Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur Versenkung der ölplattform „Brent Spar" im Zusammenhang mit glaubwürdigem europäischem Umweltschutz.
2. Beratung der Gruppe der PDS: Europapolitik der Bundesregierung - Drucksache 13/1728 -
3. Beratung des Antrags des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aktuelle Fragen der Europapolitik, insbesondere Vorschau auf die Tagung des Europäischen Rates am 26./27. Juni 1995
- Drucksache 13/1734-
4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Forderungen zur Reform des Vertrages von Maastricht 1996 und der Europapolitik - Drucksache 13/1739 -
5. Wahlvorschlag der Fraktion der SPD: Nachwahl eines Mitglieds der Parlamentarischen Kontrollkommission gemäß § 4 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
- Drucksache 13/1747-
6. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer , Franziska Eichstädt-Bohlig, Elisabeth Altmann (Aurich) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Maßnahmen zur Vermeidung von Wohnungsverlust und zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit - Drucksache 13/1617 -
7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Günther Maleuda, Eva Bulling-Schröter, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuches
- Drucksache 13/1726 -
8. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dietmar Schütz , Volker Jung (Düsseldorf), Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuches - Drucksache 13/1736 -
9. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS: Haltung der Bundesregierung zur Entscheidung Frankreichs für die Wiederaufnahme von Atomtests
10. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das EG-Recht
- Drucksachen 13/668, 13/1753 -
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.
Außerdem ist vereinbart worden, daß unmittelbar nach der Aussprache zur Regierungserklärung die Nachwahl zur Parlamentarischen Kontrollkommission erfolgen soll. Ich mache darauf aufmerksam, daß für die Wahl die sogenannte Kanzlermehrheit erforderlich ist.
Daran anschließend werden die Tagesordnungspunkte ohne Debatte aufgerufen, danach, gegen 16 Uhr, die Fragestunde. Tagesordnungspunkt 10, Änderung des Baugesetzbuches, wird ohne Aussprache an die Ausschüsse überwiesen. Tagesordnungspunkt 13a und b, Antirassismusgesetz, soll auf Freitag als letzter Punkt der Tagesordnung verschoben werden. Des weiteren soll der Jahresbericht des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkt 15, am Freitag bereits um 9 Uhr beraten werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 35. Sitzung des Deutschen Bundestages am
11. Mai 1995 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Haushaltsausschuß auch gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. über die humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen - Drucksache 13/1298 -
Die in der 27. Sitzung des Deutschen Bundestages am 16. März 1995 überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen nachträglich dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Hans Büttner , Leyla Onur, Ottmar Schreiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Geänderter Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen - Drucksache 13/768 -
Antrag der Abgeordneten Annelle Buntenbach und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundsätze für eine EU-Entsenderrichtlinie sowie eine nationale Regelung bis zu deren Realisierung - Drucksache 13/786 -
Vizepräsident Hans Klein
Sind Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit
den Ergänzungen und Änderungen der Tagesordnung einverstanden?
- Danke. Ich freue mich über diese fröhliche Zustimmung zu früher Stunde. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Zulassung von Umweltgutachtern und Umweltgutachterorganisationen sowie über die Registrierung geprüfter Betriebsstandorte nach der Verordnung Nr. 1836/93 des Rates vom 29. Juni 1993 (Umweltgutachter- und Standortregistrierungsgesetz - USG)
- Drucksachen 13/1192, 13/1359, 13/1687 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
- Drucksache 13/1755 -
Berichterstattung: Abgeordnete
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Renate Hellwig
Dietmar Schütz
Dr. Jürgen Rochlitz Birgit Homburger Rolf Köhne
Dazu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und je ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dietmar Schütz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem fast zwei Jahre lang die nationale Umsetzung der EG-Öko-AuditVerordnung auf sich warten ließ, werden wir heute, nur zwei Monate nach Einbringung des Umweltauditgesetzes, abschließend über diesen Gesetzentwurf abstimmen. Wie man sieht, haben wir uns keineswegs so viel Zeit gelassen, wie es die Bundesregierung mit der Umsetzung des EG-Öko-Audits ins nationale Recht getan hat. Dies ist auch gut so.
Ich will für meine Fraktion keinen Zweifel daran lassen, daß die SPD das Öko-Audit als ein wichtiges Element eines aktiven, die Eigenverantwortung des Unternehmens fordernden und stärkenden Umweltschutzes begrüßt. Wir hoffen und wünschen, daß die deutschen Unternehmen die Chance nutzen, ihre Betriebe auditieren zu lassen. Dies sollten sie nicht nur tun, um PR-Effekte zu erzielen, sondern auch und vor allem, um sich aus ökologischer Sicht über bestimmte Betriebsabläufe und Daten klarzuwerden.
Wir haben mit der von uns beantragten Anhörung im Umweltausschuß dafür gesorgt, daß aus dieser raschen und zügigen Beratung dennoch kein blindes Hauruckverfahren wurde; denn so wichtig eine schnelle Umsetzung war und ist, so notwendig war und ist es ebenfalls, daß wir vor einer abschließenden Beratung erst einmal Klarheit über die Qualität der Umsetzung der EG-Öko-Audit-Verordnung schaffen müssen.
Mit dieser Anhörung und der Beratung im Ausschuß wollten wir unter anderem die folgenden Fragen klären: Wie stellen wir sicher, daß die Umwelterklärung der Unternehmen Auskunft über die tatsächliche Umweltqualität der Produktionen und der Betriebsabläufe geben kann? Wie kann das einigermaßen objektiv und seriös geschehen? Welche Bedeutung kann das Öko-Audit für die Diskussion über Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren haben?
Zur letzten Frage haben wir eine relativ eindeutige Antwort erhalten. Die Anhörung der Experten ergab - das war auch die Absicht der Gesetzesverfasser -, daß das Öko-Audit keinen wesentlichen Beitrag im Bereich der Deregulierung leisten kann, wenn wir negative Auswirkungen auf die Umweltstandards und die Beteiligungsrechte der Bürger ausschließen wollen.
Das heißt jedoch nicht, daß das Audit überhaupt keinen Beitrag dazu leisten kann, Verfahren zu beschleunigen und effizienter zu machen. Die Beschleunigungseffekte liegen dabei bei den Betrieben selbst, in der Aufstellung von Umweltmanagementplänen und -zielen, die die Zusammenarbeit mit den Umweltschutzbehörden verbessern kann und damit auch die Emissionen und den Einsatz von Ressourcen vermindern bzw. begrenzen kann.
Erklärtes Ziel der Öko-Audit-Verordnung ist es, Verbesserungen im betrieblichen Umweltschutz zu erreichen, nicht jedoch, Anforderungen im Genehmigungsverfahren herunterzusetzen. Das Audit selbst gibt zunächst keine Veranlassung zur Deregulierung. Eher stimmt das Gegenteil. Es besteht fast die Gefahr einer Komplizierung und Überregulierung durch das vorhandene Gesetz.
Um dem vorzubeugen, müssen die Interessen der Länder, die bei der Umsetzung des Audit-Systems eine große Verantwortung tragen sollen, stärker berücksichtigt werden, als das bisher der Fall ist. Die meisten Änderungsanträge des Bundesrates, darunter viele, die auf eine Beteiligung der Länderebene zielen, sind von der Bundesregierung und den Vertretern der Regierungsparteien im Ausschuß abgelehnt worden. Wir bedauern das, Herr Lippold.
Zur Frage, wie wir sicherstellen, daß das Audit Aufschluß über die tatsächliche Umweltqualität der Produktion eines Unternehmens gibt, wurde einheitlich betont, daß die Aussagekraft und damit die Ak-
Dietmar Schütz
zeptanz und der Erfolg des Audits wesentlich von der Unabhängigkeit der Gutachter und der deutlich erkennbaren Trennung von Unternehmen und Prüfern abhängen.
Mit der Beteiligung am Audit übernimmt das Unternehmen freiwillig Umweltschutzpflichten und -verantwortung. Die wirtschaftsnahe Ausgestaltung des Gesetzes ist von der EG-Verordnung erwünscht, gerade auch um den Umweltschutz stärker an die Unternehmensabläufe und die Unternehmenspolitik heranzubringen und diese zu integrieren.
Wir unterstützen diesen Ansatz nachhaltig. Zugleich legt die wirtschaftsnahe Ausgestaltung eine hohe Meßlatte an die Glaubwürdigkeit des Verfahrens. Das Audit muß gleichermaßen akzeptabel für die Wirtschaft und für die Öffentlichkeit sein. Es liegt dabei im ureigenen ökonomischen Interesse der Wirtschaft, das Öko-Audit so streng und unangreifbar wie möglich zu machen, denn sie selbst profiliert davon in nicht geringem Maße.
Sie profiliert durch Verbesserung des Umweltwissens und der Umweltkompetenz innerhalb des Unternehmens, durch Erschließung von Einsparpotentialen, durch Modernisierung und Optimierung von Produktionsabläufen, durch Verringerung des Haftungsrisikos und potentieller Produktionsausfälle, durch Vermeidung von ökologischen Risiken, durch Konkurrenzvorteile bei Ausschreibungen, durch Nachweis umweltgerechter Produktion und durch Verbesserung des öffentlichen Ansehens des Unternehmens.
Die Anhörung ergab einen Konsens dahin gehend, daß der vorliegende Gesetzesentwurf als Kompromiß zwischen den beteiligten gesellschaftlichen Gruppen akzeptabel ist. Akzeptabel heißt: grundsätzliche Zustimmung bei Kritik an Einzelregelungen und Notwendigkeit von Nachbesserungen.
Nachgebessert und präzisiert werden müssen unter anderem die Regelungen zur Zusicherung der Unabhängigkeit der Gutachter, die Ausgewogenheit der Zusammensetzung des Umweltgutachterausschusses sowie die Konkretisierung der Anforderungen an das Umweltmanagementsystem und die Umwelterklärung der Unternehmen selbst.
Wir haben daher diejenigen Änderungsanträge des Bundesrates unterstützt, die das absichern. Sie beinhalten vor allem:
Erstens. Die Tätigkeit als Bediensteter einer Industrie- und Handelskammer oder einer Handwerkskammer ist grundsätzlich mit dem Beruf eines Umweltgutachters unvereinbar. Ausgenommen davon sind Bedienstete, die in Einheiten tätig sind, deren Aufgabe der Umweltschutz ist, und keinen Weisungen hinsichtlich ihrer Tätigkeit als Umweltgutachter unterworfen sind. Einer Interessenkollision und Vermischung der Zuständigkeiten bei den Registrierstellen und Gutachtern muß vorgebeugt werden. Die Bundesregierung ist dieser Forderung nachgekommen, und wir haben das sehr begrüßt.
Zweitens. Bei der Richtlinienerarbeitung des Gutachterausschusses muß die Publizität und Beteiligungsoffenheit sichergestellt werden. Vor dem Erlaß von Richtlinien sollten daher die Entwürfe auch öffentlich diskutiert werden können, um allen Interessierten die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben. Dies entspricht auch der allgemeinen Praxis von Normungsausschüssen.
Wir haben auf größtmögliche öffentliche Transparenz gedrängt, da die bloße Repräsentanz der gesellschaftlichen Gruppen im Umweltgutachterausschuß auf Grund der Verschwiegenheitsverpflichtung dieser Mitglieder keine ausreichende Gewähr dafür bietet, daß allen interessierten Gruppen die Richtlinienentwürfe zugänglich werden.
Leider empfinden die Bundesregierung und auch die Koalitionsfraktionen diese Transparenzpflicht als überflüssige Zusatzeinrichtung. Dies wirft ein bezeichnendes Bild auf ihr Selbstverständnis, was Öffentlichkeit und Transparenz angeht.
Drittens. Bei der Zusammensetzung des Gutachterausschusses muß die Beteiligung von Gewerkschaften und Umweltverbänden stärker als vorgesehen ausfallen. Mit zusammen nur sechs Stimmen haben sie, anders als die Wirtschaftsvertreter und Umweltprüfer, noch nicht einmal eine Sperrminorität bei Entscheidungen, die mit Zweidrittelmehrheit zu treffen sind.
Sowohl die Rolle der Gewerkschaften in den Betrieben bei der Umsetzung eines effektiven Umweltmanagements und bei der Umweltfortbildung als auch die Funktion der Umweltverbände als wirtschaftsunabhängige Instanzen und Multiplikatoren gegenüber der Öffentlichkeit erfordern eine Stärkung deren Vertretung im Gutachterausschuß. Durch die Erhöhung ihrer Zahl um jeweils eins auf vier wollen wir dies sicherstellen.
Wir gehen dabei davon aus, daß die Vertreter der Gewerkschaften und der Umweltverbände auch die Interessen der Verbraucher angemessen berücksichtigen. Deshalb haben wir denen eine eigenständige Vertretung nicht mehr eingeräumt.
Ungeachtet dieser Argumente will die Bundesregierung das vorab und unter Ausschluß des Parlaments erzielte Kompromißpaket unangetastet lassen und nicht wieder aufschnüren. Im Ergebnis werden wir dies akzeptieren müssen; unsere Vorstellung war jedoch anders.
Viertens. Da der Erfolg des Öko-Audits maßgeblich von der Glaubwürdigkeit und öffentlichen Akzeptanz der Tätigkeit der Gutachter abhängt, ist es nach unserer Auffassung und auch nach Meinung des Bundesrates zwingend, daß sich die Umweltgutachter an die Maßstäbe der einschlägigen umweltrelevanten Verwaltungsvorschriften halten.
Dietmar Schütz
Die Bundesregierung lehnt dies ab und befürchtet eine Verselbständigung von Verwaltungen. Sie will Konfliktfälle an den Gutachterausschuß delegieren, der dies per Richtlinie klären soll. Dies ist für uns inakzeptabel.
Sie wissen alle, meine Damen und Herren, daß gerade im Umweltrecht viele Verwaltungsvorgänge in den Technischen Anleitungen Lärm sowie Luft und in internen Vorschriften - etwa im Wasserrecht - geregelt werden. All das sind Verwaltungsvorschriften, und diese müssen auch Gegenstand der Gutachten und des Audits sein.
Alle Unternehmen müssen sich an diese Verwaltungsvorschriften, mit denen gesetzliche Vorgaben konkretisiert werden, halten. Warum hier die Gutachter eine Ausnahme bilden sollen, ist nicht einsichtig und gibt völlig unnötigerweise Raum für Bedenken hinsichtlich der Qualität der gutachterlichen Tätigkeit.
Ich will auch nicht verschweigen, daß ich nach wie vor bedauere, daß das Umweltbundesamt in der Umsetzung des Öko-Audits keine wesentliche Rolle mehr spielt. Wir haben die Beteiligung des UBA nachdrücklich gefordert, und auch in unserem Entschließungsantrag werden wir dies noch einmal vorbringen.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend sagen, daß wir im Öko-Audit ein zukunftsweisendes Instrument einer integrativen, alle Umweltmedien erfassenden Umweltpolitik sehen. Das Audit kann sich als ein Beispiel dafür erweisen, daß Ökonomie und Ökologie nicht als Antagonismus zu begreifen sind, sondern die Kräfte bündeln und einen integrierten Umweltschutz erreichen können.
Wir werden, meine Damen und Herren, trotz der von mir formulierten Bedenken dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Dr. Renate Hellwig, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Schütz, Ihr letzter Satz war aus meiner Sicht natürlich der beste; denn darauf stützt sich vor allem auch meine Argumentation.
Mit dem heutigen Erlaß dieses Gesetzes ist die Arbeit nicht getan. Es wirkt, wenn es in Kraft tritt, nicht aus sich selber heraus. Mit diesem Gesetz ergeht vielmehr eine Aufforderung an die Wirtschaft, an die Bevölkerung und an alle Beteiligten, dieses sogenannte Umweltaudit - wir haben uns darauf geeinigt, es etwas einzudeutschen, es also nicht Öko-Audit zu nennen; daher heißt es auch „Umweltauditgesetz" - überhaupt erst einmal zum Wirken zu bringen.
Es handelt sich hier nicht um eine Pflichtveranstaltung, auf der der Gesetzgeber üblicherweise Ge- und Verbote erläßt. Es sind auch keine ökonomischen Anreize im Spiel, mit denen der Gesetzgeber durch Fördertatbestände ein bestimmtes Handeln hervorruft, sondern es handelt sich sozusagen um die dritte Form der Gesetzgebung, in der durch eine gewisse Weichenstellung selbstgängige Prozesse in Gang gesetzt werden sollen.
Da wir hier nicht nur für uns sprechen, sondern gerade auch für die Menschen im Land, möchte ich doch - selbst auf die Gefahr hin, daß ich die Kundigen unter Ihnen langweile - ganz kurz darauf hinweisen, was dieses Gesetz, das wir heute verabschieden, beinhaltet.
Es ist einerseits nur ein Ausführungsgesetz zu einer EG-Verordnung, die bereits 1993 erlassen worden ist.
Wir sind knapp dran. Bis zum April 1995 hätten wir dieses Ausführungsgesetz verabschieden müssen.
Was bewirkt diese Umweltaudit-EG-Verordnung zusammen mit dem Ausführungsgesetz? Für ein gewerbliches Unternehmen, das sich bereit erklärt hat, eine eigene Bestandsaufnahme durchzuführen, bedeutet das zweierlei:
Erstens. Das Unternehmen erfüllt die geltenden Umweltnormen.
Zweitens. Das Unternehmen verpflichtet sich darüber hinaus, schrittweise die mit dem Unternehmen notwendigerweise verbundenen Umweltbelastungen über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinaus zu senken, also im Laufe der Zeit möglichst weniger Luftverschmutzung, weniger Lärmbelästigung, sauberere Abwässer, weniger Abfälle sowie einen geringeren Energie- und Rohstoffverbrauch zu erreichen - um nur die wichtigsten Ziele dabei zu nennen.
Ein von diesem Unternehmen unabhängiger, in einem eigenen Verfahren ausdrücklich zugelassener Umweltbeauftragter überprüft dann die sogenannte Umwelterklärung. Er erklärt sie für gültig, wenn die in der EG-Verordnung selber schon detailliert beschriebenen Anforderungen an eine solche Umwelterklärung erfüllt sind. Solange sie nicht erfüllt sind, gibt es Verhandlungen zwischen diesem Gutachter und dem Unternehmen.
Auf Grund dieser gültigen Erklärung wird das Unternehmen in das sogenannte Standortregister eingetragen und ist dann berechtigt, als auditierter Betrieb auch Reklame zu machen. Ich nehme jetzt einmal ein populistisches Wort: Es ist eine Art „Grüner Punkt", den dieses Unternehmen dann trägt. Es darf aber bei der Produktwerbung und auf seiner Ware dieses Auditzeichen nicht als Reklame verwenden.
Die Teilnahme am Umweltauditverfahren ist freiwillig; ich habe schon darauf hingewiesen. Deswegen wird es sehr wichtig sein, die Unternehmen zu ermutigen, freiwillig eine solche Auditierung einzugehen.
Dr. Renate Hellwig
Wir - das kann ich über die Parteigrenzen hinweg sagen - verbinden damit die Hoffnung, daß durch ein gegenseitiges Hochschaukeln das Interesse der Unternehmen an einem umweltfreundlichen Image und das Interesse der Bevölkerung an der Verbesserung des Umweltschutzes in den Betrieben steigen, so in einer Art marktwirtschaftlichem Prozeß die Umweltanforderungen automatisch immer strenger werden und damit das Produktionsverfahren immer umweltfreundlicher wird.
Mich machen zwei Dinge besonders hoffnungsvoll, daß dieses Umweltauditverfahren einen guten Start haben wird: Das erste ist, daß es in der schwierigen Vorphase gelungen ist, einen gemeinsamen Gutachterausschuß, der die Bestellung dieser Gutachter kontrolliert und Richtlinien dazu erläßt, ins Leben zu rufen, in dem alle Beteiligten - die Umweltverbände, die Gewerkschaften und die Vertreter der Industrie - vertreten sind.
Herr Schütz, es war für uns schon amüsant, wie Sie die Gewerkschaftsvertreterin immer wieder gefragt haben, ob sie denn nicht mehr Stimmen in diesem Umweltausschuß haben möchte, und sie von sich aus sagte: Nein, wir stehen jetzt zu diesem gefundenen Kompromiß, denn wir sind interessiert daran, daß dieses Verfahren jetzt möglichst schnell tatsächlich in Kraft tritt.
Der zweite Punkt: Im Endeffekt wird dieses Gesetz eine große parlamentarische Mehrheit haben. Selbst die GRÜNEN werden sich nur enthalten, weil sie trotz ihrer extrem hohen Anforderungen doch der Meinung sind, daß man bei Abwägung der Vor- und Nachteile dieses Gesetz nicht ablehnen kann.
Ich appelliere von hier aus ausdrücklich an die Öffentlichkeit, sich für dieses Umweltaudit zu interessieren, in den benachbarten Betrieben danach zu fragen: Macht ihr das? Werdet ihr das tun? Soweit Sie Beschäftigte sind, sollten Sie im Betrieb selber mit Ihrer Betriebsleitung praktisch darauf drängen, daß es ein auditierter Betrieb wird.
In diesem Jahr ergeht der Startschuß, und zwar EG-weit. Unser Interesse müßte es eigentlich sein, daß die deutschen Unternehmen bei dieser Sache die Nase vorn haben.
Nachdem ich noch eine Minute Zeit habe, kann ich mir einen kleinen Seitenhieb auf die Länder nicht ersparen. Sie sehen das überwiegende Interesse der Länder am Umweltaudit an der Präsenz, die gleich null ist.
Das zeigt natürlich auch ein grundsätzliches Problem: Es war nicht nur schwierig, mit den Vertretern der Industrie und den Umweltverbänden zu einem Konsens zu kommen, sondern es war zusätzlich schwierig, die Länder dazu zu bewegen, eine vernünftige Zurückhaltung an den Tag zu legen. Ich hoffe, daß sie, obwohl nicht alle ihre Forderungen erfüllt sind - Herr Scholz war nicht beteiligt; er erfüllt die Forderungen der Länder sonst immer -, im Endeffekt dennoch zustimmen werden, weil auch sie unter Abwägung der Vor- und Nachteile erkennen müssen, daß hier ein sehr vernünftiger Kompromiß gefunden worden ist.
Es ist ein Elend, meine Damen und Herren: Wir sind in der Regel diejenigen, die stolz darauf sind, einen besonders europafreundlichen Ruf zu haben. Wir müssen aber immer wieder feststellen, daß wir bei der Umsetzung von EG-Recht die allerletzten sind. Das liegt eben daran, daß der mühselige Abstimmungsprozeß mit jetzt 16 Ländern so übertrieben lange dauert, so daß unser tolles Image, das wir so gern in Europa hätten, dann darunter leidet, daß wir manchmal die letzten sind, die das umsetzen.
Wir sind im Endeffekt „nur" eineinhalb Monate im Verzug. Das geht noch. Es kommt jetzt darauf an, diesen Verzug durch ein besonders schnelles Umsetzen in der Praxis aufzuholen. Dazu sind alle aufgefordert.
Die Sorge der Industrie geht dahin, daß die EG- Verordnung nur 21 Artikel hat, das Ausführungsgesetz aber 39 Paragraphen. Das zeigt, daß wir in bezug auf Vereinfachung als Gesetzgeber nicht allzu hervorragend waren. Das müssen wir selbstkritisch feststellen. Aber ich sage zum Trost: Das Gesetz ist zwar kompliziert, aber es läßt sich einfach ausführen.
Ich sage deswegen: Nur Mut! Sprechen Sie mit Ihren Industrie- und Handelskammern, die für die Standortregistrierung zuständig sind. Sprechen Sie mit Ihrer heimischen Industrie. Machen Sie sie interessiert an der Auditierung. Dann tun Sie etwas für unsere Umwelt, und dann können Sie ein gutes Gewissen haben, daß Sie heute morgen nicht umsonst im Plenum waren.
Vielen Dank.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf der Besuchertribüne verfolgt diese Debatte heute früh eine starke Gruppe junger Amerikaner. Es sind 168 amerikanische Stipendiaten des 11. Parlamentarischen Patenschaftsprogramms.
Ich richte einen herzlichen Gruß an Sie. Wenn ich richtig informiert bin, ist das der Abschluß Ihres Deutschlandaufenthalts. Ich wünsche Ihnen good luck and happy memories.
Als nächster hat das Wort Dr. Jürgen Rochlitz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als auf dem Gipfel in Rio die dauerhaft umweltgerechte Entwicklung als Ziel jeder Umweltpolitik festgeschrieben wurde, da war uns allen längst klar, daß dies nicht allein durch ordnungsrechtliche Maßnahmen erreicht werden kann. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten daher als erste Partei eine Erweiterung des Instrumentariums um
Dr. Jürgen Rochlitz
ein ökonomisches Konzept, das der Ökosteuer, zur Diskussion gestellt.
Aber auch die öffentliche Auszeichnung eines guten Umweltmanagements kann ein funktionierender Anreiz sein, solange es dem Unternehmen geldwerte Vorteile bringt. Wir erlebten ja gerade in diesen Tagen am Beispiel von Shell, wie man sich den Ruf ruinieren kann und wie es besser gemacht werden könnte.
Das Öko-Audit kann ein Weg in Richtung nachhaltigen Umweltschutzes sein, wenn es einen Wettlauf der Betriebe um das beste Umweltmanagement und die besten Umweltschutzprogramme schafft. Aber der vorgelegte Gesetzesentwurf leistet dies in unseren Augen nicht.
Es ist beim Öko-Audit doch das mindeste, daß eine seriöse Qualitätsbewertung des Umweltmanagements auf der Grundlage einer umfassenden Ökobilanz für Energie- und Stoffströme stattfindet. Diese aufzustellen legt ja eigentlich schon die EU- Verordnung im Anhang nahe. Gerade die Anhörung der Wirtschaftsvertreter im Umweltausschuß hat aber gezeigt, daß man in der Industrie an einer gewissenhaften Ökobilanzierung gar nicht interessiert ist.
Besteht also eine derart große Diskrepanz zwischen den am Öko-Audit Beteiligten, dann hilft nur eine verbindliche Festschreibung der Ökobilanz als Bestandteil der Umwelterklärung im Gesetz. Diese vermissen wir ebensosehr wie die von vielen Sachverständigen zu Recht geforderte Ausweitung der Gutachterpflicht. Selbstverständlich müßte ein Umweltgutachter auch die betriebliche Einhaltung bestehenden Umweltrechts, z. B. von Verwaltungsvorschriften - Herr Schütz hat das schon erwähnt -, überprüfen. Das müßte ja wohl eine Grundvoraussetzung für die Zertifizierung sein.
Wir fordern darüber hinaus: Schluß mit den Prüfmonopolen von TÜV, Dekra und den großen Unternehmensberatungsgesellschaften! Setzen wir die Umweltgutachter doch der Konkurrenzsituation des freien Marktes aus. Das heißt ganz konkret, verstärkt die Zulassung von Einzelpersonen als Umweltgutachter zu fördern sowie das Instrument der Fachkenntnisbescheinigung zur Teilgutachtertätigkeit auszuweiten. Nur dann bekommen wir erfahrene Sachverständige, Betriebsbeauftragte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Anwälte und andere mehr in das Boot. Wir wollen nicht den in aller Regel betriebswirtschaftlichen Vollgutachter, der sich in Fortbildungsseminaren chemie- und umweltrechtliche Kenntnisse in kurzer Zeit aneignet und nach eigenem Ermessen entscheidet, wann er mangels eigenen Wissens Experten hinzuziehen muß.
Meine Damen und Herren, das Öko-Audit steht und fällt mit der Unparteilichkeit und Neutralität des Systems. Die Beleihung einer privaten Institution, der DAU GmbH, mit der Umweltgutachterzulassung war bestimmt kein Schritt in diese Richtung. Die EG- Verordnung hat das Audit in erster Linie nicht für
Marketing konzipiert, sondern als Instrument zur Verbesserung des Umweltschutzes.
Es handelt sich demnach bei der Umweltgutachterzulassung um eine Aufsichtsaufgabe im Interesse der Allgemeinheit und auf gar keinen Fall um eine Selbstverwaltungsangelegenheit der Wirtschaft. Nicht nur, daß wir eher dem Umweltbundesamt die fachliche Kompetenz unterstellen, wir sehen bereits jetzt Interessenkonflikte heraufziehen, da die DAU letztlich auch Entscheidungen wie die Nichtzulassung oder den Widerruf von Zulassungen zu treffen hat, die unmittelbar Eigeninteressen derselben Wirtschafts- und Gutachterkreise berühren.
Um einen Vergleich aus dem Sport heranzuziehen: Mit dem heutigen Gesetzentwurf organisieren wir für den Wettlauf um die Auszeichnung mit dem ÖkoAudit-Zertifikat - das ist nichts anderes als ein Wettlauf um das beste Umweltimage - das Nationale Olympische Komitee und das System von Schiedsrichtern. Mindestens wie beim sportlichen Wettbewerb, wo jedenfalls die Sportler nicht zu Schiedsrichtern gemacht werden, muß dieses Schiedsrichtersystem in der Begutachtung der umweltorientierten Unternehmensführung ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und Überparteilichkeit gewährleisten. Dafür steht aus unserer Sicht allein das Umweltbundesamt.
Zuletzt ein Wort zur Registrierung zertifizierter Unternehmen: Wer soll denn ein Öko-Audit noch ernst nehmen, wenn anhängige umweltrechtliche Verstöße und Verfahren ein Unternehmen nur theoretisch, nicht aber praktisch von der Registrierung ausschließen? Um aus dem Öko-Audit mehr als einen säbelrasselnden Papiertiger zu machen, sind sowohl wirklich greifende Sanktionsmaßnahmen für das Fehlverhalten von Unternehmen wie Umweltgutachtern notwendig als auch eine intensive Quervernetzung zwischen den Umweltbehörden und der Registrierungsstelle.
Wenn dagegen die zuständigen Umweltbehörden auf Grund der fehlenden Kommunikationsanbindung und des langen Verfahrensweges keine Möglichkeit des Einspruchs bei der Zertifizierung von Dreckschleudern und Chemieklitschen haben, gerät das Öko-Audit tatsächlich zur Farce. Deswegen, meine Damen und Herren, insbesondere gerichtet an die Kolleginnen und Kollegen von der CDU, hieße auch die Hoffnung der Industrie, mit dem Öko-Audit einen umweltrechtlichen Deregulierungsanspruch verknüpfen zu können, dem Umweltschutz einen Bärendienst zu erweisen.
Wir haben nichts gegen eine Entwirrung der Umweltgesetze, aber deren Aufweichung mit Hilfe des Öko-Audit sagen wir ganz entschieden den Kampf an.
Danke schön.
Frau Kollegin Birgit Homburger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns in den letzten Wochen sehr intensiv mit der Ausgestaltung des Öko-Audit beschäftigt und auch in einer Anhörung Ende Mai mit den Themen befaßt, die hier noch zu klären waren.
Wir haben einen Gesetzentwurf der Koalition zur Durchführung der EU-Öko-Audit-Verordnung debattiert, und auch in der Anhörung hat er breite Zustimmung gefunden. Es waren sehr langwierige Verhandlungen, die letztendlich über die Organisation der Zulassung von Umweltgutachtern einen Kompromiß zuwege brachten. Dieser Kompromiß wurde auch in der Anhörung fast einhellig als ausgewogen und tragfähig erachtet.
Die zentrale und, wie ich finde, nicht zu unterschätzende Neuerung in diesem Gesetz ist die Einrichtung des Berufsbildes des Umweltgutachters. Jetzt kommt es darauf an, daß ein hohes Niveau für Qualität und Objektivität der Umweltgutachter verwirklicht wird. Ich finde, daß wir mit diesem Gesetz genau diese Punkte versucht haben zu berücksichtigen und dazu beitragen wollen.
Mit dem Öko-Audit wird ein großer Schritt nach vorne gemacht. Die Umweltpolitik erlangt damit eine völlig neue Qualität. Die Unternehmen werden nämlich in Zukunft selbst freiwillige Regeln für ein betriebliches Umweltmanagement entwickeln. Gleichzeitig kann es den Betrieben als Schwachstellenanalyse dienen, es erleichtert die Planung und Durchführung betrieblicher Umweltschutzmaßnahmen. Mit dem Öko-Audit haben wir also einen ganzheitlichen Ansatz. Die Eigeninitiative der Wirtschaft wird gestärkt, und der Staat muß sich dafür mit regulierenden Eingriffen zurückhalten. Den zweiten Schritt, den ich gerade genannt habe, gehen wir heute allerdings noch nicht. Die F.D.P. fordert jedoch, die entsprechenden Möglichkeiten für eine Deregulierung schnell zu prüfen und bis zum 31. Dezember 1996 dem Bundestag Vorschläge dafür vorzulegen.
Für die Betriebe ergeben sich durch das Öko-Audit Vorteile, die sich auch finanziell rechnen, denn durch das Umweltmanagement werden Einsparmöglichkeiten, z. B. bei Abfällen, Abwasser, Energieverbrauch oder Rohstoffeinsatz, aufgedeckt. Dadurch, daß Umweltschutzmaßnahmen von Anfang an in den betrieblichen Ablauf integriert werden, können Kosten für sonst entstandene Schäden vermieden werden. Die Unternehmen haben also die Möglichkeit, Vorsorgepolitik zu betreiben. Sie werden sozusagen auf eine Vorsorgepolitik hingestoßen.
Es sind weitreichende Entwicklungen denkbar, so z. B., daß Betriebsversicherungen durch günstigere Risikobewertung für auditierte Betriebe preiswerter angeboten werden könnten oder daß sich geringere Umweltrisiken auch bei Kreditkonditionen positiv niederschlagen könnten.
Das Öko-Audit bietet aber auch eine Chance für die dringend notwendige Entbürokratisierung und Deregulierung. Deshalb verlangt die F.D.P. für auditierte Unternehmen Erleichterungen bei der behördlichen Überwachung und bei den Genehmigungsverfahren.
Wir denken dabei z. B. an Deregulierungen in den Bereichen der Überwachung zugelassener Anlagen, bei den Informations-, Berichts- oder sonstigen Pflichten von Betreibern genehmigter Anlagen und bei der Beschleunigung und Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren.
Wer durch korrektes Umweltmanagement, kontrolliert durch unabhängige Sachverständige, auch die Einhaltung gesetzlicher Auflagen sicherstellt, muß von der behördlichen überwachungs- und Genehmigungsbürokratie entlastet werden. Beispielsweise die Emissionserklärung nach BImSch und die Abfallnachweisverfahren oder Abfallbilanzen nach dem Abfallrecht könnten unter Umständen überflüssig werden. Das muß allerdings noch im einzelnen geprüft werden.
Ebenso müssen Genehmigungsverfahren für Anlagenänderungen, die die Masse der Genehmigungsverfahren ausmachen, für auditierte Betriebe vereinfacht werden, etwa durch den Umstieg auf Anmeldeverfahren. Das neue Berufsbild des Umweltgutachters gibt uns die Chance, entscheidende Schritte zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren zu ergreifen.
An dieser Stelle kann die Konformität der gesetzlichen Vorgaben von Umweltgutachtern bestätigt werden. Ich möchte hier noch einmal klarstellen: Die F.D.P. ist nicht für einen materiellen Abbau von hohen Umweltstandards. Wir sind aber für Vereinfachungen dort, wo es organisatorisch möglich ist.
Das Öko-Label muß eine Auszeichnung für besonders umweltbewußte Betriebe werden. Das wirtschaftsnahe System, das wir gewählt haben, ist ein Experiment, das sich das Vertrauen der Öffentlichkeit erst noch verdienen muß. Die Wirtschaft ist aufgefordert, diese Chance nicht zu verspielen. Aus diesem Grunde wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf und dem Entschließungsantrag, den wir im Umweltausschuß bereits mehrheitlich beschlossen haben, zustimmen. Durch die Vorteile für die Betriebe, die am Öko-Audit beteiligt werden, wollen wir den Anreiz für die Betriebe und Unternehmen verstärken, die nicht von vornherein gewillt sind, mitzumachen, um somit wirtschaftsnah mit einer Verzahnung von Ökonomie und Ökologie, die dieses UmweltAudit, wie ich finde, ganz exzellent bietet, zu einem Fortschritt bei Umweltmaßnahmen und damit zu einer wirtschaftsverträglichen Umsetzung von Umweltzielen zu kommen. Das muß das Ziel sein, an dem wir gemeinsam arbeiten sollten.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bierstedt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute erneut mit dem Gesetzentwurf der Koalition und der Bundesregierung über die Zulassung von Umweltgutachtern und Umweltgutachterorganisationen sowie über die Registrierung geprüfter Betriebsstandorte, kurz Öko-Audit - von mir aus auch Umwelt-Audit - genannt.
Ich habe bereits in der ersten Lesung zum Gesetzentwurf die prinzipiellen Bedenken der PDS geäußert. Diese Bedenken wurden durch die zwischenzeitlich erfolgte öffentliche Anhörung zumindest partikulär bestätigt. Ich möchte hier auf Frau Professorin Gertrude Lübbe-Wolf hinweisen: Der Gesetzentwurf schließt ihrer Ansicht nach nicht aus, daß das Umwelt-Audit zu einem hoheitlich abgesegneten Marketingtrick degeneriert. Dieser Einschätzung kann sich die PDS nur anschließen. Weshalb kommen wir nun zu dieser Einschätzung?
Erstens. In der für die Zulassung der Gutachter dann zuständigen Gesellschaft, der Deutschen Akkreditierungs- und Zulassungsstelle für Umweltgutachter, DAU, haben die Vertreter der Industrie, die später durch die zugelassenen Gutachter kontrolliert werden, das Sagen. Die geplante Zulassungsstelle hätte eigentlich die Aufgabe, die Umweltaufsicht im Interesse der Allgemeinheit wahrzunehmen. Dieser Aufgabe könnte nach Ansicht der PDS nur das Bundesumweltamt einigermaßen gerecht werden. Die Unabhängigkeit der Umweltgutachter bleibt einer der umstrittensten Punkte des Gesetzes. Frei wählbare Umweltgutachter, die von dem Unternehmen, das überprüft werden soll, bestellt werden, geraten bei dieser Gesetzeskonstellation leicht in Abhängigkeiten. Kein Mensch ist - zumal wenn er als Freischaffender Geld verdienen muß - frei von Verfehlungen. Dies hat natürlich auch etwas mit dieser monetär diktierten Gesellschaft zu tun.
Es gibt nicht einmal Regelungen, nach denen Verfehlungen bei der Erteilung von Gutachten Konsequenzen haben. Oder haben Sie in diesem Gesetzesantrag etwas dazu gefunden? Ich nicht.
Zweitens. Betrachten wir die Beschleunigung und Vereinfachung von Genehmigungsverfahren: Nach den Vorschlägen der Unabhängigen Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Zulassungsverfahren, der SchlichterKommission, sollen künftig für Anlagen an auditierten Standorten nur noch Rahmengenehmigungen erteilt werden, die keine Detailplanung und Detailprüfung mehr voraussetzen. Dieser Vorschlag entspricht natürlich dem Interesse der Wirtschaft an der Verkürzung von Genehmigungsverfahren und an einer Verringerung der behördlichen Kontrolldichte.
Andererseits wird aber gerade von seiten der Industrie die Auffassung vertreten, daß die Erfüllung aller umweltrechtlichen Anforderungen am Standort nicht unbedingt Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme am Umwelt-Audit sei. Dies entspricht natürlich nicht dem berechtigten Interesse der Umweltverbände. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält auch keine diesbezüglichen Klarstellungen. Unter diesen Umständen ist nicht gesichert, daß mit der erfolgreichen Teilnahme am Umwelt-Audit überhaupt eine Aussage dahin gehend verbunden ist, daß Anlagen am betreffenden Standort die umweltrechtlichen Anforderungen erfüllen. Wenn nicht einmal gesichert ist, daß das Audit überhaupt den Anspruch erhebt, die ordnungsgemäße Errichtung und den ordnungsgemäßen Betrieb aller Anlagen am Standort zu zertifizieren, kann die Teilnahme am Umwelt-Audit schon aus diesem Grunde behördliche Detailprüfungen im Rahmen von Genehmigungsverfahren nicht ersetzen.
Drittens. Ein wesentlicher Ablehnungsgrund für unsere Gruppe ist auch die fehlende Öffentlichkeitsbeteiligung. Eine förmliche Öffentlichkeitsbeteiligung, wie sie im Genehmigungsverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz oder in der Umweltverträglichkeitsprüfung enthalten ist, entfällt beim Öko-Audit. Auch fehlen Regelungen hinsichtlich der öffentlichen Bekanntmachung und Auslegung der Umwelterklärung, ganz zu schweigen von Einwendungs- und Erörterungsmöglichkeiten für die Öffentlichkeit.
Offen ist, ob die Dokumentation bei der Behörde zu hinterlegen ist. Das heißt, der Behörde liegt unter Umständen noch nicht einmal ein Umweltbericht vor. Sie muß diesen gegebenenfalls erst einmal beim Unternehmen anfordern und wird damit zum Bittsteller um reine Informationen, wo sie zuvor Genehmigungen erteilt hat.
Die EU-Verordnung schreibt die Information der Öffentlichkeit über die Umwelterklärungen der Unternehmen nicht ausdrücklich vor. Diese sollen „gegebenenfalls" - das ist in Art. 3 h nachzulesen - und, „soweit angemessen", der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden. Das ist das kleine Schlupfloch, das man sich vorbehält.
Erfahrungen z. B. bei Qualitätssicherungssystemen in Unternehmen zeigen eindeutig, daß nur die Pflicht zur Veröffentlichung von Umweltberichten zu einer ernsthaften Auseinandersetzung der Unternehmen mit dem Umweltschutz führt.
Gleichzeitig wären wir natürlich bereit, dem Gesetzesvorhaben bei weitestgehender Berücksichtigung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuzustimmen; denn bekanntlich ist der Spatz in
Wolfgang Bierstedt
der Hand manchmal mehr wert als die Taube auf dem Dach. Sehen Sie deshalb unsere scheinbare Prinzipienlosigkeit unter dem Gesichtspunkt einer Schadensbegrenzungsabsicht.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist ein klassischer gesetzgeberischer Vorgang. Wir legen wirklich nur eine Rahmenbestimmung fest und setzen auf Freiwilligkeit. Wir wünschen uns eigentlich mehr dieser Art von Gesetzen aus dem Bereich der Wirtschaft.
Ich muß die Aussagen der SPD zurückweisen, die beinhalten, daß man mit diesem Gesetz keine Umweltderegulierungsmaßnahmen verbinden dürfe.
- Nein, haben Sie den Entschließungsantrag, den wir gleich zur Abstimmung stellen, richtig gelesen?
Ich rede hier für die Koalitionsfraktionen: Wir nehmen diesen Antrag sehr ernst und bitten Sie, doch noch einmal darüber nachzudenken. Wir sind der festen Überzeugung: Je intensiver und ernsthafter das Audit wahrgenommen wird und je höher die Anforderungen an die Zertifizierung sind, desto notwendiger muß parallel dazu eine Rückführung von Regulierungsmaßnahmen angepackt werden. Inwieweit dies durchzusetzen ist, müssen wir überprüfen.
Wir müssen uns dieser Frage jedoch sehr ernsthaft stellen;
denn wir können nicht mehr Regulierungen gebrauchen, wir brauchen weniger Regulierungen in diesem Bereich.
Ich will noch einige wenige Punkte aufgreifen, die im Verlauf der Debatte hin und wieder angesprochen worden sind und die es auch in Zukunft zu beachten gilt. So müssen wir z. B. eine europaweite Vergleichbarkeit sicherstellen. Wir müssen aufpassen, daß wir auch hier nicht wieder weit vorauslaufen und damit ein Stück Belastung schaffen, während das gleiche in den Wettbewerbsländern jedoch nicht geschieht. Das muß also sorgfältig überwacht werden.
Herr Kollege Schauerte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schütz?
Ich habe nur vier Minuten Redezeit.
Das wird Ihnen nicht angerechnet.
Einverstanden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Sie haben gerade die Deregulierungen angesprochen. Sehen Sie denn nicht einen Unterschied zwischen einem Entschließungsantrag und dem Aufbau eines Gesetzes, der nach Aussage der Bundesregierung gerade keine Deregulierung beabsichtigt? Man kann doch kein Gesetz mit der Struktur A verfassen, dann aber einen Entschließungsantrag mit der Struktur Y einbringen. Ich glaube, darüber besteht Einvernehmen.
Herr Kollege, Sie haben den Entschließungsantrag sicherlich gelesen. Es steht ausdrücklich drin, bei Verhandlungen zu den IVU-Richtlinienvorschlägen mit Bezug zum betrieblichen Umweltschutz darauf zu achten, daß Handlungsspielräume für Deregulierungsmaßnahmen erhalten bleiben. Genau das ist sinnvoll, wird von der Wirtschaft gewünscht und steht in keinem Gegensatz zum vorliegenden Gesetzentwurf.
Ich wollte noch auf einige wenige Aspekte zu sprechen kommen: Wir müssen, wie ich schon gesagt habe, darauf achten, daß die europaweite Vergleichbarkeit immer wieder eingefordert und erhalten bleibt. Weiterhin müssen wir darauf achten, daß nicht solche Kreise, die über die Gutachtertätigkeit ihre Lebensstellung sichern, aus sich heraus die Anforderungen immer höher schrauben. Diese Gefahr sehe ich, wenn ich eine Parallele zur Zertifizierung im Qualitätsstandardbereich ziehe.
Solche Effekte haben wir in vergleichbaren Fällen. Ich darf daran erinnern, daß die deutsche Wirtschaft bei der Qualitätssicherung mittlerweile über Kosten in einer Größenordnung von 20 bis 30 Milliarden DM, die dadurch entstehen, redet. Wir müssen also darauf achten, daß das nicht zuviel des Guten wird. Auch diese Sorgfalt ist dann vom Staat gefordert.
Ein weiterer Punkt: Wir müssen darauf achten, daß der Gutachtermarkt, der sich entwickelt, mittelständig organisiert bleibt.
Wir dürfen es nicht zulassen, daß es hier weitere Monopole oder kartellähnliche Zustände gibt, die wir bei Überprüfungen in der Wirtschaft, z. B. durch den TÜV oder durch wen auch immer, befürchten und
Hartmut Schauerte
beklagen müssen. Zum Teil existieren sie dort bereits. Wir müssen darauf achten, daß dieses hier nicht auch geschieht. Insoweit hat der Staat eine erhebliche Sorgfaltspflicht. Wir können die Wirtschaft an dieser Stelle nicht allein lassen; wir sind schließlich eine verfaßte Marktwirtschaft, eine soziale Marktwirtschaft.
Ich darf noch einmal den Grundsatz betonen: Die Strenge der Zertifizierung muß mit der Deregulierung an anderer Stelle korrelieren. Die Bilanz der Belastung und der Bürokratie für die Wirtschaft darf sich auf Grund dieses Vorgangs nicht erhöhen, sondern das Gesetz soll eine Chance sein. Wenn begriffen wird, daß das eine wirkliche Chance ist, verbindet sich eine tolle Sache miteinander: Man kann dann Umwelt schützen, die Betriebsabläufe optimieren und Geld verdienen. Diese Kombination ist traumhaft. Auf die setzen wir. Wenn es gelingt, dies in die Köpfe der Wirtschaft zu transportieren, wird das Öko-Audit ein Erfolg sein. Es gilt, sorgfältig zu beobachten und Fehlentwicklungen, wenn sie denn eintreten sollten, rechtzeitig gegenzusteuern.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Marion Caspers-Merk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit den zwei guten Botschaften beginnen.
Erstens. Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetz zustimmen.
- Ich wollte einmal von Ihnen Beifall erhalten, Frau Homburger. Das war der Sinn der Übung.
Zweitens meine ich, daß eine Befürchtung von Frau Hellwig nicht eingetroffen ist: Wir haben durch die Anhörung und die Ausschußberatung das Gesetzgebungsverfahren nicht verlängert und nicht verkompliziert, sondern wir haben in großer Einmütigkeit viele Regelungen ergänzt und das Gesetz insgesamt etwas stringenter gefaßt. Ich fand, daß wir in einer sehr zügigen Art und Weise dieses Gesetz, das endlich kommen muß, beraten haben.
Die SPD-Fraktion hat konstruktiv daran mitgearbeitet, so daß wir heute diesem Gesetz zustimmen werden. Und wir wissen alle, daß die deutsche Wirtschaft auf dieses Gesetz wartet und auch hohe Erwartungen an das Öko-Audit bindet.
Strittig ist also überhaupt nicht das Ob dieses Umweltauditgesetzes, sondern strittig ist das Wie.
Mit unseren Änderungsanträgen wollten wir aufzeigen, wie wir uns dieses Gesetz vorstellen. Im Kern geht es um ein Gütesiegel für ein Umweltmanagement mit Biß in Betrieben. Deshalb haben wir vorgeschlagen, daß die gesamten Verwaltungsvorschriften Gegenstand dieser Prüfung sind, weil ein Gütesiegel von vornherein halb soviel wert ist, wenn z. B. alle Umweltverwaltungsvorschriften nicht Gegenstand der Prüfung sind.
Zweitens wollen wir Gutachter, die alles prüfen können und dürfen sowie ein hohes Maß an Unabhängigkeit besitzen. Deswegen wollten wir auch die Möglichkeiten der Gutachter mit diesem Gesetz erweitern.
Drittens wollten wir die Zulassungsstelle nicht so stark wirtschaftsnah ausgestalten. Wir wollten die Beteiligung der Gewerkschaften und der Umweltverbände verbessern.
Die Industrie hat als Gesellschafter der neuen Akkreditierungsgesellschaft ihre Standpunkte weitgehend durchsetzen und einbringen sowie in Gesetzesvorschriften gießen können. Das hat bei Umweltverbänden und kritischen Beobachtern schon vor der ersten Anwendung des Gesetzes zu Mißtrauen und Vorbehalten geführt.
Wir sind deshalb der Auffassung, daß es ganz wichtig ist, für dieses Gesetz Akzeptanz in der Öffentlichkeit herzustellen. Wir werden die Durchführung dieses Gesetzes kritisch begleiten; denn ich glaube, es ist wichtig, daß es mehr Umweltmanagement in den Betrieben gibt und daß durch dieses Gesetz in den Betrieben mehr vorsorgend getan wird, als derzeit durch Rechtsvorschriften umgesetzt wird.
Es macht nämlich wenig Sinn, liebe Kolleginnen und Kollegen, ständig neue Grenzwerte zu veröffentlichen, das Ordnungsrecht immer feiner auszugestalten, wenn auf der betrieblichen Ebene, dort, wo Umweltpolitik betrieben wird, Systeme, wie überhaupt Umweltmanagement funktionieren soll, noch nicht existieren.
Ich bin sehr gespannt, wie in Zukunft die Managergeneration in den Unternehmen aussehen wird; denn sie wird sich zum erstenmal ernsthaft mit diesem Umweltmanagement auseinandersetzen müssen. Nur wenn der ganze Betrieb, also auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mitzieht - deshalb ist uns die Beteiligung der Gewerkschaften so wichtig gewesen -, kann dieses Umweltmanagement in den Betrieben in Zukunft funktionieren. Wir glauben, daß das Öko-Audit deshalb in jedem Einzelfall wieder auf dem Prüfstand steht.
Herr Kollege Rochlitz, Sie haben vorhin den Konzern Shell etwas kritisch angesprochen. Ich finde es gut, daß sie mit ihrer Entscheidung den Weg freigemacht hat, sich vielleicht zukünftig an einem ÖkoAudit zu beteiligen. So wäre die erste Entscheidung sicherlich nicht passiert.
Ich warne in dem Zusammenhang auch vor einem Mißverständnis. Frau Homburger und auch der Kollege von der Union haben noch einmal betont: Sie
Marion Caspers-Merk
wollen mit diesem Gesetz auch eine Deregulierungsabsicht verbinden. Das ist nicht unsere Auffassung. Sie wissen, bei der Anhörung war es eindeutig, daß alle Experten, die dort waren, sagten: Eine Deregulierung ist auf EU-Ebene überhaupt nicht das Ziel des Gesetzes gewesen. In keinem anderen Land in Europa gibt es eine Deregulierungsdiskussion wie in der Bundesrepublik; denn sie haben kein ausgestaltetes Ordnungsrecht.
- Da stimme ich Ihnen zu. Die haben alle natürlich nicht dieses Problem. Dort ist der entscheidende Punkt, wenn in der EU dieses Gesetz nicht so angelegt ist, dann wird es sehr schwer werden, bei uns solche Absichten damit zu verbinden. Sie haben eigentlich dafür gesorgt, daß z. B. die Verwaltungsvorschriften nicht Gegenstand der Prüfung sind. Deswegen werden sich in diesem Bereich unsere Länder ihre Zustimmung sehr schwer machen, weil sie eigentlich der Auffassung waren, daß es ganz selbstverständlich ist, Rechtsvorschriften zu prüfen. Nur dann können Sie auch Erleichterungen bei der Überwachung geben, wenn vorher klar ist, daß die Prüfung der Verwaltungsvorschriften Gegenstand des Auditierungsverfahrens ist. Das ist der Zusammenhang.
Wenn Sie das Umweltauditgesetz in diesem Punkt mit stärkerem Biß versehen hätten, dann wäre es für die Zukunft leichter gewesen, in diese Überlegungen einzusteigen. Da haben Sie sich einfach dem Dialog verweigert; denn wir wollen eine echte Deregulierung. Wir wollen nämlich eine Deregulierung, eine Reform des Ordnungsrechts, in dem Sinne, daß derjenige, der mehr tut, nicht mehr so stark überwacht wird. Darüber kann man mit der SPD jederzeit reden. Das darf aber nur ohne eine Absenkung der Umweltstandards geschehen. Genau das ist der entscheidende Punkt. Hier haben Sie sich unseren Beratungsüberlegungen bislang verweigert.
Für uns war auch die Anzahl der Vertreter der Umweltverbände und der Gewerkschaften ein entscheidender Punkt. Denn wir glauben, daß die Betriebsangehörigen dieses Umweltauditierungssystem mittragen müssen. Deswegen wollten wir von vornherein die Gewerkschaften stärker einbeziehen. Wir brauchen Akzeptanz für dieses neue Instrument des ÖkoAudit in der Öffentlichkeit. Deswegen brauchen wir ein verstärktes Engagement der Umweltverbände. Ich glaube, daß es wichtig gewesen wäre, wenn Sie dort einen Schritt auf uns zugegangen wären. Ich glaube, es hätte diesem System von vornherein mehr Akzeptanz, mehr Transparenz in der Öffentlichkeit beschert. Es wäre auch leichter gewesen, hier einen Konsens über die Parteigrenzen hinweg herzustellen; denn wir alle wollen das neue Umweltauditgesetz. Es wäre aber wichtig gewesen, hier ein Stück weit gemeinsamer daran zu arbeiten.
Ich möchte noch auf den europäischen Aspekt zu sprechen kommen. Für uns ist es ganz wichtig, daß dieses Gesetz in Europa 1998 noch einmal auf den Prüfstand gestellt wird, um zu überlegen, was bis dahin mit diesem Gesetz positiv bewegt worden ist. Wir
haben hier große Bedenken, daß das Öko-Audit in Europa sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Wenn beispielsweise herauskommt, daß in Großbritannien jede Menge Unternehmen dieses Gütesiegel haben, weil im Prinzip gar nicht ausreichend geprüft wird, was die Unternehmen machen, und wir eine sehr strenge Prüfungspraxis haben, so daß dies zu Wettbewerbsverzerrungen führt, dann, so meinen wir, muß sich die Bundesregierung künftig stärker auf europäischer Ebene einbringen. Sie muß hier stärker eine Harmonisierung der Standards fordern. Sie muß diese Gesetze stärker mitbeschließen und auch mitgestalten. Ich hätte mir hier ein größeres Engagement der Bundesregierung gewünscht.
Ich finde es nicht in Ordnung, daß die Briten die Diskussion über das Öko-Audit über Jahre bestimmt haben und wir bei der Ausgestaltung des Öko-Audit eigentlich nicht an vorderster Front waren, sondern daß sich der britische Standard auch international als Standard beim Öko-Audit durchgesetzt hat. Hier wäre es wichtig, für eine Vereinheitlichung der Standards zu sorgen und auch auf EU-Ebene die Lücken in diesem Gesetz zu schließen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, hier stärkeres Engagement zu zeigen.
Wir haben einen Entschließungsantrag vorbereitet, der drei wesentliche Punkte beinhaltet.
Erstens wollen wir eine wissenschaftliche Begleitung durch das Umweltbundesamt, weil es ein ganz neues Instrument in der deutschen Umweltpolitik ist. Wir wollen einmal sehen: Wie stark wird dieses neue Instrument von den Unternehmen akzeptiert, was wird konkret damit verbessert, und wo gibt es Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes?
Wir wollen zweitens größeres Engagement auf EU-Ebene, wie ich das eben schon ausgeführt habe, nämlich eine Harmonisierung der Standards.
Wir wollen drittens die Ausdehnung des Gesetzes auf mehr Bereiche. Es ist das erste Mal in meiner Laufbahn als Umweltpolitikerin, daß wir von Unternehmen, die unbedingt dieses Umweltgütesiegel haben wollen, Briefe bekommen. Für die Bereiche Dienstleistungen liegen z. B. Schreiben der Lufthansa, der Bahn und von vielen Touristikunternehmen vor, die fragen: Warum macht ihr das nur für die Industrie? Warum erweitert ihr das nicht in Richtung Dienstleistungen? Auch wir wollen zeigen, daß wir Umweltmanagement in unseren Unternehmen machen. Über diese Erweiterung in den Dienstleistungsbereich sollten wir reden.
Wir wollen dem betrieblichen Umweltschutz Beine machen. Das UmweltAudit als Instrument hierfür ist eine Möglichkeit, das Umweltmanagement zu verbessern. Wir werden deshalb diesem Gesetz zustimmen und die Anwendung des Gesetzes kritisch begleiten. Wir hoffen, daß mit dem UmweltAudit in Zukunft wirklich etwas für den betrieblichen Umweltschutz getan wird.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ulrich Klinkert das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Frau Umweltministerin Merkel am 26. April dieses Jahres das Gesetz in der ersten Lesung dem Deutschen Bundestag vorstellte, mußte man schon ein großer Optimist sein, um vorauszusagen, daß dieses Gesetz dem Bundestag bereits zwei Monate später in zweiter und dritter Lesung zur Abstimmung vorgelegt werden kann.
Deswegen möchte ich allen daran Beteiligten zunächst einmal herzlich danken: den Abgeordneten von Koalition, aber auch Opposition und nicht zuletzt an dieser Stelle auch einmal den fleißigen und kreativen Mitarbeitern des Bundesumweltministeriums, die dieses Gesetz maßgeblich formuliert haben.
Vor allen Dingen möchte ich denen danken, die am Kompromiß beteiligt waren, nämlich den Umweltverbänden, den Gewerkschaften, den freien Berufen, den Ländern, die sich hoffentlich im Bundesrat daran erinnern werden, und natürlich auch der Wirtschaft.
Ich werte es insgesamt als ein gutes Zeichen, daß der Gesetzentwurf den Umweltausschuß und den Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages nahezu einstimmig passieren konnte. Dieses Gesetz wird der Vereinfachung dienen und wird, wenn es sich bewährt hat, auch zu Deregulierungen führen. Daß es dazu in der Lage ist, kommt schon durch eine reine Äußerlichkeit zum Ausdruck. Aus einem zweizeiligen zungenbrecherischen Titel ist nämlich die nun recht einfache und eingängige Formulierung „Umweltauditgesetz" im Zuge der Verhandlungen entwickelt worden.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich möchte Sie einen Moment unterbrechen. - Ich habe die Geste des Kollegen Urbaniak jetzt nicht genau verstanden. Wollten Sie eine Zwischenfrage stellen, oder war das nur an die Nachbarin gerichtet?
Herr Präsident, Sie haben sich geirrt.
Bei der SPD scheint eine recht gemütliche Versammlung im Gange zu sein, was aber in Anbetracht dessen, daß Sie dem Gesetz zustimmen, nicht weiter verwerflich ist.
Meine Damen und Herren, mit dem Umweltauditgesetz gehen wir neue Wege im Umweltschutz. Das Gesetz ist ja Voraussetzung für die Umsetzung der EU-Umweltauditverordnung, die vor allen Dingen auf Freiwilligkeit setzt. Statt neuer ordnungsrechtlicher Ge- und Verbote setzen wir mit diesem Gesetz auf freiwillige betriebliche Eigenkontrolle, die auf Dauer - dessen bin ich mir sicher - zur Verbesserung des Umweltschutzes über das ordnungsrechtlich gebotene Maß hinausführen kann.
Die von den Unternehmen durchgeführten Umweltbetriebsprüfungen werden von externen, unabhängigen, privaten Umweltgutachtern verifiziert. Der Staat beschränkt sich dabei auf seine Aufsichtspflicht, faktisch auf die „Kontrolle der Kontrolleure".
Insgesamt führt das für die Betriebe, die sich an diesem Verfahren beteiligen, zur Verleihung eines EU-einheitlichen Gütesiegels, das wiederum Wettbewerbs- und Kostenvorteile bringen kann und auf jeden Fall zu einer Imageverbesserung der beteiligten Unternehmen führt.
Der freiwillige Charakter der EU-Umweltauditverordnung erfordert eine wirtschaftsnahe und pluralistische Umsetzungskonzeption. Der Gesetzentwurf setzt dieses Konzept konsequent um, z. B. dadurch, daß für die Zulassung und die Beaufsichtigung von Umweltgutachtern und Gutachterorganisationen eine privatrechtliche Organisation zuständig ist, die von den Spitzenverbänden der Wirtschaft und vom Bundesverband freier Berufe getragen wird.
Im Vorfeld wurde einvernehmlich die Deutsche Akkreditierungs- und Zulassungsgesellschaft für Umweltgutachter mbH, kurz DAU, gegründet. Diese wird infolge des Gesetzes durch eine Rechtsverordnung bundesweit mit ihren Aufgaben beauftragt werden.
Zur Gewährleistung der Neutralität der DAU und um das Vertrauen in die Qualifikation der Gutachter zu stärken, wird ein Umweltgutachterausschuß gebildet. Dessen Aufgabe ist es, Richtlinien für Zulassungs- und Aufsichtsverfahren zu entwickeln, die dann wiederum für die Zulassungsstelle verbindlich sind. Dazu sind die direkt betroffenen Gruppen in diesem Gremium vertreten. Dies sind die Unternehmen, die Gutachter selbst, der Bund und die Länder, die Gewerkschaften und natürlich auch die Umweltverbände.
