegensätze zwischen Berlin und Bonn zu kon-
struieren. Sie wissen, daß es einen Initiativkreis Ber-
lin/Bonn gibt, der sich um die Bewältigung der Schwie-
rigkeiten des Umzugs bemüht. Ich glaube schon, daß die
Bundeshauptstadt Berlin und die Bundesstadt Bonn in
Zukunft sehr gut zusammenarbeiten und sich gegensei-
tig unterstützen können und daß beide Städte eine gute
Zukunft haben werden.
Frau Kollegin, Sie haben recht, wenn Sie sagen, die
10-Prozent-Formel stehe nicht im Gesetz. Dies beruht
auf einem Kabinettsbeschluß aus dem Jahre 1994; dar-
auf will ich mich jetzt gar nicht einlassen. Aber es geht
nicht, daß Vereinbarungen, die eindeutig im Gesetz ge-
regelt sind, nun in Frage gestellt werden, so etwa § 7
Abs. 1 Nrn. 3, 4, 5, 9 – betreffend die Institute, die ich
eben angesprochen habe. Hierauf hat diese Region einen
Anspruch. Ihre Minister, vorneweg Herr Trittin, stellen
diesen Anspruch in Frage. Nur darum geht es.
Nicht lamentieren, Wort halten im Sinne des Geset-
zes! Aber Sie sollten sich an das Gesetz halten und Ge-
setzesverstöße nicht auch noch im Parlament verteidi-
gen.
Frau
Eichstädt-Bohlig, bitte zur Erwiderung.
Interesse an den Bonnern und an einem fairen Ausgleich
haben, bitte ich Sie um eines: Sie sollten dieser Regie-
rung sehr dankbar dafür sein, daß sie so achtsam mit den
Grundprinzipien des Berlin/Bonn-Gesetzes umgeht und
in hohem Maße daran interessiert ist, trotz der vielen
Probleme, die das für die Regierungsfähigkeit bringt,
diesen Interessenausgleich weitestgehend zu beachten
und sich nach ihm zu richten. Daß sich eine Regierung
Richtung Zukunft weiterentwickelt, sollten Sie ihr als
Politiker ein kleines bißchen zugestehen.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Petra Pau
von der PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe wirklich sehr lange nachdem Sinn dieses Antrages gesucht. Auch nach der De-batte ist mir eigentlich nur einer eingefallen: Wahl-kampfhilfe für die Bonner Bürgermeisterwahl.
– Ja, bitte, Oberbürgermeister, noch nicht RegierenderBürgermeister, richtig.Ich muß Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU und auch Ihnen, Herr Westerwelle, alsBonner, sagen: Das ist ein legitimes Anliegen, aber bittenicht mit uns, sondern ganz standesgemäß gegen uns.Das heißt übrigens nicht, daß wir uns in irgendeinerWeise gegen Bonn oder auch gegen Berlin benutzen lie-ßen. Aber schon der moralische Duktus, mit dem dieserAntrag daherkommt – „Wort halten“ –, baut natürlichauf inständiges Vergessen. Denn am 20. Juni 1991 hatder Bundestag nicht nur den Umzug beschlossen, son-dern auch, binnen vier Jahren die Arbeit in Berlin auf-zunehmen.
Zumindest Herr Blüm und Herr Rüttgers, die heute alsAntragsteller „Wort halten“ fordern, müßten sich dochdaran erinnern, auch wenn sie seinerzeit, wie der heutigeUmzugsminister, gegen Berlin votiert haben.
Ich sage Ihnen auch, wie die Berlinerinnen und Berli-ner diese Art von „Wort halten“ sehen. Sie sagen ein-fach: Spät kommen sie und obendrein noch ganz schönteuer.Wir haben in den vergangenen Jahren viele Vor-schläge für einen zügigen und einen finanziell vertretba-ren Umzug gemacht. Mit anderen Worten: Wenn esschon ums Worthalten geht, dann haben wir und dieje-nigen, die solche Vorschläge unterbreitet haben, Wortgehalten. Dazu brauchten wir diesen Antrag und dieseDebatte heute tatsächlich nicht.Franziska Eichstädt-Bohlig
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3786 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Nun fordern Sie aber in diesem Antrag noch ein biß-chen mehr. Wir sollen nämlich nachträglich alle Verträ-ge gutheißen, die im Namen dieses Umzuges verbocktwurden.
Da sage ich Ihnen ganz deutlich: Sie werden weder mei-ne nachträgliche Zustimmung zu dem unsäglichenHauptstadtvertrag bekommen, der insbesondere Berline-rinnen und Berlinern in ihrer Stadt Nachteile bringt,noch zu welchem Großprojekt auch immer, auch nichtdurch die Hintertür dieses Antrages.Damit mich hier heute keiner mißversteht: Ich bin füreinen fairen Umgang mit Bonn, wie ich auch für einenfairen Umgang mit Berlin bin. Vor allen Dingen bin ichfür einen fairen Umgang mit allen vom Umzug Betrof-fenen. Das sind sehr viel mehr als diejenigen, die jetzttatsächlich umziehen und ihren Wohnsitz verlagern. Dassage ich ausdrücklich auch den Bonnerinnen und Bon-nern, die mich hier nicht nur fair, sondern auch sehrrheinländisch aufgenommen haben.
– Das kann ja sein.Aber das ist nicht der Punkt dieses Antrages, sondernes geht um die Verteilung von Lasten und Privilegien. Indiesem Fall mache ich Ihnen einen Vorschlag: LassenSie doch einfach zwei der Feiertage, die die Bonner hierhaben, mit umziehen. Die Bonner werden nichts verlie-ren, und die Berliner werden etwas gewinnen. Bonn undBerlin werden dadurch noch ein Stückchen mehr zu-sammenwachsen.
– Mir reichen auch die anderen beiden Feiertage, die ichjüngst vorschlug.Ein letzter Gedanke.
Heute wurde mehrfach beschworen – das steht auchin diesem Antrag –, daß sich nichts ändern soll. In achtJahren kann sich sehr viel ändern. Wir werden beideRegionen und ihr Wohl im Blick behalten. Aber glaubenSie mir: Wir haben sehr viel mehr Erfahrung damit,wenn Leute jahrelang den Satz vor sich hertragen: Essoll sich nichts ändern, weil es einmal beschlossen wur-de. Wir sollten uns mit dieser schlechten Erfahrung nichtnach Berlin begeben, und wir sollten mit dieserschlechten Erfahrung auch die Bonner nicht belasten.Danke schön.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Siegfried
Helias von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem Bei-trag von Frau Eichstädt-Bohlig fühlte ich mich eher inein Wahlkampflokal versetzt und meinte, ich sei nichtmehr im Deutschen Bundestag. Ich will versuchen, daßwir wieder auf die Ebene einer vernünftigen Debatte zu-rückfinden.Ich habe vor einiger Zeit in einer großen Wochen-zeitung gelesen: „Bonn bleibt unvergessen.“ Das klangwie ein Nachruf, nach dem Motto: Ruhe sanft. Ichmeine, das hat Bonn nun wirklich nicht verdient. Bonnist zweifelsohne eine Stadt mit einer großen Vergangen-heit, aber ist viel zu jung und zu aktiv, um seine Bedeu-tung allein aus dem Geschichtsbuch zu beziehen. Bonnhat eine sehr lebendige Gegenwart, und – mehr noch –Bonn ist eine Stadt mit Zukunft.Daß diese Zukunft Chance und Herausforderung zu-gleich ist, hat mein Kollege Norbert Hauser beschrieben.Im Wettbewerb der Regionen werden vor allem die zuden Gewinnern zählen, die auf die eigenen Kräfte ver-trauen, die Ärmel hochkrempeln und die Herausforde-rungen der Zukunft aktiv annehmen. Dabei steht Bonnganz gut da. Es bleiben ja nicht nur die sechs Ministe-rien am Rhein; Bonn erlebt den Ausbau zum Nord-Süd-Zentrum, das in ein internationales Geflecht von Hilfs-diensten, Entwicklungsplanung und friedlichem Interes-sensausgleich eingebunden wird. Bonn entwickelt sichzu einem Zentrum der Kommunikationstechnologie, undBonn kann zu einem bedeutenden Bildungs- und Kon-greßzentrum werden. Zusammen mit Köln und demRhein-Sieg-Kreis bildet Bonn eine starke, wettbewerbs-fähige Region.Wir haben gerade bei der Behandlung des vorigenTagesordnungspunktes von regionalen Leitbildern ge-hört. Hier bildet sich ein neues heraus. Die Konturenwerden immer schärfer. Ich denke, die anstehenden Pro-bleme, die es zweifelsohne gibt, werden wir nur ineinem engen Zusammenspiel von Ländern und nationa-len Institutionen lösen.Wer nun in der Bonner Region glaubt, durch denWegzug von Parlament und Regierung einen Macht-und Bedeutungsverlust hinnehmen zu müssen, dem halteich entgegen, daß Machtaufteilung ein Grundprinzipunserer föderalen Ordnung ist. Insofern präsentiert sichdie Bundesrepublik Deutschland als moderner föderalerStaat mit seiner Bundeshauptstadt Berlin und der Bun-desstadt Bonn. Sie betont dabei die Zentralgewalt durchdie Stärkung der Regionen und folgt damit einer gutenTradition.Lassen Sie mich dafür einige wenige Beispiele nen-nen. So, wie wir Karlsruhe mit dem Bundesverfassungs-gericht in Verbindung bringen und Nürnberg mit derBundesanstalt für Arbeit, werden Leipzig als künftigerSitz des Bundesverwaltungsgerichts und Erfurt als Sitzdes Bundesarbeitsgerichts ihre bisherige Bedeutungsteigern. Die Verlagerung staatlicher Aufgaben stärktalso die Regionen und ermöglicht so neue Handlungs-felder und auch ein neues Selbstbewußtsein.Und die Bonner? Sie können schon darauf vertrauen,daß wir, die Union, Wort halten. Sie können auch denPetra Pau
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Berlinern vertrauen. Ob sie allerdings der Bundesregie-rung trauen können, da bin ich mir nicht so ganz sicher.Wer im Zeitalter eines neuen, modernen Arbeitsplatz-managements noch nicht einmal die Pendlerfrage in denGriff bekommt, wer noch nie etwas davon gehört hat,daß es Zeitkonten gibt, daß es Arbeitszeitflexibilität gibt,und wer an überkommenen wilhelminischen Traditionenvon anno Zopf in der Arbeitswelt festhält, dem kann icheigentlich nur zutiefst mißtrauen.
Wer kleine Dinge schon nicht in den Griff bekommt,wird auch das Große nicht meistern können.Zum Abschluß möchte auch ich mich als neues Mit-glied des Bundestages bei den Bonnern bedanken: zumeinen persönlich für die freundliche Aufnahme, zum an-deren aber auch für den Beginn einer neuen Partner-schaft in den Bereichen Wissenschaft, Kultur, Bildungund Sport. Gerade im Sport hat es ja ein erstes ermuti-gendes Zeichen dafür gegeben, wie man Dinge verbin-den kann.
Ich meine die Deutschlandrundfahrt der Radprofis.
– Beruhigen Sie sich einmal, Männeken.
Diese Rundfahrt hat ihren Start in Berlin und ihr Ziel inBonn. Wenn wir so etwas dauerhaft verankern können,wäre das etwas Wunderbares.Ein weiteres zartes Pflänzchen gibt es in der Kultur-landschaft. Am nächsten Wochenende wird beim gro-ßen Theatermarkt an der Deutschen Oper Berlin dasBonner Theater am Ballsaal sein und dort das Sound-projekt „Citysongs“ vorstellen. Ich denke, umgekehrtwird auch ein Schuh daraus, wenn die kulturelle Reisewieder an den Rhein geht. Warum soll man nicht Insze-nierungen der Bonner Bühnen in Berlin zeigen oder um-gekehrt? Das spart zum einen Kosten, zum anderenschafft es Dinge, die verbinden.Deswegen: Trennendes sollte der Vergangenheit an-gehören. Partnerschaftlich werden Berlin und Bonn dieZukunft meistern.
Herr
Kollege Helias, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede
im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Fried-
helm Julius Beucher, SPD-Fraktion. Bitte schön.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wort halten ist eine edle Forde-rung, die nicht nur in der Politik, sondern überall imtäglichen Leben Garant für fairen und vernünftigen Um-gang miteinander ist. Insofern werden Sie uns immer aufIhrer Seite haben.Wenn man Ihren Antrag liest, findet man vieles,dem man zustimmen kann. Doch derjenige, der heute,am 17. Juni 1999, Wort halten für die Umsetzung derBonn/Berlin-Beschlüsse einfordert, muß sich natürlichfragen lassen, was er vor dem 27. September 1998 selbstdazu beigetragen hat. Da bahnt sich für die heutige Op-position bereits das Dilemma an, wenn man nicht sagenwill: Es ist ganz schön keck, was Sie als ehemalige Ver-antwortliche für die Umsetzung der Beschlüsse von1991 und 1994 hier fordern.Meinen Sie wirklich, der Bürger sieht und weiß nicht,was Sie alles der neuen Regierung ungelöst und unge-klärt hinterlassen haben?
Dazu gehört vor allen Dingen, Herr Westerwelle, auchIhr Zaudern und das Ihres Koalitionspartners vor derletzten Wahl, die neue Bonn-Vereinbarung auf dennotwendigen Weg zu bringen. Sie konnten oder wolltensich nicht gegen die Betonköpfigkeit des damaligenFinanzministers durchsetzen.Die Bonn-Vereinbarung, eine Finanzvereinbarungüber den Bundeszuschuß für die nächsten zehn Jahre,haben Sie einfach liegenlassen. Sollten sich doch anderedamit herumschlagen.
Sie wissen ganz genau, daß die Stadt Bonn deshalbgroße Probleme hat. Sie wissen, daß es mittel- und lang-fristige Verträge gibt, die eingehalten werden müssen.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, war kein Ruh-mesblatt.
Die nächste peinliche Hinterlassenschaft ist die im-mer noch ungeklärte Nutzung des Plenarsaals. DasParlament zieht aus, und es gibt keine Entscheidungdarüber, was mit dem Plenarsaal passiert.
Sie waren es auch, die eine Chance vergeben haben, miteinem attraktiven internationalen Konferenzzentrum hiereine unmittelbare Anschlußnutzung zu garantieren. Daskann man nicht von heute auf morgen. Es ist eine origi-näre Aufgabe des Bundes, sich darum zu kümmern. Siehätten das bereits tun müssen.Sie haben doch auch 50 Jahre lang das Reichstagsge-bäude in Berlin unterhalten. Kann mir daher jemand er-Siegfried Helias
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klären, wieso der Bund für diesen Plenarsaal nicht zu-ständig sein soll?
Wenn man inzwischen die Kurve genommen habensollte – wie ich es soeben dem Beitrag des Parlamentari-schen Staatssekretärs entnehmen konnte –, so begrüßenwir das natürlich; denn Weichen müssen zeitig undrichtig gestellt werden, wenn keine unübersehbaren Fol-gen auf einen zukommen sollen.In diesem Zusammenhang kann ich auch nicht die un-rühmliche Art und Weise verschweigen, in der Sie denPetersberg verramschen wollten. Das Hotel Petersbergist ein wichtiger Ort deutscher Nachkriegsgeschichte.Herr Kinkel, den ich als Sportler sehr schätze und der imSportausschuß ein ganz hervorragender Zu- und Mitar-beiter ist, hat sich in dieser Frage nicht mit Ruhm be-kleckert.
Während der Bund in Berlin Regierungsgebäude derfrüheren NS-Regierung und der ehemaligen DDR-Regierung selbstverständlich im Eigentum behält undwieder bezieht, wird mit dem Petersberg, einem bau-lichen Symbol der erfolgreichen Nachkriegsdemokratieunseres Landes, ohne Einfühlungsvermögen der Immo-bilienmarkt gefüttert.Warum haben Sie es nicht fertiggebracht, ein sinn-volles Konzept für den Petersberg zu erarbeiten? Bonnsoll doch zum Nord-Süd-Zentrum werden.
Einige UN- und andere internationale Organisationensind schon in Bonn oder werden noch kommen. Es gehthier um einen fairen Ausgleich für die Region, HerrWesterwelle. Es geht auch darum, daß Ministerien inBonn bleiben. Also bietet es sich an, das Gebäude aufdem Petersberg dafür zu nutzen.
Unter Bauminister Oswald wurde schließlich derfreundliche Stillstand zur Regierungskunst erhoben. Ichmöchte deshalb etwas über den Schürmannbau sagen.Der Schürmannbau ist ein besonderes Denkmal für dieUnfähigkeit der vergangenen Regierung. Seit 1993dümpelte diese Bauruine vor sich hin. Erst seit meinKollege, Minister Müntefering, die Dinge in die Handgenommen hat, laufen die Arbeiten dort wieder aufHochtouren.
– Mein Herz ist ausreichend rot. Deshalb brauche ichIhre Hinweise nicht. Es ist auch ganz natürlich, daß Siejetzt so reagieren. Es ist ein ganz natürliches menschli-ches Symptom, daß man dann, wenn man getroffenwird, laut aufschreit. Ich sehe daran, daß ich getroffenhabe.Den Liegenschaftsfonds haben Sie jahrelang blok-kiert. Unter der Kohl-Regierung fand oft ein unerträgli-ches Gezerre zwischen der administrativen Ebene derBundesministerien und den Gebietskörperschaften derRegion statt. Geradezu als mutig muß ich in diesem Zu-sammenhang die Tatsache bezeichnen, daß sogar IhrKollege Rüttgers Ihren Antrag unterschrieben hat. Dergleiche Jürgen Rüttgers hat nichts, aber auch gar nichtsunternommen, als es darum ging, die DARA, die Deut-sche Agentur für Raumfahrt, in Bonn zu halten, im Ge-genteil: Er hat sie damals ohne Not aufgelöst. Gegen-über der Stadt Bonn vertrat er dann die Auffassung, daßBonn doch schon genug bekommen und die DARAnicht nötig habe.Auch das Internationale Forschungszentrum CAE-SAR hat unter Herrn Rüttgers Amtsführung als For-schungsminister einen schweren Rückschlag erlitten.
Der erste Gründungsrektor sprang ab. Die Suche nacheinem geeigneten Grundstück wurde mehr als dilettan-tisch betrieben.
Wenn ich Ihnen jetzt sage – Herr Hauser, hören Sie jetztgut zu –, daß der frühere Staatssekretär Stahl die Ver-antwortung für dieses Desaster hat – der gleiche Stahl,der jetzt in Bonn gegen die erfolgreiche Oberbürgermeiste-rin Bärbel Dieckmann als CDU-Gegenkandidat antritt –,dann wissen wir alle, woher der Wind weht.
Damit finden wir offensichtlich den Schlüssel zu denMotiven für Ihren Antrag. Hier geht es nicht um Bonn.Hier geht es nur vordergründig um Wort halten; viel-mehr wird hier knallhart Kommunalwahlkampf durchdie Hintertür betrieben.Zugleich kündigt die CDU damit aus Wahlkampfin-teressen den bisherigen regionalen Konsens auf. Es warwohltuend und hat der Region Bonn mit seinen 1 Mil-lion Einwohnern sehr genutzt, daß die politischen Kräfte– sei es im Landtag, im Bundestag, in den Kreistagenoder in den Stadt- und Gemeinderäten – hier immer miteiner Zunge gesprochen haben und im Konsens die Sa-che Bonns vertreten haben. In den Bundestags-, Land-tags- oder Kommunalwahlen wurde kein Kandidat mitder Frage konfrontiert, ob er für oder gegen Bonn ge-stimmt hat. Dieses Thema wurde im Wahlkampf nichtmißbraucht. Von dieser erfolgreichen Strategie für dieseRegion hat sich die CDU/CSU offensichtlich verab-schiedet, es sei denn, daß Sie jetzt die Chance ergreifen– ich hoffe, Herr Röttgen, Sie gehen darauf gleich ein –,konstruktiv mitzuarbeiten und den Antrag, dessen In-halte sehr wichtig sind, mit uns an die Ausschüsse zuFriedhelm Julius Beucher
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überweisen, um damit Stück für Stück die Bonn/Berlin-Vereinbarung umzusetzen und somit zu ihrer Einhaltungbeizutragen.Den Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenbitte ich, sich weiter intensiv, wie zum Beispiel gesternim Haushaltsausschuß, um die Anschlußnutzungen zukümmern. In diesem Ausschuß wurde für weitere dreiProjekte eine Förderung von 27,5 Millionen DM ausdem Ausgleichsfonds beschlossen. In diesem Zusam-menhang will ich auch nicht die Bereitstellung des Hau-ses in der Dahlmannstraße – das Haus der Parlamentari-schen Gesellschaft – unerwähnt lassen, in das als ersterMieter die Willi-Daume-Stiftung einziehen wird.
Das alles sind kleine, aber sehr wichtige Schritte ge-gen die Haltung: Hier wird am 2. Juli dieses Jahres derSchlüssel herumgedreht und dann nach mir die Sintflut.Das zu verhindern ist eine gemeinsame Aufgabe im In-teresse unserer Glaubwürdigkeit und im Interesse derMenschen dieser Region.Herzlichen Dank.
Als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der
Kollege Norbert Röttgen das Wort.
Herr Präsident! Mei-
ne sehr geehrten Damen und Herren! Als letzter Redner
in dieser Debatte muß ich Sie schon fragen: Warum tun
Sie sich so schwer, diesem Antrag zuzustimmen? Es ist
ein Antrag, in dem es nach seiner Überschrift, seinem
Inhalt und seinem Ziel nur darum geht, zu sagen, daß
Wort gehalten wird. Warum tun Sie sich so schwer, zu
sagen: Wir sind dafür, daß wir das, was Gesetz ist, auch
einhalten? Welche Passage, welches Wort gefällt Ihnen
in diesem Antrag nicht?
– Wir haben ein Gesetz verabschiedet. Es geht hier doch
nicht um irgendein Wort, sondern es geht um das Wort
des Parlamentes. Es geht um geltende Gesetze.
Ich kann Ihnen sagen, warum wir diesen Antrag stel-
len. Wir stellen diesen Antrag, weil wir begründete An-
haltspunkte dafür haben, weil es konkretes Verhalten
dieser Bundesregierung gibt, die geltende Gesetzeslage
nicht einzuhalten.
– Lieber Herr Gilges, es ist bezeichnend, daß Sie dar-
über noch nicht einmal informiert sind. Aber ich möchte
gerne die Gelegenheit dieser Debatte nutzen, Sie zu in-
formieren.
Am 3. März hat der jetzt auch in der Debatte anwe-
sende Bundesumweltminister eine Kabinettsvorlage ein-
gebracht, die vorsieht, daß das Bundesamt für Strah-
lenschutz nicht von Berlin nach Bonn verlegt wird.
Obwohl es eindeutig so im Berlin/Bonn-Gesetz festge-
schrieben ist, bringt er einen Antrag ein, der gegen diese
gesetzliche Festlegung gerichtet ist. Das ist Gesetzes-
bruch, wenn Sie das machen. Das ist Wortbruch Ihrer
Regierung.
Sie als Kölner Abgeordneter wissen es noch nicht ein-
mal.
Sie stellen sich hier selber ein tolles Zeugnis aus.
Der auch jetzt in der Debatte anwesende Bundeswirt-
schaftsminister hat in derselben Kabinettssitzung eine
Vorlage eingebracht, die Berliner Außenstelle der Bun-
desanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe von
Berlin nicht nach Bonn, sondern nach Hannover zu ver-
legen. Auch das steht im eindeutigen Widerspruch zum
geltenden Recht. Das ist das Handeln Ihrer Regierung.
Das ist der Grund dafür, warum wir im Parlament den
Antrag „Wort halten“ einbringen. Ihre Regierung gibt
Anlaß dazu, sie zu ermahnen, Wort zu halten.
Ich hätte mir gewünscht und habe auch erwartet, daß
zumindest die SPD-Fraktion diesem Antrag zustimmt;
denn es geht doch darum, daß auch das Parlament er-
warten kann, daß sich die Regierung an geltendes Recht
hält. Liebe Frau Eichstädt-Bohlig, Sie sagen, die Region
Bonn solle dafür dankbar sein, was die Regierung tut.
Meine Damen und Herren, es sollte eine Selbstverständ-
lichkeit sein, daß sich eine Regierung an geltendes Recht
und Gesetz hält. Aber bei dieser Bundesregierung ist es
nicht selbstverständlich.
Was ich wirklich enttäuschend finde: Wir haben in
dieser Debatte auch die Gelegenheit, für Klarheit zu
sorgen. Sowohl der Staatssekretär, der eben gesprochen
hat, als auch Sie, Herr Beucher, haben nicht für diese
Klarheit gesorgt. In NRW hat es gestern Schulzeugnisse
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Thema verfehlt, ungenügend. Sie haben keine Silbe zumThema gesagt, zu den Fragen, zu denen Sie Unklarheitgeschaffen haben, zu dem es Regierungshandeln gibt,das gegen die Vereinbarung und gesetzlichen Regelun-gen gerichtet ist. Sie haben die Chance gehabt, für Klar-heit zu sorgen. Sie haben dieser Region diese Klarheitnicht gegeben.