Hierdurch werden die Fachkenntnis aller Beteiligten mobilisiert und die Aussagekraft der Entscheidungen des Gremiums erhöht. Der Staat wird nur noch die Aufsicht über das System ausüben.
Der Kern des Gesetzes zur Durchsetzung der EU-
Umweltauditverordnung besteht in der Zulassung von und in der Aufsicht über unabhängige, zuverlässige und fachkundige Umweltgutachter und Umweltgutachterorganisationen. Nur qualifizierte Umweltgutachter sind fähig, die umfangreichen Prüfungen nach der EU-Umweltauditverordnung vorzunehmen.
Parl. Staatssekretär Ulrich Klinkert
Ich sagte, daß mit diesem Gesetz völlig neue Wege gegangen werden. Die Zulassung zu einem Beruf wird durch eine private, beliehene Organisation erteilt. Dies ist ein Novum im deutschen Recht.
Hinzu kommt die Rolle des Umweltgutachterausschusses, der nicht nur ein Sachverständigengremium mit beratender Stimme ist, sondern eine Institution mit Normsetzungsbefugnissen. Deshalb ist der Umweltgutachterausschuß pluralistisch besetzt, und der Staat hat nur eine von fünf sogenannten Bänken in diesem Ausschuß. Seine Aufgabe ist es, Richtlinien für die Zulassungsstelle zu erarbeiten. Diese Richtlinien haben rechtlich den Charakter von allgemeinen Verwaltungsvorschriften. Ohne diese gesetzliche Ermächtigung wäre dies Aufgabe der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz ist ein erheblicher Vertrauensvorschuß für die Wirtschaft und die betroffenen Kreise verbunden. Der Erfolg des Gesetzes hängt wesentlich davon ab, daß die private Zulassungsstelle und der Umweltgutachterausschuß sachkompetent, unabhängig und verantwortungsbewußt arbeiten.
Hinzu kommt die Registrierung geprüfter Standorte, die durch die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern vorgenommen wird. Nur wenn man der DAU, dem Umweltgutachterausschuß, den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern später attestieren wird, daß eine gute Arbeit geleistet wurde, ist die Akzeptanz des Umweltaudit in der Öffentlichkeit zu erreichen.
Das Experiment, das mit der gewählten Organisationsstruktur verbunden ist, ist nicht bereits mit der Verkündung dieses Gesetzes als gelungen zu bezeichnen. Vielmehr beginnt erst dann die Bewährungsphase, die nur mit einer gemeinsamen und andauernden Anstrengung aller Beteiligten erfolgreich bestanden werden kann. Die Ausgangssituation für ein Gelingen dieses gemeinsamen Anliegens ist meines Erachtens gut: Die breite Zustimmung, die der Gesetzentwurf erfährt, werte ich als ein Zeichen dafür, daß dem Umweltaudit als neuartigem Instrument zur Verbesserung des betrieblichen Umweltschutzes in der Öffentlichkeit große Erwartungen und Hoffnungen entgegengebracht werden.
Daher sollten wir auch energisch Bestrebungen vorbeugen, das Instrument des Ökoaudit zu einer Art Gewerbeaufsicht auszubauen. Genau dazu würde es führen, wenn man, wie vom Bundesrat und von der SPD-Fraktion gefordert, den privaten Umweltgutachter der Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften unterwerfen würde. Zwar gehört es ohne Zweifel zu den Pflichten des Umweltgutachters, stichprobenweise zu überprüfen, ob ein Unternehmen alle relevanten Rechtsvorschriften einhält. Bei der Auslegung von Rechtsvorschriften muß der Umweltgutachter die Verwaltungsvorschriften von Bund und Ländern ebenso berücksichtigen wie die Rechtsprechung und natürlich die juristische Fachliteratur. Rechtsverbindlich sind Verwaltungsvorschriften aber nur intern für Behörden, nicht für den Bürger, also auch nicht für den Umweltgutachter.
Der Vorschlag von Bundesrat und SPD hätte zur Folge, daß bei einer Abweichung von Verwaltungsvorschriften die Tätigkeit des Umweltgutachters untersagt oder gar seine Zulassung widerrufen und ein Bußgeld verhängt werden könnte. Damit erhielten Verwaltungsvorschriften sozusagen auf kaltem Wege den Charakter von Rechtsverordnungen. Dies wäre im Hinblick auf Art. 12 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich bedenklich. Politisch würde die Annahme dieses Vorschlages der Akzeptanz des Umweltaudit bei den Unternehmen schweren Schaden zufügen.
Meine Damen und Herren, die Akzeptanz des Umweltauditsystems ist ein Prüfstein dafür, ob in Zukunft marktwirtschaftliche Instrumente zur Verbesserung des Umweltschutzes eine Chance haben werden. Frau Merkel sagte bei der ersten Lesung, es liege natürlich auch im Interesse der Länder, daß die Übergangsphase bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes möglichst kurz ist. Die Übergangsphase begann, wie wir wissen, am 13. April. Nun hat es der Bundesrat in der Hand, diesem Gesetz zu einem schnellen Durchbruch zu verhelfen.
Ich bin zuversichtlich, daß der Bundesrat in seiner Sitzung im Juli diesem Gesetz seine Zustimmung nicht versagen wird. Denn er hat in seiner Stellungnahme von Anfang Juni bereits das Konzept akzeptiert und teilweise begrüßt. Eine Verweigerung der Zustimmung bedeutete eine Lähmung des Umweltschutzes und des Wirtschaftsstandorts Deutschland, weil Chancen vertan, mindestens zeitlich ausgesetzt würden.
Das Gesetz legt für einen neuen Beruf, den Beruf des Umweltgutachters, ein hohes Qualifikationsniveau fest. Zusammen mit einer wirtschaftsnahen Organisationsstruktur ist es Voraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung des betrieblichen Umweltschutzes. Es bietet zusätzlich die Option, Genehmigungsverfahren künftig weiter zu vereinfachen, ohne dabei den materiellen Umweltschutz zu verwässern oder auf eine Öffentlichkeitsbeteiligung zu verzichten.
Herzlichen Dank.
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Umweltgutachter- und Standortregistrierungsgesetzes, Drucksachen 13/1192, 13/1359 und 13/1755.Zum Koalitionsentwurf liegen je ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor, über die wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 13/1757? - Wer stimmt gegen diesen Antrag? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Metadaten/Kopzeile:
3502 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995
Vizepräsident Hans KleinWer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/ 1759? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Änderungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.Der Ausschuß empiehlt, die Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zusammengefaßt in der Ausschußfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen gedenken, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen.Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nummer II seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist mit allen Stimmen der Koalition gegen alle Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/1756.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Adolf Ostertag, Rudolf Dreßler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes
- Drucksache 13/1440 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
zu dem Antrag der Fraktion der SPD Bündnis gegen Arbeitslosigkeitzu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck , Annelie Buntenbach, Andrea Fischer (Berlin) und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENAktionsprogramm Arbeitspolitikzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Christa Luft, Christina Schenk und der weiteren Abgeordneten der PDSZukunftssicherung von Sozialstaat, Arbeit und Lebensstandort- Drucksachen 13/19, 13/578, 13/702, 13/ 1719 -Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Gisela BabelNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache mit der Worterteilung an den Kollegen Ottmar Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es besteht hier im Hause wohl allgemeiner Konsens darüber, daß am Ziel der Vollbeschäftigung festgehalten werden soll. Das bezeugen die Koalitionsvereinbarungen der Regierungsfraktionen. Ein weiterer Beleg ist die Tatsache, daß der Bundesarbeitsminister vor wenigen Wochen auf dem Weltsozialgipfel ein Dokument unterzeichnet hat, in dem sich die Unterzeichnerstaaten zur Vollbeschäftigungspolitik in ihren nationalen Staaten verpflichten.
Jenseits dieses hochabstrakten Konsenses, am Vollbeschäftigungsziel festzuhalten, führen die Wege allerdings auch in diesem Hause weit auseinander. Festzuhalten ist schon gleich zu Beginn, daß die Bundesregierung selbst Ansätze, schattenhafte Umrisse eines Konzeptes, wie Vollbeschäftigung erreicht werden kann, bis zur Stunde schuldig geblieben ist. Sie hat überhaupt keine Überlegungen angestellt, auf welchem Wege, mit welchen Instrumenten sie das Ziel der Vollbeschäftigung erreichen will - nichts, totale Fehlanzeige, absolut nichts.
Deshalb sind die Dokumente, die Sie unterzeichnen, im Grunde genommen nichts wert, deshalb ist die Tinte, die Sie dazu benutzen, das im Grunde genommen gar nicht wert. Wer nicht in der Lage ist, den Menschen zu erklären - nach allen Umfragen, die wir bis zur Stunde kennen, sagt der ganz überwiegende Teil unserer Bevölkerung, daß die Angst vor Arbeitslosigkeit, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes seine zentrale Sorge ist -, wie man dieses Ziel erreichen will, der handelt total unglaub-
Ottmar Schreiner
würdig und dem nimmt man auch nicht mehr ab, daß er Vollbeschäftigung wirklich will.
Wir Sozialdemokraten verfolgen ein Dreisäulenkonzept. Wir wollen erstens möglichst umweltverträgliches Wirtschaftswachstum, weil wir wissen, daß umweltfreundlichen Produkten und umweltfreundlichen Produktionsverfahren die Zukunft auf den Märkten gehört. Nach allen Prognosen, die uns zur Verfügung stehen, wissen wir aber auch, daß ein Wirtschaftswachstum von etwa 3 % - so lauten die Prognosen - bestenfalls ausreicht und tauglich ist, die Massenarbeitslosigkeit von noch immer nahezu 4 Millionen Menschen marginal zurückzuführen.
Wir wissen, daß die Beschäftigungsschwelle des Wachstums bei etwa 2 % liegt, daß nur wirtschaftliches Wachstum oberhalb von 2 % überhaupt positive Beschäftigungseffekte erzeugt. Wir wissen, daß jeder Prozentsatz des Wirtschaftswachstums oberhalb von 2 % einen Beschäftigungseffekt von etwa 150 000 Arbeitsplätzen bedeutet. Man kann also an fünf Fingern abzählen, daß das Riesenproblem der Massenarbeitslosigkeit nicht über wirtschaftliche Wachstumsprozesse lösbar sein wird.
Wir Sozialdemokraten wollen zweitens eine grundlegende Umverteilung der Arbeitszeit. Verglichen mit der heutigen Situation ist die vergleichsweise gute Beschäftigungsentwicklung in den 80er Jahren überhaupt nur auf Grund tariflich vereinbarter Arbeitszeitverkürzungen erklärbar, da das gesamtgesellschaftliche Arbeitsvolumen von 1983 bis 1993 um 0,4 % gesunken ist. Alle damaligen Bemühungen der Tarifparteien, die Arbeitszeiten zu senken, sind von der Bundesregierung mit großer Demagogie begleitet worden - töricht, absurd und dumm; es sei nur daran erinnert.
Wir Sozialdemokraten wissen drittens, daß wirtschaftliches Wachstum und eine Umverteilung der Arbeitszeit zwar notwendige Beiträge für eine Vollbeschäftigungspolitik sind, aber bei einem Sockel von noch immer nahezu 4 Millionen Arbeitslosen keineswegs hinreichen werden, eine Vollbeschäftigungspolitik wirklich zu begründen. Genau in diesem Kontext, in diesem Zusammenhang sind unsere Vorschläge für ein neues Arbeits- und Strukturförderungsgesetz zu sehen; genau hier zeigen sich die positiven Wirkungen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Bei anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit muß auch die aktive Arbeitsmarktpolitik ihrerseits einen spürbaren Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit leisten. Wer dies ablehnt, meine Damen und Herren, wer dies als ABM-Sozialismus denunziert, der muß hier und jetzt seine eigene alternative Strategie zur Wiedergewinnung von Vollbeschäftigung offenlegen und in diesem Hause diskussionsfähig machen.
Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist in den letzten Jahren nahezu restlos verkümmert.
In der Sondernummer der amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit mit dem Titel „Arbeitsmarkt 1994" vom 16. Juni dieses Jahres heißt es:
Somit verringerte sich der Anteil der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik an den öffentlichen Gesamtausgaben weiter stark, nämlich von 31 % im Vorjahr auf 27 % im Jahre 1994.
Das kann man doch wohl mit der Bemerkung „starke Verkümmerung der aktiven Arbeitsmarktpolitik" kommentieren.
Wir Sozialdemokraten wollen dagegen Arbeit fördern, statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Wir wollen einen Regelmechanismus in das Arbeitsförderungsgesetz hineinschreiben, der sicherstellt, daß mehr als die Hälfte der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit für die aktive Förderung von Arbeit verwandt wird statt zur phantasielosen, passiven Finanzierung von Arbeitslosigkeit. Es ist ein Skandal, daß es tatenlos hingenommen wird, daß die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit in Deutschland 140 Milliarden DM im letzten Jahr betrugen. Das sind Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit. 4 Millionen Arbeitslose sind eine unglaubliche Vergeudung von menschlichen Ressourcen, und 140 Milliarden DM Kosten der Arbeitslosigkeit sind eine unglaubliche Vergeudung der knappen fiskalischen Mittel.
Wir wollen vor allem den Regionen besonders helfen, die von der Arbeitslosigkeit in sehr hohem Maße betroffen sind. Wir wollen öffentliche Projekte fördern, die anders nicht finanzierbar wären, zur Verbesserung der Umwelt, zur Verbesserung sozialer Dienste und der Jugendpflege. Wir wollen Mittel bündeln, die bislang getrennt verausgabt wurden, und als Basismittel diejenigen einsetzen, die bislang als Lohnersatzleistungen ausgeschüttet werden.
Wir wollen arbeitslose Sozialhilfeempfänger in die aktive Arbeitsförderung einbeziehen: Das ist tausendmal besser, als sie auszugrenzen und sie öffentlich zu diffamieren. Ihnen sollte man Integrationsaugebote im Rahmen der Förderung von Arbeit machen. Wir wollen die Frauen stärker an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und den Qualifizierungsmaßnahmen beteiligen als bisher. Wir wollen jungen Unternehmen über Lohnkostenzuschüsse bei der Einstellung von Arbeitslosen über die häufig schwierige erste Strecke nach der Existenzgründung hinweghelfen.
Ottmar Schreiner
Wir wollen die Bundesanstalt für Arbeit grundlegend zu einem modernen, basisnahen Dienstleistungsunternehmen umbauen. Wir wollen die Bundesanstalt umbauen, wir wollen sie aber nicht, wie Sie, Herr Kollege Louven, in Ihrem Papier, zerschlagen.
Leitgedanke der Arbeitsmarktpolitik von uns ist: Wir wollen soziale Teilhabe der Menschen statt Ausgrenzung.
Wir wollen Qualifikation, statt den Verfall des Arbeitsvermögens und häufig auch den Verfall der betroffenen Menschen und ihrer Familien tatenlos hinzunehmen. Das ist auch fiskalpolitisch gut zu vertreten. Wenn wir über eine aktive Arbeitsmarktpolitik 500 000 Menschen aus der offenen Arbeitslosigkeit herausführen, kostet dies nach unseren Berechnungen etwa 5 Milliarden DM.
Diejenigen, die über Nacht bereit waren, 17 Milliarden DM zur Mitfinanzierung des Golfkrieges bereitzustellen, haben überhaupt keine Legitimation, die fiskalpolitische Seriosität dieser Überlegungen anzuzweifeln.
- Nein, das tut nicht weh; das ist so. Denn es wird ja häufig von Ihnen gesagt, das alles sei nicht finanzierbar.
Es ist eine gesellschaftspolitische Wertentscheidung, ob uns die gesellschaftliche Integration einer halben Million Menschen in Deutschland 5 Milliarden DM wert ist oder nicht.
Das ist eine fiskalpolitische Wertentscheidung, der Sie zustimmen können oder auch nicht.
Ich frage auf der anderen Seite: Was will die Koalition? - Auch in der Union wachsen diejenigen Kräfte, die eine völlig andere, eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik wollen. Symptomatisch für diese Entwicklung ist ein Positionspapier des Kollegen Julius Louven, des sozialpolitischen Sprechers der Unionsfraktion, der gleich nach mir reden wird.
Herr Louven, die Stichworte Ihres Positionspapieres lauten: Beschäftigungsfeindliche Lohn- und Arbeitszeitpolitik,
beschäftigungshemmende Regulierung des Arbeitsmarktes,
negative Anreizwirkungen zu hoher Lohnersatzleistungen für die Arbeitslosen.
- Sie wissen doch gar nicht mehr, wie hoch die Lohnersatzleistungen sind, wie hoch die Arbeitslosenhilfe ist. Versuchen Sie doch einmal, mit 800 DM Arbeitslosenhilfe einen Monat lang auszukommen; dann würden Sie hier nicht mehr dazwischenrufen: Sehr richtig!
Auch Kollege Louven weiß nicht mehr, mit welch dürftigen Mitteln diese Menschen gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Weiter wird in diesem Positionspapier die faktische Zerschlagung der Bundesanstalt für Arbeit vorgeschlagen, starke Angriffe auf die Tarifautonomie werden gemacht.
Die Stichworte des Kollegen Louven in seinem Positionspapier für die CDU/CSU-Fraktion finden eine konzeptionelle Bündelung in dem Vortrag eines sachverständigen Professors bei der Anhörung der Anträge zur Massenarbeitslosigkeit vor wenigen Wochen im zuständigen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Dort wurde ein völlig anderes Dreisäulenkonzept vorgetragen, das allerdings nur die Einzelüberlegungen des Kollegen Louven in einen konzeptionellen Gesamtzusammenhang gebracht hat.
Die Stichworte sind: Erstens Enttarifierung der Lohnfindung. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen auf individuelle arbeitsvertragliche Lohnfindungen zurückgeworfen werden. Der große historische Erfolg der Tariflöhne liegt doch gerade darin, daß auf Grund der strukturellen Schwäche des einzelnen Arbeitnehmers die Arbeitnehmergemeinschaft über ihre Gewerkschaften versucht, zu einem halbwegs annehmbaren Lohn für die Menschen zu kommen.
Zweitens geht es um massive Absenkung der Sozialeinkommen, um damit drittens das eigentliche Ziel zu erreichen, nämlich eine Spreizung der Löhne nach unten, also die Etablierung eines Niedrigstlohnsektors.
Das sind die eigentlichen konzeptionellen Ziele, wie sie auch in dem Papier des Kollegen Louven zu finden sind. In einem solchen Konzept hat allerdings jede aktive Arbeitsmarktpolitik ihre Berechtigung verloren. Sie kann nur störend wirken.
Hier geht es nicht mehr um die solidarische Hilfe zur Integration von Arbeitslosen, sondern hier geht es im Kern darum, die Menschen so tief in den Schmutz zu drücken, daß sie zu jeder Arbeit und zu jedem Preis bereit sind. Das ist der Kern dieser Überlegungen.
Ottmar Schreiner
Das hat mit dem christlichen Menschenbild überhaupt nichts mehr zu tun. Das ist auch keine Sozialpolitik mehr. Das ist die totale Ökonomisierung der Sozialpolitik und letztlich des Menschen selbst, lieber Kollege Louven.
Sie vergessen - das ist der eigentliche Vorhalt -, daß über 50 Jahre hinweg stabile demokratische Entwicklungen in Deutschland auch und nicht zuletzt nur wegen der hohen gesellschaftlichen Integrationsleistung der sozialstaatlichen Politik möglich waren. Genau das wollen Sie zu den Akten legen.
Das Weißbuch der EG-Kommission Wachstum und Beschäftigung vom Dezember 1993 kommentiert ihre Überlegungen so:
So würde insbesondere die breitere Lohndifferenzierung nach unten zu einem realen Rückgang der niedrigsten Löhne führen. Dies wäre aber nur dann machbar, wenn auch die Arbeitslosen- und Sozialversicherungsleistungen gesenkt würden. Dies würde die bestehende Einkommensverteilung noch ungleicher machen und könnte im Extremfall eine neue Kategorie von „erwerbstätigen Armen" schaffen, die von ihrem Lohn nicht annehmbar leben könnten und so in ähnlicher Weise marginalisiert würden wie die Arbeitslosen.
Genau das wäre das Ergebnis Ihres Konzepts. Das Ergebnis dieses Konzepts finden Sie in Großbritannien. Dort hat die Politik über Jahre hinweg nichts anderes betrieben als das, was Sie in Ihrem Koalitionspapier vorschlagen. Das Ergebnis für Großbritannien ist nachgerade niederschmetternd: noch höhere Arbeitslosigkeit als in Deutschland und auch wirtschaftspolitisch weit weniger Pro-Kopf-Leistungen im Bereich des Bruttoinlandsprodukts als in Deutschland.
Die Ergebnisse sind wirtschafts-, beschäftigungsund sozialpolitisch geradezu verheerend, und das in einem Land, das über Jahre hinweg mit der herrschenden Politik entlang Ihren Konzepten gearbeitet hat.
Ich will Ihnen zum Abschluß ein Zitat von Tony Blair, dem Vorsitzenden der Britischen Labourpartei, nahelegen, der vor wenigen Tagen, am 30. Mai, vor der SPD-Bundestagsfraktion gesprochen hat:
Drittens müssen wir die Partei der sozialen Integration sein, die Partei, die den Standpunkt vertritt, daß 10, 15 oder 20 % der Menschen am Rand der Gesellschaft leben, abgeschnitten, abgewertet, arbeitslos, meist aufgewachsen in einem Umfeld voller Verbrechen, Drogenmißbrauch und familiärer Instabilität. Dies können wir in einer anständigen und zivilisierten Gesellschaft nicht hinnehmen. Wir müssen unseren Wohlfahrtsstaat so umbauen, daß er seine ursprünglichen Zwecke erfüllt, diese heute ausgeschlossenen Menschen integriert werden und auch ihnen die Möglichkeit geboten wird, die von uns geschaffenen Chancen zu nutzen.
Das wäre das eigentliche Ziel eines Umbaus von Sozialstaat und nicht das, was Sie bezwecken, nämlich den Abbau des Sozialstaats, die Ausgrenzung von Menschen, die Entwürdigung von Menschen und dergleichen mehr.
Zuallerletzt noch ein Zitat eines Frankfurter Strafrechtsprofessors, der vor wenigen Wochen den 19. Deutschen Strafverteidigertag eröffnet hat:
Es ist nicht nur eine feierliche Redeweise, wonach eine gute Sozialpolitik die beste Art von Kriminalpolitik sei, es ist vielmehr eine dringende Aufforderung, die Perspektiven langfristig anzulegen und sie trotzdem mit Inhalten zu versehen. „Langfristig" heißt nicht, daß man mit dem Entwerfen und dem Einsatz von Alternativen noch zuwarten könne; „langfristig" heißt, daß man die Wirkungen des Einsatzes nicht sofort erwarten darf. Langfristig müssen wir also hoffen dürfen auf Zustände, welche die Jungen, die Armen, die Schwachen und die Fremden besser schützen und eingliedern.
Wir können auf diese Zustände nur hoffen, wenn wir möglichst bald eine andere, eine neue Bundesregierung bekommen.
Schönen Dank.
Herr Kollege Louven, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schreiner, zunächst begrüße ich, daß Sie mein Strategiepapier gelesen haben.
- „Lesen bildet", sagt die Kollegin Babel. Ich muß allerdings feststellen: Sie haben aus diesem Papier Dinge herausgelesen, die überhaupt nicht drinstehen.
Vor allen Dingen können Sie mir nicht vorwerfen, daß mein Papier dazu führt, daß wir in Deutschland englische Verhältnisse bekommen.
Julius Louven
k) Vielmehr habe ich in dem Papier deutlich gemacht, Herr Kollege Schreiner, wie sich beispielsweise sozialdemokratisch regierte Länder derzeit auf die Arbeitsmarktsituation einstellen.
Auffallend war für mich, daß Sie recht wenig zu Ihrem Gesetzentwurf gesagt haben, der hier zur Debatte steht. Das ist ja immerhin ein Gesetzentwurf mit 123 Seiten; mit dem haben Sie sich so gut wie überhaupt nicht auseinandergesetzt.
Deshalb erlaube ich mir, nun auch verstärkt auf Ihren Gesetzentwurf einzugehen, sage Ihnen aber abschließend noch zu Ihrer Vorbemerkung: Ich stehe zu meinem Papier, und ich komme auch jetzt in meinen Ausführungen auf das eine oder andere noch zurück.
Meine Damen und Herren!
Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in Deutschland ist überwiegend Folge einer weltweiten Rezession, die sich wegen der D-MarkAufwertung und der ausgeprägten Exportorientierung unserer Volkswirtschaft in Deutschland besonders stark auswirkt. Die Sonderprobleme der deutschen Einheit verstärken und überlagern die Krise.
Dies steht in einem Papier der Arbeitsgruppe „Arbeits- und Sozialpolitik" der SPD-Fraktion von Oktober 1993. - Frau Kollegin Rennebach, Sie schauen mich so entsetzt an, zu Recht.
Ich teile zwar nicht die Bewertung, daß im wesentlichen die Rezession Schuld an unseren Arbeitsmarktproblemen hat; aber mit Ihren Aussagen in diesem Papier erklären Sie sehr deutlich, daß man der Bundesregierung die hohe Arbeitslosigkeit wohl nicht anlasten kann, Herr Schreiner.
Ich sage dies ganz bewußt am Anfang, weil ich mich darüber wundere, meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie trotz dieser Erkenntnis, die ja in diesem Papier steht, die Arbeitsmarktdebatte immer noch nach dem alten Ritual führen: Sie werfen uns vor, wir täten nichts, und wir rechnen Ihnen dann vor, was wir getan haben, und vergleichen das mit dem, was Sie getan haben, solange Sie regiert haben.
Ich meine, wir sollten die Debatte so nicht weiterführen.
Angesichts der Tatsache, daß trotz des prognostizierten Wirtschaftswachstums von 3 % die Arbeitslosigkeit nach Schätzungen der Bundesanstalt nur um 150 000 bis 170 000 zurückgeht - Herr Kollege
Schreiner hat dies ja gerade auch ausgeführt -, müßte uns doch eigentlich klar werden, daß wir mit herkömmlichen Mitteln die Probleme nicht bewältigen können.
Nun hatte ich nach den verschiedenen Äußerungen auch aus Ihren Reihen zu den Arbeitskosten - so von Herrn Scharping zum Thema Maschinenlaufzeit und Flexibilität des Arbeitslebens; er hat uns ja auch für unsere gesetzliche Änderung der Sonntagsarbeit gelobt -
gehofft, daß bei Ihnen ein Umdenken eingesetzt hat. Mit dem Gesetzentwurf, Herr Schreiner, haben Sie allerdings nichts, aber auch gar nichts Neues auf den Weg gebracht.
In der Zielsetzung - davon gehe ich aus - sind wir uns einig: Massenarbeitslosigkeit ist ein zentrales gesellschaftliches und politisches Problem. Sie muß entschieden bekämpft werden.
Nicht einig sind wir - das wird hier deutlich - in der Wahl der geeigneten Mittel, sie zu bekämpfen.
Wer krank ist, Herr Gilges, erwartet, daß zunächst diagnostiziert und dann therapiert wird. Anderenfalls besteht die Gefahr, daß falsche Wege beschritten werden,
daß die Krankheit nicht gestoppt wird, sondern voranschreitet.
Der entscheidende Mangel Ihres Entwurfs besteht darin, daß diese Grundregel - Diagnose vor Therapie - mißachtet wird.
Herr Kollege Louven, der Herr Kollege Urbaniak möchte jetzt eine Zwischenfrage stellen.
Dafür bin ich nicht zuständig, Herr Kollege.
Das Mikrofon klappt. Das kann ich dem Kollegen bestätigen; der ist schon ganz unruhig.
Kollege Louven, Sie sagten, Sie wollten die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Nun wissen wir ja, wie
Hans-Eberhard Urbaniak
I lange Sie regieren. Das ist eine viel zu lange Zeit; darüber sind wir uns einig.
Sie haben von den Wachstumsprognosen gesprochen. Sie wissen, daß die alle zurückgenommen worden sind. Sie können hören: Telekom - 100 000 Beschäftigte zuviel, Bahn AG - 150 000 zuviel, Post AG - ebenfalls über 100 000 zuviel. Das gilt auch für Mercedes, den Handel und die Banken. Alle reduzieren die Zahl ihrer Arbeitskräfte.
Herr Kollege, Frage! Das ist ein Debattenbeitrag!
Wie wollen Sie konkret von dieser Massenarbeitslosigkeit herunter kommen? Wir haben bereits jetzt über eine Million Dauerarbeitslose. Es ist unverantwortlich, die Menschen in der Dauerarbeitslosigkeit zu belassen. Wie wollen Sie das bekämpfen? Das möchte ich gern wissen.
Lieber Herr Kollege Urbaniak, ich rede hier erst vier Minuten. Eigentlich rede ich zu Ihrem Gesetzentwurf. Im Rahmen meiner Rede komme ich natürlich auch darauf zurück, was unsere Vorstellungen sind. Davon können Sie schon ausgehen. Ich habe noch gute zwanzig Minuten zu
reden; warten Sie ab!
Meine Damen und Herren von der SPD, der Faktor Arbeit - das hat ja auch Ihr Kollege Klose im „Spiegel"-Interview dieser Woche sehr deutlich gemacht -
ist bei uns zu teuer. Ich bleibe bei meiner Behauptung, daß wir in Deutschland Arbeit genug haben, aber die Arbeitskräfte werden aus Kostengründen nicht eingestellt.
Im übrigen hat dies die Arbeitsministerin von Brandenburg, Frau Hildebrandt, neulich in einer Veranstaltung in meinem Wahlkreis sehr deutlich gesagt: Arbeit gibt es genug, aber sie ist zu teuer. Das waren Äußerungen von Frau Hildebrandt und von Herrn Klose.
Die Arbeitskosten, meine Damen und Herren, sind es doch letztlich auch, die uns veranlassen, in bestimmten Bereichen ordnend einzugreifen.
- Herr Schreiner, Sie haben eben sehr versöhnlich angefangen, dann wurden Sie immer lauter. Ich habe Ihnen dennoch zugehört. Wenn Sie nun dauernd dazwischenrufen, dann - -
- Wenn Sie mir helfen wollen, dann ist das zwar schön, aber warten Sie doch einmal ab.
Herr Kollege Schreiner, Sie hatten gerade 15 Minuten Redezeit.
Wir müssen derzeit an vielen Stellen ordnend eingreifen. Ich nenne das Thema Entsenderichtlinie. Ich nenne den Themenbereich Scheinselbständigkeit und den Themenbereich des Ausuferns der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Dies alles ist Flucht aus dem teuren Arbeitsmarkt Deutschland.
Herr Schreiner, aber ich nenne auch die Zahl von 3 200 osteuropäischen Saisonarbeitnehmern, die derzeit in meinem Wahlkreis tätig sind. Bundesweit sind es wohl über 900 000 legal Beschäftigte. Dabei wissen wir alle, daß noch eine große Zahl illegaler Beschäftigter dazukommt. Das sind Manöver, um dem teuren Arbeitsmarkt Deutschland zu entgehen. Soweit, meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, zur Diagnose.
Wie sieht nun Ihre Therapie aus? Leitbild Ihres Gesetzentwurfs ist: Für die Sicherung der Beschäftigung und' die Verhinderung von Arbeitslosigkeit ist zuallererst der Staat verantwortlich. Im einzelnen bedeutet dies dann bei Ihnen:
Erstens. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik trägt die Hauptverantwortung für die Beschäftigungssicherung und die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Zweitens. Hinzukommen muß eine Arbeitszeitpolitik mit dem Ziel von Arbeitszeitverkürzungen.
Drittens. Sie wollen eine staatliche Arbeitsförderung, die den Vorrang der aktiven Arbeitsmarktpolitik vorschreibt.
Sie knüpfen hiermit an sozialdemokratische Positionen der 60er und 70er Jahre an. Ich nenne hier nur in Stichworten die Vollbeschäftigungsgarantie, die Bundeskanzler Brandt geben wollte, oder die Äußerung seines Nachfolgers Schmidt, der meinte, Inflation in Kauf nehmen zu können, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Sie ignorieren völlig die Erfahrungen, die wir seinerzeit in Deutschland, aber auch in anderen Ländern mit einer derartigen Politik gemacht haben. Ihr Gesetz ist ein weiteres Beispiel für die von Ihrem Parteikollegen Klose im „Spiegel" geäußerte Kritik. Sie nehmen die Realitäten nicht wahr. Sie zimmern sich Ihr eigenes Bild der Wirklichkeit und orientieren Ihre Politik daran.
Julius Louven
Ihr Gesetzentwurf ist ein Rückschlag. Aber das liegt wohl auch daran, daß er im wesentlichen schon älteren Datums ist; denn laut § 316 Abs. 1 - lesen Sie das mal nach - sollte er bereits am 1. Juli 1994 in Kraft treten.
Ich will jetzt noch kurz auf die drei von mir vorhin angesprochenen Punkte eingehen.
Die Regierung Schmidt versuchte seinerzeit, die Arbeitslosigkeit durch kreditfinanzierte Ausgaben zu bekämpfen. Das Ergebnis war: Die Neuverschuldung schnellte damals explosionsartig hoch von rund 2 Milliarden DM im Jahre 1973 auf rund 60 Milliarden DM Anfang der 80er Jahre. Dennoch stieg die Arbeitslosigkeit in zwei großen Schüben, und zwar von 273 000 im Jahr 1973 auf über 2 Millionen Ende 1982. Mit dieser Politik ist die Arbeitslosigkeit dramatisch angestiegen, aber auch die Inflation. Ich teile deshalb nicht die oft geübte Kritik an der Geldpolitik der Bundesbank. Unsere Arbeitsmarktprobleme können durch eine vermeintlich beschäftigungsorientierte Zins- und Wechselkurspolitik nicht gelöst werden.
In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs heißt es dann weiter:
Das allein
- gemeint ist Ihre beschäftigungsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik -
reicht nicht aus. Hinzu kommen muß eine Arbeitszeitpolitik mit Arbeitszeitverkürzungen und eine gerechtere und intelligentere Verteilung der Arbeit.
Das hört sich zunächst gut an, Herr Schreiner. Wir wissen aber inzwischen alle oder sollten es zumindest wissen, daß durch eine zwangsweise Verkürzung der Arbeitszeit die Arbeit insgesamt verteuert wird, was wiederum zu mehr Arbeitslosigkeit führt.
- Ich komme gerade darauf, Frau Kollegin. Sie haben das schon einmal gehört, und Sie kennen es auch.
Ich habe an dieser Stelle schon einmal, nämlich bei der Beratung Ihres Antrags „Bündnis gegen Arbeitslosigkeit", aber auch im Ausschuß darauf hingewiesen, daß die OECD im vergangenen Jahr eine bemerkenswerte, umfassende Beschäftigungsstudie vorgelegt hat. Wörtlich heißt es in dieser Studie:
Eine gesetzlich verordnete allgemeine Arbeitsplatzteilung bekämpft die Arbeitslosigkeit nicht durch eine Erhöhung der Zahl der Arbeitsplätze dank verstärkter Wirtschaftstätigkeit, sondern durch die Rationierung der Erwerbsarbeit. Eine erzwungene Aufteilung der Arbeitsplätze hat die
Arbeitslosigkeit noch in keinem Fall signifikant verringert.
Unterstützung findet bei der OECD allerdings der von uns favorisierte Weg der Förderung freiwilliger Vereinbarungen über Teilzeitarbeitsplätze. Unsere Teilzeitoffensive, die auf eine Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeit zurückgeht, wonach eine Million Arbeitnehmer in Deutschland an weniger Arbeit interessiert sind, verordnet keine Arbeitszeitverkürzungen, sondern ist ausdrücklich auf Freiwilligkeit abgestellt.
Schließlich zu meinem dritten Kritikpunkt, nämlich der Forderung nach einer flächendeckenden Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Sie wollen den Vorrang der aktiven Arbeitsmarktpolitik verbindlich vorschreiben, den Umfang der zu fördernden Projekte sowie den zu fördernden Personenkreis erheblich ausweiten und sogar einen Rechtsanspruch auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einräumen.
Herr Kollege Schreiner, Sie haben hier schon einmal ausgeführt, und eben haben Sie es auch wieder gesagt, Sie wollten nicht den Weg in eine ABM-Gesellschaft gehen. Nichts anderes steht allerdings in Ihrem Gesetzentwurf.
Unstreitig ist, daß wir in den neuen Bundesländern in den Jahren nach der Wende besondere Wege gehen mußten. Inzwischen machen mich aber die Erfahrungen zu ABM und F-und-U zunehmend nachdenklich. Ich würde es begrüßen, wenn wir einmal in aller Nüchternheit über die derzeit praktizierte Arbeitsmarktpolitik reden könnten.
Herr Kollege Schreiner, ich war vorgestern bei einer Veranstaltung der Landschaftsgärtner. Viele Kollegen Ihrer Fraktion waren anwesend. Dort hat der Präsident dieser Organisation ausgeführt, daß zwei Drittel aller Berufstätigen in dieser Branche über ABM beschäftigt sind und damit Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt massiv behindert werden.
- Aber sie behindern, Herr Urbaniak - das können Sie doch nicht bestreiten -, damit doch den ersten Arbeitsmarkt.
Ich bringe Ihnen ein zweites Beispiel. Ich habe einen Berufskollegen, der sich in Sachsen eine beachtliche Bäckerei und Konditorei aufgebaut hat und der mir einmal erklärte: Nun habe ich auch den Auftrag, zwei Krankenhäuser mit Brot, Brötchen und Backwaren, also Kuchen und Gebäck, zu beliefern. Letzten
Julius Louven
Sonntag erzählte er mir, der Backwarenauftrag sei ihm entzogen worden, weil die Krankenhäuser mitgeteilt hätten, diese Arbeit würden sie mit ABM- Kräften erledigen.
So ist ABM nicht gedacht. ABM soll in den ersten Arbeitsmarkt führen.
Wir müssen, meine Damen und Herren, auch über Fortbildung und Umschulung reden. So notwendig diese Maßnahmen auch sind - ich will das nicht bestreiten -, wir brauchen mehr Zielgenauigkeit, und damit werden wir uns jetzt verstärkt auseinandersetzen.
Die Arbeitsmarktpolitik kostet viel Geld. Wir sollten darüber reden dürfen, wieso wir für einige hunderttausend Personen ABM anbieten, während über drei Millionen in der Arbeitslosigkeit mit geringeren Leistungen verharren müssen.
Herr Kollege Louven, der Kollege Brecht würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Louven, ich möchte gerne auf Ihr Beispiel mit den Landschaftsgärtnern zurückkommen. Glauben Sie allen Ernstes, daß die von Ihnen erwähnten zwei Drittel ABM-Beschäftigte tatsächlich in den ersten Arbeitsmarkt überführt werden könnten angesichts der Tatsache, daß z. B. ostdeutsche Kommunen überhaupt nicht in der Lage sind, diesen Bereich durch kommunale Mittel finanziell abzudecken?
Es ist dort - Kollegen Ihrer Fraktion waren dabei - sehr dezidiert auch an Hand von Zahlen dargestellt worden, daß zwei Drittel der Arbeitnehmer im Landschaftsbau über ABM tätig sind und über Gesellschaften Tätigkeiten angeboten werden, mit denen private Anbieter nicht mehr konkurrieren können.
Damit ist eine Behinderung für den ersten Arbeitsmarkt gegeben. So ist ABM nicht gedacht.
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr Gesetzentwurf ist für mich nichts anderes als Reparaturpolitik. Sie wollen die Probleme nicht dort lösen, wo sie entstehen und gelöst werden müßten, nämlich auf dem Arbeitsmarkt, d. h. bei den Arbeitskosten
und bei der Arbeitsmotivation. Statt ständig auf den Staat zu schielen, zu regulieren, zu verwalten und zu verordnen, müssen wir den Mut haben, einmal sehr deutlich herauszustellen, daß die Tarifvertragsparteien - jetzt komme ich zu diesem Thema, Herr Schreiner - in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung tragen.
So sehr mir daran liegt, deutlich zu machen, daß die Tarifpartner wesentlich zum sozialen Frieden beigetragen haben, muß man aber auch sagen dürfen, daß die Tarifverhandlungen in vielen Jahren, von Ausnahmen abgesehen, zu sehr die Insider, also diejenigen, die in Arbeit sind, im Auge hatten und nicht diejenigen, die draußen vor der Tür stehen und die man uns dann in Nürnberg präsentiert.
Wir haben es auf dem Arbeitsmarkt mit mehreren Problemen gleichzeitig zu tun: zum ersten mit den Folgen eines strukturbedingten Verlustes an Industriebeschäftigung, zum zweiten mit konjunkturell bedingten Problemen und zum dritten mit der Verfestigung von Arbeitslosigkeit. Alle drei Entwicklungen sind auch auf eine nicht auf Beschäftigung orientierte Tarifpolitik zurückzuführen. Hierauf hat in aller Schärfe auch die Monopolkommission aufmerksam gemacht.
Ich denke, sie hat einen ganz entscheidenden wunden Punkt getroffen. Die Monopolkommission spricht in diesem Zusammenhang vom pathologischen Lernen.
Die Antwort, meine Damen und Herren von der SPD, die Sie darauf geben wollten, nämlich dieser Monopolkommission einen Maulkorb umzuhängen,
zeigt mir, daß Sie eine Auseinandersetzung über die Beschäftigungswirkung der Tarifautonomie fürchten.
Ich kann in diesem Zusammenhang aber auch einen anderen nennen, der wohl nicht in dem Verdacht steht, der Koalition politisch nahezustehen, nämlich Edzard Reuter, den Chef von MercedesBenz, der in einem „Welt"-Interview erklärt hat, daß beispielsweise der letzte Tarifabschluß in der Metallbranche noch einmal einige zigtausend Arbeitsplätze kosten wird. Ähnlich äußerte sich jüngst auch die Bundesbank: „Die Ergebnisse der Lohnrunde lassen keinen Raum für eine deutliche Beschäftigungsausweitung. "
Was ist nun nach meiner Meinung zu tun, um Arbeitslosigkeit abzubauen?
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, oder was ist das?
Herr Kollege Louven, Sie brauchen auf Zwischenrufe nicht einzugehen. Wenn Sie abwarten, bis er ausgesprochen hat, ist das dann Ihr Nachteil.
Dann fahre ich fort. - Zunächst müssen wir uns darauf verständigen - das scheint mir notwendig zu sein -, daß Arbeitsplätze von Unternehmen geschaffen werden, aber nur dann, wenn sie gewinnbringend sind, und für gewinnbringende Arbeitsplätze müssen die Arbeitskosten niedriger ausfallen als die Erlöse. Die Zeiten, in denen wir hohe Arbeitskosten ohne weiteres auf die Preise der Industrie- und insbesondere der Exportgüter aufschlagen konnten, sind wohl endgültig vorbei. Die Konkurrenz schläft nicht. Arbeitskosten zu senken ist Aufgabe der Tarifpartner, aber auch Aufgabe der Politik.
Wir müssen uns um die Lohnzusatzkosten kümmern,
und wenn hier unsererseits versucht wird, durch Mißbrauchsbekämpfung Kosten zu sparen, sollten Sie nicht gleich von Verrat am Sozialstaat reden.
Herr Kollege Schreiner,
mich stören auch die einigungsbedingten zusätzlichen 1,5 bis 2 % Sozialversicherungsbeiträge.
An dieser Problematik arbeiten wir. Wir wollen erreichen, daß die Lohnzusatzkosten, auch die gesetzlich bedingten, sinken.
Die Niederlande, Belgien, Schweden, Finnland, aber auch andere europäische Länder - ob christdemokratisch, konservativ oder sozialdemokratisch regiert - haben hier längst energisch gehandelt, weil sie erkannt haben, daß an Einsparungen in bestimmten Bereichen kein Weg vorbeiführt.
Herr Kollege Louven, der Kollege Dreßen würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Louven, Sie haben von der Absenkung der Lohnnebenkosten gesprochen, was auch bei uns sehr positiv gesehen wird. Meinen Sie, daß wir mit 500 Millionen DM, die wir vielleicht durch die Verhinderung von Mißbrauch hereinbekommen, die Lohnnebenkosten entscheidend senken können? Wäre es nicht günstiger, wir würden endlich die versicherungsfremden Leistungen aus dem System herausnehmen? Damit könnten
wir eine Entlastung von 50 bis 100 oder gar 150 Milliarden DM erreichen. Sie reden dauernd von Peanuts, mit denen wir vielleicht eine Senkung um 0,002 % erreichen können.
Herr Kollege Dreßen, ob wir durch Mißbrauchsbekämpfung 500 Millionen DM oder, wie im letzten Jahr bei der Bundesanstalt für Arbeit, über eine Milliarde DM einsparen, ist zweitrangig.
Wichtig ist, daß wir versuchen, die Belastungen für die Arbeitgeber wie für die Arbeitnehmer zu senken und nicht etwa noch stärker steigen zu lassen. Ich habe darauf hingewiesen - wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie sich die Frage sparen können -, daß auch uns die sogenannten versicherungsfremden Kosten stören und daß wir daran erheblich arbeiten. Aber man kann es sich nicht ganz so einfach machen und nur fordern, alle versicherungsfremden Leistungen in den Haushalt zu drängen, denn dies würde zu erheblichen Steuererhöhungen führen müssen.
Nein, ich bleibe dabei, Herr Dreßen: Andere Länder sind den richtigen Weg gegangen und versuchen, durch Einsparungen zu mehr Beschäftigung, zu einer Absenkung der Lohnkosten zu kommen. Dies muß auch unser Weg sein.
Die Tarifpartner, so meine ich, müssen auch stärker darüber nachdenken, ob die Flächentarifverträge noch ein richtiges Instrument sind. Es muß den Tarifpartnern doch zu denken geben, daß immer mehr Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden ausscheren,
um bestimmten tariflichen Regelungen, die sie nicht mehr zahlen können und die Arbeitsplätze gefährden, zu entgehen, Frau Kollegin Rennebach.
Wir müssen erkennen, daß es in der Industrie zunehmend weniger Arbeitsplätze bei der Herstellung von Massenprodukten gibt, aber sehr wohl Chancen im Dienstleistungsbereich. Es ist notwendig, personengebundene Dienstleistungen nicht mehr als etwas Zweitklassiges anzusehen. Wir müssen diese Arbeitsplätze aufwerten.
Zu diesen Vorschlägen zitiere ich nochmals aus der OECD-Studie, in der versucht wird, die Frage zu beantworten, aus welchen Gründen die Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahrzehnten so stark gestiegen ist. Es heißt dort:
Es liegt nicht am technischen Fortschritt, nicht allein an der Konkurrenz von Niedriglohnländern, nicht am verstärkten internationalen Wettbewerb, es liegt daran, daß Politiken und Systeme Verkrustungen in unseren Volkswirtschaften haben entstehen lassen, die unsere Fähigkeit, ja selbst unsere Bereitschaft zur Anpassung gelähmt haben.
Julius Louven
Beschäftigen wir uns doch einmal intensiver mit diesen Aussagen, aber auch mit den Aussagen von Wissenschaftlern, die uns in der Anhörung zu Ihrem Gesetzentwurf „Mehr Beschäftigung" in der Schlußbetrachtung unisono gesagt haben - da stimmten sie alle überein -, daß alles schädlich ist und Arbeitsplätze kostet, was die Arbeit insgesamt weiter verteuert.
Wir müssen in Wirtschaft und Gesellschaft Flexibilität zurückgewinnen; auf dem Arbeitsmarkt vor allem bei den Löhnen, den Lohnstrukturen und der Arbeitszeit.
Herr Schreiner, deshalb bin ich auch nicht bereit, einem Beschäftigungsförderungsgesetz zuzustimmen, das im Endergebnis den Tarifpartnern die tarifpolitische Kompetenz beläßt, die Verantwortung für Fehlentwicklungen hingegen dem Staat überträgt.
Zusammenfassend möchte ich zu Ihrem Entwurf abschließend folgendes sagen: Er ist eine bunte Mischung von Altem und Neuem und enthält - das bestreite ich nicht - auch vernünftige Ansätze.
Insgesamt gesehen ist er jedoch in der Weichenstellung falsch. Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und der Beschäftigungsstand würden sich mit diesem Gesetz - das ist meine feste Überzeugung - verschlechtern.
Es sind aber auch einige Klopse zu verzeichnen:
- Ja, Herr Kollege Schreiner, es enthält einige Klopse.
- Herr Gilges, hören Sie jetzt einmal zu! Ich nenne hier nur § 14, das Arbeitnehmerüberlassungsverbot im Baugewerbe. Wir hatten uns inzwischen mit Ihrer Zustimmung - Sie haben sich persönlich darauf verwandt - darauf verständigt, daß wir hier wenigstens eine Kollegenhilfe zulassen. Sie haben dies wieder gestrichen. Anscheinend ist man über Sie, Herr Gilges, hinweggegangen. Sie wollen dies wieder streichen.
Genauso erstaunt es mich, daß Sie das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt wieder einführen möchten.
Ob sich die private Arbeitsvermittlung bewähren wird oder nicht - wir sollten jetzt auf jeden Fall abwarten, welche Erfahrungen gemacht werden, und erst danach möglicherweise handeln. Aber wir sollten nicht jetzt schon diesem Gesetzentwurf zustimmen, der bereits am 1. Juli 1994 in Kraft treten sollte.
Ganz kurz gehe ich noch auf die Kostenschätzungen Ihres Gesetzentwurfes ein und mache an einem Beispiel deutlich, wie unseriös Ihre Rechnungen, Herr Schreiner, sind. Allein der festgeschriebene
Rechtsanspruch auf ABM bedeutet ein Kostenrisiko von 20 bis 30 Milliarden DM.
- Herr Schreiner, ich könnte Ihnen an vielen anderen Stellen nachweisen, daß Ihre Kostenberechnung unseriös ist.
Streuen Sie doch nicht der deutschen Öffentlichkeit Sand in die Augen, indem Sie behaupten, Sie könnten mit wenigen Milliarden D-Mark in kürzester Zeit 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen!
- Meine Damen und Herren von der SPD, was möglich gewesen ist, haben wir in den Jahren von 1983 bis 1989 erfahren. Wir haben in dieser Zeit durch maßvolle Tarifabschlüsse über 3 Millionen zusätzliche zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen. Dies ist der Weg, und diesen sollten wir weitergehen.
Meine Damen und Herren von der SPD, verwalten Sie nicht den Mangel, sondern seien Sie mit uns bereit, die Fehler, die zur Entstehung von Arbeitslosigkeit führen und eine Zunahme von Arbeitsplätzen verhindern, gemeinsam mit uns im Interesse der Menschen zu beheben!
Hierzu bekommen Sie, Herr Schreiner, -
Herr Schreiner, bitte!
- im Herbst Gelegenheit, wenn die Vorschläge zur Neuorganisation der Bundesanstalt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Neuformulierung des Arbeitsförderungsgesetzes
vorgelegt werden. Dann können Sie mit uns gemeinsam einen vernünftigen Weg gehen. Wir jedenfalls sind im wesentlichen nicht bereit, Ihren Vorschlägen zu folgen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was Sie heute gebracht haben, war starker Tobak, Herr Louven. Allerdings bedeutet dies nur, daß Sie jetzt mit den Thesen, die hier bereits kursiert sind, den Schritt in die Öffentlichkeit und das Parlament gewagt haben und Ihre Ideologie damit viel offensichtlicher und schonungsloser auf den Tisch gelegt haben als bisher.
Im Grunde genommen gibt es drei Antworten, die Sie auf das Problem der Massenerwerbslosigkeit geben. Sie sagen erstens: Runter mit den Löhnen! Zweitens wollen Sie alle Regulierungen und Schutzvorschriften beseitigen. Drittens wollen Sie das soziale Auffangbecken insgesamt löchriger und schmaler machen, damit wir wieder zu einem Verhältnis der Kräfte kommen, bei dem diejenigen, die ihre Arbeit anbieten, jeden Preis des Arbeitsmarktes annehmen müssen und so mit dem Unternehmer relativ schutzlos aushandeln müssen, welchen Lohn sie erhalten.
In dieser drastischen Form ist das bisher von Ihrer Seite nicht formuliert worden. Ich bin mir sicher - das ist ein offenes Geheimnis -, daß Ihre Kollegen von der CDA bei einer solchen Rede eher unter den Tisch rutschen; denn zumindest da - gottlob - gibt es in Ihrer Fraktion doch noch eine Spaltung.
Sie haben eben ziemlich düstere Perspektiven aufgezeigt - wir wissen, daß die Regierungskoalition im Herbst das Arbeitsförderungsgesetz neu einbringen will - und uns damit bereits ideologisch auf das vorbereitet, was da kommen soll; ich habe das sehr wohl gehört.
Zum einen haben Sie gesagt, daß ABM Arbeitsplätze auf dem regulären Arbeitsmarkt verhindern. Das heißt also: Sie müssen reduziert werden. Das ist also schon die ideologische Vorbereitung dafür, daß Sie ein AFG vorlegen werden, in dem die aktive Arbeitsmarktpolitik zusammengestrichen sein wird.
Zum anderen haben Sie gesagt: Wie soll man den Leuten klarmachen, daß die ABM-Bezahlung genauso hoch ist wie die Entlohnung auf dem regulären Arbeitsmarkt und die Arbeitslosen, die aus anderen sozialen Sicherungssystemen alimentiert werden, sehr viel weniger erhalten? Auch diese Botschaft konnte man verstehen. Im Klartext bedeutet sie: Sie werden ein AFG vorlegen, in dem Sie die Wege, die Sie schon eingeleitet haben, radikalisieren. Sie werden nämlich eine Absenkung der ABM-Löhne bzw. eine Reduzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik vornehmen und den Schritt der Angleichung an die Sozialhilfe vorantreiben. Dann werden Sie kommen und sagen: Wir brauchen aber ein Lohnabstandsgebot; deshalb müssen wir die Sozialhilfe absenken. - Das ist ziemlich schonungslos und für mich fast schon erschreckend; Herr Louven, das muß ich einmal sagen.
- Das kommt gleich. Man darf sich doch noch ein bißchen mit dem, was Sie hier vortragen, auseinandersetzen. Oder sollten wir das nicht tun? - Ich finde es erschreckend, wenn das, was von Ihnen in dieser drastischen Form vorgetragen worden ist, in den nächsten Jahren von der Koalition umgesetzt werden soll.
Nun einmal zu der wunderbaren OECD-Studie, auf die Sie sich immer berufen.
- Ich habe nicht die Studie gelesen, aber eine Zusammenfassung davon. - Eines ist klar: Es gibt zwei Wege, mit der Massenerwerbslosigkeit umzugehen. Der eine Weg ist das Modell USA bzw. das Modell England. Hier wird auf Deregulierung und Flexibilisierung gesetzt, was zu einer enormen Spaltung der Gesellschaft führt - das wissen wir alle - und was - das können Sie nicht widerlegen - nicht verhindern konnte, daß die Erwerbslosigkeit in den USA seit 1992 wieder zunimmt.
Abgesehen von der Frage, ob man das sozial will und ob es zur Demokratie und zur sozialen Gerechtigkeit paßt, diesen Weg zu gehen, ist nicht einmal belegt, daß unter dem Gesichtspunkt der Schaffung von Erwerbsarbeitsplätzen dieser Weg erfolgreich wäre.
Es gibt ein zweites Modell - das Modell Schweden, bei dem mit dem Phänomen der Massenerwerbslosigkeit in Industriegesellschaften genau andersherum umgegangen wird. Die soziale Verpflichtung, die Gestaltungsaufgabe wird angenommen. Sie kostet Geld, sie fordert gesellschaftlichen Transfer - das ist überhaupt keine Frage -, aber offensichtlich kann auf diese Weise zum einen zumindest der Beschäftigungsgrad gehalten werden, und zum zweiten führt dieses Modell nicht zu einer radikalen Spaltung der Gesellschaft.
Sie müssen sich fragen lassen, für welches Gesellschaftsmodell Sie sich entscheiden, Herr Louven. Sie sollten dabei nicht nur danach gehen, was irgendwelche Ökonomen Ihnen erzählen. Wenn Sie einen Wissenschaftler in der rechten Tasche haben, habe ich natürlich einen in der linken Tasche, der mir die andere Statistik vorrechnet.
Die Frage ist wirklich, was Arbeitslosigkeit gesamtgesellschaftlich kostet. Das berechnet niemand bei uns. Wir alle starren auf die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit. Wer kann denn einmal zusammenrechnen - es kann eben niemand -, was im Gesundheitswesen, in der Jugendbetreuung, in der Kriminalitätsnachsorge an Folgekosten auf Grund sozialer Zerwürfnisse und Verwerfungen, die mit Massenarbeitslosigkeit zu tun haben, anfällt? Wenn wir
Marieluise Beck
diese gesamtgesellschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachten, Herr Louven, wenn wir einmal so diskutierten, dann sähe das Verhältnis hinsichtlich der 10 bis 30 Milliarden DM, die ich noch in aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt für Arbeit stecken müßte, im Vergleich zu dem, was ich in anderen Bereichen nicht ausgeben müßte, anders aus. Aber wir hocken alle in unseren Kaninchenställen: die Gesundheitspolitiker, die Justizpolitiker, die Kriminalitätspolitiker, die Jugendpolitiker. Jeder starrt auf sein Budget und versucht, es irgendwie zu verteilen, aber der gesellschaftliche Zusammenhang wird nicht hergestellt. Wir kommen aber erst dann einen Schritt nach vorn, wenn wir endlich anfangen, querzudenken; sonst bleiben wir in unseren ideologischen Bunkern.
Eine zentrale Frage, Herr Louven - ich werde Sie aus der Beantwortung dieser Frage nicht entlassen, ich werde sie hier weiter stellen -, beantworten Sie in diesem Hause nicht. Wir wissen, daß alle hochentwickelten Industriegesellschaften - gleich, ob sie von Konservativen in England, von Sozialisten in Frankreich oder von Konservativ-Bürgerlichen in Deutschland geführt sind - das Problem der Massenarbeitslosigkeit haben. Und Sie beantworten nicht die Frage - Sie haben es auch heute wieder nicht getan -, wie bei ständig steigender Produktivität, bei immer neuen Rationalisierungspotentialen allen Menschen in derartig verfaßten Gesellschaften überhaupt noch Erwerbsarbeit gegeben werden soll. Und selbst die härtesten Wachstumsverfechter - von dem Kurs kommen wir alle langsam ein wenig herunter - müssen zugeben, daß Wachstum nie und nimmer in einem Ausmaß zunehmen kann, daß es die immer rasanter werdenden Produktivitätsfortschritte auffängt.
Vor ein paar Wochen war es wieder einmal der Club of Rome - und das sind ja keine Steinzeitökonomen, wie der Graf immer zu sagen pflegte -, der gesagt hat: Die Grenzen des Wachstums sind überschritten. - Damit müssen Sie sich doch auseinandersetzen! Dann können Sie doch nicht kommen und sagen: Wir machen jetzt ein Deregulierungsprogramm. Wir kurbeln die Wirtschaft an, lassen die Schornsteine rauchen - und ab in die ökologische Katastrophe! Herr Louven, Sie können, wenn Sie ein Stück Verantwortlichkeit für die Zukunft annehmen, dieses Programm nicht vertreten.
Jetzt will ich ein bißchen von dieser sicherlich notwendigen ideologischen Auseinandersetzung weg. Sie sagen, Umverteilung von Arbeit gehe nicht. Dieses Ziel haben Sie immer bekämpft. Gleichzeitig haben Sie mit ihrer Teilzeitoffensive zugegeben, daß Sie selber auf Umverteilung von Arbeit setzen. Nur heißt es bei Ihnen nicht: gleichmäßige Umverteilung
auf alle, sondern bei Ihnen ist es ein Modell, mit dem Sie wieder einmal die Frauen mit allen finanziellen und sozialen Konsequenzen an den Katzentisch abschieben wollen.
Wenn wir wissen, daß wir neue und differenzierte Arbeitszeitmodelle brauchen - auch wegen der Notwendigkeit der Umverteilung der Arbeit -, müssen sich unsere Anstrengungen darauf richten, ordnungspolitisch schützend einzugreifen und sozial zu koordinieren. Das ist unsere Aufgabe. Die Gewerkschaften müssen ihre Aufgabe wahrnehmen und von tariflicher Seite das Absichernde und Schützende dazutun, um nicht einem wilden Ausdifferenzierungsprozeß den Lauf zu lassen, der in Flexibilisierung und Deregulierung endet. Fünf bis sechs Millionen Erwerbslose in diesem Land haben einen Anspruch darauf, daß wir uns dieser Aufgabe annehmen.
Eine aktive Arbeitsmarktpolitik - und jetzt bin ich beim ASFG - ist natürlich nur eine Teilantwort auf die Massenerwerbslosigkeit. Wenn die SPD sagt, wir hätten zusätzliche Effekte von 500 000 DM - bei fünf bis sechs Millionen Erwerbslosen -, dann ist das vollkommen klar. Aber natürlich darf ich diesen Teilaspekt nicht aufgeben, sondern muß meine Anstrengungen in diesem Bereich verstärken, um bei der langfristigen Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben gegenzuhalten und um Ausbau und Erhalt von Qualifikationen herbeizuführen. Das führt im Grunde genommen ein Stück in Richtung Rotation auf dem Arbeitsmarkt. Es werden über eine aktive Arbeitsmarktpolitik zwar nicht überall neue Arbeitsplätze geschaffen - das muß man zugeben -, aber sie schlägt Brücken, damit diejenigen, die draußen gestanden haben, wieder den Weg ins Erwerbsleben finden können. Das ist ein wichtiger Schritt, um überhaupt Bewegung im Arbeitsmarkt zu halten, so daß es keine Zementierung der Spaltung zwischen denjenigen gibt, die drin sein dürfen, und denjenigen, die draußen bleiben müssen.
Wir werden uns im Ausschuß mit Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren der SPD, noch ausführlicher beschäftigen. Ich will ganz kurz einige Punkte anreißen. Die Grundidee ist richtig. Es ist handwerklich ein gutes Gesetz. Aber es weist natürlich nur einen Teilaspekt auf, es weist nicht die große Perspektive aus der Massenerwerbslosigkeit auf. Diese Perspektive können wir nur gewinnen, wenn wir das Modell der Umverteilung von Arbeit durchsetzen. Nur dann können wir mit Massenerwerbslosigkeit fertigwerden.
Bei Ihrem Modell haben wir Bedenken hinsichtlich der Wachstumsschwelle von 2 %, ab der der Regelzuschuß nicht mehr gezahlt werden soll. Das bedeutet, daß Sie sich nicht an der Zahl der Erwerbslosen orientieren. Wir aber meinen, man müßte sich an der Zahl der Erwerbslosen orientieren, weil Wachstum und Erwerbstätigkeit nicht in direkter Verbindung miteinander stehen.
Marieluise Beck
Wir gehen davon aus, daß die Bundesanstalt für Arbeit von der zentralen Funktion, die sie jetzt hat, sehr stark entbunden werden muß und daß die Entscheidungen in die Regionen verlagert werden müssen.
Da liegt sicherlich ein wesentlicher Schlüssel. Das eröffnet auch Perspektiven für einen effektiveren Einsatz der Mittel. Hier kommt der ganz wichtige Aspekt der Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik ins Spiel. Wir müssen die in der Region vorhandenen Potentiale, Synergieeffekte aus Strukturpolitik, Kulturpolitik, Stadtentwicklung und Wirtschaftsfördermitteln zusammenführen mit dem Ansatz der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Diese Entscheidungen - das Know-how dafür liegt nicht in Nürnberg, nicht in der Zentrale - sollten in der Region getroffen werden. Denn die Potentiale dafür - auch die geistigen - liegen bei den freien Trägern, bei den unabhängigen Trägern, bei all den Akteuren, die vor Ort ihre Region und deren besondere Probleme am besten kennen. Deswegen muß bei der Bundesanstalt für Arbeit der Weg in Richtung radikale Dezentralisierung gehen. Es ist eine große Aufgabe, einen solch riesigen Haushalt wie den der Bundesanstalt in dieser Weise umzusteuern. Wir wissen, wie schwer das bei Reformen im öffentlichen Dienst ist, bei diesem Dinosaurier. Das wird uns noch lange beschäftigen. Wir gehen davon aus, daß das ein zentraler Hebel ist, um zu einer Effektivierung der Mittel zu kommen. Daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, ist uns allen klar.
Ganz zum Schluß noch einmal, Herr Louven: Wenn Sie tatsächlich das, was Sie heute angedeutet haben, umsetzen, läuft das im Grunde genommen auf den Entzug von Schutz und auf das Wegschneiden von Mitteln zu. Wenn Sie diesen Weg umsetzen, dann forcieren Sie den gefährlichen Weg in eine soziale Spaltung der Gesellschaft, bei der wir in Deutschland bisher noch ganz gut den Deckel draufgehalten haben. Aber wenn Sie sich die Entwicklung in Südfrankreich anschauen, können Sie sehen, daß wir vor einer gefährlichen Radikalisierung nicht gefeit sind. Auch wir hatten die rechtsradikalen Gruppen schon in unserem Parlament, in unserem Land.
Nehmen Sie Ihre Verantwortung an! Lassen Sie nicht zu, daß die soziale Spaltung dieser Gesellschaft vorangetrieben wird! Denn sonst werden wir, alle Demokraten hier auf den Bänken sitzen und uns gemeinsam den Kopf zerbrechen, wie wir den Geist wieder in die Flasche holen, der freigelassen worden ist.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der SPD, den wir heute in erster Lesung beraten, gibt erneut Anlaß, sich mit dem Thema Arbeitslosigkeit auseinanderzusetzen. Ich will es mir ersparen, zum Gesetzentwurf der SPD selber noch etwas zu sagen. Ich bin dem Kollegen Louven sehr dankbar, daß er sich dieser Mühe unterzogen hat. Es ist alles gesagt worden.
Über den zweiten Arbeitsmarkt, das ausgegebene Geld in der Arbeitsmarktpolitik, die fruchtlosen Auseinandersetzungen über die Frage, ob die Bundesregierung genug tut, ob sie genug getan hat oder ob die Rezepte der SPD erfolgversprechend sind - Antwort: nein -, rede ich nicht. Ich will vielmehr die Zeit nutzen und zwei Fragen nachgehen: Erstens. Wodurch sind eigentlich in den letzten Jahren Arbeitsplätze in Deutschland verlorengegangen? Zweitens. Wie und wodurch können wir bestehende Arbeitsplätze heute erhalten und für die Zukunft sichern und neue Arbeitsplätze schaffen?
Der erste Punkt, Verlust von Arbeitsplätzen: Es gibt eine deutliche und stetige Tendenz in Westeuropa für das Ansteigen von Arbeitslosigkeit. Diese Tendenz bestand sogar in der Zeit der Konjunktur 1980 ff. Dazu kamen ab 1990 die Sondersituation in Deutschland, die Wiedervereinigung, und der Zusammenbruch des Arbeitsmarktes in Osteuropa. Daß Ostdeutschland mit Hilfe einer massiven sozialen Flankierung und mit einem Großeinsatz von Investitionshilfen mittlerweile eine dem Westen vergleichbare Beschäftigungsquote aufweist - ich rede nicht von dem Thema Arbeitslosigkeit, sondern von der Beschäftigungsquote -, will ich hier durchaus als Erfolg anmerken. Alarmierend bleibt die Tatsache, daß der Sockel der Arbeitslosigkeit wächst.
Veränderungen der Arbeitswelt hat es in der Vergangenheit schon immer gegeben. Das Verschwinden von Berufen ist uns vertraut. Meist ist es der sogenannte Fortschritt, der menschliche Muskelkraft ersetzt hat und durch den die Arbeit von einer immer kleiner werdenden Zahl von Arbeitskräften erledigt werden kann. Heute sind Fabrikhallen vielleicht noch von Lärm erfüllt, aber sie sind von Menschen entleert.
Technischer Fortschritt hat also schon länger - auch wenn der ganze Bereich Wettbewerb in einer Weltwirtschaft einmal ausgeblendet wird - Arbeitsplätze verringert: dramatisch in der Landwirtschaft und Textilindustrie, aber nachweisbar in allen Produktionsbereichen. Indem Maschinen einfache, sich wiederholende Tätigkeiten ausführen, steigt der Anteil der Arbeitsplätze proportional an, bei denen hohe Anforderungen an Ausbildung, Flexibilität und geistige Beweglichkeit der Arbeitnehmer vorausgesetzt werden. Der Computer hat - ziemlich unbemerkt - eine postindustrielle Revolution ausgelöst. Viele Menschen sind hier überfordert. Neueste Untersuchungen zeigen, daß schon Arbeitnehmer über 40 Jahre Schwierigkeiten haben, mit den neuesten Computersystemen zurechtzukommen.
Die Ausbildungsprofile verändern sich, und die Erwartungen an die Arbeitnehmer sind so hoch, daß in den Betrieben z. B. das Interesse an der Lehrlingsausbildung stetig sinkt. Das ist keine gute Entwick-
Dr. Gisela Babel
lung, aber es ist eine folgerichtige, sich aus dem Diktat der Produktivität eines Arbeitsplatzes ergebende Entwicklung. Wenn - um es einmal drastisch auszudrücken - ein Arbeitnehmer durch Lohn und Arbeitszeit so teuer geworden ist, daß man das Letzte aus ihm herausholen muß, glaubt man, daß Ausbildung von Lehrlingen Zeit- und Geldverschwendung wäre. Meine Damen und Herren, hier wird Zukunft verschleudert. Ich appelliere ausdrücklich an alle Betriebe in Deutschland, der Jugend genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Einige Industrie- und Handelskammern haben sich dieses Problems - übrigens mit großem Erfolg - angenommen. Das ging bis zu persönlichen Anrufen bei allen Firmeninhabern in ihrem Bezirk, und es wurde zäh und hartnäckig um Arbeits- und Ausbildungsplätze gerungen. Ich möchte das an dieser Stelle einmal ausdrücklich anerkennen.
Der Fortfall von Arbeitsplätzen wegen technischen Wandels - er geschieht in einem beunruhigendem Ausmaß - ist ein Vorgang, den wir kennen. Es kommen aber noch zwei Veränderungen hinzu, die das Bild verdüstern: Die eine ist darin zu sehen, daß der Produktionssektor schwindet und der Dienstleistungssektor wächst und daß wir diese Entwicklung auch in Deutschland teilweise verschlafen haben. Die Zahlen zeigen, daß wir in den USA heute schon 74 % der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor haben, in Kanada 73 %, in Großbritannien immerhin 71 %; in Deutschland sind es erst 60 %. Die andere Veränderung ist, wenn auch damit im Zusammenhang stehend: Lohnintensive Arbeit, meine Damen und Herren, wird in Niedriglohnländer verlagert, und beide Entwicklungen führen zu Verlusten von Arbeitsplätzen. Heute sind nur noch 20 % der Beschäftigten in industriellen Betrieben tätig. Viele Zulieferbetriebe und Dienstleistungsunternehmen hängen aber von diesen Produktionsstandorten ab.
Was alarmiert und was uns in Politik und Gesellschaft gar nicht laut und deutlich genug gesagt werden kann, ist, daß dieser Prozeß des Abbaus von Arbeitsplätzen stetig fortschreitet und von den Firmen auch gar nicht vertuscht wird. Es gibt keine große Firma in Deutschland, die nicht Arbeit ins Ausland verlagert oder verlegen will. Genaue Zahlen liegen hier noch nicht vor, aber sie ergeben sich indirekt aus den Zahlen der Investitionen im Ausland: 1994 haben deutsche Firmen 23,8 Milliarden DM im Ausland investiert, und umgekehrt sind es 5 Milliarden DM, die in Deutschland von Firmen aus dem Ausland investiert wurden.
Wir haben also nicht nur in der Vergangenheit Arbeitsplätze verloren, nein, weitere massive Verluste stehen ins Haus. Die Chemie, um sie herauszugreifen, verlagert ihre Standorte in die USA. Denken Sie an die Gentechnik: Diese Zukunftsinvestitionen sind bei uns nicht getätigt worden. Bevor wir unsere Gesetzgebung, die mit Bürokratie und Überverantwortung Risiken bekämpfen sollte, schwerfällig geändert haben, haben die deutschen Firmen längst ihre Investitionsentscheidungen getroffen - in Japan, in Amerika, teilweise in Frankreich, wo man mit dem europäischen Recht ein wenig lockerer umgeht.
Ob es gelingt, diese Produktionszweige einmal zurückzuholen, ist zweifelhaft.
Warum ist das so? Warum tun die Firmen das? Was vertreibt die Produktion von Gütern in andere Länder? Was vertreibt Zukunftsindustrien in andere Länder? Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, die Augen zu öffnen und die Wirklichkeit wahrzunehmen. Wir leben in einer eng verzahnten, dynamischen Weltwirtschaft, und zwar in einer Weltmarktwirtschaft. Die Gesetze des Marktes, die Gesetze des freien Wettbewerbs, des freien Verkehrs von Gütern und Kapital wenden sich gegen uns. Nehmen wir es doch nur endlich wahr!
Der Standort Deutschland verliert im Vergleich zu anderen Standorten: nicht nur im Vergleich zu Asien, sondern auch zu den uns näher liegenden östlichen Nachbarn wie Ungarn, Tschechien und Polen. Sie bieten selbst deutschen Mittelständlern Ausweichmöglichkeiten. Es gibt heute viele Länder mit einer guten Infrastruktur, mit qualifizierten Arbeitnehmern, mit verläßlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen und politischer Stabilität. Deutschland hat hier kein Monopol, sondern ist einem scharfen Wettbewerb ausgesetzt.
Hinzu kommen völlig ungeahnte Fortschritte bei Verkehr, Information und Kommunikation. Informationen über Rohstoffe, Arbeits- und Absatzmärkte sind leicht und rasch erhältlich; Transportkosten spielen nur noch in Ausnahmefällen eine Rolle. Die Dienstleistungs- und Kapitalmärkte sind weitgehend liberalisiert. Gerade industrielle Großunternehmen werden so in die Lage versetzt, sich weltweit günstige Produktionsstandorte zu suchen, diese miteinander zu verknüpfen und sie gleichzeitig mit den günstigen Rohstoff- und Absatzmärkten zu verbinden. Was für diese Unternehmen im großen gilt, gilt für die kleinen und mittelständischen Unternehmen im kleinen.
Unbestreitbare Folge dieser globalen Entwicklung ist die Tatsache, daß wir Arbeitsplätze von Deutschland in alle Welt exportieren,
weil Arbeit hierzulande zu teuer ist
- Arbeitskräfte und Energie - und weil wir in Deutschland zu träge und zu umständlich sind.
Dr. Gisela Babel
Ich kann diese Erkenntnis auch mit einem Zitat schmücken:
Die Massenarbeitslosigkeit ist ein weltweites Phänomen.
- Auch Frau Beck hat das gesagt.
Es gibt sie mehr oder weniger ausgeprägt in allen hochentwickelten Industrieländern.
Gleichwohl kommen deutsche Besonderheiten hinzu; denn unbestreitbar verlieren wir Arbeitsplätze, weil wir als Produktionsstandort teuer, für viele Arbeiten und Produktionen zu teuer sind und mit unseren Strukturen dem globalisierten Wettbewerb nicht oder nicht mehr gerecht werden.
Meine Damen und Herren, die Unruhe, die Sie jetzt erzeugen, ist seltsam. Denn dies stammt wörtlich von Ihrem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Klose.
Diese Worte sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Herr Klose wirft seiner Partei vor, die Tatsachen nicht klar genug wahrzunehmen und beim Namen zu nennen. Sie sind - das sind jetzt meine Worte - eine Partei der eingeschränkten Wahrnehmung. Man könnte Sie in „PdeW" umtaufen.
Daher können Ihre Rezepte auch nichts taugen. Insofern haben auch Sie, Herr Schreiner - er ist jetzt gar nicht da -, eine hochspießige Rede gehalten, wenn man das, was Sie hier gesagt haben, als Rezept zum Erhalt der Arbeitsplätze nimmt.
Wir müssen über das Thema des zweiten Arbeitsmarktes ernsthaft - ernsthaft! - diskutieren und überlegen, wie wir den Prozeß des Verlagerns von Arbeitsplätzen in andere Länder stoppen. Dazu sagen Ihre Vorschläge nichts. Wir brauchen kein Bündnis gegen Arbeitslosigkeit.
Das hieße, Salbe auf die Wunde zu schmieren. Das ist zwar Sozialpolitik - und ich gestehe: durchaus notwendige Sozialpolitik -, aber es löst nicht das Kernproblem. Wir brauchen ein Bündnis für Arbeitsplätze.
Wenn Deutschland als Produktionsstandort zu teuer - bei den Lohnkosten -, zu langsam - in den Genehmigungsverfahren - und zu selbstzufrieden ist, dann kann die Botschaft nur heißen: Wir müssen preiswerter, schneller und phantasievoller werden und uns auf die Frage konzentrieren: Wo liegen die Stärken der deutschen Wirtschaft, wie können wir sie fördern und Arbeit nicht nur im Lande halten, sondern auch ins Land locken?
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es herrscht Einigkeit in diesem Hause - jedenfalls habe ich das der bisherigen Debatte entnommen -, daß noch so aktive Arbeitsmarktpolitik zur Bekämpfung der bestehenden Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit nur ein Weg sein kann. Das Traurige an dieser Situation ist, daß sich das uns bisher zur Verfügung stehende Instrumentarium zunehmend als unfähig erweist, genau diese Aufgabe zu erfüllen. Deshalb bedarf es dringend der Überarbeitung und neuer Ideen. Ich denke, der Gesetzentwurf der SPD kann ein Beitrag dazu sein.
Wir haben es mit der Situation zu tun, daß die Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz um so dürftiger ausfallen, je mehr arbeits- und einkommenslose Menschen sie nötig haben. Wir konnten es in den letzten Jahren deutlich beobachten: Verschärfung bei den Zugangsvoraussetzungen, Kürzungen bei der Leistungshöhe, Befristung der Leistungsdauer usw. Das geltende Arbeitsförderungsgesetz versagt vor der Aufgabe, den arbeitslosen Menschen ein existenzsicherndes Einkommen zu verschaffen. Und schlimmer noch: Es versagt auch vor der Notwendigkeit, ihre Integration in reguläre Arbeit zu befördern. Das ist das Ergebnis Ihrer Regierungspolitik!
Die Klagen der privaten Wirtschaft über die angebliche Konkurrenz öffentlich geförderter Beschäftigung erhöhen den administrativen Druck in unterwertige, untertarifliche Beschäftigungsverhältnisse. Der wichtige Gedanke, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, wird pervertiert, wenn die Praxis weiter an Boden gewinnt, daß Sozialleistungsbezieherinnen und -bezieher unter Androhung des Unterstützungsentzuges in einen dritten Arbeitsmarkt - jenseits aller Tarifbindung, jenseits aller sozial- und arbeitsrechtlichen Bindung, jenseits aller Zumutbarkeitskriterien des AFG - gezwungen werden.
Herr Louven, wenn Sie von den Landschaftsgärtnern sagen, daß die private Wirtschaft mit ihnen nicht konkurrieren kann, weil sie ABM beziehen, dann kann ich nur erklären: Die Perspektive ist, daß die private Wirtschaft in aller Zukunft - wenn es denn so ist - wieder mit ihnen konkurrieren kann. Dann werden sie nämlich nicht mehr als ABM-Kräfte
Dr. Heidi Knake-Werner
beschäftigt, sondern als Sozialhilfebezieherinnen zu Gemeinschaftsarbeiten und Saisonarbeiten gezwungen werden. Das ist die Perspektive der Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf der SPD enthält Initiativen, die mit den auch hier zur Abstimmung stehenden Anträgen in den Ausschüssen schon ergriffen worden sind. Ich denke, bei allen Unterschieden gibt es eine Gemeinsamkeit: Wir sind uns einig in der Auffassung, daß wir eine grundlegende Wende in der Arbeitsmarktpolitik benötigen. Wir wollen nicht länger, daß sie Anhängsel und Stiefkind der Wirtschaftspolitik ist. Sie muß dazu beitragen, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure vor Ort ihre wirtschaftlichen, planerischen und innovativen Kräfte und Potentiale dafür einsetzen können.
Die übergreifende Aufgabe besteht in der Neugestaltung von Erwerbsarbeit und Sozialstaat. Deshalb will ich - das steht hier auch zur Diskussion - noch einmal kurz auf einige zentrale Vorschläge, die wir mit unserem Antrag eingebracht haben, eingehen.
Erstens. Das Wichtigste ist uns, das Solidarprinzip und damit die finanzielle Basis des Sozialstaats zu erneuern und nicht weiter auszuhöhlen.
Zweitens. Wir wollen die arbeitsmarktpolitischen Instrumente ergänzen und intelligent weiterentwikkeln, damit sie die dringend notwendige Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit überhaupt und der Erwerbsarbeit besonders zwischen Männern und Frauen und zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen befördern.
Drittens sollen nach unserer Auffassung die arbeitsmarktpolitischen Förderinstrumente darauf ausgerichtet werden, im Zusammenwirken mit den Instrumenten der Wirtschafts- und Strukturförderung einen auf Dauer angelegten öffentlichen Beschäftigungssektor als Teil des normalen Arbeitsmarktes zu schaffen, einen Sektor, der seine politische Existenzberechtigung vor allem der Unfähigkeit der privaten Marktkräfte verdankt, die notwendigen ökologischen und sozialen Aufgaben zu bewältigen, und der seine soziale Legitimation auch daraus bezieht, daß er elementare Bedürfnisse nach soziokultureller Teilhabe gerade für die Bezieherinnen sogenannter kleiner Einkommen befriedigen kann.
Wo soziale Dienste, Kultur, Information, Bildung und Wissenschaft vermarktet werden und alles seinen Preis hat, werden die Zahlungskräftigen privilegiert und alle anderen systematisch von diesem Markt ausgeschlossen. Dieser sozialen Ausgrenzung kann ein öffentlicher Beschäftigungssektor, wenn er z. B. von gemeinnützigen und genossenschaftlichen Einrichtungen getragen wird, entgegensteuern.
Ein solcher Beschäftigungssektor würde sich zudem von bisherigen Arbeitsmarktbeschäftigungsmaßnahmen unterscheiden, weil er auf Dauer angelegt ist, weil er nicht nur Arbeitslose individuell, sondern auch Projekte finanziert und sie mit Qualifizierungsstrategien verbindet und weil eine Verstetigung und damit eine Planungssicherheit in diesem Sektor wirkungsvoller zur Reproduktion der sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen beitragen kann.
Viertens steht nach unserer Auffassung eine Gesellschaft, deren politische Instanzen und gesellschaftlichen Kräfte es nicht vermögen, allen, die es wollen und können, eine vernünftige, ökologisch und sozial verträgliche Erwerbsarbeit zu ermöglichen, in der ethischen und politischen Pflicht, dann wenigstens alle Arbeitslosen existentiell zu sichern.
Jetzt ist natürlich die Frage: Wie weit bringt uns auf diesem Weg der Gesetzentwurf der SPD? Leider verbleibt mir nicht die Zeit, noch ein paar aktuelle Fakten zur Ausgangsgrundlage zu bringen, die uns auf eine jüngste Anfrage von der Bundesregierung neu geliefert worden sind. Deshalb sage ich nur einen Satz, der schon fast allgemeinplatzfähig ist: Weil die Sicherung des AFG versagt, steigen die Sozialhilfekosten. Ich fürchte, daß Ihr Gesetzentwurf, darauf bezogen, leider keine grundlegende Änderung bringt, weil Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe eben nicht gesockelt werden, um den Gang zum Sozialamt zu verhindern.
Ich meine, die Arbeitslosenhilfe muß für alle Arbeitslosen geöffnet werden, die heute ohne Anwartschaft in die Sozialhilfe gedrängt werden. Damit besteht auch die Möglichkeit, daß alle Arbeitslosen gleichberechtigt in die Zuständigkeit der Arbeitsämter fallen und dort gleiche Rechte wahrnehmen können.
Die Erweiterung der Beitragspflicht, z. B. für geringfügige Beschäftigung, finde ich ausgesprochen wichtig, unterstütze ich auch. Wichtig fände ich aber auch, einen Beitrag zur sogenannten Lohnnebenkosten-Debatte zu liefern, gerade weil es darauf ankommt zu überlegen, ob die Beitragspflicht wirklich auf abhängige Beschäftigung reduziert werden muß oder ob nicht auch andere Möglichkeiten der Beitragserhebung denkbar sind. Ich habe Probleme damit, daß Sie weiterhin an der oberen Beitragsbemessungsgrenze festhalten. Auch habe ich Probleme mit der von Ihnen bei der Festlegung der Zuschußpflicht des Bundes angegebenen Wachstumsgröße von 2 %.
Ich unterstütze das, was Sie zur Verbindung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik sowie zur Verwirklichung der grundgesetzlichen Vorgabe für staatliches Handeln, nämlich die Herstellung gleicher Lebensbedingungen in allen Regionen zu fördern, sagen. Sie verlangen eine stärkere Berücksichtigung der regionalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation sowie das Zusammenwirken der verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und öffentlich-rechtlichen Akteure in den Regionen.
Doch, ehrlich gesagt, verbleiben mir Ihre Vorstellungen zu unverbindlich, wenn Sie sagen, auf die Abstimmung der Beteiligten solle hingewirkt werden. Eine Regionalisierung von arbeitsmarktpolitischen Fonds, wie wir sie in unserem Antrag vorschlagen, findet nicht statt. Somit fehlt, jedenfalls nach meiner Einschätzung, der regionalen Zusammenar-
Dr. Heidi Knake-Werner
beit eine entscheidende Basis: Die Möglichkeit, über die Vergabe von Arbeitsmarkt-, Regionalstruktur- und Wirtschaftsförderungsmitteln tatsächlich mitentscheiden zu können.
Die aktuelle Politik der Bundesregierung stellt eine akute Gefährdung der arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen und Trägerstrukturen in den neuen und alten Bundesländern dar. Das wird vor allen Dingen im nächsten Jahr sichtbar werden. In vielen Einzelpunkten verspricht Ihr Gesetzentwurf diesbezüglich eine Verbesserung. Aber ohne die Sicherung der vorhandenen Strukturen, ohne einen Schlußstrich unter die weitere tarifliche und sozialrechtliche Diskriminierung als „zweiter Arbeitsmarkt" geht auch Ihrem Gesetzentwurf die Infrastruktur verloren, die zur Verwirklichung eines Rechtsanspruches auf ABM erforderlich ist.
Unabhängig von allen kritischen Punkten stimme ich dem Ziel der SPD, das AFG durch ein - wie auch immer gestaltetes - Arbeits- und Strukturförderungsgesetz zu ersetzen, grundsätzlich zu. Ich finde bei aller Bescheidenheit aber auch: Einige Vorschläge unseres Antrages könnten durchaus dazu dienen, Ihren Gesetzentwurf zu qualifizieren.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Frau Landesministerin Irene Ellenberger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag diskutiert heute einmal mehr über die Situation auf dem Arbeitsmarkt, über die nach wie vor anhaltende Massenarbeitslosigkeit und vor allem darüber, wie ihr erfolgversprechend und nachhaltig begegnet werden kann. Als Mitglied der Thüringer Landesregierung, für die die Themen Arbeit und Wirtschaft oberste Priorität einnehmen, kann ich dies nur nachhaltig begrüßen.
Das Thema Arbeitslosigkeit brennt den Menschen, zumal in den neuen Ländern, auf den Nägeln. Das haben befragte Jugendliche jüngst in einer von Frau Kollegin Nolte vorgestellten Umfrage nachdrücklich bestätigt. Wir, die wir politische Verantwortung tragen, sind den Bürgerinnen und Bürgern und insbesondere den von Arbeitslosigkeit betroffenen Jugendlichen, den arbeitslosen Frauen und Männern Antworten schuldig.
Ich hoffe sehr, daß wir uns bei dieser Debatte alle bewußt sind, wie schlimm Arbeitslosigkeit und ihre Folgen sind, wie nachhaltig deformierend Langzeitarbeitslosigkeit ist und wie wenig attraktiv Jugendliche eine Wirtschaftsordnung finden müssen, die ihnen die kalte Schulter zeigt, indem sie ihnen den Eintritt in das Erwerbsleben verwehrt.
Die Menschen in den neuen Bundesländern registrieren es mit Freude - und diejenigen, die daran mitarbeiten, können dann mit Stolz die hohen Wachstumsraten in den neuen Bundesländern bekanntgeben -: 10, 12 und mehr Prozent Wachstum
des Bruttosozialprodukts sind durchaus beachtliche Zahlen. Gleichzeitig bewegt sich jedoch die Arbeitslosenquote immer noch bei über 14 %. In einigen Arbeitsamtsbezirken haben wir immer noch Arbeitslosenquoten von über 20 %. Das heißt, ein Fünftel aller Erwerbsfähigen ist als Arbeitslose oder als Arbeitsloser registriert. Nehmen Sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, also in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Projekten nach § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes, oder diejenigen hinzu, die sich in Fortbildung und Umschulung befinden oder die in Vorruhestand sind bzw. Altersübergangsgeld beziehen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß die Unterbeschäftigung über 30 % beträgt.
Sie dürfen sicher sein: Diesen Kurs verstehen und akzeptieren die Menschen in den neuen Bundesländern nicht. Hier 10, 12 % Wachstum und dort 14, 15, ja bis zu 20 % Arbeitslosigkeit. Sie wissen, Wirtschaftswachstum allein verhilft ihnen nicht zu mehr Beschäftigung. Deshalb hat z. B. die Thüringer Landesregierung beschlossen, in der laufenden Legislaturperiode eine aktive Arbeitsmarktpolitik und eine öffentlich geförderte Beschäftigung auf hohem Niveau mit allerhöchster Priorität zu sichern.
Wir tun dies, weil wir wissen, daß es dazu gar keine Alternative gibt. Dabei haben wir nicht etwa das Gefühl, daß wir auf dem Weg in eine ABM-Gesellschaft sind.
Meine Damen und Herren, in vielem gleichen wir uns leider dem Westen schnell an, in anderem sind wir, wiederum leider, dem Westen sogar voraus. Angeglichen haben wir uns bei der Langzeitarbeitslosigkeit. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen in den neuen Ländern bewegt sich inzwischen schon knapp unterhalb der 40%-Quote, und der weit überwiegende Teil, nämlich mehr als zwei Drittel, sind Frauen.
Voraus sind wir leider auch bei der Frauenarbeitslosigkeit ganz allgemein. Frauen sind in den neuen Ländern fast doppelt so häufig arbeitslos wie Männer, und ihre Perspektiven sind denkbar schlecht. Die Antwort kann nicht sein, sich an einem normalen, westlichen Erwerbsverhalten zu orientieren, wie hier und da zu hören ist. Die Antwort kann nur sein, sich so entscheiden zu können, sein Leben, seine Arbeit und seine Familienpflichten so einzurichten, wie Mann, wie Frau es wünscht.
Wer den Frauen die Möglichkeit zur Erwerbsarbeit beschneidet, beeinträchtigt die Chancengleichheit massiv und tritt elementare Menschenrechte mit Füßen.
Wer nicht nur die Daten aus den neuen Ländern, sondern auch die alltäglichen Bilder aus den Fluren der Arbeitsämter, in den Beratungsstellen, in den Ar-
Ministerin Irene Ellenberger
beits-, Beschäftigungs- und Entwicklungsgesellschaften, in den ABM-Projekten, aber leider auch in den Sozialämtern kennt, der weiß: Es ist Zeit für einen Wechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Dabei will ich die Erfolge der Vergangenheit, die man dem Arbeitsförderungsgesetz durchaus zuschreiben kann, überhaupt nicht schmälern. Die Situation aber hat sich radikal gewandelt. Deshalb brauchen wir einen ebenso klaren Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik.
Der erste und wichtigste Punkt ist, endlich zu erkennen, daß die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit gesamtstaatliche Aufgabe ist, und dementsprechend dann zu handeln. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unternehmen, die gemeinsam die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung leisten, können die enormen Belastungen durch die hohe Arbeitslosigkeit nicht allein tragen. Ich sage das sehr bewußt auch vor dem Hintergrund der Tatsache, daß viele Transfermilliarden aus der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit in den neuen Bundesländern eingesetzt worden sind. Ich will auch gern die Gelegenheit nutzen, vor dem Deutschen Bundestag den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmern für diese Hilfe, auf die wir dringend angewiesen waren und auf die wir auch in Zukunft weiter angewiesen sein werden, herzlich zu danken.
In der Zukunft muß diese Finanzquelle allerdings unbedingt um einen regelgebundenen Zuschuß des Bundes an die Arbeitsverwaltung ergänzt werden, damit Stetigkeit, Verläßlichkeit und Planbarkeit die zukünftige Arbeitsmarktpolitik auszeichnen. Die arbeitslosen Frauen und Männer haben ein Recht auf eine klare Finanzierungsperspektive in der Arbeitsmarktpolitik. Sie haben kein Verständnis für immer wieder neue einschneidende Maßnahmen - sprich: Kürzungen -, die auch die Programme der Länder immer weiter aushöhlen.
Der heute zur Diskussion stehende Gesetzentwurf der Fraktion der SPD greift ein zentrales Element einer erfolgversprechenden Arbeitsmarktpolitik der Zukunft auf, indem die Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik gesetzlich verankert werden soll. Wir haben gerade gestern in Gotha unsere sechste und letzte regionale Arbeitsmarktkonferenz in diesem Frühjahr beendet. Wir setzen damit eine der Grundsatzentscheidungen der Thüringer Landesregierung, die Arbeitsmarktpolitik des Landes zu regionalisieren, jedenfalls soweit es die gültige Rechtslage zuläßt, um.
Auch wenn wir am Anfang bei unseren Partnern zugegebenermaßen auf Skepsis stießen, kann ich heute eine sehr befriedigende Bilanz ziehen. Alle, die dort waren und sich aktiv an der Diskussion beteiligt haben - Vertreter der Kommunen, der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der Arbeitsverwaltung,
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekten -, haben uns erklärt, daß dies der richtige und der erfolgversprechende Weg ist.
Das gilt um so mehr, wenn es darum geht - das ist im Gesetzentwurf der SPD-Fraktion auch vorgesehen -, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Strukturpolitik besser und effektiver miteinander zu verzahnen.
Für mich hat in diesem Zusammenhang jedoch ein zusätzliches Moment besondere Bedeutung. Sicher ist die Effektivierung der Arbeitsmarktpolitik wichtig, sicher ist die Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen der Arbeitsämter in diesem Zusammenhang, die auch wir in Thüringen fordern, wichtig. Sicher ist es wichtig, für arbeitslose Frauen und Männer Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekte zu organisieren, an deren Ende produktive Ergebnisse stehen.
Fast noch wichtiger aber für die Zukunft ist die wachsende Erkenntnis aller Akteure, daß wir die Arbeitslosigkeit nur gemeinsam bekämpfen können. Dazu gehört auch das Wissen der Betroffenen, daß sich diejenigen, die für die Beschäftigung Verantwortung tragen, um sie und ihr Anliegen tatsächlich kümmern.
In dem Gesetzentwurf scheint mir von besonderer Bedeutung die Vorschrift zu sein, die vorsieht, den notwendigen Maßnahmen einen individuellen Eingliederungs- und Förderplan vorzuschalten. Damit könnte viel besser als in der Vergangenheit gewährleistet werden, daß auf die spezifische Situation der Arbeitslosen eingegangen und die Kombination von Maßnahmen gewählt und vorgeschlagen wird, die ihrer Lage am besten entspricht. Arbeitsverwaltung und Arbeitslose hätten damit einen Wegweiser in der Hand, der mit größerer Zielgenauigkeit und höherer Sicherheit den Pfad über die Brücke Arbeitsförderung in die Regelbeschäftigung weisen würde.
Ich begrüße besonders die Rechtsansprüche, die der Gesetzentwurf für Langzeitarbeitslose und für Jugendliche vorsieht. Gerade bei den Jugendlichen darf es keine Frage des guten Willens oder auch nur des Abwägens sein, ob sie gefördert werden sollen oder vielleicht doch nicht. Hier ist die Förderung dringend geboten, damit die Jugendlichen eine Chance haben, in diese Gesellschaft integriert zu werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Bundesregierung fragen, wann sie nun endlich das dringend notwendige Sonderprogramm zur Schaffung von außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen für die neuen Bundesländer auflegen wird. Sie wissen alle, daß es auch in diesem Jahr nicht ohne dieses Programm gehen wird. Aber außer Appellen an die Betriebe habe ich bis jetzt noch keine Aktivitäten feststellen können, um die Misere auf dem Ausbildungsstellenmarkt beseitigen zu helfen.
Ministerin Irene Ellenberger
Ich denke, die Bundesregierung ist in der Pflicht. Ich halte es daher für unerträglich, daß die neuen Länder jahraus, jahrein aufs neue um dieses Programm betteln müssen.
Davon abgesehen weiß auch jeder, daß wir bis zum Jahre 2006 auf Grund des höheren Bedarfs - wir werden etwa 7 000 bis 8 000 neue Ausbildungsstellen pro Jahr brauchen - ein planungssicheres Programm und nicht ein Ad-hoc-Programm jedes Jahr neu brauchen.
Ich begrüße mit großem Nachdruck die vorgesehenen Regelungen, mit denen Frauen gezielt in der Arbeitsmarktpolitik gefördert werden sollen. Wenn es denn nicht anders geht - das ist leider die Regel -, bedarf es eben einer verbindlichen Frauenquote für die Arbeitsmarktförderung.
Angesichts der Tatsache, daß Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern weiblich ist, bin ich sehr froh, daß wir im Rahmen der Landesarbeitsmarktpolitik Thüringens in fast allen Förderprogrammen Frauen entsprechend der Arbeitslosenquote berücksichtigt haben. Dagegen gibt es auch keine Proteste, sondern es gibt nur motivierende Zustimmung. Ich bin sicher: Wäre das ASFG bereits in Kraft, die arbeitslosen Frauen, aber auch die arbeitslosen Männer würden diesen Förderinstrumenten und Regelungen ohne Einschränkung zustimmen.
Meine Damen und Herren, das vergleichsweise kleine Bundesland Thüringen wendet allein in diesem Jahr über 540 Millionen DM für die eigene Landesarbeitsmarktpolitik auf. Wir sind dabei bemüht, die Instrumente unserer Arbeitsmarktpolitik mit denen der Arbeitsämter zu verbinden, um möglichst hohe Synergieeffekte zu erzielen. Mit den Instrumenten des ASFG wäre dies noch sehr viel leichter und sicherlich auch effektiver möglich. Wir müßten dann auch nicht mehr verzweifelt, wie gerade jetzt ganz aktuell, um die Verlängerung des § 249h AFG, den wir auch in Zukunft, also über 1997 hinaus, ganz dringend brauchen, kämpfen, sondern wir könnten uns darauf konzentrieren, gemeinsam mit der Arbeitsverwaltung vor Ort die Qualifizierungs- und Beschäftigungsprojekte sowie die Eingliederungsprojekte für den ersten Arbeitsmarkt zu entwickeln und damit den arbeitslosen Menschen in unserem Lande nachhaltig zu helfen.
Hinzu käme, daß bereits im ersten Jahr, in dem das Instrumentarium des ASFG zur Verfügung stünde, die Arbeitslosigkeit in Thüringen in Höhe von 14,4 % - das sind die registrierten Arbeitslosen; eigentlich sind es ja 30 %, wie ich gerade gesagt habe - deutlich gesenkt werden könnte. Stellen Sie sich das vor: Die Arbeitslosigkeit würde kurzfristig um mehr als ein Fünftel heruntergedrückt, weil wir arbeitsmarktpolitische Perspektiven anbieten können, die es bis
heute nicht gibt. Viele Menschen, die jetzt im Abseits stehen, weil sie schon seit Jahren arbeitslos sind, würden wieder Hoffnung schöpfen und Mut und Zuversicht für ihre Zukunft erhalten, und die Politik hätte bewiesen - das ist, glaube ich, besonders wichtig -, daß sie handlungsfähig ist.
Meine Damen und Herren, zeigen Sie, daß Sie handlungsfähig sind! Der Deutsche Bundestag entscheidet nicht nur über ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz, sondern auch über die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, vor allem aber über das Schicksal von vielen tausend arbeitslosen Frauen und Männern. Vergessen wir in unserem sozialstaatlichen Handeln nie, wem wir verantwortlich sind: den Menschen, die ohne unsere Hilfe in unserem ansonsten doch so reichen Deutschland chancenlos sind.
Das ASFG könnte uns diese Hilfestellung wesentlich erleichtern und eine weitere Spaltung in Arbeitslose und Arbeitende verhindern.
Vielen Dank.
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat das Wort für die Bundesregierung der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn meines Diskussionsbeitrages ein paar Punkte formulieren, von denen ich glaube, daß sie eine breite Basis der Zustimmung finden; denn je mehr Gemeinsamkeit wir zustande bringen, desto besser ist es doch für die Arbeitslosen. Darm wird es immer noch große Möglichkeiten geben, Kontroversen auszutragen.
Der erste Punkt: Arbeitsmarktpolitik ist im Kampf gegen Arbeitslosigkeit unverzichtbar. Ohne Arbeitsmarktpolitik wären Millionen von Menschen im Prozeß der deutschen Einheit in ein Loch der Resignation und der Hoffnungslosigkeit gefallen.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Zeitweise hätten wir 2 Millionen mehr Arbeitslose ohne ABM, ohne Fortbildung und Umschulung, ohne Kurzarbeitergeld gehabt;
2 Millionen mehr, nachdem innerhalb kurzer Zeit die Zahl der Arbeitsplätze von 9 Millionen auf 6 Millionen abgesenkt wurde! Es bedarf keiner großen Phantasie, sich auszudenken, was gewesen wäre, wenn nicht der Rettungswagen ABM, Fortbildung, Umschulung, Altersübergangsgeld und Kurzarbeit zur Verfügung gestanden hätte.
Man wird natürlich immer besser werden können.
Es wird auch niemand bestreiten, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch einen hohen produktiven Wert hatten. Ganze Gebiete wären gar nicht ansiedlungsfähig gewesen. Ich rede vom ChemieDreieck, von Mibrag, Leubrag, Riesa. Ohne ABM hätten diese Flächen gar nicht sanierungsfähig gemacht werden können.
Ich sehe als zweite Funktion: Viele sind aus ABM- Gesellschaften in selbständige Existenzen überführt worden. Bei allem, was besser gemacht werden kann: Immerhin zwei Drittel derjenigen, die an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen teilgenommen haben, waren Monate später nicht mehr bei den Arbeitslosen.
Also: Der Arbeitsmarkt kann immer besser werden.
75 Prozent derjenigen, die Lohnkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslosigkeit in Anspruch genommen haben, sind in dem Betrieb geblieben. Wir können zwar immer noch besser werden, aber die Arbeitsmarktpolitik braucht sich nicht zu verstecken. Sie hat einen wichtigen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet. Das ist der erste Teil.
Der zweite Punkt - ich hoffe, da stimmen wir auch noch überein -: Kein noch so guter ABM-Platz ist so gut wie ein normales Arbeitsverhältnis. Da stimmen wir auch überein. Der zweite Arbeitsmarkt ist kein Ersatz für den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen keinen zweiten Arbeitsmarkt, der sozusagen als ein Parkplatz eingerichtet ist.
Wir wollen ihn als Brücke in die Beschäftigung.
- Ich will ja Übereinstimmung festhalten. - So notwendig Arbeitsmarktpolitik ist -, sie ist immer nur ein Mittel zum Zweck. Sie ist kein Selbstzweck.
Wir stimmen auch darin überein, daß wir anstelle der alten Planwirtschaft keine neue ABM-Gesellschaft wollen.
Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit - darin müßten wir auch übereinstimmen - dürfen kein bequemes Ruhekissen für die Betriebe sein, sich aus Fortbildungs- und Ausbildungspflichten herauszumogeln. Es bleibt die erste Aufgabe, im Betrieb weiterzubilden. Es darf nicht nur Investitionsplanung für Maschinen geben, sondern es muß auch Personalplanung für die Menschen geben. Dazu gehört die Qualifizierung. Das ist Teil der Aufgabe eines modernen Unternehmers.
In einer Zeit, in der die Wirtschaft von großer Dynamik gekennzeichnet ist und Bildungswissen schnell verfällt, bleibt die Qualifizierung eine lebenslange Aufgabe. Diese Aufgabe liegt nicht bei der Bundesanstalt, sondern in den Betrieben selber. Das beginnt bei der Lehrlingsausbildung.
- Ja, das gilt auch für Minister und Abgeordnete. Man kann immer klüger werden. Ich bin gerade dabei, es zu versuchen.
Ich wiederhole: Das beginnt bei der Lehrlingsausbildung. In diesem Zusammenhang schließe ich mich Frau Babel an, all denjenigen zu danken, die mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt haben, als sie mußten. Solche Unternehmen gibt es nämlich. Aber es entspricht auch einer klugen Voraussicht, nicht von der Hand in den Mund zu leben. Ab dem Jahr 2007 wird der Nachschub für Fachkräfte stark zurückgehen. Ein kluger Unternehmer baut vor und bildet nicht nur für kurzfristige Bedürfnisse aus.
Ich will neben dem Dank an diejenigen, die mehr tun, als im Augenblick für sie notwendig erscheint, meine Kritik auch an jene Großbetriebe richten, die sich darauf verlassen, daß die Handwerksmeister mehr junge Leute ausbilden, als sie selber brauchen, um sich diese Fachkräfte anschließend aus dem Mittelstand herauszukaufen. Diese Betriebe halte ich für bildungspolitische Nassauer, um es einmal kurz zu sagen.
Wenn ich von Weiterbildung spreche, meine ich auch die älteren Arbeitnehmer. Wir müssen das Vorurteil abbauen, daß Bildung nur etwas mit dem ersten Drittel des Lebens zu tun hat. Es geht auch nicht nur um Aufstiegsbildung. Es geht auch darum, im erlernten Beruf auf der Höhe der Zeit zu sein.
Ich hoffe, daß wir insoweit eine breite Übereinstimmung haben.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Lassen Sie uns jetzt einmal weiter vorgehen. Das Gebot der Stunde heißt, Arbeitsplätze zu schaffen. Nur ich bleibe dabei: Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist nicht Sache des Staates. Das ist die Sache der Unternehmen. Wir in Deutschland brauchen doch für diese These wirklich kein Lehrbuch. Wir haben doch die Lehrbeispiele in der alten DDR gesehen. Immer dort, wo der Staat versucht hat, Arbeitsplätze zu schaffen, ist das in die Hose gegangen. Das heißt aber nicht, daß der Staat nur Zuschauer ist. Er ist für die Rahmenbedingungen verantwortlich.
Ich will unter Bezugnahme auf die rotgrünen Rahmenbedingungen, die gerade in Nordrhein-Westfalen geschaffen werden, hinzufügen: So viele ABM- Plätze, wie Sie durch die Nichtverwirklichung von Garzweiler II benötigen, werden Sie gar nicht schaffen können.
- Doch. Was Sie hier mit der Hand an ABM aufbauen, haben Sie längst rot-grün mit dem Hintern umgeschmissen. Erst stecken Sie etwas an, und dann wollen Sie sich hier als ABM-Feuerwehr feiern lassen. So viele Arbeitsplätze, wie durch das rotgrüne Ausstiegsszenario in Nordrhein-Westfalen verloren gehen, können Sie durch die beste Arbeitsmarktpolitik überhaupt nicht schaffen. Die Zeche zahlen die Arbeitslosen.
- Ich kann nur hoffen, daß das dem Industriestandort Nordrhein-Westfalen erspart bleibt. Ein Ausstiegsszenario ist kein Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen.
Aber jetzt wollen wir uns den Gesetzentwurf selber noch einmal ansehen. Meine Hauptkritik an Ihrem Entwurf - trotz der Übereinstimmung, die ich formuliert habe - ist: Er ist noch immer von einem Behördentick gekennzeichnet. Vorschriften werden es schon richten!
- Ich werde Ihnen das gleich zeigen.
Als erstes wird der uralte Hut, der schon verfilzt ist, der schon schimmelig ist, ,,Meldepflicht für offene Stellen" wieder präsentiert. Das ist nun wirklich aus dem sozialgeschichtlichen Museum. Sie müssen mir einmal sagen, wie Sie diese Meldepflicht überhaupt kontrollieren wollen, welche Sanktionen Sie haben. Da meldet ein Unternehmer 10 offene Stellen. Soll das Arbeitsamt jetzt sagen: Du hast nicht 10, du hast 13? Wie soll denn das Arbeitsamt einem Unternehmen vorschreiben, wieviel offene Stellen es hat? Wenn das Unternehmen sagt: 10, kann das Arbeitsamt nicht sagen: 15; es sei denn, es würde die Bezahlung von 5 Stellen übernehmen. Soll das der Sinn der Meldepflicht sein? Sie sehen, das ist wirklich aus der Phantasie eines Bürokraten geboren, aber nicht aus der Lebenswirklichkeit. Heilige Einfalt!
Zweiter Punkt: Die Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik sollen immer 50 % der Gesamtausgaben betragen. Merken Sie eigentlich nicht, daß wir derzeit 42 % haben?
- Sie hatten am Ende Ihrer Regierungszeit 27 %, ja. Ich würde mich aber nicht auf eine Quote einlassen; denn in Zeiten des Aufschwungs gibt es andere arbeitsmarktpolitische Notwendigkeiten als in Zeiten des Abschwungs. Wollen Sie dadurch denn jede vorausschauende, antizyklische Arbeitsmarktpolitik unmöglich machen? Wenn Sie eine Quote festlegen, arbeiten Sie wie mit einem Thermometer, das nicht vorausschauend etwas anzeigt, sondern immer den Augenblick einfängt. Also bedeutet diese Quotierung eine Fessel für die Arbeitsmarktpolitik.
- Regen Sie sich doch nicht so auf! Ich darf das, was ich für schwach halte, doch einmal sagen.
Die Sozialhilfeträger sollen für die Sozialhilfeempfänger die Hälfte des Beitrags zahlen, also eine Art Arbeitgeberbeitrag. Dafür soll allerdings das Arbeitsamt die ganze Arbeitsmarktpolitik liefern. Meine Damen und Herren, das ist nach dem Motto: halbe Einnahmen, ganze Leistung. Was daran unter dem Gesichtspunkt von Belastungsgerechtigkeit fortschrittlich sein soll, weiß ich nicht. Das ist der Zauberkasten der SPD: die Hälfte des Beitrags, aber die volle Leistung. Also müssen es die anderen bezahlen.
Frauenquote: Wenn Sie alles quotiert haben, dann ist die SPD-Welt perfekt.
Ich finde, die Frau Minister hat gerade vorgeführt, was wir ohne Quotierung in der Arbeitsmarktpolitik geschafft haben: Arbeitslosenanteil der Frauen im Osten 63,4 %, Anteil der Frauen an Fortbildung und Umschulung 64,8 %, also in Übereinstimmung mit der Quote. Anteil der Frauen an ABM im Osten 64,7 %, und das bei einem Anteil der Frauen an den Arbeitslosen von 63,4 %. Was den Westen betrifft, sieht es wie folgt aus: Anteil der Frauen an den Arbeitslosen 43 %, Anteil der Frauen an Fortbildung und Umschulung 42 %, Anteil der Frauen an ABM - da liegen sie zurück - 37,7 %. Sie sehen, Sie müssen nicht glauben, daß Sie das Problem immer nur mit der Peitsche von Quoten und starren Regelungen lösen. Vertrauen Sie auch auf den Einfallsreichtum derjenigen, die mitwirken. Sie haben doch gerade für Dezentralisierung gesprochen, haben gerade das Hohelied der Phantasie vor Ort gesungen. Diese Phantasie wollen Sie jetzt mit einem Korsett von Quoten und Abgaben überziehen. Dann ist Ihre ganze Dezentralisierung doch überflüssig. Sie wollen
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
erst alles in Karteikästen und Computern haben, und dann wollen Sie Dezentralisierung machen.
Wenn Sie schon Ihre große ABM-Pionierschaft hier vorführen wollen, so habe ich dazu gerade die Meldung: Niedersachsen, SPD-regiert, streicht 3,7 Millionen DM für ABM. Die Bundesanstalt zahlt 60 Millionen DM, und in Niedersachsen sind 4 000 ABM-Plätze gefährdet, weil Herr Schröder 3,7 Millionen DM sperrt. - Bevor Sie mit mir Krach anfangen, telefonieren Sie erst einmal mit Herrn Schröder.
Ich will noch einen Punkt aufgreifen: Strukturanpassungsgeld far ältere Arbeitnehmer. Das ist nichts anderes als Etikettenschwindel. Das ist ein Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer. Das reguläre Arbeitslosengeld soll von den Betrieben durch eine Umlage aufgebracht werden, aus der die über 56jährigen entlassenen Arbeitnehmer finanziert werden sollen. An der Umlage beteiligen sich alle Unternehmen. Wenn Unternehmen nur Ältere beschäftigen würden, müßten auch sie also eine Umlage zahlen. Könnten Sie mir einmal sagen, wie Sie auf diese Quotierung und Umlagenphilosophie noch irgendeine Initiative aufbauen wollen?
Wir werden sicherlich auch Strukturpolitik machen müssen. Das ist richtig. Ich bin nicht ein Mensch, der glaubt, der Staat sei nur ein Nachtwächter. Nein, in der Tat muß er Hilfen geben. Aber Sie erfinden die Welt doch nicht zum zweitenmal. Was machen wir denn mit den Beschäftigungsgesellschaften nach § 249 h AFG als einem Teil der Strukturpolitik?
Was die Arbeitszeit anlangt, verehrte Frau Kollegin Beck: Lassen Sie doch den einzelnen selber entscheiden, welches Arbeitszeitquorum er möchte. Machen Sie die Teilzeitarbeit nicht madig. Ich bin wie Sie der Meinung, daß das nicht eine Spezialform für Frauen ist, sondern daß wir flexible Arbeitszeiten brauchen. Die Teilzeitarbeit muß nicht tagesgeteilt sein. Ich bin für eine Arbeitszeit nach Maß. Je mehr Sie vorschreiben, um so mehr behindern Sie die Zeitsouveränität der Arbeitnehmer.
Ich denke, daß in unseren Köpfen noch viel obrigkeitsstaatliches Denken vorhanden ist. Wir meinen, wir müßten vom Staat aus die Arbeitszeiten zuteilen. Laßt das die Betriebspartner machen. Laßt das die Tarifpartner machen. Laßt einen bunten Strauß von unterschiedlichen Arbeitszeiten möglich werden, von Arbeitszeiten, die es zulassen, Arbeits- und Lebensrhythmus wieder besser in Übereinstimmung zu bringen.
Ich habe meine Kritik vorgetragen.
Ich will auch vortragen, wo es, wie ich glaube, eine
Basis für Gespräche gibt. Denn wir wollen ja zusammen eine Reform des Arbeitsförderungsgesetzes erreichen. Hier wird ja nicht in der Weise diskutiert: Die einen wollen eine Reform, und die anderen wollen sie verhindern. Wir stehen in einem Wettbewerb. Dort, wo Übereinstimmung herrscht, laßt sie uns - das Ganze ist ja kein Prestigekampf - ungeschminkt formulieren. Dort, wo Unterschiede sind, beginnt der Wettbewerb der besseren Argumente. Aber eine Reform wollen wir.
Ich glaube, daß die Brücke der Übereinstimmung auch in der Absicht besteht, die Bundesanstalt stärker zu dezentralisieren. Es gibt eine breite Übereinstimmung, die Bundesanstalt sozusagen vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Herr Minister, Herr Kollege Gilges würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte sehr.
Herr Bundesminister, Sie haben jetzt und auch letztens in einer Rede gesagt, Sie würden eine Reform vorlegen und wir würden konkurrieren. Man kann nur konkurrieren, wenn die Bundesregierung in der Lage ist, zeitgerecht zu unserem Gesetzentwurf einen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich sehe zur Zeit nicht, daß es irgendwo eine Vorlage gibt,
die man als Reform bezeichnen könnte. Weder gibt es so etwas, wie ich gehört habe, im Bundesarbeitsministerium, noch haben Sie im Kabinett einen Entwurf oder sonst irgend etwas eingebracht.
- Drei Jahre? Wir haben keine Stunde mehr Zeit, um etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun, Herr Kollege.
Legen Sie doch einmal Ihre Reform vor! Wann kommt sie? Sagen Sie das hier einmal konkret!
Herr Gilges, unsere Reformvorschläge unterscheiden sich von Ihren dadurch, daß sie solide vorbereitet sind.
Wie unsolide Ihr Vorschlag, Herr Fraktionsvorsitzender, ist, erkennen Sie, wenn Sie einmal nachsehen. Sie haben in Ihrem Entwurf als Termin für das Inkrafttreten 1994 stehen. Betrachten Sie einmal Ihre Kostenrechnungen. Die eine bezieht sich auf 1993, die andere auf 1994 und eine weitere auf 1995.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Lieber Kollege Gilges, als ein Verehrer von handwerklicher Seriosität, wie ich es bin, sage ich: Pfusch machen wir nicht.
Deshalb gibt es einen seriösen Vorschlag. Ich lade ausdrücklich dazu ein, daß wir uns darüber austauschen.
- Soll ich Ihnen noch ein paar Beispiele für Pfusch geben?
Sie rechnen mit 1,5 Milliarden DM bezüglich der Umlage für das Arbeitslosengeld. Schon über den Daumen gepeilt sind das 6 Milliarden DM. Die Toleranzgrenze Ihrer Ungenauigkeit hat ungefähr die Streubreite der alten Schrotflinte meines Großvaters, die sehr ungenau war.
- Wenn wir unsere seriösen Vorbereitungen abgeschlossen haben. Schnell ist nicht immer gut. Herr Schreiner, Sie sind sehr schnell.
Ich will die Punkte zusammenstellen, von denen ich glaube, daß sie Übereinstimmung finden. Dazu gehören Dezentralisierung und auch Flexibilisierung, verbunden mit mehr Entscheidungsmöglichkeiten, wie man Maßnahmen miteinander kombinieren und wie man Experimente vor Ort gestalten kann, ohne mit der Regionalisierung eine Balkanisierung des Sozialstaates Deutschland zu verbinden. Es bleibt bei einer Bundesanstalt für Arbeit. Es gibt keine unterschiedlichen Beiträge, sonst wären die Beiträge dort am höchsten, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist.
- Ich will das nur festhalten. Ich will nur festhalten, was wir unter Dezentralisierung verstehen.
Unter Flexibilisierung verstehe ich auch, daß wir einmal der Frage nachgehen, ob der im Arbeitsförderungsgesetz eingebaute Berufsschutz wirklich noch auf der Höhe der Zeit ist. Versichern wir Einkommen, aber doch nicht Diplome! Auch ein nicht arbeitsloser Arbeitnehmer muß möglicherweise seinen Beruf wechseln, muß zur Mobilität bereit sein. Dieses fast berufsständische, hierarchische Denken stammt aus dem 19. Jahrhundert. Versichert werden muß das Einkommen, für das ein Beitrag gezahlt wird, aber wir versichern keine Diplome.
Ich bleibe auch dabei, daß die Schaffung von Transparenz eine wichtige Aufgabe ist.
- Das ist richtig. Deswegen machen wir es ja besser.
Sie haben immer von uns gefordert, schnell zu handeln. Wir haben viele Novellen geliefert. Ich gebe zu, daß auf diesem Weg die Übersichtlichkeit des Arbeitsförderungsgesetzes nicht gewachsen ist. Bei § 242 sind wir inzwischen beim Buchstaben u angekommen. Jemand, der dieses Gesetz lesen soll, muß nachts studieren, damit er tagsüber keinen Fehler macht.
Es ist in der Sozialpolitik nun einmal so, daß man immer wieder Reformen braucht, um das, was in der Zeit gewachsen ist, manchmal auch wild gewachsen ist, wieder mit Schneisen der Übersichtlichkeit zu versehen.
Es bleibt dabei: Die Reformnotwendigkeit wird von allen Seiten gesehen. Es bleibt dabei, daß die Arbeitsmarktpolitik nicht die Arbeitslosenfrage lösen kann, daß sie allerdings einen Beitrag dazu leisten muß.
Es bleibt dabei, daß wir Übereinstimmungen festhalten sollten und bei Differenzen in einen mit wenig Rechthaberei und prestigeminimiert geführten Dialog um die besseren Vorschläge eintreten, also in einen konstruktiven Wettbewerb zwischen Opposition und Regierung mit dem Ziel, eine Reform des Arbeitsförderungsgesetzes im Interesse der Arbeitslosen, im Interesse der Arbeitnehmer, im Interesse der Wirtschaft zustande zu bringen.
Herr Kollege Adolf Ostertag, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Arbeitsminister hat einmal wieder einen Wettbewerb der Ideen angekündigt. Das kennen wir schon aus der letzten Legislaturperiode zur Genüge. Aber die Ideen bestanden eben in Kürzungsideen, in Demontagevorhaben, die in der Arbeitsmarktpolitik dann auch rigoros und konsequent umgesetzt wurden.
Es gibt viele Absichtserklärungen. Beim Weltsozialgipfel hat der Arbeitsminister vor wenigen Wochen ein gutes Dokument unterschrieben. Beim Weltwirtschaftsgipfel in der vergangenen Woche wurde angekündigt, daß endlich im nächsten Jahr ein Arbeitsmarktgipfel stattfinden wird. Dazu muß ich sagen - Frau Babel, das geht auch in Ihre Richtung, denn Sie haben die weltweite Arbeitslosigkeit beklagt, scheinbar als Entschuldigungsgrund für uns -, daß die politisch Mächtigen der Welt in diesem Jahr wieder unglaubwürdiger werden, denn sie schieben das Thema nur vor sich her.
In unserem Land hat die Regierung bei den 6 Millionen Menschen, die arbeitswillig sind, aber keine Arbeit finden, schon längst ihre Glaubwürdigkeit verloren. Für die gesellschaftlich Ausgegrenzten gibt
Adolf Ostertag
es eben kein Konzept dieser Regierung, und ich bezweifle auch, daß es einen ernsthaften politischen Willen gibt, ihnen wirklich zu helfen. Absichtserklärungen von der Regierung und den Parteien, die seit 13 Jahren an den Schalthebeln der politischen Macht sitzen, sind für mich nicht mehr glaubwürdig, meine Damen und Herren.
Frau Babel, die Ursachen der Arbeitslosigkeit haben wir in den letzten Jahren auch genügend analysiert. Es kommt auf etwas ganz anderes an. Wenn wir einer Meinung sind, daß die Massenarbeitslosigkeit das Krebsübel dieser Gesellschaft ist, sogar weltweit, dann muß man deutlich dafür eintreten, daß die Gesamtkosten von jährlich 130 Milliarden DM, die die Bürgerinnen und Bürger bezahlen, in diesem Land endlich anders verwendet werden, nämlich zur Bekämpfung dieses Massenübels in unserer Gesellschaft.
Diese Zahl von 130 Milliarden DM zeigt, daß die aktive Bekämpfung ein sozialstaatliches Gebot ist. Sie gebietet es aber auch, die öffentlichen Finanzprobleme zu lösen. Die Geißel der Massenarbeitslosigkeit belastet nicht nur die Beitragszahler der sozialen Sicherungssysteme und die Steuerzahler, sie gefährdet auch - das ist bisher ein wenig zu kurz gekommen - den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Nicht allein die Arbeitslosigkeit, sondern bereits die Angst davor vertieft die allgemeine Politikverdrossenheit in unserem Land. Sie fördert die Fremdenfeindlichkeit und die Gewaltbereitschaft, und sie bedroht ernsthaft den inneren Frieden dieses Landes.
An der Massenarbeitslosigkeit wird sich ohne aktives Handeln der politisch Verantwortlichen allerdings nichts ändern. Wir wissen alle: Die Frage, wie sozialer Frieden in diesem Land erhalten werden kann, hängt entscheidend davon ab, für wie viele Menschen wir wieder eine Arbeit finden. Hierin stimmen wir sicher überein.
Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, müssen sich endlich dieser zentralen Frage stellen und Arbeitsplätze schaffen und sichern. Handeln ist angesagt, nicht Sprüchemachen. Dies ist deutlich zu unterstreichen.
Ich meine, daß Sie sich mit der Massenarbeitslosigkeit längst abgefunden haben. Sie reduzieren die Massenarbeitslosigkeit auf ein Problem der Tarifparteien, die die Lohn- und die Lohnnebenkosten verringern sollen. Wer hat denn die Lohnnebenkosten in den letzten 13 Jahren in die Höhe getrieben, so daß die Abgabenquote eines normalen Arbeitnehmers bei 48 % liegt? Welche Regierung hatte dies 13 Jahre politisch zu verantworten?