Es ist ein im Grunde demokratischer Skandal, daßsich die Regierung über Gesetze hinwegsetzt. Der Bun-desumweltminister sagt in Interviews: Gesetze werdenohnehin so interpretiert, wie das der jeweiligen Interes-senlage gerecht wird. Die Region Bonn, Rhein-Sieg,Ahrweiler, die einen schwierigen Strukturwandel zu be-stehen hat und ihn konzeptionell gestalten will, ist aberFriedhelm Julius Beucher
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auf Verläßlichkeit seitens der Bundesregierung existen-tiell angewiesen. Wir brauchen sie wie die Luft zumAtmen. Darauf haben wir auch einen Anspruch, weil esgesetzliche Grundlagen gibt. Das ist der Appell diesesAntrages. Sie haben heute leider diese Klarheit nicht ge-schaffen.Wir fordern deshalb ein, daß dem Berlin/Bonn-Gesetz nach Buchstabe und Geist entsprochen wird. Wirhalten es mit dem Geist des Gesetzes für unvereinbar,wenn die Unterabteilung „Internationale Zusammenar-beit“ verlegt werden soll, obwohl der PolitikbereichUmwelt, Entwicklung, internationale Organisationen fürBonn vorgesehen ist. Wir halten es für unverständlich,warum der deutsche Sitz des Deutsch-Französischen Ju-gendwerkes, eine binationale Einrichtung mit einempolitischen Bildungsauftrag, in Rhöndorf – der Heimat-stadt Konrad Adenauers, der 1963 den deutsch-französischen Vertrag mit de Gaulle abgeschlossen hat –,in Frage gestellt wird. Völlig grundlos stellen Sie denPolitik- und Behördenstandort dieser Region in Frage.Damit schlagen Sie an die Säule, die auch in Zukunft dieEntwicklung dieser Region tragen soll.Am Schluß dieser Debatte möchte ich die Gelegen-heit nutzen, an alle, auch an die Fraktionen, die dieseRegierung tragen, zu appellieren, nicht wegzuschauen,sondern dafür zu sorgen, daß Gesetze eingehalten wer-den. Wir sind es uns als Parlament schuldig, daß Gesetzeeingehalten werden und daß kein offener Gesetzesbruchdurch die Regierung betrieben wird. Wir sind dies auchder Region Bonn schuldig, die den Deutschen Bundes-tag 50 Jahre lang – das war die erfolgreichste Demokra-tiegeschichte dieses Landes – beherbergt hat. Die Stadtund die Region Bonn haben es verdient, daß wir verläß-lich, fair und anständig mit ihnen umgehen.Herzlichen Dank.
Frau
Kollegin Matthäus-Maier hat den Wunsch nach einer
ganz kurzen Kurzintervention, die ich zulasse.
Herr Kollege Rött-
gen, Sie fragen, warum wir Ihrem Antrag nicht einfach
zustimmen, sondern ihn an die Ausschüsse überweisen.
Das kann ich Ihnen sagen. In dem Antrag steht vieles,
was wir unterschreiben können. Das gilt gerade für die-
jenigen von uns, die aus dieser Region stammen; das ist
von Julius Beucher und auch von Achim Großmann
vorgetragen worden. Es gibt bei der Umsetzung des Ge-
setzes in der Tat Dinge, die uns nicht gefallen: Ich denke
etwa an die 25 Prozent bei Herrn Trittin. Aber ich weise
darauf hin, daß unsere Haushälter weniger Geld zur Ver-
fügung gestellt und dadurch Restriktionen herbeigeführt
haben.
Wir stimmen deswegen nicht mit Ja, sondern für
Überweisung, weil uns mißfällt, daß Sie, statt die tradi-
tionelle Übereinkunft der Politiker aus dieser Region
weiterhin zu nutzen, um der Region zu helfen, offen-
sichtlich simplen Wahlkampf machen. Das mögen wir
nicht, und das hilft der Region nicht. Wir werden ge-
meinsam dafür sorgen, daß die Vereinbarungen einge-
halten werden. Das ist unser Ziel; darauf können Sie
sich verlassen. Machen Sie bitte mit und lassen Sie die-
sen simplen, vordergründigen Wahlkampf!
Herr
Röttgen zu einer Kurzantwort, bitte.
Ich möchte nur in
aller Kürze dem, was Frau Matthäus-Maier eben sagte,
entgegentreten. Wenn das Parlament die Einhaltung
geltenden Rechts einklagt, darf man das nicht als Wahl-
kampf diffamieren. Vielmehr sollte man mitmachen;
denn so etwas kann ein Parlament einmütig beschließen.
Zu diesem Konsens sollten wir wieder zurückfinden.
Ichschließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-sung der Vorlage auf Drucksache 14/1004 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlichan den Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-sen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dasist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENKeine weitere Unterstützung der Atom-kraftwerke Khmelnitski 2 und Rovno 4 inder Ukraine– zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-DieterGrill, Dr. Klaus W. Lippold , Ca-jus Julius Caesar, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUFesthalten an den Zusagen zum Bau von si-chereren Ersatzreaktoren in der Ukraine– zu dem Antrag der Abgeordneten Angela Mar-quardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gre-gor Gysi und der Fraktion der PDSInvestitionen der Europäischen Bank fürWiederaufbau und Entwicklung in Khmel-nitski 2 und Rovno 4– Drucksachen 14/795, 14/819, 14/708, 14/1143 –Berichterstattung:Abgeordnete Horst KubatschkaKurt-Dieter GrillMichaele HustedtUlrike FlachEva-Maria Bulling-SchröterEs liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.vor.Norbert Röttgen
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Ich weise darauf hin, daß wir nach der Ausspracheeine namentliche Abstimmung durchführen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Red-ner hat der Kollege Horst Kubatschka von der SPD-Fraktion. – Herr Kubatschka, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die G-7-
Entscheidung von 1995 war falsch.
Wir behandeln in diesem Parlament wieder einmal
eine Altlast der Regierung Kohl.
Im Kreis der G 7 hatte man dabei weniger die Interes-
sen der Ukraine in den Mittelpunkt gestellt; es ging
vielmehr um die Interessen der Kernenergie-Industrie.
Für die Stillegung von Tschernobyl sollten zwei an-
dere Kernkraftwerke fertiggestellt werden, K 2 und R 4.
Können diese beiden Kernkraftwerke ein Ersatz für
Tschernobyl sein? Diese Frage muß mit einem klaren
Nein beantwortet werden. Nach den bisherigen Verein-
barungen soll Tschernobyl im Jahre 2000 abgeschaltet
werden. Die beiden Kernkraftwerke K 2 und R 4 wä-
ren aber frühestens 2004 bis 2006 fertig. Außerdem gibt
es überhaupt keine Garantie, daß Tschernobyl wirklich
abgeschaltet wird. Ich darf daran erinnern: 1991 hat das
ukrainische Parlament beschlossen, 1993 alle Blöcke in
Tschernobyl stillzulegen. Dieser Beschluß wurde wieder
aufgehoben. Es arbeitet immer noch ein Reaktor am Un-
glücksstandort.
Welche Gründe sprechen dagegen, mit unserer Hilfe
K 2 und R 4 zu Ende zu bauen? Es gibt vier Argumente
gegen den Weiterbau.
Erstens: Fragen der Wirtschaftlichkeit. Laut CDU/
CSU-Antrag sind die Kernkraftwerke zu 80 bis 90 Pro-
zent fertig. Aber der Löwenanteil der Finanzierung muß
noch geleistet werden. Für die restliche Finanzierung
sind 3,4 Milliarden DM notwendig. Wenn schon Neu-
bauten, dann sollten GuD-Kraftwerke gebaut werden.
Diese wären wirtschaftlicher und auch sicherer. Wäre es
nicht vernünftiger, die Kohlekraftwerke zu modernisie-
ren? Sie würden die Abhängigkeit der Ukraine von Gas-
und Uranimporten verringern. Wichtiger wäre es aber,
wenn die Ukraine das Problem der gigantischen Ener-
gieverschwendung durch Effizienzsteigerung bei der
Stromproduktion, beim Stromtransport und bei einer
besseren Energienutzung in den Griff bekäme.
Zweitens: Gibt es überhaupt einen Bedarf? Ich sage
auch dazu ein klares Nein. Beim Stromverbrauch im
Jahre 1997 war die Kraftwerkskapazität nur noch zu 50
Prozent ausgelastet. Der Strombedarf fällt laufend. Dazu
möchte ich einige Zahlen nennen – um unverdächtig zu
erscheinen, nenne ich Zahlen der OECD und aus der
Zeitschrift „Atomwirtschaft“ –: 1991 betrug die gesamte
Stromerzeugung in der Ukraine 298 Milliarden Kilo-
wattstunden. 75 Milliarden Kilowattstunden kamen aus
Atomkraftwerken, 223 Milliarden Kilowattstunden
stammten aus konventionellen Kraftwerken. 1997 wur-
den insgesamt 168 Milliarden Kilowattstunden in der
Ukraine erzeugt. Aus Atomkraftwerken kamen 79 Milli-
arden Kilowattstunden, 89 Milliarden Kilowattstunden
kamen aus konventionellen Kraftwerken. Der Strombe-
darf ist also dramatisch zurückgegangen – um über 40
Prozent.
Es wurden aber keine Atomkraftwerke stillgelegt, wie
damals in den neuen Bundesländern; vielmehr wurden
die fossilen Kraftwerke Zug um Zug heruntergefahren.
Es besteht also eine große Reserve. Wenn es Probleme
gibt, dann gibt es sie bei der Stromverteilung.
Drittens. Der erzeugte Strom wird also nicht für die
Ukraine benötigt, sondern für den Export. Die Ukraine
hat auch bereits den EVUs Offerten vorgelegt. Ein Preis
von 1,53 Pfennig pro Kilowattstunde wird genannt. Über
eine Gleichstromkoppelung können die Netze jederzeit
verbunden werden.
Viertens: Die Frage der Sicherheit. Für mich ist diese
Frage entscheidend. Wir wissen auf Grund der Erfah-
rungen mit Tschernobyl: Wir können sehr schnell be-
troffen sein. Die neuen Reaktoren sind zwar die jüngsten
Kinder einer Reaktorlinie; sie weisen trotzdem gravie-
rende Mängel auf. Die Vertreter der Atomindustrie
glauben, diese gravierenden Mängel durch Nachrüstun-
gen beheben zu können. Doch die Ukraine hat gar nicht
vor, diese Mängel bereits vor Fertigstellung zu beheben.
Später, bei Abschaltzeiten, könnte dann nachgerüstet
werden, so nach der Parole: Erst verdienen wir das Geld
im Westen, und dann könnten wir vielleicht nachrüsten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um
Arbeitsplätze in Deutschland. Bei diesen niedrigen
Energiepreisen würde sich ein Energieproduktions-
standort Deutschland erübrigen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Alsnächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill vonder CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Minister, wären Sie bereit, jetzt zu sprechen? –Dann spricht als nächster Redner Herr BundesministerDr. Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Ich darf zunächst freundlicherweise um Ver-ständnis bitten. Ich muß die Plenarsitzung spätestens um19.20 Uhr verlassen, weil ich eine Unterschrift als EU-Ratspräsident im Beisein des Kanzlers und des kanadi-Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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3792 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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schen Premierministers leisten muß, die von derRechtslage her nur ich leisten kann. Deswegen muß ichdann leider weg. Ich bitte um Verständnis und danke fürdie Umstellung der Rednerliste.Die Frage der Fertigstellung der ukrainischen Reakto-ren Khmelnitski 2, K 2, und Rovno 4, R 4, ist ein Sach-verhalt, der die westliche Staatengemeinschaft schon seiteinigen Jahren beschäftigt, der also von der neuen Bun-desregierung im übernommenen Zustand und im Kon-text weiter zu bearbeiten ist. Wenn ich von der westli-chen Staatengemeinschaft spreche, dann meine ich dieEU und G 7.Der Europäische Rat hat am 3./4. Juni in Köln zumThema K 2/R 4 folgende Schlußfolgerung des Vorsitzesgezogen, die ich zitiere:Der Europäische Rat erinnert an die Verständigung„G 7-Ukraine“ über die Schließung des Kernkraft-werkes Tschernobyl. Er unterstreicht die Notwen-digkeit, alles Mögliche für eine Abschaltung imJahr 2000 wie vereinbart zu tun, und fordert die in-ternationale Gemeinschaft auf, Maßnahmen zu prü-fen, um die Folgen einer Schließung des Kern-kraftwerks Tschernobyl für die Ukraine erträglichzu machen.Das ist also der Inhalt des EU-Beschlusses, und nun be-reitet die Bundesregierung das G-7-Treffen vor. Bevorich darauf zurückkomme, gestatten Sie mir, daß ich denSachverhalt K 2/R 4 kurz beschreibe, wie er sich derBundesregierung darstellt.Auf der Grundlage der G-7-Ukraine-Verständigungvom 20. Dezember 1995 sollen die damals noch betrie-benen Reaktorblöcke von Tschernobyl bis zum Jahr2000 geschlossen werden. Das ist bis heute leider nochnicht vollständig geschehen.Im Abschnitt II dieses Memorandum of Unterstan-ding, überschrieben als „Energy Investment Program“,ist auch vorgesehen, daß zwei Kernkraftwerke mit west-licher Unterstützung zu Ende gebaut werden sollen.Der Stand zur Zeit ist, daß die Voraussetzungen fürdie vom Westen gegebene Finanzierungszusage ge-prüft werden. Zuständig für die Prüfung ist die Europäi-sche Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. DiesePrüfung der Kreditvoraussetzungen ist weit vorange-schritten, aber – ich sage es bewußt so – noch nicht ab-schließend durchgeführt. Insofern ist der Zeitpunkt nochnicht reif, um eine absolut definitive Entscheidung zurFertigstellung der im Bau befindlichen Reaktoren zutreffen, da die Frage der internationalen Finanzierungeben noch nicht abschließend geklärt ist. Das wird bisSeptember erwartet.Folglich können wir vor diesem Hintergrund auf demG-7-Gipfel jetzt in Köln noch keine definitive Entschei-dung zur Kreditvergabe für die Fertigstellung treffen.Aber wir können uns auch nicht in eine Position bege-ben, die als Absage an das Projekt verstanden werdenkann, denn was die kerntechnische Seite angeht, ist diePrüfung der Europäischen Bank für Wiederaufbau undEntwicklung abgeschlossen. Damit meine ich die Wirt-schaftlichkeit, die Umweltverträglichkeit und insbe-sondere auch die nukleare Sicherheit.All diese Voraussetzungen sieht die EuropäischeBank für Wiederaufbau und Entwicklung definitiv alsgegeben an. Zu prüfen bleibt die wirtschaftliche Zuver-lässigkeit, das heißt die Kreditwürdigkeit von Energo-atom als Betreiber. Dazu wurde am 21. Mai dieses Jah-res ein Aidemémoire abgestimmt, in dem Voraussetzun-gen für Kreditwürdigkeit mit der Ukraine vereinbartwurden. Dazu gehört insbesondere, daß die Bareinnah-men des Betreibers erhöht werden müssen und daß wei-tere Fortschritte bei der Privatisierung der Stromvertei-lungsunternehmen zu erzielen sind. Die EuropäischeBank für Wiederaufbau und Entwicklung wird dem-nächst die abschließenden Verhandlungen mit derUkraine zur Sicherstellung der Kreditwürdigkeit desKreditnehmers beginnen. Es sei – nicht ganz nebenbei– angemerkt, daß vorherige politische Beschlüsse zurdefinitiven Kreditvergabe die Positionen der Bank imRahmen dieser – so will ich es einmal formulieren –kaufmännischen Verhandlungen natürlich erheblichschwächen.Generell ist festzustellen: Würde die Bundesregie-rung jetzt ein negatives Signal empfehlen, würde sie sichinnerhalb der G 7 isolieren müssen und von der EU-Willensbildung entfernen, abgesehen von Schadwir-kungen auf das gute Verhältnis zur Ukraine. Genaudiese Isolierung und solche Schäden will die Bundesre-gierung nicht.
Ich bitte Sie, einige nähere Angaben zur Situationdieses ukrainischen Projektes ebenso nüchtern zu sehenund zu werten, wie dies die Bundesregierung tun muß.Die Reaktoren werden von der Ukraine – so unser Wis-sensstand – unabhängig von unserer Entscheidung sooder so fertiggestellt, nur daß dies bei Verweigerungwestlicher Unterstützung mit russischer Technik ge-schehen würde und nicht mit westlicher Sicherheitstech-nik, gleichgültig, ob sie von Framatome/Siemens odervon anderen Anbietern stammt. Die Frage, ob die Re-aktoren zu Ende gebaut werden, stellt sich also nicht. Esstellt sich vielmehr die Frage, wie, sprich: wie sicher dieReaktoren später im Betrieb sein werden.
Die Bundesregierung hat diese Beurteilung vonder Vorgängerregierung übernommen. BundeskanzlerSchröder seinerseits hat im März dieses Jahres diesenSachverhalt ausführlich mit dem ukrainischen Präsiden-ten erörtert – mit dem Ergebnis, daß der Sachverhalt un-verändert so ist.
Hernach hat das Kanzleramt am 6./7. Mai dieses Jahresnochmals in der Ukraine zur Vorbereitung des G-7-Gipfels etliche Gespräche auch mit dem Präsidenten ge-führt, um alternative energiewirtschaftliche Variantenanzubieten. Aber die ukrainische Haltung ist unverän-dert auf den Fertigbau der Reaktoren fixiert.Bundesminister Dr. Werner Müller
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Gelegentlich höre ich, diese Verhandlungen seiennicht ernsthaft geführt worden. Ich will das hier nichtkommentieren, da sich solche unbegründeten Vorwürfedemnächst ohnehin von alleine erledigen. Denn AnfangJuli dieses Jahres wird in Kiew ein deutsch-ukrainischer Gipfel stattfinden, an dem auch die Um-welt- und Wirtschaftsressorts beider Länder teilnehmenwerden. Dabei werden wir ein weiteres Mal mit derUkraine über die Gesamtproblematik sehr ernsthaft be-raten, und zwar mit dem nachdrücklichen Ziel, derUkraine eine sinnvollere Alternative zur Rekonstruk-tion der Energieversorgung anzubieten.
So kann ich mich als Gipfelteilnehmer persönlich davonüberzeugen, welche Haltung die Ukraine hat. Das giltebenso für alle anderen Teilnehmer des Gipfels. Ichwerde Ihnen berichten, zu welchem Gesprächsergebniswir gekommen sind bzw. ob ich das Gesprächsziel er-reicht habe. Auch das gilt selbstverständlich für alleTeilnehmer dieses Gipfels. Die Bundesregierung fährtzu diesem Gipfel auf der Basis einer festen freund-schaftlichen Verbundenheit mit der Ukraine, die wirpflegen und ausbauen wollen.Die weitere Entwicklung der Ukraine liegt nicht zu-letzt in unserem eigenen Interesse. Für die Ukraine isteine gesicherte und leistungsfähige Stromversorgungunverzichtbare Voraussetzung. Hier liegen vitale Inter-essen der Ukraine für eine erfolgreiche Energiepolitik;denn das ist der Schlüssel für wirtschaftliche und politi-sche Selbständigkeit in diesem Land.Vor diesem Hintergrund mag man verstehen, daß dieUkraine eine Abhängigkeit von russischen Gaslieferun-gen nicht will, obwohl die Erdgasverstromung eine wirt-schaftlich gute und sinnvollere Alternative wäre. Ichwerde das nochmals ansprechen, habe aber auch die Ab-sicht, die Lage des Bergbaus in der Ukraine und dieWandlung von Kohle in Strom zu erörtern.
Die Ukraine hat große Kohlereserven und benötigt ge-nau das, was wir in der Bundesrepublik haben: hochmo-derne Bergbautechnik. Auch die Frage der Umrüstungvon Kohlekraftwerken in Richtung Einsatzmöglichkei-ten ukrainischer Kohle will ich ansprechen, da diesebenso dem ukrainischen Autarkiedenken voll ent-spricht.
Ich erwähne das alles, um Ihnen zu versichern, daßdie Bundesregierung die Gespräche über die Zukunft derukrainischen Energieversorgung ebenso ernsthaft wieumfassend führen will, auch eingedenk der Tatsache,daß wir unsere deutschen Hilfen und Kredite aus reindeutscher Sicht lieber für nichtnukleare Strategien gebenwürden.
Aber eines sage ich ebenso klar: Als Alternative zurFertigstellung der Reaktoren kommt nur eine sachlichtragfähige Lösung in Betracht, die sowohl die Ukraineals auch die G-7-Partner und die EU überzeugt.
Das ist die Meßlatte für unsere Gespräche Anfang Juli.Ich mache ich keinen Hehl daraus: Die Meßlatte ist hochgelegt. Wir müssen sie so hoch auflegen, denn wir müs-sen die bisherige feste Haltung der Ukraine zur Kenntnisnehmen, daß Tschernobyl nur geschlossen wird, wenndie Reaktoren mit westlicher Hilfe zu Ende gebaut wer-den. Wir haben auch die feste Willensbildung unsererwestlichen Partner zu respektieren.Was die Bundesregierung in den Gesprächen errei-chen will, habe ich gesagt. Was sie auf jeden Fall ver-meiden will, sage ich jetzt: Erstens. Die Bundesregie-rung will und darf keine Verantwortung dafür überneh-men, daß Tschernobyl nicht geschlossen wird.
Zweitens. Die Bundesregierung will keinen außenpoliti-schen Schaden durch einseitigen Ausstieg aus einemjahrelang im Einvernehmen mit der Bundesrepublik ver-folgten Konzept der G-7-Staaten verursachen.Soweit die heute vorliegenden Anträge der Fraktio-nen die Bundesregierung auffordern, den gesamtenSachverhalt K 2/R 4 mit der Ukraine nochmals mit demZiel durchzusprechen, nichtnukleare Strategien zuempfehlen und möglichst im Gespräch durchzusetzen,darf ich Ihnen versichern: Wir werden uns um diesesAnliegen der Abgeordneten äußerst bemühen; denn esist auch das Anliegen der Bundesregierung.
Ich füge aber hinzu: Wir sollten auch damit rechnen,daß die bevorstehenden Gespräche trotz intensivsterBemühungen leider keine Wende bewirken. Wenn ichIhre Anträge in diesem Sinne verstehe, dann bitte ichauch um Verständnis dafür, daß die außenpolitischeHandlungsfähigkeit der Bundesregierung, namentlichauch des Herrn Bundeskanzlers, unabhängig vom Aus-gang der Gespräche keinen Schaden nehmen darf.Vielen Dank.
Der
Kollege Kurt-Dieter Grill ist jetzt anwesend. Ich erteile
ihm das Wort.
Herr Präsident! Mei-ne Damen und Herren! Ich bin davon ausgegangen, daßdas stattfindet, was jetzt stattgefunden hat. Ansonstenwäre ich sicherlich im Plenarsaal gewesen. Ich hatte nurdie außerordentlich gute Gelegenheit, mir noch eineBundesminister Dr. Werner Müller
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Pressemeldung von 18.15 Uhr anzueignen, der zu ent-nehmen ist, daß der ukrainische Präsident Kutschmadeutlich macht, daß die Ukraine auf der Fertigstellungder K 2/R 4-Reaktoren besteht. Damit könnte man ei-gentlich die Debatte abschließen; denn das, was derBundeswirtschaftsminister hier gesagt hat, ist eine Be-stätigung für all das, was die Union bisher in der Sacheselber vorgetragen hat,
und straft diejenigen Lügen, die – wie Frau Hustedt –nicht müde werden, der alten Bundesregierung in üblerNachrede sozusagen eine Erpressung der Ukraine an denHals zu reden.Wenn in dieser Debatte unter dem Strich etwas zukonstatieren ist, dann ist es dies: Abgesehen davon, daßSie außenpolitischen Schaden angerichtet haben, ist die-se Debatte sinnlos. Ziehen Sie den Antrag zurück; denneines ist klar – nach dem, was der Bundeswirtschaftsmi-nister heute hier und gestern im Wirtschaftsausschuß ge-sagt hat, und nach dem, was Herr Trittin, Herr Fischer,Herr Schröder und Herr Hombach am Montagabend be-sprochen haben –: Wenn die Ukraine auf der Fertigstel-lung der Reaktoren besteht, dann wird diese Bundesre-gierung die Kredite im September zugeben. Deswegensage ich Ihnen: Ziehen Sie den Antrag zurück! Sie habendiesem Land Schaden zugefügt und führen uns eineShow vor, weil es um die Innenpolitik der Grünen undnicht um die Energiepolitik und die Außenpolitik derBundesregierung dieses Landes geht.
In Anbetracht dessen, was der Bundeswirtschaftsmi-nister hier gesagt hat, kann ich nur festhalten: Entwedersagt er die Wahrheit oder Herr Trittin. Es kann nur einesvon beiden stimmen;
denn das, was Herr Müller hier vorgetragen hat, ist inder Sache eine ganz andere Darstellung als das, was derBundesumweltminister im Umweltausschuß des Bun-destages vorgetragen hat.
Ich sage sehr deutlich: Sie, Frau Hustedt, haben öf-fentlich behauptet, die Ukraine habe immer Gaskraft-werke gewollt und sei erpreßt worden, und die Mög-lichkeit von Gaskraftwerken sei nie geprüft worden. Ichsage in diesem Parlament noch einmal öffentlich: 1995– unter dem Vorsitz der Kanadier – ist eine Least-cost-Planung gemacht worden, unter Einbeziehung der Mög-lichkeit von Gaskraftwerken. Es hat sich herausgestellt,daß Gaskraftwerke nicht tragfähig wären, insbesondereunter dem Gesichtspunkt, daß die Ukraine darauf beste-hen mußte, daß die Gaslieferungen mit westlichen Kre-diten bezahlt werden. Dies konnte keiner auf sich neh-men. Insofern kann ich nur sagen: Nach dem Theater,das Herr Trittin am Anfang dieses Jahres mit Frankreichund England angerichtet hat, ist er wie ein Elefant imPorzellanladen ein weiteres Mal durch die Außenpolitikgewandert und hat außer Schaden nichts hinterlassen.
Was hier abläuft, meine Damen und Herren, ist vorallen Dingen auch deswegen schäbig, weil nicht nur inder hochsensiblen Frage der Stillegung von Tscherno-byl, sondern auch in der Frage, wie ich mit osteuropäi-schen Kernkraftwerken umgehe, die Zusammenarbeitmit den Franzosen und insbesondere mit den Russen ei-ne sehr wichtige Angelegenheit ist, weil wir nur mit denRussen gemeinsam die Reaktoren, die dort noch pro-blematisch sind, mit der richtigen Sicherheit ausstattenkönnen. In dem Sinne kann ich an dieser Stelle eigent-lich nur festhalten: Am 30. März hat Herr Hombach,wenn ich richtig informiert bin, den Franzosen zugesi-chert, daß das mit den G 7 läuft. Herr Gretschmann hatja in Kiew verhandelt. Sie wissen ganz genau, was dieUkraine will; es kann kein Zweifel darüber bestehen. In-sofern kann ich nur sagen: Sie haben ein Chaos ange-richtet, und dafür ist der Bundeskanzler höchstpersön-lich verantwortlich.