Herr Louven, die Tarifautonomie - dies möchte ich Ihnen und auch der Monopolkommission sagen - ist ein hohes Gut. Sie sollten im Grundgesetz noch einmal nachschlagen. Ausgerechnet von einem Sozialpolitiker, der sich als Scharfmacher betätigt, hier zu hören, daß die Löhne gesenkt werden müssen, daß die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssen, daß die Tarifautonomie eigentlich nicht mehr so ernst genommen werden muß, daß die Flächentarifverträge geschleift werden könnten, ist schon ein Trauerspiel. Dies zeigt, daß die Sozialausschüsse in Ihrer Partei wohl überhaupt nichts mehr zu sagen haben.
Ich empfehle Herrn Louven und den anderen CDU-Kolleginnen und -Kollegen einmal nachzulesen, was der Arbeitsminister an die IG Metall geschrieben hat. Heute kann man Auszüge in der „Frankfurter Rundschau" lesen. Dort heißt es, „daß die Tarifpartnerschaft bei uns nicht so verkalkt ist, wie viele befürchtet hatten". Dies ist schon erstaunlich. Weiter heißt es:
Die Gewerkschaften hätten „großen Mut, große Verantwortung und große Bereitschaft für Flexibilität bewiesen." Blüm betont: „Es gibt in keinem Land so ausgebaut friedliche Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wie in Deutschland."
Lesen Sie nach, was Ihr Arbeitsminister sagt!
Noch eines an den Arbeitsminister: Herr Blüm, Sie sind anscheinend ein Fan unseres Gesetzentwurfes. Die entscheidende Frage ist allerdings, was die F.D.P. in der Koalition bei der Arbeitsmarktpolitik zuläßt und was Ihnen Herr Waigel wieder diktiert. Das waren auch in den letzten Jahren bei allen Novellierungen, die wir hatten, die entscheidenden Punkte.
Die neu angekündigten Vorhaben der Bundesregierung sind die alten. Sie laufen darauf hinaus, nicht etwa die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sondern die Arbeitslosen durch weitere Einschnitte zu belasten. Der Bundesarbeitsminister hat eine grundlegende Reform des AFG angekündigt. Er möchte in einen Wettbewerb mit uns treten. Es wird eine Pseudoreform - diktiert vom Finanzminister - werden. Wie beim Sozialabbau und der Umverteilung von unten nach oben werden wieder die sozialpolitischen Grausamkeiten „blumig" umschrieben. Begriffe wie Sozialpakt, Wachstums- und Konsolidierungsprogramm, Beschäftigungsförderungsgesetz kennen wir aus den letzten Jahren. Was wir bisher gehört haben, ist reine Semantik mit wohlklingenden Namen. Sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Instrumentarium des AFG rigoros auf dem Rücken der Arbeitslosen zusammengestrichen wurde.
Dieses AFG wurde zu einem Reparaturinstrument zurechtgestutzt und wird seinen Aufgaben nicht mehr gerecht. Deshalb muß es durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz abgelöst werden, das die arbeitsmarktpolitischen Probleme des nächsten Jahrtausends wirklich in Angriff nimmt.
Im Gegensatz zur arbeitsmarktpolitischen Flickschusterei der Bundesregierung haben wir mit unserem ASFG ein innovatives und schlüssiges Konzept vorgelegt. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist für uns das Thema Nummer eins. Davon lassen wir
Adolf Ostertag
uns auch nicht abbringen. In der Erkenntnis, daß es im Interesse der arbeitenden Menschen höchste Zeit für eine neue Politik ist, fordern das nicht nur wir, sondern auch die Gewerkschaften, die Sozialverbände, die Kirchen und Wissenschaftler. Sie wollen ebenfalls eine umfassende Initiative für ein neues Arbeits- und Strukturförderungsgesetz.
Wir werben für dieses breite Bündnis, weil wir mit unserem Konzept den Menschen helfen wollen, die zur Zeit keine Perspektive sehen. Wir wollen - das ist der Kerngedanke - Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Arbeitsmarktpolitik ist dabei nicht mehr bloßes Reparaturinstrument. Arbeitsmarktpolitik muß eben einem eigenen Anspruch gerecht werden. Sie soll gestaltende, beschäftigungswirksame und auf Vollbeschäftigung hin orientierte Politik werden. Deswegen wollen wir sie, wie mehrere Redner betonten, mit der regionalen Strukturpolitik verzahnen.
Es ist auch notwendig, wie schon mein Kollege Ottmar Schreiner sagte, eine Gesamtstrategie vorzulegen. Darin ist die Arbeitsmarktpolitik eine Säule, die Arbeitszeitpolitik eine andere und die Wirtschafts- und Finanzpolitik natürlich die dritte wichtige Säule.
Wer meint, mit der Wirtschaftspolitik allein das Problem lösen zu können, so wie Sie es glauben, der irrt. Auch dann, wenn alle äußeren Bedingungen stimmen, müssen wir mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6 % rechnen, um die Massenarbeitslosigkeit wirklich bekämpfen zu können. Es glaubt ja wohl niemand, daß wir diese Zahl erreichen. Der Staat muß also weiterhin mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik eingreifen: Er muß gesellschaftlich sinnvolle Arbeit organisieren. Er muß dafür sorgen, daß Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Bedrohte sich aus- und fortbilden können. Er muß die Förderung der Wirtschaft mit den Möglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik verbinden. Er muß Vorsorge treffen, wenn absehbar ist, daß sich wirtschaftliche Strukturen verändern oder gar zusammenbrechen.
Wichtig ist mir dabei auch die regionale Ausrichtung. Von meinen Kollegen und Kolleginnen ist schon gesagt worden, welche Ziele wir dabei in den Mittelpunkt stellen. Die relevanten Akteure in der Arbeitsmarktpolitik sollen dabei in der Selbstverantwortung der Arbeitsämter vor Ort zusammenarbeiten.
Wir werden mit unserem ASFG die Tätigkeit der Arbeitsämter vom Kopf wieder auf die Füße stellen: Vorrang haben Maßnahmen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und zur Eingliederung in den regionalen und regulären Arbeitsmarkt. Dabei werden benachteiligte Arbeitslose besonders unterstützt, wie es dem Sozialstaatsgebot unserer Verfassung entspricht.
Wir wollen auch die Verschlechterungen des AFG, die in den letzten Jahren eingeführt worden sind, zu einem erheblichen Teil zurücknehmen. Die Bundesregierung hat 1994 das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe gesenkt. Wir werden die Kürzungen schrittweise wieder zurücknehmen. Die bewährte Schlechtwettergeldregelung für den Baubereich wollen wir wieder einführen, weil sie sich über viele
Jahrzehnte bewährt hat. Wir wollen, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, den alten § 116 AFG - vor vielen Jahren gegen unseren Widerstand und den der Gewerkschaften verändert - wiederherstellen und das Kräftegleichgewicht bei Arbeitskämpfen wieder ins Lot bringen. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe.
Besonderes Augenmerk richten wir auf die Langzeitarbeitslosen. Ihr Anteil steigt überproportional. Es sind inzwischen über 1,2 Millionen Menschen in diesem Land. Ihnen Chancen zu eröffnen ist eine der wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Aufgaben. Deswegen haben wir Förderpläne in unserem ASFG verankert. Deswegen haben sie nach zwei Jahren Anspruch auf eine Arbeitsbeschaffung, wenn andere Maßnahmen nicht in Frage kommen. Vor allen Dingen die Koalitionsparteien sollten einmal genau nachlesen, wie differenziert das ist. Das möchte ich natürlich insbesondere Herrn Louven nahelegen.
Trotz unterschiedlicher Auffassungen sollte eines klar sein: Arbeit ist nicht nur Broterwerb. Sie fördert wesentlich das Selbstwertgefühl der Menschen. Wer in diesem Land die soziale Wirklichkeit der Menschen kennt, wer in die Betriebe schaut, wer mit Sozialverbänden und Initiativen, die sich dankenswerterweise um die Arbeitslosen kümmern, spricht, der weiß, daß Arbeit nicht nur mit Geld aufgewogen werden kann, ein geregeltes Einkommen aber die zentrale Ausgangsposition für ein lebenswertes Leben ist.
Die Menschen wollen, daß endlich politisch wirksam gehandelt und nicht nur geredet wird. Die Massenarbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal. Dessen sollten wir uns als Politikerinnen und Politiker vor allen Dingen bewußt sein. Davon sollten wir uns auch leiten lassen, wenn wir in den anstehenden Beratungen unseren Gesetzentwurf behandeln.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD - Drucksache 13/ 1440 - an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 13/1719 zu dem Antrag der Fraktion der SPD betreffend Bündnis gegen Arbeitslosigkeit. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/19 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Vizepräsident Hans Klein
Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
In der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 13/1719 zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Aktionsprogramm Arbeitspolitik, empfiehlt der Ausschuß, den Antrag auf Drucksache 13/578 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
In der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 13/1719 zu dem Antrag der Gruppe der PDS betreffend Zukunftssicherung von Sozialstaat, Arbeit und Lebensstandort empfiehlt der Ausschuß, den Antrag auf Drucksache 13/702 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Einsetzung einer Enquete-Kommission ,,Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit"
zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur und der unterschiedlichen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland in Prozeß der deutschen Einheit"
- Drucksachen 13/1535, 13/1537, 13/1762 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Wiefelspütz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ludwig Elm, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Einsetzung einer unabhängigen ExpertenKommission zur Geschichte der DDR, der Bundesrepublik Deutschland und des deutschen Einigungsprozesses seit 1990
- Drucksache 13/1615 -
Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort. - Es wäre natürlich gut, wenn einem die Geschäftsführer die richtige Reihenfolge melden würden, aber sie sind im Gespräch vertieft. - Herr Kollege Eppelmann, wenn ich die Gesten richtig verstehe, wollen Sie als erster das Wort. Bitte sehr.
Herr Präsident! Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 8. Juni dieses Jahres war ich sehr glücklich. Da wollte pflichtgemäß der Obergerichtsvollzieher bei der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley Gerichtskosten in Höhe von 3 500 DM beitreiben. Weshalb diese Kosten Bärbel Bohley auferlegt worden waren, wissen alle in diesem Saal und in der Öffentlichkeit. Politiker aus allen Parteien außer der PDS, junge und politisch hellwache Menschen, Bürgerrechtler und viele andere waren gekommen, um Bärbel Bohley ihre Solidarität zu zeigen. In diesen Vormittagsstunden des 8. Juni wurde etwas von jenem antitotalitären Konsens lebendig, über den es im Schlußbericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" heißt - ich zitiere -:
Im öffentlichen Bewußtsein verankerter antitotalitärer Grundkonsens ist wesentlich für die Demokratie in Deutschland. Er schließt eine historisch fundierte Beurteilung der SED-Diktatur ein. Eine Aufarbeitung, die die Realitäten aufdeckt, die Verantwortlichen benennt und so den Erfahrungen der Menschen gerecht wird, ist entscheidend für eine demokratische politische Kultur in Deutschland.
Den antitotalitären Konsens haben wir nicht als festen Besitz. Er muß tagtäglich neu erarbeitet werden. Wir dürfen das politische Ziel nicht aus den Augen verlieren, nämlich: Nie wieder eine totalitäre Diktatur in Deutschland! Kein Gehör für diejenigen, die die Schrecken der Diktatur kleinreden und nostalgisch verklären wollen, kein Verwischen der Hauptverantwortung der SED für die in 40 Jahren in der DDR angerichteten Schäden!
Wer die „Überwindung dèr Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" wirklich will, der wird um der Zukunft willen den Blick zurück nicht verschließen dürfen.
Es geht nicht darum, den „kalten Krieg zu beenden - fünf Jahre nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft", wie ein geschätzter Kollege von der SPD meinte. Es geht um die Auseinandersetzung mit allen Formen totalitären Denkens. Das sind wir den Opfern der SED-Diktatur und den Bürgerrechtlern schuldig. Wir dürfen den Tätern und Helfern der SED keine neuen Wirkungsmöglichkeiten eröffnen. Sehr
Rainer Eppelmann
richtig, wenn auch etwas überraschend, hat derselbe Kollege von der SPD, der die Beendigung des kalten Krieges einforderte, vor etwa zehn Tagen beim Bautzenforum 1995 gesagt:
Einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen bedeutet einen kleinen Tod für die Demokratie.
Lieber Wolfgang Thierse, das wäre nicht nur „ein kleiner Tod" für die Demokratie, das könnte der Anfang von ihrem Ende sein.
Über die Leistungsfähigkeit einer Enquete-Kommission, die sich der Aufarbeitung der SED-Diktatur zuwendet, ist bereits in der vergangenen Legislaturperiode kritisch diskutiert worden. Heute wird niemand mehr ernsthaft bestreiten, daß die vorhergehende Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wichtige Anstöße gegeben und den gesellschaftlichen Diskurs entscheidend mitgeformt hat. Wir stünden heute als Demokraten im vereinten Deutschland wesentlich schlechter da, hätte es diese Enquete-Kommission mit ihrer Arbeit nicht gegeben.
Albert Schweitzer hat einmal sinngemäß gesagt, daß das Wenige, was wir tun können, viel ist. Ich setze heute hinzu: Dann laßt uns aber auch das Wenige, das wir machen können, tatsächlich auch jetzt tun, damit daraus viel wird!
Die neue Enquete-Kommission soll sich mit der Überwindung der SED-Folgen im Prozeß der deutschen Einheit beschäftigen. Manche besorgte Stimmen wurden in der Vorbereitungsphase für diese zweite Kommission laut, damit könnten die Biographien der Menschen in den neuen Bundesländern beschädigt werden. Ich halte das für Unsinn. Auch wenn es der Stasi gelang, abertausend Menschen in ihren Dienst zu ziehen, so waren es doch immer noch weit mehr als 15 Millionen von knapp 16 Millionen Menschen in der DDR, die sich nicht auf diese kriminelle oder unmoralische Weise mit der SED-Diktatur einließen, die sich verweigerten, anständig blieben und Widerstand leisteten. Diese Menschen, ihr Schicksal und ihre Zukunft im vereinten Deutschland werden im Mittelpunkt der Arbeit der neuen Enquete-Kommission stehen!
Die DDR war am Ende wirtschaftlich, politisch und moralisch pleite. Kenner der Materie berichten, die SED-Erblast in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt, mit der wir heute fertig werden müssen, betrüge etwa 2,2 Billionen DM. Eine solche Summe kann sich kein Mensch wirklich vorstellen. Wir müssen darum anschaulich machen, was das im einzelnen heißt.
Als die SED-Diktatur im Herbst 1989 gestürzt wurde, war ihre politische Pleite nicht mehr zu verbergen. Wir Oppositionellen in der DDR haben in unserem Widerstand viel von unseren Freunden in den osteuropäischen Ländern gelernt. Unser politisches Handeln im Herbst 1989 stand im Einverständnis mit den Völkern Osteuropas und des ganzen Kontinents. Nur so konnten der Übergang zur Demokratie in unserem Land und die deutsche Einheit ohne die Gefahr internationaler Konflikte gemeistert werden.
Ich halte es für unerläßlich, daß wir unsere Bemühungen um die Aufarbeitung der politischen Folgen der SED-Diktatur enger mit parallelen Bestrebungen in den osteuropäischen Staaten verbinden. Ich möchte von hier aus die Kolleginnen und Kollegen in den osteuropäischen Parlamenten dazu ermutigen, mit uns an dieser Stelle intensiver zusammenzuarbeiten, als sie das bisher getan haben. Ich bin davon überzeugt, daß wir auch weiterhin viel voneinander lernen können.
Die moralische Pleite der SED-Diktatur wird in ihrem vollen Umfang erst begreiflich, wenn man versteht, daß die gesamte DDR-Gesellschaft von der SED-Führung als konspirative Gesellschaft organisiert worden war. In der DDR war alles, was wirklich wichtig war, auch geheim. Ich erinnere an die Geheimniskrämerei, die mit allen statistischen Angaben in der DDR getrieben wurde, das Unwesen der vertraulichen Verschlußsachen und die Hunderttausende von Geheimnisträgern, denen die SED-Führung normale menschliche Kontakte z. B. mit Verwandten in der alten Bundesrepublik untersagte.
Konspirative Strukturen zwangen die SED-Machthaber auch dem Alltagsleben der Menschen auf. Wir verhielten uns selber konspirativ, was das Westfernsehen, Westkontakte, Gespräche mit Freunden und Kontakte zum Staatsapparat betraf. Als dann aber immer mehr Menschen die SED-Diktatur dekonspirierten, öffentlich über Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land, die Beschädigung der Natur und die Militarisierung der Gesellschaft redeten oder ihren Wunsch nach der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR offiziell protokollieren ließen, war das Ende des Honecker-Regimes in Sicht.
Menschen, die ihr ganzes Leben in konspirativen Strukturen einrichten mußten, werden davon geprägt. So etwas wirkt weiter. Das ist mit dem Unterzeichnen eines Vertrages noch nicht beendet. Die neue Enquete-Kommission soll auch für diese SED- Folgen im Prozeß der deutschen Einheit Verständnis wecken und Wege dazu aufzeigen, wie neues Vertrauen im demokratischen Staat gefördert werden kann.
In den Bereichen von Bildung, Wissenschaft und Kultur wirkte sich das konspirative Grundprinzip der SED-Diktatur besonders hinterhältig und verhängnisvoll aus. Sie sollen deshalb in der Arbeit der neuen Enquete-Kommission einen besonders hervorragenden Platz einnehmen.
Wir werden uns überlegen müssen, wie wir angemessene Formen des Gedenkens an die Opfer der SED-Diktatur weiterentwickeln können. Ich halte es für unerträglich, daß bis heute noch kein Mahnmal in der deutschen Hauptstadt an die etwa 70 deutschen Menschen erinnert, die im Volksaufstand des Juni 1953 ihr Leben verloren,
Rainer Eppelmann
und an die etwa 500 000, die mutig auf die Straße gingen und offen ihre Ablehnung der SED-Diktatur gegenüber zum Ausdruck brachten. Ehre gebührt auch mindestens den 40 Sowjetsoldaten, die standrechtlich erschossen wurden, weil sie sich weigerten, auf deutsche Demonstranten zu schießen.
Ebenso wichtig wird es aber sein, die Leistungen aufzuzeigen, die die Menschen in der DDR trotz der SED-Diktatur vollbrachten. Die weit mehr als 15 Millionen, die in der DDR ehrlich und anständig blieben oder es zumindest versuchten, brauchen sich wahrlich dessen nicht zu schämen, was sie da gegen das SED-System zustande brachten.
Ich bin sehr optimistisch: Diese Menschen werden zusammen mit denen in den alten Bundesländern auch den Aufschwung Ost für das ganze Deutschland zu einer Erfolgsgeschichte machen.
Wir sollten unsere Erwartungen für die nächsten gut drei Jahre nicht übersteigern, aber doch wissen, daß das Wenige, das wir tun können, viel ist und noch sehr viel mehr werden kann, wenn wir es nur - gemeinsam - wollen.
Herzlichen Dank.
Herr Kollege Wolfgang Thierse, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission der vorigen Legislaturperiode „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur" hat eine große, unersetzliche Arbeit geleistet. Es sind grundlegende Einsichten in das System der SED-Herrschaft und die Maschinerie des Staatssicherheitsdienstes, in Unrecht und Mißwirtschaft erbracht worden. Diese Enquete-Kommission hat einen antitotalitären Konsens formuliert - Rainer Eppelmann hat darauf hingewiesen -; sie hat ihn formuliert trotz mancher unvermeidlicher Meinungsverschiedenheiten in konkreten Bewertungsfragen von Geschichte. Das ist wichtig, und diesen Konsens gilt es festzuhalten.
Sie hat vor allem die Opfer zu Wort kommen lassen, jene, die 40 Jahre zum Schweigen verurteilt waren. Ich finde dies Letztere fast das Wichtigste dieser Kommissionsarbeit.
Ein wichtiger Schritt, eine wichtige Arbeit ist getan, aber die Aufgabe ist nicht erledigt. Der kritische Umgang mit der DDR-Geschichte muß weitergehen, die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit fortgesetzt werden. Um es unmißverständlich zu sagen: Ich
bin gegen Schlußstrichversuche, egal, wie sie begründet und formuliert werden. Man kann schwierige, drückende Geschichte nicht einfach mit einem Schlußstrich beenden.
Und ich will ausdrücklich auch sagen, damit dies ganz klar ist: Wir sind für die Fortsetzung der Enquete-Kommission. Es geht nicht um die Frage des Ob, sondern es ging immer nur um die Frage des Wie.
Deshalb hat die SPD-Fraktion einen eigenen Antrag gestellt, um uns notwendig erscheinende Präzisierungen des Kommissionsauftrages zu erreichen. Wir haben dafür bei den anderen Parteien keine Mehrheit gefunden, aber unsere Sorgen und Einwände bleiben bestehen. Ich will sie in drei Punkten zusammenfassen.
Erstens. Wir haben die Sorge, daß diese zweite Enquete-Kommission noch mehr als die erste Kommission der Gefahr parteipolitischer Instrumentalisierung von Geschichte ausgesetzt ist. Wir wollten diese Gefahr soweit begrenzen, wie das durch die Formulierung eines Kommissionsauftrages überhaupt möglich ist.
Unsere Sorge ist nicht widerlegt, sondern durch einen beunruhigenden Umstand bestätigt worden, die Tatsache nämlich, daß die Mehrheit es abgelehnt hat, den einfachen, aber wie ich finde unverzichtbaren Satz in den Kommissionsauftrag aufzunehmen, den Satz: „Politische Überzeugung und Parteimitgliedschaft als solche dürfen im vereinten Deutschland keine Benachteiligung zur Folge haben."
Dieser Kernsatz für unsere freiheitliche und pluralistische Ordnung soll also den immer auch politischen Blick nicht mitbestimmen, den eine Kommission des Deutschen Bundestages auf die DDR und ihre Folgen wirft. Diese Ablehnung finde ich verräterisch.
Zweitens. Ich bin überzeugt davon, daß Menschen nur dann fähig und bereit sind, sich selbstkritisch mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, wenn ihnen nicht die totale Negation ihres Lebens abverlangt wird, wenn von ihnen nicht verlangt wird, alles für schlecht und falsch zu halten, was ihr Leben ausgemacht hat.
Das führt nur zur Abwehr und Abwendung. Deswegen geht es uns um differenzierte und gerechte Betrachtung von Geschichte und Biographien; deswegen haben wir als Auftrag formuliert - ich zitiere -:
Die Enquete-Kommission soll exemplarisch darüber Auskunft geben, was die Menschen unter den und trotz der repressiven Bedingungen in der DDR geleistet haben, wie mit diesen Leistungen im Transformationsprozeß umgegangen worden ist und wie heute solche Leistungen wieder aufgenommen und für das gesellschaftliche Zusammenleben im vereinten Deutschland nutzbar gemacht werden können.
Wolfgang Thierse
Sie haben sich nicht bereitgefunden, diesen Satz in den Kommissionsauftrag aufzunehmen. Das finde ich problematisch; denn die ständige Wiederholung des richtigen Urteils über die DDR - daß sie eine Diktatur, ein Staat von Unrecht, ein System des Mangels war - macht dieses Urteil weder falscher noch richtiger. Aber die DDR, das Leben in ihr und die Erinnerung daran gehen in diesem Urteil nicht auf. Nur wenn wir die sichtbare Anstrengung unternehmen, auch Leistungen und positive Erfahrungen zu beschreiben, werden die Menschen nicht das Gefühl haben, daß es keine Chance auf eine faire, gerechte Bewertung ihres Lebens gibt.
Die Umfrageergebnisse sind auf beunruhigende Weise eindeutig: Immer mehr Menschen in Ostdeutschland, übrigens auch im Westen Deutschlands, verlieren das Interesse an kritischer Beschäftigung mit der Vergangenheit. Ich begrüße das nicht. Ich glaube, wir haben nur dann eine Chance, Mehrheiten für den kritischen Umgang mit der Geschichte zu gewinnen, wenn wir Menschen ermöglichen, sowohl nein wie auch ja zu ihrer Geschichte zu sagen.
Drittens. Wir nehmen den Titel der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" ernst. Ja, das ist so: Die ökonomischen und sozialen, die kulturellen und psychologischen Probleme in Ostdeutschland haben ihre erste Ursache in der 40jährigen DDR-Geschichte; aber sie sind nicht mehr zu erklären und zu lösen, ohne die Entwicklung der letzten fünf Jahre in den Blick zu nehmen. Es geht dabei nicht um billige Schuldzuweisungen. Aber wer die Folgen der SED- Diktatur wirklich überwinden will, muß auch die Ergebnisse des Vereinigungs- und Transformationsprozesses zum Gegenstand der Untersuchung machen.
Es geht uns also um Genauigkeit, Differenziertheit, Gerechtigkeit des Urteils. Was ich damit meine, lassen Sie mich an der Kommentierung von zwei Zitaten erläutern. Das erste stammt aus einer Urteilsbegründung des Magdeburger Landgerichts, in dem dieses Landgericht einen Richter und einen Staatsanwalt freispricht, obwohl diese noch 1988 Republikflüchtlinge zu hohen Strafen verurteilt haben. Da heißt es in der Urteilsbegründung, die Schuldfeststellungen hätten sich im Rahmen des üblichen DDR- Gerichts bewegt, und dann weiter:
Eine Rechtsbeugung hätte mithin nur durch Verletzung überpositiven Rechts dadurch begangen werden können, daß in menschenrechtswidriger Weise den damaligen Angeklagten Grundrechte vorenthalten worden wären.
Ein interessanter Konjunktiv.
Der angeklagte frühere Richter und der frühere Staatsanwalt hätten gemäß dem Strafgesetzbuch der DDR wissentlich die Gesetzwidrigkeit ihres Handelns erkennen müssen. Sie hätten folglich wissen müssen, daß sie mit ihren Entscheidungen gegen die Menschenrechte der damaligen Angeklagten verstießen. Die Kammer hat zugunsten der Angeklagten unterstellen müssen, daß sie infolge der jahrelangen Indoktrinationen durch das DDR-Regime hierzu nicht in der Lage waren.
Ist das Urteil schon problematisch, so halte ich diese Urteilsbegründung geradezu für anstößig und skandalös, wird uns DDR-Bürgern doch bescheinigt, daß wir keine moralischen Wesen mehr waren, daß wir nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden konnten, nicht mehr erkennen konnten, was Menschenrecht ist und was nicht, daß wir nicht mehr gewußt hätten, daß es ein Recht ist, sein Land zu verlassen, und daß das kein strafbarer Umstand sein kann.
Ich halte das für eine unerträgliche Gleichmacherei und Entschuldigung von Verhalten durch das System und damit für eine Entschuldung des Systems.
Diese Art von Gleichmacherei ist nicht unähnlich dem Versuch von anderer Seite, alle Unterschiede zu verwischen und die DDR-Vergangenheit durch deren Normalisierung entsorgen zu wollen.
Ich zitiere Markus Wolf, der nach dem Karlsruher Urteil - danach gefragt, ob nicht jetzt die Stasimitarbeiter im Zeugenstand aussagen müßten und würden - wörtlich antwortete:
Wer bis jetzt an Moral, Anstand, Ehre und Pflicht festgehalten hat, wird das auch weiter tun.
Ich gestehe, als ich das las, fiel mir doch tatsächlich - und ich kann nichts dafür - ein berüchtigtes Zitat von Himmler ein. Sie kennen es. Er hat 1943 vor SS- Offizieren wörtlich gesagt, nachdem er über die Leichenberge ermordeter Juden gesprochen hatte:
Dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen, anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht, und das ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.
Ich will nichts gleichsetzen, aber doch fragen: Welche Moral hat Markus Wolf eigentlich gemeint, welchen Anstand, welche Ehre? Wir dürfen es nicht zulassen, daß unsere öffentliche Moral eine Moral der Spitzel, unser Anstand der Anstand der Zersetzung und die Ehre die Ehre der Stasioffiziere ist, einander nicht zu verraten!
Hier liegt eine so drängend gegenwärtige Herausforderung für unseren Umgang mit dieser Vergangenheit, wie sie dringender für unsere demokratische Gesellschaft nicht sein kann.
Aber wenn wir dieser Herausforderung gewachsen sein wollen, kommt es auf die Unterschiede an, die Unterschiede zwischen den Biographien, die in der DDR gelebt wurden, auch die Unterschiede darin,
Wolfgang Thierse
wie ein ziemlich massenhaftes Einverständnis mit der DDR gelebt wurde. Diese Unterschiede dürfen nicht verwischt werden. Darum geht es, um Unterscheidung, um gerechtes Urteil.
Da uns dieses Ziel in der Formulierung des Kommissionsauftrages nicht ausreichend gesichert scheint, können wir ihm nicht zustimmen und werden uns mehrheitlich der Stimme enthalten.
Auf das Festhalten an unserem eigenen Antrag haben wir verzichtet, weil wir zwei Enquete-Kommissionen zur gleichen Thematik für unsinnig halten. Wir wollen gemeinschaftlich die Vergangenheit kritisch aufarbeiten, aber wir wollen Akzente der Differenzierung und der Gerechtigkeit des Urteils setzen. Wir werden deshalb die Arbeit der Kommission mittragen und unterstützen, damit sie sich, so es irgend geht, als eine Kommission, in der auch Politiker sitzen, fair und differenziert um die Beschreibung von Gegenwartsaufgaben aus 40 plus fünf Jahren bemüht, damit sie sich Pauschalurteilen verweigert und den Ostdeutschen hilft, selbstkritisch zu ihrer Geschichte zu stehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich will - wie der Kollege Thierse - mit zwei Beispielen beginnen. Sie zeigen allerdings, auf welch groteske Weise die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit manchmal geführt oder eben gerade nicht geführt wird. Für mich belegen sie, daß es keine Alternative zur Fortsetzung der öffentlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur gibt.
Erstes Beispiel: Das Deutsche Fernsehen zeigt einen Bericht über ein neues Buch des soeben vom Bundesverfassungsgericht zum Meisterspion ehrenhalber geschlagenen Markus Wolf, ein Kochbuch. Was kocht er? Natürlich Borschtsch. Über das unappetitliche Süppchen, das Herr Wolf als Mielkes Stellvertreter gekocht hat, erfährt der Leser natürlich nicht das Geringste.
Interessant ist die Meinung, die der Leiter des Verlages, der in seinen besseren Zeiten immerhin einige Ostdissidenten veröffentlicht hat, den Journalisten offeriert: Markus Wolf von einer neuen Seite, ein Mensch wie du und ich.
Nein, Wolfgang Thierse, kein Mensch wie du, auch keiner wie ich. Ich hoffe, darin stimmen wir überein.
Ein zweites Beispiel, eine Anzeige in zwei überregionalen Tageszeitungen: „Rechtsstaatlichkeit für Gysi!" Da ist von Vorverurteilung die Rede, von Rufmord, einem bedrohlichen Angriff gegen den Rechtsstaat, von Manipulation und Vernichtung der Persönlichkeit.
Wer bedroht den Rechtsstaat? Natürlich die Gauck-Behörde, die Bürgerrechtler und ein Bundestagsausschuß. Ich erspare es mir, auf den Unterzeichnerkreis einzugehen, mit Ausnahme der Kollegen Europaparlamentarier. Diese benötigen offenbar Nachhilfeunterricht über die Ereignisse in der DDR, die Stasiakten und über die für ihre Entstehung Verantwortlichen.
Im übrigen ist die Frage zu stellen, wann dieser illustre Unterzeichnerkreis jemals vergleichbare Initiativen zur Verteidigung der Opfer der SED-Diktatur ergriffen hätte.
- Ja, Herr Zwerenz, ich kenne diverse Papiere, die Sie unterschrieben haben.
Der Kollege Gysi ist nicht da; ich hätte es ihm gern selber gesagt. Gerade der Kollege Gysi müßte als Rechtsanwalt die Begrifflichkeit doch sehr genau kennen: Begriffe wie Beschuldigter, Beweislast, Verteidigung. Wann hat er jemals als Beschuldigter vor Gericht gestanden? Er selber hat den Rechtsstaat doch unablässig bemüht - und zwar als Kläger, nicht als Beschuldigter.
Ich lasse es bei diesen kleinen, aber in puncto Zustandsbeschreibung besonders schäbigen Beispielen bewenden.
Hunderte ähnlicher Beispiele ließen sich aufzählen. Sie sind fast alle nach dem gleichen Muster gestrickt: Täter oder Erfüllungsgehilfen werden reingewaschen. Was sie getan haben, war das eigentlich Normale. Die, die sich damals gewehrt haben, sind die Unnormalen, die Paranoiker. Heute von krankhafter Unerbittlichkeit beseelt, demontieren sie den Rechtsstaat, der von den neuen Ehrenmännern beschützt werden muß.
Dazu kommt das Lügenbild vom großen Verantwortungskollektiv. Wir alle waren ein wenig schuldig und überwiegend unschuldig. Deshalb laßt uns doch endlich Schluß machen: Amnestie, Versöhnung, Schlußstrich, Amen für die Theologen unter dem Gysi-Papier.
Gerd Poppe
Wolfgang Thierse, es geht überhaupt nicht um die Negation der ostdeutschen Biographien. Wer die Arbeit der vorigen Enquete-Kommission verfolgt hat, wird sehen, daß wir in Hunderten von Beispielen gerade auf diese Biographien eingegangen sind und den Nachweis erbracht haben, daß die meisten eben dieses ehrenwerte Leben, von dem du sprichst, geführt haben. Die Enquete-Kommission hat es sich geradezu zur Aufgabe gemacht, dieses auch darzustellen.
Aber: Wer sich jemals mit der Hinterlassenschaft aus Papier des MfS/SED-Regimes intensiv befaßt hat, weiß, daß in einer großen Mehrzahl der Fälle die Opfer von den Tätern eindeutig unterschieden werden können, weiß auch, daß die Gauck-Behörde keine Meinungen, sondern Dokumente verwaltet. Ich bin sehr dafür, daß sich Opfer und Täter eines Tages die Hand reichen können. Voraussetzung dafür ist aber die Feststellung von Schuld. Was den Zeitpunkt für eine Versöhnung betrifft, so ist dafür vor allem die Meinung der Opfer einzuholen und erst in zweiter Linie die Meinung der Täter.
Beispiele wie die genannten zeigen, daß es gegenwärtig nicht um Amnestie oder gar einen Schlußstrich geht, sondern um eine weitere öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Thema. Wir sind lange nicht soweit, die Arbeit allein den Historikern zu überlassen. Deshalb ist auch die Frage angemessen, was deutsche Parlamentarier zu diesem Prozeß beitragen können.
Wir haben vor etwa einem Jahr die Ergebnisse der Vorgängerkommission in diesem Hause vorgestellt. Diese Ergebnisse wollen wir voraussetzen, sie an einigen Stellen auch noch vertiefen. Der Arbeitsschwerpunkt der neuen Kommission soll aber ein anderer sein. Wir haben uns bei der Diskussion um den interfraktionellen Einsetzungsbeschluß vor allem auf folgende Herangehensweise verständigt: Es soll um die anhaltenden Folgen und Nachwirkungen der Diktatur gehen, also solche, die bis heute den Prozeß der inneren Einheit belasten, Ungerechtigkeiten fortschreiben oder neue entstehen lassen. Solche Probleme sollen exemplarisch für ausgewählte Themenfelder behandelt werden. Im Antrag werden dafür die Bereiche Bildung, Wissenschaft, Kultur, Umwelt, Soziales und Wirtschaft genannt.
Natürlich ist diese Auswahl begrenzt. Weitere Bereiche könnten sofort genannt werden. Denken Sie beispielsweise an die jüngsten Veröffentlichungen zur ostdeutschen Landwirtschaft.
Wir dürfen unsere Kräfte und die zur Verfügung stehenden Mittel aber nicht überschätzen. Wir werden jedoch daran festhalten, daß wichtiger als jede historisierende Betrachtungsweise die Aktualität der behandelten Probleme sein wird. Darüber hatten wir in der Vorbereitung einen Konsens.
Außerdem haben wir im Konsens darüber befunden: Die Folgewirkungen der Diktatur sind selbstverständlich, sofern sie nicht überwunden sind - genau von diesen soll die Rede sein -, im fünften Jahr der deutschen Einheit vom Transformationsprozeß überlagert - von der Währungsunion über die Auswirkungen des Einigungsvertrages bis hin zu den Ergebnissen unserer eigenen Arbeit in diesem Hause seit dem Oktober 1990. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß der bisherige Transformationsprozeß bei der Untersuchung der ausgewählten Themen eine Rolle spielen wird.
Wenn die Arbeit der Kommission erfolgreich sein soll, dann muß sie die beiden Fragestellungen unvoreingenommen behandeln und im Ergebnis der Untersuchungen Empfehlungen an den Bundestag und seine Fachausschüsse richten sowie auch viele Anstöße für die Wissenschaftler geben können.
Nun wird möglicherweise von manchen eingewandt, bei der aktuellen politischen Brisanz der Themenstellung und den knappen Mehrheitsverhältnissen würden die Kommissionsmitglieder ihrer angestammten Rolle, ihrer Rolle als Angehörige der Koalition oder der Opposition, die Priorität einräumen und damit wäre die Kontraproduktivität vorprogrammiert. Dies stellt eine große Herausforderung für die Kommission dar. Ich denke aber, wenn uns an dem Abbau von Defiziten im Einheitsprozeß liegt, dann sollten wir diese Herausforderungen annehmen.
Ich kann nur mit dem Appell an alle Beteiligten, die diese Kommission mit vorbereitet haben, schließen, den zum Einsetzungsbeschluß bereits erreichten Konsens zu bewahren, daran festzuhalten und ihn in der weiteren Arbeit auszubauen.
Vielen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Rainer Ortleb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Äußerungen in sechs rhetorische Fragen an mich selbst gliedern.
Die erste Frage: Wie soll sich die neue EnqueteKommission verstehen? Ich glaube, ihr Einsetzungsauftrag sollte nicht von ihr selbst als vorweggenommenes Ergebnis gesehen werden. Das, lieber Kollege Thierse, könnte eine Formel sein, die für unsere gemeinsame Arbeit fruchtbar sein könnte. Auch ich teile mit Überzeugung Ihre Auffassung, daß diese Kommission nicht Instrument parteipolitischer Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik Deutschland werden darf.
Denn nur so können wir das Ziel dieser Kommission erreichen, uns mit einem vergangenen Staat und seinen mannigfaltigen Wechselbeziehungen ehrlich und überzeugend auseinanderzusetzen.
Dr. Rainer Ortleb
Aus diesem Grunde bin ich eigentlich auch sehr beruhigt darüber, daß es in der bisherigen Debatte nur einen Zwischenruf gab. Das zeigt deutlich, daß wir im großen und ganzen uns doch des Zwanges zur Gemeinsamkeit in dieser Aufgabe bewußt sind. Das gibt mir Hoffnung. Im Grunde genommen habe ich ein solches Erlebnis, wenn es um Wichtiges und Großes geht, heute schon zum zweiten Male. Heute morgen, als Mitglied des Umweltausschusses mit dem neuen Umweltauditgesetz befaßt, habe ich trotz der Differenzen, die es zwischen den Parteien im Detail gab, eine große Übereinstimmung in bezug darauf erlebt, daß ein solches Gesetz notwendig und richtig ist. Das hat mir für die Debatte, die wir jetzt führen, Hoffnung gemacht.
Ich glaube, daß es Verständnis dafür gibt, daß diejenigen, die für diese Kommission die Vorarbeiten geleistet haben, natürlich auf ihren Konsensentwurf stolz waren. Diesem Stolz wurde dann zunächst ein Tröpfchen Enttäuschung beigemischt. Aber ich glaube, an dieses Tröpfchen Enttäuschung werden wir uns vermutlich in drei Jahren nicht mehr erinnern, wenn wir das gemeinsame Ergebnis erreicht haben werden. Ich bin sicher, daß wir die an diese Kommission gestellten Anforderungen werden erfüllen können.
Die zweite Frage an mich selbst: Was bringt die Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit? Es wäre ein Fehler, so zu tun, als fände die Politik für die Zukunft in einem historischen Vakuum statt. Wir werden täglich aufs neue mit Herausforderungen an den deutschen Einigungsprozeß konfrontiert, die ohne tiefere Kenntnis und menschliches Verständnis von Entwicklungen in beiden deutschen Staaten nicht sachgerecht gemeistert werden können.
Nur im Dialog zwischen Ost- und Westdeutschen über ihre spezifischen Erfahrungen lassen sich Mißverständnisse aus der Welt schaffen und wechselseitige Vorurteile abbauen. Wenn wir eines Tages die Begriffe „ostdeutsch" und „westdeutsch" nur noch geographisch verstehen, dann haben wir das Ziel erreicht.
Die dritte Frage an mich selbst: Was hat der Bundestag damit zu tun? Könnte statt einer EnqueteKommission des Parlaments nicht eine wissenschaftliche Institution diese Aufgabe übernehmen?
Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß auch für die neue Enquete-Kommission ebenso wie für ihre Vorgängerin in der 12. Wahlperiode der Grundsatz gilt, daß die wissenschaftliche Forschung weder vorweggenommen noch ersetzt werden soll.
Der Bundestag möchte vielmehr deutlich machen, daß die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein gesamtgesellschaftlicher Prozeß ist und damit eine Vorbildfunktion unseres Landes übernehmen kann. Viele Bürgerinnen und Bürger vor allem im Osten unseres Landes sind bis heute mit den Folgen der Diktatur in der DDR konfrontiert.
Eine vierte Frage: Was für Schlußfolgerungen können für das Wirken von demokratiefeindlichen Mechanismen zur Diktatur und Selbstläufern in die Diktatur gezogen werden?
Das ist eine Frage, die eher internationale als nationale Bedeutung hat; denn ich glaube nicht, daß es nach den Erfahrungen in Deutschland noch einmal so starke demokratiefeindliche Mechanismen geben wird, daß sie uns wirklich gefährden. Auf sie achtgeben müssen wir zweifelsohne; das wird keiner hier bestreiten. Andererseits glaube ich, daß die geschichtliche Erfahrung Deutschlands so etwas wie Selbstläufer verhindern wird. Das setzt aber voraus, daß wir wissen, wie demokratiefeindliche Mechanismen wirken und entstehen können.
Wir beobachten die Entwicklung in den neuen Demokratien, die ebenfalls wie die DDR aus sozialistischer Vergangenheit kommen, und sehen manches, was wohl Ähnlichkeiten mit den Verhältnissen der Entwicklung in den nun neuen Bundesländern hat, aber auf Grund der Klammer-, Anker- und Fundamentwirkung der alten Bundesrepublik nicht zu solchen Entgleisungen führen kann, wie das derzeit hier und da zu beobachten ist. Ich will hier keine weltpolitischen Beispiele nennen; Sie kennen sie alle.
Ich habe in der DDR einmal einen Satz gehört, in dem systemkritisch formuliert wurde: Sozialismus bedeutet Planwirtschaft, Planwirtschaft bedeutet Bürokratie, und Bürokratie bedeutet Korruption. Das hört sich flüssig, sympathisch und erklärend an. Ganz so naiv darf man den Vorgang DDR aber nicht verstehen.
An einer Stelle fühle ich einen kleinen Stich, auf den ich reagiere; denn in der Kette - ich wiederhole sie: Sozialismus, Planwirtschaft, Bürokratie und Korruption - gibt es eine Stelle, an der die Bürokratie steht. Wir sehen in manchem anderen Land, daß dort in der Tat aus Bürokratie Korruption und dann eine Diktatur als Staatswesen entstanden ist.
So fremd sind Überlegungen, die man in einem Satz leicht dahinsagen kann, der Realität in Wirklichkeit nicht. Sie sind nur wie Karikaturen mit groben Strichen gemalt.
Die fünfte Frage an mich selbst: Was sollte die Kommission nicht tun? Grundsätzlich sollte sie nicht Vergleiche und Beurteilungen von Plan- und Marktwirtschaft und ihren modernen Formen, wie soziale ökologische Marktwirtschaft, anstellen; denn obwohl wirtschaftliche Prozesse für die Entwicklung in der DDR natürlich maßgebliche Folgen hatten, ist das nun wirklich Aufgabe der Wissenschaft.
Was hat die DDR zum Ende gebracht? Ich meine, wir wissen alle, daß das wieder eine grobe Karikatur ist. Aber ich kenne auch einen Spruch, der lautet wie folgt: Es gab drei große Errungenschaften der Urgesellschaft, nämlich das Geld, die Arbeitsteilung und das Rad.
Zunächst wurde das Geld in seiner Wirkung abgeschafft, indem es als ökonomisches Mittel neben den Bilanzen nur noch zweitrangige Bedeutung hatte.
Dr. Rainer Ortleb
Dann traf es die Arbeitsteilung, weil jeder seine Wohnung selbst tapeziert hat, da das Handwerk ruiniert war. Ehe es ans Rad ging, hat die Geschichte Schluß gemacht.
Die sechste Frage, die ich mir stelle, ist: Was sollte die Kommission zur inneren Einheit beitragen? Sie sollte Verständnis für Verhaltens- und Lebensweisen in beiden deutschen Staaten wecken und stützen.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist gesamtdeutsche Aufgabe. Es reicht nicht aus, sich auf die Geschichte der DDR zu beschränken und die Verantwortung für deren Aufarbeitung allein der ostdeutschen Seite aufzubürden.
Ich habe vielfach bei Besuchen in den neuen Bundesländern erfahren, daß manche Unsicherheit im Sichbewegen als neuer Bundesbürger auf viel Unkenntnis des Systems der alten Bundesrepublik zurückzuführen ist und daß andererseits viel Unverständnis für das, was das Leben in der ehemaligen DDR bestimmt hat, wiederum auf Unkenntnis zurückzuführen ist. Ich glaube, wir sollten es als unsere Aufgabe ansehen, durch eine gute politische Darstellung der Verhältnisse - das wird die Aufgabe der Enquete-Kommission sein - zu diesem Verständnis füreinander beizutragen.
Da ich zugleich im Umweltausschuß und im Verteidigungsausschuß bin, bekomme ich vielfach gezeigt, wieviel Rechtsunkenntnis beispielsweise im Umweltbereich existiert, wodurch manches Verfahren einfach nicht angestoßen wird, das rechtens wäre, und wie andererseits der Prozeß der deutschen Einheit auf dem Verteidigungssektor - sprich: in der Bundeswehr - noch am besten funktioniert hat, weil er eine intensivere menschliche Konfrontation mit sich bringt. Wer in einem Bataillon gemeinsam dient - Ost und West -, ist täglich zusammen und hat Zeit, miteinander über sich zu reden.
Schließlich: Was wollen wir erreichen? Daß nicht wieder Mechanismen verklärt werden, die in sich nicht funktionieren. Ich kenne einen Satz, der auf einen österreichischen Kommunisten zurückgeführt wird - mir wurde gesagt, er heiße Ernst Fischer; ich bin aber nicht sicher und habe die Quelle in der Eile nicht mehr recherchieren können -, der einmal formuliert hat - wobei ich unterstelle, daß es dieser Autor war -: „Der Sozialismus ist die Entstellung einer Idee im Namen ihrer Gestaltung." Man sollte sich diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen.
Was müssen wir letztendlich erreichen? Daß wir mit der Arbeit der Enquete-Kommission zur Erschließung und insbesondere zu einer kritischen Erschließung der unterschiedlichen Lebenswelten in der ehemaligen Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR beitragen, um eine tatsächlich gemeinsame und damit neue Bundesrepublik Deutschland sein zu können.
Ich danke Ihnen.
Als nächstes spricht der Kollege Professor Ludwig Elm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von unserer Seite die drei folgenden Bemerkungen:
Erstens. Die Arbeit der Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages und deren Abschlußbericht haben in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit und differenzierte Wertungen erfahren. Vielfach waren sich Wissenschaftler wie auch Medien mit der Einschätzung im Abschlußbericht einig, daß die Kommission „eine umfassende Geschichtsschreibung " nicht ersetzen könne und daß es „künftig einer ebenso systematischen wie einfühlsamen Forschungsarbeit" bedürfe. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Enquete-Kommissionen zur deutschen Geschichte haben einen politischen Auftrag und können nicht die wissenschaftliche Arbeit ersetzen. Sie sollten vor allem nicht parteipolitisch instrumentalisiert werden.
Der Streit im Vorfeld unserer heutigen Diskussion um die Aufgabenstellung der Kommission macht deutlich, daß wir vor dem gleichen Dilemma stehen, das die Arbeit der Kommission in der vergangenen Legislaturperiode von Anfang an belastete: Die Aufgabenstellung darf das Ergebnis der Arbeit nicht vorwegnehmen, sie muß nach allen Seiten offen sein und allen eine unvoreingenommene und vorurteilsfreie Mitarbeit ermöglichen.
Wir waren aus der interfraktionellen Vorbereitung der Beschlußempfehlung bewußt ausgegrenzt worden und sehen darin ein erneutes Zeichen des parteipolitischen Umgangs mit der unumgänglichen Geschichtsklärung und den daraus abzuleitenden Erkenntnissen. Den Anträgen der Fraktionen müssen wir angesichts dieser Vorgehensweise und der Vorwegnahme von Wertungen und Urteilen unsere Zustimmung versagen.
Zweitens. Sollte der Bundestag heute die Einsetzung einer Enquete-Kommission beschließen, werden wir - wie in der vergangenen Legislaturperiode - unsere Mitarbeit nicht verweigern. Sie wird kritisch, selbstkritisch und konstruktiv sein. Wir wollen dazu beitragen, daß eine ausgewogene, differenzierte und gerechte Bewertung der Geschichte erfolgt, eine Bewertung, in der sich auch die Bürgerinnen und Bürger der DDR wiederfinden, ohne daß sie sich ihrer Biographien wegen ununterbrochen und auf unabsehbare Zeit rechtfertigen oder gar schämen müssen.
Es kann nicht nur um die Überwindung der Folgen des vergangenen deutschen Staates gehen, sondern es muß auch darum gehen, das Bedenkens- und Bewahrenswerte seiner Geschichte und Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Vor allem geht es aber um Leistungen und Fehlleistungen in den letzten fünf Jahren.
Die Abgeordnetengruppe der PDS schlägt vor, an Stelle einer erneuten Einsetzung einer EnqueteKommission eine Expertenkommission zu berufen,
Dr. Ludwig Elm
die im Auftrag des Bundestages arbeitet und als unabhängiges Gremium Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen und unterschiedlicher Institutionen aus Ost und West vereint.
Drittens. Der Antrag der Mehrheit beinhaltet den Vorschlag, daß die Abgeordnetengruppe der PDS ein nicht stimmberechtigtes Mitglied und einen nicht stimmberechtigten Sachverständigen nominieren kann.
Zur Erinnerung: In der Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages hatte der Vertreter der PDS volles Stimmrecht. Wie ernst ist es wirklich gemeint, wenn alle im Bundestag vertretenen Parteien betonen, daß die Arbeit der Kommission nicht parteipolitisch instrumentalisiert werden dürfe, wenn nunmehr eine Partei mit fast doppelter Stärke im Vergleich zur vergangenen Legislaturperiode nur noch am Katzentisch Platz nehmen darf? Verrät Ihr Vorschlag zuviel Selbstgewißheit oder einen Mangel an Souveränität im Umgang mit anderen Meinungen - oder beides?
Es sei daran erinnert, daß die besondere Rolle von Enquete-Kommissionen gerade darin besteht, daß ihre Besetzung - im Gegensatz zu anderen parlamentarischen Gremien - keine Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag aufzuweisen braucht. Wer sich die Geschichte der Enquete-Kommissionen seit 1972 ansieht, wird feststellen, daß mehrheitlich auch so verfahren wurde. Das Ansinnen, uns das Stimmrecht zu verweigern, ist nichts anderes als eine erneute parlamentarische Diskriminierung.
Es erstaunt uns auch, daß - wenn man schon auf einer Enquete-Kommission besteht - man ihr schon zu Beginn wichtige Starthilfen entzieht: offene Archive im Osten für jedermann, verschlossene und gesperrte Archive im Westen selbst für die EnqueteKommission. Wie ernst meinen Sie es wirklich, diese Kommission parteipolitisch nicht zu mißbrauchen?
Herr Professor Elm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häfner?
Ja, bitte sehr.
Herr Professor Elm, mir drängt sich, wenn ich Ihnen zuhöre, immer mehr die Frage auf, ob ich Ihren Antrag richtig gelesen habe, in dem steht,
daß Sie erstens keine Kommission wollen, eine solche ablehnen, zweitens der Meinung sind, wenn sich der Deutsche Bundestag überhaupt mit etwas beschäftige, müsse er sich gleichgewichtig mit der Geschichte der beiden deutschen Staaten seit 1945 beschäftigen, und daß er drittens insbesondere die Zeit nach 1990 ins Auge fassen solle.
Ich verstehe Ihren Antrag so, daß Sie alles tun wollen, damit keine eingehende Beratung mit der Geschichte des totalitären Unrechtssystems in der DDR
stattfindet. Habe ich das richtig verstanden, und ist, wenn das so richtig ist, ihre Ausführung noch glaubwürdig, daß Sie gerne mitarbeiten würden und Ihrerseits mitgestalten wollen?
Ich kann dieser Auslegung nicht folgen, weil unser Vorschlag natürlich weit gefaßt ist. Wenn ich Ihre Schwerpunkte ansehe, muß ich ebenfalls feststellen, daß sie thematisch weit gefaßt sind und mit Sicherheit - auch bei einem zweibis dreijährigen Arbeitsplan - nicht in dieser Weise realisiert werden können.
Was wir in dieser Position angesprochen haben, ist - auch als Erfahrung aus der ersten Enquete-Kommission -, daß nach unserer Meinung die weitgehenden Einseitigkeiten in bezug auf die Herauslösung der DDR aus dem deutschen Geschichtsprozeß insgesamt bei Ihrer kritischen Analyse so nicht fortgesetzt werden sollten und daß die Vorgeschichte bis 1945 und Wechselwirkungen im nationalen und im internationalen Rahmen nach 1945 unabdingbare Bestandteile, Implikationen einer wissenschaftlichobjektiven Betrachtung auch des Staatswesens DDR sein müssen.
Die Schlußbemerkung bezog sich auf die Verweigerung der westdeutschen Archive. Wir erwarten da gleiche Arbeitsmöglichkeiten; denn es hat erhebliche Wechselwirkungen in der deutschen, gesamtdeutschen und europäischen Politik nach 1945 gegeben. Deshalb müssen auch für die wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten vergleichbare Voraussetzungen in allen Richtungen erschlossen werden.
Die Geburtsfehler dieser neuen Enquete-Kommission sind zu gravierend, um sie freudig begrüßen zu können. Aber das schränkt unsere Bereitschaft zur Mitarbeit in dem ausgesprochenen Sinne nicht ein.
Danke schön.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Stefan Heym.
Eine Untersuchung der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik ist meiner Meinung nach eine hochinteressante und notwendige Aktivität. Ich habe in meiner schriftstellerischen Arbeit, die ja bekannt ist, auf meine Weise mit einigen Romanen zu dieser Frage einen Beitrag zu leisten versucht. Aber ich habe natürlich nichts Endgültiges sagen können.
Die Frage, die uns alle interessieren sollte, auch die Herren und Damen auf der rechten Seite, ist doch: Wieso ist es möglich gewesen, daß ein deutscher Staat, der sich vorgenommen hat, etwas so Edles wie den Sozialismus durchzuführen, statt dessen eine Ordnung geschaffen hat, von der so viele Menschen sich abgekehrt haben und davon weggelaufen sind oder weglaufen wollten, und daß dieser
Stefan Heym
Staat zum Schluß dann auf so schändliche Weise kollabiert ist? Das ist natürlich eine Frage und eine Anklage, die am besten untersucht werden kann - wie man im Englischen sagt - „by a court of Lords of the accused", d. h. durch einen Gerichtshof von Gleichen der Angeklagten.
Ich meine, wenn man das als wirkliche Frage behandelt, könnte die Enquete-Kommission eine große Leistung für die Geschichtsschreibung erbringen. Ich befürchte nur, daß die Kommission eher benutzt werden wird für laufende, tägliche politische Fragen, um diese dann auf die eine oder die andere Weise zu entstellen oder zu benutzen. Das wäre doch sehr schade.
Ich möchte Ihnen zu bedenken geben und Sie bitten, in dieser Enquete-Kommission auf die Art vorzugehen, die ich hier berührt habe, nämlich wirklich geschichtliche Wahrheiten zu finden. Wir müßten feststellen, wieviel von dem, was in der DDR schlecht war und versagt hat, eigentlich auf Rechnung der Sowjetunion und ihrer Politik geht und wieviel auf Rechnung der Bundesrepublik und jener Tätigkeit geht, die von dort aus gegen die DDR geleistet wurde und dann ihrerseits wieder Reaktionen hervorgerufen hat. Dieses alles sind Punkte, die überhaupt noch nicht untersucht worden sind, die mir aber außerordentlich wichtig erscheinen.
Nur das wollte ich sagen: Betrachten wir die ganze Angelegenheit unter einem größeren Gesichtspunkt als dem der Tagespolitik.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Heym, mit der Frage, wie die ursprünglich vielleicht als idealistisch angedachte Vorstellung des Sozialismus in der DDR - wenn sie denn eine idealistische Vorstellung gewesen ist - hat so entfremdet werden können, daß sich die Menschen von ihr abgewandt haben, hat sich in der Tat schon die Vorgängerkommission befaßt und wird sich auch die neue Kommission befassen. Nur, diese Frage findet sich so pointiert, Herr Kollege Heym, wie Sie sie formuliert haben, leider nicht in dem Antrag, den Ihre Gruppe als Vorschlag für die Einsetzung einer Expertenkommission heute einbringt.
Zum anderen, Herr Heym: Ich glaube, es wäre nach dem, was Sie hier gesagt haben, für die Enquete-Kommission lohnend, wenn Sie sich mit Ihrer Persönlichkeit und mit Ihrer Biographie in die Arbeit dieser Enquete-Kommission persönlich einbringen würden. Ich denke, es würde niemand formal fragen: Ist Herr Heym stimmberechtigt oder nicht? Ich sage: Sie sollten sich an der Arbeit persönlich beteiligen, und zwar in dem Sinn, in dem Sie heute hier Fragen aufgeworfen haben,
aber nicht in dem Sinne, in dem Ihre Gruppe einen Antrag für die Einsetzung einer Expertenkommission formuliert hat.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Einsetzung der neuen Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" findet, wie ich meine, nicht zufällig wenige Tage nach dem 17. Juni statt. Bundeskanzler Helmut Kohl hat aus Anlaß der Wiederkehr des 17. Juni in diesem Jahr zu Recht daran erinnert, daß dieser Tag einen festen Platz im nationalen Gedächtnis der Deutschen behalten müsse. Auch dürfe das von den kommunistischen Machthabern in der SBZ und späteren DDR begangene Unrecht niemals vergessen oder verharmlost werden.
Dieser Appell, meine Kolleginnen und Kollegen, ist heute sicher dringender denn je; denn die Bereitschaft einer Vielzahl unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger - ob aus den alten oder den neuen Bundesländern -, historische Fakten, die oft auch unangenehme Tatsachen sind, zu verdrängen und sie schönzufärben, ist unübersehbar. Deshalb war - darüber waren wir uns zum Ende der Arbeit der Enquete-Kommission in der letzten Legislaturperiode einig - der Prozeß der Aufarbeitung der SED-Diktatur mit dem Abschlußbericht der letzten Enquete-Kommission nicht beendet.
Wir waren uns damals alle darüber einig, daß die Arbeit in diesem Bundestag fortgesetzt werden muß; denn die Vollendung der inneren Einheit Deutschlands und die Aufarbeitung der zweiten Diktatur auf deutschem Boden können niemals in den Bahnen tagespolitischer Normalität erfolgen, sozusagen nach der Devise „business as usual". Diese Aufgabe - darüber waren wir uns in der letzten Legislaturperiode im klaren und sind es auch in dieser Legislaturperiode - kann nicht allein parlamentarisch-politisch bewältigt werden, sondern sie muß gesamtgesellschaftlich gelöst werden.
Doch das Parlament kann sich an der Aufgabe, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden und einen Beitrag zur Aufarbeitung der Diktatur des SED-Staates zu leisten, nicht vorbeidrücken.
Ich glaube - auch das will ich zum PDS-Antrag sagen -, die Verbindung zwischen Parlamentariern und Wissenschaftlern in einer Enquete-Kommission ist die richtige Form, die sich auch in der Vergangenheit bei vielen gesamtpolitisch und gesamtgesellschaftlich wichtigen Themenfeldern bewährt hat. Gerade die Zusammenarbeit von Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament und Wissenschaftlern kann Anstöße für die wissenschaftliche Vertiefung von Fragestellungen und die Beseitigung weißer Flecken in der Wissenschaft durch die Vergabe von Expertisen geben.
Wir sollten darüber hinaus die in die Breite gehende Wirkung einer solchen Kommission sehen, die sie durch öffentliche Anhörungen vor allem in den neuen Ländern erreichen kann.
Die heute einzusetzende Kommission baut auf der Arbeit der Enquete-Kommission in der zwölften Legislaturperiode auf, die wesentliche Beiträge zur
Hartmut Koschyk
politischen und historischen sowie zu einer moralischen Bewertung der SED-Diktatur geleistet hat. Dafür wurde ihr im In- und Ausland starke öffentliche Beachtung zuteil. Deshalb sollten wir unsere Arbeit jetzt nicht auf diese Weise beginnen und all das in Frage stellen, was wir im weitgehenden politischen Konsens in der letzten Legislaturperiode an Ergebnissen bei dem Versuch einer Aufarbeitung erreicht haben.
Herr Koschyk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Zwerenz?
Ja, gerne.
Herr Koschyk, uns interessiert, wie Ihr Angebot zu verstehen und zu bewerten ist, als Sie gesagt haben, daß, wenn Stefan Heym in die Enquete-Kommission gehe, wahrscheinlich niemand darauf bestehen werde, daß er als PDS-Abgeordneter dort kein Stimmrecht habe.
Lieber Herr Kollege Zwerenz, wenn Sie sich einmal bei Ihrem Kollegen aus der letzten Legislaturperiode, Herrn Kollegen Keller, erkundigen, welcher Geist auf der Suche nach Konsens und in dem Bemühen, alle, die wirklich Aufarbeitung leisten wollen, in diese Aufarbeitung einzubeziehen, dort geherrscht hat, wüßten Sie, daß es wirlich an Formalismen nicht scheitert, daß sich eine Persönlichkeit wie Stefan Heym voll und ganz in die Arbeit der heute einzusetzenden Kommission einbringen kann.
Eine Zusatzfrage.
Sie haben sehr schön in Konjunktiven geantwortet. Ich wiederhole meine Frage: Ist Kollege Heym in der Enquete-Kommission dann mit oder ohne Stimmrecht vertreten?