Denn es macht doch keinen Sinn, meine Damen undHerren, daß Sie der Ukraine, daß Sie der G 7 sagen, wirmachen das, und anschließend in diesem Parlament eineAntragslage zulassen,
von der Sie genau wissen, daß Sie sie nicht erfüllenwerden. Deswegen sage ich: Sie haben hier Mißbrauchdes Parlaments betrieben, und Sie tun der Sache selberkeinen Gefallen.Was ich besonders schäbig finde – das will ich Ihnenin aller Deutlichkeit sagen –, ist die Art und Weise, wieStaatssekretär Baake sich ins „Frühstücksfernsehen“stellt und die ukrainischen Menschen für unfähig,dumm, faul und was weiß ich nicht alles erklärt.
In diesem Stil werden Sie doch nicht einem souveränenStaat eine Änderung seiner Politik vorschreiben können.Sie sollten zuerst Benehmen lernen und sich dann in dieAußenpolitik begeben.
Ich sage Ihnen mit allem Nachdruck: Sie haben dieBürger in diesem Land hinters Licht führen wollen. Nur,erstens haben Lügen kurze Beine. Zweitens. Die Kern-kraftwerke werden auch ohne Sie fertiggebaut, dann al-lerdings möglicherweise nicht mit deutscher Sicherheit.Und das dritte: Sie, meine Damen und Herren, haben dasgetan, was Sie der alten Regierung im Grunde genom-men vorgeworfen haben. Sie haben gedroht: Es gibt keinGeld, wenn ihr nicht das tut, was wir wollen. Wenn esden Vorwurf der Erpressung gibt, Frau Hustedt, dannfällt er heute auf Sie zurück, weil mit dem Vortrag vonHerrn Müller hier deutlich wird, daß die alte Bundesre-gierung, die im übrigen seit 1992 dafür gekämpft hat,daß es überhaupt zur Stillegung von Tschernobyl kommt– was ja immer eine Ihrer Forderungen gewesen ist –,sauber und fair mit der Ukraine umgegangen ist.Ich kann nur hoffen, daß das gilt, was der Bundes-wirtschaftsminister hier am Schluß gesagt hat: daß manKurt-Dieter Grill
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mit der Ukraine fair, freundschaftlich und im partner-schaftlichen Sinne umgeht. Kehren Sie zu diesem Stilzurück! Ziehen Sie den Antrag zurück! Wir brauchenihn nicht, weil sich niemand auf dieser Bank an das hal-ten wird, was Sie heute hier beschließen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenfür unseren Antrag eine große Unterstützung in der Be-völkerung, auch von Gruppen, die häufig nicht auf unse-rer Seite stehen.
Zum Beispiel hat der Bund der Steuerzahler in einerPresseerklärung erklärt, mehrere Gutachten hätten erge-ben, daß eine Fertigstellung ökonomischer Unsinn sei.Und dann wird ausgeführt, wenn man das Projekt ver-hindere, spare der deutsche Steuerzahler rund 810 Mil-lionen DM.
Ich sage eines einmal ganz deutlich: Heute steht vorallem Ihre Politik, die Politik der alten Bundesregierung,auf dem Prüfstand. Denn es war Ihre Politik, die diesesProjekt so weit gebracht hat. Es war die Politik von Rex-rodt, von Waigel, von Merkel und Kohl. Und jetztkommt eben ans Licht der Öffentlichkeit, wozu eineideologisch verblendete CDU und F.D.P. fähig wären.Nur um für Siemens Absatzmärkte zu schaffen, die siein Westdeutschland nicht mehr haben, müssen also inOsteuropa Kernkraftwerke gebaut werden.Sie verteidigen sich nicht – in keinem Ausschuß undauch hier nicht – gegen die Vorwürfe, daß die Sicher-heitsstandards dieser AKWs absolut unzureichend sind,daß diese AKWs in keinem westeuropäischen Land ge-nehmigt würden. Sie verteidigen sich auch nicht gegenden Vorwurf, daß Sie die Ukraine schnöde erpreßt ha-ben.
– Herr Grill, Sie behaupten immer, das wäre gelogen.Ich habe Ihnen die Originalquellen mitgebracht, und ichwerde sie Ihnen gleich überreichen. Unter anderem hatPräsident Kutschma in einer Rede am 11. Mai 1998 andie Adresse von Tony Blair gesagt: Das Vorhaben, dieseKraftwerke fertigzustellen, wurde von den westlichenPartnern als Alternative zu dem ukrainischen Vorhabeneines Gas- und Dampfturbinenkraftwerks vorgeschla-gen.Mir liegen die Originalzitate vor; ich werde sie Ihnennachher übergeben.Sie verteidigen sich auch nicht gegen den Vorwurf– dazu habe ich jedenfalls bisher kein Wort von Ihnengehört –, daß diese AKWs ökonomisch absolut unsinnigseien. Auch zu diesem Punkt möchte ich ein Zitat auseinem Gutachten der EBRD von 1997 anführen, in demman zu dem Schluß kommt:K2/R4 ist nicht wirtschaftlich. Die Fertigstellungdieser Reaktoren bedeutet derzeit nicht die produk-tivste Verwendung von 1 Milliarde US-Dollar.Eine erst kürzlich in die Öffentlichkeit gelangtestreng geheime Studie der Europäischen Investitions-bank besagt:Ein erhebliches Ausmaß an Unsicherheit ist mitmehreren Schlüsselfaktoren des Projektes verbun-den. Dies führt zu einem großen finanziellen undwirtschaftlichen Risiko, bezogen auf den Energie-sektor.Das ist Ihre Politik, die ökologisch und finanziellnicht vertretbar ist. Sie haben die Ukraine zu diesemProjekt gezwungen.
Das einzige Argument, das Sie zur Verteidigung IhrerPolitik nennen, ist die Frage der außenpolitischenVerläßlichkeit. Ich finde, diese Verläßlichkeit ist einhohes Gut; man muß sorgsam damit umgehen. Aber esist durchaus so, daß das Memorandum of Understanding– alle Gutachten zugrunde gelegt – keine vertraglicheVerpflichtung ist, sondern lediglich eine Absichtserklä-rung, in der zudem auch noch steht, daß die finanziellgünstigste Lösung gesucht werden soll. Dieses sind nuneinmal nicht die Atomkraftwerke, sondern Variantenwie Gaskraftwerke, Energieeinsparmaßnahmen oder an-dere Möglichkeiten.
Daher sage ich: Wir erfüllen mit unseren Vorgabendas Memorandum of Understanding mehr als Sie mitIhrer Politik.Ich halte die außenpolitische Verläßlichkeit nichtimmer für einen ausreichenden Grund, eine absolut un-sinnige Politik zu machen, mit der Steuergelder fürökologisch schädliche Projekte zum Fenster hinausge-schmissen werden. Sie sind verantwortlich dafür, daß esüberhaupt so weit gekommen ist. Wir werden versuchen– auch wenn es fast schon zu spät ist –, dieses Projektnoch zu ändern.Alle Argumente, zum Beispiel das Argument, daß dieAtomkraftwerke schon zu 80 Prozent fertiggestellt seien,sind absolut falsch. Es handelt sich vielmehr um einenRohbau, der seit 15 Jahren Wind und Wetter ausgesetztist – vergleichbar mit dem Schürmannbau. Die Welt-bank sagt eindeutig: Es ist billiger und besser, gleich neuzu bauen, anstatt solche Projekte zu Ende zu führen.
Kurt-Dieter Grill
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Es ist auch falsch, zu sagen, der Weiterbau vonK2/R4 werde den Reaktor von Tschernobyl ersetzenkönnen. Die Fertigstellung dieser beiden Atomkraftwer-ke dauert vier bis sechs Jahre. Tschernobyl soll aber imJahre 2000 abgeschaltet werden. Das zeigt sehr deutlich,daß diese Projekte nicht als Ersatz für Tschernobyl die-nen können. Alle anderen Alternativmaßnahmen sindaber in wesentlich kürzeren Zeiträumen zu realisieren.
Ich möchte dem sehr geschätzten Kollegen WernerMüller widersprechen: Es ist nicht richtig, zu sagen,Rußland baue so oder so zu Ende. Selbst die Ukraine hatsehr deutlich gemacht, daß sie nicht damit rechnet, daßRußland diese AKWs zu Ende baut, wenn es kein Geldhat. Es ist also falsch, zu sagen, die AKWs werden sooder so gebaut.Auch das Argument, daß die Ukraine AKWsbraucht, um von Rußland unabhängig zu sein, ist falsch.Wenn die Ukraine Kernkraftwerke betreibt, ist sie in ho-hem Grade von Rußland abhängig, weil die Brennstäbeund das Know-how aus Rußland kommen; auch die Ent-sorgung muß in Rußland erfolgen. Rußland hat zumBeispiel die Preise für die Brennstäbe in der letzten Zeitum 300 Prozent erhöht. Das zeigt, daß sich die Ukrainein finanzieller Abhängigkeit von Rußland befindet,wenn sie Atomkraftwerke betreibt. Besser wäre es, übereine entsprechende Unabhängigkeit zu reden. Auf dieKohlekraftwerke gehe ich gleich noch ein.
All Ihre Argumente zur Verteidigung Ihrer damaligenPolitik sind also absolut an den Haaren herbeigezogen.Sie wollen damit nur verdecken, daß Sie damals derAtomindustrie bewußt und absichtlich mit deutschenSteuergeldern unter die Arme greifen wollten. Das warder einzige Grund, warum Sie diese Politik betriebenhaben.
Den tollsten Vorwurf in dieser Debatte habe ichallerdings von Frau Flach von der F.D.P. im Umwelt-ausschuß gehört. Sie hat uns doch glatt vorgeworfen, wirAbgeordnete hätten die Frechheit, eine andere Positionzu vertreten als die Bundesregierung. – Hört, hört! Ichempfinde es als eine Sternstunde des Parlaments, daß dieÄnderung dieser Politik von den Fraktionen dieses Par-lamentes ausgegangen ist. Wir als Parlamentarier sindim Gegensatz zu Ihnen von der F.D.P. und derCDU/CSU durchaus selbstbewußt. Wenn Sie währendIhrer Regierungszeit immer gekuscht haben, dann magdas Ihrem Verständnis von Politik entsprechen. Wirwollen, daß das Parlament Politik macht. Ich bin deswe-gen sehr stolz darauf, daß wir das schon ein Stück weiterreicht haben.
Ich danke den SPD-Kollegen sehr ausdrücklich für diekonstruktive Zusammenarbeit und auch für die Ausdau-er, die sie dabei mit uns zusammen an den Tag gelegthaben.
Als ersten Zwischenerfolg werte ich es, daß es unsgelungen ist, eine Festlegung im Abschlußdokument fürden Kölner G-8-Gipfel zu verhindern. Das eröffnet unsjetzt den Spielraum für Verhandlungen. Die Zeit ist aufunserer Seite. Die EBRD ist gegenüber diesem Projektaußerordentlich skeptisch. Deswegen wollte sie eineweitere Festlegung der G-7, denn sie wollte nicht denSchwarzen Peter für dieses unsinnige Projekt haben. Ichdenke, daß wir durch die Absetzung dieses Punktes vonder Tagesordnung des G-7-Gipfels einen Impuls für dieinternationale Debatte gegeben haben. Sie wissen, daß inanderen Ländern – in Großbritannien, in Italien, in Slo-wenien, ja selbst in Frankreich – auch auf Grund derdeutschen Diskussion jetzt die Debatte über die Sinn-haftigkeit dieses Projektes beginnt. Ich denke, daß wirmit der Absetzung dieses Punktes von der Tagesordnungeinen kleinen Zwischenerfolg auf dem Weg zu dem Zielerreicht haben, diese Projekte zu verhindern.
Jetzt ist es Aufgabe – das hat Dr. Werner Müllerdeutlich gemacht –, mit der Ukraine zu sprechen. Wirwerden die Reise der Bundesregierung in die Ukrainesehr sorgfältig mit vorbereiten und aufmerksam beglei-ten. Der ursprüngliche Wille, in der Ukraine Gaskraft-werke zu bauen, ist dafür ein Ansatzpunkt. Aber auchdie Variante, Energieeinsparung zu finanzieren, ist einguter Weg, um Alternativen für den Ersatz von Tschern-obyl zu schaffen.Ich möchte als letztes noch eine dritte Variante insGespräch bringen, nämlich die Frage von Kohlekraft-werken. Ich habe heute mit ABB telefoniert. Sie habenin Mannheim ein Verfahren entwickelt, um Kohlekraft-werke so zu modernisieren, daß diese nicht mehr russi-sche Kohle verarbeiten müssen, sondern ukrainischeKohle verarbeiten können und einen höheren Wirkungs-grad aufweisen.Zunächst könnte man die Modernisierung vonBushtin planen. Das ist in der Ukraine auch im Ge-spräch. Würde man diese Effizienzsteigerung durchset-zen, könnte man allein durch die Modernisierung dieseseinen Kohlekraftwerkes 720 Megawatt neu schaffen,wobei man gleichzeitig einen großen Beitrag zum Kli-maschutz leisten würde.
Das heißt, durch die Modernisierung von drei Kohle-kraftwerken in der Ukraine würden wir den Ersatz fürTschernobyl zustande bringen. Dieses Verfahren ist bil-liger, als wenn wir die Atomkraftwerke zu Ende bauten.Auch Siemens hat für einen anderen Typ von Kohle-kraftwerken, für Braunkohlekraftwerke, in der Ukraineein ähnliches Verfahren entwickelt und wartet auf dieMöglichkeit, dieses Projekt umzusetzen.Sie wissen genau, daß die Ukraine große Schwierig-keiten bei der Rückzahlung der Kredite hat – deswegenMichaele Hustedt
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sind alle Hermes-Bürgschaften für die Ukraine zur Zeitauf Eis gelegt – und daß daher bei einer Finanzierung vonK2/R4 alle anderen Projekte nicht finanziert werdenkönnten. Das heißt, sie stehen gegeneinander, man mußsich also entscheiden. Ich meine, das Setzen auf eine Mo-dernisierungsstrategie bei den Kohlekraftwerken wäreeine Alternative zur Beendigung des Baus von K2/R4,über die man mit der Ukraine sprechen sollte. Damit lie-ßen sich fünf Fliegen mit einer Klappe schlagen.Die erste Fliege wäre: Die Ukraine hätte ausreichendEnergie.Die zweite Fliege wäre: Die Ukraine würde – im Ge-gensatz zum Bau von K2 und R4 – autarker.Die dritte Fliege wäre: Die Betriebe in der Ukrainemüßten weniger für das aus ihrer Sicht teure Erdgas be-zahlen. Damit wäre die gesamte ukrainische Schwerin-dustrie wettbewerbsfähiger.Die vierte Fliege wäre: Der Westen hätte seine Zusa-ge im Memorandum of Understanding eingehalten.Die fünfte Fliege wäre: Das wäre auch ein nicht un-bedeutsamer Beitrag zum Klimaschutz.Ich finde es schon unverantwortlich, daß Sie solcheVarianten damals, ganz am Anfang, als der Prozeß nochoffen war, nicht diskutiert haben. Ich freue mich deswe-gen sehr, daß die Bundesregierung mit diesem Projektals Alternative in die Ukraine fährt. Ich hoffe, daß wirdie Ukraine überzeugen und ihr helfen können,Tschernobyl abzuschalten und statt dessen sinnvolle Lö-sungen umzusetzen.Vielen Dank.
Als nächste Redne-
rin spricht für die F.D.P.-Fraktion die Kollegin Ulrike
Flach.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Frau Kollegin Hustedt, manchmal frage ichmich bei Ihren Reden, von welcher Regierung Sieeigentlich sprechen. – Aber lassen Sie mich ganz ohnePolemik sagen: Manchmal ist es in der Hektik des politi-schen Betriebes schon sehr nützlich, einmal einige Mi-nuten innezuhalten und sich noch einmal zu überlegen,warum wir heute das Ganze diskutieren und was wir er-reichen wollen.Das Ziel, das wir in der Ukraine erreichen wollen– da, denke ich, sind wir alle hier uns einig –, ist die Ab-schaltung von Tschernobyl. Tschernobyl ist ein welt-weites Symbol für eine Katastrophe, deren Auswirkun-gen die betroffenen Menschen und ihre Kinder immernoch spüren. Frau Hustedt, nicht der Heilige Krieg ge-gen die Kernkraft war der Anlaß für das Memorandumof Understanding und die Kreditzusagen der G 7 für denBau von Ersatzreaktoren, sondern die Abschaltung die-ses Unglücksreaktors.
Meine Damen und Herren, keiner von uns kann be-haupten, daß bei der Umgestaltung des Energiesektorsin der Ukraine alles richtig gemacht worden sei. Seitder Loslösung der Ukraine von der Sowjetunion habensich wichtige Bedingungen geändert. Die ukrainischeWirtschaft ist weitgehend zusammengebrochen. DerEnergieverbrauch ist dramatisch zurückgegangen. FürGas und andere Rohstoffe sind hohe Schulden, zum Bei-spiel bei Rußland, aufgelaufen, so daß eine regelmäßigeLieferung nicht mehr stattfindet. Auch für die bestehen-den Kraftwerke sind massive Erhaltungsinvestitionennotwendig.Meine Damen und Herren, Herr Minister Trittin haternsthafte Zweifel daran geäußert, daß die Ukraine inder Lage sei, den sicheren Betrieb der Reaktoren zu ge-währleisten. – Wie wir – erstaunt – erfahren haben, siehtHerr Müller das völlig anders. – Auch wenn es so seinsollte, löst eine Nichtgewährung der Kredite diesekomplexen Probleme an keiner Stelle.
Sie fügt nur weitere hinzu: Sie schafft zwei zu 80 Pro-zent fertiggestellte Bauruinen, die keinen Strom liefern,sie gefährdet die Abschaltung von Tschernobyl, und siegibt unserer Außenpolitik geradezu rambohafte Züge.Hinzu kommt der übliche Koalitionsstreit auf derRegierungsebene, den wir eben sogar im Plenum erlebthaben. Herr Trittin spricht sich in der „Welt am Sonn-tag“ inbrünstig für Gaskraftwerke aus. Herr Hombach istin der gleichen Ausgabe der Meinung, daß „die Ukraineein Gaskraftwerk als Ersatz für K2/R4 nicht akzeptie-ren wird“; Herr Grill hat uns eben vorgelesen, daß HerrKutschma dem zustimmt. Herr Staatssekretär Baakemacht unseren osteuropäischen Nachbarn im Früh-stücksfernsehen gar zu einer Bananenrepublik, währendHerr Minister Müller im Wirtschaftsausschuß und ge-rade eben hier vor Ihnen die Ihnen vorliegende F.D.P.-Meinung vertritt und kaltschnäuzig das bekannte Schau-ermärchen von Kollegin Hustedt zurückweist, dieUkraine sei von der Regierung Kohl so lange strangu-liert worden, bis sie dem Bau von Kernkraftwerken zu-stimmte.
Kanzlerberater Gretschmann erklärt, wenn sichDeutschland aus der Finanzierung zurückziehe, werdedie Ukraine Tschernobyl nicht vom Netz nehmen, wäh-rend Trittin-Berater Renneberg meint, die neuen Kern-kraftwerke seien aus Sicherheitsgründen nicht zu ver-antworten.Meine Damen und Herren, ich als Oppositionspoliti-kerin könnte mich freuen, wenn es bei Ihnen im Kabi-nett, wie wir im Ruhrgebiet so schön sagen, wieder ein-mal wie bei Hempels unterm Sofa zugeht. Ich könntemich auch freuen, wenn die Fraktionen von SPD undGrünen ihre eigene Regierung in den Regen stellen.Aber haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie diesesChaos im Ausland, bei unseren G-7-Partnern und vorallen Dingen in der Ukraine wirkt?
Michaele Hustedt
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3798 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Wenn Ihre Fraktionen im Gegensatz zur eigenen Re-gierung Signale der Europäischen Bank für Wiederauf-bau haben, daß die derzeit laufende Kreditprüfung dasProjekt platzen läßt, wenn Sie Signale der Ukraine ha-ben, daß sie den Kernkraftweg nicht mehr weitergehenwill oder kann, wenn Sie das Einverständnis der G 7 zueinem Kurswechsel haben, dann kann der Weg dochnicht die Sperrung von Krediten und die öffentlicheDiskreditierung der Ukraine sein, sondern dann müssenalle beteiligten Partner an einen Tisch. Ich kann HerrnMinister Müller zu dieser Erkenntnis, die er uns geradevorgetragen hat, nur gratulieren. Wenn das aber nichtder Fall ist, wenn dies wieder nur heiße Luft ist, um inWahlkampfzeiten der Kernkraft zumindest im Auslandden Garaus zu machen, dann hören Sie endlich auf, in-ternational den wilden Mann zu spielen!
Stehen Sie zu getroffenen Vereinbarungen, helfen SieOsteuropa bei der mehr als schwierigen Restrukturie-rung und stellen Sie damit vor allen Dingen eines sicher:daß Tschernobyl abgeschaltet wird!Ein deutscher Alleingang kann uns sehr teuer kom-men und viel außenpolitisches Porzellan zerschlagen.Das mag Herrn Trittin – wir kennen ihn ja inzwischen –gleichgültig sein. Aber wenn es eines gibt, was Sie vonder Außenpolitik liberaler Außenminister lernen sollten,dann dies: daß europäische Probleme im Konsens undnicht im Konflikt mit den europäischen Partnern ange-gangen werden müssen.
Unser Änderungsantrag zum Antrag von SPD undGrünen hält am ursprünglichen Ziel fest: Tschernobylmuß abgeschaltet werden. Die Menschen in Ost undWest erwarten von der Politik, daß sie dieses Ziel nichtaufgibt. Wenn der Antrag der Regierungsfraktionen hierbeschlossen wird, dann laden Sie selbst der Bundesre-gierung für die deutsch-ukrainischen Regierungsgesprä-che Anfang Juli eine sehr schwere Last auf. Und gestat-ten Sie mir die sehr provokante Frage – nach meinen In-formationen werden die Minister Müller und Trittin andiesen Verhandlungen teilnehmen –: Wollen Sie dorteigentlich zwei Meinungen vertreten?
Unser Änderungsantrag eröffnet der deutschen Ver-handlungsposition neue Optionen. Ihr Antrag treibt unsweiter in die europäische Isolation.
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Eva-Maria Bulling-
Schröter.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kein AKW inBrokdorf und auch nicht anderswo!“ Das war 1976 aufeiner der größten Anti-AKW-Demos in der Geschichteder Bundesrepublik die Parole. Ein späterer saarländi-scher Umweltminister – seit Sonntag frischgebackenerEuropaabgeordneter – rief gar dazu auf, das Land unre-gierbar zu machen, wenn man nicht aus der Atomkraftaussteige.Heute haben wir die Chance, zu zeigen, daß wir esernst meinen mit der Beendigung der Atomkraft.
Allerdings fangen wir dann doch erst einmal woandersan. Doch nicht nur die Glaubwürdigkeit beim Ausstiegsteht heute auf dem Prüfstand; wir erleben hier auch eindemokratisches Lehrstück. Die Auseinandersetzung umdie Kreditvergabe für die beiden ukrainischen Reak-toren zeigt folgendes – zunächst einmal zur Ausgangs-lage –: Es ist richtig, daß der Westen den MOE-Staatenbei der Lösung ihrer Energieprobleme helfen muß. Diestrifft insbesondere auf die Ukraine und den havariertenReaktor in Tschernobyl zu. Richtig ist aber auch, daßder Westen der Ukraine die neuen Reaktoren geradezuaufgenötigt hat und die Ukraine mangels angebotenerAlternativen keine Möglichkeit sah, den Atomkurs ab-zulehnen. Dies müssen wir heute bei unserer Entschei-dung korrigieren. Natürlich muß Geld fließen, aber füralternative Energien.Staatssekretär Baake hat doch recht, wenn er vorge-stern im „Morgenmagazin“ von ARD/ZDF feststellte,die Energieprobleme der Ukraine seien weniger tech-nischer Natur und weniger ein Mengenproblem alsvielmehr struktureller Art. Niemand klärt den Wider-spruch auf, daß Tschernobyl bis Ende 2000 abgeschaltetwerden soll, K2/R4 aber frühestens 2004 ans Netz gehensollen. Da können die Kapazitätsprobleme so gravierenddoch wohl nicht sein. Darüber haben Sie nichts gesagt.Nein, meine Damen und Herren, es gibt genügend Al-ternativvorschläge. Es ist ein Märchen, zu erzählen, dieBundesrepublik sei durch internationale Verpflichtungender Vorgängerregierung auf die nukleare Option festge-legt. Es sind doch vielmehr die Profitinteressen vonSiemens und Framatome zum Beispiel, die hier tangiertsind.
Es soll hier ja nicht nur die „schnelle Mark“ mit K 2 undR 4 gemacht werden, sondern die langfristigen Interes-sen der Konzerne in anderen Ländern Osteuropas, inChina und in der Türkei sollen abgesichert werden. DieBosse träumen schon davon, Atomstrom zu Spottpreisenin die Bundesrepublik zu importieren – dann allerdingsohne westliche Sicherheitsstandards, ohne Rückstellun-gen usw. –, wenn hier die AKWs auslaufen oder, wasich noch immer hoffe, durch politische Mehrheitsent-scheidung vom Netz genommen werden. Im übrigenfielen die ukrainischen Staatsanleihen in Euro in denletzten Tagen dramatisch. Auch das beweist die Richtig-keit meiner These.Zudem ist es doch so: Die Atomtechnik war und isteine politische Technik. Ob es um Autarkiebestrebun-gen, um die zivil-militärische Komponente oder um dieProfitmaximierung geht – immer wurden diese Prozessepolitisch gewollt und flankiert. Kein privater InvestorUlrike Flach
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wäre bereit gewesen, bei noch so hoher Gewinnerwar-tung die Investitions- und Sicherheitsrisiken zu tragen.Nun wird auch hinsichtlich der Ukraine mit der Her-stellung und Erhöhung der Sicherheit der bestehendenAKWs argumentiert. Das ist Ideologie reinsten Wassers.Die Atomtechnologie ist nicht sicher. Die Störfälle indeutschen AKWs, die Auswirkungen der Niedrigstrah-lung beim sogenannten störungsfreien Betrieb und dieBeinahekatastrophe von Harrisburg beweisen dies. Esmuß nicht immer Tschernobyl bemüht werden. Die ein-zig sichere Alternative ist die Stillegung auch und gera-de der Reaktoren in Osteuropa.
Noch ein Argument: Selbst der ukrainische StaatschefKutschma wird mit dem Satz zitiert: „Der Energiesektorwird derzeit von kriminellen Elementen beherrscht.“ Sosteht es in der „Frankfurter Rundschau“ vom 15. Juni.Und in diese instabile Situation hinein – Sie sind dochimmer so für innere Sicherheit – sollen AKWs gebaut,soll ihre Sicherheit über Jahrzehnte gewährleistet wer-den? Was würde Herr Beckstein dazu sagen?
Das einzige, was im Atombereich in Osteuropa undhier bei uns noch entwickelt und finanziert werden sollund muß, sind Programme zur Entsorgung des ange-fallenen Atommülls. Dafür gibt es nämlich weder hiernoch dort – Stichwort: Endlager – Konzepte.Nun zur Frage der Demokratie: Der Herr Bundes-kanzler hat sie ja bekanntlich auf die Frage von Kochund Kellner reduziert. Damit mögen andere zufriedensein, wir nicht. Wir kennen und erkennen noch unter-schiedliche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitiken jen-seits der Unterscheidung von „modern“ und „unmo-dern“. Wir waren die erste Fraktion, die einen entspre-chenden Antrag in den Bundestag eingebracht hat. AmDienstag wurde er im Umweltausschuß mit Mehrheitbeschlossen. Wir hoffen, daß auch hier eine Mehrheitzustande kommt. Wir meinen, die Regierung muß die-sem Votum folgen – sonst ade Gewaltenteilung. Es kannnicht angehen, daß die Exekutive der Legislative diePolitik diktiert. Wir meinen, daß auch die Koalitions-fraktionen nicht zum Abnickverein von Konzernen undanderen Interessen verkommen sollten.
Es müßte jedes Mitglied dieses Hauses alarmieren, wennüber die Politik nicht mehr im Parlament, sondern in denVorstandsetagen der Großkonzerne entschieden wirdund im Kanzleramt anschließend nur noch die Hackenzusammengeschlagen werden.Danke.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich mache mir ernsthaft Sorgen,
wenn Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von Rotgrün,
es tatsächlich durchsetzen sollten, daß die Kreditverga-
be platzt. Wir kommen dann nämlich in eine äußerst be-
drohliche Situation. Der ukrainische Präsident Kutschma
hat eindeutig und klar gesagt: Der Unglücksreaktor
Tschernobyl geht dann nicht mehr im Jahr 2000 vom
Netz, sondern läuft weiter. Ich frage Sie: Wollen Sie
wirklich die Verantwortung dafür tragen, daß dieser Un-
glücksreaktor nach 2000 noch immer in Betrieb ist?
Oder sind Sie wirklich so naiv, zu glauben, was Herr
Trittin gesagt hat? In der letzten Ausgabe der „Welt am
Sonntag“ hat der Minister auf die Frage, ob Bonn im
Falle einer Ablehnung der Kreditvergabe wortbrüchig
werde, mit einem klaren, einfachen Nein geantwortet.
Zur Begründung hat er auf das Memorandum of Under-
standing verwiesen. Er tut so, als ob hier überhaupt nicht
von Atomreaktoren die Rede ist.
Frau Kollegin
Wöhrl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeord-
neten Hustedt?
Wenn meine Kollegenes so für richtig halten, dann lasse ich es und fahre fort.Ich habe mir dann das Memorandum of Understan-ding besorgt. Dort heißt es in Ziffer 2:Die Ukraine und die G-7-Staaten werden zusam-men mit den internationalen Finanzinstitutionenund mit aus- und inländischen Investoren kredit-finanzierte, möglichst wirtschaftliche Lösungen– Frau Hustedt, hören Sie bitte zu; anscheinend habenSie auch das nicht gewußt, als Sie Ihre Aussagen gegen-über der Presse machten –zur Fertigstellung der Kernreaktoren Khmelnitski 2und Rovno 4 erarbeiten.Genauso heißt es in Anhang 2 zum Memorandum ofUnderstanding:Sicherheitsverbesserungen und Fertigstellung vonKhmelnitski 2 und Rovno 4 sowie Errichtung vonHochspannungsleitungen zu den Einheiten Khmel-nitski und Rovno …Frau Hustedt ging sogar noch weiter als Herr Trittin.Sie hat sogar in der Presse gesagt, von Atomkraftwerkensei im Memorandum überhaupt nicht die Rede. Das isteine glatte Lüge, wie ich eben mit Hilfe des Zitats belegthabe. Genauso ist es eine Lüge, wenn sie vorhin in ihrerRede behauptet hat, daß die Unterstützung für die Kern-energie eine Modernisierung von Kohlekraftwerkenin der Ukraine ausschließen würde. Das ist eindeutigfalsch. Denn derzeit läuft ein Modernisierungsprogrammbeim Kohlekraftwerk Smiyew durch Siemens. Also istauch das eine glatte Lüge.
Eva-Maria Bulling-Schröter
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3800 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Auch das Gerede, man könne ja statt für die Fertig-stellung der Atomreaktoren das Geld für Gaskraftwer-ke zur Verfügung stellen, ist eine Irreführung. DieUkraine hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß diezwei Reaktoren, die schon zu über 80 Prozent fertigge-stellt sind, fertiggebaut werden sollen. Wenn keine Kre-ditfinanzierung der westlichen Länder zustande kommt,dann mit russischer Hilfe oder in Eigeninitiative. Aberwas ist dann? Dann werden diese zwei Reaktoren Si-cherheitsstandards aufweisen, die nicht den westlichenStandards entsprechen.
Dazu kommt noch, daß es dann zu einer immensen Zeit-verzögerung bei der Abschaltung von Tschernobylkommen würde.Die Ukraine hat immer wieder klargestellt – auchMartynenko hat es gestern noch einmal bestätigt –, daßsie an der Vereinbarung von 1995 festhalten will. Das istauch nachvollziehbar. Erdgasimporte würden eine im-mense wirtschaftliche und politische Abhängigkeit vonRußland bedeuten. Ich glaube, das kann auch nicht inunserem Sinne sein.Wie Sie wissen, hat sich bereits ein französisch-deutsch-russisches Konsortium als Generalauftragneh-mer für die Fertigstellung, Modernisierung und Si-cherheitsverbesserung der beiden Reaktoren präqua-lifiziert. Auch in dieser Frage muß man weiterdenken.Wie würden sich denn unsere künftigen Beziehungen zuRußland gestalten, wenn wir hier einen Rückzieher ma-chen würden?Eines darf man ebenfalls nicht vergessen, nämlichdaß es hier auch um Arbeitsplätze geht.Ich fasse ganz kurz zusammen: Aus Gründen unsereraußenpolitischen Glaubwürdigkeit, der Arbeitsplatzsi-cherung und vor allem der nuklearen Sicherheit unsereseuropäischen Kontinents darf die Kreditzusage gegen-über der Ukraine nicht in Frage gestellt werden.Tschernobyl muß im Jahr 2000 abgeschaltet werden.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam, daß in
etwa 15 Minuten die namentliche Abstimmung beginnen
wird.
Als nächste Rednerin spricht für die SPD die Kolle-
gin Monika Griefahn.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Eine neue Bundesregie-rung steht immer vor neuen Herausforderungen. DieseRegierung hatte in ihrem ersten Halbjahr besonders vielePräsidentschaften inne. Es waren dies die EU-Präsi-dentschaft, die WEU-Präsidentschaft und die G-7/G-8-Präsidentschaft. Deswegen bin ich besonders froh, daßdiese Bundesregierung aktive Schritte unternimmt undsehr viel Energie aufwendet, um das, was von der vor-herigen Bundesregierung mit versursacht worden ist, inmühsamen Gesprächen und Verhandlungen mit unserenPartnern in den anderen G-7-Ländern, mit Rußland undauch direkt mit der Ukraine aus dem Weg zu räumenund neue Positionen zu erarbeiten. Ich glaube, dazu istein ganz großes Engagement erforderlich. Ich dankeganz herzlich dafür.
Herr Bundesminister Müller hat auf die Verabredun-gen und Festlegungen derer hingewiesen, die vor zwei,drei oder vier Jahren getagt haben. Die Bundesregierunghat jetzt Schritte unternommen, um das aufzudröseln;denn sie sagt: Natürlich wollen wir eine andere Lösung.Wir fühlen uns sicherer und wohler, wenn wir nicht einAtomkraftwerk durch zwei andere marode ersetzen,sprich: ein Atomkraftwerk durch zwei russische. Trotzaller westlichen Technik ist immer wieder deutlich ge-worden, daß die östlichen Reaktoren nicht nachzurüstensind. Sonst hätten wir doch Greifswald nicht abgestellt,sonst hätten wir Stendal nicht weitergebaut.
Die Weltbank hat gesagt, daß sie keine Kredite fürdie Nachrüstung östlicher Reaktoren vergeben wird. DieEuropäische Investitionsbank hat gesagt, sie sehe keineMöglichkeit, dieses Projekt zu fördern, weil es nichtwirtschaftlich und nicht sinnvoll ist. Dabei muß man be-achten, daß die Europäische Investitionsbank überhauptnicht in dem Vedacht steht, ideologisch anti Atomkraftzu sein. Aber sie sagt, das Projekt sei nicht wirtschaft-lich, nicht machbar.Ich möchte noch einige Punkte ansprechen, die be-reits aufgelistet worden sind, die aber de facto nichtganz richtig sind.Erstens. Es geht um die Frage, warum ein Gaskraft-werk im Moment nicht in Frage kommt. Wir haben im-mer wieder, auch in unseren letzten Gesprächen, vonPräsident Kutschma signalisiert bekommen, daß sich derAntrag ursprünglich auf ein Gaskraftwerk bezog, daßsich aber die westliche Staatengemeinschaft, insbeson-dere Frankreich, für ein Atomkraftwerk eingesetzt hat.Dazu muß man ganz deutlich sagen: Frankreichmöchte natürlich gern weiter Atomkraftwerke exportie-ren und sieht darin einen östlichen Markt. Ich habe mitden Kollegen in Frankreich gesprochen. Alle Parlamen-tarier sagen: Wir sind natürlich dabei, wenn es preis-werter und einfacher ist, etwas anderes zu bauen. Derfranzösische Präsident Chirac hat sich jedoch festgelegt.Er hat die Federführung, und da gibt es keine Wider-worte mehr. Das ist das Problem. Hier müssen wir dieArbeit leisten. Das ist eine sehr komplizierte Angele-genheit.Zweitens. Es wird behauptet, wenn dort ein Atom-kraftwerk stünde, wäre das für die Ukraine billiger.Auch das stimmt nicht mehr. Früher gab es einen Aus-tausch der Brennelemente zwischen Rußland und derUkraine. Dieser Austausch ist beendet worden. DieUkraine müßte jetzt die Brennelemente und die Endlage-Dagmar Wöhrl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3801
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rung bezahlen. Das allein würde 230 Millionen Dollarzusätzlich kosten.Die Ukraine hat kein Geld. Das „Handelsblatt“ hat amMontag berichtet: Kiews Finanzkrise verschärft sich, allesind zahlungsunfähig. Das kann man auch an den Strom-rechnungen ablesen: Nur 5 Prozent werden direkt bezahlt,40 Prozent werden gar nicht bezahlt und der Rest durchTauschgeschäfte. Daran sieht man, daß es überhaupt nichtmöglich ist, dort irgendeine Bezahlung für irgend etwaszu erhalten. So wird es auch nicht 230 Millionen Dollarfür Brennelemente aus Rußland geben.Insofern ist es richtig, zu sagen: Wir wollen, daß das,was hier an Firmen-Know-how vorhanden ist, dort aucheingesetzt wird. Es gibt dort etliche Kraftwerke, zumBeispiel auf Kohlebasis, die weder auf- noch nachgerü-stet worden sind. Wir haben in der Bundesrepublik denWirkungsgrad von 33 Prozent auf 40 Prozent erhöht.Die Steinkohle ist weiter gefördert worden, damit auchdie Technik in diesem Bereich weiterentwickelt werdenkann. Wenn man in der Ukraine die bestehenden Koh-lekraftwerke nachrüsten würde, hätte sie allein330 Millionen Kilowattstunden mehr als vorher. Dasheißt, sie bekäme mehr als die 2 000 Megawatt, die dieneuen Kraftwerke, die dort entstehen sollen, liefernwürden. Das ist etwas, was wir genauso finanzierenkönnten. Dabei würde die Unabhängigkeit der Ukrainetatsächlich bestehenbleiben.
Selbst der Direktor des Komplexes K2/R4, Saza-nov, sagte noch im Februar dieses Jahres, er glaubenicht, daß Rußland die Fertigstellung bezahlen wird. Esbesteht daher auch nicht die Gefahr, daß Rußland dieFertigstellung bezahlt, wenn wir es nicht tun. Für dieUkraine und Herrn Kutschma ist es wichtig, daß derWesten zu seinem Versprechen steht, die Tschernobyl-Reaktoren abzuschalten, den Sarkophag zu bezahlen undalternative Energieversorgung in der Ukraine aufzubau-en. Bei der Durchsetzung dieses Ziels haben wir wenigerProbleme mit der Ukraine – weil wir ein gutes Verhält-nis zur Ukraine haben –, sondern mehr Probleme mitden westlichen Partnern. Wir müssen jetzt auf dem Gip-fel in Köln mit unseren Partnern darüber sprechen; dasist wichtig.Ich wünsche der Bundesregierung sehr viel Glück.Ich wünsche ihr, daß sie es schafft. Ich weiß, daß sieeine schwere Aufgabe vor sich hat. Wir werden sie aufder Ebene der Parlamentarier unterstützen. Wir werdendie Bundesregierung unterstützen, unabhängig davon,welches Ergebnis auf dem Kölner Gipfel erzielt wird,um Ihren Weg nicht weiter verfolgen zu müssen.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, vor einer namentlichen Abstimmung ist
es immer etwas unruhig. Der Kollege Müller hält jetzt
seine erste Rede. Sie sollten ihm seine Jungfernrede er-
leichtern.
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der
Kollege Bernward Müller.
Sehr geehrterHerr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Frau Hustedt, wenn Herr Grill die Rede des Wirt-schaftsministers gehalten hätte, dann hätte ich Ihre Aus-führungen nachvollziehen können. Aber für mich istIhre Rede ein Paradebeispiel für ideologische Verblen-dung und Unverbesserlichkeit.
Ersatz für den Energieausfall im Falle der Abschal-tung der Altreaktoren in Tschernobyl zu beschaffen,kann nicht nur mit der Beschaffung von Kilowattstundenverglichen werden.
Eine so eindimensionale Sichtweise, wie sie von Ihnen,meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen,am letzten Dienstag im Umweltausschuß an den Taggelegt worden ist, ist nicht weiterführend. Für die jungenLänder auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion istEnergieversorgung eben auch eine Frage der Selbstbe-stimmung, der Unabhängigkeit, der Sicherheit und desSelbstverständnisses.
Vor diesem Hintergrund war das 1995 zwischen derUkraine und den G-7-Staaten vereinbarte Memoran-dum eben kein Fehler, sondern der Startschuß für dieBeseitigung der direkten Folgeschäden der Reaktorkata-strophe von 1986. Es war auch der von allen Beteiligtenanerkannte Einstieg in eine verbesserte Energiepolitikder Ukraine. Die Zusage der Fertigstellung von K 2 undR 4 war das Ergebnis weiterer Verhandlungen und nichtdas Ergebnis von Erpressungen, Frau Hustedt. Das hatIhnen der Wirtschaftsminister gerade eben bestätigt. Siebezeichnen diese Vereinbarung heute als Erblast. Ichnenne sie einen Meilenstein auf dem richtigen Weg.
Die Handlungsschwerpunkte dieser Vereinbarungsind die Abschaltung der verbliebenen Reaktorblöcke inTschernobyl bis zum Jahr 2000 und die Schaffung vonErsatzkapazitäten für die nukleare und die fossile Ener-gieerzeugung, also für beide Arten. Es geht in der Sum-me um die Anhebung des Sicherheitsniveaus durch Nut-zung der gesamten Bandbreite der Gestaltungsmöglich-keiten der nuklearen Energieerzeugung in der Ukraine.Es geht also nicht nur um das Abschalten, sondern auchum Modernisierung und Erneuerung. Hier beginnt dasDilemma gerade für die Grünen. Wenn ich später nochZeit habe, werde ich darauf zurückkommen.Monika Griefahn
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3802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Bei aller Unterschiedlichkeit in den Auffassungenwar auf der Sondersitzung des Umweltausschusses amDienstag eines klar: Wir wollen die schnellstmöglicheAbschaltung der Tschernobyl-Reaktoren erreichen.
Dies bringt kurzfristig die entscheidende Minimierungdes Sicherheitsrisikos.In der Tat ist die Abschaltung der sich noch im Be-trieb befindlichen Reaktoren greifbar nahe. Wenn Siediese schnellstmögliche Abschaltung wirklich wollen,dann müssen Sie den jetzigen Gegebenheiten in derUkraine und dem Zusammenwirken der G-7-StaatenRechnung tragen. Das, was möglich und machbar ist, istdoch bereits geprüft worden, und zwar vom Bundes-kanzleramt. Die Fakten liegen vor. Ich konnte michzwar des Eindrucks nicht erwehren, daß die Koalitions-fraktionen und auch der Bundesumweltminister überdiese Prüfergebnisse nicht informiert waren oder dieseErgebnisse nicht für erforderlich hielten oder ihnen kei-ne Beachtung schenkten. Aber das ändert doch nichts ander Tatsache, daß die Ergebnisse vorliegen und beachtetwerden müssen.Ich gehe davon aus, daß gerade im Wissen um dieSchwierigkeiten, die diese Entscheidung mit sich bringt,und mit Blick auf die Befindlichkeiten in den Koaliti-onsfraktionen alle Alternativkonzepte, die derzeitmöglich sind, geprüft worden sind. Deswegen müssenwir folgendem Rechnung tragen – es ist schon mehrfachgesagt worden –: Die Ukraine stellt ihre Altreaktorennur ab, wenn wir K 2 und R 4 fertigstellen. Ein Gaswerkist nicht geplant, und die Ukraine ist an einem Gaswerknicht interessiert. Das hängt sicherlich mit der Abhän-gigkeit von Rußland zusammen. Auch die G-7-Partnererklären nachdrücklich: Schert Deutschland aus, mußDeutschland die Kosten für die Alternativprojekte allei-ne tragen.Eines will ich Ihnen noch sagen: Sollte Ihr Antrag indiesem Hause tatsächlich angenommen werden, dannmüssen Sie von den Grünen und der SPD sich aber überfolgendes im klaren sein: Sie werden miterleben, daß dieReaktoren in Tschernobyl noch über das Jahr 2000 hin-aus am Netz bleiben werden. Sie werden miterleben, daßK 2 und R 4 nicht mit moderner internationaler Technikfertiggestellt werden, sondern nach altem osteuropäi-schen Standard. Sie werden miterleben, daß Deutschlandseinen Einfluß bei der Modernisierung der anderenAtomkraftwerke in der Ukraine verlieren wird. Und,Frau Hustedt, Sie werden miterleben, wie deutsche oderandere mitteleuropäische Energieverbraucher Billig-strom aus veralteten Atomkraftwerken beziehen.
Ich finde es schon beachtenswert – das will ich zumAbschluß erwähnen –, daß die Regierungskoalitioneinen Antrag formuliert, der ihren Kanzler im Regenstehenläßt. Ich glaube, das ist genauso ein Novum indiesem Hause wie das, daß der Kanzler für seinen einge-schlagenen Weg, nämlich die Kredite zur Verfügung zustellen, heute von der Mehrheit der Opposition Zustim-mung erfährt.Vielen Dank.
Ich gratuliere dem
Kollegen Müller im Namen des Hauses zu seiner ersten
Rede.
Ich gebe nunmehr als letztem Redner in dieser De-
batte dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wenn Nachrichtenagenturenberichten, der Kanzler sei über die Koalitionsfraktionenverärgert, dann kann ich das sehr gut verstehen; dennwieder einmal ist es die CDU/CSU-Fraktion in diesemHause, auf deren Unterstützung und Verläßlichkeit dieBundesregierung bei der Einhaltung internationaler Ver-pflichtungen bauen kann, während die Haltung der rot-grünen Koalitionsfraktionen dem Kanzler so hilfreich istwie der Strick dem zu Hängenden.
Aber was opfert diese Regierung nicht alles für eine fra-gile koalitionsinterne Eintracht!Es kann auch keine Rede davon sein, daß Bundes-kanzler Schröder diese, insbesondere vom KollegenKubatschka ebenso genannte Erblast aus der Kohl-Regierung nur widerwillig, mit geballter Faust in derTasche übernommen hätte. Vielmehr war es die Regie-rung, die bei vorausgegangenen internationalen Treffendie Einhaltung der Kreditzusagen durchaus originärvertreten hat. Wer hat denn im März dieses Jahres ausguten Gründen feste Absprachen mit Frankreich getrof-fen? Wenn das stimmt, was Frau Hustedt gesagt hat,dann frage ich mich, wie unverantwortlich ein Kanzlerhandelt, wenn er sehenden Auges solche Vereinbarun-gen erneuert.
Das Gerede von der Erblast ist doch eine Täuschung, umvon der eigenen Verantwortung oder, besser gesagt,Verantwortungslosigkeit abzulenken.Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst die ablehnendeHaltung der beiden Koalitionsfraktionen hat doch dieseBundesregierung, namentlich den Kanzler, in eine Zer-reißprobe getrieben. Herr Schröder versucht nun in derihm eigenen alerten Art, sich aus dieser selbstgestricktenFalle zu befreien. Die von Regierungssprecher Heye be-zeichnete „respektvolle Behandlung“ – nicht etwa Re-spektierung – der ablehnenden Beschlüsse wird dochwohl so aussehen, daß auf dem G-8-Gipfel eine klareEntscheidung vermieden und die Sache vertagt wird,obwohl sämtliche Voraussetzungen für die Vergabevorliegen und die endgültige Zusagereife lediglich vonBernward Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3803
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der wirtschaftlichen Zuverlässigkeit des Kernkraft-werksbetreibers abhängt, wie uns Minister Müller ge-stern im Wirtschaftsausschuß und eben hier im Plenumerklärt hat. Lediglich als Beruhigung für die eigenenFraktionen wird es im Juli ein Gespräch mit der ukraini-schen Führung geben, und ich frage mich, was wir da anneuen Erkenntnissen gewinnen wollen.
Letztlich wird aber staatsmännisch, wenn auch mitretardierendem Moment der Kreditvergabe doch zuge-stimmt, um sich international nicht zu isolieren und sichbei Verweigerung des deutschen Finanzierungsbeitragesnicht gar noch regreßpflichtig zu machen.Jenseits aller insbesondere von den Grünen und dortvon Frau Hustedt vorgeschobenen Sicherheitsbedenken,die ich hier anders als die sich geradezu als Ordinaria fürKernphysik und Atomrecht aufspielende Sprecherin derGrünen als Abgeordneter in der Sache weder verifizie-ren noch falsifizieren kann, steht doch eines fest: OhneEinhaltung der Kreditzusage wird das Junktim, nämlichdas Abschalten des Unglücksreaktors Tschernobyl nochim Jahre 2000, nicht erfüllt. Die beiden Reaktoren K 2und R 4 werden auch ohne deutschen Finanzierungsbei-trag und damit leider auch ohne deutsches Know-howauf niedrigem Sicherheitsstandard fertiggestellt. Damit,meine Damen und Herren, entfernen wir uns von der all-seits gewünschten und beabsichtigten Anhebung desSicherheitsniveaus dieser beiden Reaktoren – jedenfallsmehr als bei einer deutschen Beteiligung – sowohl infinanzieller als auch in technischer Hinsicht. So etwasnennt man einen Treppenwitz der Geschichte.
Doch im Ergebnis wird die Politik von Rotgrün auchzum Sicherheitsrisiko für unsere Bürger, und dann hörtder Spaß auf.Was bleibt, ist die Angst von Rotgrün, ihre Glaubwür-digkeit oder das, was davon noch übriggeblieben ist, zuverlieren und sich in einen Widerspruch zu manövrieren,nämlich auf der einen Seite national aus der friedlichenNutzung der Kernenergie auszusteigen und auf der ande-ren Seite Kernkraftwerke international mit zu finanzieren.Das ist in der Tat ein signifikanter Widerspruch. DessenAuflösung aber kann nicht in der Beibehaltung eines le-gislatorisch verordneten Ausstiegs bei uns und der Ver-weigerung der Kredite für Kiew liegen, sondern umge-kehrt wird ein Schuh daraus: Halten Sie die internationa-len Verpflichtungen ein, und verabschieden Sie sich voneinem optionslos gesetzlich oktroyierten Ausstieg!
Wenn Ihnen außer der Bundesrepublik Deutschlanddie ganze Welt nicht in Ihr rotgrünes kleingestricktesKaro paßt, so bin ich mir sicher, daß es nicht die Weltist, die geändert werden muß. Verabschieden Sie sichdavon, zum globalen Gralshüter des Ausstiegs aus derKernenergie zu werden!