Er wäre ohne Stimmrecht vorhanden, aber ich sage noch einmal: Das würde für die praktische Arbeit, auch bei der Bereitschaft zur Aufarbeitung, wie sie Herr Heym hat erkennen lassen, keinen Unterschied machen. Ihr heutiger Antrag läßt diese Bereitschaft nicht erkennen. Hier habe ich auch einen Dissens zwischen dem, was Herr Heym gesagt hat, und dem, was Sie heute als Gruppe vorlegen, erkennen können.
Wenn es Ihnen um einen wirklichen Beitrag zu dieser Aufarbeitung geht, scheitert es nicht an Formalismen, inwieweit Sie sich sachlich, inhaltlich in die Arbeit dieser Kommission einbringen können.
Ich möchte jetzt mit meinen Ausführungen fortfahren und schlage daher vor, daß Sie einfach zur konstituierenden Sitzung kommen, damit wir alles besprechen können.
Es gibt noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stefan Heym.
Ich halte es für völlig gleichgültig, ob ich, wenn ich in dieser Kommission anwesend bin, Stimmrecht habe oder nicht. Die geschichtlichen Ergebnisse werden doch nicht dadurch bestimmt, daß jemand Stimmrecht hat, sondern durch das, was er sagt.
Insofern ist mir das persönlich gleichgültig. Aber wenn wir da zusammenarbeiten, bin ich davon überzeugt, daß Sie mir den Einfluß einräumen werden, den ich auch mit Stimmrecht hätte.
Ich danke Ihnen.
Nichts anderes, Herr Kollege Heym, habe ich versucht, Herrn Kollegen Zwerenz und auch den anderen Kollegen Ihrer Gruppe deutlich zu machen. Genau darum geht es.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich aus der Sicht unserer Fraktion vier Gesichtspunkte nennen, die es unseres Erachtens erforderlich machen, daß sich dieses Parlament mit der heute einzusetzenden Enquete-Kommission weiterhin mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur befaßt.
Erstens. Gerade bei der Auseinandersetzung mit Diktaturen und ihrem totalitären Gedankengut haben die demokratischen Kräfte dieses Hauses auch einen geistig-politischen Auftrag. Hierzu gehört die offensive Auseinandersetzung mit antidemokratischen Kräften, Gruppen und Ideologien jeder Richtung in unserem Land. Insofern kann die Einsetzung dieser neuen Enquete-Kommission auch einen Beitrag zur wehrhaften Demokratie unseres Staatswesens leisten.
Wer die SED-Diktatur, wer das System der Internierungslager und wer die Stasi-Spitzelei verharmlost und verniedlicht, soll den Widerstand der Mehrheit dieses Hauses spüren. Die Schönfärber der zweiten Diktatur auf deutschem Boden - das müssen wir doch erkennen, und das ist auch in vielen Reden, die heute gehalten wurden, angeklungen - erzielen wieder Geländegewinne. Ich glaube, sie erzielen die Geländegewinne deshalb, weil der Diktaturcharakter des SED-Staates im allgemeinen Bewußtsein - ich sage dies gerade auch für die Gesellschaft der alten Bundesrepublik Deutschland - nicht hinreichend verankert gewesen ist. Wir müssen doch erkennen, daß jetzt, nachdem die sichtbaren Zeichen der SED- Diktatur - Mauer, Stacheldraht, Selbstschußanlagen, Gefängnisse - real verschwunden sind, die Erinnerung an das Leid, das hinter diesen Einrichtungen stand, aus dem allgemeinen Bewußtsein zu verschwinden droht.
Hartmut Koschyk
Deshalb wird diese Enquete-Kommission - darin sind wir uns einig, fraktionsübergreifend - auch die Frage zu stellen haben, wie wir durch geeignete Gedenkstätten mit einer entsprechenden Konzeption einen Beitrag dazu leisten können, daß die Erinnerung an das Leid und das Unrecht, das vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern jahrzehntelang widerfahren ist, nicht aus dem Bewußtsein der allgemeinen Bevölkerung verschwindet.
Jetzt lassen Sie mich, Herr Zwerenz und Herr Heym, etwas zu dem Antrag sagen, den Ihre Gruppe heute vorgelegt hat. Herr Heym, ich meine, hier gibt es einen Widerspruch zu dem, was Sie zu Ihrer Bereitschaft zur Mitwirkung in einer solchen Kommission gesagt haben. Der Antrag der PDS-Gruppe will die DDR historisieren. Er will keinen Beitrag zur Aufarbeitung ihres Diktaturcharakters leisten. Die Aufarbeitung des Diktaturcharakters in einem engen, geschlossenen Kreis von Wissenschaftlern und unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu behandeln, vielleicht mit scheinwissenschaftlichen Begründungen zu versuchen, die notwendige politische Aufarbeitung nicht zu leisten, ist mit uns nicht zu machen.
Ich sehe in dem Antrag so, wie er uns heute vorliegt, eine gewisse Doppelstrategie: Zum einen soll die DDR historisiert werden, zum anderen sollen die Folgen, die man jetzt bei der Gestaltung des Einigungsprozesses erkennt, auf Politik und Gesellschaft des vereinten Deutschlands abgewälzt werden nach der Devise: Am Feuer ist nicht der Brandstifter schuld, sondern die Feuerwehr.
Das ist eine Rechtfertigung der Schuldigen und Verantwortlichen von gestern, eine Reinwaschung von Tätern und eine Exkulpation der Diktatur. Die Aufarbeitung des Diktaturcharakters muß mit im Zentrum der Arbeit der Enquete-Kommission in dieser Legislaturperiode stehen. Dies sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch den Opfern schuldig.
In einem - wie ich finde - bemerkenswerten jüngst publizierten Aufsatz hat die junge Französin AnneSophie Nold, die derzeit an der Berliner HumboldtUniversität studiert und sich sehr intensiv mit der Diktaturaufarbeitung in Deutschland befaßt, daran erinnert, daß die Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht ausschließlich eine nationale Bedeutung für die Deutschen hat, sondern eine gesamteuropäische Dimension besitzt. Für unsere Nachbarn in Ost und West ist es durchaus wichtig, welche Folgerungen die Deutschen aus der SED-Diktatur ziehen. Dabei warnte diese junge Französin vor einer Entlastung und Beschönigung der SED-Diktatur, wodurch die Bundesrepublik Deutschland Merkmale der untergegangenen DDR annehmen könnte. Wörtlich führte sie aus:
Eine „DDR light" ist das letzte, was die Europäische Gemeinschaft gebrauchen kann!
Dieser Satz macht deutlich: Nur durch eine konsequente und schonungslose Aufarbeitung der SED- Diktatur schaffen wir Vertrauen in den antitotalitären Konsens der Deutschen.
Zweitens. Zu den zentralen Aufgaben dieser Kommission wird es auch gehören, sich mit Legendenbildungen über die DDR auseinanderzusetzen. Vor allem auf den Feldern der Sozial- und Wirtschaftspolitik werden in breitem Umfang Legenden gestrickt und Thesen kolportiert, die der Wirklichkeit nicht standhalten, etwa: War die DDR nicht doch eine führende Wirtschaftsmacht und hat nicht erst der Einigungsprozeß die Substanz der DDR-Wirtschaft zerstört? Gab die DDR ihren Bürgern nicht doch soziale Sicherheit und Geborgenheit, die sie jetzt im geeinten Deutschland vermissen müssen?
Herr Thierse, niemand will Probleme aus dem Einigungsprozeß ausklammern. Wenn Sie sich den Einsetzungsantrag ansehen, der auch mit Kollegen Ihrer Fraktion erarbeitet worden ist, so können Sie feststellen: Wir fragen am Ende jedes Themenfeldes nach den Folgen für die Wirklichkeit heute und morgen im geeinten Deutschland. Wir wollen weder den Einigungsprozeß noch die Probleme und Fehler, die gemacht wurden, ausblenden. Wir wollen aber Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Darum geht es. Ich glaube, darin stimmen wir mit Ihnen überein.
Ihr Partei- und Fraktionsvorsitzender hat jüngst beim Bautzen-Forum gesagt, daß es darum geht, den klaren Blick auf die Vergangenheit nicht zu verschleiern und zu verwischen. Dies ist der Konsens, um den es bei dieser Enquete-Kommission geht. Wir werden uns im übrigen auch - dies ist ein sehr schwieriges Feld - mit der justitiellen Aufarbeitung der SED-Diktatur zu befassen haben. Auch dies ist heute vielfach angeklungen.
Wir müssen dies gerade nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 1995, aber auch nach anderen Gerichtsurteilen tun. Herr Kollege Thierse, da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu: Das Verheerende an der Wirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 1995 ist doch, daß sich ein Mann wie Markus Wolf in diesem Urteil sonnen und für sich und andere Anständigkeit für das, was sie als Stasi-Mitarbeiter getan haben, reklamieren kann. Deshalb geht es auch bei der Frage der justitiellen Aufarbeitung nicht um Richterschelte.
Ich glaube aber, wir müssen durch die Art und Weise, wie wir uns mit diesem Thema befassen, den Richtern in unserem Land eine Sensibilität dafür vermitteln, so sie diese noch nicht haben, daß sie bei der Rechtsprechung im Zuge der justitiellen Aufarbeitung der SED-Diktatur immer auch sehen müssen, wie das bei denen ankommt, die unter dieser Diktatur gelitten haben.
Herr Kollege Thierse, ich darf das noch einmal sagen: Das war doch kein Streit zwischen der SPD- Fraktion auf der einen Seite und dem Rest des Hauses auf der anderen Seite. Es war doch ein Dissens innerhalb Ihrer Fraktion. Ich hätte von Ihnen schon erwartet, daß Sie dies wenigstens mit einem halben Satz erwähnen. Ich glaube, Sie machen es sich etwas
Hartmut Koschyk
zu einfach, nur zu sagen, die SPD habe sich hier in diesem Einsetzungsbeschluß nicht wiedergefunden.
- Herr Kollege Thierse - -
Ihre Redezeit ist jetzt aber zu Ende.
Noch einen Satz, Frau Präsidentin.
- Dann schließe ich, damit der Konsens erkennbar wird, mit dem, was Bundespräsident Roman Herzog, als er im März 1995 das ehemalige Stasi-Gefängnis Bautzen besucht hat, gesagt hat:
Flagrante Menschenrechtsverletzungen können nicht einfach durch eine Amnestie aus der Welt geschafft werden. Es geht ja auch darum, weltweit deutlich zu machen, daß eine rechtsstaatliche Gesellschaft nicht bereit ist, die Menschenrechte ohne jeglichen Schutz zu lassen.
Der Bundespräsident weiter:
Man kann natürlich die Vergangenheit auch nicht dadurch auslöschen, indem man die Akten dieses Unrechtsregimes wegsperrt. Die Folgen, die durch eine Tabuisierung solcher Sachverhalte entstehen, sind immer schlimmer, als wenn man sich ihnen stellt.
Herzlichen Dank.
Als letzter in dieser Debatte zum Einsetzungsbeschluß spricht der Kollege Markus Meckel.
Verehrte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie wissen, bedaure ich, daß sich meine Fraktion nicht dazu entschließen konnte, dem heute vorliegenden Antrag zuzustimmen. Ich halte dies für falsch; denn, lieber Wolfgang Thierse, alles, was im Antrag der SPD steht, ist auch nach dem vorliegenden Antrag thematisierbar.
Es ist nun einmal Aufgabe eines Einsetzungsantrags, die Themen und die Fragestellungen so zu beschreiben, daß alle Beteiligten ihr Anliegen darin wiederfinden und in der Kommission thematisieren können. Wenn jemand etwas Inhaltliches dazu sagen will, dann besteht im Bericht wahrhaftig ausreichend die Möglichkeit dazu, und sei es in Sondervoten. Dabei ist mir wichtig, daß die Aufarbeitung dieser Diktatur in möglichst breitem Konsens aller Demokraten versucht wird und auch geschieht. Sowohl die letzte Enquete als auch die Debatte heute haben dafür, wie ich denke, ein gutes Beispiel gegeben.
Dadurch, daß nur die SPD und die PDS den Antrag nicht mittragen, wird zwangsläufig ein Eindruck erweckt, den die SPD nicht wünschen kann und der, wie heute deutlich geworden ist und auch schon vorher deutlich sein mußte, falsch ist - Wolfgang Thierse hat dies heute in aller Klarheit gesagt -; denn die SPD ist ausdrücklich an der Aufarbeitung der DDR- Vergangenheit interessiert, und das nicht erst seit heute. Ihr Engagement in den letzten Jahren in den Rehabilitierungsfragen oder auch die aktive Rolle in der letzten Enquete haben dies deutlich gemacht.
Wie dagegen ein bestimmender Teil der PDS die DDR betrachtet, geht u. a. aus einem Papier hervor, das Herr Heuer mitverfaßt hat:
Die Erinnerung an die DDR muß in unserer Politik auch den Platz haben, den sie bei vielen Ostdeutschen hat, den eines Kraftquells bei dem Kampf um soziale Reformprojekte, die das kapitalistische Profitsystem durchbrechen.
Das ist das bewußte Verwischen des fundamentalen Unterschieds zwischen Diktatur und Demokratie.
Die Skepsis gegenüber einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte war in unserem Haus schon in der vorigen Legislaturperiode recht groß. Einige fühlten sich bestätigt, weil sie meinten, daß die parteipolitische Instrumentalisierung der Geschichte durch die Enquete-Kommission zu verantworten gewesen wäre. Daß sie in der Öffentlichkeit versucht wurde, ist klar. Falsch ist aber, daß dies durch die Enquete-Kommission geschehen wäre. Herr Schäuble ist jetzt nicht hier, aber er hat manches Beispiel dafür geliefert, daß dies auch außerhalb der Enquete-Kommission geschieht und nicht von ihrer Existenz abhängt.
Einen privilegierten Aktenzugang der Kommission hat es leider nicht gegeben. Es kann auch keinen Beschluß geben, daß man mit Akten seriös umzugehen hat. Ich bin jedoch entgegen einer verbreiteten Meinung überzeugt, daß die Arbeit der letzten Enquete-Kommission eher zur Versachlichung der Auseinandersetzung um die Vergangenheit denn zu ihrer Instrumentalisierung beigetragen hat.
Bei allem Streit, den es in vielen Fragen in den letzten zwei Jahren gegeben hat, gab es dann doch in den zentralen Fragen einen breiten Konsens. Die letzte Enquete-Kommission hat entgegen manchem Vorurteil das Bild der DDR zu differenzieren nicht nur versucht, sondern sie hat es geschafft. Sie hat das Leben in der DDR auch für die einzelnen Menschen differenziert dargestellt, aber ohne dabei die Diktatur zu verharmlosen.
Es war eben nicht nur von der Stasi die Rede, sondern von sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen in dieser Diktatur, deren Strukturen und Mechanismen genauer zu erfassen eine unserer damaligen Aufgaben war. Für den, der das überprüfen will: Die Materialien werden demnächst veröffentlicht.
Markus Meckel
Die Enquete hat also, wie ich denke, Wichtiges geleistet - weniger für die Historiker, aber für die Öffentlichkeit. Für die Historiker wird sie insofern ein Zeugnis bleiben, als sie deutlich gemacht hat, wie wir in den Jahren 2 bis 4 der deutschen Einheit mit dieser Geschichte umgegangen sind, wo sie durchaus instrumentalisiert wurde, was wir verdrängt haben. Dies wird vielleicht in Zukunft noch einmal interessant sein, aber den Streit darüber sollten wir den Historikern überlassen.
Eines aber hat die letzte Enquete-Kommission versäumt: politische Empfehlungen zu geben. Vor diesem Hintergrund ist es Erkenntnis aller Fraktionen, daß es wichtig ist, genau dies in den Vordergrund der nächsten Enquete-Kommission zu stellen. Die zentrale Frage lautet also: Wie gehen wir heute mit dieser Hinterlassenschaft um? Was muß heute politisch getan werden?
Wir haben Themen benannt, bei denen uns das besonders wichtig erscheint: Erstens. Eine Institution des Deutschen Bundestages wird es zu dieser Frage nicht dauerhaft geben. Deshalb brauchen wir eine Institution, die diesen Prozeß gesamtgesellschaftlich weiter fördert. In dem Antrag haben wir uns die Umsetzung dieses Anliegens vorgenommen.
Ober die Opfer - zweitens - ist hier schon geredet worden, und dies war wichtig. Sie sollen durch die Enquete-Kommission weiter begleitet werden, wenngleich dieser Prozeß in den nächsten Monaten unabhängig davon vonstatten gehen wird.
Eine dritte wesentliche Frage ist die, was denn für uns zum nationalen Erbe der DDR-Geschichte gehören soll. Die DDR-Geschichte gehört zur deutschen Nachkriegsgeschichte dazu. Die Frage ist: Wessen wollen wir bleibend gedenken, woran uns immer wieder erinnern lassen, mahnend und ehrend?
Das ist nicht nur eine Frage der östlichen Länder und deren Verantwortung, sondern eine Frage für Deutschland als Ganzes. Was etwa ist mit Bautzen oder Hohenschönhausen, dem Berliner Stasi-Gefängnis, oder dem geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau, wo Jugendliche in einem schlimmen Lager gequält wurden. Hier ist die Frage nach der Beteiligung des Bundes, weil das eben in die nationale Erinnerung und ins nationale Gedenken gehört, wesentlich mit gestellt.
Außer diesen genannten drei Schwerpunkten haben wir gesellschaftliche Felder benannt, die im Zentrum stehen sollen. Dabei war durchaus die Frage, welche dieser Felder wir konkret benennen wollen. Wir haben uns für die Fragen entschieden, bei denen besondere Nachwirkungen dieser Jahrzehnte heute noch spürbar sind, nämlich in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Kultur oder auch Wirtschaft, Soziales und Umwelt.
Es ist deutlich, daß in diesen Feldern unterschiedliche Interessen bestehen. Die PDS will deutlich machen: Alles, was ein Problem ist, hatte seine Ursachen nach 1990. Andere, mehr auf der rechten Seite dieses Hauses, wollen deutlich machen, daß die Probleme nur in den Jahren vor 1990 liegen. Hier wird man sich der Arbeit differenziert widmen müssen.
Ich denke aber, daß deutlich sein muß, daß wir zu diesen Themenbereichen nicht Geschichte schreiben wollen, sondern daß es auch hier - auch das steht im Antrag - um die Frage des politischen Handelns geht, d. h., daß wir Empfehlungen machen, was heute zu diesem Themenbereich zu tun ist.
In der Diskussion um diesen Antrag war umstritten, ob die Frage der Ost- und Deutschlandpolitik zu den zu behandelnden Themen gehören soll. Ich gehöre zu denen, die dies eher nicht für sinnvoll hielten, weil wir uns in der letzten Enquete-Kommission ausführlich mit der Frage beschäftigt haben.
Die Voraussetzung, die dafür wesentlich ist, daß man nämlich Zugang zu den westlichen Akten hat, ist bis heute nicht erfüllt. Man wird versuchen müssen, diese Voraussetzungen zu schaffen. Wir werden dann weitersehen. Ich sehe auch nicht, weshalb wir Sozialdemokraten davor Angst haben sollten, uns mit diesen Fragen zu beschäftigen. In der letzten Legislaturperiode haben wir uns auch selbstkritisch mit diesen Fragen beschäftigt. Dies fehlte bei der CDU obwohl man wahrhaftig sagen kann, daß es auch dort manchen Anlaß gäbe.
Wenn man bemüht ist, Folgen aufzuarbeiten und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, stellt sich außerdem die Frage, was wir aus der Ost- und Deutschlandpolitik etwa für den heutigen Umgang mit Diktaturen gelernt haben. Ich denke an den Iran oder an China, an das Verhältnis zwischen Menschenrechten und wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Hier sind manche Fragen offen. Ich denke, wir werden die Arbeit so schaffen, daß sie von den Menschen getragen werden kann.
Meine Damen und Herren, wie verdrängte und nicht bearbeitete Vergangenheit verhängnisvoll nachwirken kann, erleben wir zur Zeit in mehreren Teilen Europas. Auch wir in Deutschland haben mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Aufarbeitung ist ein langer gesellschaftlicher Prozeß, zu dem wir Parlamentarier unseren verantwortlichen Beitrag zu leisten haben. Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß uns dies in der und durch die Arbeit der Kommission ein Stück weit gelingt und sie damit zur Glaubwürdigkeit der Politik beiträgt.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte der Kollege Häfner eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir halten es für außerordentlich wichtig, daß diese Kommission zustande kommt, und mei-
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3541
Gerald Häfnernen, daß die Aufarbeitung gerade unserer totalitären Vergangenheit eine Voraussetzung dafür ist, Demokratie in Zukunft zu sichern.Wir meinen, daß es zu den Erfordernissen dieser Demokratie gehört, daß alle Fraktionen und auch Gruppen dieses Hauses prinzipiell die Möglichkeit haben, an Kommissionen des Deutschen Bundestages mitzuarbeiten. Es ist in dieser Legislaturperiode ständige Praxis unserer Fraktion gewesen, auch den Abgeordneten der Gruppe der PDS volle parlamentarische Möglichkeiten einzuräumen. Wir halten dies für ein Gebot der Demokratie, unabhängig davon, daß uns bei den Inhalten sehr viel trennt - in dieser Frage übrigens so viel wie bei kaum einer anderen Frage. Diese Gegensätze müssen aufgearbeitet werden.Wir sehen uns aber nicht in der Lage, dem vorliegenden Antrag der Gruppe der PDS zuzustimmen, schon gar nicht in der merkwürdigen Kombination, in der Sie ihn hier vorlegen. Denn Sie fordern ja zu gleicher Zeit erstens beim Einsetzungsantrag die Ablehnung einer solchen Kommission, zweitens ein völlig anderes Thema und drittens Ihre eigene Beteiligung an dieser von Ihnen abgelehnten Kommission durch eine Ausweitung auf insgesamt 34 Mitglieder - obwohl es erklärtes Ziel des Hauses war, nur eine kleine, arbeitsfähige Kommission zu schaffen.Wir werden uns deshalb bei diesem Antrag enthalten, hoffen aber sehr, daß das Problem in dem Sinne, wie es sich in der Debatte angekündigt hat, gelöst und insbesondere die Frage des verehrten Kollegen Heym, wie es kommen konnte, daß aus einem derart idealistischen Ansatz heraus in der DDR so etwas Schreckliches entstanden ist, mit Ihnen gemeinsam in der Kommission erörtert werden kann.Ich sehe dazu Wege und Möglichkeiten unterhalb dessen, was Ihr Antrag verlangt. Ich möchte deshalb noch vor der Abstimmung an die beteiligten Mitglieder und die Geschäftsführer appellieren, solche Wege möglich zu machen.Ich danke Ihnen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", Drucksache 13/1762.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/1763 vor, über den wir zuerst abstimmen. Dieser Änderungsantrag der PDS besteht aus zwei Alternativen. Wir stimmen zunächst über die Alternative 1 ab: 17 Mitglieder, 17 Sachverstandige. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Alternative 1 ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. bei Enthaltung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.Wir stimmen über die Alternative 2 ab: 16 Mitglieder, 11 Sachverständige. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch Alternative 2 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. bei Enthaltung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.Der Geschäftsordnungsausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P. auf Einsetzung der Enquete-Kommission auf Drucksache 13/1535 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobel - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P., des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und zwei Stimmen aus der SPD bei Enthaltung der Mehrheit der SPD und vereinzelten Gegenstimmen aus der Gruppe der PDS angenommen.Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" ist damit eingesetzt.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Gruppe der PDS auf Einsetzung einer unabhängigen Experten-Kommission zur Geschichte der DDR, der Bundesrepublik Deutschland und des deutschen Einigungsprozesses seit 1990, Drucksache 13/1615. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. ohne Enthaltungen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 und die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:7. Abgabe einer Erklärung der BundesregierungAktuelle Fragen der Europapolitik, insbesondere Vorschau auf die Tagung des Europäischen Rates in Cannes am 26./27. Juni 1995ZP2 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS Europapolitik der Bundesregierung- Drucksache 13/1728 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschußInnenausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP3 Beratung des Antrags des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENAktuelle Fragen der Europapolitik, insbesondere Vorschau auf die Tagung des Europäischen Rates am 26./27. Juni 1995- Drucksache 13/1734 -
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3542 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995
Ausschuß far die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Forderungen zur Reform des Vertrages von
Maastricht 1996 und der Europapolitik
- Drucksache 13/1739 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Zur Regierungserklärung liegt je ein Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Tagung des Europäischen Rates in Cannes am 26. und 27. Juni ist der Auftakt zu einer entscheidenden Phase der Entwicklung der Europäischen Union, vielleicht der wichtigsten seit ihrer Gründung. Bis zur Jahrhundertwende stehen Weichenstellungen an, die die Identität und die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union für geraume Zeit prägen werden.
Die Ziele der Bundesregierung sind klar: die vertragsgemäße Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion, d. h. bei strikter Beachtung der im Vertrag festgelegten Konvergenzkriterien und unter Einhaltung des Zeitplanes, sowie die Fortentwicklung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, damit die Union auch in diesem Bereich handlungsfähig und reaktionsschnell wird; hinzutreten muß auf längere Sicht eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität; Heranführung der Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa mit dem Ziel ihrer Aufnahme, sobald die Voraussetzungen dafür vorliegen; Vertiefung der Zusammenarbeit im Innen- und Justizbereich, um der zunehmenden internationalen Kriminalität und dem wachsenden Wanderungsdruck zu begegnen; eine europäische Finanzverfassung, die von den Grundsätzen der Solidarität und der fairen Lastenteilung bestimmt ist.
Die Wahrung strikter Haushaltsdisziplin und die Verbesserung der Rückflüsse nach Deutschland bilden für uns einen ganz besonderen Interessenschwerpunkt.
Die Regierungskonferenz 1996 muß die Europäische Union in die Lage versetzen, die Weichen bei Vertiefung im Innern und zur Vorbereitung der Erweiterung nach Osten und Suden in Verantwortung für die Bürger in ganz Europa richtig zu stellen.
Vor 40 Jahren haben sechs europäische Staatsmänner in Messina die Grundlagen für das heutige Europa geschaffen. Sie hatten damals noch das Grauen und die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs vor Augen. Dem Mut und der Weitsicht der damaligen Entscheidungen verdankt Westeuropa 40 Jahre Frieden und Wohlstand und verdanken wir Deutsche unsere Wiedervereinigung.
Heute werden derselbe Mut und dieselbe Weitsicht verlangt. Die damals eingeschlagene Richtung Europa muß unumkehrbar gemacht werden. Die Bundesregierung wird die vor ihr stehenden europäischen Entscheidungen in diesem Geist und im Bewußtsein ihrer besonderen Verantwortung treffen. Die Koalitionsvereinbarung vom 11. November 1994 gibt hierfür die klare, wohlüberlegte und abgestimmte Grundlage. Sie ist Ausdruck der breiten nationalen Übereinstimmung, daß Europa unsere Zukunft ist.
Die Bundesregierung weiß sich dabei in grundsätzlicher Übereinstimmung mit ihren Freunden und Partnern. Über die Einzelheiten des europäischen Bauwerks gibt es allerdings erheblichen Erörterungsbedarf. Die bevorstehenden notwendigen Schritte nach vorne werden auch - das muß deutlich gesagt werden - schmerzhafte Kompromisse verlangen. Aber die Vorteile des gemeinsamen Daches werden von niemandem verkannt. Kein Mitgliedstaat will sich außerhalb des gemeinsamen Hauses stellen. Deshalb geht die Bundesregierung in die jetzt anstehende ganz wichtige Etappe mit Zuversicht.
In Cannes muß neben den aktuellen außenpolitischen Problemen - da ist leider immer noch insbesondere Bosnien, das ehemalige Jugoslawien zu nennen - folgendes nach vorne bewegt werden:
Erstens: die Sicherung von Arbeitsplätzen. Die entscheidende Rahmenbedingung hierfür muß untermauert werden, nämlich die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion gegen Ende dieses Jahrzehnts auf der Grundlage eines strikten Stabilitätskurses.
Auf zusätzliches Wirtschaftswachstum zielt auch die Umsetzung der in Essen verabschiedeten 14 großen Infrastrukturvorhaben ab. Fünf große Eisenbahntrassen, nach und durch Deutschland, werden gefördert.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Das darf aber natürlich nicht nur auf dem Papier bleiben. Die Umsetzung in die Praxis muß folgen.
Unverzichtbar bleiben die strukturellen Reformen. Wir brauchen eine Stärkung des Wettbewerbs, weitere Reduzierung der strukturellen Haushaltsdefizite, Senkung der Lohnnebenkosten und produktivitätsorientierte Lohnabschlüsse. Eine unter deutscher Leitung stehende Kommission wird Vorschläge zur Entrümpelung und Ausdünnung von Gesetzen und Verordnungen, die mehr Beschäftigung verhindern, unterbreiten. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie die kleineren und mittleren Firmen werden davon profitieren. Da kommen ja auch die meisten Arbeitsplätze her.
Es wird manchmal zu schnell vergessen, daß Deutschland aus Mitteln der Interreg-Programme und der Europäischen Strukturfonds von 1994 bis 1999 insgesamt fast 40 Milliarden DM erhalten wird: zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, zur Eingliederung Jugendlicher in das Erwerbsleben und für andere Arbeitsmarktmaßnahmen. Aus dem Europäischen Sozialfonds konnten in den neuen Ländern bislang rund 100 000 Arbeitsplätze gesichert werden. 1992/93 wurden so fast 10 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen.
Zweitens: die weitere Vorbereitung der Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa. Hierzu wird das Weißbuch der Kommission zur Heranführung der mittel- und osteuropäischen Nachbarn an den Binnenmarkt behandelt werden. Die Umsetzung dieser Vorschläge wird entscheidend zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für private Investitionen beitragen; darauf kommt es für diese Länder besonders an.
Deutschland weiß wahrhaftig, was Spaltung und Trennung bedeuten. Wir bleiben, aus diesem Wissen und im Hinblick auf unsere Vergangenheit, der verläßliche Anwalt unserer östlichen Nachbarn bei ihrem Wunsch, nicht länger ausgeschlossen zu sein.
Deshalb begrüßen wir ganz besonders den Abschluß der Europaabkommen mit den drei baltischen Staaten vor 14 Tagen und die Einladung ihrer Vertreter zusammen mit denen der anderen assoziierten Partner nach Cannes.
Die Rückkehr unserer östlichen Nachbarn und Freunde nach Europa erfordert auch unsere finanzielle Solidarität. Wir werden diese auch zeigen, aus unserer Verantwortung vor der Geschichte, aber auch in dem Bewußtsein, daß es hier um unsere ureigensten vitalen Interessen geht: Deutschlands Platz muß wieder in der Mitte Europas sein, nicht nur geographisch, sondern auch politisch, wirtschaftlich und kulturell.
Die Ostgrenze Deutschlands soll und darf nicht länger die Ostgrenze der Europäischen Union sein.
Drittens: die Konkretisierung des Mittelmeerkonzepts zur Förderung von politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stabilität in der für die Europäische Union so wichtigen Mittelmeerregion. Der Maghreb, der Friedensprozeß im Nahen Osten und das östliche Mittelmeer mit der Türkei und Zypern bilden die Schwerpunkte. Auch hier sind im Rahmen der Edinburgher Beschlüsse Haushaltsmittel der Union bereitzustellen.
Viertens: Bestimmung des Umfangs des Europäischen Entwicklungsfonds für die Jahre 1995 bis 2000. Seit Schaffung der Europäischen Gemeinschaft bildet die Verbindung mit den AKP-Staaten einen Kernbereich der europäischen Solidarität mit den armen und ärmsten Ländern der Welt. Deutschland trägt hier zusammen mit Frankreich rund 50 % der Lasten. Unsere außerordentlich angespannte Haushaltssituation kann jedoch bei der Entscheidung über die Höhe unserer Hilfe beim 8. Entwicklungshilfefonds nicht außer Betracht bleiben.
Auch die anderen müssen sich stärker engagieren.
Ich fahre nach dieser Debatte heute abend zu einer Sonderratssitzung nach Luxemburg, wo wir die offenen Fragen gerade auch in diesem Zusammenhang weiter besprechen und für Cannes vorbereiten wollen.
Fünftens: Ausbau der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA - das transatlantische Verhältnis. Der Handschlag über den Atlantik muß in der neuen Weltlage nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung gefestigt werden. Die europäische Einigung darf unsere amerikanischen Freunde nicht von uns entfernen.
Sechstens: tragfähiger Kompromiß bei der Europol-Konvention. Bei der gemeinsamen Verbrechensbekämpfung muß endlich ein erster Durchbruch gelingen!
In kaum einem anderen Bereich haben unsere Bürger so große Erwartungen an Europa. Zu Recht! Und in keinem Bereich können sie durch Nichthandeln so leicht von Europa entfremdet werden. Wir müssen aus Sachgründen wie aus politischen Gründen bei der inneren Sicherheit nun wirklich vorankommen.
Natürlich geht es hier auch um Kernfragen der nationalen Souveränität. Wir verstehen auch, daß sich unsere Partner, wie wir selbst, aus achtenswerten Gründen bei diesem Thema schwertun. Aber können wir wirklich auf nationale Souveränität bei der Verbrechensbekämpfung pochen, wo sie doch immer stärker von längst europaweit operierenden interna-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
tionalen Verbrechern ausgehöhlt ist? Die gemeinsame Ausübung von Souveränität bedeutet in Wirklichkeit in diesen Fällen keinen Souveränitätsverlust, sondern einen Zugewinn an Hoheitsrechten.
Gerade hier steht viel an europäischer Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Das bestimmt unsere Haltung. Allerdings wollen wir handlungsfähige und rechtsstaatliche Institutionen. Das bedeutet, Europol muß an den Europäischen Gerichtshof angebunden werden. Das ist eine Forderung für uns, auf die wir nicht verzichten werden.
Gerade im Bereich der Innen- und Justizpolitik bedarf es des einheitlichen Rechtsschutzes der Grundrechte auf unionsweiter Ebene.
Siebtens: erste Erörterungen zum Stand der Vorbereitungen für die Regierungskonferenz 1996.
Eine vertiefte Debatte ist von der französischen Präsidentschaft in Cannes nicht beabsichtigt. Diese wird von den Staats- und Regierungschefs sowie den Außenministern im September geführt werden. Der Europäische Rat in Madrid am 15./16. Dezember wird den Bericht der Reflexionsgruppe erörtern und dann über das weitere Verfahren in bezug auf die Regierungskonferenz, einschließlich ihres Beginns, entscheiden.
Die Suche nach Lösungen für alle genannten Schwerpunktthemen ist auf einem guten Wege.
Cannes ist der erste Europäische Rat der neuen französischen Regierung. Im Bewußtsein der besonderen europapolitischen Verantwortung unserer beiden Länder, Deutschlands und Frankreichs, wollen wir, und zwar mit Nachdruck, daß Cannes für Frankreich ein Erfolg wird. Ein Erfolg Frankreichs ist auch ein Erfolg für Deutschland und für Europa.
Die Bundesregierung ist sich mit Präsident Chirac und Premierminister Juppé einig: Dieser Gipfel muß deutlich machen, daß die Europäische Union das Heft in die Hand nimmt und die anstehenden Probleme entschlossen angeht - für unsere Bürger, für mehr Arbeitsplätze und für mehr Sicherheit.
Die Bundesregierung bereitet derzeit, meine Damen und Herren, die Eckpunkte für ihre Position bei der Regierungskonferenz 1996 vor. Der Deutsche Bundestag, insbesondere der Ausschuß für die Europäische Union, der Bundesrat und die Länder sind entsprechend den getroffenen Regelungen am Prozeß der Meinungsbildung von Anfang an voll beteiligt.
In europapolitischen Fragen hat es in der Vergangenheit in diesem Haus stets einen breiten parteiübergreifenden Konsens gegeben. Die Bundesregierung legt großen Wert darauf, daß dies so bleibt.
Wir begrüßen die öffentliche Debatte. Damit wird die richtige Lehre aus Maastricht gezogen. Die Bürger sind nicht gegen Europa, aber sie wollen - und ich habe Verständnis dafür - vor jedem weiteren Schritt gehört werden, ehe er beschlossen wird, und nicht danach.
Bei der Bewältigung dieser wichtigen politischen Aufgabe der kommenden Jahre stehen Bundesregierung und der Deutsche Bundestag, aber auch der Bundesrat und die Länder in einer gemeinsamen Verantwortung.
Die Bundesregierung wird ihre endgültige Verhandlungsposition für die Regierungskonferenz erst im Lichte unserer eigenen und der europäischen Debatte sowie der Ergebnisse der Reflexionsgruppe und weiterer Beratungen im EU-Kreis festlegen. Ich bitte deshalb bei der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um Verständnis dafür, daß eine Beantwortung der Großen Anfrage zur Regierungskonferenz 1996 mit der gewünschten und von ihr zu Recht erwarteten Präzision erst später erfolgen kann.
Wir müssen in diesem Zusammenhang das Wünschbare mit dem Machbaren in Einklang bringen. Es geht 1996 nicht darum, das Rad Europas neu zu erfinden. 1996 ist auch nicht der letzte Integrationsschritt. Es geht vielmehr um Maßnahmen, die den europäischen Mehrwert bei der Lösung der großen Probleme besser aktivieren sollen. Vor allem muß die Europäische Union auf die Aufnahme neuer Mitglieder vorbereitet werden.
Daß Deutschland und Frankreich am gleichen Strang ziehen, ist für den Erfolg, den wir gemeinsam wollen, ganz entscheidend.
Wir stehen mit der neuen französischen Regierung in engem Kontakt - aber nicht nur mit Paris, auch mit London und den anderen Hauptstädten. Gerade die kleineren Mitgliedstaaten - vor allem Benelux - haben in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen, wie sehr sie zählen, wenn es um Fortschritte für Europa geht.
Die Bundesregierung sieht für die Regierungskonferenz 1996 folgende Schwerpunkte:
Erstens: eine gemeinsame europäische Außen-
und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient. Das im früheren Jugoslawien seit drei Jahren andauernde Morden, Verwüsten und Vertreiben zeigt, wie dringlich es ist, daß Europa zu gemeinsamer Stimme und gemeinsamem Handeln findet.
Aber: Hüten wir uns vor falschen Versprechungen! Die fundamentale Mißachtung der Hausordnung des neuen Europa im ehemaligen Jugoslawien demonstriert vor allem eindringlich, daß die Ursachen alter Rivalitäten dort - anders als in Westeuropa - noch nicht durch neues Denken überwunden sind.
Gestern habe ich dem neu ernannten bosnischen Außenminister, der sein Amt nach dem tragischen Tod seines Vorgängers angetreten hat, nochmals deutlich gesagt: Gegen den Willen der Konfliktpar-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
teien wird - bei allen Bemühungen und allem, was wir getan haben - Frieden im früheren Jugoslawien nicht schaffbar sein. Es ist ganz entscheidend, daß wir das auch den Konfliktparteien deutlich und klar sagen.
Übersehen wir auch nicht, daß die Europäische Union - bei aller Kritik - viel an politischem Einsatz zur Konfliktbegrenzung und zu humanitärer Hilfe geleistet hat. Mostar - ein Beispiel unter vielen - verdient größte Anerkennung.
Es ist zwar schrecklich und wirklich schlimm, daß auch im letzten Jahr im früheren Jugoslawien rund 3 000 Menschen zu Tode gekommen sind. Aber vielleicht sollte man, wenn man über UNPROFOR-Abzug und ähnliches nachdenkt und vor allem spricht, doch einmal berücksichtigen, daß sich durch das Engagement derer, die sich dort bemühen - wir sind mit den Kräften, die wir haben, auch dabei -, die Zahl entscheidend verändert hat. Ich darf Ihnen sagen, daß dort in den zwei Jahren davor je hunderttausend Menschen umgekommen sind. Jedenfalls haben wir durch unsere Maßnahmen ein bißchen erreicht - wenig genug, ich weiß es.
Für mehr Handlungsfähigkeit und einheitliches Auftreten der Union nach außen bedarf es eines geeigneten Unterbaus für Analyse und Planung, Vorbereitung und Umsetzung von außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen. Die politische Verantwortung - so jedenfalls unsere Vorstellung - muß jedoch auch künftig beim Rat und bei seinem Vorsitz verbleiben.
Der Erfolg der europäischen Integration, die Schaffung des Binnenmarktes, wäre ohne die Einführung von Mehrheitsabstimmungen undenkbar gewesen. Bei jetzt 15 - künftig noch mehr - Partnern führt das Bestehen auf Einstimmigkeit zur völligen Selbstblokkade oder - was auf dasselbe hinausläuft - zu einem von außen nicht mehr beachteten kleinsten gemeinsamen Nenner. Deshalb: Auch im Bereich der Außenpolitik führt in klar abgegrenzten, zuvor im Konsens definierten Bereichen kein Weg an Mehrheitsentscheidungen vorbei, wenn es um die Umsetzung geht.
Auf Mitgliedstaaten, denen die Entscheidung im Einzelfall schwerwiegende Probleme bereiten würden, muß unverändert Rücksicht genommen werden. Alle Partner müssen in Zukunft jedoch bereit sein, Mehrheitsentscheidungen bei abweichendem Votum loyal mitzutragen - auch finanziell.
Zwischen allen Partnern besteht aber Konsens darüber, daß die Entsendung von Truppen auch in Zukunft stets der Zustimmung der entsendenden Staaten bedarf. Ohne die Zustimmung von Bundesregierung und Deutschem Bundestag wird es keinen Einsatz deutscher Streitkräfte geben.
Unser längerfristiges Ziel bleibt die Integration der WEU in die Europäische Union. Die Schaffung einer Leitlinienkompetenz des Europäischen Rates auch für die WEU wäre hierfür ein ganz wichtiger Schritt.
Zweitens: Die Bundesregierung strebt im Bereich der Justiz- und Innenpolitik die verstärkte Obernahme von Gemeinschaftsverfahren an. Das gilt in erster Linie für die Asyl- und Visapolitik. In diesem für die Akzeptanz der Bürger so entscheidenden Bereich fehlt es bislang an einem Motor, der das gemeinsame Interesse formuliert und zur Geltung bringt. Deshalb wird sich die Bundesregierung für die Ausdehnung des Initiativrechts der Europäischen Kommission auf alle Bereiche der Justiz- und Innenpolitik einsetzen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat sich in vier Jahrzehnten bewährt und ist für den Schutz der Grundrechte auf Unionsebene unverzichtbar. Unser Ziel ist es, auf dieser Grundlage die Bürgerrechte auf europäischer Ebene stärker zu verankern. Auch die parlamentarische Kontrolle auf diesem Gebiet ist bislang unzureichend. Das Europäische Parlament sollte nach unseren Vorstellungen in allen Fragen zumindest in Form der obligatorischen Anhörung beteiligt werden. Das ändert nichts daran, daß die nationalen Parlamente ihre wichtige Rolle behalten müssen.
Drittens: Die Überprüfung der europäischen Institutionen und Entscheidungsprozesse wird von fast allen Partnern gefordert, ist aber erfahrungsgemäß ganz besonders schwierig. Wir werden das mit der notwendigen Behutsamkeit angehen und dabei natürlich vor allem die Interessen der kleineren Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen. Wichtig ist, daß die Regelungen so ausfallen, daß eine neue Erweiterung keinen Verlust an Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit mit sich bringt.
Es stärkt die demokratische Legitimation, wenn bei Mehrheitsentscheidungen zukünftig die zustimmenden Staaten stets auch die Bevölkerungsmehrheit der Europäischen Union repräsentieren. Der Gedanke einer doppelten Definition der Mehrheit - nach Zahl der Stimmen und nach Größe der vertretenen Bevölkerung - ist übrigens nicht neu. Er ist, ohne ausgesprochen zu sein, in den gültigen Regelungen mindestens zum Teil schon verwirklicht. Er sollte auch bei einer erneuten Erweiterung seine Gültigkeit behalten.
Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit sollte im Rat bei der gemeinschaftlichen Rechtsetzung zur Regel werden. Manche Fragen, wie Finanzen und Steuern, werden jedoch auch weiterhin der Einstimmigkeit unterliegen müssen.
Mit der letzten Erweiterung ist das Kollegium der Kommission auf 20 Mitglieder angewachsen. Die Frage ist, ob die Zahl der Kommissare begrenzt werden sollte oder ob andere Möglichkeiten bestehen, die Effizienz der Arbeit der Kommission zu erhöhen. Auch hier werden die Bundesregierung und die Bundesrepublik als größtes Land in der Europäischen Union eine Marginalisierung der kleineren Mitgliedstaaten vermeiden müssen und auch zu vermeiden suchen.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Die halbjährige Rotation der Präsidentschaft hat offensichtliche Vor-, aber eben auch gewaltige Nachteile. Sie erzeugt in sechs Monaten Handlungsdruck für den Vorsitz. Eine stärkere Kontinuität, insbesondere bei der Vertretung der Europäischen Union nach draußen, wäre wünschenswert. Das alles muß allerdings sehr genau überlegt werden.
Viertens: Die Bundesregierung wird sich für eine strikte Anwendung und Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips einsetzen sowie für mehr Transparenz. Soweit die Mitgliedstaaten bestimmte Aufgaben alleine ausreichend lösen können, brauchen wir keine europäischen Regelungen. An diesem Grundsatz muß bestehendes und künftiges Gemeinschaftsrecht stärker als bisher gemessen werden.
Die Übertragung von weiteren Kompetenzen auf die Europäische Union steht 1996 nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr geht es um eine klarere Abrenzung der Zuständigkeiten der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Hier ist vor allem Klarheit in der Rechtsetzung gefordert. Bürgernähe heißt auch Transparenz. Wenn die europäischen Verfahren so kompliziert geworden sind, hängt dies mit dem legitimen Wunsch nach einer Vielzahl von Kontrollstufen zusammen; diesem Interesse muß Rechnung getragen werden. Es widerspricht dem aber nicht, die Verfahren im Europäischen Parlament zu vereinfachen.
Neben dem Haushaltsverfahren sollten noch drei Verfahren für die Beteiligung des Europäischen Parlaments zur Anwendung kommen: das der Zustimmung, das der Mitentscheidung und das der Anhörung.
Das Ratifizierungsverfahren der Ergebnisse der Regierungskonferenz wird zeitlich in das Umfeld der Entscheidung über den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion fallen. Dieses selbst steht bei dieser Konferenz nicht zur Debatte.
Unsere Partner wissen und sollten wissen: Für Deutschland gibt es einen Zusammenhang zwischen der Akzeptanz einer gemeinsamen Währung und der Ausfüllung und Ergänzung der politischen Union.
Das liegt in der Natur der Sache. Eine gemeinsame Währung ist auf Dauer ohne eine entsprechende politische Verflechtung nicht machbar.
Umgekehrt möchte ich aber auch bekräftigen: Die Bundesregierung will die europäische Währung, sie ist nicht nur im europäischen, sondern auch im deutschen Interesse. Unsere stark exportabhängige Wirtschaft spürt im immer härter werdenden internationalen Konkurrenzkampf schmerzhaft, daß wir im Binnenmarkt noch keine gemeinsame Währung haben.
Wer die Entwicklung des internationalen Finanzsystems analysiert, weiß, daß die Schaffung einer stabilen europäischen Währung unseren eigenen Interessen dient. Wir sollten also damit aufhören, so zu tun, als ob uns die Währungsunion von außen aufgedrängt würde. Nein, wir wollen sie. Ich sage sogar: Wir müssen sie wollen.
Wir brauchen allerdings eine stabile europäische Währung. Bei den Konvergenzkriterien wird es mit der Bundesregierung kein Deuteln geben. Das müssen alle wissen.
Meine Damen und Herren, vieles von dem, was vor uns steht und angepackt werden muß, scheint eher rechtlicher oder technischer Natur zu sein. Wir dürfen jedoch keine Minute vergessen, daß hinter all diesen Anstrengungen das große Ziel steht, unserem Kontinent, der in diesem Jahrhundert zwei schreckliche Weltkriege und 40 Jahre eines menschenverachtenden kalten Krieges erlebt hat, endlich dauerhaft Frieden zu sichern.
Alfred Andersch hat einmal gesagt: „Man kann alles richtig machen und das Wichtigste versäumen." Diesen Fehler wollen wir am Ende dieses Jahrtausends nicht begehen. Die Bundesregierung jedenfalls wird Europa weiterhin absolute Priorität geben - für eine gute Zukunft Deutschlands.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht die Abgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vorfeld des Gipfels von Cannes hat die SPD-Bundestagsfraktion einen grundsätzlichen Antrag zu notwendigen Reformen in der Europäischen Union in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir haben aber auch ein zweites aktuelles Anliegen, das ich zu Beginn ansprechen möchte.
Wir fordern Helmut Kohl auf, die Wiederaufnahme französischer Atomwaffenversuche im Südpazifik auf der Gipfelkonferenz in Cannes zum Thema zu machen.
Das Gremium der europäischen Staats- und Regierungschefs muß den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac auffordern, seine Entscheidung zurückzunehmen.
Herr Kinkel, es ist Feigheit vor dem Freund, wenn Sie und die Bundesregierung die Entscheidung der
Heidemarie Wieczorek-Zeul
französischen Regierung zu weiteren Atomwaffenversuchen weiterhin schweigend hinnehmen.
Die Wende des französischen Staatspräsidenten in der Haltung zu den französischen Atomwaffentests ist ein Schlag gegen die bereits vereinbarte europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Auf der Basis des geltenden Maastrichter Vertrages hatten sich vor mehr als einem Jahr die EU-Mitgliedsländer zusammengefunden und, Herr Kinkel, einvernehmlich und einstimmig als gemeinsame Aktion festgelegt: Die Weiterverbreitung von Atomwaffen muß verhindert werden.
Die französischen Atomwaffentests gefährden die laufenden Verhandlungen für ein vollständiges weltweites Verbot der Atomwaffenversuche und das Verbot der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Dazu kann und darf die Bundesregierung nicht schweigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Wiederaufnahme der Atomtests gefährdet Frankreich im übrigen die Gesundheit der Menschen zahlreicher Inseln im Südpazifik und verseucht die Umwelt. Ich fände es hervorragend, wenn sich alle Politiker, die sich gegen das wahnwitzige, umweltgefährdende Vorgehen von Shell gewandt haben, jetzt gemeinsam mit uns dafür engagierten: Neue Atomwaffenversuche dürfen nicht sein!
Sie gefährden Leben, Gesundheit und Umwelt in dramatischer Weise. Oder wollen Sie es erst wieder den mutigen Frauen und Männern von Greenpeace überlassen, die französische Regierung an einem solchen Verhalten zu hindern?
Deshalb fordere ich Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie dem Antrag, den wir heute hier zur Abstimmung vorgelegt haben, zu!
Daß das rhetorische Feuer in den Reden von Herrn Kinkel fehlt, ist Stadt- oder Bonn-bekannt.
Aber was wir - das sage ich jetzt mit allem Ernst - in dieser Rede vermissen, ist eine wirkliche Analyse der Grundfrage, wie die Bundesregierung auf die offensichtlich veränderte französische Außen- und Europapolitik reagieren will. Wir werden - diesen Punkt wird besonders mein Kollege Norbert Wieczorek ansprechen - Schwerpunkte in Richtung auf die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion setzen müssen, bei der es der deutsch-französischen Kooperation besonders bedarf, und es muß ein Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit gelegt werden;
denn das ist eine Initiative, die jetzt auch in Frankreich zu einem Schwerpunkt gemacht wird.
Zum zweiten möchte ich zu unserem vorgelegten Grundsatzantrag deutlich machen, daß auch ich es bedaure, daß wir zwar große Ankündigungen der Regierungsfraktionen erleben, sie aber nicht imstande sind, heute hier einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Nur die Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben heute hier Anträge mit klaren Orientierungen vorgelegt. Im folgenden möchte ich die Punkte unseres Antrages ansprechen.
Zu Recht wird heute die EU von der Bevölkerung der Mitgliedstaaten häufig nur als schlechter Reparaturbetrieb wahrgenommen. Die Europäische Union - nach der Rede von Herrn Kinkel wundert es eigentlich nicht, obwohl es ja die gesamte Bundesregierung trifft - wirkt viel zu wenig als Trägerin von Hoffnungen, Erwartungen und Wünschen von Menschen.
Der zweite Grund, warum Reformen der Europäischen Union notwendig sind: Die Aufnahme mittel- und osteuropäischer Länder macht sowohl veränderte Entscheidungsverfahren als auch dringende Reformen der Agrarpolitik und der Finanzierung der Europäischen Union notwendig. Ich finde es ja immer interessant, Papiere von Mitgliedern der Bundesregierung zu lesen. Aber die, die jetzt über diese Frage diskutieren, sind doch diejenigen, die erst vor kurzem die Finanzierung der Europäischen Union vereinbart haben. In beiden Bereichen vermissen wir wirkliche Reformvorschläge der Regierung.
Im Vorfeld der Revisionskonferenz müssen alle diese Fragen vorbereitet und die Antworten darauf diskutiert werden. Ich nenne zwei Beispiele, die besonders dringende Reformnotwendigkeiten zeigen.
Erstens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle haben erlebt, daß z. B. über die unzureichende und falsche Regelung von Herrn Bangemann zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel in nichtöffentlicher Sitzung von den Regierungen abgestimmt wurde. Wir sagen: In Fragen der Gesetzgebung, die von so existentieller Bedeutung sind, muß die Öffentlichkeit zusehen können. Das muß vor den Augen der Öffentlichkeit geschehen, damit sich in diesen Fragen Regierungen nicht interessengeleitet an den Bedürfnissen der Verbraucher vorbeiverhalten können.
Zweitens. Es geht in der Tat darum, das völlig unübersichtliche Gestrüpp von Gesetzgebungsverfahren und Regelungen in der Europäischen Union zu durchforsten.
Wir wollen wenige neue Gesetzgebungswege, bei denen das Europäische Parlament immer das volle Mitentscheidungsrecht hat. Aber einiges werden wir nicht akzeptieren. Vieles, was hier angesprochen worden ist, ist Semantik. Diese Woche sind die Vorschläge der sogenannten Molitor-Kommission, einer angeblich unabhängigen Beratergruppe, auf deren
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Einsetzung die Bundesregierung gedrängt hat, bekannt geworden. Die verstehen unter Entrümpelung, daß z. B. ökologische und soziale Standards in der Europäischen Union beseitigt werden sollen.
Wir sagen: Europa hat bei der Globalisierung alles zu verlieren, wenn in diesem Bereich dereguliert und abgebaut wird. Europa hat aber alles zu gewinnen, wenn es seine Chancen, seine gesetzlichen Möglichkeiten für hohe soziale und ökologische Standards einsetzt. Wir plädieren dafür, auch das in dem Vertrag entsprechend zu verankern.
Drittens. Wir wollen die Osterweiterung, aber - das ist auch klar - das setzt voraus, daß es eine völlig andere Arbeit der Europäischen Union geben muß. Eine Union, die früher sechs Mitglieder hatte, kann mit mehr als zwanzig Mitgliedern nicht mehr die gleichen Aufgaben erledigen wie vorher. Deshalb müssen neue Kompetenzen zugeordnet und festgeschrieben werden. Vor allem muß klar sein, was die EU darf und daß die Rechte der Mitgliedstaaten dabei nicht berührt werden.
Aber es geht vor allem auch um eine Reform der EU-Agrarpolitik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 75 Milliarden DM sind im EU-Haushalt allein für den Agraranteil veranschlagt. Wer in diesem Bereich etwas ändert, der trägt auch dazu bei, daß die finanziellen Rückflüsse in die Bundesrepublik stärker werden. Wir müssen wegen der Osterweiterung und auch wegen der GATT-Vereinbarungen auf eine tiefgreifende Reform der Agrarpolitik drangen - weg von der Betriebswirtschaft der Beihilfenoptimierung und der kaum noch zu überbietenden Bürokratie in der Landwirtschaft hin zu nicht produktbezogenen Beihilfen für Landschaftspflege sowie Umwelt- und Naturschutz. Das muß die Orientierung in der Agrarpolitik und in der Reform der Agrarpolitik sein.
Viertens. Wir fordern, daß die grundlegenden Ergebnisse der Reformkonferenz in allen Mitgliedstaaten den Bürgern und Bürgerinnen in einem Referendum vorgelegt werden. Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Wenn die Bundesregierung weiß, daß die zu erarbeitenden Vorschläge der Bevölkerung in der Bundesrepublik in einem Referendum vorgelegt werden, dann wird sie nicht mehr riskieren können, Verträge vorzulegen, die Bürokratendeutsch und altes Denken der Regierungskonferenzen zum Inhalt haben. Auch deshalb ist es notwendig, dieses Referendum zu ermöglichen und in den Ländern der Europäischen Union durch eine Volksabstimmung deutlich zu machen, daß die Menschen Europa wieder mehr als ihre gemeinsame Zukunft begreifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre es nicht einer großen Anstrengung wert, dem zu erarbeitenden Vertrag eine Charta europäischer Bürgerrechte voranzustellen, in der die Mitgliedstaaten der Europäischen Union allen Bürgern und Bürgerinnen, die auf ihrem Boden leben, die Menschenrechte und die Menschenwürde garantieren, ihnen demokratische Bürgerrechte zusichern?
Die EU-Bürger und -Bürgerinnen haben heute zwar das kommunale Wahlrecht, aber es ist doch schwer erklärbar, warum Franzosen, Italiener und Engländer bei den Kommunalwahlen wählen können, während ihre türkischen Kollegen diese Möglichkeit nicht haben.
Fünftens. Das Ungleichgewicht, das zwischen der Wirtschaft und den nicht ausreichenden Elementen der Sozialpolitik der Europäischen Union besteht, muß beseitigt werden. Wir wollen eine Sozialunion, die die bisher nicht rechtsverbindlichen Elemente der Sozialcharta - soziale Grundrechte - zum Teil des Maastricht-Vertrages macht. Es darf niemand Mitglied der Währungsunion werden, der das Sozialprotokoll nicht akzeptiert hat, und das Sozialprotokoll muß endlich für alle EU-Mitgliedsländer tatsächlich gelten.
Sechstens. Wir haben im Bereich der institutionellen Reformen eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die vor allen Dingen das Ziel haben, das Europäische Parlament in seinen Rechten zu stärken. Das muß ich hier nicht im Detail ansprechen. Ich möchte aber an dieser Stelle ganz besonders dem jetzigen Präsidenten des Europaparlaments, Klaus Hänsch, für seine hervorragende Arbeit danken.
Er hat mehr dazu beigetragen,
Europa populär, bekannt und auch beliebt zu machen, als irgend jemand in dieser Regierung und - das füge ich durchaus selbstkritisch hinzu - als alle Parteien, die hier im Deutschen Bundestag vertreten sind, im Europawahlkampf.
Die Möglichkeiten von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat, soweit sie nicht finanzielle Fragen betreffen, müssen verstärkt werden. Aber für uns gilt auch das Prinzip: Mehrheitsentscheidungen dürfen nicht auf Bereiche übertragen werden, die zwischenstaatlich organisiert bleiben; denn dies würde die parlamentarische Kontrolle, die in Europa ohnehin fehlt, total beseitigen. Weder das Europäische Parlament noch die nationalen Parlamente, die durch Mehrheitsentscheidungen der Regierungen ausgehebelt werden können, hätten dann ausreichende Rechte.
Nach wie vor ist im bisher vorgelegten Vertrag im Komplex Innen- und Rechtspolitik und im Komplex der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die
Heidemarie Wieczorek-Zeul
zwischenstaatliche Zusammenarbeit vorgesehen. Wir sind für die Weiterentwicklung in diesen Bereichen in Richtung auf Vergemeinschaftung. Wir halten es aber für unrealistisch und falsch, für die nächste, im Jahre 1996 beginnende Revisionskonferenz die Vergemeinschaftung in diesem Bereich zu verlangen. Bis auf einen eingegrenzten Bereich, nämlich den der Zuwanderung in der Europäischen Union, gehen wir davon aus, daß der Bereich Innen- und Rechtspolitik und der Bereich Außen- und Sicherheitspolitik im Jahre 1996 nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft überführt werden.
Es wird - das zu sagen gehört auch zur Ehrlichkeit; man kann doch die Sprüche, die hier von seiten der Regierung schon immer erzählt worden sind, nicht noch einmal wiederholen - über einen längeren Zeitraum in der EU nebeneinander vergemeinschaftete Bereiche, zwischenstaatliche Zusammenarbeit und nationalstaatliche Verantwortung geben. Ob sich bundesstaatliche Strukturen, wie wir sie traditionell kennen, tatsächlich entwickeln werden und ob es eigentlich wünschenswert ist, ein Europa mit 20 Staaten in die Struktur eines europäischen Bundesstaates zu zwängen, lasse ich für die zukünftige Beantwortung offen.
Der Vorschlag der CDU/CSU zu den Entscheidungsverfahren in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik jedenfalls - er unterscheidet sich ja drastisch von dem, was Herr Kinkel hier gesagt hat - ist gleich zweifach skandalös: Erstens. Er ist ein Vorschlag, der sowohl die nationalen Parlamente als auch das Europäische Parlament ausschaltet. Der Demokratielücke in Europa würde also eine weitere hinzugefügt.
Zweitens. Geradezu abenteuerlich - ich glaube, das war auch bei Herrn Kinkel durchaus zu hören - ist der Vorschlag, daß die Staaten, die sich an militärischen Aktionen nicht beteiligen wollen, zu deren Finanzierung herangezogen werden sollen. Das paßt wenig zu der ständigen Klage des Finanzministers, der finanzielle Beitrag der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union sei zu hoch.
Die Probleme, liebe Kolleginnen und Kollegen, einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der EU liegen eben nicht in den Entscheidungsverfahren und schon gar nicht darin, daß eine gemeinsame Militärpolitik fehlte - nichts braucht Europa weniger als das; wofür haben wir denn eigentlich die NATO? -, sondern darin, daß die Mitgliedstaaten in ihrer Außenpolitik bisher eigene Interessen, eigene außenpolitische Einschätzungen nicht in einem kontinuierlichen Prozeß aufeinander abstimmen, daß sie unterschiedliche Ziele verfolgten und noch verfolgen und daß eine wirklich vorausschauende Außenpolitik nicht betrieben wird.
Was hindert eigentlich die Bundesregierung daran, Vorschläge in die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einzubringen, wie sie auf dem Weltsozialgipfel der UN in Kopenhagen gemacht worden sind?