Eine rhetorische Frage gestatte ich mir zum Ab-schluß: Warum hat eigentlich heute abend nicht derUmweltminister Trittin, sondern Herr Müller gespro-chen? Das war eine Super-Ouvertüre, und ich fragemich, in welcher Schlachtordnung wir uns eigentlich be-finden. Der unbefangene Betrachter sagt, hier bekommeder falsche Adressat vom Falschen Applaus.Vielen Dank.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zur Einstellung der Unterstützung der Atom-
kraftwerke in der Ukraine, Drucksache 14/1143 Nr. 1.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/1160 vor, über den wir zuerst ab-
stimmen. Die Fraktion der F.D.P. verlangt namentliche
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröff-
ne die Abstimmung. –
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentli-
chen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Liebe Kolleginnenund Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder er-öffnet.Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergeb-nis der namentlichen Abstimmung über den Änderungs-antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1160bekannt: Abgegebene Stimmen 500. Mit Ja haben ge-stimmt 27, mit Nein haben gestimmt 472, Enthaltungen 1.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 499;davon:ja: 27nein: 471enthalten: 1JaF.D.P.Hildebrecht Braun
Rainer BrüderleJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannDr. Karlheinz GuttmacherBirgit HomburgerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelGudrun KoppIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Detlef ParrGerhard SchüßlerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Dieter ThomaeDr. Guido WesterwelleNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierDr. Jürgen Gehb
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3804 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
(C)
Norbert BarthleGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümWolfgang Börnsen
Dr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyHartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Leo DautzenbergHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttRainer EppelmannDr. Hans Georg FaustUlf FinkDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbGeorg GirischDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillManfred GrundCarl-Detlev Freiherr vonHammersteinGerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Siegfried HeliasErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr. Harald KahlManfred KantherIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertManfred KolbeEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Karl A. Lamers
Dr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Erwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterHans MichelbachDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferBeatrix PhilippRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Hans-Peter RepnikKlaus RiegertFranz RomerHannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuDietmar SchleeChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffDiethard W. Schütze
Clemens SchwalbeWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblMichael StübgenDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzAndrea VoßhoffGerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschWilly Wimmer
Werner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerSPDRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkDr. Peter DanckertChristel DeichmannPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnWolfgang GrotthausHans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelGustav HerzogMonika HeubaumUwe HikschReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenJann-Peter JanssenIlse JanzVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseVizepräsident Rudolf Seiters
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3805
(C)
(D)
Karin KortmannAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnKlaus LennartzEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherDieter Maaß
Dirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieIngrid Matthäus-MaierHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Andrea NahlesVolker Neumann
Dr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerGeorg PfannensteinJoachim PoßMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldOttmar SchreinerDr. Mathias SchubertBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitGünter VerheugenSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerMatthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Hans-Joachim WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaVerena WohllebenWaltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMarieluise Beck
Angelika BeerMatthias BerningerAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellJoseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheDr. Angelika Köster-LoßackSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKlaus Wolfgang Müller
Kerstin Müller
Winfried NachtweiCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinLudger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
PDSPetra BlässMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang Gehrcke-ReymannDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllCarsten HübnerSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzUrsula LötzerHeidemarie LüthAngela MarquardtRosel NeuhäuserPetra PauGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertEnthaltenPDSDr. Christa LuftEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Adam, Ulrich, CDU/CSU Behrendt, Wolfgang, SPD Dr. Böhmer, Maria, CDU/CSU Bühler ,Buwitt, Dankward, CDU/CSU Haack , Dr. Hornhues, Karl-Heinz Klaus, CDU/CSUJäger, Renate, SPD Karl-Hermann, SPD CDU/CSU Lintner, Eduard, CDU/CSULotz, Erika, SPD Dr. Lucyga, Christine, SPD Maaß , Michels, Meinolf, CDU/CSUMüller , Neumann (Gotha), Erich, CDU/CSU Schloten, Dieter, SPD Manfred, PDS Gerhard, SPD Schmitz , von Schmude, Michael,Schütz , Siebert, Bernd, CDU/CSU Hans Peter, CDU/CSU CDU/CSU Dietmar, SPD Dr. Wodarg, Wolfgang, SPDVizepräsident Rudolf Seiters
Metadaten/Kopzeile:
3806 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
(C)
Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Frak-tionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Ein-stellung der Unterstützung der Atomkraftwerke in derUkraine. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/795 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünschen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-men der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung derPDS angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Frak-tion der CDU/CSU zu einem Festhalten an den Zusagenzum Bau von sicheren Ersatzreaktoren in der Ukraine,Drucksache 14/1143 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt,den Antrag auf Drucksache 14/819 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlußempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen derSPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDSgegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-nommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-schlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Frakti-on der PDS zu Investitionen der Europäischen Bank fürWiederaufbau und Entwicklung, Drucksache 14/1143Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Druck-sache 14/708 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlußempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des Hau-ses gegen die Stimmen der PDS angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe nun die Tages-ordnungspunkte 11a bis 11d auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Un-abhängigkeit der Richter und Gerichte– Drucksache 14/979 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs einesGesetzes zur Reform der Präsidialverfassungder Gerichte– Drucksache 14/597 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs einesGesetzes zur Förderung der außergerichtli-chen Streitbeilegung– Drucksache 14/980 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs einesGesetzes zur Änderung des Einführungsgeset-zes zum Gerichtsverfassungsgesetz– Drucksache 14/870 –Überweisungsvorschlag:RechtsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung war fürdie Aussprache ursprünglich eine Stunde vorgesehen.Die meisten Redner haben aber ihre Reden zu Protokollgegeben.*)Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Landesmi-nister Jochen Dieckmann für Nordrhein-Westfalen dasWort.
Punkte und Themen, die unter Punkt 11 der heutigenTagesordnung zur Beratung anstehen, sind den Ländernwichtig, da sie zur großen Thematik der Justizreformgehören.Der Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der außer-gerichtlichen Streitbeilegung, auf den ich mich hier kon-zentrieren möchte, ist uns von besonderer Bedeutung.Leider ist das Anliegen dieses Gesetzentwurfes gele-gentlich mißverstanden und nur als Versuch gesehenworden, lästige Bagatellverfahren von den Gerichtenwegzudrücken und die Gerichte zu entlasten. Eine Ent-lastung der Justiz ist sicher notwendig. Ursache hierfürsind in erster Linie die hohen personellen und finanziel-len Belastungen der Haushalte der Landesjustizverwal-tungen, die sich neuerdings durch das Betreuungsrechtund das Verbraucherinsolvenzverfahren ergeben.Eine Entlastung der Justiz ist aber nicht das vorrangi-ge rechtspolitische Anliegen dieses Reformvorhabens.Der rechtspolitisch bedeutsame Aspekt liegt vielmehrdarin, auf diesem Wege zu einer Änderung der Streit-kultur in unserem Land zu kommen. Ich glaube, wirsind ein recht streitfreudiges Volk geworden. Dabeimeine ich das zunächst nicht einmal negativ. Denn Streitund Auseinandersetzung sind wichtige Bestandteileeiner demokratischen Gesellschaft. Aber ein Streit sollteim Regelfall von den Beteiligten im Gespräch miteinan-der ausgeräumt werden.
Nur ausnahmsweise sollte es der Entscheidung durch einGericht bedürfen. Ein Blick auf die Eingangszahlen un-serer Gerichte zeigt, daß sich dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis inzwischen sehr in Richtung auf die gericht-lichen Entscheidungen verschlechtert hat.––––––––––––*) Anlage 4Vizepräsident Rudolf Seiters
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Es gibt eine zu große Zahl von Streitigkeiten, bei de-nen die Entscheidung durch das Gericht erkennbar nichtdie beste Lösung ist und insbesondere nicht zu einer dau-erhaften Befriedung der beteiligten Parteien führt. Bei-spiele hierfür sind insbesondere im Nachbarrecht und imBereich der Ehrenschutzklagen zu finden. Deshalb sinddiese Bereiche im vorliegenden Gesetzentwurf ausdrück-lich erfaßt. Es gibt aber noch viele andere Beispiele. In alldiesen Fällen bringt ein Verfahren, das von der Konzepti-on her auf Einigung und nicht auf Entscheidung angelegtist – wie das Verfahren der außergerichtlichen Streitbeile-gung – für alle Beteiligten große Vorteile. Zusammenge-faßt und zugespitzt: Außergerichtliche Streitschlichtungbietet vielfach die Chance zu einer selbstbestimmten Zu-kunftsgestaltung, während es der Zivilprozeß häufig beieiner Vergangenheitsbewältigung bewenden lassen muß,die letztlich für beide Parteien unbefriedigend bleibt.Voraussetzung für den Erfolg einer außergerichtli-chen Streitschlichtung ist etwas, das wir in jeder Aus-einandersetzung brauchen, das aber leider immer mehrabnimmt: die Bereitschaft, sich auf ein Gespräch mitdem anderen einzulassen und wenigstens einmal dieMöglichkeit in Betracht zu ziehen, daß auch der andererecht haben könnte. Die dafür notwendige Verhal-tensänderung in der Gesellschaft bedarf eines wahr-nehmbaren Anstoßes. Einen solchen Anstoß kann undsoll dieses Gesetz geben. Durch den Zwang zur außerge-richtlichen Schlichtung im unteren Streitwertbereich solldas Bewußtsein geweckt werden, daß der Weg zu Ge-richt das letzte Mittel in einem Streit sein sollte.
Die Erfahrung einer gut funktionierenden Streitschlich-tung kann und soll dann in Zukunft dazu führen, daßStreitschlichtung auch bei höheren Streitwerten zu einerechten Alternative zum traditionellen Rechtsstreit wird.Dieses Gesetz kann daher nur ein Einstieg in dieStärkung der außergerichtlichen Streitschlichtung sein.Weitere Maßnahmen zur Förderung insbesondere einerfakultativen Streitschlichtung müssen folgen. Nur durcheine breit angelegte, nicht auf die obligatorischeSchlichtung beschränkte Förderung der außergerichtli-chen Streitbeilegung werden wir zu einer Verhaltensän-derung kommen. Diese soll dann langfristig auch zu ei-ner nachhaltigen Entlastung der Justiz führen. Mit an-deren Worten: Ein zusätzliches Angebot außergerichtli-cher Streitschlichtung kann und soll dazu führen, daß dieNachfrage nach dem Produkt Zivilprozeß geringer wird.Herzlichen Dank.
Ich darf Ihnen mit-
teilen, daß die Kolleginnen und Kollegen Alfred Har-
tenbach , Volker Kauder (CDU/CSU), Hans-
Christian Ströbele , Rainer
Funke , der Parlamentarische Staatssekretär Dr.
Eckhart Pick, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
und Dr. Evelyn Kenzler (PDS) ihre Reden
zu Protokoll gegeben haben.*)
––––––––––––
*) Anlage 4
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tages-
ordnungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung
der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/979,
14/597, 14/980 und 14/870 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 12 aufrufe,
komme ich noch einmal auf den Zusatztagesordnungs-
punkt 3 zurück. Frau Birgit Homburger macht uns dar-
auf aufmerksam, daß sich die F.D.P.-Fraktion bei dem
Antrag der CDU/CSU-Fraktion der Stimme enthalten
habe und dies gern zu Protokoll gegeben wissen möchte.
Ähnliches gilt für die Fraktion der PDS: Die PDS
möchte zu Protokoll genommen haben, daß sie sich bei
der Beschlußempfehlung über den Antrag der Fraktio-
nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Keine wei-
tere Unterstützung der Atomkraftwerke in der Ukraine –
für die Beschlußempfehlung aussprechen wollte.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Nor-
bert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zum verbesserten Schutz der Bundeswehr
vor Verunglimpfung
– Drucksache 14/985 –
Überweisungsvorschlag:
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3808 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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– Vielleicht hören Sie mir erst einmal zu. Wollen Siesich den Schuh anziehen, Herr Kollege? Das denke ichdoch nicht. Erst zuhören!
Wenn die Kommunisten
heute eine Ehrenerklärung für die Bundeswehr abgeben,dann soll es uns recht sein; ob sie dann glaubwürdig ist,ist eine andere Frage.
Wir sind immer wieder offen, auch für Überraschungen.Zwei umstrittene Entscheidungen des Bundesver-fassungsgerichts haben gezeigt, daß dieser Schutzdurch das geltende Recht in bestimmten Fällen nichtausreichend gewährleistet ist. Gemeint sind die Fälle, indenen unter vorgeblicher Berufung auf radikalpazifisti-sche Positionen in Wirklichkeit bewußte Ehrverletzun-gen begangen werden. Es muß nur behauptet werden,daß mit den fraglichen Äußerungen nicht etwa die Bun-deswehr bzw. ihre Angehörigen beleidigt werden soll-ten, sondern lediglich die Mißachtung des Kriegsdien-stes als solchem zum Ausdruck gebracht werden sollte.In diesem Fall überwiegt dann nach der Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichts das Recht auf freie Mei-nungsäußerung.In der Praxis hat diese Rechtsprechung dazu geführt,daß der Schutz der Ehre und der Würde von einzelnenund der Schutz von Institutionen vor Verunglimpfung invielen Fällen oft nicht mehr stattfindet. Das gilt insbe-sondere für die Soldaten und für die Bundeswehr. DieseRechtsprechung führte dazu, daß es nicht mehr daraufankommt, wie der Adressat oder ein verständiger Drittereine solche Äußerung aufnimmt, sondern allein auf dieMeinung des Verunglimpfenden. Dadurch sind Polizeiund Staatsanwaltschaften verunsichert. Sie scheuen sich,Ermittlungsverfahren überhaupt einzuleiten. Kommt esdoch zu einer Anklage, verurteilen die Richter nicht,weil sie damit rechnen müssen, daß ihre Entscheidungenaufgehoben werden. Damit findet aber in solchen Fällenein Ehrenschutz nicht mehr statt, obwohl auch derEhrenschutz eine konstitutive Bedeutung für unsere Ver-fassung hat.Natürlich wollen wir mit unserer Gesetzesvorlageweder die Meinungsfreiheit noch etwa die Kompetenzdes Bundesverfassungsgerichts einschränken.
Die seit dem Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 entwik-kelte Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit unddem diese Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetzbleibt selbstverständlich bestehen. Diese Abwägungsetzt aber auch voraus, daß beides gesehen wird: der Eh-renschutz der Soldaten und damit verbunden die Funkti-onsfähigkeit der Bundeswehr einerseits und die freieMeinungsäußerung auf der anderen Seite.Die jetzige Formulierung des § 185 Strafgesetzbuchist zu vage und deshalb oft ungeeignet, in dieser Abwä-gung der Bedeutung des Ehrenschutzes das erforderli-che Gewicht zu verleihen. Es gibt kein Recht zur Ver-unglimpfung. Wir wollen deshalb mit dem neuen§ 109 b StGB die vage Formulierung des § 185 StGBpräzisieren. Natürlich sind wir uns bewußt, daß wir da-mit der Bundeswehr und ihren Soldaten eine Art Son-derstellung im Strafrecht einräumen.
– Dafür gibt es gute Gründe. Ich komme gleich dazu.Nach unserer Auffassung steht der neue § 109 bStGB aber in einem engen Zusammenhang etwa mit§ 90, aber vor allem mit § 90 b des Strafgesetzbuches, indenen es um die Verunglimpfung von Verfassungsorga-nen geht. Diese Sonderstellung ist nach unserer Über-zeugung gerechtfertigt. Denn: Wenn der Staat von sei-nen Soldaten notfalls den Einsatz ihres Lebens verlangt,wie gerade jetzt im Kosovo, dann ist es im Rahmen derFürsorgepflicht des Gesetzgebers andererseits nur kon-sequent, den Soldaten einen herausgehobenen Rechts-schutz zuzubilligen.
Noch etwas möchte ich zu bedenken geben. UnsereSoldaten leisten ihren Dienst mit der Waffe im Rahmenihres verfassungsgemäßen Auftrages und auf Grund ent-sprechender Beschlüsse des Parlaments. Wer also Sol-daten als Mörder verunglimpft, der verunglimpft zu-gleich das Parlament.
Schließlich und nicht zuletzt möchte ich darauf hin-weisen, daß Strafgesetze nicht allein der strafrechtlichenVerfolgung dienen, sondern auch ein Unwerturteil überein bestimmtes Verhalten zum Ausdruck bringen. DieserDr. Wolfgang Götzer
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Aspekt spielt gerade bei dem vorliegenden Gesetzent-wurf zum Schutze unserer Soldaten eine besondereRolle. Der ehemalige sozialdemokratische Verteidi-gungsminister Georg Leber
– in der Tat ein guter Verteidigungsminister – sagte beieiner Feierstunde des Verteidigungsausschusses:Unsere Soldaten sind Bürger des Staates wie wiralle. Aber sie geloben etwas, was sonst niemand inStaat und Gesellschaft abverlangt oder zugemutetwird, die Freiheit und das Recht mit dem Einsatzihres Lebens tapfer zu verteidigen.
Weil das so ist, sind Gesellschaft und Staat denSoldaten gegenüber in der Pflicht, sich schützendvor sie zu stellen, wenn der ihnen aufgetrageneDienst nicht diskriminiert und ihr guter Ruf nichtverletzt werden soll.Dem können Sie doch wohl zustimmen!
Der evangelische Militärbischof Löwe geht nochweiter, wenn er sagt:Der innere Friede einer Gesellschaft ist gefährdet,wenn die gesamte Bevölkerungsgruppe der Solda-ten ungeahndet diffamiert werden darf.Deshalb haben wir den vorliegenden Gesetzentwurfeingebracht. Wir hoffen auf breite Zustimmung.
Als nächster Redner
spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Alfred Harten-
bach.
Herr Präsident! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte FrauStaatssekretärin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär!
– Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Sachekommen.Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie, wie Sie es an-deuten, einen besseren Ehrenschutz für die Bundeswehrund begründen dies mit den Worten, in der Vergangen-heit seien Soldaten der Bundeswehr zunehmend Ehr-kränkungen ausgesetzt gewesen. Eine ähnliche Initiativehatte die CDU/CSU-Fraktion in der letzten Legislaturpe-riode schon einmal vorgelegt, diese aber dann in letzterSekunde wegen Unstimmigkeiten in den eigenen Rei-hen, mit dem damaligen Koalitionspartner, zurückgezo-gen. Das ist verschüttete Milch. Ich will nicht weiterdarauf eingehen.Nun haben wir alle hier im Haus – die PDS vielleichtnicht – aufgrund unserer Entscheidungen über den Ein-satz der Bundeswehr zu den KFOR-Einsätzen auf demBalkan ein ganz neues Verhältnis zu unseren Soldatenund ein gewandeltes Verständnis über ihre Tätigkeit.Wir haben sehr bewußt Entscheidungen getroffen, derenAuswirkungen wir uns vorstellen können. Sie bedeuteneine ganz persönliche Gefahr für Leben und Gesundheitunserer Soldaten, einen tiefen Eingriff in bis dahin sehrgeordnete Lebensabläufe und in das Leben der Angehö-rigen.Wir wußten aber auch, daß wir von unseren Soldatenzur Sicherung des Friedens, zur Absicherung der Rück-kehr der Bewohner und auch zur Eigensicherung bei Ge-fahren den Gebrauch der Waffe und deren finalen Ein-satz gefordert haben. Das verlangt von uns eine beson-dere Fürsorge unseren Soldaten gegenüber.
Ich gehe davon aus, daß Sie von der Union sich von die-sen Gedanken haben leiten lassen, als Sie diesen Ent-wurf am 6. Mai erneut in das parlamentarische Verfah-ren gegeben haben.
Ihre Vorschläge, Herr Götzer, ehren Sie. Aber siedienen weder dem besseren Ehrenschutz des einzelnenSoldaten noch dem Kollektiv Bundeswehr. Ich fürchteeher, Ihr Entwurf isoliert die mitten in der Gesellschaftlebenden Soldaten.
Sie führen in der Begründung Ihres Entwurfes an, inden letzten Jahren seien in zunehmendem Maße Solda-ten der Bundeswehr als Mörder oder potentielle Mörderbezeichnet worden, ohne daß dies strafrechtlich durchdie Beleidigungsvorschriften aufgefangen werde. Sieerwähnen auch jenes Urteil des Bundesverfassungsge-richts und legen das Urteil insoweit richtig aus, als Sie inIhrem eigenen Entwurf erklären, daß eine Kollektivbe-leidigung von Soldaten der Bundeswehr auch bisherschon nach § 185 StGB strafbar sei.Ihre heutige Rede hat mir gezeigt, daß Sie das Urteildes Bundesverfassungsgerichts in keiner Weise verstan-den haben. Sie entziehen Ihrem Entwurf in der eigenenBegründung schon den Boden. Mit der FormulierungIhres Entwurfes zielen Sie genau auf die Kollektivbelei-digung der Institution Bundeswehr und ihrer Soldaten.Das aber war gerade nicht Inhalt des Urteils desBundesverfassungsgerichts. Das Gericht wertete densprachlichen Kontext dahin, daß es dem Angeklagtennicht um eine Kritik am Individualverhalten einzelnerSoldaten ging, sondern um eine allgemeine Einschät-zung von Kriegshandlungen, daß die Äußerung in be-sonders herausfordernder Form das Bewußtsein der per-sönlichen Verantwortung in Kriegshandlungen weckenwollte.Dr. Wolfgang Götzer
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3810 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Das Tucholsky-Zitat hat offensichtlich bei vielen zuVerwirrung geführt und war rationalen Überlegungenoft nicht mehr zugänglich. Dabei muß man wissen, daßTucholsky als Weltkriegsteilnehmer seine Erfahrungenund Erlebnisse in beeindruckender Weise verarbeitethat.
Es gibt so eindrucksvolle Gedichte von ihm wie „Mut-terns Hände“ oder anderes. Ich nenne auch die „Igel inder Abendstunde“. Wenn Sie die Maßstäbe des Bundes-verfassungsgerichts auf Ihren Entwurf anwenden, dannwerden Sie sehen, daß sie dort auch gelten. Diese Vor-schrift bringt uns also nicht weiter.Die Soldaten wollen diesen besonderen Ehrenschutzauch nicht, wie erst kürzlich der Vorsitzende des Bun-deswehrverbandes erklärt hat. Ich kann ihm da nur bei-pflichten.Diese Vorschrift ist nicht mit den §§ 109 f. StGBvergleichbar. Alle diese Vorschriften haben nämlich dieFunktionsfähigkeit der Bundeswehr als geschütztes Gutim Sinn und nicht den Ehrenschutz. Die Vorschrift wäreeine echte Sondernorm. Sie vergleichen ein Vollzugs-organ mit einem Verfassungsorgan. Ich halte dies nichtfür zulässig.Dem Bild unserer Armee käme eine solche Überhö-hung nicht gut zu stehen. Sie würde die Bundeswehr alsOrganisation und die einzelnen Soldaten in eine Sonder-rolle drängen, die die Soldaten nicht wollen und die sichschon aus dem verfassungsmäßigen Auftrag der Bun-deswehr heraus verbietet. Außerdem kommt man auseiner Sonderstellung leicht in eine Außenseiterstellung.Das aber darf nicht sein.Die Bundeswehr ist ein Bestandteil dieses Staates,und wir sind stolz, daß wir in unseren Soldaten Staats-bürger in Uniform haben.
Ich ganz persönlich war jedenfalls damals vor 30 Jahrensehr stolz darauf, nicht Teil eines Staates im Staate zusein, sondern Mitglied unserer Gesellschaft. Das giltheute mehr denn je. Das Leitbild vom Staatsbürger inUniform bindet die Streitkräfte in die Gesellschaft ein.Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Monatenin überzeugender Weise Verständnis und Wertschätzungfür unsere Soldaten deutlich gemacht. Ich denke, es istfür die Berufssoldaten, die Zeitsoldatinnen und -soldatenund die vielen jungen Wehrpflichtigen wichtiger zu wis-sen, daß das Parlament und die Gesellschaft sie inschweren Krisenzeiten wie diesen in ihre besondere Ob-hut nehmen, als daß wir wirkungslose Sondervorschrif-ten beschließen. Lassen Sie uns lieber dafür sorgen, daßden Soldaten der Bundeswehr und den Einsatzkräftenauf dem Balkan aller politischer Schutz und alle persön-liche Fürsorge zukommen, die sie zur Erfüllung ihrerAufgaben brauchen.Vielen Dank.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nun der Kollege Jörg van Essen.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich finde es schon erschreckend,welche juristischen Pirouetten der Kollege Hartenbachvon der SPD-Fraktion hier dreht
um zu begründen, daß in Deutschland auch in Zukunftunsere Soldaten, die nur einen Auftrag, den wir von derPolitik ihnen geben, ausführen, schon deswegen alsMörder beschimpft werden können
und damit in die Ecke derjenigen gestellt werden kön-nen, die eines der schwersten Verbrechen begehen.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat in der letzten Le-gislaturperiode diesen Gesetzentwurf gemeinsam mit derCDU eingebracht.
Die Fraktion hat in der Fraktionssitzung dieser Wochemehrheitlich beschlossen, weiter hinter diesem Vorha-ben zu stehen,
und wir haben gute Gründe dafür.Art. 1 des Grundgesetzes – er ist für uns der Maßstabbei der Betrachtung dieser Frage – sagt klar und eindeu-tig:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung allerstaatlichen Gewalt.Von daher gilt Art. 1 des Grundgesetzes für jedermannund damit auch für alle unsere Soldaten. Er ist abzuwä-gen mit dem Recht auf Meinungsfreiheit, das wir hochschätzen. Art. 5 hat im Grundgesetz ein großes Gewicht.Trotzdem haben die Väter und Mütter des Grundgeset-zes Art. 5 im Gegensatz zu Art. 1 nicht uneingeschränktgelten lassen. Art. 5 bestimmt ausdrücklich, daß dasRecht auf Meinungsfreiheit seine Grenze im Recht derpersönlichen Ehre findet.Von daher ist eine Abwägung vorzunehmen. DasBundesverfassungsgericht hat dies in einer bestimmtenWeise getan. Wir haben diese Abwägung des Bundes-verfassungsgerichtes ernst zu nehmen, aber wir sindnicht an sie gebunden. Das Bundesverfassungsgerichtsagt uns immer wieder deutlich – bei jedem Gesprächmit Richtern des Bundesverfassungsgerichtes hört mandas –: Wenn die Politik ihren Willen umsetzen will,dann muß sie das durch Gesetzgebung tun. Ich denke,daß das hier durch den vorgeschlagenen Paragraphen inbesonders vernünftiger Weise geschieht.Alfred Hartenbach
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Es ist nämlich selbstverständlich nicht jede Beleidi-gung der Bundeswehr strafbar, sondern nur die Verun-glimpfung, das heißt die grobe Ehrverletzung. Gibt eseine gröbere Ehrverletzung, als jemand, der zum Bei-spiel den Auftrag der Friedenssicherung im Kosovo aus-führt, als Mörder zu beschimpfen?
Herr Kollege Hartenbach, daß das kein theoretischesProblem ist, das habe ich persönlich in der letzten Wo-che erleben können, als ich als Reservist der Bundes-wehr in Münster in Uniform an einem Marsch teilge-nommen habe. Der Kollege Nachtwei, der nach mirsprechen wird, war auch dabei. Dort haben wir das Pla-kat „Soldaten sind Mörder“ gesehen. Ein junger Soldathat mir nach diesem Marsch gesagt: Sie geben mir dochden „Mordauftrag“. Sie bestimmen doch, was ich alsSoldat zu tun habe. Deshalb frage ich Sie: Was tun Siedagegen, daß ich hier in aller Öffentlichkeit beleidigtwerde? –
Ich halte die Frage dieses Soldaten für allzu berech-tigt. Ich denke, daß wir alle in der Verpflichtung sind,gerade vor dem Hintergrund des schweren Auftrages imKosovo, darüber nachzudenken, hier zu einer neuen Re-gelung zu kommen. Wir werden dazu beitragen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Unions-fraktion stellt heute einen Antrag zur Debatte, den siehier vor drei Jahren wortgleich eingebracht hat. Es wäreinteressant, von Ihnen zu erfahren, warum es Ihnen da-mals nicht gelungen ist, Ihre parlamentarische Mehrheitentsprechend umzusetzen.
Dazu kann vielleicht hinterher noch jemand von derCDU Stellung nehmen.
Damals wie heute behaupten Sie, Soldaten der Bun-deswehr würden zunehmend als „Mörder“, als „poten-tielle Mörder“ und ähnliches bezeichnet. Sie behaupten,dadurch sei die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, derEinsatzwille der Soldaten und die Bereitschaft von Bür-gern, Soldat zu werden, betroffen.
Das klingt dramatisch, hat aber mit der Wirklichkeit,insbesondere der letzten drei Jahre, nichts, aber garnichts zu tun.
– Darauf komme ich gleich. Ein gemeinsames Erlebniswird natürlich zur Sprache gebracht.In den letzten drei Jahresberichten der Wehrbeauf-tragten war die Beleidigung von Soldaten der Bundes-wehr in der Öffentlichkeit bemerkenswerterweise keinThema mehr.
Das ist von der F.D.P. und von der Unionsfraktion inter-essanterweise nicht einmal bemängelt worden. Das An-sehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit ist besserdenn je, genauso wie der Einsatzwille ihrer Soldaten.Das hängt entscheidend mit den Leistungen der Bun-deswehrsoldaten, seit Jahren in Bosnien, seit Monatenund Wochen in Mazedonien, in Albanien und im Koso-vo, zusammen. Neben der Flüchtlingshilfe sichern dieSoldaten den Waffenstillstand, das heißt, sie verhindernMord und Totschlag, statt solches zu praktizieren.
Damit unterscheiden sie sich in der Tat um 180 Gradvon dem, was zum Beispiel die Wehrmacht vor 58 Jah-ren auf dem Balkan getan hat.Insofern gehen Pauschalaussagen wie „Soldaten sindMörder“ sichtbar an der Realität der heutigen Bundes-wehr vorbei. Bundeswehrsoldaten können sich von sol-chen Pauschalaussagen auch tatsächlich nicht angespro-chen fühlen. Sie sind eben nicht in einem Boot mit allenSoldaten aller Länder und aller Zeiten.
Was würde aber dieser besondere sogenannte Ehren-schutz für die Soldaten bringen? Die Anhörung desRechtsausschusses im Oktober 1996 machte deutlich:Die Gesetzesverschärfung hätte kaum Auswirkungen inder Rechtswirklichkeit. Denn weiterhin gilt der bisherigeGrundsatz, daß klar gegen Bundeswehrangehörige undgegen die Bundeswehr insgesamt gerichtete „Mörder“ –Vorwürfe strafbar sind. Unverändert bliebe auch dievom Bundesverfassungsgericht gesetzte Rechtsposition,daß die pauschale Behauptung „Soldaten sind Mörder“vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt ist.Absehbar wären aber andere Konsequenzen: Es gäbeeine Zunahme von Verfahren. Es gäbe eine Auseinan-dersetzung um die Rolle des Militärs und der Bundes-wehr in der Sicherheitspolitik, die immer mehr emotio-nalisiert und ideologisiert würde.Ihr Gesetzentwurf ist unserer Auffassung nach offen-kundig überflüssig – aber nicht nur überflüssig, sondernauch deutlich kontraproduktiv.
Jörg van Essen
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3812 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Was also will die Union mit einem solchen Gesetzent-wurf? Zum einen ist für uns die parteipolitische Absichtdurchsichtig. Sie möchte sich schlichtweg als Schutzpa-tron der Bundeswehr gegenüber allen vermuteten oderrealen Bedrohungen aufblasen. Zum anderen aber undvor allem sehe ich bei Ihnen das Bemühen, eine radikal-pazifistische Sichtweise von Soldatentum und Militärunter Strafandrohung zu stellen. Sie sollten sich einmalüberlegen, ob es bei dieser Geisteshaltung nicht fastkonsequent wäre, wenn Sie als nächstes die Abschaf-fung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerungfordern würden,
weil auch dieser Gewissensentscheidung, den Kriegs-dienst zu verweigern, eine totale Absage an das Militäri-sche zugrunde liegt.Vor einer Woche – das hat der Kollege van Essen an-gesprochen – fanden in Münster in der Tat diese„Abendmarschen“ statt, bei denen erstmals holländi-sche und deutsche Soldaten sowie zivile Bürger, darun-ter wir, eine Strecke zusammen gewandert sind und beidenen es eine kleine Gruppe von Protestierenden mit ei-nem Transparent „Soldaten sind Mörder“ gab. Da habeich allerdings etwas anderes erfahren als Kollege vanEssen. – Es ist ganz gut, daß hier unterschiedliche Erfah-rungen zur Sprache kommen und nicht nur eine einzel-ne. – Die Masse der Soldaten hat das eher schulterzuk-kend zur Kenntnis genommen. Sie fühlten sich dadurchnämlich schlichtweg nicht angesprochen. Ein Oberst-leutnant sagte gegenüber dem Fernsehen: Die Mei-nungsfreiheit ist ein hohes Gut, und in diesem Rahmenmüssen wir eben auch scharfen Protest in Kauf nehmen.Andere Bürger sind schließlich auf die Demonstrantenzugegangen, haben mit ihnen gesprochen und es ge-schafft, daß der Schlagabtausch in eine gute Auseinan-dersetzung überging.Ich glaube, nur diese Art des selbstbewußten politi-schen Meinungsstreits bringt voran. Ihr Gesetzentwurfhingegen ist nicht nur überflüssig, sondern ein deutlicherSchritt zurück.Danke.
Das Wort für die
PDS hat die Kollegin Evelyn Kenzler.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! 1996 wollte die da-malige Regierungskoalition mit einem Entwurf gleichenInhalts ihr Mißfallen gegen das couragierte Urteil desBundesverfassungsgerichts zu dem Spruch „Soldatensind Mörder“ parlamentarisch ausdrücken.
Zum Glück ist dieses schon damals umstrittene Projektdurch die Einreicher selbst wieder aufgegeben worden.Ich hatte gehofft, daß es dabei bleibt. Nun will dieCDU/CSU es wiederbeleben, und die F.D.P. will sichoffensichtlich wiederum anschließen.Die Bundeswehr braucht meiner Meinung nach je-doch keinen besonderen Schutz vor Verunglimpfungen.Um ihre Ehre und die ihrer Soldaten zu schützen, sinddie §§ 185 ff. des Strafgesetzbuchs völlig ausreichend.Das Gesetz ist deshalb schlicht überflüssig.Offenbar ist die Bundeswehr von der ihr zugedachtenSonderbehandlung durch ein solches Gesetz auch nichtsehr begeistert. In der „Berliner Zeitung“ vom 3. Maispricht der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes,Bernhard Gertz, davon, daß der Vorstoß der CDU/CSU„den Soldaten keinen besonders guten Dienst“ erweise.Dem Gesetzesantrag steht auch das Bild des Bun-deswehrsoldaten als eines Staatsbürgers in Uniformentgegen. Wenn dem so ist, warum brauchen sie danngegenüber anderen Berufsgruppen, zum Beispiel Rich-tern, Staatsanwälten, Polizisten, einen „verbessertenSchutz“?
– Doch, Polizisten schon. – Die eigentlichen Gefahrenfür Soldaten, wie Kampfeinsätze in Jugoslawien, werdendurch ein solches Gesetz nicht verhindert. Hier hat derBundestag unter Mißachtung des Grundgesetzes andereWeichen gestellt.Der weit auslegbare Tatbestand der Verunglimpfungzielt im Kern nur auf den Bundespräsidenten, den Staatund seine Symbole sowie seine Verfassungsorgane.Nicht umsonst hat der Gesetzgeber diese engen Grenzengezogen. Mit Recht könnten bei einer weiteren Ausdeh-nung auch andere Berufsgruppen, die im staatlichenAuftrag politisch brisante und zum Teil lebensgefährli-che Tätigkeiten ausüben, einen solchen besonderenstrafrechtlichen Schutz beanspruchen.Da der neue Verunglimpfungstatbestand in den5. Abschnitt „Straftaten gegen die Landesverteidigung“und nicht in den eigens dazu geschaffenen 14. Abschnitt„Beleidigung“ eingefügt werden soll, geht es den Ein-reichern offensichtlich auch nicht so sehr um den Schutzder Ehre, sondern mehr um die Funktionsfähigkeit undseit dem 24. März insbesondere auch um die Kampfkraftder Bundeswehr.Den Bürgerinnen und Bürgern soll deutlich gemachtwerden, daß sie sich mit kritischen Werturteilen zurBundeswehr Zurückhaltung aufzuerlegen haben. DerZeitpunkt der Einreichung ist sicher nicht von ungefährgewählt. Das wurde hier auch deutlich gesagt. Die Bun-deswehr soll angesichts ihrer Umgestaltung von einerreinen Verteidigungsarmee zu einer nunmehr auch In-terventionsstreitmacht vor prinzipieller Kritik bewahrtwerden.
Pazifisten und andere Friedensstreitkräfte werden einge-schüchtert, da sie im Falle harter Kritik mit strafrecht-lichen Sanktionen bis zu empfindlichen Freiheitsstrafenrechnen müssen.Winfried Nachtwei
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3813
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz ist nichtnur überflüssig, und es wird nicht nur nicht gebraucht.Es engt auch das hohe Gut der freien Meinungsäußerungin verfassungsrechtlich bedenklicher Weise ein. Wirwerden es deshalb strikt ablehnen.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gerd Höfer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Ich hätte von Herrn vanEssen eigentlich erwartet, daß er als Oberst der Reserve,wenn ein junger Soldat ihm sagt: „Sie geben uns damitden Mordauftrag“, ihm klargemacht hätte, daß ein freigewähltes Parlament in einer freiheitlichen VerfassungRecht schafft und keine Mordaufträge geben kann, be-sonders nicht in diesem Kontext.
Das hätte man erwarten können.Ich kann auch nicht verstehen, daß Sie meinem Kol-legen Alfred Hartenbach vorwerfen, er habe juristischePirouetten gedreht.
Ich habe mir das Vergnügen gemacht und habe das Proto-koll unserer letzten diesbezüglichen Auseinandersetzungvor drei Jahren noch einmal gelesen. Es ist Ihnen selbst ineiner hoch emotionalisierten Debatte nicht gelungen, denNachweis zu erbringen, daß Soldaten besonders geschütztwerden müßten. Denn die Zitate des BundespräsidentenRoman Herzog und auch die Ihres Kollegen Hirsch habenbelegt, daß die Straffähigkeit bei diesem Beleidigungstat-bestand sehr wohl gegeben ist.
Man hätte sozusagen der Katze nur die Schelle umhän-gen müssen. Denn bei dem Zapfenstreich in Bonn, alsdort „Mörder!“-Rufe zu hören waren – ich habe sieselbst gehört –, war es dem Verteidigungsminister unbe-nommen, die Leute, die das gerufen haben, anzuzeigen.Das hätte dann eine rechtliche Würdigung erfahren.Ich komme also – allerdings heute nicht mehr so sehrwie vor drei Jahren – zu dem Schluß, daß es sich beidieser Debatte um ein Ritual handelt,
um ein Ritual, das beinahe deutschnationalen Charakterhat und dessen Botschaft lautet, daß es in diesem Hausenur zwei Fraktionen gibt, die sich bedingungslos vordiese Bundeswehr stellen.
Ich denke aber, daß – bis auf wenige Ausnahmen –die Fraktionen in diesem Hause bewiesen haben, daß siezu der Bundeswehr stehen, und daß dieses Parlament esgeschafft hat, durch die einschlägige Gesetzgebung dieSoldaten mitten in der Gesellschaft zu verwurzeln unddurch das Prinzip der inneren Führung die Verwur-zelung des Soldaten als Staatsbürger in Uniform aufhervorragende Weise voranzutreiben.Ferner denke ich, daß diese Soldaten selbstbewußteStaatsbürger sind, die in der Ausübung ihres Dienstesund in ihrem Selbstverständnis durch diese Dinge kaummehr zu beleidigen sind.
Sie haben eine ruhige Gelassenheit. Das können Sieauch merken, wenn Sie sich die Fernsehbilder anschau-en, die zeigen, wie sie unter schwierigsten Umständenihren Dienst tun. Die Soldaten wissen sehr wohl einzu-schätzen, daß es in dieser Bevölkerung sich nur um eineMinderheit im Promillebereich handeln kann, die derMeinung ist, man solle die Soldaten mit diesem Aus-druck und dem verballhornten Ausdruck von Tucholskybelegen und sie damit praktisch beleidigen. Sie sind sogut, daß es fast gar nicht geht. Ich sage dies auch in allerRuhe und Gelassenheit als Reserveoffizier, weil ich indieser Beziehung mit den Soldaten fühle und mit ihnengesprochen habe.Ein letzter Punkt, der noch teilweise auszuräumen ist,ist: Solange es diesen Bundestag gibt, der als frei ge-wähltes Parlament im Rahmen einer freiheitlichen Ver-fassung Recht schafft, wird es in dieser BundesrepublikDeutschland keine Interventionsarmee geben, um dashier einmal klar festzustellen.
Denn jeder Auftrag, den die Bundeswehr bekommt, mußparlamentarisch abgesichert werden. Das Parlament er-teilt den Auftrag.Das von mir angesprochene Ritual wird aber nocheine Fortsetzung finden. Es steht uns ja noch eine weite-re Debatte ins Haus, die schon mehrfach verschobenworden ist. Es geht um die Gelöbnisse in der Öffentlich-keit. Das ist auch ein Ritual.
– Ja, natürlich ist das alles sehr wohl begründet. Sie tra-gen sich mit der Hoffnung, daß Sie mit Argumenten derDr. Evelyn Kenzler
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3814 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Geschichte Rot und Grün spalten könnten. Das wirdaber nicht funktionieren, wenn ich das richtig sehe.
Ich kann abschließend feststellen, daß diese Debattenur den Sinn hat, die Soldaten für Ihre parteipolitischenZwecke zu instrumentalisieren, obwohl Sie allemal nachaußen versichern, daß sich die Soldaten der Bundeswehrnicht eignen, parteipolitische Erwägungen einfließen zulassen und sie unter parteipolitisches Kuratel zu stellen.Das war ein untauglicher Versuch an einem untaug-lichen Objekt.Ich denke, die Debatte wird sich mit der Zeit wiederberuhigen. Vielleicht ist es ja so, daß Ihnen durch weite-res Nachdenken das gleiche wie beim erstenmal passiert,daß die rechtlichen und anderen Bedenken in irgend-einer der zwei Fraktionen so überwiegen, daß Sie auchdiesmal den Antrag der Diskontinuität zum Opfer fallenlassen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und
Herren, interfraktionell wird die Überweisung des Ge-
setzentwurfs auf Drucksache 14/985 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bar-
bara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Einführung einer Steuer auf spekulative Devi-
senumsätze
– Drucksache 14/840 –
und Detlev von Larcher (SPD) geben ihre Reden
vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/840 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwei-
sen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 4a und 4b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Christian Ruck, Hans-Peter Repnik, Ilse Aigner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
––––––––––––
*) Anlage 5
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläß-
lich der Hochwasserkatastrophe Pfingsten
1999 in Süddeutschland
– Drucksache 14/1144 –
Homburger, Hildebrecht Braun ,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung an-
läßlich der Hochwasserkatastophe in Süd-
deutschland
– Drucksache 14/1152 –
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habenes am Bodensee mit einem Jahrhunderthochwasser zutun. Seit Menschengedenken gab es keine Situation, inder auch nur annähernd so große Schäden in dieser Re-gion zu beklagen waren. Die Prognosen der Entwick-lung – das macht das Problem nicht leichter – sindschwierig. Wir haben am Bodensee in der Regel denhöchsten Wasserstand erst im Juli, das heißt, dieSchneeschmelze kommt noch. Wir müssen davon aus-gehen, daß das Hochwasser, das wir seit Pfingsten ha-ben, auch noch in den Monaten Juli und August in derganzen Region anhalten und der Tourismusverkehr dar-unter leiden wird. Die Saison scheint nachhaltig geschä-digt zu sein.Die Menschen in der Region sind tapfer. Sie kämpfenund widerstehen den Problemen. Feuerwehr, THW undauch die Bundeswehr vor Ort sowie freiwillige Hilfsor-ganisationen – ich konnte mich vielerorts davon über-zeugen – strengen sich außergewöhnlich an.Gerd Höfer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3815
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Wie dramatisch die Situation ist, will ich an zwei,drei Beispielen belegen. Auf der herrlichen kleinen Ge-müseinsel Reichenau im Bodensee macht allein der täg-liche Ausfall an Nettoumsätzen rund 265 000 DM aus.Wir haben die herrliche Insel Mainau, die allein durchdas Ausbleiben der Touristen bis heute Ausfälle in Höhevon über 1 Million DM hat, nicht mitgerechnet all das,was an konkreten Schäden durch das Hochwasser vor-handen ist. Der Hotel- und Gaststättenverband aus derRegion hat in einem dringenden Appell geschrieben:Sollte sich nicht zügig etwas an der Lage ändern,werden wir einer bisher nicht gekannten Anzahlvon Konkursen entgegensehen …Die Menschen haben Sorgen und erleiden Not. Sie ver-dienen deshalb unsere Hilfe.
Die Landwirtschaft ist ebenfalls in einem ganz be-sonderen Maße von dem Hochwasser tangiert. Konkretsind über 200 Betriebe vor Ort betroffen, viele davonexistentiell. Auch ihnen muß geholfen werden. Wirsprechen heute im Deutschen Bundestag auch deshalbüber die Hochwasserkatastrophe in Süddeutschland,weil es sich um Betriebe der Tourismuswirtschaft, desGaststättengewerbes und der Landwirtschaft handelt, dienie um staatliches Wohl oder um irgendeine andere Hil-fe gebettelt haben, weil es sich um Frauen und Männerhandelt, die über Generationen hart gearbeitet haben unddie jetzt ohne eigenes Verschulden in eine existentielleNotlage geraten sind. Deshalb müssen sie unsere Hilfeerfahren.
Ich bin meinen fünf Fraktionskollegen aus der Ar-beitsgruppe Tourismus, besonders dem Kollegen Ron-söhr, unserem landwirtschaftspolitischen Sprecher, derauch heute abend hier ist, dankbar, daß sie die betroffeneRegion besucht haben, daß sie sich mit dem Schicksalder dort lebenden Menschen vertraut gemacht haben unddaß sie in unserer Fraktion mit dafür Sorge getragen ha-ben, daß der Antrag, den wir gestellt haben, schlußend-lich auch einstimmig angenommen wurde.Wir wissen, die Landesregierung von Baden-Württem-berg hilft. Das ist wohl wahr. Aber wir erinnern gerne aneine Katastrophe, die vor zwei Jahren eine ganz andereRegion heimgesucht hat, nämlich die Oder-Region inBrandenburg. Das war das Oder-Hochwasser. Die Bun-desregierung hat seinerzeit unter Führung von HelmutKohl, der seinen Urlaub unterbrochen hat und zu den Be-troffenen gefahren ist, um ihnen Mut zu machen und umihnen ganz konkrete Hilfe zuzusagen, die auch umgesetztworden ist, der Oder-Region geholfen. Wir befinden unsjetzt in einer durchaus vergleichbaren Situation. Zusätz-lich zu dem, was das Land, die Region, die Kommunenund die Bürger leisten, sollte und muß auch der Bund hel-fen. Dies ist unser ganz nachhaltiger Appell.
Viele private Haushalte bedürfen der Soforthilfe, ge-nauso wie Betriebe und Kommunen, die in diesen Wo-chen in einem ganz herausragenden Maße gefordertsind. Ich bedauere, daß wir heute über die Anträge nichtabstimmen können, weil die Koalitionsfraktionen umÜberweisung an die Ausschüsse gebeten haben. Ichmöchte dennoch an die Solidarität der Kolleginnen undKollegen der Koalitionsfraktionen appellieren, eine zü-gige Beratung in den Ausschüssen zu gewährleisten, umden Menschen relativ schnell helfen zu können. Wir sindgehalten, den betroffenen Menschen vor Ort Mut zu ma-chen, nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten.Hier ist der Bund genauso wie die anderen Ebenen ge-fordert.Lassen Sie mich, Herr Präsident, zum Schluß nichtnur einen Appell an die Kolleginnen und Kollegen imDeutschen Bundestag, sondern auch an die Bürgerinnenund Bürger richten, die sich in diesen Tagen entwedermit Urlaubsgedanken tragen oder in den Urlaub fahren.Ein Großteil der Häuser, der Betriebe, der Gaststättenund der Hotels in der betroffenen Region sind funktions-fähig. Das Hochwasser hat die Betriebe in dieser Regionnicht außer Funktion gesetzt. Diesen Eindruck mußniemand haben. Kommen Sie also in diese betroffeneRegion! Zeigen Sie auch Solidarität mit den betroffenenBetrieben und den Menschen in dieser Region! Ich binsicher, daß Sie mit einer großartigen Gastfreundschaftund mit einer fürsorglichen Betreuung rechnen können.Herzlichen Dank.
Als nächster Redner
spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Ludwig Stieg-
ler.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Wir sind alle miteinander in Gedankenbei den Menschen und bei den Unternehmen in den be-troffenen Regionen. Wer selber vor Ort war, der weiß,welches Drama das Hochwasser angerichtet hat. Zwardauerte das Hochwasser in Bayern relativ kurz. Es istauch schnell wieder aus dem Blickpunkt der Medien ge-raten. Aber die bleibenden Schäden sind dramatisch, undzwar in einer Art und Weise, die wir jedenfalls von denHochwassern an Rhein, Mosel und an der Oder – wennman jetzt einen Vergleich zieht – nicht kennen. Das isteine Erkenntnis, die wir bei Besuchen vor Ort und beider Bestandsaufnahme gewonnen haben. Deshalb ist esin der Tat notwendig, daß sich der Bund an der Hilfe fürdie Menschen und für die Unternehmungen beteiligt.
Die Bundesregierung hat seit Pfingsten Soforthilfegeleistet. Sie hat THW, BGS und Bundeswehr einge-setzt. Sie hat keinen Katastrophentourismus gemacht.Hans-Peter Repnik
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3816 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Ich sage heute: Mir wäre es psychologisch lieber ge-wesen, wenn sie ähnlich wie die Bayerische Staatsregie-rung mit dem Hubschrauber vor Ort diese Hilfe gezeigthätte. Das ist eine Sache, die aber mit der materiellenHilfe als solche nichts zu tun hat. Die Bundesregierunghat – das sage ich den Antragstellern auf der rechtenSeite des Hauses – die KfW-Programme schon geöff-net. Ich habe an Pfingsten mit dem Innenminister unddem Finanzminister gesprochen: Die KfW-Programmesind geöffnet; die Hilfen für Privatpersonen, Wirtschaftund Landwirtschaft sind sichergestellt.
Herr Kollege
Stiegler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Götzer?
Auch Kredite sind Geld. Ich
komme noch dazu. Wir müssen uns wirklich um eine
sorgfältige Lösung kümmern, weil die Schäden so groß
sind, daß sie nicht mehr aus dem Bundes- oder einem
Landeshaushalt gedeckt werden können, sondern wir
brauchen eine Hilfsstruktur, die Hilfe zur Selbsthilfe
gibt, die die Menschen in die Lage versetzt, daß sie ihre
Häuser und ihre Unternehmungen wieder aufbauen und
daß die Infrastruktur wieder instand gesetzt wird. Das
muß die gemeinsame Zielsetzung sein.
Ich werde morgen und übermorgen zusammen mit
dem Chef des Bundeskanzleramtes Bodo Hombach die
bayerischen Hochwassergebiete bereisen. Es wird dann
sicher auch einen Bericht ans Kabinett geben. Wir ha-
ben mit unseren Haushältern geredet. Diese haben uns
die entsprechende Unterstützung zugesagt. Wir werden
die Hilfe organisieren. Was ich damit meine, sage ich
Ihnen.
Die KfW-Programme, die jetzt angeboten sind, wer-
den für viele Privatpersonen wie Unternehmen noch
nicht reichen, weil die Sicherheiten fehlen, weil etwa die
Nachrangigkeit der Darlehen fehlt, weil Zinszuschüsse
zusätzlich eingeplant werden müssen; denn wenn das
Haus zerstört ist – die meisten Häuser sind wieder im
Rohbauzustand –, dann muß man nicht 100 000 DM,
sondern 150 000 oder 200 000 DM einsetzen, um wieder
auf einen bewohnbaren Zustand zu kommen. Das kann
nach den normalen Bankregeln derzeit nicht gemacht
werden. Also werden wir Bundes- und Landesbürg-
schaften für die Inanspruchnahme der Kredite mitein-
ander beschließen und fordern müssen. Auch der Bund
wird sie bereitstellen.
Ich meine, bis die Menschen und die Betriebe ihre
Liquiditätskrise überwunden haben, bis sie wieder ihr
Anlage- und Umlaufvermögen aufgebaut haben, brau-
chen sie entsprechende Liquiditätskredite und auch In-
vestitionskredite, damit der Aufbau geleistet werden
kann. Dafür sollten wir uns bei insgesamt begrenzten
Mitteln wirklich einsetzen.