Wir bringen hier den Vorschlag ein - und unterstützen ihn -, den der Friedensnobelpreisträger Oscar Arias gemacht hat. Er schlägt ein umfassendes Konversionskonzept vor. Das Ziel sollte sein, erstens die Waffenexporte zu reduzieren und zweitens zwischen Industrie- und Entwicklungsländern eine deutliche Senkung der Militärausgaben zu vereinbaren.
So könnten die Länder des Südens und die Länder Mittel- und Osteuropas Finanzmittel für die weitere Entwicklung bekommen. So könnten Mittel frei werden. Das sind Aufgaben wirklicher Friedens- und Sicherheitspolitik. Aber unter der jetzigen Bundesregierung ist Deutschland zum zweitgrößten Waffenexporteur der Welt geworden. Wer eine solche Politik zu Hause betreibt, ist natürlich nicht imstande, solche Ansätze einer vorausschauenden Außenpolitik in die Europäische Union einzubringen.
Der heizt im übrigen die nächsten Konflikte in der Welt an, die er dann mit angeblich notwendiger militärischer Aktion - in Anführungszeichen - bekämpfen will.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Abschluß der Reformkonferenz müssen die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und den beitrittswilligen Ländern Mittel- und Osteuropas eröffnet werden. Wir möchten - wir verlangen das in unserem Antrag -, daß der Beschluß über den Verhandlungsbeginn auf der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 1995 gefaßt wird. Bereits in der jetzt laufenden Überprüfungskonferenz sollte der Termin so verändert werden, daß die mittel- und osteuropäischen Länder die Chance haben, sich sowohl an die Innen- und Rechtspolitik als auch an die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu assoziieren.
Das wäre in diesem Bereich eine Chance, zu erreichen, daß am Ende dieses ausgehenden Jahrhunderts Europa zusammenwächst, dazu die praktischen Schritte in diese Richtung verfolgt und daß alle Voraussetzungen auf unserer Seite, bei den Westeuropäern, aber auch alle Voraussetzungen bei den mittel- und osteuropäischen Ländern im Sinne der hier genannten Reformen geschaffen werden. Dann, glaube ich, haben wir in diesem ausgehenden Jahrhundert die Chance, das zusammenwachsende Europa in einer ganz anderen Form zu erleben, als wir es uns vielleicht vorgestellt haben: nicht in der Form des Bundesstaates, sondern bunter, mit besserer Kooperation und gleichzeitig friedlich. Das ist eine Chance, für die wir uns alle gemeinsam engagieren sollten.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
Als nächster spricht der Kollege Rudolf Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 1995 ist ganz sicher ein Schlüsseljahr für Europa und bringt wichtige Weichenstellungen für die Fortentwicklung der Europäischen Union. Die Regierungskonferenz ist eine außerordentliche Chance für uns Europäer. Das bedeutet aber auch: Wir können uns Rückschläge auf dieser Konferenz, Stagnation oder mangelnde Fortschritte nicht leisten. Das heißt ebenfalls, die deutsche Außenpolitik muß ihren politisch-konzeptionellen Beitrag dazu leisten, daß es auf dem Gebiet der äußeren und inneren Sicherheit zu einer Stärkung der Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit der Europäischen Union und auch zu den notwendigen institutionellen Reformen kommt. Insoweit stimmen wir sicherlich überein.
Wir stimmen aber nicht in der Kritik der Opposition an der Europapolitik der Bundesregierung überein.
Wir haben, um mit den Worten von Hermann Rappe zu sprechen, soeben eine Rede der pazifistischen Heiligen Heidemarie Wieczorek-Zeul gehört.
Diese Rede hat sich von der. Wirklichkeit unseres Landes total entfernt. Sie hat mich auch provoziert, mir doch noch einmal einen schönen Aufsatz aus meiner Mappe zu Gemüte zu führen, und zwar vom Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, HansUlrich Klose, Mitglied des Führungsgremiums der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Es gibt viele schöne Zitate; ich beschränke mich auf zwei:
Im Bereich der Außenpolitik hat sich die SPD hoffnungslos vergaloppiert. Es zählt nicht, was die Leute sagen, sondern was in unseren Beschlüssen steht. Die heilige sozialdemokratische Glaubenskongregation ist allemal wichtiger als das Volk,
und die Wirklichkeit hat sich, verdammt noch mal, an den Beschlüssen der Sozialdemokratie auszurichten, nicht etwa umgekehrt.
Das ist eine wirklich schöne Beschreibung.
Frau Wieczorek-Zeul, Sie appellieren an den Bundeskanzler, sich um die deutsch-französische Freundschaft zu kümmern. Das ist schon ein toller Appell. Wer sich in der Welt umschaut, der weiß ganz genau: Es gibt kein Land mit einem größeren
europapolitischen Engagement als die Bundesrepublik Deutschland.
Es gibt keinen Politiker mit einem größeren Einsatz für die europäische Integration und für die deutschfranzösische Freundschaft als Bundeskanzler Helmut Kohl.
Diese Verläßlichkeit, Stetigkeit und Konsequenz haben zu dem internationalen Ansehen und zu dem Vertrauen geführt, das. diese Regierung in allen Teilen der Welt geschaffen und aufgebaut hat, zum Nutzen und im Interesse unseres Landes.
Einige wenige Gedanken zum bevorstehenden EU-Gipfel und zur Zukunft der Europäischen Union:
Erstens. In den vergangenen Wochen ist viel über den Streit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die finanzielle Ausstattung der Hilfsprogramme für Mittel- und Osteuropa einerseits und für die Stabilisierung des Mittelmeerraums andererseits berichtet worden. Ich halte es für legitim, daß in der Europäischen Union über die Höhe der Finanzausstattung dieser Programme gerungen wird, aber ich hielte es für verhängnisvoll, wollten wir zulassen, daß das Interesse an politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Stabilität der Europäischen Union in diesen beiden Regionen gegeneinander ausgespielt wird.
Die politischen Instabilitäten in den MaghrebStaaten Nordafrikas und im Mittelmeerraum berühren ebensowenig ausschließlich französische oder spanische Interessen, wie die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder die Osterweiterung der Gemeinschaft in erster Linie deutsche Interessen tangieren. Hier stellen sich gesamteuropäische Verantwortlichkeiten. Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion unterstützt deshalb mit Nachdruck die Bemühungen der Bundesregierung, die mittelfristige Finanzausstattung der Hilfsprogramme für die beiden Regionen gemeinsam mit Frankreich und den anderen Mitgliedern der EU einvernehmlich zu beschließen.
So sehr wir uns im übrigen wünschen, daß die Europäische Union noch größere Anstrengungen zur Stabilisierung kritischer Nachbarregionen an ihrer Peripherie unternimmt, so bleibt es auch notwendig, eine Reserve für unabweisbare Aufgaben außerhalb dieser beiden Schwerpunktbereiche verfügbar zu haben, z. B. für den Nahen Osten, wo sich der Friedensprozeß in einer kritischen Phase befindet.
Jede konkrete, unmittelbar wirksame politische und wirtschaftliche Unterstützung, die die Europäische Union zur Absicherung des Nahost-Friedens-
Rudolf Seiters
prozesses zu leisten vermag, ist eine Investition in den Frieden und in die Zukunft des Nahen Ostens.
Deshalb unterstützt und begrüßt die Bundestagsfraktion mit Nachdruck, daß der Bundeskanzler die Europäische Union zu einem neuen Engagement zugunsten des Nahost-Friedensprozesses aufgerufen hat.
Zweitens. In Cannes werden auch die wirtschaftliche Stabilität und die Beschäftigungsentwicklung in den Staaten der Europäischen Union auf der Tagesordnung stehen. Auch auf diesem Sektor hat die Bundesrepublik keinen Anlaß, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Frau Wieczorek-Zeul, da brauchen wir keine Mahnung. Die Stabilität der D-Mark ist ohne Konkurrenz in Europa. Die Stabilität einer Währung ist der Ausweis ihrer Leistungsfähigkeit und gleichzeitig ein Indikator für solide Finanzpolitik. Wir haben allen Grund, mit der Währungspolitik der Bundesbank und der Stabilitätspolitik der Bundesregierung zufrieden zu sein, denn ohne diese Stabilitätsgrundlage wären alle Bemühungen zur Verbesserung der Beschäftigung Makulatur.
Bereits auf dem Gipfel in Essen hat die Bundesregierung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und zukunftsträchtiger Beschäftigungsperspektiven die richtigen Weichen gestellt: Nicht gigantische Ausgabenprogramme und weitere Verschuldung, sondern Investitionen in die wirtschaftliche Infrastruktur der Europäischen Union, in moderne transeuropäische Verkehrsverbindungen, in Deregulierungsmaßnahmen, Ausbildungsprogramme und flexible Formen der Arbeitsorganisation sollen bestehende Arbeitsplätze sichern und neue schaffen. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen, dieses Konzept auf dem Gipfel in Cannes weiter voranzubringen.
Drittens. Das Zusammenwachsen Europas zur politischen Union erfordert - dies wird ein Schwerpunktthema auf der Regierungskonferenz 1996 sein müssen -, daß auch die Rechts- und Innenpolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union weiterhin und enger zusammengeführt, die rechtsstaatlichen Gemeinschaftsstrukturen weiter harmonisiert und die verfassungspolitischen Perspektiven der Union fortgebildet werden.
Wir brauchen Fortschritte aber auch schon in den nächsten Wochen. Wir halten die Verabschiedung der Europol-Konvention für dringend notwendig. Wir dringen darauf, daß die französische Ratspräsidentschaft die noch ausstehenden Kernfragen bis zur Ratssitzung in Cannes entscheidet, auch wenn der Abschluß der Konvention vermutlich erst unter der anschließenden spanischen Ratspräsidentschaft erfolgen kann.
Das Europa der offenen Grenzen, das wir wollen und das im Vertrag von Schengen für einen Teil der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits Wirklichkeit geworden ist, muß auch ein sicheres Europa sein. Die innere Sicherheit der Europäischen Union erfordert auch ein europäisches Mandat. Angesichts der aktuellen Diskussion über Schengen sage ich: Die vorliegenden Erfahrungen mit dem Schengener Regime - in den wenigen Monaten seit Inkraftsetzung ist eine deutliche Steigerung der Fahndungserfolge in Deutschland um bis zu 30 % zu registrieren - zeigen, daß das Vertrauen, das sich die Schengener Vertragstaaten entgegengebracht haben, gerechtfertigt war. Ich plädiere dafür, diesen Weg konsequent weiter zu beschreiten.
Viertens. Der geschäftsführende Vorstand meiner Fraktion hat vor wenigen Tagen in Berlin Vorschläge zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erarbeitet und gesagt: Das Ziel, die Union außen- und sicherheitspolitisch wesentlich handlungsfähiger zu machen, muß im Mittelpunkt der Regierungskonferenz 1996 stehen. In kaum einem Bereich der europäischen Politik ist der Bedarf an Handlungsfähigkeit größer als in der Frage der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zu der als integraler Bestandteil auch eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik und Verteidigung gehören müssen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nur pauschal auf diese Vorstellungen verweisen - hier gibt es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bundesaußenminister und unserer Fraktion -: auf die Notwendigkeit von Mehrheitsentscheidungen auch in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, auf die organisatorischen und institutionellen Maßnahmen zur Weiterentwicklung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und auch auf den eigenständigen Beitrag, den die Europäische Union durch eine gemeinsame Verteidigungspolitik und Verteidigung für Frieden und Sicherheit in Europa erbringen muß.
Ich sage ausdrücklich, daß wichtiger als alle institutionellen und organisatorischen Maßnahmen der politische Wille ist, gemeinsam zu handeln. Er ist die entscheidende Voraussetzung für eine europäische Außenpolitik. Zu diesem gemeinsamen Willen gehört auch die Solidarität, die jeder einzelne Staat in Europa und im Bündnis zu erbringen hat. Deshalb ist es unabdingbar, daß wir bereit sein müssen, die UNO- Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina mit einem deutschen Beitrag zu unterstützen,
und zwar mit Sanitätseinheiten, aber auch mit Einheiten der Luftwaffe. Wenn der Schutzauftrag von UNO und NATO und die Bündnissolidarität dies erfordern, dann darf, kann und wird sich die Bundesrepublik Deutschland einem entsprechenden Unterstützungsersuchen nicht verweigern.
Wir können uns über den fundamentalen Streit in der SPD nicht freuen. Wenn deutsche Tornados benötigt werden, um unsere Verbündeten bei einem eventuellen Abzug, den keiner will, oder einer Bleibeoperation zu schützen, würde uns eine Verweigerung
Rudolf Setters
auf eine gefährliche Weise unglaubwürdig machen und gegenüber unseren Partnern isolieren. Es ist im Grunde schon schlimm genug, daß sich die deutsche Sozialdemokratie in Europa isoliert hat. Viel schlimmer wäre es, wenn die Bundesrepublik Deutschland insgesamt in diese Isolierung hineingeraten würde. Dies dürfen wir nicht zulassen.
Deswegen wünschen wir uns, daß sich bei den deutschen Sozialdemokraten nicht die Taktiker und Dogmatiker durchsetzen, sondern die verantwortungsbewußten Politiker, die sich zur internationalen Solidarität bekennen.
Alles andere führt in die Sackgasse.
Für uns in der Koalition jedenfalls gilt: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wir stehen auch künftig für eine berechenbare und verläßliche Politik, bei der die außenpolitischen Koordinaten stimmen, die europäisch und transatlantisch orientiert ist und die die deutsche Verantwortung in der internationalen Politik anerkennt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Beginn der Arbeit der Reflexionsgruppe in Messina und dem Gipfel in Cannes wird quasi der offizielle Startschuß für die Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996 gegeben. Für den Integrations- und Erweiterungsprozeß der Union wird diese Konferenz nach unserer Einschätzung von so großer Bedeutung sein, daß wir darauf gedrängt haben, im Plenum noch vor Cannes eine Debatte zu führen, um von der Bundesregierung zu erfahren, welche politischen Konzepte und Strategien sie in diesem Zusammenhang verfolgt; denn die Devise der Bundesregierung ist zur Zeit offensichtlich „diplomatische Zurückhaltung statt Mobilisierung von Phantasie und Initiativen".
Wie dringend diese öffentliche Debatte ist, zeigt gerade die heutige Reaktion des Bundesaußenministers. Er hat uns freundlich mitgeteilt, daß sich die Bundesregierung weigert, unsere Große Anfrage zu zentralen Fragen der Europapolitik fristgemäß zu beantworten. Sie will das erst nach Beendigung der Arbeiten der Reflexionsgruppe tun. Hier wird meines Erachtens die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung überdeutlich.
In einer zentralen Frage deutscher Außenpolitik weigert sich diese Regierung, dem deutschen Parlament öffentlich Auskunft zu geben;
das ist meines Erachtens eine Mißachtung des Parlaments. Dies hören wir von einer Regierung, die sich immer wieder vollmundig als Motor der europäischen Einigung bezeichnet.
- Der Erosionsprozeß der F.D.P., Herr Haussmann, hat in diesem Zusammenhang auch die Europapolitik der Bundesregierung vollends ergriffen.
Es geht auf der Regierungskonferenz um eine entscheidende Weichenstellung, um die Zukunft der Europäischen Union, d. h. um die Fragen: Wollen wir lediglich eine technokratische Reform der supranationalen Strukturen? Wollen wir ein Kerneuropa, mit dem wir die sozialen und wirtschaftlichen Spannungen in Europa vertiefen? Wollen wir eine Supermacht Europa, die ihr Heil und ihre europäische Identität in einer gemeinsamen Verteidigungspolitik sucht? Oder wollen wir uns auf den Weg zu einem demokratischen, sozialen, ökologischen und zivilen Modell von Europa machen, das friedensstiftend nicht nur nach innen, sondern auch nach außen wirkt?
Vor diesem Hintergrund sehen wir den Integrationsprozeß vor allem durch Kerneuropakonzepte gefährdet. Dahinter verbirgt sich die Bestrebung, einen dominanten Kern von wenigen reichen Staaten Mitteleuropas zu bilden, der in Zukunft Tempo und Richtung der europäischen Integrationspolitik bestimmen soll, frei nach dem Motto: Wir fahren schon einmal mit der Mercedes-Limousine voran, und ihr könnt in eurem Fiat 500 folgen.
Mit dieser Festschreibung eines hierarchischen Europas wird jede Einheitlichkeit des Integrationsprozesses aufs Spiel gesetzt und die Spaltung Europas provoziert.
Die kerneuropäischen Gedanken sind aus den Vorstellungen der Regierungsfraktionen keineswegs verschwunden. Sie finden sich deutlich erkennbar in Vorschlägen für eine gemeinsame Militärpolitik und im Konzept der Währungsunion. Überall soll eine Kerngruppe von Staaten vorangehen. Die anderen können zusehen, wie sie folgen bzw. wo sie bleiben.
Im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist der Reformbedarf gewiß groß. Wir sind alle unzufrieden; das Stichwort Bosnien wurde in dem Zusammenhang schon genannt. Aber was fällt der Regierung dazu ein? Ein Militarisierungskonzept: Integration der WEU in die EU, eine Inter-
Christian Sterzing
ventionsstreitmacht, die per Mehrheitsbeschluß auf den Weg geschickt werden soll! Staaten, die dem nicht zustimmen, müssen wenigstens zahlen. Ein Vetorecht haben sie nicht. Das ist eine Reduktion der Außenpolitik auf Verteidigungspolitik. Und die zivilen Möglichkeiten einer gemeinschaftlichen europäischen Außenpolitik geraten völlig aus dem Blick.
Die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung in diesem Zusammenhang kommt auch in den geplanten Atomtestserien Frankreichs wieder deutlich zum Ausdruck. Es gab einmal eine gemeinsame außenpolitische Initiative der EU, nämlich die Vorbereitung auf die Verhandlungen über den Nichtverbreitungsvertrag in New York. Wir waren zwar mit dieser europäischen Position nicht ganz einverstanden, aber es war immerhin eine abrüstungspolitische Initiative der Union. Und nun konterkariert Frankreich diese Bemühungen mit der beabsichtigten Fortsetzung der Atomtestserie und untergräbt damit nicht nur seine eigene Glaubwürdigkeit, sondern auch die Glaubwürdigkeit einer gemeinsamen Abrüstungspolitik der Europäischen Union.
Und die Bundesregierung schweigt dazu und erklärt das Ganze zur „nationalen Angelegenheit". Wir haben deshalb in unserem Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert - und schließen uns Staatsminister Helmut Schäfer da gern an -, in Cannes deutliche Worte an Frankreich zu richten. Der Prozeß der Vergemeinschaftung muß ganz gewiß vorangehen, gerade in diesem Bereich. Aber wir müssen die Fortschritte an ihrer Nützlichkeit für eine internationale Friedenspolitik messen. Es muß Integration geben, aber keine Integration um jeden Preis. Die Fortschritte dürfen nicht in Richtung auf eine Supermacht, auf eine Militärmacht Europa abzielen.
Wir können die zivile Rolle Europas nur dann stärken, wenn wir gemeinsam in Europa zu einer Entmilitarisierung der Politik und zum Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen beitragen.
Diese Verstärkung von gemeinschaftlichen Verfahren verfolgen wir auch bei anderen Säulen der Europäischen Union. Gerade in den Bereichen, in denen die intergouvernementale Kooperation im Augenblick jegliche demokratische und richterliche Kontrolle ausschließt, wollen wir Gemeinschaftsverfahren einführen, die das Demokratiedefizit beseitigen. Diese Notwendigkeit ist gerade im Zusammenhang mit der Debatte über Europol deutlich geworden. Aber auch hier gilt: Keine Integration um jeden Preis! Es muß die Möglichkeit eines Vetos gegeben werden, wenn durch unionsweite Regelungen die demokratischen Standards, z. B. beim Datenschutz, ausgehebelt werden.
Ganz sicher ist in vielen Bereichen eine strenge Prüfung des Subsidiaritätsprinzips durchzuführen, damit wir eine weitere Zentralisierung und Entdemokratisierung Europas verhindern. Aber wir dürfen
nicht unter dem Deckmantel der Subsidiarität viele Regelungen gerade im Umweltschutzbereich aushebeln; auf das schlechte Beispiel der Molitor-Gruppe wurde heute bereits hingewiesen.
Wichtig ist eine Ökologisierung des Vertrages, eine Ökologisierung der Politik. Das heißt: Wir müssen uns von dem Vorrang der Handelsfreiheit im Binnenmarkt verabschieden und uns zum Vorrang der Umweltpolitik, des Umweltschutzes bekennen.
Angesichts dieses enormen Reformbedarfes ist die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung schon beängstigend. Wir brauchen diese Reformen, um die Union in vielen Bereichen aus der Sackgasse herauszuführen. Aber wir benötigen diese Reformen auch, um ein anderes zentrales Ziel realisieren zu können: die Erweiterung der Union.
Zentrale Probleme der Staaten Mittel- und Osteuropas liegen gerade im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, und es reicht keineswegs aus, wenn wir diese Staaten lediglich „beitrittsfähig" machen. Wir müssen auch die Union „erweiterungsfähig" machen. Das heißt: Wenn wir von den Staaten, die beitreten wollen, Reformbereitschaft fordern, dann muß dieser Forderung auch die Reformfähigkeit der Europäischen Union entsprechen.
Was folgt daraus für Cannes und für die Regierungskonferenz? Wir brauchen eine wesentliche Erweiterung der Tagesordnung. Wer es mit der Integration Europas ernst meint, muß den ökologischen und sozialen Umbau in Angriff nehmen, damit die Wirtschaftsunion endlich durch eine Umweltunion und eine Sozialunion ergänzt wird. Wer es mit der Erweiterung ernst meint, muß sie auch ermöglichen, indem er die Reformen vorantreibt. Wer es mit dem Umbau ehrlich meint, der muß auch Mittel und Wege finden, damit auf dieser Regierungskonferenz Auf gaben und Zielvorstellungen von zukünftigen Reformkonferenzen festgelegt werden, um so einen notwendigen, auf Dauer angelegten Reformprozeß und Integrationsprozeß in Zukunft verstetigen zu können.
Deutschland kommt in diesem Prozeß eine besondere Verantwortung zu. Aber dieser Verantwortung wird die Regierung nur gerecht, wenn sie, statt einen Dominanzanspruch zu erheben, eine Initiativrolle übernimmt. Dies erfordert eine breite, öffentliche Debatte, an der sich natürlich auch die deutsche Regierung beteiligt und sich nicht in diplomatischer Zurückhaltung übt. Nur ein demokratisches, ein soziales, ein ökologisches und ein ziviles Europa wird auf Dauer seine Glaubwürdigkeit und damit auch seine Akzeptanz in der Bevölkerung immer wieder neu erwerben können.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Haussmann.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jungen Europäer haben einen Hauptwunsch an alles, was mit Europa zu tun hat. Sie wollen in Frieden einen sinnvollen Arbeitsplatz und damit Sicherheit für ihre Lebensplanung. Insofern müssen wir in unserer europäischen Politik der Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa im Weltmaßstab alles andere unterordnen.
Meine Damen und Herren, aus Europa muß eine Vollbeschäftigungsunion werden. Der größte Skandal in Europa ist doch, daß jeder dritte junge Spanier und jeder vierte junge Franzose ohne Arbeit ist. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Welchen Beitrag kann Maastricht II leisten, um im weltweiten Wettbewerb um Arbeitsplätze für Europa mehr herauszuholen?
Es ist schon bezeichnend, daß in dem siebenseitigen Antrag der Grünen die Themen Beschäftigung oder Arbeit überhaupt keine Rolle spielen.
Auch in dem umfänglichen Antrag der Sozialdemokraten fehlt das Thema internationale Wettbewerbsfähigkeit völlig.
Natürlich sind wir Liberale keine Ignoranten. Wer will nicht ein friedlicheres, ein sozialeres, ein umweltfreundlicheres, ein sichereres Europa? Nur, umgekehrt gilt auch: Ohne mehr Arbeit für die Europäer wird Europa nicht friedlicher, nicht demokratischer, nicht ökologischer und damit auch nicht sicherer, meine Damen und Herren.
Wer dies nicht begreift und wer heute nicht über weltweite Wettbewerbsfähigkeit diskutiert, versäumt die Aufgabe, die wir für die jungen Europäer zu leisten haben.
Gefährlich ist die kleinräumige, binnenorientierte Denkweise der Grünen, aber auch der Sozialdemokraten. Sie haben keine Ahnung, was auf den Weltmärkten abgeht und in welchem harten Umfeld Europa sich in Zukunft mehr Beschäftigung verschaffen muß. Ihre Leistungsbereitschaft steht schon längst nicht mehr in einem ausgewogenen Verhältnis zu Ihren Ansprüchen. Wer sich für eine 30-Stunden-Woche einsetzt, wer gegen die Abschaffung der Gewerbesteuer ist, wer eine falsche Lohn- und Tarifpolitik unterstützt, wer sich dagegen wehrt, daß am Samstag gearbeitet werden muß, setzt sich indirekt für mehr Arbeitslosigkeit in Europa ein, meine Damen und Herren.
Mich packt die blanke Wut, wenn ich sehe, mit welcher Arroganz Grüne und Sozialdemokraten den von Arbeitern und Mittelständlern hart erarbeiteten Wohlstand täglich mehrfach umverteilen - ohne Rücksicht auf Verluste, auf die internationale Arbeitsfähigkeit.
Meine Damen und Herren, die Wirtschafts- und Währungsunion ist ja kein Selbstzweck der Regierung Kohl/Kinkel, sondern sie ist eines der entscheidenden Instrumente, um im kontinentalen Wettbewerb mit Dollar und Yen überhaupt mithalten zu können.
So ist es auch mehr als fragwürdig, daß in einem Antrag von Sozialdemokraten zum Bruch des Vertrages von Maastricht aufgefordert wird. Frau Wieczorek-Zeul hat soeben verkündet, daß Großbritannien der Wirtschafts- und Währungsunion nicht beitreten darf, wenn es nicht vorher die Sozialunion unterzeichnet. Meine Damen und Herren, in Maastricht ist eben völkerrechtlich verbindlich vereinbart worden, daß Großbritannien - entgegen dem deutschen Anliegen - sich eine Option freigehalten hat. Aber es wäre keine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, wenn wir auf Dauer auf Großbritannien verzichten würden.
Wer für eine generelle Energiepreiserhöhung in Deutschland ohne persönliche Steuerentlastung eintritt, verschärft international den Kampf um Arbeitsplätze. Insofern geht es in Europa und bei Maastricht II um mehr Arbeitsplätze. Das geht eben nicht nur mit deutschem „Romantismus", mit spießigem Denken, mit Autarkiedenken, sondern nur mit einem globalen Ansatz. Wir müssen heraus aus einer binnenorientierten Nabelschau. Wir brauchen mehr gesamteuropäisches Denken. Europa wird im Weltmaßstab mit den Kontinenten Asien und Amerika nur mithalten können, wenn wir uns auch für Gesamteuropa einsetzen.
Die Westeuropäer allein sind zu teuer und vom Markt her zu klein, um mit den großen Wirtschaftsräumen in Asien und in Amerika mithalten zu können. Insofern ist die Osterweiterung, wie sie von Herrn Kinkel hier vorgeschlagen wurde, keine Nettigkeit der reichen Westeuropäer, sondern sie ist im deutschen Interesse. Es ist verdammte Pflicht der Westeuropäer, den Osteuropäern zu helfen, möglichst schnell in die Europäische Union zu kommen, meine Damen und Herren.
Dr. Helmut Haussmann
Bei Maastricht I haben die Grünen - ich will das hier einmal sagen - überhaupt keine Rolle gespielt. Sie waren damals als BÜNDNIS 90 in schlechter Gesellschaft mit extremistischen Parteien in Gesamteuropa. Alle demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag haben damals Maastricht I unterstützt.
Insofern fehlt Ihnen heute auch die Legitimität, über Maastricht II überhaupt zu diskutieren.
Der größte Fortschritt in Europa ist der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion. Nur sie bringt Arbeitsplätze, und sie erzwingt auch mehr Fortschritte in der europäischen Integration; denn jedem Fachmann ist klar: Eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Fortschritte in der Politischen Union wäre nicht sinnvoll.
Sie muß zur neuen Leitwährung werden, meine Damen und Herren. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich noch offensiver für diese europäische Währung einzusetzen.
Der Verfall des Dollars, meine Damen und Herren, das Nichtinteresse der Amerikaner, aus handelspolitischer Sicht den Dollar zu verteidigen, gibt uns Europäern doch endlich die Chance, mit einer europäischen Währung eine neue Leitwährung weltweit zu schaffen. Das ist nicht nur im Interesse der Europäer, sondern im ureigenen Interesse aller anderen Länder, insbesondere von Rohstoff- und Entwicklungsländern, die unter dieser Dollarschwäche sehr leiden.
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Schaffung einer europäischen Währung kann man derzeit nicht mehr sagen, die Deutschen seien die Stabilitätsweltmeister. Luxemburg, Irland, Dänemark, Frankreich haben seit Monaten niedrigere Inflationsraten. Wir müssen der deutschen Bevölkerung die Angst davor nehmen, daß eine Europawährung automatisch schwächer wäre als die D-Mark.
Faktisch ist die D-Mark längst eine Ankerwährung in Europa. Wir Deutsche übernehmen uns auf Dauer, wenn wir die D-Mark nicht in eine europäische Währung überführen.
Höhere Zinsen, höhere Arbeitslosigkeit - alles, was in anderen europäischen Ländern passiert - werden dann letztlich bei der Deutschen Bundesbank in Frankfurt abgegeben. Insofern ist es im ureigenen deutschen Interesse, daß wir den Weg zu einer europäischen Währung konsequent fortsetzen, und zwar nicht in einer Relativierung des Zeitpunktes: Konvergenzkriterien und Zeitpunkt 1999 sind wichtig. Es ist eine wichtige Botschaft für die junge Generation in
Europa, für den Mittelstand, aber auch für Amerikaner und Japaner, daß sich die Europäer endgültig auf dem Weg zu einer Wirtschafts- und Währungsunion befinden.
Insofern ist unser Wunsch an Maastricht II, daß im politischen Bereich alles getan wird, damit die Wirtschafts- und Währungsunion 1999 in Europa vollendet wird. Nichts ist friedensstiftender, als wenn über 250 Millionen Menschen im Zentrum Europas in einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion friedlich zusammenarbeiten, mittelständische Kooperationen schließen, Austausch der jungen Generation vornehmen und damit langfristig wirtschafts- und handelspolitisch so verbunden werden, daß daraus nie mehr Konflikte entstehen.
Es ist doch ein europäisches Wunder, daß bei 25 % Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich nicht der Ruf ertönt: „Achetez français", sondern daß nach wie vor in Frankreich deutsche Maschinen und deutsche Autos selbstverständlich gekauft werden. Dies ist praktischer europäischer Fortschritt. Insofern hat die Wirtschafts- und Währungsunion eine enorm friedensstiftende Wirkung hier in Zentraleuropa.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willibald Jacob.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch jetzt kommt wieder eine pazifistische, eine, wie ich hoffe, zivile Rede. Ich finde nichts Schlimmes daran, wenn pazifistische Elemente in politische Überlegungen einfließen. Das wäre in Deutschland oftmals sehr heilsam gewesen.
Wir debattieren heute über Europapolitik in dieser Wahlperiode des Deutschen Bundestages zu später Stunde.
- Zu „später Stunde" heißt erst jetzt. - Ich erinnere daran, daß die Partei des Demokratischen Sozialismus als einzige der Parteien in diesem Parlament den Vertrag von Maastricht abgelehnt hat. Sie konnte und kann den Fehlorientierungen des Maastrichter Vertrages nicht zustimmen.
Die Zeit hat gelehrt, daß unsere Kritik und Skepsis berechtigt waren. Die Bundesregierung ist den Handlungsanweisungen des Vertrages gefolgt. Dies hat - überall sichtbar - Wirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen; ihre Folgen für das zukünftige Leben der Menschen sind nicht absehbar. Wo das Zusammenkommen von Menschen, also Integration, erwartet wurde, geschieht das Gegenteil. Für die zunehmende soziale Polarisierung sprechen die Massenarbeitslosigkeit von mehr als 16 Millionen Men-
Dr. Willibald Jacob
schen, und zwar registriert, im Raume der EU, eine steigende Sockelarbeitslosigkeit in allen Ländern der EU und wachsende Verarmung auch in den reichen Ländern wie Deutschland.
In der Asylgesetzgebung findet gegenwärtig eine Harmonisierung auf unterstem Niveau statt. Asylpolitik verkommt europaweit zur Abwehrpolitik gegen Flüchtlinge und Einwanderer. Wir fordern deshalb einen grundlegenden Wandel in der Europapolitik der Bundesregierung. Die Revisionskonferenz 1996 zum Vertrag von Maastricht ist eine gute Gelegenheit, diesen Wandel einzuleiten.
Die PDS hat einen Antrag eingebracht, in dem der bisherigen Fehlorientierung ein anderes Verständnis von europäischer Integration entgegengesetzt wird. Vier Forderungen greife ich hier heraus:
Erstens. Wir fordern zuallererst eine Sozialunion in einem reichen Kontinent. Der Auftrag des Sozialstaates muß im Vertragswerk verankert sein und in den europäischen Strukturen praktiziert werden. Der EU- Vertrag braucht ein Abkommen über eine gemeinsame Sozialpolitik mit einer Klausel zur Sicherung des erreichten Niveaus der nationalen Sozialstandards. Das Recht auf freie gewerkschaftliche Organisierung, uneingeschränktes Streikrecht und Aussperrungsverbot müssen garantiert sein. Soziale Grundsicherung muß unabhängig von der Dauer der Erwerbstätigkeit gewährleistet werden. Die Gleichstellung der Frauen muß vertraglich festgeschrieben werden. Den Menschen wird mehr und mehr klar: Die bewußte Deregulierung der Märkte führt in der Konsequenz zur Desolidarisierung. Deshalb ist die Verankerung und Realisierung der lange diskutierten Sozialcharta unumgänglich.
Zweitens. Wir fordern ein grundlegend neues Verhältnis zu den Ländern der Dritten Welt. Viele Menschen unter uns erleben selbst in einer nie gedachten Weise die Parallele zu dem, was mit den Menschen im Süden geschieht. So verläßt die junge Generation die ländlichen Gebiete Mecklenburg-Vorpommerns, um der Arbeitslosigkeit und der sozialen Misere zu entgehen. Wir verstehen heute besser denn je, daß Fluchtbewegungen hervorgerufen werden durch eine chaotische und willkürliche ökonomische Entwicklung. Eine Europäische Flüchtlingskonvention ist nötig, die den tatsächlichen Fluchtursachen Rechnung trägt. Zur Bekämpfung dieser Ursachen gehören der Schuldenerlaß für die ärmsten Länder, die Weiterführung und Erweiterung des Lomé-Abkommens, die Erhöhung des Etats für Entwicklungshilfe und die konsequente Förderung von regionalen Handels- und Wirtschaftskreisläufen in den Dritte-WeltLändern.
Drittens. Wir fordern neben der sozialen Sicherheit die Demokratisierung aller Lebensbereiche als die beste Garantie für Frieden nach innen und außen. Das heißt für die EU: radikale Demokratisierung ihrer Institutionen, insbesondere volle Mitentscheidungs- und Initiativrechte für das Europäische Parlament. Transparenz und Öffentlichkeit, Sachkompetenz und Bürgernähe, direkte Mitsprache und Mitentscheidung durch die Bürgerinnen und Bürger sollen die europäischen Institutionen und Strukturen mit Leben erfüllen; dazu gehören auch Volksentscheide, die Einbeziehung von regionalen Vertretungen, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und anderen Interessenvertretungen.
Die PDS sieht, daß ein Katalog der Grundrechte - einklagbar für die Bürgerinnen und Bürger der EU - nötig ist. Die PDS wird ihn vorlegen. Menschen sollen sich auf das verlassen können, was die EU ihnen ermöglichen will. Erst dann lohnt es sich für andere Staaten in Süd und Ost, ihr beizutreten.
Viertens. Wir fordern eine europäische Außen-
und Sicherheitspolitik, die in der Zivilgesellschaft ihre Wurzeln hat. Sie muß auf die friedliche Beilegung von Konflikten und die Bekämpfung ihrer Ursachen gerichtet sein. Wirkliche Sicherheit darf nicht militärisch definiert sein.
Wenn die nationalen Regierungen es mit der „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik„ ernst meinen, können sie militärische, das Leben schlechthin bedrohende Aktionen wie die von der französischen Regierung geplanten Atomtests nicht als nationale Angelegenheit Frankreichs abtun. 18 000 km von Europa entfernt, auf den Mururoa-Inseln im Pazifik, sollen diese Versuche stattfinden. Die PDS fordert die Bundesregierung auf, gegen die Absichten Frankreichs auf der Konferenz in Cannes Stellung zu nehmen und in der EU die Initiative zu ergreifen, um Frankreich von der Wiederaufnahme der Versuche abzubringen.
Wir unterstützen damit ausdrücklich den Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Auch heute sagen die Demokratischen Sozialisten ja zur gesamteuropäischen Integration, nein zum Weg von Maastricht. Wir können nicht erkennen, daß die heute wirksame Art der Integration Europas der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung dient. Deshalb unser Widerstand, deshalb unsere Forderung nach Neuorientierung der Europapolitik.
Das Wort hat nun für die Bundesregierung der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch diese Debatte heute belegt: Zur europäischen Integration gibt es keine vernünftige Alternative. Dies kann weitgehend parteiübergreifend festgestellt werden.
Die Europäische Union gehört zu den großen politischen Leistungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie sichert Frieden, Freiheit, Stabilität und Wohlstand.
Im Mai haben wir der 50. Wiederkehr des Kriegsendes in Deutschland gedacht. Deutschland lag vor 50 Jahren in Trümmern, war verfemt und aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen. Bis heute haben wir einen weiten Weg zurückgelegt, ökonomisch und politisch. Niemand hätte sich 1945 träumen las-
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
sen, daß Deutschland bald wieder in den Kreis der Völkerfamilie zurückkehrt, als vollwertiges Mitglied geachtet und respektiert, stärkste Wirtschaftsmacht Europas, drittstärkste der Welt.
Dieser Erfolg ist uns nicht in den Schoß gefallen; wir haben dafür in Deutschland hart gearbeitet. Aber ebenso wichtig war die Unterstützung durch unsere europäischen Freunde und die Vereinigten Staaten. Das werden wir in Deutschland nicht vergessen.
Wir haben schließlich nach 40 Jahren der Teilung unsere staatliche Einheit wiedergewonnen. Ohne unsere Einbindung in die Europäische Gemeinschaft wäre das nicht so problemlos gelungen.
Heute sitzen wir gleichberechtigt im Kreis der G 7, der sieben größten Industrienationen der Welt, und wir haben dort ein gewichtiges Wort mitzureden. Erstmals in diesem Jahrhundert gehören wir zu den Gewinnern der Geschichte.
Wir werden die Lektion dieses Jahrhunderts nicht vergessen. Niemals darf es wieder zu einer Spaltung Europas kommen, zu aggressivem Nationalismus und Krieg.
Deutschland muß seine gewachsene Verantwortung für die Gemeinschaft voll wahrnehmen. Nur gemeinsam können wir Europäer in der Welt bestehen, ökonomisch und politisch. Europa ist unsere wichtigste außenpolitische Aufgabe und Verpflichtung.
Seit der Konferenz von Messina Anfang Juni 1955 haben wir eine weite Strecke auf dem Weg zu einer immer engeren europäischen Integration zurückgelegt. Wir haben mehr erreicht, als seinerzeit in Messina erwartet werden durfte. Dennoch, das Haus Europa ist nicht vollendet. Wir müssen weiter über sein Fundament und die Baupläne, seine Größe, seine Statik und auch über die Kosten des Baus beraten.
Mit der Regierungskonferenz 1996 werden wir den nächsten Bauabschnitt anpacken. 1996 sind echte Integrationsfortschritte bei der politischen Union notwendig. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist nicht Thema der Regierungskonferenz. Sie muß nicht nachgebessert werden. Das Paket der Wirtschafts- und Währungsunion darf nicht wieder aufgeschnürt werden. Die Wirtschafts- und Währungsunion muß aber durch Fortschritte in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und in der Innen- und Justizpolitik flankiert werden.
Eine gewisse Parallelität ist notwendig. Die Union darf sich nicht als bloße Wirtschaftsgemeinschaft begreifen. Wir können den Bürgern nicht sagen, daß eine einheitliche europäische Währung notwendig ist, aber eine einheitliche europäische Verbrechensverfolgung nicht stattfinden könnte.
Der Außenminister hat deutlich gemacht: Der bislang erreichte Integrationsgrad bei der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik reicht nicht aus. Die Mitgliedstaaten für sich allein sind den außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen in einer Zeit des tiefgreifenden Umbruchs, in der alte Gewißheiten keine Geltung mehr haben und neue Ordnungen sich bestenfalls in Umrissen andeuten, nicht mehr gewachsen. Der Krieg vor unserer Haustür, im ehemaligen Jugoslawien, mahnt uns täglich.
Ich weiß, manchem unserer Partner in der Europäischen Union fällt es ungeheuer schwer, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik eine stärkere Einbindung seiner Souveränitätsrechte hinzunehmen. Doch ohne solche Bereitschaft droht letztlich allen außen- und sicherheitspolitische Handlungsunfähigkeit.
Das gleiche gilt im übrigen für die Innen- und Justizpolitik. Nur gemeinsam sind wir stark, sind wir handlungs- und entscheidungsfähig. Kein Nationalstaat kann allein die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten, weder nach innen noch nach außen. Das Europa der offenen Grenzen muß auch ein sicheres Europa sein. Weltweit agierenden Verbrechersyndikaten muß mit entschlossenem europäischem Handeln begegnet werden.
Angesichts weltweiter Flüchtlingsbewegungen kann kein Mitgliedstaat die noch wachsenden Probleme der Zuwanderung erfolgreich in den Griff bekommen. In diesem Punkt muß die Union an Kompetenz gewinnen; dann gewinnt sie auch an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei den Bürgern.
Die EU muß für die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten fit gemacht werden. Auch bei einer größeren Zahl von Mitgliedern müssen die Organe der EU handlungsfähig bleiben. Reformen der Strukturen und Verfahren sind unausweichlich.
Ich sage ganz klar: Die Regierungskonferenz 1996 steuert keinen Bundesstaat Europa an. Die nationale und kulturelle Identität der Mitgliedstaaten muß voll gewahrt bleiben. Wir wollen ein Europa der Vielfalt, nicht der Nivellierung. Wir wollen ein bürgernahes Europa. Dazu gehört vor allem auch: Die Europäische Union muß sich auf ihre eigentlichen Aufgaben besinnen. Sie darf nur dort tätig sein, wo die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind, Aufgaben ausreichend wahrzunehmen.
Selbst wenn finanzpolitische Themen nicht im Mittelpunkt der Regierungskonferenz stehen, spielen sie auch hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Alle Integrationsfortschritte müssen auf ihre finanziellen Auswirkungen hin überprüft werden. Noch so schöne Ziele und noch so wünschenswerte Programme nützen nichts, wenn wir sie nicht finanzieren können. Ich würde es sehr begrüßen, wenn in den EU-Vertrag ein allgemeiner Artikel mit dem Gebot zu strikter Haushaltsdisziplin und gerechter finanzieller Lastenverteilung aufgenommen würde.
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Die finanzielle Lastenteilung innerhalb der EU ist heute unbefriedigend. Das Problem ist erkannt. Wir können es nicht über Nacht lösen. Deutschland ist vertragstreu und daher an die mittelfristige finanzielle Vorausschau und den geltenden Eigenmittelbeschluß bis 1999 gebunden.
Mit der Diskussion über die Neugestaltung der Finanzbeziehungen in der EU müssen wir bereits jetzt beginnen. Alle Ausgabenprogramme müssen auf den Prüfstand. Das gilt auch für den Kohäsionsfonds. Das gilt auch für Sonderrabatte. Gegen Subventionsbetrug bei Ausgabenprogrammen müssen wir mit unseren Partnern energisch vorgehen.
Deutschland wird auch darauf achten, angemessen an den Rückflüssen beteiligt zu sein.
Es kann nicht angehen, daß wir an allen Ausgaben zu 28 bis 30 % beteiligt sind, wir bei einem Großteil der Programme aber nur 10 bis 14 % der Rückflüsse verzeichnen können.
Die Wirtschafts- und Währungsunion ist die europäische Antwort auf die wachsende weltwirtschaftliche Verflechtung und die zunehmende Globalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen. Sie ist der Schlußstein des europäischen Binnenmarkts. Der Europäische Rat in Cannes wird nächste Woche über noch notwendige Schritte und den Fahrplan zur Währungsunion beraten.
Zur Vorbereitung der dritten Stufe der WWU hat die EU-Kommission ein Grünbuch vorgelegt. Darüber haben wir auch auf dem Rat der Finanz- und Wirtschaftsminister an diesem Montag gesprochen. Positiv ist - das Grünbuch läßt keinen Zweifel -: Kernstück des Maastricht-Vertrages und unverzichtbare Voraussetzung für eine starke und stabile einheitliche Währung ist und bleibt die Konvergenz.
Zu Recht wird im Grünbuch auch die Namensfrage der neuen Währung als offen bezeichnet. Die Namensfrage ist für uns ein wichtiger Punkt. Der technische Begriff ECU ist unseren Bürgern nicht zu vermitteln. Wir sollten uns auf einen soliden Namen verständigen, der auch die Akzeptanz der Bürger erfährt.
Über den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion muß in Cannes offen und ohne vorzeitige Festlegungen gesprochen werden. Die Staats- und Regierungschefs sollten den Ecofin-Rat beauftragen, in Abstimmung mit der Kommission und dem Europäischen Währungsinstitut für die Sitzung im Dezember in Madrid einen Bericht vorzulegen.
- Das ist eine interessante Idee.
Herr Irmer, Sie werden damit in die Annalen eingehen. Das bestärkt mich wieder in meiner Meinung, diese Koalition, in der sich CSU, F.D.P. und CDU zusammengetan haben, soll lang über diese Legislaturperiode hinaus bestehenbleiben.
- Ich werde auch dafür sorgen, daß das im „Bayernkurier" registriert wird.
- Heute habe ich einen guten Tag. Ein Kollege aus der F.D.P. schlägt als Namen für die europäische Währung „Waigel" vor, und Joseph „Joschka" Fischer nimmt mich in ein Bittgebet auf. Was kann man am Abend Schöneres registrieren?
Aber, meine Damen und Herren, zurück zum Ernst. Welcher Termin kommt für den Eintritt in die Endstufe in Frage? Die Frage des Zeitplans und die Voraussetzungen für den Eintritt sind klar im Vertrag geregelt. Dieser Zeitplan hat für uns Gültigkeit. Vorrang vor allen Zeitplänen hat aber die Einhaltung der Stabilitätskriterien.
Es ist kein Geheimnis: Heute erfüllen lediglich Deutschland und Luxemburg, der kleinste und der größte Mitgliedstaat der Europäischen Union, sämtliche Stabilitätskriterien für die Endstufe.
Bei einer realistischen Einschätzung der Lage - ich meine, dazu müssen wir uns bekennen, alle Länder und auch die Kommission - ist nicht zu erwarten, daß bis Ende des Jahres 1996, also in 18 Monaten, eine Mehrheit der Mitgliedstaaten den Stabilitätskriterien genügen wird. Das offen auszusprechen schadet nicht der Währungsunion; es nützt der Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion als echter Stabilitätsgemeinschaft und ist vernünftig für die Finanzmärkte.
Diesen Sachverhalt aber beim Namen zu nennen bedeutet nicht, die Mitgliedstaaten aus ihrer Verpflichtung zu einer strikten Stabilitätspolitik zu entlassen; im Gegenteil. Ich habe dankbar registriert, daß beim letzten Ecofin-Rat am vergangenen Montag alle Länder, vor allen Dingen auch solche Länder, die sich sehr schwertun werden, in den nächsten Jahren die Kriterien zu erreichen, auf der strikten Beibehaltung der Kriterien bestanden haben, damit auch von Europa her Druck auf ihre Stabilitäts- und Konsolidierungsbemühungen entsteht. Das muß beibehalten werden. Das ist vielleicht einer der wichtig-
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
) sten Erfolge, die wir mit Maastricht für alle Mitgliedstaaten und für ganz Europa erreicht haben.
Der Kollege Haussmann hat völlig zu Recht vorher darauf verwiesen, wie sehr sich die Stabilitätskultur in Europa verändert hat. Der Inflationsdurchschnitt lag Anfang der 80er Jahre bei 13 %; er liegt jetzt bei 3 %. Daß sich alle Länder, die Stabilitätsländer und die Länder, die es werden wollen, auf einen neuen Weg begeben haben und daß jeder, der davon abgeht, weiß, daß er in die Zweit-, Dritt- und Viertklassigkeit zurückfällt, das ist ein Instrument, das uns früher für die Stabilität in Europa nicht zur Verfügung stand. Das zeigt die ganze Qualitätsänderung des Denkens in den ökonomischen Strukturen in Europa.
Der Ecofin-Rat am Montag brachte für Deutschland die offizielle Bestätigung einer schon lange bekannten Tatsache: Deutschland hat kein exzessives Defizit. Das ist ein großer Erfolg für unsere Konsolidierungspolitik. Wir unterschreiten die Grenzwerte bei den Verschuldungskriterien des Maastricht-Vertrages klar und eindeutig. Obwohl wir das bereits im Frühjahr 1994 auf Grund der anspringenden Konjunktur und der günstigeren Haushaltsdaten erwartet haben, waren die offiziellen Prognosen damals noch anders. Um allen zu zeigen, wie ernst wir die WWU-Kriterien nehmen, haben wir damals auf jede Ausnahme für Deutschland verzichtet.
Die nunmehr erfolgte offizielle Entlassung aus dem Defizitverfahren bestätigt einmal mehr unseren richtigen finanzpolitischen Kurs. Deutschland ist im Ecofin-Rat für seine erfolgreiche Konsolidierungspolitik außerordentlich gelobt worden. Der Vorsitzende des Währungsausschusses Sir Nigel Wicks erklärte wörtlich: „Die Konsolidierungspolitik in Deutschland ist vorbildlich. Sie kann anderen Mitgliedstaaten nur zur Nachahmung empfohlen werden." Meine Damen und Herren, wir dürfen das dankbar und mit einiger Freude zur Kenntnis nehmen.
An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend kann kein Land mehr allein die großen ökonomischen und politischen Herausforderungen der Zukunft bestehen. In den letzten Tagen haben wir erlebt, wie die Gemeinsamkeit von Bürgern und Politikern in vielen Ländern einen großen Erfolg gegen ein rücksichtsloses Nutzen der Meere als Müllkippe erzielt hat.
Umweltschutz ist eine globale Herausforderung, die vor Grenzen und Zuständigkeiten nicht haltmacht. Die Bewahrung der Schöpfung ist nicht nur eine nationale Aufgabe, sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe, sie ist ein Handlungsauftrag für die Europäische Union.
Durch gemeinsames erfolgreiches Handeln wird Europa für den Bürger greifbar und gewinnt an Profil. Europa kann nur mit Menschen gebaut werden,
' die Europa akzeptieren und sich dafür engagieren. Auch in der Europapolitik brauchen wir die Zustimmung der Bürger. Dafür sollten wir gemeinsam arbeiten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wieczorek.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Waigel, es ist richtig, daß wir die Währungsunion parteiübergreifend gemacht haben. Ich hoffe, daß es auch dabei bleibt. Es ist jedoch nicht richtig, wenn man meint, für die Währungsunion sei schon alles getan. Ich werde gleich darauf zurückkommen.
Ich möchte zunächst ein Lob aussprechen. Ich fand, daß der Ecofin-Rat tatsächlich realistisch war - das muß gelobt werden -; denn er hat klar gesagt: Es ist nicht damit zu rechnen, daß eine Mehrheit der Länder im nächsten Jahr die Kriterien des Maastricht-Vertrages erfüllen wird; also ist es sinnvoll, sich von vornherein auf das Datum 1. Januar 1999 hin zu orientieren.
Aber das bedeutet zugleich, daß damit die Hoffnung darauf, daß viele Länder daran teilnehmen können, einen Knacks erhalten hat. Das birgt die Gefahr, daß die Währungsunion zu einem Klub wird. Das birgt ebenso die Gefahr, daß am Ende eine dann politisch zwar vertragsgemäße, aber unsinnige Mini-
EWU herauskäme. Diese wäre mit Sicherheit nicht sinnvoll; denn eine Währungsunion, in der wichtige Partnerländer der Bundesrepublik nicht vertreten sind, ergibt keinen Sinn. Ich sage das insbesondere im Hinblick auf die Haushaltsentwicklungen in Frankreich.
Herr Kinkel, so wie man den französischen Partnern etwas zur Haushaltsentwicklung sagen muß, so wäre es ebenso sinnvoll - das möchte ich einmal tun -, etwas zum Atomtest zu sagen, auch wenn das nicht mein Thema ist. Es ist wichtig, daß man den Freunden etwas sagt, wenn sie aus dem Ruder laufen.
Es ist aber auch richtig, daß der Ecofin-Rat etwas zum Grünbuch gesagt hat. Die Kommission ist dafür zu loben, daß sie Druck macht. Das ist auch ihr gutes Recht. Ich bin jedoch froh, daß das Szenario so nicht weiter zur Verfolgung kommt. Ich glaube, es ist besser, das EWI abzuwarten. Ich bestehe aber darauf - das halte ich für sehr wichtig -, daß die Entscheidung nicht auf die lange Bank geschoben wird. Die Entscheidung muß bis zum Ende des Jahres vorliegen; denn es darf nicht der Eindruck entstehen, als sei die Währungsunion durch die Entscheidung des EcofinRates auf die lange Bank geschoben worden oder es sei gar ein Ausstieg geplant. Es gab Kommentare dieser Art zu lesen.
Dr. Norbert Wieczorek
Es ist gerade im Interesse der Bundesrepublik, daß die Währungsunion verwirklicht wird, und zwar weil die Bundesrepublik die Kriterien, wenn auch mit Ach und Krach - ich habe hier den OECD-Zahlenspiegel aus dem „Handelsblatt" vor mir liegen - erfüllt. Ich will darüber jetzt gar nicht rechten. Aber gerade weil wir sie als einziges großes Land erfüllen, ist es unsere Aufgabe, die Entwicklung voranzutreiben.
Die Währungsunion liegt in unserem politischen Interesse, aber auch in unserem ökonomischen Interesse. Ich möchte am politischen Interesse festhalten. Die Währungsunion bietet einen ganz besonderen, neuen Grad der Integration. Wenn die Europäische Union - ich gebrauche normalerweise solche Ausdrücke nicht; aber ich tue es hier einmal, auch wenn es etwas hochtrabend ist - ein Hort des Friedens und der Stabilität in Europa
und auch für die Länder in Mittel- und Osteuropa und für die mediterranen Lander ein Bezugspunkt für ihre zukünftige Entwicklung bleiben will, dann ist die Währungsunion ebenso notwendig, wie sie es ist, damit wir im Wettbewerb mit den anderen Welthandelsregionen bestehen können.
Die Währungsunion ist aber auch in unserem ökonomischen Interesse; denn es gilt den Binnenmarkt zu stärken. Nur durch eine größere Zone währungspolitischer Stabilität können die realen Wirtschaftsverflechtungen und Handelsbeziehungen zu unseren Partnerländern, aber auch zur Dollar- und Yen-Zone besser entwickelt werden. Wechselkursverzerrungen, wie wir sie ja im Moment sehr deutlich in der EU erleben, müssen soweit wie möglich zurückgedrängt werden; sie schaden der realen Wirtschaft.
Deswegen ist es so wichtig, daß die Bundesrepublik auf die Einhaltung des Zeitplans drängt, und deswegen ist es wichtig, daß Szenarien vorliegen, damit die Wirtschaft sich darauf einrichten kann, damit aber auch die Bürgerinnen und Bürger begreifen, daß sie am Ende dieses Prozesses die D-Mark in eine andere Währung umgetauscht bekommen, wie immer diese neue Währung heißen mag. „Waigel" finde ich da keinen so tollen Vorschlag; er ist international auch sehr schwierig zu gebrauchen.
- Das war nie ein Vorschlag, Herr Irmer.
Wichtig ist auch, daß die Bürgerinnen und Bürger begreifen, nach welchem Zeitplan es geht, und daß sie begreifen, daß die Währungsunion bereits nach der Festlegung der Wechselkurse und nicht erst mit dem Umtausch der Banknoten beginnt. Da weckt man eine Illusion. Die Bürgerinnen und Bürger müssen begreifen, daß alles sehr schnell geht, nämlich in den Jahren 1997 und 1998. Deswegen ist es auch
wichtig, daß der Bewertungsprozeß 1996 nicht durch den Entscheid des Ecofin-Rates unter den Tisch fällt. Er muß durchgeführt werden, wie im Vertrag vorgesehen, damit jedem klar wird, wie die Kriterien angewandt werden und ob sie tatsächlich in aller Härte angewandt werden. Dann kann man auch feststellen, welche Länder eine Chance haben, dabeizusein, und welche nicht. 1997 muß auf der Basis der Zahlen des ersten Halbjahrs 1997 entschieden werden; das ist nicht mehr sehr lange hin, das sind von heute an zwei Jahre.
Meine Damen und Herren, ich möchte im Gegensatz zu dem, was Herr Waigel gesagt hat, eines sehr klar machen: Wir müssen, um die dauerhafte Konvergenz in der Währungsunion zu sichern, noch Butter bei die Fische tun. Daher ist es jetzt an der Zeit, mit den Partnerländern darüber zu reden, wie es zu einer Vereinbarung über eine festere und bessere Kooperation in der Haushalts- und Fiskalpolitik kommt, als sie heute im Vertrag verankert ist.
Ich wünsche mir, daß das in den Vertrag kommt, teile aber die Ansicht, daß es keinen Sinn hat, die Regierungskonferenz damit zu belasten. Also soll man es außerhalb machen. Aber dann würde ich auch darum bitten, daß die Länder einbezogen werden, die nach dem 96er Ergebnis auch 1999 noch nicht dabeisein können, um ihnen die Chance zu geben, weiterhin am Konvergenzprozeß teilzunehmen und ihn erfolgreich zu bestehen.
Auf einen zweiten Punkt lege ich genauso großen Wert - da bin ich völlig anderer Ansicht als Sie, Herr Kollege Haussmann -: Wir müssen auch Vereinbarungen zur Sozial- und Beschäftigungspolitik mit diesen Partnerländern treffen; denn gerade weil die Währungsunion künftig keinen Ausgleich von unterschiedlichen Produktivitätsentwicklungen über Wechselkursanpassungen zuläßt, werden alle Anpassungen auf dem Arbeitsmarkt, bei der Beschäftigung, bei Löhnen und Gehältern und im Sozialbereich vorgenommen werden. Daher müssen wir auch dafür sorgen, daß eine gemeinsame Politik gemacht wird, die Wohlstand sichert.
Das gilt auch für die Länder, die noch nicht dabei sind, damit sie da weiter mitkommen. Da hilft dann auch ein Molitor-Bericht nicht; mit platter Deregulierung ist das nicht zu machen. Das haben wir doch längst begriffen; gucken Sie sich nur England an!
Weil dies so ist, müssen wir dafür sorgen, daß diese Länder daran teilnehmen können, auch wenn sie zunächst nicht dabei sind; denn eine Währungsunion, die nicht mehr Beschäftigung mit sich bringt, wird auf die Dauer bei der Integration der EU insgesamt nicht unterstützend wirken.
Dr. Norbert Wieczorek
Die Möglichkeit, einen Job zu haben, ist für viele Bürger entscheidend, wenn es darum geht, ob sie europafreundlich sind. Daran müssen wir arbeiten.
Lassen Sie mich zu einem letzten Punkt kommen - das halte ich für sehr wichtig -: Wenn wir zu der Lösung kommen, daß nicht alle Länder gleich dabei sind, sollten wir uns hier und heute, Herr Kollege Waigel, Gedanken machen, wie wir das heutige EWS bereits jetzt reformieren oder ein ähnliches System schaffen können, damit die Länder, die nicht dabei sind, an den europäischen Zug angebunden bleiben, so daß das, was in der Tendenz von Maastricht möglich ist - der Klub, der die Währungsunion macht, und der Rest, der nicht dabei ist - nicht zu Spaltungstendenzen führt. Wir müssen diese Länder vielmehr über ein reformiertes EWS an die Währungsunion heranführen, damit sie bald Vollmitglieder werden können.
Ein letzter Satz: Dazu zählt dann auch, daß die Regierungskonferenz in den anderen Bereichen mehr Verknüpfungen mit sich bringt; denn natürlich ist es richtig: Je mehr wir dort haben, desto weniger wird eine Nichtmitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion Spalttendenzen für die EU insgesamt haben. Daran müssen wir arbeiten.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Gero Pfennig.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! An den Gipfel in Cannes werden ja manch hohe Erwartungen gestellt. Der Europäische Rat soll klare Leitlinien vorlegen, und dem Ideenreichtum und der Meinungsvielfalt scheinen kaum Grenzen gesetzt zu sein. Es gibt völlig überzogene und illusionäre Erwartungen, aber auch Vorschläge, deren Verwirklichung die europäische Landschaft in die Welt des 19. Jahrhunderts zurückversetzen würde.
Was ist eigentlich notwendig und unverzichtbar, um das Vertrauen der Bürger und ihre Zuversicht in die Zukunft der Union zu erhalten? Das Wichtigste ist vielleicht, daß wir offen diskutieren, so wie wir es heute machen. Öffentlichkeit und Bürgerbeteiligung sind wichtige Voraussetzungen für die Akzeptanz.
Was muß die Bundesregierung bei der Formulierung der Ziele für die Folgekonferenz Maastricht tun, und was muß sie bedenken? Formal geht es um die Überprüfung der revisionsbedürftigen Bestimmungen des Unionsvertrages über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres in Übereinstimmung mit den Grundlagen und Zielen der Union; so sagt es Art. N.
Inhaltlich geht es um etwas ganz anderes. Inhaltlich geht es um die Frage, welche Identität die Union am Ende dieses Jahrhunderts haben wird. Diese
Frage ist durchaus streitig. Es geht letztendlich um zwei Fragen: Was macht die Identität der Gemeinschaft aus? Wie ist sie zu erreichen und sicherzustellen?
Die Gemeinschaft hat heute - das wird, noch nicht einmal zwei Jahre nach Inkrafttreten des MaastrichtVertrages, meistens vergessen - schon ein großes Maß an politischer Identität gewonnen und ist längst über die Wirtschaftsgemeinschaft mit freiem Binnenmarkt hinausgewachsen.