Herr Kollege
Stiegler, ich freue mich sehr, daß Sie jetzt einen Punkt
gesetzt haben. Es war gar nicht so leicht, bei Ihnen da-
zwischenzukommen.
Ich hätte sie auch so dazwi-
schengelassen.
Ich danke Ihnen. Sie
haben schon auf den Kollegen Repnik geantwortet. Ge-
statten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Götzer?
Ja, immer.
Herr Kollege
Stiegler, wie stehen Sie denn dann zu der, aus meiner
Sicht an Zynismus nicht mehr zu überbietenden Äuße-
rung des Regierungssprechers, die Bayern könnten sich
alleine helfen?
Der Regierungssprecher hat
sicher eine nicht sehr erfreuliche Bemerkung gemacht.
Wir haben ihm in aller Freundschaft gesagt, daß wir das
ungebührlich finden. Ich kann es hier im Parlament nicht
wiederholen, was wir ihm alles gesagt haben. Da sind
wir uns im Urteil völlig einig.
Ich sage eines dazu: Diese flapsige Bemerkung ist
leider Gottes auch eine Reaktion auf die Angeberei des
bayerischen Ministerpräsidenten.
Er zieht durch die Lande und sagt: Wir sind die Größten,
die Schönsten und die Besten. – Wie immer ist es dann
so: Wenn der Klassenprimus Probleme hat, dann sagen
die anderen erst einmal flapsig: Jetzt hast du es, ätsch!
Insofern muß ich dem Regierungssprecher eine Teilver-
gebung erteilen, weil Stoiber durch seine Art, mit ande-
ren umzugehen, es ihnen schwermacht, mit ihm solida-
risch zu sein. Auch daran sollte Stoiber erinnert werden.
– Das ist keine Unverschämtheit, sondern das ist so. Sie
sind nicht so grob wie wir mit dem Regierungssprecher
umgegangen. Ich habe überhaupt keinen Grund zu sa-
gen: Das war keine angemessene Antwort. – Aber man
muß auch wissen, daß es derart aus dem Wald heraus-
schallt, wenn man so komisch hineinruft, wie es der
bayerische Ministerpräsident zu tun beliebt.
Herr KollegeStiegler, zwei weitere Kollegen möchten Zwischenfra-Ludwig Stiegler
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3817
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gen stellen. Wenn Sie antworten möchten, wird dasnicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Vergelt's Gott!
Herr Kollege Ron-
söhr.
Herr
Stiegler, ich möchte zu Ihrer Aussage, daß für Kredite
Hilfen mittels Zinsverbilligung gewährt werden sollten,
eine Frage stellen. Ich habe mir vor Ort, zumindest im
Bodenseebereich, die Landwirtschaft angesehen. Wenn
ein landwirtschaftlicher Betrieb, der Selbstvermarkter
ist, erhebliche Ausfälle hat – Ausfälle in Höhe von
200 000 oder 300 000 DM –, dann weiß ich nicht, ob
ihm allein eine Überbrückung von Krediten hilft.
Daher möchte ich fragen, ob Sie bei Ihren Gesprächen
auch herausgefunden haben, ob es zumindest bei der
Prämiengewährung durch die EU Hilfen gibt. Wenn eine
Ernte ausfällt, kann an sich niemand eine Flächenprämie
erhalten. Das bedeutet für diese Betriebe zusätzliche
Verluste. Außerdem geht es darum, daß man mögliche
Stillegungsflächen in Futterflächen umwandelt, um zu-
mindest die Futtergrundlage dieser landwirtschaftlichen
Betriebe zu sichern, oder Futterflächen, die ausgefallen
sind, in Stillegungsflächen umwandelt. Ich bitte darum,
daß die Regierung endlich auch auf diesem Gebiet han-
delt.
– Wissen Sie, ich habe gefragt, ob er es unterstützt. Wä-
ren Sie betroffener Landwirt, dann würden Sie sich sol-
cher Zwischenrufe enthalten.
Herr Kollege, ich kann Ih-
nen versichern, daß ich das Anliegen der Landwirtschaft
unterstütze. Als Kind bin ich auf einem Einödhof auf-
gewachsen. Daher weiß ich, wie es den Bauern geht.
Wir haben schon vor zehn Tagen zusammen mit dem
Europa-Abgeordnetenkollegen Dr. Gerhard Schmid bei
der Kommission das gefordert, was Sie eben angeregt
haben, daß nämlich beim Flächenaustausch geholfen
werden soll. Den Agrarminister konnte ich noch nicht
persönlich ansprechen, weil er zur Zeit erkrankt ist.
Aber ich habe vor, ihn einzuladen, mit uns in die Kata-
strophengebiete zu gehen, sobald er wieder gesund ist.
Parallel verfolgen auch wir das Anliegen, das Sie für die
Landwirtschaft vorgetragen haben; denn die Landwirte
haben Anspruch auf genauso viel Solidarität wie Privat-
personen und gewerbliche Unternehmen. Das ist über-
haupt keine Frage.
Ich habe auch bei den Vorgesprächen zu dem Besuch
von Kanzleramtsminister Bodo Hombach immer Wert
darauf gelegt, daß bei den Alternativen, die geprüft wer-
den, die Landwirtschaft dabei ist.
Eine
weitere Zwischenfrage, bitte schön.
Herr Kollege
Stiegler, Sie haben gerade von „Angeberei“ des bayeri-
schen Ministerpräsidenten gesprochen. Wollen Sie im
Ernst die beispiellose Hilfe der Bayerischen Staatsregie-
rung von annähernd 300 Millionen DM eine „Angebe-
rei“ nennen? Diese Hilfe ist in der Tat beispiellos, weil
von seiten der Bundesregierung nichts Vergleichbares
bisher getan worden ist.
Sie sind ein begabter Rabu-
list; zu diesem Talent muß ich Ihnen wirklich gratulie-
ren. Ich habe gesagt, die Reaktion des Regierungsspre-
chers auf die Probleme in Bayern seien eine Reaktion
darauf, daß Herr Stoiber schon lange vor dem Hochwas-
ser durch Deutschland gezogen ist und gesagt hat, er sei
der Größte, alle anderen seien nur Deppen. Ich habe also
an der Hilfe, die die Bayerische Staatsregierung bisher
geleistet hat, überhaupt nichts auszusetzen. Da ist eine
Menge getan worden.
Ich habe nur versucht, psychologisch zu erklären, wie
ein Mensch, der nicht gerade der CSU angehört, auf die
Idee kommen kann, zu sagen, Herr Stoiber könne sich
selber helfen, weil er ja vor Kraft kaum gehen kann.
Jetzt versuchen Sie nicht in rabulistischer Weise, mir das
Wort im Munde herumzudrehen. Das gelingt Ihnen
nicht.
– Noch ist es hell. Das gelingt dir mit mir nicht. Aber
probieren darfst du es; das ist schon okay.
Herr
Kollege Stiegler, erlauben Sie eine weitere Zwischen-
frage?
Ja, selbstverständlich.
Ich bitte
die Kollegen, dann mit Zwischenfragen zum Ende zu
kommen, denn die Zeit ist schon sehr fortgeschritten.
Ich wäre dankbar, wenn es
noch ein paar mehr gäbe; denn die Redezeit ist so kurz,
daß man Zwischenfragen gut nutzen kann.
Ich gehe davonaus, daß der Kollege Stiegler sehr kurz antworten kann.Vizepräsident Rudolf Seiters
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3818 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Sind Sie mit mir einig, daß der bayerische Minister-präsident Stoiber niemanden – schon gar nicht Angehö-rige anderer Parteien – Deppen nennt?
Das hat er sogar gegenüber
CSU-Kollegen gemacht.
Zum zweiten,
Herr Kollege Stiegler, möchte ich Sie fragen, ob Sie mit
mir einig sind, daß es hier um Menschen geht – Hand-
werker, Bauern, Familien und Mittelständler –, die
durch eine Naturkatastrophe immensen Schaden – nicht
nur materiell – erlitten haben. Es geht hier nicht darum,
der Bayerischen Staatsregierung eins auszuwischen.
Ich habe Ihnen am Anfang
gesagt, daß wir diese flapsige Bemerkung genauso ver-
urteilt haben. Ich erinnere an Renate Schmidt, die es an
Deutlichkeit nicht zu wünschen übriggelassen hat. Aber
wie wir als Juristen wissen, muß ein gerechter Richter
auch die entlastenden Momente immer wieder erfor-
schen. Ein entlastendes Element ist, daß die normalen
Menschen, wenn sie einem so vollkommenen Menschen
wie dem bayerischen Ministerpräsidenten gegenüberste-
hen, gelegentlich sagen, diese hohen Vollkommenheiten
würden mit sich selbst zurechtkommen. Ich selbst kenne
CSU-Kollegen, die dieser Auffassung nur widerspre-
chen, wenn Stoiber in der Nähe steht.
Ich war auf dieses Zwischenspiel eingerichtet. Es gehört
zu Bayern.
– Herr Kollege, dann sagen Sie es doch Ihren Kollegen,
die diese Zwischenfragen stellen. Schieben Sie es doch
nicht auf mich! Ich habe das mit keinem Wort erwähnt.
Ich habe Wert darauf gelegt, daß wir miteinander eine
Lösung finden müssen, die es möglich macht, bei be-
grenzten Mitteln optimal zu helfen. Das ist unsere ge-
meinsame Aufgabe. Wir werden sie miteinander erfül-
len, und zwar schnell.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Birgit Homburger von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Seit Wochen dauert dieses Jahrhun-derthochwasser in Bayern und in Baden-Württembergan. Insbesondere in Baden-Württemberg hat es die Re-gion um den Bodensee schwer getroffen. Trotzdem ste-hen diese Geschehnisse nicht im Mittelpunkt des natio-nalen Interesses. In der Tat, formal ist die Bewältigungdes Hochwassers erst einmal Sache der Länder. Ich kanndazu nur sagen: Die Kommunen auf der einen Seite unddie Länder Bayern und Baden-Württemberg auf der an-deren Seite haben gehandelt und Programme aufgelegt.Aber dieses Hochwasser hat zwischenzeitlich eineDimension erreicht, die von den Ländern nicht mehr al-lein bewältigt werden kann. Die vorläufige Schätzunggeht von einem dreistelligen Millionenbetrag aus. Des-wegen sind wir der Auffassung, daß es bei diesem Vor-gang auch einer Flankierung der Ländermaßnahmendurch den Bund bedarf.
Wir möchten nichts mehr und nichts weniger, als daßdieses Hochwasser in Süddeutschland, das eine Riesen-dimension erreicht hat, von der Bundesregierung genau-so behandelt wird, wie es seinerzeit beim Oder-Hochwasser der Fall war. Ich denke, das ist angemes-sen.
Ich möchte folgende Bemerkung am Rande machen:Der entstandene Schaden und die Verzweiflung derer,die vom Hochwasser betroffen sind, richten sich nichtdanach, wie geschickt ein solches Ereignis nationalvermarktet wird.Die Insel Reichenau ist vom Kollegen Repnik be-reits als Beispiel genannt worden. Um die Dimensionennoch einmal deutlich zu machen, möchte ich eines hin-zufügen – Herr Repnik hat die Höhe des täglichen Scha-dens genannt, die vom Verkehrsverein geschätzt wird –:Inwischen sind es 21 Tage, daß diese Insel vollkommenabgeschnitten ist und mit dem Auto nicht mehr erreichtwerden kann. Allein für die Insel Reichenau bedeutendie Ausfälle im Tourismus während dieser 21 Tage ei-nen Verlust von 5,5 Millionen DM. Das ist nur die Zahl,die für eine kleine betroffene Gemeinde gilt. Insgesamtkommen Riesenbeträge zusammen.Auf der anderen Seite ist auch die Landwirtschafthart getroffen. Beispielsweise liegen die Erstschädenallein auf der Höri in Millionenhöhe. Dabei ist nochnicht berücksichtigt, daß ein zweites Mal nicht ausgesätwerden kann. Deswegen geht es nicht nur darum, hierfinanzielle Hilfen zu leisten, sondern auch darum, daßsich die Bundesregierung bei der EU dafür einsetzt, un-bürokratische Lösungen im landwirtschaftlichen Bereichzu finden. Die F.D.P. fordert von der EU, in diesemAusnahmefall zuzulassen, daß stillgelegte Ackerflächenohne Rückforderung der Direktzahlungen mit über-fluteten Flächen getauscht und abgeerntet werden dür-fen.
Ich denke, daß eine solche Maßnahme, die eigentlicheine Verwaltungsmaßnahme ist, ganz schnell durchge-führt werden kann, und ich bitte die BundesregierungKurt J. Rossmanith
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dringend, jetzt auch bei der EU zu einem Ergebnis zukommen.
Aber natürlich hat es auch den gewerblichen Bereichgetroffen – vielleicht nicht im gleichen Ausmaß wie denTourismus, vielleicht nicht im gleichen Ausmaß wie dieLandwirtschaft, aber es gibt auch hier Betriebe, die da-durch Existenzsorgen haben. Deswegen sage ich es ganzdeutlich, Herr Stiegler: Kredite allein reichen bei dieserDimension nicht mehr aus.
Deswegen möchten wir, daß die Bundesregierung ge-nau wie beim Oder-Hochwasser – ich habe den Berichtdabei, in dem man das nachlesen kann – Übergangs-und Soforthilfen gewährt.
Es geht um Zuschüsse, die wirklich denen helfen, diedurch dieses Hochwasser in Existenznot geraten sind.
Ich möchte an dieser Stelle noch die Gelegenheit nut-zen, all jenen vor allem auch ehrenamtlichen Helfernvom THW, von der Feuerwehr, aber auch von der Bun-deswehr einen Dank auszusprechen, die dort in denletzten Wochen sehr geholfen haben.
Zum Abschluß möchte ich die Hoffnung zum Aus-druck bringen, lieber Kollege Stiegler, meine Damenund Herren Kolleginnen und Kollegen von den anderenFraktionen, daß wir es schaffen mögen, die Anträge indie Ausschüsse zu überweisen, in der nächsten Wochezu beraten und dann auch zu einer Beschlußfassung zukommen. Bei dieser Angelegenheit ist Eile angesagt,denn von diesem Hochwasser sind Menschen betroffen,die in stark beschädigten Häusern leben; es sind Gewer-bebetriebe betroffen, es sind Arbeitsplätze davon abhän-gig. Deswegen denke ich, daß die Politik dringend ge-fordert ist, schnell zu handeln.Vielen Dank.
Alsnächster Redner hat Kollege Albert Schmidt vom Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eines zunächst vorweg: Die ersten Äußerun-gen des Regierungssprechers der Bundesregierung zumThema Hochwasserschäden in Bayern waren unange-messen und ärgerlich.Natürlich ist Bayern wirtschaftlich leistungsstärkerals zum Beispiel Brandenburg, und natürlich kann sichBayern in mancher Hinsicht schneller und leichter hel-fen als andere. Aber angesichts des tatsächlichen Aus-maßes der Schäden, die dreimal so hoch sind, wie es dieSchäden durch das Hochwasser im Oderbruch waren,nutzt eine solche Aussage den Menschen gar nichts, diekonkret mit ihrer Wohnung, ihrem Haus, ihrem Betriebbetroffen sind und denen das Wasser buchstäblich biszum Hals stand.
Hier wurde in Richtung der Bayern der falsche Tonangeschlagen, und bekanntlich macht sehr oft der Tondie Musik. Der falsche Ton kann sehr viel an Kooperati-on und Zusammenarbeit zerstören, die wir spätestensjetzt brauchen. Ohne öffentliche und solidarische Hilfewerden die Betroffenen mit den Folgen dieser Katastro-phe allein nicht fertig werden, und auf diese öffentlicheHilfe haben sie Anspruch.Angemessen wäre es daher gewesen, man hätte dieseszuallererst einmal anerkannt und dann auch öffentlichgesagt, wie der Bund seinen Anteil an dieser Hilfe ge-staltet und zu gestalten gedenkt, denn in Wirklichkeithaben ja die Einrichtungen des Bundes, und zwar vonAnfang an und intensiv und tatkräftig, wenn auch nichtsehr medienbewußt, an dieser Soforthilfe mitgewirkt –durch die unbürokratische Hilfe der Bundeswehr, durchdas Technische Hilfswerk, durch den Bundesgrenz-schutz. Diese Hilfen haben selbstverständlich stattge-funden, bevor irgend jemand einen Bundestagsantraggestellt hat.
Zusätzlich wurde – auch das ist angesprochen worden –das Kreditprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbaugeöffnet – für Privatgeschädigte, für geschädigte Unter-nehmen und für die Landwirte.Die steuerlichen Erleichterungen, die Bundesgeset-ze für solche Fälle vorsehen, werden selbstverständlichauch hier Anwendung finden. Dennoch bleibt einigesnoch zu tun.Wenn sich Herr Staatsminister Hombach demnächstvor Ort einen persönlichen Eindruck von der Schadens-situation verschaffen wird,
so denke ich, daß er verstehen wird – spät, aber es isthoffentlich nicht zu spät –, weshalb wir Parlamentarierder Koalitionsfraktionen uns nachhaltig dafür einsetzen,daß die Rahmenbedingungen für das KfW-Programmweiter verbessert werden, daß auch fiskalische Konse-quenzen in Erwägung gezogen werden, insbesondereverbesserte steuerliche Absetzungsmöglichkeiten fürWiederaufbaukosten, insbesondere zusätzliche Hilfenfür die Landwirtschaft inklusive dieses Flächentausches,den schon mehrere Redner angesprochen haben.Der Maßstab für das Ausmaß der Hilfe des Bundessollte sich meines Erachtens, wenn er sich schon nichtan der Hilfe für die Opfer des Brandenburger Hochwas-sers orientiert, an solchen Hilfen orientieren, die in derBirgit Homburger
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3820 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Vergangenheit betroffene Bundesländer am Rhein erfah-ren haben.Allerdings sollte sich diese Debatte – das ist daseigentlich Unzulängliche an den vorliegenden Anträgen –nicht ganz auf das Geld beschränken, so notwendig die-se finanzielle Hilfe jetzt ist. Wir müssen die erneuteÜberschwemmungskatastrophe zum Anlaß nehmen, umendlich selbstkritisch ökologische Fehler und Versäum-nisse zu analysieren, die ursächlich immer wieder solcheSchäden mit verursachen, und müssen daraus politischeKonsequenzen zur künftigen Prävention ableiten.
Es war die Direktion der Münchener Rückversiche-rung, die eine „drastische Zunahme der Katastrophen-schäden“ mit einem Anstieg der Schadensbelastung umdas 14fache innerhalb von nur drei Jahrzehnten festge-stellt hat. Ihre Erkenntnis – ich zitiere –: Man kommtheute nicht an den immer zahlreicheren Indizien füreinen zunehmenden Einfluß klimatischer und andererUmweltveränderungen vorbei.Die Konsequenz: Energie- und Wirtschaftspolitiksind künftig viel stärker als bisher an den Erfordernisseneines nachhaltigen Klimaschutzes auszurichten, um dieFolgen des Treibhauseffektes und die damit verbundenehohe Zahl extremer Wetterereignisse zu minimieren.Dazu gehört übrigens auch die Einrichtung eines Ele-mentarschadenfonds, um künftig Betroffenen schnellund unbürokratisch helfen zu können.
Vor allem aber müssen wir – gestatten Sie mir, daßich dies als Verkehrspolitiker selbstkritisch sage – auchin der Verkehrspolitik umdenken. Selbst Helmut Kohlhatte anläßlich des Hochwassers im Oderbruch gesagt:Laßt den Flüssen ihren Lauf. Ich habe es nicht überhört.
Deswegen brauchen wir ein ökologisches Hochwasser-schutzprogramm in gemeinsamer Anstrengung ver-schiedener Ressorts aus Bund und Ländern, um schritt-weise wiederherzustellen, was in den letzten Jahrzehntenverlorengegangen ist und was uns heute fehlt: wert-volle Auwälder als Überschwemmungspuffer, unbebauteRetentionsräume und freifließende Flußläufe anstattbegradigter und kanalisierter Durchlaufrinnen, in denensich das Hochwasser aufschaukelt und um so schnellerdie Städte erreicht.
Deswegen sind wir ja für eine freifließende Donau undgegen einen weiteren Main-Ausbau. Das muß die Kon-sequenz aus solchen Erlebnissen und Erfahrungen sein.
Bebauungspläne und Regionalpläne – dies ist aucheine Aufgabe der kommunalen Ebene – müssen künftigviel kritischer gesichtet und verändert werden, um Re-tentionsräume freizuhalten und um das irrsinnige Tempoder Versiegelung zu bremsen. Versiegelung, Begradi-gung, zügellose Bebauung – das sind die strukturpoli-tischen Sünden, die sich über kurz oder lang rächen.Hier müssen wir umsteuern. Sie können sicher sein: Wirwerden uns sehr dafür einsetzen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der PDS das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Natur gerät ausden Fugen“, so ist ein Artikel der „Frankfurter Rund-schau“ vom 31. Mai 1999 überschrieben, in dem dannausgeführt wird, daß das Jahr 1998 die schwersten Na-turkatastrophen seit Menschengedenken hervorgebrachthat. Ich möchte an El Niño, aber auch an die verheeren-den Folgen des Hurrikan „Mitch“ erinnern.Ich spreche jetzt über die Hochwasserkatastrophe, dieauch in meinem Wahlkreis ganz schön gewütet hat.
– Mein Wahlkreis ist ganz Bayern, der direkte ist Ingol-stadt; – nur zur Information.
Ich war am letzten Samstag in Neustadt an der Donau– ich selbst wohne an der Donau – und habe mir dieSituation angeschaut. Natürlich muß der Bund den be-troffenen Bürgerinnen und Bürgern helfen. In diesemPunkt unterstützen wir die Anträge der CDU/CSU undder F.D.P.Doch es ist festzuhalten, daß wir durch den Treib-hauseffekt, durch die fortschreitende Unterwerfung derNatur und in diesem Falle durch Flächenversiegelung,Flußbegradigung und Kanalisierung all diese Katastro-phen mit verursachen.
Wenn man darauf hinweist, wie ich es zum Beispiel inder Debatte am 28. September 1995 getan habe – da warnämlich die Rede von einem Stopp des weiteren Aus-baus der Donau –, dann erntet man Hohn und Spott vonden Menschen, die jetzt hier Anträge auf Hilfeleistungendes Bundes stellen unter dem Motto: immer schön anden Symptomen herumdoktern.
Das müssen Sie sich einfach einmal sagen lassen. Ichwar damals eben auch schon hier.Noch etwas ist mir beim Durchlesen des Antrages derUnion aufgefallen: Da ist ein gewisser anti-ostdeutscherZungenschlag spürbar, so, als sei die Hilfe beim Oder-Albert Schmidt
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Hochwasser geradezu erschlichen worden, weshalb manjetzt doch wenigstens eine Gleichbehandlung erwartenkönne.
Das liegt auf der gleichen Ebene, als wenn ich sagenwürde: In Ordnung, wir helfen Bayern und Baden-Württemberg, wenn sie zukünftig nicht mehr am Län-derfinanzausgleich herummäkeln. Wir unterstützen jadiese Förderung.
Zur Frage der Renaturierung und was alles bezahltwerden könnte, hat mein Kollege Albert Schmidt schoneiniges genannt: Fließwässer- und Auwaldprogramm,eine ökologische Wende im Wasserbau und bei derRaumordnung, keine Bereitstellung von Flächen fürStraßen- und Gewerbegebiete, kein Kiesabbau in Tal-räumen und Überschwemmungsgebieten; denn nur sokommen wir zu mehr Retentionsflächen.
– Das können wir ja später einmal diskutieren. Dassollten wir wieder auf die Tagesordnung nehmen. Dasist wahrscheinlich schon so lange her, daß es alle in die-sem Raum wieder vergessen haben.Zum Schluß möchte ich noch meine Hochachtung vorallem vor den freiwilligen Helferinnen und Helfern aus-sprechen, denn ohne sie wären die Schäden des Hoch-wassers weit größer geworden. Ich muß natürlich sagen:Der Einsatz der Bundeswehr bei Hochwassern ist mirhundertmal lieber als der Einsatz, in dem sie in letzterZeit tätig war und noch immer tätig ist.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Kubatschka von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beginnenmöchte ich mit einem Dank an die zahlreichen Helfe-rinnen und Helfer. Sie packten an, als es galt, der Kata-strophe Einhalt zu gebieten und den Opfern zu helfen.
Sie kamen aus den verschiedensten Organisationen. AlsBundespolitiker möchte ich allen Helfern des THW undden Angehörigen des Bundesgrenzschutzes und derBundeswehr danken. Beispielhaft für die anderen Helfermöchte ich den Feuerwehrkommandanten Franz Brosin-ger und den DLRG-Chef Erich Kirchner, beide ausWeltenburg, nennen, die gegen die Fluten ankämpften,während in ihre eigenen Häuser das Hochwasser ein-drang. An sie und alle anderen Helfer richte ich nocheinmal einen Dank.
Es gab aber auch wieder die Gaffer. Sie standen herumund behinderten die Arbeit. Sie hätten besser helfensollen. Die Hilfe des Bundes kam sofort: Bundeswehr,THW und Bundesgrenzschutz waren im Einsatz.Um aber auch die Verantwortlichkeiten klar festzu-stellen: Hochwasserschutz und Katastrophenhilfe sindLändersache. Das Hochwasser wütete am meisten dort,wo es die Menschen überraschte, also dort, wo es zuDammbrüchen kam, zum Beispiel in Neustadt an derDonau: 20 Quadratkilometer wurden dort vom Hoch-wasser überschwemmt. Die Katastrophe trat ein, weilder Damm überspült wurde und es an dieser Stelle zumDammbruch kam. Dies konnte die Verantwortlichennicht überraschen: Die Pegelstände waren bekannt, dieSchwachstelle war bekannt; denn in diesem Bereich, derspäteren Bruchstelle, trat vermehrt Wasser aus. Zur Ge-fahrenabwehr konnte man nicht mehr an die Gefahren-stelle fahren, um den Damm zu sichern. Ein Hubschrau-bereinsatz war nicht mehr möglich. Die Verantwortungist also klar: Der Freistaat Bayern hat nicht ausreichendHochwasserschutz betrieben; die Deiche waren nichtausreichend. Deswegen gibt es schwere Vorwürfe an dieBehörden. Schadenersatzforderungen von 400 MillionenDM werden bereits geprüft.Kritisch zu hinterfragen ist aber auch, warum es amOberrhein nicht zu einer solchen Katastrophe gekom-men ist. Am Pegel Karlsruhe wurden die höchsten Was-serstände sei Beginn der Messungen – das ist über100 Jahre her – registriert. Die Verantwortung liegt alsoklar in Bayern. Um von dieser Verantwortung abzulen-ken, werden Bagatellen hochgezogen – man hat das javorhin gesehen. Sie zitieren immer wieder eine un-glückliche Formulierung des Regierungssprechers. Aberauch ich kann Ihnen mit solchen unglücklichen Äuße-rungen dienen.
In der „Mittelbayerischen Zeitung“ vom 25. Mai – daswar zur selben Zeit, zu der sich Heye geäußert hat –steht:Soforthilfe der Bayerischen Staatsregierung für dieHochwasseropfer gibt es nicht, so Umweltstaats-sekretärin Christa Stewens.Die öffentliche Haushaltslage sei angespannt, der Staatkönne nur einspringen, wenn der einzelne überfordertsei.Oder eine andere Aussage, die des CSU-Bür-germeisters Gigl aus Neustadt. Dort brach der Damm. Ersagte wenige Wochen vor dem Dammbruch auf einerBürgerversammlung im Ortsteil Wöhr, in diesem Be-reich sei mit keinem Hochwasser zu rechnen.Eva-Maria Bulling-Schröter
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3822 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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Herr
Kollege Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Homburger?
Ja, natürlich.
Bitte
schön.
Herr Kollege Ku-
batschka, es mag ja sein, daß sich der eine oder andere
ungeschickt geäußert hat, auf welcher Seite auch immer.
Aber stimmen Sie mir zu, daß es ein Unterschied ist, daß
die Bundesregierung es bisher nicht für erforderlich ge-
halten hat, Mittel zur Verfügung zu stellen, während die
Landesregierung von Bayern 200 Millionen DM für all-
gemeine Hilfen und 40 Millionen DM für Deichbau-
maßnahmen und einen Teil davon auch für direkte Hil-
fen, also in Form von Auszahlungen und nicht nur von
Kreditprogrammen, zur Verfügung gestellt hat? Meinen
Sie nicht, daß das ein Unterschied ist?
Frau Kollegin, da fällt
mir zum Beispiel folgendes ein. Wir haben ja gestern im
Tourismusausschuß das Programm diskutiert. Dabei
wurde klar gesagt: Baden-Württemberg hat noch kein
Programm aufgelegt. Da ist also zum Beispiel nicht ge-
holfen worden.
– Das ist gestern so berichtet worden.
– Jetzt geht es um die Frage. Ich habe vorhin klar ge-
sagt: Der Katastrophenschutz und die Hilfe sind Länder-
sache, und dies muß es auch bleiben. Es ist vorhin ja
schon gesagt worden – und auch ich sage es –: Es wird
im gleichen Maße geholfen, wie in den alten Bundeslän-
dern an Rhein und Mosel bei vergleichbarem Hochwas-
ser geholfen wurde. Das war eine Aussage, die direkt
gegeben wurde, weil selbstverständlich auch wir uns so-
fort an Herrn Eichel gewendet haben. Und dann kam
diese Zusage: Es gibt eine Gleichbehandlung.
Herr
Kollege Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Aigner?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Kubatschka,
ich hatte gestern im Tourismusausschuß schon eine kon-
krete Frage gestellt, die noch nicht beantwortet ist; des-
halb frage ich heute noch einmal, weil es hier ja auch
um die Frage der Zuständigkeiten geht. Wie ist es, wenn
eine Bundesstraße durch das Hochwasser beschädigt
worden ist? Muß das künftig auch aus den Globalmitteln
gedeckt werden, die den Ländern zur Verfügung gestellt
werden, oder fällt das unter Katastrophenhilfe? Wird das
dann in diesem konkreten Fall vom Bund übernommen
oder nicht?
Nachdem es eine Bun-
desstraße ist, wird sie selbstverständlich vom Bund in-
standgesetzt. Darüber braucht doch nicht geredet zu
werden.
Darf ich noch eine kon-
krete Nachfrage stellen?
Ja, bitte
schön.
Die Mittel sind nicht da.
Die Aussage des Straßenbauamtes ist, daß das norma-
lerweise aus den Globalmitteln gedeckt werden muß.
Darüber hinaus wird vom Bund momentan noch keine
Zusage gegeben. Ich will jetzt eine konkrete Antwort auf
die konkrete Frage: Gibt es zu den Globalmitteln für
solche konkrete Aufgaben eine zusätzliche Hilfe?
Und ich gebe Ihnen die
konkrete Antwort, die als Zwischenruf erfolgte: An der
Straße wird schon gearbeitet. Sie wird hergerichtet. Mir
ist es im Grunde genommen im Augenblick wurscht,
woher das Geld kommt, Hauptsache, die Straße wird
hergerichtet. Und das Land Bayern würde das gleiche
bei seinen Landesstraßen machen.
Herr
Kubatschka, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Repnik?
Ja, bitte.
Herr KollegeKubatschka, ich bin etwas betroffen über die Art, wieSie jetzt dieses Thema angehen. Ich finde, daß sowohlIhr Kollege Stiegler als auch der Kollege Schmidt vonden Grünen doch den Ball aufgenommen haben. Wirhaben es hier mit einem außergewöhnlich schwierigenSachverhalt zu tun. Tausende von Menschen leiden.Was Sie bisher beigetragen haben, war ausschließlichder Versuch einer Schuldzuweisung, welche staatlicheEbene möglicherweise schneller, anders oder konkreterhätte helfen können.
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Es geht darum: Wie können wir den Menschen jetzt undnicht erst in sechs Wochen helfen? Deshalb meine kon-krete Frage an Sie: Sind Sie bereit, Herr Kubatschka
– auch die Menschen in dem Wahlkreis, in dem Sie kan-didieren, nämlich in Landshut, interessiert doch, ob manihnen hilft, und nicht, ob möglicherweise wer auch im-mer sonst einen Fehler gemacht hat –, die Hand, die unsder Herr Kollege Stiegler und der Herr Kollege Schmidtvorhin im Hinblick auf unsere Antragstellung in ihrenBeiträgen gereicht haben, ebenfalls zu ergreifen und indem Ausschuß, in dem Sie Mitverantwortung tragen,nämlich im Tourismusausschuß, auch für eine LösungSorge zu tragen, die den Menschen hilft, unabhängigdavon, wer wo wann welche Zuständigkeit hat?
Der Bund hat sofort ge-
holfen; das habe ich bereits gesagt. Ich werde im Laufe
meiner Rede noch klar sagen, daß es für mich selbstver-
ständlich ist, daß der Bund helfen muß. Man muß diese
Hilfe aber im Vergleich zu anderen Fällen sehen. Ich bin
jederzeit bereit – das haben wir so verabredet –, alles zu
tun, damit den Menschen in dieser Region materiell ge-
holfen werden kann.
Was aber in letzter Zeit in den Medien abgelaufen ist
– ich habe viele Zeitungsberichte dazu gelesen –, war
das Kaschieren der Verantwortung. Man ist auf dem Zi-
tat von Heye herumgeritten; man hat die Entschuldigung
überhaupt nicht wahrgenommen. Man hat ferner immer
wieder darauf hingewiesen, daß der Bund überhaupt
nicht geholfen habe. Der Bund hat aber im Rahmen sei-
ner Verantwortung sofort geholfen. Ich habe ebenfalls
gesagt: Finanzminister Eichel hat zugesagt, daß es die
gleichen Hilfen wie am Rhein und an der Mosel gibt.
Wenn es möglich ist, mehr zu helfen, werden wir diese
Hilfe selbstverständlich leisten.
Eine
weitere Zwischenfrage von Herrn Repnik.
Herr Kubatschka,
ich weiß bisher von keinerlei Zusage des Finanzmi-
nisters in dieser Frage. Mir ist auch kein Regierungsmit-
glied bekannt, das das Katastrophengebiet, sei es in
Bayern oder am Bodensee, bisher besucht hat. Vielleicht
können Sie mir diese Zusage des Herrn Bundesfinanz-
ministers zugänglich machen. Dafür wäre ich außeror-
dentlich dankbar. Vielleicht kann aber auch Herr Diller,
der als der zuständige Parlamentarische Staatssekretär
gleich das Wort hat, diese Zusage geben. Das wäre mir
noch lieber, weil verbindlicher.
Zu dem Besuch von Ka-
tastrophengebieten: Ich fahre dann in diese Gebiete,
wenn ich das Ausmaß der Katastrophe beurteilen kann.
Das Ausmaß kann ich aber erst dann beurteilen, wenn
das Hochwasser abgelaufen ist. Erst dann kann man in
die Häuser gehen und das Elend beurteilen.
Wir sind rechtzeitig zu den Stellen gefahren, wo wir
feststellen konnten, welche Schäden vorliegen. Es ist
etwas anderes, ob Sie in ein Katastrophengebiet einge-
flogen werden und von der Höhe aus das Land unter se-
hen. Sie werden aber viel betroffener sein und den
Schaden besser feststellen können, wenn Sie in die Häu-
ser und in die Gärten gehen und wenn Sie mit den Men-
schen sprechen, die nicht mehr in ihren Häusern wohnen
können und die deshalb in Garagen übernachten müssen.
Das ist ein größerer Ausdruck von Betroffenheit.
Ich halte es also für richtiger, daß man erst dann in
ein Katastrophengebiet fährt, wenn man die Auswirkun-
gen richtig beurteilen kann. Das ist jetzt der Fall. Des-
wegen wird am Freitag Bundesminister Hombach nach
Neustadt fahren und sich dort die Situation anschauen.
Aus seiner Erkenntnis werden wir die nötige Hilfe ab-
leiten.
Herr
Kollege Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Diller?
Ja.
Herr
Diller, bitte.
Herr Kollege Kubatschka, könnenSie sich vorstellen, daß die Kolleginnen und Kollegen ausder CDU/CSU-Fraktion nicht wissen, daß Professor Dr.Kurt Faltlhauser, bayerischer Staatsminister derFinanzen, am 28. Mai 1999 dem Bundesminister der Fi-nanzen, Herrn Hans Eichel, geschrieben hat und in seinemBrief ausdrücklich folgendes formulierte – ich zitiere –:Tausende von Kräften, darunter eine Vielzahl vonBeamten, Soldaten und Mitarbeitern von Einrich-tungen des Bundes, sind im Einsatz und helfen,Schlimmeres zu verhüten. Auch ist die bundeseige-ne Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Hilfe bei derSchadensbewältigung bereit. Diese wertvollenHilfen des Bundes zur Schadensbegrenzung undBehebung verdienen Anerkennung.
Ist Ihnen ferner bekannt, daß ich für den Bundesmi-nister der Finanzen geantwortet habe, daß die Bundesre-gierung selbstverständlich bereit war und ist,
Hans-Peter Repnik
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3824 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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den betroffenen Mitbürgern in gleichem Maße Un-terstützung zukommen zu lassen, wie sie dies inbisher vom Hochwasser heimgesuchten Regionenan Rhein und Mosel getan hat.?
Wie in diesen Fällen haben sowohl die Bundesan-stalt Technisches Hilfswerk als auch die Bundes-wehr unverzüglich und mit erheblichem und enga-giertem Einsatz vor Ort Hilfe geleistet. Bisher sindnach vorläufigen Schätzungen allein von der Bun-deswehr Kräfte mit über 5 600 Manntagen einge-setzt worden.Dem, was Herr Faltlhauser bezüglich der bundes-eigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau gesagt hat, kannich hinzufügen: Die KfW hat mittlerweile einen Kre-ditrahmen von 200 Millionen DM für Private – bis hinzu den betrieblich geschädigten Landwirten – geöffnet.
Herr Staatssekretär, das,
was Sie ausgeführt haben, ist mir bekannt. Das wurde
mir auch zugesichert. Wir haben es auch in Presseerklä-
rungen geschrieben. Es stand in Zeitungen. Wenn man
guten Willens gewesen wäre, dann hätte man das lesen
können. Man hätte wissen können, daß der Bund hilft.
Aber es gab eben politische Kräfte, die von ihrem Ver-
sagen ablenken wollten. Deswegen hat man diese Zusa-
gen des Bundes nicht wahrnehmen wollen.
Herr
Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Aigner? Das ist jetzt aber wirklich die letzte Zwi-
schenfrage. Dann machen wir mit den Fragen Schluß.
Ja.
Frau
Kollegin Aigner.
Herr Kollege, sie ist dafür
um so kürzer. Können Sie mir erklären, warum Sie im-
mer von den gleichen Hilfen wie an Rhein und Mosel
und nicht von den gleichen Hilfen wie beim Oder-
hochwasser sprechen und worin da genau der Unter-
schied besteht?
Zunächst einmal wissen
wir noch nicht, wie hoch die Schäden sind. Sie müssen
doch auch zugestehen, daß man einem armen Land wie
Brandenburg, also einem neuen Bundesland, eher hilft
als einem alten Bundesland.
Meiner Meinung nach können Sie nur die alten Bun-
desländer und auch nur die neuen Bundesländer unter-
einander vergleichen.
Wenn Sie das nicht sehen wollen, dann darf ich Ihnen
mit einem Zitat eines starken Mannes helfen, Frau Kol-
legin, der – wie man bei uns sagt – vor Kraft nicht lau-
fen kann.
– Hören Sie doch einmal zu, damit Sie wissen, was Ihr
Staatsminister 1997 gesagt hat. – Staatsminister Thomas
Goppel lädt seinen Kollegen aus Brandenburg, Matthias
Platzeck, ein, damit er sich in Bayern über das Deich-
bauprogramm an der Donau informieren kann. Dann
heißt es weiter:
Über 40 Jahre Versäumnisse durch den DDR-
Sozialismus haben sich auch an den Oder-Deichen
als verhängnisvoll erwiesen. Bayern ist gerne be-
reit, bei der Sanierung mitzuhelfen.
Ich muß sagen: Hochmut kommt vor dem Fall.
Etwas anderes ist auch noch zu sagen: Brandenburg hat
Hilfe angeboten. Sie ist von Bayern abgelehnt worden.
Herr
Kollege Kubatschka, Sie haben jetzt noch zwei Minuten
Redezeit. Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu.
Liebe Kolleginnen undKollegen, ich habe vorhin schon gesagt: Man kannKatastrophen nur dann beurteilen, wenn man sich dieSache vor Ort ansieht, nachdem das Wasser abgelaufenist. Nur dann kann man das beurteilen. Dann wird manfeststellen, daß Fertighäuser unbrauchbar geworden sindund daß andere Häuser völlig saniert werden müssen.Das gesamte Ausmaß kann man also erst dann abschät-zen, wenn das Hochwasser abgelaufen ist.Der Bund hat sofort geholfen, und er wird auch wei-terhin helfen. Es gab sofortige Zusagen bezüglich KfW-Krediten. Der Staatssekretär hat es gerade noch einmalbestätigt. Es gab aber auch Zusagen, Bayern genauso zuhelfen wie anderen alten Bundesländern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß nochein Hinweis. Ich bitte darum, daß das Land Bayernrechtzeitig Maßnahmen
zur Bekämpfung der Mückenplage ergreift. Wenn danichts geschieht, werden die jetzigen Opfer der Katastro-phe zusätzlich noch von der Mückenplage heimgesucht.
Karl Diller
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Was viel schlimmer ist: Dort, wo das Hochwasseraufgetreten ist – –
– Sie haben wirklich eine billige Rhetorik. Wie Sie sichüber die Opfer lustig machen, finde ich im Grundegenommen beschämend. Vorhin reklamieren Sie denBesuch von Hombach und beklagen, daß er nichtgekommen ist, und jetzt sagen Sie, er wird die Mückenbekämpfen. Ich finde, wie Sie argumentieren, ist lächer-lich und dieses Hauses eigentlich unwürdig.
Ich möchte auch sagen: Die Bekämpfung der Mük-kenplage ist notwendig, damit der Tourismus entlangden Flüssen aufrechterhalten werden kann; denn ande-renfalls wird dieser Tourismus zurückgehen.Ganz zum Schluß: Ich bitte die Medien, vor allem dasFernsehen, über das Ausmaß der Katastrophe, über dasAusmaß des Elends zu berichten. Dann könnten mehrSpenden fließen, mit denen den Opfern unbürokratischgeholfen werden kann.Ich danke.
Die Frau
Kollegin Homburger hat eine Kurzintervention bean-
tragt. Ich bitte aber, diese wirklich sehr kurz zu halten.
Herr Kollege Ku-
batschka, ich habe mich gemeldet, weil Sie hier ausge-
führt haben, daß Sie die alten Länder nur mit den alten
Ländern und die neuen Länder nur mit den neuen Län-
dern vergleichen wollen und entsprechend die Finanzhil-
fen ausrichten wollen. Ich bin der Auffassung, daß man
die Hilfen nach dem Ausmaß der Schäden bemessen
muß.
Natürlich gebe ich Ihnen recht: Man kann das Aus-
maß noch nicht voll ermessen. Aber man kann schon
heute sehen, daß die Summe der Schäden, die das
Hochwasser in Süddeutschland und insbesondere am
Bodensee auch wegen seines langen Andauerns ange-
richtet hat, im dreistelligen Millionenbereich liegen
wird. So hoch lag sie im übrigen auch beim Oderhoch-
wasser. Deswegen bin ich der Meinung: Sie müssen das
vergleichen, was vergleichbar ist, nämlich das Ausmaß
der Schäden, und dementsprechend helfen, anstatt sich
hier herauszureden.
Herr
Kubatschka, wollen Sie erwidern? – Nein.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Gerd Müller von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Stiegler, Herr Kubatschka,
Ihre Reden waren peinlich.
Wenn sich die betroffenen Menschen das hätten anhören
müssen! Gott sei Dank mußten sie es nicht.
Zu Pfingsten kam das größte Hochwasser, das Süd-
deutschland in den letzten 100 Jahren erlebt hat und der-
zeit noch am Bodensee erleben muß. Die Folge sind fünf
Tote, 20 000 beschädigte Anwesen, über 100 000 ge-
schädigte Anwohner und nach der bisherigen Schadens-
bilanz – nicht Schätzungen oder Vermutungen, sondern
Schadensanmeldungen durch die Kommunen und Be-
hörden – über 2 Milliarden DM Sachschaden. Die in
Brandenburg bei der Oderkatastrophe festgestellte Scha-
denssumme lag bei 650 Millionen DM. Ich will Kata-
strophen nicht gegeneinander aufrechnen. Aber schon an
diesen Zahlen sehen Sie: Es geht nicht um eine – so
möchte ich fast sagen – jahreszeitlich übliche Hochwas-
serkatastrophe, sondern wirklich um ein Jahrhun-
derthochwasser, das es so in den letzten hundert Jahren
in den betroffenen Regionen nicht gegeben hat.
Dies ist der qualitative Unterschied. Ich will nicht er-
klären, warum und weshalb, sondern zu ein paar weite-
ren Punkten kommen.
Die Bayerische Staatsregierung und die Landesregie-
rung von Baden-Württemberg haben mit umfassenden
Soforthilfen reagiert. Den Menschen ist nicht mit An-
kündigungen oder mit einem Bundesminister geholfen,
der sich drei Wochen später in der Region umschauen
will. Sie, Herr Kubatschka, haben Angst, daß er von den
Mücken zerstochen wird. Dann soll er zu Hause in sei-
ner Wohnung oder in seinem Büro bleiben.
Herr
Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brähmig?
Ja, bitte schön.
Bitte
schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Müller,ich kenne Sie als sach- und fachkompetenten Kollegen.Ich frage Sie ganz einfach, ob Sie mit mir einer Meinungsind, daß man eine Naturkatastrophe, wie sie im Augen-Horst Kubatschka
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3826 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999
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blick im Freistaat Bayern und am Bodensee in Baden-Württemberg stattfindet, nicht allein diesen Bundeslän-dern zuordnen kann, sondern letztendlich als eine natio-nale Aufgabe ansehen muß.Dies sage ich vor allem vor dem Hintergrund, daßsich unsere Arbeitsgruppe vor wenigen Tagen vor Ortsachkundig gemacht hat. Ich persönlich war erschüttert;denn das, was über die Medien dargestellt wird, ist inkeinerlei Weise deckungsgleich mit der Realität. Wirhaben gesehen, welche Auswirkungen ein Pegel von1,50 Metern über Normal bei strahlend blauem Himmelam Bodensee hat.Eine zweite Frage: Sind Sie mit mir einer Meinung,daß Kanzleramtsminister Bodo Hombach bei seinem Be-such nicht nur schöne Worte, sondern auch ganz konkreteHilfsangebote an die Menschen in den betroffenen Regio-nen in Bayern und Baden-Württemberg machen muß?
Herr Brähmig, ich binIhnen für diese Frage sehr dankbar. Neben aller Pole-mik, die die Kollegen der SPD hier eingeführt haben,müssen wir uns, glaube ich, auch an anderer Stelle nocheinmal über diese Grundsatzfrage unterhalten: Wie kannder Staat über das hinaus, was natürlich jeder Betroffeneselber durch eigene Leistung an Schaden bewältigenmuß, Hilfe leisten? Niemand wird den Menschen ver-sprechen können, daß alle Schäden, die eingetreten sind,von staatlichen Behörden bzw. von staatlichen Stellenausgeglichen werden können.Aber darüber hinaus muß bei Jahrhundertkatastro-phen wie der Oder-Katastrophe oder der, die sich vorkurzem in Süddeutschland ereignete, die Solidarität desGesamtstaates erfolgen. Wir müssen hier neue Wegegehen. Solidarität ist hier keine Einbahnstraße. Sie mußüberall in gleichem Umfang und gleich schnell geleistetwerden, da die Menschen in Brandenburg und in Bayernfür den Staat gleich viel wert sind!
Deshalb war die Reaktion des RegierungssprechersHeye so skandalös, der sagte: Bayern ist ein starkesLand, die können das ganz alleine. Meine sehr verehrtenDamen und Herren, zwar sind die Menschen und dasLand stark. Herr Heye aber ist zynisch und unverschämt.Seine Äußerung ist dumm. Ich bin der Meinung, Bun-deskanzler Schröder sollte sich für ihn entschuldigenund ihn entlassen.
Herr Staatssekretär Diller, Sie haben soeben einigeSätze gesagt. Ich kenne Ihren Brief. Vierzehn Tage ha-ben Sie für Ihre Antwort gebraucht – seit der Katastro-phe sind nun drei Wochen vergangen –, um einen sub-stanzlosen eineinhalbseitigen Brief zu schreiben, in demSie keine konkreten Zusagen machen, die über die ange-sprochenen KfW-Kredithilfen hinausgehen. Damit wer-den Sie der Katastrophe, den Menschen, dem Leid undden Problemen nicht gerecht.
In dieser Debatte erwarten die Menschen und die Be-troffenen in den entsprechenden Landesteilen eine Stel-lungnahme der Bundesregierung, welche konkreten Hil-fen Sie anbieten. Wir wollen Hilfe in vergleichbarer Wei-se und Höhe wie beim Oderhochwasser. Sagen Sie, war-um sich der Bund in Bayern oder in Baden-Württembergprozentual nicht vergleichbar an den Soforthilfeprogram-men des Landes beteiligen will. Warum nicht?Herr Diller, Sie konnten nun drei Wochen darübernachdenken, was Sie den Menschen und den Betroffe-nen in dieser Debatte anbieten können: Soforthilfen,eine Unterstützung bei der Soforthilfe, die Beteiligungam Gesamthilfsprogramm der Länder, Hilfen für dieLandwirtschaft, Zusatzmittel für den Bundesstraßenbauoder die Nutzung des Aufwuchses von Stillegungsflä-chen für Futterzwecke? Ich könnte diese Liste nochweiterführen. Zu keinem dieser Punkte haben Sie sichheute klar und deutlich geäußert. Ich fordere Sie auf,sich dazu zu bekennen.Nun komme ich zu einem substantiell wichtigenPunkt. Wir alle anerkennen die Soforthilfen der Bun-deswehr und des THW. Auch in diesem Fall waren dieSoforthilfen glänzend und hervorragend. HerzlichenDank an die örtlichen Kräfte!
Aber – ich habe dies in einem Schreiben an Bundesmi-nister Scharping vorgetragen; dieser Brief blieb aller-dings unbeantwortet – wir haben das Problem – wie diesbeim Oderhochwasser der Fall war –, daß die Bundes-wehrkräfte – so ist auch jetzt die Maßgabe – nur für denKatastrophenfall ausrücken. Jetzt rücken sie wieder indie Kasernen ein. Nun besteht das Problem der Scha-densbewältigung und der Schadensbeseitigung an denWildbächen. Aus dem Bodensee müssen wir Hundertevon Kubikmetern Treibholz herausholen und vielesmehr. Ich bitte die Bundesregierung, durch den Bundes-verteidigungsminister den kostenfreien Einsatz zurSchadensbewältigung auch in den nächsten Wochenzweifelsfrei sicherzustellen.
In der Not erkennt man seine Freunde. Herr AlbertSchmidt, dies stelle ich mit Freude und Genugtuung fest:Solche Themen eignen sich nicht, um für sich da oderdort parteipolitisch eine Schlagzeile herauszuholen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von derRegierungskoalition und Vertreter der Bundesregierung,wir können nicht hinnehmen, daß Sie bei der heutigenDebatte keinen einzigen konkreten Punkt genannt haben,wie die Bundesregierung helfen will. Es gibt keinenGrund, daß Sie, wenn Sie, wie Sie es in Ihren Redenzum Teil angekündigt haben, Solidarität üben wollen,unserem Antrag jetzt nicht zustimmen. Wenn Sie diesnicht tun, ist das ein Schlag in das Gesicht der betroffe-nen Menschen.Danke schön.
Klaus Brähmig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 45. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1999 3827
(C)
(D)
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/1144 und 14/1152 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 23. Juni 1999, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.