Ich erlaube mir, einmal aufzuzählen, was wir an politischer Identität der Europäischen Union haben: die Achtung der nationalen Identität ihrer demokratischen Mitgliedstaaten, die Verpflichtung der Union zu den Werten der Freiheit, des Friedens, der Demokratie, der Menschen- und Bürgerrechte, der Sozialen Marktwirtschaft, der kulturellen Vielfalt, der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, des Schutzes der Unionsbürger und der Offenheit für den Beitritt weiterer demokratischer Staaten, die sich zu den Zielen bekennen. Das ist viel, viel mehr, als man früher erwartet hat.
In bezug auf fünf Ziele ist die Union zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Maastricht-Vertrag zu einem weiteren Vorgehen durch ihre Mitgliedstaaten bereit. Erstens: ausgewogener und dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt mit Wirtschafts- und Währungsunion, die „auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrags umfaßt".
Zweitens: „die Behauptung der Identität auf internationaler Ebene insbesondere durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zur einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte".
Drittens: engere Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Ich erspare mir das Weitere.
Ich habe das deswegen aus dem Vertrag noch einmal zitiert, weil für die CDU/CSU-Fraktion klar ist, daß die politische Identität der Europäischen Union eine Einheit ist, d. h. die gemeinsame Währung, gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie gemeinsame Justiz- und Innenpolitik zusammengehören, so wie es der Vertrag vorsieht. Nichts anderes.
Bei der SPD stelle ich fest, daß sie das Ziel einer gemeinsamen Verteidigungspolitik überhaupt nicht akzeptieren will und daß sie offenbar schon gar nicht die Beteiligung Deutschlands an der Durchführung gemeinsamer Aktionen will. Ich entnehme Ihren Anträgen, Frau Wieczorek-Zeul, daß Sie inbrünstig darauf hoffen, daß die Außen- und Sicherheitspolitik nicht vergemeinschaftet wird, damit Ihre Meinungsverschiedenheiten über die Verteidigungspolitik mit den französischen und sonstigen Sozialisten nicht offenbar werden. Das ist doch der Grund.
Dr. Gero Pfennig
Ich kann der SPD eigentlich nur empfehlen, die dänische Maastricht-Debatte für sich selbst schnellstens nachzuholen. Dann kommen Sie vielleicht zu der Erkenntnis, daß Währung und Verteidigung in der Europäischen Union zusammengehören.
Der Regierung kann ich für das Treffen in Cannes nur empfehlen, den eingeschlagenen Weg zur Erreichung des Ziels fortzusetzen.
Das gilt auch für die Währungsunion. Die Übertragung von Kompetenzen im Bereich der Währungsunion auf die Gemeinschaft berührt das Selbstverständnis der Mitgliedstaaten in ebenso hohem Maße wie in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik oder Justiz- und Innenpolitik. Deshalb müssen die Vertragskriterien voll eingehalten werden.
Herr Kollege Wieczorek, bei aller Sympathie für das, was Sie gesagt haben, in meinen Augen ist es etwas töricht, wenn die SPD einerseits den Bundesfinanzminister wegen dessen Beteiligung an der gemeinsamen Feststellung, daß gegenwärtig die Voraussetzungen für die gemeinsame Währung ab 1997 nicht gegeben sind, tadeln will, andererseits dieselbe SPD, wenn sie in den Zeitungen richtig zitiert ist, aber mit Vorschlägen aufwartet, wie durch Gestattung einer höheren Staatsverschuldungsquote als 3 % im Einzelfall die Kriterien aufgeweicht werden können. Ich habe es nicht verstanden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wieczorek?
Bitte, Herr Kollege.
Herr Kollege Pfennig, können Sie mir erklären, wie Sie zu dem Ergebnis kommen, daß wir der Ansicht seien, die Kriterien sollten aufgeweicht werden, wenn in der Haushaltspolitik vorgeschlagen wird, daß ein Land, das überziehen will, sich vorher die Zustimmung aller anderen Mitgliedsländer dazu einholen muß, während der Vertrag bisher vorsieht, daß es das machen kann, daß es hinterher in einem Bericht eventuell dafür gerügt wird und ganz am Ende vielleicht eine Strafe bekommt? Können Sie mir erklären, inwiefern das eine Aufweichung sein soll?
Herr Kollege Wieczorek, dann sind Sie falsch zitiert worden. Ich habe extra gefragt, ob Sie in den Zeitungen richtig zitiert worden sind. Dann muß ich davon ausgehen, daß Sie keinen törichten Vorschlag machen wollten ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, zu dem Großbritannien erklärt, daß es nach Deutschland und Luxemburg nunmehr als dritter Mitgliedstaat alle Kriterien erfüllen wolle. Ich hatte mich schon etwas gewundert, und deshalb habe ich gefragt, ob Sie richtig zitiert worden sind.
Wir empfehlen der Regierung, auch im Bereich der Institutionen und im Bereich der Innen- und Justizpolitik voranzugehen. Wir empfehlen der Regierung nachdrücklich, über alles das, was hier heute gesagt worden ist, hinaus anzustreben, das Prinzip der
Rechts- und Amtshilfe für Behörden und Gerichte im Unionsvertrag zu verankern, damit sichergestellt werden kann, daß bei der Verbrechensbekämpfung die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten unionsweit die innere Sicherheit garantieren können und handlungsfähig sind.
Lassen Sie mich noch einige Worte zu den Finanzen sagen. Wir alle wissen, daß der Finanzrahmen ab 1999 eine neue Finanzverfassung erfordert, insbesondere auch im Hinblick auf das Hinzukommen neuer Staaten Mittel- und Osteuropas, mit denen Europa-Abkommen bestehen. Ich finde es etwas widersprüchlich, wenn einerseits der Bundesregierung - noch dazu fälschlich - vorgeworfen wird, sie habe 13 Milliarden DM zuviel an die EU-Kasse abgeführt, und andererseits von ihr verlangt wird, sie solle noch mehr Geld, z. B. zur Finanzierung des 8. Entwicklungsfonds, abführen. Eines von beiden geht ja wohl nur. Wir sollten dazu beitragen, daß solche Zerrbilder dem Bürger nicht die Zuversicht in die Europäische Union verderben.
Lassen Sie mich noch ein Letztes zu dem Antrag der SPD bezüglich unserer Haltung zu den französischen Atomversuchen sagen. Wir werden unsere Haltung nachher in der Aktuellen Stunde begründen. Wir haben uns schon kritisch geäußert. Wir haben aber auch die französische Selbstverpflichtung zur Kenntnis genommen, im Herbst 1996 einem allgemeinen umfassenden Teststoppabkommen beizutreten. Wir haben keinen Grund, an dieser französischen Erklärung zu zweifeln. Vor diesem Hintergrund halten wir den SPD-Entschließungsantrag in dieser Form für unangebracht und werden ihn ablehnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Meyer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer nach den Gründen für die bei manchen Menschen anzutreffende Europamüdigkeit fragt, bekommt oft zur Antwort: Europa, das ist doch bloß eine ferne und abgehobene Bürokratie in Brüssel; das ist ein Parlament, das wenig zu entscheiden hat; das ist ein politisches Konstrukt, das bisher kaum die Herzen der Menschen erreicht hat.
Angesichts solcher Feststellungen, so überzeichnet sie auch sein mögen, stimmen wir zunächst einmal wohl in der Forderung überein: Die Revisionskonferenz sollte dazu genutzt werden, die Europäische Union demokratischer, sozialer und ökologischer zu gestalten. Aber, so frage ich, ist das schon allein ein Ziel, für das wir die Bürgerinnen und Bürger begeistern könnten? Ist es gar eine Vision, mit der wir der Union neue Ausstrahlung geben könnten?
Zweifel sind angebracht. Deshalb ist eine zentrale Forderung der SPD, noch einen Schritt weiterzugehen und dem Maastricht-Vertrag eine Charta europäischer Bürgerrechte, in unserer deutschen Termi-
Dr. Jürgen Meyer
nologie: einen europäischen Grundrechtskatalog, voranzustellen.
Aus der Geschichte der Grundrechte wissen wir: Ein politisches Gemeinwesen, das sich ausdrücklich zum Schutz der Grundrechte verpflichtet, gewinnt dadurch eine tiefe Legitimation. Es kann nicht zuletzt deshalb den Bürgerinnen und Bürgern mit hoheitlichem Anspruch gegenübertreten. Nur ein solches Gemeinwesen kann mit Solidarität und Akzeptanz rechnen.
Grundrechte haben auch eine Konsensfunktion. Sie bringen gemeinsame Wertvorstellungen zum Ausdruck. Eine dem Grundrechtsschutz ausdrücklich und sichtbar verpflichtete Europäische Union würde eine Signalwirkung sowohl nach draußen gegenüber anderen Gemeinwesen als auch nach innen für die weitere Integration Europas haben.
Kann dieser Schritt schon allein dadurch getan werden, daß die Europäische Union förmlich der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beitritt, wie es CDU und CSU fordern? Nach unserer Überzeugung ist der Beitritt sinnvoll und notwendig. Aber er ist nur ein kleiner Schritt und reicht bei weitem nicht aus.
Erstens ist der Grundrechtsschutz der Konvention sehr lückenhaft. Sie garantiert z. B. nicht die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die für eine Kulturgemeinschaft nach meiner Überzeugung konstitutive Kunst- und Forschungsfreiheit, das Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung oder gar Grundrechte der sogenannten dritten Generation wie etwa den Daten- und Umweltschutz.
Zweitens ist die Geltung der EMRK ohnehin schon durch die Rechtsprechung der Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg anerkannt.
Drittens kann die Europäische Union durch die Ratifizierung einer Konvention des Europarates kaum eine unverwechselbare und eigenständige Legitimation gewinnen.
Demgegenüber können die von uns geforderte Grundrechtscharta und der dafür vorzusehende öffentliche europäische Diskussionsprozeß die Weiterentwicklung Europas von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu der sehr oft in Sonntagsreden beschworenen politischen Wertegemeinschaft für alle Bürgerinnen und Bürger sichtbar machen und vertiefen.
Welche Grundelemente sollte die von uns geforderte Charta enthalten? Möglicherweise kann die Europäische Union auf wesentliche Vorarbeiten zurückgreifen, die ich aus Zeitgründen hier nicht erläutern kann. Im Maastricht-Vertrag zur Gründung der
Europäischen Union ist zum erstenmal die Achtung der Grundrechte in einem allerdings äußerst knappen Artikel des Vertragstextes selbst und nicht lediglich in einer Präambel enthalten.
Gleichwohl gibt es durchaus berechtigte Kritik an dem bisher Erreichten. Die vertraglich festgeschriebene Verbindlichkeit unterschiedlichster Quellen europäischer Grundrechte ist nämlich nicht ohne weiteres ein Zuwachs an Grundrechtsschutz. Sie ist durch die Vielzahl weit verstreuter Fundorte für die Menschen nicht transparent und wird in Fachkreisen teilweise als bloßer Zuwachs an Grundrechtsrhetorik bezeichnet. Auch deshalb ist das Europäische Parlament vor fünf Wochen in seiner Entschließung weiter gegangen und verlangt nun die Konkretisierung des Bürgerrechts der Europäischen Union.
Übrigens: Wer Grundrechtsschutz fordert, muß sich mit uns in der aktuellen Diskussion um die Europol-Konvention für die volle Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs als richterlicher Kontrollinstanz nachhaltig einsetzen.
In der vor uns liegenden öffentlichen Diskussion sollten wir Deutschen uns vor jeder Oberlehrerattitüde, etwa mit dem bloßen Hinweis auf unser Grundgesetz, hüten und uns intensiv mit den neueren Kodifikationen anderer Mitgliedstaaten befassen. Ich nenne als Beispiel Finnland, das vor zwei Wochen einen eindrucksvollen Grundrechtskatalog verabschiedet hat. Auch die Verfassung von Portugal von 1992 enthält eine Fülle eindrucksvoll formulierter Grundrechte und Grundpflichten.
Meine Damen und Herren, ebenso wichtig wie der Inhalt einer Charta der europäischen Bürgerrechte ist der öffentliche Diskussionsprozeß, der ihr vorausgeht. Dieser könnte durch einen vom Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten gegründeten Verfassungskonvent organisiert werden. Mit dem Europäischen Parlament stimmen wir darin überein, daß die Charta als eines der grundlegenden Ergebnisse der Revision des Maastricht-Vertrages den Bürgerinnen und Bürgern in allen Mitgliedstaaten in einem Referendum vorgelegt werden sollte. Eine solche Volksabstimmung in allen Mitgliedstaaten könnte dazu beitragen, daß die Menschen Europa wieder mehr als ihre gemeinsame Zukunft begreifen. Dieses aber sollte das wichtigste Ziel der Revisionskonferenz sein.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Franz Peter Basten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da es seine erste Rede ist, bitte ich Sie, es ihm nicht so schwer zu machen und den Geräuschpegel etwas zu senken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich natürlich bei allen Kolleginnen und
Franz Peter Basten
Kollegen herzlich dafür bedanken, daß Sie so zahlreich gekommen sind, um mir bei meiner Jungfernrede zuzuhören.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Chance zur politischen Einigung Europas ist ein historisches Fenster, das nur vorübergehend geöffnet ist. Deshalb müssen wir heute alles in unserer Macht Stehende tun, um den Prozeß der politischen Integration unumkehrbar zu machen.
Unumkehrbarkeit heißt, auf dem Weg zu einer dauerhaften europäischen Friedensordnung nationalstaatlich nicht mehr zurückgehen können.
Der Friede nach innen, d. h. die Sicherheit der Bürger vor Verbrechen, ist ein europäisches Friedensziel. Das europa- und weltweit operierende Verbrechen organisiert sich im Stile moderner Konzerne. Das Verbrechen kennt keinen nationalstaatlichen Vorbehalt und keine nationale Eifersüchtelei.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer den Kampf gegen das so organisierte Verbrechen in nationaler Konkurrenz und mit hoher Begabung zur gegenseitigen Behinderung führen will, hat die Schlacht schon verloren, bevor sie begonnen hat.
Deshalb muß die Antwort auf die Herausforderung europäisch gegeben werden. Die Bedrohung wächst täglich. Wir wissen das sehr genau und trotzdem verlieren wir Zeit. Jeder Tag, den wir verlieren, ist ein Gewinn für die Mafiabosse, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Woche vor der Tagung in Cannes sagen wir ganz klar: Auch wenn diese Konvention, wie sie nun auf dem Tisch liegt, nicht unseren Idealvorstellungen entspricht, da wir mit Europol mehr wollen als das, was jetzt in Cannes zur Debatte steht, muß diese Konvention nächste Woche in Cannes - notfalls ohne Großbritannien - verabschiedet werden, weil sie ein wirklicher Fortschritt ist.
Diese muß nach Möglichkeit eine Kontrollzuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs oder zumindest eine Möglichkeit der Vorlage durch nationale Gerichte an den Europäischen Gerichtshof enthalten. Der derzeitige Entwurf der Konvention enthält einen größeren Fortschritt als lange Zeit erwartet werden konnte. Ich danke bei dieser Gelegenheit auch der Bundesregierung herzlich für ihre zähe Verhandlungsführung und Geduld.
Die Konvention bringt nicht nur einen umfangreichen Datenaustausch. Sie bringt auch den Einstieg in kriminalpolizeiliche Intelligence-Arbeit. Der Datenschutz hält einen Vergleich mit unserem nationalen Standard aus. Zusätzlich müssen wir erreichen, daß Europol mit operativen Befugnissen ausgestattet wird, und dies in demokratischer Legitimation, kontrolliert durch ein Europäisches Parlament, durch einen mit Mehrheit beschließenden Europäischen Rat und durch den Europäischen Gerichtshof.
Meine Damen und Herren, wir brauchen kein europäisches Strafrecht und kein europäisches Strafverfahrensrecht. Hier sollte das Prinzip der Harmonisierung unter den Nationalstaaten und der gegenseitigen Anerkennung herrschen. Was wir brauchen, sind europäische Normen der Zusammenarbeit und europäische Zuständigkeitsnormen für die nationalen Strafverfolgungsorgane. Schengen ist ein erster intergouvernementaler Schritt einiger Mitgliedstaaten. Dies muß weiterentwickelt und in Gemeinschaftsrecht verbindlich für alle Mitgliedstaaten überführt werden.
Wir sind erst dann am Ziel, wenn ein französischer Ermittlungsrichter die europaweit operierenden Kriminellen uneingeschränkt mit gleicher Kompetenz in Lissabon, Paris, London und Frankfurt jagen und ergreifen kann - mit Unterstützung durch Europol.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kampf um eine europäische Innen- und Justizpolitik ist ein mühsamer Kampf gegen überholte Souveränitätsvorstellungen. Aber es ist endlich einmal ein Kampf in Europa, den es sich zu kämpfen lohnt.
Vielen herzlichen Dank.
Wir gratulieren dem Kollegen zu seiner Jungfernrede.
Das Wort hat der Abgeordnete Wilfried Seibel.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Vertrag von Maastricht hat die Europäische Union ein großes Stück vorangebracht. Gleichwohl sind die Ergebnisse des Vertrages bei den Bürgern in Europa auf Skepsis und Widerspruch gestoßen. Volksabstimmungen in Partnerländern sind glücklicherweise knapp - aber eben auch nur knapp - entschieden worden. Gleiches darf uns mit der Regierungskonferenz im Jahre 1996 nicht passieren.
Die Feiern zum 50jährigen Ende des Zweiten Weltkrieges in den Ländern Europas haben die Erinnerung in allen Ländern gleichermaßen belebt. Europa hat sich wie nach 1945 auch 1995 erneut dazu bekannt, die Zukunft in Freiheit und Frieden gestalten zu wollen.
Europa war 50 Jahre lang ohne Krieg. Alle Menschen in Europa wünschen sich, daß das grausame Morden in Bosnien beendet wird.
Wilfried Seibel
Wenn es militärisch nicht beendet werden kann, so sollte Europa zumindest die Kraft aufbringen, dort das Schlimmste für die Menschen zu verhindern und eine glaubwürdige Abschreckung aufzubauen.
Ich denke, die Menschen in Europa wollen zuallererst eine bessere gemeinschaftliche Außen- und Sicherheitspolitik. Internationale kriminelle Banden gefährden unsere Kinder durch Drogenhandel, erpressen Schutzgelder von Geschäftsinhabern und treiben die Kriminalität über Europas Grenzen nahezu unbehelligt hin und her. Tun wir genug dagegen, daß Nachrichten wie z. B. „St. Pauli nunmehr in der Hand der Kosovo-Albaner" nur als Analyse zur Kenntnis genommen werden? Sie müssen für uns die Aufforderung zu einer besseren europäischen Koordinierung der Innenpolitik sein.
Alle Gruppierungen und Parteien in diesem Hohen Hause haben sich dafür ausgesprochen, daß eine Osterweiterung der Europäischen Union realisiert werden soll
und vor allem realisiert werden muß, damit wir dem Kontinent Europa seine historische Ausprägung zurückgeben können und die hohen Erwartungen der mittel- und osteuropäischen Völker an die Europäische Gemeinschaft nicht enttäuschen. Diese drei maßgeblichen Zielsetzungen finden meiner Auffassung zufolge die Zustimmung der Bürger Europas.
Es gehört aber auch zur Ehrlichkeit der Politik, daß man ebenso deutlich erklärt, daß eine Ausweitung der Aufgaben nicht mit weniger, sondern nur mit mehr Geld zu erreichen ist. Das heißt: Dieses neue Europa wird teurer.
Die Einnahmen der Europäischen Union setzen sich aus Zöllen und Abschöpfungen, der Abführung eines Teils der Mehrwertsteuer und einem Länderbeitrag, der sich am Bruttoinlandsprodukt orientiert, zusammen. Diese Form der Beschaffung der Einnahmen für die Europäische Union kann über 1996 hinaus auf gar keinen Fall verlängert werden.
Für die Bundesrepublik Deutschland haben wir, in Zahlen ausgedrückt, bereits heute folgende Ausgabendynamik: Wir zahlen im Jahr 1995 rund 44 Milliarden DM. Im Jahr 1999 werden wir 55 Milliarden DM aufzubringen haben. Dieser Betrag wird sich massiv erhöhen, wenn die eingangs beschriebene Aufgabenerweiterung und die räumliche Erweiterung der EU eintreten werden und wenn es bei dem bisherigen Regime der Eigenmittel bleibt.
Selbstverständlich stecken in der Europäischen Gemeinschaft noch Einsparpotentiale. Wir können und müssen von der EU eine striktere Haushaltsdisziplin verlangen.
Wir müssen entschieden darauf drängen, daß mit den Verschwendungen und Betrügereien Schluß gemacht wird. Es steckt auch ein erhebliches Einsparpotential in einer wohl überdimensionierten und hochbezahlten Verwaltung.
Dennoch werden die Einsparpotentiale nicht ausreichen, um die erweiterte Aufgabenstellung zu finanzieren. Deshalb ist es nach meinem Dafürhalten notwendig, daß ein Ideenwettstreit beginnt, wie eine völlig neu konzipierte Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft bewerkstelligt werden kann.
Wir von der CDU/CSU stellen uns dieser Herausforderung und haben die Beratungen dafür aufgenommen. Wir bitten die Bundesregierung, dies ebenfalls zu tun und vor allen Dingen bei der bevorstehenden Regierungskonferenz in Cannes dafür einzutreten, daß ein neues System der Eigenmittelfinanzierung der EU auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, daß den Bürgern die Sinnhaftigkeit einer erweiterten und vertieften Europäischen Gemeinschaft zu vermitteln ist. Wir Politiker haben die Pflicht zu erklären, daß man dies nicht zum Nulltarif haben kann. Wir müssen aber auch alle Anstrengungen unternehmen, die vor uns liegenden Herausforderungen für Europa so sparsam und effektiv wie möglich zu bewerkstelligen und die Last gerechter als bisher auf die Mitgliedstaaten zu verteilen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/1751. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei einigen Enthaltungen aus der Gruppe der PDS und gegen die Stimmen der übrigen Oppositionsfraktionen abgelehnt worden.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/1748. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/1728, 13/1734 und 13/ 1739 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 5 auf: Wahlvorschlag der Fraktion der SPDNachwahl eines Mitglieds der Parlamentarischen Kontrollkommission gemäß § 4 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes- Drucksache 13/1747 -
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3566 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerDie Fraktion der SPD schlägt auf Drucksache 13/ 1747 den Abgeordneten Dr. Willfried Penner als Nachfolger für den ausgeschiedenen Kollegen Dr. Peter Struck vor.Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich Sie um Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren. Die erforderlichen Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch keine erhalten haben, können Sie diese jetzt noch von den Plenarsekretären bekommen. Für die Wahl benötigen Sie außerdem Ihren weißen Wahlausweis, den Sie - soweit noch nicht geschehen - jetzt noch Ihrem Schließfach in der Eingangshalle entnehmen können.Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, d. h. mindestens 337 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind ungültig.Die Wahl, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht geheim; Sie können die Stimmkarte deshalb an Ihren Plätzen ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der aufgestellten Wahlurnen werfen, geben Sie bitte Ihren Wahlausweis den Schriftführern. Die Abgabe des Wahlausweises gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl.Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Wahl. -Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführer, ihre Stimmkarten abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Wahlergebnis wird später bekanntgegeben.*)Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 und 16a bis 161 sowie die Zusatzpunkte 6 bis 8 auf:10. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dietrich Austermann, Dr. Peter Ramsauer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Birgit Homburger, Jürgen Koppelin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs- Drucksache 13/1733 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung16. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der gesetzlichen Amtspflegschaft und Neuordnung des Rechts der Beistandschaft
- Drucksache 13/892 - *) Seite 3581 DÜberweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren, Frauen und Jugendb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften- Drucksache 13/1190 -Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Haushaltsausschußc) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes - RpflAnpG- Drucksache 13/1288 -Überweisungsvorschlag: Rechtsausschußd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 15. Februar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ukraine über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen- Drucksache 13/1430 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschafte) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Mongolischen Volksrepublik fiber die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen- Drucksache 13/1431 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaftf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Estland fiber die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen- Drucksache 13/1432 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaftg) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung
- Drucksache 13/1433 -Überweisungsvorschlag: Rechtsausschußh) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes- Drucksache 13/1439 -
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3567
Rechtsausschuß InnenausschußAusschuß für Verkehri) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Beamtenrechtsrahmengesetzes- Drucksache 13/1447 -Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnungj) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften- Drucksache 13/1534 -Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschußk) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übernahme befristeter Kündigungsmöglichkeiten als Dauerrecht- Drucksache 13/1693 -Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau1) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje-Marie Steen, Dr. Ulrich Böhme , Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Erweiterung des Katalogs der FrüherkennungsUntersuchungen um ein spezifisches Hörscreening im Rahmen der U 1 und U 3- Drucksache 13/1001 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Familie und Senioren, Frauen und JugendZP6 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer , Franziska Eichstadt-Bohlig, Elisabeth Altmann (Aurich), und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMaßnahmen zur Vermeidung von Wohnungsverlust und zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit- Drucksache 13/1617 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
InnenausschußRechtsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung,Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitZP7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Günther Maleuda, Eva Bulling-Schröter, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuches- Drucksache 13/1726 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschußAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauZP8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dietmar Schütz , Volker Jung (Düsseldorf), Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuches- Drucksache 13/1736 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Der Antrag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf Drucksache 13/ 1617, Zusatzpunkt 6, soll zusätzlich dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17a bis 17j und Zusatzpunkt 10 auf:17. Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen- Drucksache 13/845 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
- Drucksache 13/1503 -Berichterstattung:Abgeordneter Reiner Krziskewitzb) Zweite Beratung und Schußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. August 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und derVizepräsidentin Dr. Antje VollmerMongolei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen- Drucksache 13/846 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
- Drucksache 13/1504 -Berichterstattung:Abgeordneter Reiner Krziskewitzc) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie betreffend die Arbeitsmittel- Drucksachen 13/725 Nr. 136, 13/1448 -Berichterstattung: Abgeordnete Leyla Onurd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21. Dezember 1977 für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften- Drucksachen 13/725 Nr. 82,13/1476 -Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Wilfried Seibele) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungGeänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Systeme für die Entschädigung der Anleger- Drucksachen 13/765 Nr. 1.23, 13/1505 -Berichterstattung:AbgeordneterHansgeorg Hauser
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung des Flugplatzes Söllingen an die Grundstückserwerbsgesellschaft Rheinmünster und Hügelsheim - Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Rheinmünster- Drucksachen 13/1213, 13/1552 - Berichterstattung: Abgeordnete Karl DillerSusanne Jaffke Antje Hermenau Jürgen Koppeling) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 40 zu Petitionen- Drucksache 13/1577 -h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 41 zu Petitionen - Drucksache 13/1578 -i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 42 zu Petitionen- Drucksache 13/1579 -j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 43 zu Petitionen - Drucksache 13/1580 -ZP10 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das EG-Recht- Drucksache 13/668 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/1753 -Berichterstattung:Abgeordneter Karl-Josef LaumannEs handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Islamischen Republik Pakistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, Drucksache 13/845. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/1503, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei Enthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Mongolei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, Drucksache 13/846. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/1504,
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3569
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmerauch diesen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Richtlinienvorschlag über Arbeitsmittel, Drucksache 13/1448. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Vorschlag zur Änderung der Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften, Drucksache 13/1476 neu. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem geänderten Richtlinienvorschlag über Systeme für die Entschädigung der Anleger, Drucksache 13/ 1505. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Veräußerung des Flugplatzes Söllingen, Drucksachen 13/1213 und 13/1552. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS angenommen.Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 13/1577 bis 13/1580. Es handelt sich um die Sammelübersichten 40 bis 43. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind bei einigen Enthaltungen angenommen.Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das EG-Recht, Drucksachen 13/668 und 13/1753. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und einer Stimme der SPD bei einer Gegenstimme aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
- Eines war nicht trojanisch! Das habe ich persönlich erkannt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Fragestunde- Drucksache 13/1707 -Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zu den Fragen 3 und 4 des Abgeordneten Volker Neumann ist schriftliche Beantwortung erbeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Johannes Nitsch erschienen.Zu den Fragen 31 und 32 der Abgeordneten Anke Eymer sowie 33 und 34 des Abgeordneten Robert Leidinger ist schriftliche Beantwortung beantragt worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen zu Frage 35 der Abgeordneten Jella Teuchner:Hält es die Bundesregierung für zweckmäßig, daß das Raumordnungsverfahren für den Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen ohne eine ausführliche Sachdiskussion zwischen Prof. Dr. Harald Ogris und den acht externen Gutachtern jetzt wiederaufgenommen wurde?Bitte, Herr Staatssekretär.
Sehr geehrte Frau Teuchner, der in Abstimmung mit der Bundesregierung vom bayerischen Ministerrat gefaßte Beschluß, das Raumordnungsverfahren zügig abzuschließen, ist folgerichtig, da die fachlichen Stellungnahmen aller mit der Würdigung des Ogris-Gutachtens beauftragten Sachverständigen in den wesentlichen Punkten übereinstimmen und so einhellig von einer Weiterverfolgung des Ogris-Vorschlages abgeraten wird, weshalb sich logischerweise eine vorherige Sachdiskussion unter den Wissenschaftlern erübrigte.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte.
Wenn dem so ist, erfordert dann das nur zwei Seiten umfassende Schreiben von Professor Dr. Strobel über ein Milliardenprojekt, das als Gutachten geführt wird, nicht doch noch eine ausführliche Sachdiskussion?
Sehr geehrte Kollegin, es gibt nicht nur ein zweiseitiges Schreiben zu dem Ogris-Gutachten, sondern es gibt insgesamt acht
Parl. Staatssekretär Johannes Nitsch
Gutachten - ich kenne nicht die Seitenanzahl -, die teilweise sehr umfangreich sind.
Zweite Zusatzfrage.
Es gibt nach unserem Wissen sechs Gutachten. Trotzdem stellt sich die Frage: Welchen Sinn haben solche Gutachten, ganz egal, von welchem Seitenumfang sie sein mögen, wenn diese nicht einer ausführlichen Sachdiskussion unterzogen werden? Wäre es nicht besser und vor allen Dingen auch ehrlicher, wenn solche Gutachten als Kurzgutachten bezeichnet würden?
Ich hatte mich in der Antwort schon darauf bezogen, daß die Gutachten einhellig der Meinung sind, daß das Ogris-Gutachten nicht weiter zu verfolgen ist, so daß sich aus der Einhelligkeit der herbeigezogenen Wissenschaftler keine Unterbrechung des Raumordnungsverfahrens als notwendig ergab.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Saibold.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, haben Sie ausgeführt, daß das Raumordnungsverfahren zügig durchgeführt werden soll. Deswegen frage ich Sie, wie Sie die Veranstaltung des bayerischen Landtags mit der Anhörung, in Zusammenarbeit mit der Staatsregierung übrigens, bezeichnen würden und ob Sie mir zustimmen können, daß das dann eine scheindemokratische Veranstaltung ist, wenn das Ergebnis schon vorher festliegt?
Verehrte Kollegin, ich stimme Ihnen nicht zu. Das ist eine Parallelaktivität, um die Ergebnisse der Gutachten an die Öffentlichkeit zu bringen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Staatssekretär, müßte nicht eine ausführliche Sachdiskussion über Aussagen von Professor Dr. Strobel in seinem zweiseitigen Gutachten geführt werden? Ich habe es gelesen und die Seiten gezählt. Das Zitat lautet:
möchte ich zusammen mit meinen Kollegen dringend davon abraten, der Scharlatanerie eines völlig außerhalb der Fachwelt stehenden Professors weiterhin Raum zu geben.
Entspricht diese beleidigende Aussage bei Gutachten der üblichen wissenschaftlichen Erörterung?
Herr Kubatschka, ich danke
Ihnen, daß Sie diesen Text zitiert haben. Ich glaube, allein aus den Worten, die Sie vorgetragen haben, ergibt sich schon die Schlußfolgerung, daß man darüber keine Debatte führen sollte.
Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, ich bin kein Experte in Terminologie. Aber der emeritierte Professor Mosonyi von der Universität Karlsruhe hat auf Anforderung der Rhein-Main-Donau AG eine Stellungnahme abgegeben. Nun interessiert mich: Gibt es einen fachlichen und juristischen Unterschied zwischen einer Stellungnahme und einem Gutachten?
Ich bin kein Jurist, so daß ich Ihnen diese Frage nicht beantworten kann. Aber ich wäre bereit, Ihnen dazu eine schriftliche Antwort zuzustellen. Ich sehe keinen Unterschied.
Eine Zusatzfrage? - Bitte schön.
Herr Staatssekretär, ist es üblich, daß die Bundesregierung sich in ihrer Entscheidungsfindung auf Gutachten stützt, in denen Formulierungen vorkommen wie „nach Auskunft von Ökologiefachleuten bedeutet dies" dieses oder jenes - ohne daß Quellen genannt werden -, wie es in dem schon mehrfach zitierten Gutachten von Professor Strobel der Fall ist? Ist es nicht eigentlich üblich, eine solche Qualität von Gutachten kritisch in die eigene Arbeit einzubeziehen?
Ich denke, daß es üblich ist, diese Dinge kritisch einzubeziehen, und daß das auch immer der Fall ist.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, läßt sich das Ogris-Gutachten, welches einen sehr sanften Ausbau der Donau empfiehlt, zu einem Zeitpunkt ausschalten, in dem noch völlig unklar ist, woher man eigentlich das Wasser für einen Umgehungskanal - der ja parallel zur Donau geführt werden soll - nehmen will? Denn es besteht doch die Gefahr, daß die Donau anschließend so verkümmert wie der Rhein zwischen Basel und Breisach, der zu einer müden Rinne geworden ist, weil für den Elsaß-Seitenkanal das Wasser aus dem Rhein genommen wird.
Herr Kollege, Sie weiten die
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3571
Pari. Staatssekretär Johannes Nitschvon mir zu beantwortende Frage jetzt auf inhaltliche Dinge aus,
die nicht gefragt sind. Aber ich möchte Sie darauf hinweisen, daß nach meiner persönlichen Auffassung die Ausbauvariante von Herrn Ogris nicht sehr sanft ist. Ich weiß nicht, ob Sie den Vorschlag genau kennen.
Eine zweite Zusatzfrage ist nicht zulässig, Herr Kunick.
Bevor wir zur nächsten Frage kommen, bestelle ich nach § 8 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung als Schriftführerin die Kollegin Margareta Wolf, da die Schriftführerin an meiner Seite selbst eine Frage gestellt hat.
Wir kommen damit zur Frage 36 der Abgeordneten Jella Teuchner:
Warum wurden die beteiligten Professoren, die die Ergebnisse des von Prof. Dr. Harald Ogris erstellten Gutachtens über die von ihm vorgeschlagene Ausbaumethode für die Donau zwischen Straubing und Vilshofen fachlich geprüft haben, nur danach befragt, ob mit den von Prof. Dr. Harald Ogris vorgeschlagenen Verfahren der maximale Ausbaustandard für 100 m Breite und Viererschubverbände erreicht werden kann und nicht auch ein reduzierter Ausbaustandard , wie es auch vom Bayerischen Obersten Rechnungshof verlangt und schon beim Symposium des Bayerischen Umweltministeriums im Juni 1993 erörtert wurde?
Dem Ausbauvorschlag des zur Zeit laufenden Raumordnungsverfahrens liegen die Ausbauziele des Bundesministeriums für Verkehr zugrunde. Da alternative Ausbauvorschläge nur dann als gleichwertig angesehen werden können, wenn sie diese Ausbauziele ebenfalls erfüllen, erfolgte die Bewertung des Ogris-Gutachtens auf der Grundlage der Ausbauziele.
Im übrigen hatte der Professor Ogris in einem Symposium zum Donauausbau am 14. Juli 1993 die These vertreten, auch mit seinem Vorschlag würden die Ausbauziele erreicht.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Teuchner, bitte.
Warum hält dann die Bundesregierung an den Ausbauzielen, 100 m Breite und Viererschubverbände, fest, wenn jetzt auch die Vertreter der Bayerischen Staatsregierung über diese Ausbaubreite sprechen wollen?
Die Bundesregierung hält deshalb an den Ausbauzielen fest, weil wir nicht willentlich Engstellen in eine Bundeswasserstraße einbauen werden, die dann zu Stauzuständen auf der Wasserstraße führen würden.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Wäre es nicht sinnvoller gewesen, auch die anderen Ausbauziele auf ihre finanziellen und vor allem auch ökologischen Auswirkungen gutachterlich überprüfen zu lassen?
Wir haben für diesen Teil des Donauausbaus ein Gutachten erstellen lassen und es in das Gesamtkonzept der Bundeswasserstraße - die, wie Sie wissen, ausgebaut ist - einbezogen. Wir können die Kapazitäten auf dem RheinMain-Donau-Kanal nicht rückwärts verringern.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kunick, bitte.
Herr Staatssekretär, gehört es auch zu den Ausbauzielen der Bundesregierung, den Wasserstand in der Donau zwischen Vilshofen und Straubing auf jetziger Höhe zu erhalten?
Es gehört zu den Ausbauzielen, die Verkehrsleistungen zu erbringen, die wir auf dem Rhein-Main-Donau-Kanal an dieser Stelle haben.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Ich danke Ihnen für diese Aussage. Herr Staatssekretär, damit sind Sie bereit, die Ausbauziele aufzugeben. Deswegen meine Frage. Sie sprechen von Engstellen in der Wasserstraße. Gibt es diese Engstellen dann nicht auch am Beginn des Rhein-Main-Donau-Kanals, weil Sie dann die Viererschübe auflösen müssen? Sie können ja mit Viererschüben nur von Linz bis Regensburg fahren, und dann entsteht eine neue Engstelle. Was machen Sie dann mit der Engstelle? Wollen Sie den Rhein-Main-Donau-Kanal auf die doppelte Kapazität ausweiten?
Zum ersten Teil Ihrer Frage: Wir haben keine Ausbauziele aufgegeben.
Der zweite Teil ist nicht Gegenstand der Grundfrage.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Saibold.
Herr Staatssekretär, ich bin sehr wohl der Meinung, daß Sie die Ausbauziele aufgegeben haben; denn es dürfte Ihnen doch bekannt sein, daß Engstellen genau im Rhein-Main-Donau-Kanal vorhanden sind, diese Viererschubverbände nur bis Linz vorfahren können und auch im Main nicht fahren können. Von
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3572 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995
Halo Salbolddaher wäre es eben doch notwendig, diese Ausbauziele zu überprüfen.Ich frage Sie, ob Sie denn auch auf Grund des Gutachtens des Bayerischen Obersten Rechnungshofes nicht doch noch einmal zu einer Überprüfung der Ausbauziele kommen werden, so wie Sie es hier gerade dargestellt haben.
Ich hatte in meiner Grundantwort gesagt, daß wir nicht willens sind, die Ausbauziele auf diesen Ausbauteil zu reduzieren und deshalb von den Vorgaben des Verkehrsministeriums her die Bewertung durchgeführt haben.
Wenn Sie jetzt in Ihrer Frage auf weitere Engstellen hinweisen, dann werden dort vielleicht zu gegebener Zeit auch Gutachten oder Ausbaumaßnahmen notwendig sein.
Jetzt kommen wir zur Frage 37 des Abgeordneten Horst Kubatschka:
Wurden alle externen Gutachter, die die Ergebnisse des von Prof. Dr. Harald Ogris erstellten Gutachtens über die von ihm vorgeschlagene Ausbaumethode für die Donau zwischen Straubing und Vilshofen fachlich geprüft haben, von der Bundesregierung in Abstimmung mit der Bayerischen Staatsregierung schriftlich beauftragt bzw. bestellt, und wenn ja, wann?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Kubatschka, der Bund und der Freistaat Bayern haben alle Gutachter zur Bewertung des Ogris-Gutachtens gemeinsam ausgewählt. Die verwaltungsmäßige Abwicklung der Aufträge erfolgte jeweils durch die Rhein-Main-Donau-AG.
Im einzelnen - danach hatten Sie ja auch gefragt -, die Professoren Dr. Scheuerlein und Dr. Nestmann waren bereits im Dezember 1993 von der RheinMain-Donau-AG gemeinsam mit Prof. Ogris gebeten worden, die im Symposium offengebliebenen Fragen der technischen Machbarkeit der Ogris-Methoden zu klären.
In Fortführung dieses frühen Auftrages wurden die Professoren Dr. Scheuerlein und Dr. Nestmann vom Bundesverkehrsministerium Ende Januar 1995 gebeten, eine wissenschaftliche Stellungnahme zum Ogris-Gutachten abzugeben. Prof. Dr. Haber wurde vom bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Verkehr und Technologie Ende Februar 1995 um eine fachliche Würdigung gebeten. Die übrigen Professoren wurden Mitte 1995 von der Rhein-Main-Donau-AG um Abgabe der fachlichen Stellungnahme gebeten.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn derjenige, der den Auftrag durchführt, den Gutachter bestellt, besteht dann nicht die Gefahr,
daß dieser Gutachter im Sinne des Auftraggebers begutachtet?
Nein, die Gefahr besteht nicht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Sie haben - muß ich sagen - eine sehr optimistische Einstellung zu Gutachten. Aber wenn Gutachter früher schon einmal für dieses Privatunternehmen - das ist ja keine staatliche Gesellschaft mehr wie früher - tätig waren, besteht dann nicht die Möglichkeit, daß die Gutachter befangen sind?
Ich unterstelle allen Gutachtern, daß sie nach bestem Wissen und Gewissen ihre Arbeit abliefern, weil sie sich ansonsten für die Zukunft
der Aufgaben berauben würden.
Eine weitere Zusatzfrage steht Ihnen leider nicht zu. Aber Ihnen, Herr Dr. Brecht. Bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Frage eben auf der persönlichen Ebene beantwortet. Meinen Sie nicht, daß es grundsätzlich Interessenkonflikte bei der eben beschriebenen Konstellation geben könnte.
Davon gehe ich nicht aus.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Häfner.
Herr Staatssekretär, fasziniert von Ihrer Antwort, daß nicht damit zu rechnen sei, daß Gutachter Gutachten im Sinne des Auftraggebers erstellen, weil sie sich sonst künftiger Aufträge berauben würden, möchte ich Sie fragen, ob ich Ihre Logik nicht verstanden habe oder ob es nicht naheliegender wäre, daß Gutachter vielmehr im Sinne der Auftraggeber Gutachten erstellen - wie wir das in diesem und anderen Fällen erlebt haben -, um sich künftige Aufträge zu sichern.
Das ist eine Sicht, die Sie vielleicht aus Ihrer Lebenserfahrung gewonnen haben, aus meiner habe ich sie nicht.
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3573
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kunick. Bitte.
Haben Sie die ökologischen Folgen der von Ihnen bevorzugten Ausbauvariante gutachtlich prüfen lassen? Würden Sie das Ergebnis gegebenenfalls vorlegen?
Herr Kunick, diese Zusatzfrage gehört nicht zu der Grundfrage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir zur nächsten Frage kommen, bitte ich einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit.
Auf der Ehrentribüne hat der Präsident des italienischen Senats, Professor Dr. Carlo Sconamiglio, mit seiner Delegation Platz genommen.
Verehrter Herr Präsident, ich begrüße Sie herzlich im Namen der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Ihr Besuch beim Bundesrat und beim Bundestag unterstreicht die besonders weitreichenden und tiefgehenden Beziehungen zwischen unseren Ländern und Parlamenten.
Sie haben bereits die Landtage von Hessen, Rheinland-Pfalz und Berlin besucht und heute Gespräche mit der Bundestagspräsidentin und Mitgliedern der deutsch-italienischen Parlamentariergruppe geführt. Wir hoffen, daß diese Begegnungen für Sie interessant und nützlich waren. Sie mögen Ihnen einen Eindruck von der großen Bedeutung verschafft haben, die die Abgeordneten des Deutschen Bundestages der bilateralen und freundschaftlichen Beziehung zu Italien und der europäischen Zusammenarbeit mit Italien beimessen.
Ich wünsche Ihnen noch einen fruchtbaren und angenehmen Aufenthalt in Bonn.
Sie besuchen uns während der Fragestunde, deswegen ist der Plenarsaal auch nicht so sehr gefüllt.
Jetzt kommen wir zu der Frage 38 des Abgeordneten Horst Kubatschka:
Wie reagiert die Bundesregierung auf die Tatsache, daß bei Prof. Dr. Scheuerlein von der Technischen Universität Innsbruck und Prof. Dr. Nestmann von der Technischen Universität Karlsruhe andere Fragestellungen zur Bewertung des von Prof. Dr. Harald Ogris erstellten Gutachtens vorlagen, als bei den übrigen sechs Gutachtern?
Herr Kollege Kubatschka, die Frage 38 schließt eng an die Frage 37 an. Professor Dr. Scheuerlein und Professor Dr. Nestmann waren - wie bereits in der vorherigen Frage erläutert - schon Ende 1993 gemeinsam mit Professor Dr. Ogris gebeten worden, die im Symposium zum DonauAusbau offengebliebene Frage der technischen Machbarkeit der Ogris-Methode zu klären.
Da in zwei Gesprächen keine Einigung über die maßgeblichen technischen Ausgangsparameter erzielt werden konnte, hat Professor Ogris den Auftrag erhalten, seinen Alternativvorschlag in Form eines Gutachtens darzustellen. Die Professoren Dr. Scheuerlein und Dr. Nestmann waren in Fortführung des genannten Auftrages um eine umfassende Stellungnahme gebeten worden, ob die Ausbaualternative aus wasserbaulicher Sicht dem Stand der Wissenschaft und dem Stand der Technik entspricht.
Die übrigen Gutachter wurden zu Rate gezogen, um die Bewertung des Gutachtens auf eine möglichst breite Grundlage zu stellen und um auch deren Sachstand und Erfahrung mit einzubeziehen. Da diese Gutachter vorher nicht mit der Ogris-Methode befaßt waren, sind ihnen zur Verdeutlichung des Sachverhalts die aus der Sicht des Freistaates Bayern und des Bundes wesentlichen Fragen zur Verfügung gestellt worden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kubatschka, bitte.
Herr Staatssekretär, nachdem kein Konsens zwischen den drei Wissenschaftlern hergestellt werden konnte, haben Sie Ogris mit dem Gutachten beauftragt. Es war ja absehbar, wie die Gutachten später lauten würden. Wäre es nicht genauso sinnvoll gewesen, die beiden Professoren Scheuerlein und Nestmann mit einem Gutachten zu beauftragen, wie nach deren Meinung die Donau mit Flußregelungen ähnlich der OgrisMethode ausgebaut werden kann?
Das wäre eine Variante gewesen; wir haben diese andere gewählt.
Eine weitere Zusatzfrage. Bitte, Herr Kubatschka.
Lassen sich Gutachten mit verschiedenen Fragestellungen wissenschaftlich vergleichen, bezogen auf diese Gutachten?
Die Fragestellungen sind so gewählt worden, daß die Antworten ungefähr vergleichbar sind.
Frau Saibold, Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie denn mit Sicherheit ausschließen, daß die Antworten der Professoren Nestmann und Scheuerlein bei einer anderen Fragestellung, die über die wasserbaulichen Maßnahmen hinausgegangen wäre und z. B. die ökologischen Auswirkungen mit einbezogen hätte, anders ausgefallen wären?
Mit Sicherheit kann man nichts ausschließen. Aber wir haben die Fragen nach bestem Wissen und Gewissen so gestellt, daß die Antworten vergleichbar sind.
Ich sehe keine weiteren Zusatzfragen:
Ich rufe die Frage 39 der Abgeordneten Gila Altmann auf:
In welchem Ausmaß haben nach Einschätzung der Bundesregierung die Verzögerungen wegen der Auszahlung der zugesagten Finanzmittel in der zweiten Jahreshälfte 1995 bereits zu zusätzlichen Liquiditätsproblemen bei den betroffenen Partikulierern geführt, und wie schätzt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die Verbesserung der Wettbewerbschancen ein?
Herr Staatssekretär.
Verehrte Frau Altmann! Die Auszahlung der Finanzhilfen für die deutsche Partikulierschiffahrt kann in der zweiten Jahreshälfte 1995 erfolgen, sobald die Europäische Kommission den Richtlinienentwurf genehmigt hat. Das Verwaltungsverfahren ist vorbereitet, so daß sofort nach der Genehmigung durch die EG-Kommission mit der Durchführung des Programms begonnen werden kann.
Erkenntnisse, daß das seit Anfang März bei der EG-Kommission laufende Verfahren zu zusätzlichen Liquiditätsproblemen der Partikuliere geführt hat, liegen nicht vor. Die Bundesregierung erwartet aber, daß von dem Finanzhilfeprogramm im Zusammenwirken mit der europäischen Abwrackaktion eine wirksame Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Partikuliere erreicht wird.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Als erstes zu dem Termin: Sie haben gerade als Antwort auf Frage 39 gesagt, daß die zugesagten Finanzmittel in der zweiten Jahreshälfte 1995 zur Verfügung stehen. Habe ich Sie da richtig verstanden, und könnten Sie diesen Termin konkretisieren?
Nach dem Gespräch mit der EG-Kommission am 26. April 1995 wurde der Kommission ein überarbeiteter Richtlinienentwurf übermittelt, der der bisherigen Zielrichtung, so, wie wir sie kennen, entspricht. Mit einer Entscheidung der
Kommission über diesen überarbeiteten Richtlinienentwurf wird Ende Juni gerechnet.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Sieht sich die Bundesregierung in der Lage, uns eine Übersicht über die Anzahl der Anträge, bezogen auf dieses 100-Millionen-Programm, jetzt zu geben bzw. uns das in schriftlicher Form zuzustellen?
Ja, gern, Frau Altmann. Da das nicht Bestandteil Ihrer Frage war, werde ich Ihnen das schriftlich übergeben.
Ich sehe keine weitere Zusatzfrage. Daher rufe ich die Frage 40 der Abgeordneten Gila Altmann auf:
Wird die Bundesregierung die aus der laufenden europäischen Abwrackaktion nicht abgerufenen Mittel in Höhe von 3,5 Mio. DM als zusätzliche Finanzhilfen für die deutsche Partikulierschiffahrt zur Verfügung stellen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Frau Kollegin, die Bundesregierung hat im Rahmen der von ihr angeregten konzertierten EU-Sonderaktion zum beschleunigten Abbau der Wartelisten aus der laufenden europäischen Abwrackaktion 20 Millionen DM für die Abwrackung der bis zum 30. Juni 1994 zu dieser Liste angemeldeten deutschen Schiffe bereitgestellt.
Diese begrenzte Sonderaktion wird derzeit von den Abwrackfonds der unmittelbar betroffenen Mitgliedstaaten der EU auf der Grundlage der EG-Verordnung 2039/94 vom 14. Dezember 1994 abgewikkelt.
Von der deutschen Schiffahrt nicht in Anspruch genommene Beträge der hierfür bereitgestellten, zweckgebundenen Haushaltsmittel des Bundes können von der Bundesregierung nicht kurzerhand anderen, gesondert zu behandelnden Hilfsmaßnahmen zugeschlagen werden.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Sie sagten gerade: kurzerhand. Heißt das, daß dennoch durchaus eine Möglichkeit besteht, diese Mittel umzuschichten? Wenn nicht: Welche Tatsachen stehen dagegen?
Sie haben es schon gehört,
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3575
Parl. Staatssekretär Johannes Nitschdie Mittelumschichtung kann nur im Rahmen unserer Haushaltsordnung erfolgen.
Nein, das dürfen Sie nicht, das können Sie gern außerhalb der Sitzung machen. Hier sind wir an andere Regeln gebunden. - Bitte schön.
Kann die Bundesregierung die Auffassung bestätigen, daß auf Grund des 100-Millionen-Programms Anträge zum Abwracken zurückgenommen wurden?
Ja, ich kann diese Annahme bestätigen.
Ich sehe keine weiteren Fragen zu diesem Punkt. Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Klinkert zur Verfügung.
Die Fragen 41, 42 und 43 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 44 der Kollegin Ursula Schönberger auf:
Kann die Bundesregierung die Aussagen eines Vertreters des Bundesamtes far Strahlenschutz am 12. Juni 1995 in Helmstedt bestätigen, daß die Einlagerungsbedingungen im Atommüllendlager Morsleben nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen, da die Genehmigung aus DDR-Zeiten dies nicht zuläßt und für wesentliche Änderungen des Einlagerbetriebes ein Planfeststellungsverfahren notwendig ware, das das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dazu nicht durchführen will?
Herr Staatssekretär, bitte.
Frau Kollegin Schönberger, die Aussagen des Vertreters des Bundesamtes für Strahlenschutz sind so nicht getroffen worden. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat vielmehr dargelegt, daß bei den Endlagerannahmebedingungen der Stand von Wissenschaft und Technik eingehalten wird. Die Bedingungen des Einlagerungsbetriebs sind in Übereinstimmung mit den Festlegungen der Dauerbetriebsgenehmigung.
Die Beurteilung der Sicherheit des Endlagers hat ergeben, daß die getroffenen Änderungen zur Optimierung des Einlagerungsbetriebs kein Planfeststellungsverfahren im Sinne des Atomgesetzes erfordern. Daneben sind zwar auch solche Änderungen denkbar, die die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens erforderten. Diese sind allerdings nach sicherheitstechnischer Beurteilung durch die Fachleute für einen sicheren Betrieb des Endlagers nicht notwendig. Von daher beabsichtigt die Bundesregierung derzeit nicht, solche Maßnahmen für den Betrieb bis zum Jahre 2000 durchzuführen.
Frau Schönberger, Ihre erste Zusatzfrage.
Sie sagten gerade, daß die Änderungen beim Einlagerungsverfahren für das Endlager Morsleben für einen sicheren Betrieb nicht notwendig seien. Ich fragte jedoch nicht, ob sie notwendig seien, sondern ob sie dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen. Das betrifft eine sehr restriktive Maßgabe des Atomgesetzes.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß eine Versturztechnologie, wie sie derzeit auf der 5-A-Sohle im Zusammenhang mit mittelradioaktivem Müll eingesetzt wird, nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik in der Bundesrepublik Deutschland entspricht?
Alle Annahmebedingungen des Endlagers Morsleben entsprechen dem Stand von Wissenschaft und Technik in der Bundesrepublik Deutschland. Die Maßnahmen, die zur Verbesserung der Sicherheit im Endlager getroffen wurden, erforderten kein Planfeststellungsverfahren nach Atomgesetz.
Ihre zweite Frage.
Wie erklären Sie dann aber, wenn das dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht, daß die Versturztechnologie in den Plananträgen für das Endlager Schacht Konrad nicht auftaucht und vom Bundesamt für Strahlenschutz als Antragstellerin in diesem Verfahren auch explizit nicht beantragt wurde, weil diese Technologie nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entspräche?
Die Annahmebedingungen im Schacht Konrad sind von der Geologie her völlig andere als die im Schacht Morsleben. Infolgedessen sind die Voraussetzungen für Technologien, wie sie in Morsleben eingesetzt werden - das gilt z. B. für die Versturztechnologie - beim Schacht Konrad nicht gegeben.
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3576 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995
Keine weiteren Fragen.
Die Frage 45 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Dann kommen wir zur Frage 46 der Kollegin Michaele Hustedt:
Ist der Bundesregierung eine Stellungnahme des Umweltbundesamtes bekannt, in dem dieses eine ausführliche Argumentation für die Notwendigkeit eines Ausstiegs aus dem Braunkohlentagebau Garzweiler II aus Klimaschutzgründen dargelegt hat, und falls ja, wie beurteilt sie die auf dieser Stellungnahme beruhende Schlußfolgerung, daß zur Erreichung des von der Bundesregierung selbstgesteckten CO32-Reduktionszieles eine zusätzliche Rücknahme bei der Steinkohleverstromung in Westdeutschland bzw. ein zusätzlicher Abbau der Braunkohleförderung in Ostdeutschland notwendig wäre, wenn nicht auf Garzweiler II verzichtet würde?
Frau Kollegin Hustedt, dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wurde avisiert, daß das Umweltbundesamt eine aktuelle Ausarbeitung zu Garzweiler II erstellt habe. Nach unseren Vorabinformationen über den Inhalt teilt die Bundesregierung die darin dargelegten Auffassungen, insbesondere im Hinblick auf die Klimaschutzziele, nicht.
Dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist allerdings bekannt, daß mit der Erschließung des Braunkohlentagebaus Garzweiler II beabsichtigt ist, die westdeutsche Braunkohleförderung über mehrere Jahrzehnte in etwa auf dem derzeitigen Niveau weiter zu betreiben. Dabei ist vorgesehen, daß die Nutzung der Braunkohle wie auch die Nutzung anderer Energieträger im Hinblick auf die CO2-Minderung zu optimieren ist, z. B. durch höhere Wirkungsgrade der Kraftwerke. Dieses Thema wird in verschiedenen Publikationen dargestellt, u. a. im Schlußbericht der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" des Deutschen Bundestages vom 31. Oktober 1994.
Die Bundesregierung hat am 29. September 1994 bei ihrem vierten Beschluß zum CO2-Minderungsprogramm noch einmal betont, daß sie derzeit als wichtigste Ansatzpunkte zur Minderung der CO2- Emissionen den rationellen und sparsamen Einsatz von Energie auf allen Ebenen der Energieversorgung und -nutzung sowie die Substitution von Brennstoffen mit dem Ziel der Verminderung von CO2-Emissionen sowie der Emissionen von anderen Treibhausgasen sieht. Nach Auffassung der Bundesregierung sind Fortschritte beim rationellen und sparsamen Energieeinsatz notwendige Voraussetzungen für die nachhaltige Minderung der Treibhausgase. Die Bundesregierung hat dabei auch ausgeführt, daß sie der Auffassung ist, daß die deutsche Steinkohle und Braunkohle auch künftig einen Beitrag zu einer sicheren Energieversorgung leisten sollen.
Die Bundesregierung hat zur Erreichung ihres CO2-Minderungsziels keine untergliederten Teilziele beschlossen, weder für die einzelnen Bundesländer noch für die verschiedenen Energieträger. Die Erreichung des Gesamtziels hängt von der Umsetzung
des gesamten Maßnahmenbündels und dem gesamten Energieträgermix ab.. Die Bundesregierung hat sich dabei spezifisch nicht zur Frage der Erschließung von Garzweiler II geäußert, zumal das Genehmigungsverfahren in die Kompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen fällt.
Sie haben zwei Zusatzfragen, bitte.
Meine erste Frage ist: Da wir alle das Ziel haben, innerhalb von 10 Jahren die CO2-Emissionen um 25 % zu reduzieren - die Reduzierung muß ja irgendwo erbracht werden; unter dem Strich muß also 25 % weniger Kohle verbrannt werden -, heißt das, was Sie eben gesagt haben, konkret, daß der Aufschluß von Garzweiler II zu Lasten der ostdeutschen Braunkohlekumpel oder zu Lasten der westdeutschen Steinkohlekumpel gehen wird?
Frau Hustedt, abgesehen davon, daß Sie unser gemeinsames Minderungsziel zeitlich etwas zusammengedrängt haben, muß ich Ihre Frage mit Nein beantworten. Ich habe ausgeführt, daß wir bei der Verminderung der CO2-Emissionen zwei wichtige grundsätzliche Wege gehen, nämlich zum einen den Weg der Energieeinsparung durch verschiedenste Maßnahmen und zum anderen den Weg der rationellen Energieerzeugung.
Die Energieeinsparung wird zunächst einmal zu einem geringeren Energieverbrauch bzw. zu keinem weiteren Ansteigen des Energieverbrauchs führen.
Die rationelle Energieerzeugung wird zu einer Verringerung des spezifischen Energieträgereinsatzes führen. Davon sind aber alle Energieträger gleichmäßig betroffen.
Es ist eine völlig falsche Schlußfolgerung zu glauben, daß mit dem Erschließen des Tagebaus Garzweiler II nun dafür in Ostdeutschland Kapazitäten stillgelegt werden müßten oder die Steinkohle direkt betroffen wäre, wie umgekehrt auch der Schluß nicht zutreffend ist, daß der Verzicht auf Garzweiler II die Sicherung der ostdeutschen Braunkohle bedeuten würde.
Zusammenfassend: Das gleichmäßige Einsparen von Energie und die gleichmäßige Substitution bzw. der rationelle Energieträgereinsatz werden dazu führen, daß alle Energieträger in etwa gleichmäßig von diesen Einspareffekten, die wir ja gemeinsam wollen, betroffen sein werden.
Ihre zweite Frage.
Stimmen Sie mir denn zu, daß, wenn mit dem Aufschluß von Garzweiler II für 50 Jahre die Menge der zu verbrennenden Braunkohle aus Garzweiler II festgeschrieben wird, das ein Widerspruch zu Ihrer jetzi-
Michaela Hustedt
gen Aussage ist, daß alle Anteile gleichmäßig reduziert werden müssen?
Nein, Frau Hustedt, da stimme ich Ihnen nicht zu. Der Tagebau Garzweiler II hat zwar eine bestimmte Kapazität der Kohleförderung, aber niemand verlangt, daß in 10, 20 oder 30 Jahren diese Kapazität voll ausgeschöpft werden muß. Dieser Tagebau wird sich wie andere Tagebaue auch betreiben lassen, wenn es zu einer gleichmäßigen Einsparung von Energieträgern kommt. So wird man möglicherweise davon ausgehen, daß Garzweiler II - wie auch andere Bergbaueinrichtungen - nicht bis zum Ende mit der vollen Kapazität betrieben wird.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Zur Beantwortung der Fragen steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelia Yzer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Dr. Kiper auf:
Welche Organisationen, Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen werden von der Bundesregierung mit welcher Zielsetzung in die Beratungs- und Sondierungsgespräche zur Neuregelung der Ausbildungsförderung im Rahmen einer umfassenden Neuordnung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes einbezogen?
Bitte.
Herr Kollege Kiper, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Nach § 24 Abs. 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien können bei der Vorbereitung von Gesetzen die Vertretungen der beteiligten Fachkreise oder Verbände unterrichtet werden und Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
Bei BAföG-Änderungsgesetzen werden in der Regel neben den Obersten Landesbehörden für Ausbildungsförderung das Deutsche Studentenwerk, die Hochschulrektorenkonferenz und die kommunalen Spitzenverbände wegen ihres besonderen Bezuges zur Förderungspraxis nach dem BAföG um Stellungnahmen gebeten.
Außerdem werden BAföG-Änderungsgesetze im Beirat für Ausbildungsförderung beraten, dem nach § 44 Abs. 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes neben Vertretern der beteiligten Landes- und Gemeindebehörden sowie der Bundesanstalt für Arbeit Vertreter der Lehrkörper, der Ausbildungsstätten, der Auszubildenden, der Elternschaft, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer angehören.
Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, sind die denn einbezogen worden, und gibt es Vorstellungen bei der Bundesregierung, hier auch Banken einzubeziehen, um möglicherweise eine andere Regelung zum BAföG zu etablieren?
Die von Ihnen nachgefragte 18. Novelle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes steht noch an. Zunächst hat die Ressortabstimmung zu erfolgen. Ziel ist es dann, in dem Umfang, wie gerade von mir beschrieben, Organisationen, Institutionen und gesellschaftliche Gruppen zu beteiligen.
Ihre zweite Frage.
Ist auch vorgesehen, die Ausgleichsbank heranzuziehen und mit der Ausgleichsbank solche Sondierungsgespräche zu führen?
Die Deutsche Ausgleichsbank gehört nicht zu den von mir gerade nach § 24 Abs. 1 der Geschäftsordnung erfaßten Gruppen.
Keine weiteren Fragen.
Dann kommen wir zur Frage 48 des Abgeordneten Dr. Kiper:
Gedenkt die Bundesregierung mit ihren Plänen zur Neuregelung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, den feststellbaren Trend der sinkenden BAföG-Geförderten-Quoten umzukehren?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Kiper, Ihre Frage möchte ich wie folgt beantworten: Nach Auffassung der Bundesregierung stellt die Gefördertenquote bei der Bundesausbildungsförderung nicht einen Wert dar, der prinzipiell auf einer bestimmten Höhe zu halten ist; denn die Gefördertenquote verändert sich insbesondere mit der Veränderung der bei der Förderung anzurechnenden Einkommen und Vermögen.
Die Bundesregierung bewertet es daher durchaus positiv, wenn z. B. durch eine verbesserte wirtschaftliche Lage der Eltern der Auszubildenden die subsidiäre staatliche Förderleistung zurückgeht. Dieser Sachverhalt ist derzeit vor allem bei der Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz in den neuen Ländern zu beobachten, wo es zu überproportionalen Steigerungen gekommen ist.
Eine Neuregelung der Ausbildungsförderung würde daher nicht speziell auf die Höhe der Gefördertenquote ausgerichtet sein. Auf diese wird sich je-
Cornelia Yzer
doch die in dem vom Deutschen Bundestag am 1. Juni 1995 in zweiter und dritter Lesung verabschiedeten 17. BAföG-Änderungsgesetz vorgesehene Anhebung der Bedarfssätze, Freibeträge und Sozialpauschalen zum Herbst 1995 auswirken.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Frau Staatssekretärin, wenn es jetzt zu einer Umstellung des BAföG auf Darlehensbasis käme, würden Sie dann die Einschätzung des RCDS teilen, daß das studienabschreckend wirken würde?
Ihre Frage läßt sich schon insofern nicht beantworten, als es nicht zu einer Umstellung auf Darlehensbasis kommen könnte, weil bereits heute eine Darlehensbasis besteht. Die Hälfte der Bundesausbildungsförderung wird auf Darlehensbasis gewährt.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage? - Frau Kollegin Altmann, bitte.
Ich möchte zu dem verzinsten Darlehensanteil eine Nachfrage stellen. In der letzten Woche haben Verhandlungen darüber stattgefunden, und Verlautbarungen darüber besagten, daß dieser Darlehensanteil zu 8 % verzinst werden soll.
Frau Kollegin Altmann, es gibt in der Tat Überlegungen, wie bei der angespannten Haushaltslage in Bund und Ländern und angesichts notwendiger Prioritätensetzung die Überlast an den deutschen Hochschulen bewältigt, die Studienstrukturreform vorangebracht und die Ausbildung modernisiert werden kann, bei gleichzeitiger Senkung der Staatsfinanzierung.
Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie führt dazu Gespräche innerhalb wie außerhalb der Bundesregierung. Darin sind auch Überlegungen zur Reform der Ausbildungsförderung einbezogen. Diese Gespräche sind im Gange. Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich den Ergebnissen nicht vorgreifen kann.
Zusatzfrage vom Herrn Kollegen Berninger.
Frau Staatssekretärin, meinen Sie nicht, daß der in der Frage deutlich gewordene Rückgang der Gefördertenquote, wie auch bei den betreffenden Sachverständigenanhörungen festgestellt, eher auf eine unangemessene Anpassung der Freibeträge an die
Einkommen zurückzuführen ist und daß infolge dieser Änderung der Gefördertenquote zunehmend Familien im unteren Bereich des mittleren Einkommens durch ihre studierenden Kinder in unangemessener Weise belastet werden?
Herr Kollege, zunächst einmal ist festzustellen, daß sich auch die Bundesregierung eine frühere Anpassung gewünscht hätte. Dementsprechend war das 17. BAföG-Änderungsgesetz bereits in der letzten Legislaturperiode eingebracht worden, ist dann aber im Bundesrat gescheitert.
Die Anhörungen haben entgegen Ihrer Unterstellung nicht belegt, daß der Rückgang der Gefördertenquote auf die von Ihnen beschriebenen Umstände zurückzuführen ist. Ich war in der Anhörung selbst anwesend. Dort ist noch einmal deutlich geworden, daß Ursache für den Rückgang der Gefördertenquote in den neuen Ländern insbesondere die gestiegenen Elterneinkommen sind. Ich darf nochmals unterstreichen: Dies ist eine positive Entwicklung, so daß der Rückgang der Gefördertenquote ein positives Signal darstellt.
Zusatzfrage von Herrn Dr. Brecht.
Frau Staatssekretärin, befürchten Sie nicht, daß es bei einer Verzinsung der Darlehensanteile zu einem Abschreckungseffekt vor allen Dingen bei solchen Familien kommt, die im unteren Einkommensbereich liegen?
Herr Kollege, ich hatte schon mehrfach gesagt, daß es unterschiedliche Überlegungen gibt. Wir sind noch nicht zu einem Ergebnis gekommen, welches Modell wir angehen werden. Bei der Vielfalt möglicher Modelle bitte ich um Verständnis, daß ich hier im einzelnen eine Bewertung nicht vornehmen kann, bevor die von mir genannten Gespräche nicht zum Abschluß gekommen sind.
Zusatzfrage von Herrn Kubatschka.
Frau Staatssekretärin, plant die Bundesregierung die Einführung einer Altersgrenze bei dem sogenannten Meister-BAföG? Wäre das nicht kontraproduktiv, wenn man weiß, daß die Leute, die keinen eigenen Betrieb haben oder erben werden, meistens erst im höheren Alter in die Ausbildung gehen?
Die Bundesregierung plant keine Einführung einer Altersgrenze, Herr Kollege.
Keine weiteren Fragen.
Dann rufe ich die Frage 49 der Kollegin Elisabeth Altmann auf:
Welche Pläne und Überlegungen bestehen seitens der Bundesregierung bezüglich einer Neuregelung der Ausbildungsförderung und beim geplanten Meister-BAföG ?
Frau Kollegin Altmann, Ihre Frage möchte ich wie folgt beantworten: Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht vom 8. März 1995 im einzelnen dargestellt, welcher strukturelle Reformbedarf zur Sicherung des Systems der individuellen Ausbildungsförderung unter gewandelten Rahmenbedingungen besteht. Die Bundesregierung hat in ihrem bereits erwähnten Bericht an den Deutschen Bundestag auch ein Konzept für die Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung skizziert, welches inzwischen weiterentwickelt und in seinen Grundzügen beraten worden ist.
Danach sollen Teilnehmer an Vollzeitmaßnahmen zum Lebensunterhalt ähnliche Leistungen wie BAföG-Empfänger erhalten, und zwar eine Hälfte als Zuschuß und die andere in Form eines Bankdarlehens. Darüber hinaus ist auch für Teilnehmer an Teilzeitmaßnahmen ein Bankdarlehen zur Finanzierung der Lehrgangsgebühren vorgesehen.
Während der Fortbildung und einer anschließenden Karrenzzeit von zwei Jahren soll das Darlehen für den Empfänger zinsfrei sein. Um einen möglichst günstigen Zinssatz zu erreichen, soll das Darlehen über eine öffentliche Bank abgewickelt werden. Hierüber muß noch abschließend verhandelt werden. Zu den Konditionen kann ich zur Zeit keine abschließenden Angaben machen. Sie werden aber sicher erheblich unter den sonst am Markt üblichen Zinsen liegen.
Darüber hinaus soll nach dem Konzept Existenzgründern, die mindestens zwei Arbeitnehmer beschäftigen, die Hälfte der für die Lehrgangsgebühren gewährten Darlehenssumme erlassen werden.
Im übrigen bleibt es bei den bereits getroffenen Festlegungen. Der angestrebte Fortbildungsabschluß muß oberhalb einer Facharbeiter-, Gesellen- oder Gehilfenprüfung bzw. eines Berufsfachschulabschlusses liegen. Die Fortbildung muß mit einer öffentlich-rechtlichen Prüfung abschließen. In Vollzeitform soll die Fortbildungsmaßnahme nicht weniger als sechs Monate und nicht länger als zwei Jahre dauern. Wir halten auch weiter daran fest, daß die Leistung zum Lebensunterhalt zwar einkommensabhängig sein soll, daß aber elterliches Einkommen unberücksichtigt bleibt.
Die Bundesregierung wird jetzt die mit der Kombination von öffentlichen Leistungen und Bankdarlehen zusammenhängenden rechtlichen und organisatorischen Fragen abschließend klären und das fertige Konzept alsbald mit den Ländern und natürlich auch mit den Verbänden besprechen. Ein entsprechender
Gesetzentwurf soll so rechtzeitig auf den Weg gebracht werden, daß die Teilnehmer an Fortbildungsmaßnahmen die Leistung Anfang 1996 in Anspruch nehmen können.
Ihre Zusatzfragen.
Ich möchte noch einmal auf das verzinste Bankdarlehen zu sprechen kommen. Schon jetzt haben 11 500 ehemalige Darlehensempfänger und -empfängerinnen Schulden, die über 50 000 DM liegen. Welche Gründe veranlassen dann die Bundesregierung, jetzt über ein Modell nachzudenken, bei dem die Schulden für die ehemaligen Empfänger und Empfängerinnen noch immens ansteigen werden?
Frau Kollegin, ich kann Ihre Feststellung nicht nachvollziehen, daß für die ehemaligen Empfängerinnen und Empfänger die Schulden immens ansteigen werden. Dafür gibt es in unserer Konzeption keine Grundlage.
Sie haben noch eine Frage.
Sie haben mich absichtlich mißverstanden. Es ist klar, daß sich die Schulden für diejenigen erhöhen werden, die heute BAföG bekommen. Wenn das Darlehen zu 8 % verzinst wird, könnten 20 000 DM Schulden hinzukommen, hat man ausgerechnet.
Frau Kollegin, ich bin bereit, den ersten Teil nicht als volle Frage anzurechnen. Ich habe Sie in der Tat vielleicht mißverstanden, aber nicht absichtlich. Ich sagte gerade, daß die Konditionen derzeit noch ausgehandelt werden. Insofern unterstellen Sie einen Zinssatz, für den ich noch gar keine Aussage treffen kann. Ich kann deshalb nicht nachvollziehen, inwieweit eine Höherbelastung der ehemaligen Empfänger erfolgen sollte.
Dann noch eine Zusatzfrage zum Meister-BAföG: Denjenigen, die sich anschließend selbständig machen und mindestens zwei Arbeitsplätze schaffen, wird die Hälfte der Schulden erlassen. Warum gilt dasselbe nicht für die BAföG-Empfänger, die aus der Hochschulausbildung kommen?
Wir wollen hier ein gezieltes Signal geben, um Absolventen beruflicher Bildungsgänge zu fördern, und damit auch einen weiteren Beitrag zur
Parl. Staatssekretärin Cornelia Yzer
Stärkung der beruflichen Bildung leisten. Es ist sicherlich eine Maßnahme der konkreten Mittelstandsförderung, die wir hier angehen wollen.
Wir kommen zur Frage 50, ebenfalls von Frau Elisabeth Altmann:
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die fast 100 000 fehlenden Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern und die um 11,4 % niedrigere Zahl der Ausbildungsstellen in den alten Bundesländern aufzufangen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Altmann, Ihre Frage möchte ich wie folgt beantworten:
Die Zahlen der Berufberatungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit können derzeit naturgemäß noch kein verläßliches Bild bieten, da wir uns noch mitten im Vermittlungsjahr befinden. Sie wissen, daß nicht alle Ausbildungsplätze den Arbeitsämtern gemeldet werden und andererseits nicht alle gemeldeten Bewerber vorrangig einen betrieblichen Ausbildungsplatz suchen oder sich sofort abmelden, wenn sie einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Insofern sind die Zahlen der Berufsberatungsstatistik nur begrenzt in der Lage, ein Bild zu zeichnen, haben aber sicherlich Indikatorenfunktion.
Insofern möchte ich darauf verweisen, daß im Westen nach der Berufsberatungsstatistik Ende Mai 1995 ein Stellenüberhang besteht. Die Bundesregierung geht deshalb davon aus, daß in den alten Ländern insgesamt eine ausgeglichene Ausbildungsstellenbilanz erreicht wird.
In den neuen Ländern werden 1995 rund 130 000 betriebliche Ausbildungsplätze benötigt. Das sind rund 57 000 Plätze mehr als die bis Ende Mai von den Betrieben bei den Arbeitsämtern gemeldeten rund 73 000 betrieblichen Ausbildungsangebote.
Wie Sie wissen, hat am 14. Juni 1995 die Wirtschaft beim Bundeskanzler ihre Zusage bekräftigt, 1995 eine Trendumkehr beim Angebot an neuen Ausbildungsstellen herbeizuführen. Die angelaufenen Aktivitäten der „Aktion Plus" beginnen zu greifen. Handwerk sowie Industrie und Handel haben vor allem für die neuen Lander zweistellige Zuwachsraten bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen gemeldet.
Die Zusage, das Ausbildungsplatzangebot im öffentlichen Dienst wieder zu steigern, wird ebenfalls eingelöst werden. Die privatisierten Betriebe von Bahn und Post haben ferner ihre ursprünglichen Ausbildungsplanungen nachhaltig nach oben korrigiert.
Diese Aktivitäten können in der aktuellen Berufsberatungsstatistik natürlich noch keinen nachhaltigen Niederschlag gefunden haben. Sie werden nach Einschätzung der Bundesregierung bis Ende September 1995 zu rund 115 000 neuen Ausbildungsplätzen in den neuen Ländern führen. Dies reicht in der Tat noch nicht aus, um in den neuen Ländern das Ziel von 130 000 Ausbildungsplätzen zu erreichen. Deshalb müssen die Aktivitäten der „Aktion Plus" fortgeführt und verstärkt werden.
Bund und Länder werden dies mit ihren Förderprogrammen und Fördermaßnahmen flankieren. So ist mit den Ländern vereinbart, daß sie ihre Betriebsförderprogramme fortsetzen und dabei die Förderung von Ausbildungsverbünden verstärken. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie wird darüber hinaus 150 Ausbildungsplatzentwickler einsetzen, die noch im Juli ihre Arbeit aufnehmen werden.
Für die BMBF-Förderung der überbetrieblichen Bildungsstätten gilt weiterhin der Vorrang für die neuen Länder. Schließlich wird der Bund alle Regelungen, die ausbildungshemmende Wirkung haben könnten, in den neuen Ländern noch nicht in Kraft setzen.
In der Kanzlerrunde mit Wirtschaft und Gewerkschaften am 14. Juni 1995 ist vereinbart worden, am 21. September 1995 erneut die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt zu erörtern.
Das war so ausführlich, daß ich mir kaum vorstellen kann, daß Sie noch Zusatzfragen haben. Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte.
Vor einem halben Jahr gab die Wirtschaft schon einmal die Zusage, jedem Ausbildungsplatzsuchenden auch einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen. Dies wurde jedoch nicht geleistet. Jetzt frage ich Sie: Warum ist die Bundesregierung so optimistisch, daß die Wirtschaft diesmal ihre Zusage einhalten wird?
Sie wissen, daß die Ausbildungsplatzgarantie, die von der Wirtschaft im Frühjahr im Kanzlergespräch gegeben wurde, nochmals bekräftigt worden ist, und zwar, nachdem die Wirtschaft in der ersten Phase mit der Mobilisierung von Ausbildungsplatzkapazitäten in den Betrieben begonnen hat. Hier sind - wie ich ausführlich dargelegt habe - positive Ansätze erkennbar. Wir gehen davon aus, daß dies fortgesetzt wird und die Wirtschaft ihre Zusage einhalten kann. Die Wirtschaft sagt nunmehr auch nach einigen Wochen von selbst, daß sie die Zusage, die damals im Kanzlergespräch gegeben wurde, einhalten kann. Sie hat die ersten Überprüfungen vorgenommen.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage? - Bitte.
Die großen Unternehmen entziehen sich zunehmend der Ausbildungspflicht. Wie steht die Bundesregierung zu einer Ausbildungsplatzab-
Elisabeth Altmann
gabe bei mangelndem Ausbildungswillen von großen Firmen?
Eine Ausbildungsplatzabgabe ist aus Sicht der Bundesregierung kein Weg, um Ausbildungskapazitäten in den Betrieben zu mobilisieren. Sie ist ein bürokratisches Verfahren, das eher Initiative hemmt denn fördert. Die Unternehmen, die bislang nicht in ausreichendem Maße ausbilden - Großunternehmen sind leider nicht in erforderlichem Umfang an der Ausbildung in Deutschland beteiligt -, werden von uns in öffentlichen Appellen immer wieder aufgefordert, ihre Ausbildungskapazitäten zu mobilisieren. Die Zusage der Wirtschaft in der Kanzlerrunde bezieht sich auch gerade darauf, die Aktivitäten auf breiter Ebene, also in Betrieben aller Größenordnungen, zu fördern.
Eine Zusatzfrage von Dr. Brecht.
Frau Staatssekretärin, glauben Sie angesichts der Tendenz, die wir in den letzten drei bis vier Jahren bei der Ausbildungssituation zu verzeichnen haben, daß das duale System der Ausbildung in dieser Form erhalten werden kann, wenn Sie gleichzeitig eine Ausbildungsplatzabgabe ablehnen?
Das duale System der beruflichen Bildung hat sich bewährt. Wir werden von vielen aus dem Ausland um das duale System in Deutschland beneidet. Es ist zum Teil sogar inzwischen zum Exportschlager geworden. Das heißt für mich auch, daß das duale System, weil es die Qualifikation von Jugendlichen am besten sicherstellt, das System ist, das wir in Zukunft gewährleisten müssen. Ich werde die Wirtschaft aus der Verantwortung, die sie für die berufliche Bildung im Rahmen des dualen Systems trägt, nicht entlassen.
Ich lasse nur noch die Zusatzfrage von Herrn Berninger zu, weil wir am Ende der Fragestunde sind; die Zeit ist abgelaufen. Da Herr Berninger dadurch mit seinen Fragen durch den Rost fällt, erteile ich ihm das Wort zu einer Zusatzfrage.
Bitte schön.
Sie sprachen von dem Ziel, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Ausbildungssuchenden und angebotenen Ausbildungsplätzen zu erreichen. Sie wissen aber, daß die Bundesanstalt für Arbeit darauf hinweist, daß die Zahl der Arbeitsamtsbezirke, in denen eine Unterdeckung an Ausbildungsplätzen vorhanden ist, stetig wächst.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, wie Sie die dann nötige Abwanderung von jungen
Ausbildungssuchenden in die Regionen, in denen zumindest rein statistisch ein Ausbildungsplatzüberhang besteht, beurteilen und inwieweit Sie den wachsenden Trend dieser Abwanderung junger Menschen durch flankierende Maßnahmen stützen bzw. unterstützen wollen.
Ich gebe Ihnen recht: Obwohl das Ausbildungsplatzangebot im Westen ausgeglichen ist, wird das Verhältnis von Nachfrage und Angebot immer enger. Das heißt: Es wird sowohl regional als auch mit Blick auf die Auswahl, die dem einzelnen Jugendlichen zur Verfügung steht, Probleme geben.
Die Ausbildungsgarantie der Wirtschaft bezieht sich auch auf die alten Länder. Insofern muß meiner Meinung nach in allen Regionen versucht werden, noch einmal Aktivitäten zu entfalten, um zusätzliche Ausbildungsplätze zu mobilisieren.
Zum Stichwort „Mobilität". Die Bewegung, die Sie hier unterstellt haben, sehe ich nicht. Es gibt sicherlich Jugendliche, die zur Ausbildung in andere Regionen gehen. Im großen und ganzen aber sehe ich nicht den Mobilitätsschub, den Sie hier unterstellen. Das liegt auch immer in der Entscheidung des einzelnen Jugendlichen. Ich würde Mobilität bei Auszubildenden nicht grundsätzlich als negativ bewerten. Das kommt sicherlich auf die Lebenssituation des einzelnen Auszubildenden und vor allen Dingen auch auf sein Alter an.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Wir sind am Ende der Fragestunde, die ich hiermit schließe.
Ich verlese das Protokoll der Nachwahl eines Mitglieds der Parlamentarischen Kontrollkommission. Abgegebene Stimmen: 592. Ungültige Stimmen: 2. Mit Ja haben gestimmt: 512 Abgeordnete.
Mit Nein haben gestimmt: 54 Abgeordnete. 24 Abgeordnete haben sich enthalten. - Der Abgeordnete Dr. Willfried Penner hat damit die erforderliche Mehrheit erreicht und ist als Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission gewählt.*)
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Gruppe der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Entscheidung Frankreichs für die Wiederaufnahme von Atomtests
Ich gebe dem Abgeordneten Graf von Einsiedel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die
S) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Heinrich Graf von Einsiedel
französische Regierung hat mit ihrem Beschluß, weitere Atombomben im Pazifik zu zünden, ein eindeutiges Signal gesetzt. Sie hat alle Bemühungen um weltweite Atomabrüstung in Frage gestellt.
Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt. Es ist vielleicht unser Versäumnis, daß bereits über Entschließungsanträge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD, die wir inhaltlich voll unterstützen, abgestimmt worden ist. Sie sind von der Regierungskoalition leider Gottes abgelehnt worden.
Der französische Botschafter in der Bundesrepublik hat in einer Reaktion auf den Antrag der PDS auf eine Aktuelle Stunde in einem Schreiben an den Vorsitzenden Gregor Gysi versucht, diesen Beschluß seiner Regierung zu rechtfertigen.
Der Inhalt dieses Schreibens ist allerdings außerordentlich widersprüchlich.
Einerseits wird mit einer Art - ich benutze einen Ausdruck der „FAZ" - Ingenieurs-Logik argumentiert, daß, bis ein Abkommen über ein internationales Verbot der Atomwaffentests ausgehandelt ist, die französischen Computer noch mit möglichst vielen Daten gefüttert werden müssen, um auch nach einem solchen Verbot die französischen Atomwaffen mittels der Simulationstechnik vor „Veralterung" zu bewahren.
Andererseits heißt es in dem Schreiben, es sei keinesfalls beabsichtigt, das bestehende französische Potential zu erweitern. Wer soll das glauben? Das widerspricht sich doch völlig. In Wahrheit heißt es doch, daß diese Tests gemacht werden. Man will Vorbedingungen schaffen, um ein internationales Verbot von Tests später ungestört unterlaufen zu können.
Der Botschafter geht in seinem Schreiben an uns auch mit keinem Wort auf den erschreckenden Umstand ein, daß der Beschluß seiner Regierung im nationalen Alleingang getroffen worden ist. Er hält es offenbar für völlig normal, beruft sich dabei auf de Gaulle, der schon Anfang der 60er Jahre Frankreich ein atomares Abschreckungsinstrument in die Hand gegeben habe. Das sei schon damals im In- und Ausland kritisiert worden. Die meisten Kritiker von damals seien aber heute froh, daß sich seine Entscheidung durchgesetzt hat. Heute stünde eine breite Mehrheit der Öffentlichkeit hinter der französischen Abschreckungspolitik.
Ich vermag nicht zu beurteilen - und wir alle vermögen es vielleicht nicht zu beurteilen -, ob in Frankreich tatsächlich eine breite Mehrheit der Öffentlichkeit hinter diesem nationalen Alleingang steht. Die Weltöffentlichkeit tut es mit Sicherheit nicht, und dafür gibt es Gewißheit.
Man könnte nun meinen, es sei allein das Problem Frankreichs. Wir bestreiten das aber nachdrücklich und bekräftigen die in dem Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN getroffene Feststellung:
Die Zündung von Atombomben durch ein Mitgliedsland der Europäischen Union in einer
18 000 km von Europa entfernten atomwaffenfreien Zone stellt eine außenpolitische Provokation und einen Akt großmachtpolitischer Arroganz dar.
Man kann der gesamten Begründung, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ihren Entschließungsantrag gegeben hat, nichts Besseres und Genaueres hinzufügen. Die Testreihe ist eben keineswegs allein eine nationale Angelegenheit Frankreichs. Sie kompromittiert alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sofern sie nicht dagegen protestieren. Nicht nur die Bundesrepublik, sondern die gesamte Europäische Union ist aufgerufen, der französischen Regierung begreiflich zu machen, daß die Zeit nationalistischer, gaullistischer Alleingänge vorbei ist.
Die Hauptaufgabe heutiger Sicherheitspolitik müßte doch die vorbeugende Konfliktvermeidung sein. Der französische Alleingang ist aber gerade dazu geeignet, Interessenkonflikte zwischen den Nuklearmächten und den nuklearen Habenichtsen zu verschärfen.
Ich zitiere wiederum die „FAZ":
Wenn jetzt, wenige Tage nach der französischen Ankündigung neuer Tests in der Südsee,, auch das Pentagon laut darüber nachdenkt, unterirdische Atomversuche ... wiederaufzunehmen, dann wirkt solche ungeschminkt zur Schau gestellte Arroganz demütigend.
- Auf diese Habenichtse. -
Die Atommächte höhlen den Sperrvertrag aus, wenn sie ihn als Freibrief für die Perfektionierung ihrer Arsenale interpretieren.
Wozu in aller Welt sollen denn die vor Veralterung bewahrten, also ständig modernisierten Atomwaffen einer neuen Generation eingesetzt werden? Wer könnte es denn wagen, in einem der zahlreichen Kriegs- und Krisentheater dieser Welt sein nukleares Potential auch nur als Drohung ins Spiel zu bringen?
Wir behaupten, daß es keinen Wert in dieser Welt gibt, der noch mit Atomwaffen verteidigt werden könnte; denn man kann vieles verlieren, was man wiedergewinnen kann, z. B. die sogenannte nationale Souveränität. Nur das Leben kann man nicht wiedergewinnen. Ein Atomkrieg aber würde das Leben der gesamten Menschheit in Frage stellen. Nach einem Atomkrieg gibt es nichts mehr, was zu verteidigen wäre, was wiedergewonnen werden könnte.
Herr Einsiedel, Sie müssen zum Schluß kommen.
Einen letzten Satz. - Wir sind die Letzten, die die deutsch-französische Freundschaft in Frage stellen wollen. Aber - das wurde heute schon einmal gesagt - es gibt eben auch eine Feigheit vor dem Freund. Gerade dem Freund muß man entgegentreten, wenn er sich auf einen Irrweg begibt.
Heinrich Graf von Einsiedel
Wir fordern die Bundesregierung auf, auf den Freund einzuwirken, den Beschluß zur Wiederaufnahme der Atomtests zu revidieren.
Danke.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freundschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft von Freiheit und Frieden in Europa. Das ist ein Wert an sich, und zwar ein sehr wichtiger, weil ohne die Franzosen in Europa nichts gehen wird, vor allen Dingen keine Fortschritte in Richtung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb ist es richtig, daß sich die Bundesregierung trotz der Kritik, wie Sie sie, Herr Schäfer, in der Zeitung „Die Woche" heute geäußert haben, zurückhält. Wir müssen die Entscheidungen unserer französischen Freunde respektieren, auch ertragen. Genauso wird Frankreich auch unsere kritischen Anmerkungen respektieren und ertragen.
Unter Freunden muß es möglich sein, Enttäuschung zu äußern und auch zu kritisieren. Aber unsere französischen Freunde haben ein Recht darauf, daß man sich nicht nur empört abwendet, sondern daß man auch zuhört und ihre Argumente abwägt.
Paris erklärt, mit der Testserie die Sicherheit und Verläßlichkeit seiner Nuklearwaffen gewährleisten zu wollen, der Veralterung der Waffen vorzubeugen und die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß zukünftig nur durch Simulation und ohne Tests die Glaubwürdigkeit der Abschreckung gewährleistet wird.
Das sind plausible Gründe, die wir ernst nehmen sollten.
Es gibt allerdings auch Gründe, die dagegen sprechen. Auch diese will ich nennen.
Erstens. Vergangenen Monat hat in New York die Staatengemeinschaft einmütig den Atomwaffensperrvertrag unbefristet verlängert. Viele Länder haben das widerstrebend getan. Grundlage der Zustimmung dieser Länder war die Verabschiedung einer Prinzipienerklärung, in der es in Punkt 4 heißt: „Das Erreichen der folgenden Maßnahme ist wichtig: Der Abschluß der Verhandlungen über einen weltweiten und überprüfbaren Teststoppvertrag, nicht später als 1996. Bis dieser Vertrag in Kraft tritt, sollen die Kernwaffenstaaten äußerste Zurückhaltung üben." Auch Frankreich hat in New York unterzeichnet. Man
kann zu Recht fragen: Sind die acht, neun Tests äußerste Zurückhaltung? Muß die französische Entscheidung nicht als ein Vertrauensbruch aufgefaßt werden?
Zweitens. Nukleare Schwellenländer könnten die französische Entscheidung als Alibi für ihre Versuche zur geheimen Entwicklung eigener Atomwaffen mißbrauchen.
Drittens. Es gibt auch schwerwiegende ökologische Bedenken. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges weisen darauf hin, daß mehr als 20 kg Plutonium 239 auf dem Grund der Lagune des Mururoa-Atolls liegen. Spaltmaterial sikkert in die Biosphäre, gelöstes Plutonium kann aus der Lagune in das Meer und damit in die Nahrungskette gelangen.
Die Organisation Greenpeace behauptet, daß der französische Vizeadmiral Thieraut am 28. März 1988 erklärt habe, daß das Mururoa-Atoll auf Grund der Nuklearversuche auseinanderzubrechen drohe. Ich kann nicht beurteilen, ob Herr Thieraut das wirklich gesagt hat und ob das stimmt. Aber sollte nur ein Hauch von Wahrheit daran sein, dann darf man dort nicht testen. Ich hoffe, daß die französische Regierung recht hat, wenn sie sagt, daß sie sich genau informiert hat, genaue Untersuchungen angestellt hat und daß vom Testen keine Umweltgefahren ausgehen.
Aber ist nicht die Frage des neuseeländischen Ministerpräsidenten verständlich, der gesagt hat: Wenn die Versuche tatsächlich so ungefährlich sind, warum werden sie dann ausgerechnet auf unserer Seite der Erdkugel und nicht in der Nähe von Frankreich durchgeführt?
Es gibt Kritik. Diese Bedenken tragen wir vor und äußern sie vor allen Dingen intern gegenüber unseren französischen Freunden. Es ist aber wirklich kontraproduktiv - Herr Kollege Erler, bei aller Wertschätzung, die ich sonst für Sie habe - und nicht erträglich, wenn Sie den französischen Präsidenten in einer Erklärung vom 14. Juni als „ postkolonialen Atombösewicht" bezeichnen. Das ist wirklich kein Umgang unter Freunden. Das schadet auch der Sache, weil es nicht dazu führt, daß die Franzosen umdenken, son-dem dazu, daß wir ein wichtiges Gut, nämlich die deutsch-französischen Beziehungen, beschädigen und Chirac in die Ecke drängen. Der Kollege Duve hat sich in dieser Frage weitaus klüger und moderater geäußert.
Ich möchte ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen. Es gibt viel Aggression auf der Welt. In Europa erleben wir jeden Tag Terror und Menschenvernichtung. Was geschieht eigentlich? Es sind Schrekkensszenarien, aber nicht unmögliche Szenarien, wenn wir uns vorstellen, daß eines Tages irgendein Karadžić über Atomwaffen verfügt, Libyen Nuklear-
Dr. Friedbert Pflüger
raketen besitzt oder ein Schirinowski das gewaltige Arsenal von Massenvernichtungswaffen in Rußland in die Hand bekommt. Vielleicht sind wir noch einmal dankbar dafür, daß es auch eine französische nukleare Abschreckung gibt.
Ich kritisiere die neuen Atomversuche, aber ich fürchte mich noch mehr vor neuen Aggressionsversuchen. Deshalb bleibt neben dem Nuklearschirm Amerikas auch die Funktionsfähigkeit britischer und französischer Nuklearwaffen in unserem Interesse.
Herr Kollege, Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluß.
Wir haben zur Kenntnis genommen, daß der neue französische Außenminister Hervé de Charette erklärt hat: „Im Moment ist die französische Abschrekkung national; in der Zukunft wird die Verteidigung Europas Sache der Europäer sein. Wir müssen diesbezüglich sehr offen sein. "
Es gibt eine europäische Komponente der französischen Nuklearwaffen. Das müssen wir nutzen und mit den Franzosen darüber sprechen. Wir müssen vor allen Dingen mit Frankreich darauf hinwirken, daß es 1996 wirklich einen umfassenden Teststopp gibt. Die französische Regierung hat deutlich erklärt, daß sie das will.
Arbeiten wir nun mit den Franzosen gemeinsam an der Erreichung dieses Ziels und stellen sie nicht mit solchen Äußerungen in die Ecke!
Das Wort hat der Kollege Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Pflüger, ich bin ein bißchen enttäuscht über Ihre Ausführungen, denn wir beide waren gemeinsam im Mai auf der New Yorker Konferenz über die unbegrenzte Verlängerung des Nichtweiterverbreitungsvertrages.
Wir beide wissen sehr genau, wie schwierig es war, 176 Länder davon zu überzeugen, dieses Regime zu verlängern. Auch die Bundesregierung hat - das habe ich mehrfach gesagt - im Vorfeld erhebliche Anstrengungen unternommen. Sie selbst haben ja hier zitiert, was dort in der Konsensresolution am 11. Mai beschlossen wurde, nämlich, daß sich die
Nuklearwaffenstaaten äußerste Zurückhaltung -„utmost restraint" - auferlegen, d. h., wenn es um die Fortsetzung des Atomteststopps geht, auf weitere Atomwaffenversuche verzichten sollen.
Das ist ein Teil der Zustimmung dieser 176 Staaten zum Atomwaffensperrvertrag. Deswegen ist es mehr als bedauerlich, es ist eine politische Katastrophe, daß vier Tage nach diesem 11. Mai die Chinesen als erste einen unterirdischen Atomwaffenversuch, den 42. in ihrer Geschichte, in Lop Nor gezündet und dabei die Weltöffentlichkeit mit der Mitteilung erfreut haben, daß sie dies auf keinen Fall gegen den wichtigen New Yorker Vertrag tun und gleichzeitig das Ziel eines allgemeinen Atomteststopps unterstützen.
Ich finde es noch schlimmer, wenn am 13. Juni der neue französische Präsident gleich acht zusätzliche neue Atomversuche ankündigt, übrigens den 193. bis 200. der französischen Nation, und dies ebenso wie die Chinesen mit der Versicherung verbindet, das richte sich auf keinen Fall gegen den Atomwaffensperrvertrag; natürlich bleibe das Ziel, 1996 den allgemeinen Test-Ban zu erreichen, erhalten.
Entschuldigung, die Überzeugungskraft dieser Argumente erinnert mich wirklich an einen Alkoholiker, der aus dem Delirium heraus seine Leidenschaft für die Abstinenz bekundet. Das ist schon vom Stil her eine Unmöglichkeit.
Wenn es nur eine Stilfrage wäre, bräuchten wir uns darüber hier nicht zu unterhalten. Es ist aber eine politische Katastrophe insofern, als es natürlich die ganze Abrüstungspolitik jetzt ins Rutschen gebracht hat. Schon gibt es - allerdings dementierte - Informationen darüber, daß auch die Amerikaner überlegen, ob sie in dieser Situation neue Atomtests machen wollen. Die Russen beeilen sich, zu erklären, wenn das der Fall sein sollte, müßten auch sie neue Atomtests machen. Das heißt, das chinesische und französische Vorgehen stellt das ganze Ziel, innerhalb der nächsten Monate wirklich zu einem allgemeinen Teststopp zu kommen, in Frage.
Was aber noch schlimmer ist: Das Ziel des Atomwaffensperrvertrages beruht auf dem Vertrauen der 176 Länder, beruht darauf, daß sie auf die fünf Atommächte vertraut haben, daß sie ihre Privilegien nicht weiter egoistisch für sich selber nutzen, sondern daß sie letztlich aus der Privilegiertheit aussteigen. Dieses Vertrauen ist natürlich jetzt, wo die Atomtests so kurz nach dem großen Erfolg von New York gemacht werden sollen, schwer erschüttert.
Da frage ich mich natürlich: Was tut eigentlich die Bundesregierung in dieser Situation? Ist es richtig, nur so ausgewogen, wie Sie, Herr Kollege Pflüger, zu reagieren? Komischerweise hat das Auswärtige Amt am 15. Mai - wir haben die Bundesregierung aufgefordert, zu den chinesischen Atomtests etwas zu sagen - eine Erklärung abgegeben. Ich darf daraus zitieren:
Der heutige Kernwaffentest der Volksrepublik
China läßt sich nur schwer mit dem Geist der
Gernot Erler
soeben erfolgreich abgeschlossenen Verlängerungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag vereinbaren.
Dann kommt wieder der Hinweis auf die Verpflichtung, äußerst zurückhaltend zu sein.
Nicht einmal eine solche - ehrlich gesagt: eher lahme - Erklärung wie zu den chinesischen Tests liegt jetzt gegenüber Frankreich vor, nicht einmal das.
- Nein, ich glaube, das ist nicht möglich. Die Franzosen wissen selber, was diese Politik bedeutet.
Haben nicht die Demonstranten von Paris von gestern recht, die - das ist nämlich der Hintergrund des Zitats, das Sie gebracht haben - ihren eigenen Präsidenten fragen - ich zitiere eine Aufschrift auf einem Plakat -: „Wenn deine" - damit ist Chirac gemeint - „Versuche risikolos sind, mach sie doch in Paris!"? Warum werden sie denn nicht in Frankreich gemacht? Es gibt tatsächlich einen interessanten Unterschied zwischen China und Frankreich: Die Chinesen machen ihre unterirdischen Tests wenigstens auf chinesischem Boden, und die Franzosen gehen nach Polynesien,
dorthin, wo niemand sie daran hindern kann und wo sie behaupten können, es sei risikolos, ohne daß man es beweisen kann, wodurch die Leute ohne Gegenwehrmöglichkeit daran gehindert werden, dagegen Protest zu erheben.
Sie müssen zum Schluß kommen, Herr Kollege.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Wir dürfen nicht nur irgendwie abgewogen reagieren, sondern wir müssen versuchen, diese acht Atomtests zu verhindern. Das muß das Ziel der deutschen Politik sein.
Das muß aus der deutsch-französischen Freundschaft heraus kommen, denn diese acht Versuche gefährden den weiteren Fortgang der Abrüstung. Sie bedrohen die internationale Politik. Sie sind auch nicht im Sinne von Frankreich, das sich bisher eigentlich immer für das Ziel der atomaren Abrüstung mit ausgesprochen hat.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ludger Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrhundertelang galt Frankreich als eines der Länder, die im Zivilisationsprozeß der Menschheit führend waren. Das war auch das Selbstbild. Diesem Selbstbild hat Frankreich sehr, sehr oft entsprochen.
Eine der letzten Situationen, in denen Frankreich diesem Selbstbild entsprochen hat, war das Jahr 1992, als der Präsident Mitterrand - durchaus auch auf Druck der internationalen Öffentlichkeit - von sich aus den Atomteststopp erklärt hat und damit eine Dynamik in Gang gesetzt hat, die dann auch die anderen Atommächte veranlaßt hat, den Atomteststopp auszusprechen. Heute stellen wir fest: Der Zivilisationsprozeß liegt nicht auf seiten der französischen Regierung, sondern er wird von den Demonstrantinnen und Demonstranten in Paris getragen, die gegen diese regierungsamtliche Atompolitik vorgehen.
Mit dieser Politik verspielt Frankreich nicht nur das Prestige, das es als zivilisatorische Kraft aufgebaut hat, sondern dies ist eine Politik, die gegen wesentliche Standards gerichtet ist, die sich in den letzten Jahrzehnten in der internationalen Diskussion zunehmend durchgesetzt haben. Letztlich ist dies eine Politik gegen die atomare Abrüstung, eine Politik gegen die Menschen, die in den Testzonen wohnen, eine Politik gegen die Natur, eine Politik gegen den Nichtverbreitungsvertrag, eine Politik gegen die strategische Abrüstung und eine Politik gegen die europäische Einigung.
Ich frage Sie, Herr Pflüger: Machen sich die Europäer nicht mitschuldig, wenn sie sich weigern, sich von dem französischen Fehlweg zu distanzieren, wo es doch zunehmend darum geht, eine gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln?
Machen sie sich nicht mitschuldig in den Augen der Nichtatomstaaten der Welt? Sagen sie nicht zu Recht: Wenn sich Deutschland, wenn sich Italien, wenn sich England, wenn sich die anderen nicht von Frankreich distanzieren, dann fällt der Makel, den sich Frankreich eingehandelt hat, auf ganz Westeuropa? Das wäre das Schlimmste angesichts einer Situation, in der sich gerade Westeuropa anheischig gemacht hat, mit die Führung in der atomaren Abrüstung zu übernehmen und im Verhältnis zu den Staaten wie China, deren Wille zur atomaren Abrüstung völlig zu Recht immer wieder angezweifelt werden kann, als leuchtendes Beispiel dazustehen.
Ich glaube, daß Frankreich mit diesem Akt der nationalen Selbstbehauptung - um nicht zu sagen: des nationalen Größenwahns - die hoffnungsvollen Ansätze, die es nach dem Ende des Kalten Krieges nun gibt, zunichte macht: mit einer Politik, die sich gegen die Menschen in den betroffenen Gebieten wendet,
Ludger Volmer
die seit Jahren unter zunehmenden Krebserkrankungen leiden, die seit Jahrzehnten mutwillig dem Fallout ausgesetzt und über die gesundheitlichen Schäden in Unkenntnis gelassen wurden. Das sind doch Themen, die man nicht langer verdrängen kann.
Das ist eine Politik - ich beantworte die Frage, die Sie gestellt haben, Herr Pflüger -, die darauf hinausläuft, das Mururoa-Atoll völlig zu zerbomben, mit der Gefahr, daß die radioaktiven Stoffe freigesetzt werden und sich über die Strömung im gesamten Südpazifik verteilen. Es könnte passieren, daß die südliche Halbkugel unbewohnbar wird, weil die Meere durch die atomaren Tests völlig verseucht werden.
Das ist eine Politik, die letztlich gegen den Nichtverbreitungsvertrag gerichtet ist. Die Nichtatomwaffenländer müssen dieses Manöver der Franzosen in dem Sinne empfinden, daß die Europäer bei den Verhandlungen über die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages in New York nur eine globale Rolltäuschung betrieben haben. Man hat den Ländern der Dritten Welt gesagt: Wir werden atomar abrüsten. Das Zusatzprotokoll war das entscheidende Argument. Gegen das Zusatzprotokoll, zumindest gegen seinen Geist, verstößt nun Frankreich ganz manifest.
Auch Rußland muß sich brüskiert fühlen. Jeder, der fordert, daß die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Rußland über die strategischen Waffen intensiviert werden sollen, und insbesondere Rußland in die Pflicht nehmen will, muß den Russen nun zugestehen, daß ihr Argument, die westeuropäischen Atomwaffen seien immer als eigene Kategorie zu sehen, durchaus berechtigt ist. In den letzten Jahren hätte man sagen können: Die westeuropäischen Atomwaffen sind politisch unwichtiger geworden, also blenden wir sie aus den Abrüstungsverhandlungen über die strategischen Waffen aus. Dieses entscheidende Argument ist nun weg. Damit wird der gesamte Prozeß der Abrüstung der strategischen Waffen zunächst für einige Jahre zunichte gemacht.
Wenn ich daran denke, daß die Bundesrepublik in einigen Jahren mit Frankreich und anderen zusammen im Rahmen der Westeuropäischen Union gemeinsame Stäbe bilden wird, die letztlich auch über die atomaren Mittel Westeuropas verfügen werden, dann wird mir wirklich schlecht.
Ich kann Sie nur auffordern: Protestieren Sie, distanzieren Sie sich von dieser französischen Politik!
Distanzieren Sie sich von einem Gaullismus, der sich als Eurogaullismus begreift! Distanzieren Sie sich von der offiziellen Begründung der französischen Regierung für diese Atomtests! Denn die französische Regierung hat offiziell verlautbaren lassen -
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist zu Ende.
- ich komme zum Schluß -, daß diese atomaren Tests im Interesse aller europäischen Staaten seien. Ich denke, es ist die Pflicht aller europäischen Staaten, die atomare Ambition Frankreichs im Sinne Gesamteuropas zurückzuweisen.
Herr Kollege, wenn ich sage, Sie müssen zum Schluß kommen, dann müssen Sie dies auch tun.
Wir lehnen diesen atomaren Eurogaullismus ab.
Meine Herren Kollegen, ich habe jetzt alle die Redezeit erheblich überziehen lassen. Wir kommen nun etwas aus dem Ruder. Ich bitte Sie wirklich, sich an die Redezeiten zu halten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Olaf Feldmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die F.D.P. darf ich feststellen: Die beabsichtigte Wiederaufnahme von Atomtests durch Frankreich ist ein schwerer Rückschlag für die nukleare Abrüstung.
Auch die weltweiten Bemühungen, die nukleare Proliferation zu begrenzen, werden dadurch gefährdet. Das ohnehin begrenzte Vertrauen der Nichtnuklearmächte in die Abrüstungsbereitschaft der Atommächte wird nachhaltig gefährdet. Frankreich bestätigt den Verdacht - es tut mir leid, das sagen zu müssen -, das Atomtestmoratorium sei nur ein taktischer Schachzug zur Durchsetzung der NVV-Verlängerung gewesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht doch nicht an, von der Mehrheit der Staaten den Verzicht auf Atomwaffen zu verlangen und gleichzeitig die eigenen Nuklearwaffen zu perfektionieren.
Frankreich geht hier mit schlechtem Beispiel voran, voran in die falsche Richtung.
Die weltweite Empörung, vor allem der Südpazifikstaaten, ist berechtigt. Wenn Atomwaffentests wirklich so harmlos wären, wie die französische Regierung behauptet, dann ist doch der Vorschlag gar nicht so schlecht, diese Versuche im dünnbesiedelten
Dr. Olaf Feldmann
Massif Central, in Frankreich selbst, durchzuführen. Mit neuen Atomtests würde sich Frankreich auf eine Stufe mit China stellen, das als einzige Atommacht noch Nukleartests durchführt.
Wir begrüßen ausdrücklich, daß die USA und Rußland am Moratorium festhalten. Das haben sie mehrfach erklärt.
Meine Damen und Herren, unser Ziel bleibt ein für alle verbindlicher nuklearer Teststopp. Die bloße Absichtserklärung Frankreichs, einem späteren Teststoppabkommen beizutreten, genügt nicht.
Frankreich als Atommacht mit seinem Geltungsanspruch als Grande Nation muß auch einer besonderen Verantwortung gerecht werden.
Chiracs Alleingang verstößt gegen den Geist der europäischen Partnerschaft und schädigt auch die Bemühungen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
- Ich weiß ja nicht, Herr Kollege, was Sie unter gemeinsamer europäischer Sicherheitspolitik verstehen. Ich meine, Frankreichs Vorgehen schädigt die Bemühungen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die sich noch in einem zarten Keimstadium befindet.
Während sich die europäische Mehrheit um die Fortentwicklung der GASP bemüht, fällt Frankreich zurück in eine Renationalisierung der Sicherheitspolitik. Dies ist ein falsches Signal vor und für Maastricht II. Es belastet auch die deutsch-französische Freundschaft.
Die F.D.P. begrüßt, daß Außenminister Kinkel die ablehnende Haltung der Bundesregierung zu den Atomtestplänen in Paris deutlich gemacht hat.
Der Außenminister hat zu diesem Punkt in der Parlamentarischen Versammlung der WEU, aber auch im Quai d'Orsay deutlich Stellung genommen. Auch wenn dies eine nationale Angelegenheit Frankreichs ist: Es ist vor allem ein rücksichtsloser nationaler Alleingang.
Ich will das in dieser Deutlichkeit feststellen.
Niemand bestreitet Frankreich das Recht auf eine eigene nukleare Abschreckung. Viel besser wäre es allerdings, wenn Frankreich endlich auch den Einstieg in die nukleare Abrüstung finden könnte. Im übrigen ist ein Funktionstest, wie er hier gemacht werden soll, heute auch ohne Nuklearexplosionen möglich.
Die F.D.P. appelliert an Staatspräsident Chirac, seine Haltung zu überdenken. Der technische Nutzen steht in keiner vertretbaren Relation zu dem politischen Schaden für Frankreich, für Europa und auch für die Welt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Staatsminister Helmut Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp drei Monaten verabschiedete der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit eine interfraktionelle Entschließung, die den großen Konsens in nichtverbreitungs- und abrüstungspolitischen Fragen in diesem Hause deutlich gemacht hat. In der Aussprache dazu am 30. März hatte ich das Vergnügen, noch einmal auf die Bedeutung hinzuweisen, die einer langfristigen Sicherung des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages als verläßlicher Basis für die Weiterführung des nuklearen Abrüstungsprozesses, für die Durchsetzung eines weltweiten nuklearen Teststopps und für das Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke zukommt. Schon in der Bundestagsdebatte einen Monat früher, am 16. Februar, hat sich der Bundesaußenminister mit allem Nachdruck für diese Ziele eingesetzt.
Nun wurde am 12. Mai die Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages in New York beendet. Die dort anwesenden Vertreter von 174 Staaten haben dessen unbefristete Verlängerung beschlossen und ihm damit den Charakter einer universellen Norm des Völkerrechts gegeben. Sie haben mit beeindruckender Deutlichkeit ihr Anliegen eines dauerhaften und gestärkten Nichtverbreitungsregimes und weiterer nuklearer Abrüstungsschritte zum Ausdruck gebracht.
Von dem in New York beschlossenen Prinzipienkatalog sind besonders die Einigung auf das langfristige Ziel einer vollständigen Abschaffung aller Kernwaffen - Herr Kollege Volmer, seien Sie beruhigt, das ist auch die Politik der Bundesregierung; Sie brauchen keine Angst zu haben, daß die Bundesregierung mit Stäben zusammenarbeitet, die die nuklearen Waffen einsetzen; die Bundesregierung will diese Waffen abschaffen - sowie die Festlegung auf den Abschluß eines umfassenden Teststoppvertrages bis spätestens 1996 hervorzuheben.
Diese Entscheidung stellt einen wichtigen Durchbruch dar, da sich erstmalig alle Kernwaffenstaaten einschließlich Frankreichs zu diesem Zieldatum bekannt haben. Leider konnte die Verpflichtung, schon jetzt weltweit auf alle Kernwaffentests zu verzichten, in New York nicht erreicht werden. Allerdings einigte man sich darauf, bei Nukleartests äußerste Zu-
Staatsminister Helmut Schäfer
rückhaltung zu wahren. Dazu steht natürlich - und das können wir hier nicht wegdiskutieren - die französische Entscheidung, Nukleartests im Südpazifik wieder aufzunehmen - wenn auch zahlenmäßig und zeitlich begrenzt -, im Widerspruch.
Wir hätten uns eigentlich gewünscht, daß Atomtests schon jetzt ein für allemal der Vergangenheit angehören. Auch wir verstehen natürlich - Herr Kollege Feldmann, ich teile Ihre Meinung - Proteste und Besorgnisse der Staaten der asiatischen und pazifischen Region gegen diese Testreihe.
Der Bundesaußenminister hat am 14. Juni in seiner ersten Reaktion auf die französische Entscheidung darauf hingewiesen, daß es sich hier um eine nationale Entscheidung Frankreichs handelt. Er hat zugleich gesagt, daß er über diese Entscheidung nicht glücklich sei, und hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich die Bundesregierung seit langem für einen umfassenden nuklearen Teststoppvertrag einsetze und alles tun werde, damit dieser Vertrag bis spätestens 1996 abgeschlossen wird.
Der Bundesminister hat erst vor wenigen Tagen bei seiner letzten Begegnung mit seinem französischen Amtskollegen noch einmal diese Teststoppfrage erörtert. Die deutsche Haltung zu dieser Frage war der französischen Seite seit langem gut bekannt.
Die französische Regierung hat andererseits am 13. Juni gleichzeitig mit ihrer Bekanntgabe der Wiederaufnahme von Nukleartests ihre Absicht bekundet, bis 1996 dafür zu sorgen, wie alle anderen Regierungen der Welt die Nukleartests zu beenden.
Wir werden uns in den nächsten Wochen und Monaten entscheidend dafür einsetzen müssen, daß die Verhandlungen der Genfer Abrüstungskonferenz über einen verifizierbaren umfassenden Nuklearteststoppvertrag zügig und konstruktiv vorankommen. Die Verhandlungen über diese komplexe Materie haben nicht zuletzt auch dank unserer Bemühungen beachtliche Fortschritte gemacht. Wir setzen uns jedenfalls energisch dafür ein, daß das von der Staatengemeinschaft gesteckte Ziel des Abschlusses eines Teststoppvertrages bis spätestens 1996 - den Ankündigungen der französischen Regierung entsprechend, auch mit Frankreich - erreicht wird.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Graf Einsiedel.
Ich werde Sie nur ganz kurz aufhalten.
Zur vorbeugenden Konfliktverhinderung gehört auch, daß man die Fähigkeit hat, sich einmal in die Situation des sogenannten anderen, des potentiellen Gegners, hineinzudenken.
Herr Dr. Pflüger hat Namen einiger genannt - man findet ja immer Sündenböcke wie Schirinowski -, die er mehr fürchtet als die existenten aktuellen Gefahren dieser Tests, die ausgiebig dargestellt wurden. Wollen Sie nicht begreifen, Herr Dr. Pflüger, daß man gerade mit einer Politik, wie sie Frankreich betreibt, Wasser auf die Mühlen dieser Schirinowskis gibt, dieser Nationalisten in allen möglichen Ländern, die das nachmachen wollen? Glauben Sie denn im Ernst, daß Sie auf Dauer eine Verbreitung von Atomwaffen verhindern können, wenn sich die jetzigen Nuklearmächte das Recht herausnehmen, mit Hilfe der Simulationstechnik diese Waffen ständig weiterzuentwikkeln? Sie können doch auf Dauer die Welt nicht einteilen in die Habenichtse und die Nuklearmächte.
Die Nuklearmächte müssen sich zu dem Ziel bekennen, das wir - und angeblich auch die Bundesregierung - zu unserem Ziel gemacht haben, nämlich eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen. Das ist das Grundprinzip, das angestrebt werden muß.
Mehr möchte ich gar nicht sagen. Danke.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Uta Zapf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß sagen, Herr Dr. Pflüger: Ich bin über Ihre Argumentation genauso enttäuscht wie mein Kollege Erler. Sie haben davon gesprochen, daß eine Freundschaft ein Wert in sich ist. Ich denke, auch und gerade unter Freunden muß man dann darauf hinweisen, daß z. B. die Ziele der gemeinsamen Politik, die man gemeinsam formuliert und für die man gemeinsam eingetreten ist, durch ein solches Verhalten unterlaufen werden.
Ihre Argumentation, wonach die Argumente der Franzosen etwas für sich hätten, ist ebenfalls nicht richtig. Das erste Argument der Franzosen lautet: Die Tests sind für die Sicherheit notwendig. - Wir wissen, daß dies nicht zutrifft, sondern daß bereits vorhandene Testmethoden, die keine Atomsprengungen verlangen, den Sicherheitsaspekt bestehender Waffen genügend überprüfen können. Dazu sind eben keine neuen Testserien notwendig.
Uta Zapf
Solche Testserien sind allenfalls in bezug auf eine Simulation in der Zukunft nötig, wenn Sie argumentieren, daß aus den vorhandenen Testreihen - es sind immerhin 192 Testreihen, die die Franzosen gemacht haben - nicht genügend Daten für die Datenbanken der neuen Simulatorenverfahren gewonnen werden könnten. Nur, ich finde dieses Argument nicht glaubwürdig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir wollen ein verifizierbares und umfassendes Atomteststoppabkommen. Dies wird durch die Weiterentwicklung neuer Technologien, wie sie bei den Amerikanern und neuerdings auch bei den Franzosen eingeführt werden, unterlaufen, nämlich durch diese neue Lasertechnologie, die das Design von neuen Atomwaffen, auch von neuen Atomwaffengenerationen ohne Tests möglich macht.
Wenn man einmal genau hinschaut, über was zur Zeit in Genf verhandelt wird, wird man herausfinden, daß über einen Teststopp verhandelt wird, der keineswegs den Namen „umfassend" verdient. Vielmehr wird da um die Frage geschachert: Wie viele Explosiönchen wollen wir uns denn noch leisten? Das wird zur Folge haben, daß das Versprechen, das auf der NPT Konferenz mit dem nuklearen Testbann abgegeben wurde, unterlaufen wird. Dann entstehen natürlich die Gefahren der Proliferation, z. B. durch neue Nuklearstaaten, weil die Glaubwürdigkeit des Nonproliferationsregimes ausgehöhlt ist.
Sie haben dieses Problem angesprochen. Nur, das bekämpft man doch nicht dadurch, daß man feinere, miniaturisiertere und exaktere Atomwaffen herstellt, wie es die Franzosen ganz offensichtlich tun wollen. Das leugnen sie ja gar nicht, außer in dem Brief des Botschafters. Das kann man in der gesamten Presse lesen. Daß wir darauf mit einer Strategie der Counter-Proliferation antworten, die eine Gewaltanwendung bis hin zum atomaren Einsatz unterstützt, kann nicht sein.
Ein weiterer Punkt. Auch mir hat es wirklich den Magen umgedreht, als ich diese Argumentation, die die Franzosen uns heute noch haben zukommen lassen, gelesen habe, in der steht, daß es in der Tat im Interesse Europas sei und daß diese Nuklearwaffen die europäische Verteidigung garantierten. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie dasselbe wiederholt, nämlich daß es sich dabei nicht nur um nationale Waffen handele, sondern daß das in absehbarer Zeit europäische Dimensionen annehme.
Das haben wir alles im Zusammenhang mit der letzten Diskussion schon erörtert. Ich habe für die SPD schon einmal ganz deutlich gesagt: Für uns macht dieser Prozeß nur dann Sinn, wenn das passiert, was Staatsminister Schäfer bereits gesagt hat, nämlich daß er dahin führt, daß Atomwaffen abgeschafft werden.
Ich will keine europäische Verteidigung mit europäischen Atomwaffen haben. Jedesmal, wenn man das Thema hier anspricht, kommen wir in eine ganz merkwürdige Situation. Herr Dr. Pflüger, wenn das,
was Sie gesagt haben, wirklich Allgemeingut in Ihrer Partei ist, dann möchte ich Sie und Ihre Partei bitten, noch einmal zu hinterfragen, ob das das Ziel sein kann. Denn das würde bedeuten, daß all die Bemühungen, die wir in New York gemeinsam - und wir waren doch zusammen in dieser Delegation - unternommen haben, im Prinzip für die Katz sind, weil sie das Regime der Atomwaffenmächte zementieren und die technologischen Möglichkeiten schaffen, mit möglichst wenig Sprengsätzen auszukommen.
Alle anderen werden sich dann beschissen vorkommen. Sie fühlen sich durch diesen ganzen Prozeß wirklich betrogen. Dann wird genau dieser Effekt eintreten, vor dem hier gewarnt werden muß, daß nämlich das Nonproliferationsregime wegen der mangelnden Glaubwürdigkeit der Atommächte unterlaufen wird.
Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß. Ich möchte noch ein letztes Zitat vortragen. Die Angelegenheit wird nicht nur bei uns so gesehen. Auf die WEU wurde bereits hingewiesen. Die „Washington Post" sagt:
Eine amerikanische Entscheidung, sich die Durchführung bestimmter Tests vorzubehalten, könnte einen Atomteststopp für alle in eine Lizenz für einige umwandeln. Beides könnte dazu beitragen, daß andere Staaten sich von der Verpflichtung befreit fühlen, keine Nuklearkapazitäten anzustreben.
Das ausgerechnet in einem Jahr, in dem wir uns alle gemeinsam ernsthaft bemüht haben, genau das zu verhindern. Das wäre in der Tat, wie die „Washington Post" schreibt, ein bizarres Ergebnis.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich Lummer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal ist es im Leben so, daß die Einstellungen zu bestimmten Vorgängen durch die eigene Erfahrung geprägt werden. Ich werde die Zeit des Mauerbaus in Berlin und die nukleare Garantie, die die NATO im allgemeinen und die Vereinigten Staaten im besonderen für Berlin abgegeben haben, nie vergessen.
Jedermann wußte, diese Stadt ist anders als mit Abschreckungspolitik gar nicht zu verteidigen. Die Einstellungen zu Fragen atomarer Waffen und insbesondere der atomaren Abschreckung werden immer geteilt sein. Wir werden die unterschiedlichsten Meinungen haben.
Heinrich Lummer
- Bei einigen schon, bei denen, die die totale Abschaffung wollen.
Bei mir ist eine gewisse Prägung von damals vorhanden, deswegen mag ich das eine oder andere anders sehen. Klar ist jetzt - das wollen wir offen aussprechen -: Derjenige, der das deutsch-französische Verhältnis liebt, es mag und es für wichtig hält, ist im Moment in einer schwierigen Situation, wenn er hier steht und etwas sagen muß.
Sagen wir es auf Deutsch: Wir sind enttäuscht, und das nicht nur zum Schein. So weit, so gut; denn wir haben im Deutschen Bundestag im März beschlossen und die Regierung aufgefordert - Herr Schäfer hat darauf hingewiesen -, die freiwilligen Atomtestmoratorien durch Einwirkung auf die betreffenden Regierungen weiter zu verlängern.
Das ist die gemeinsame Haltung des Hauses. Von daher gesehen kann man nichts anderes sagen als: Das paßt uns nicht. Man kann jedoch sehr wohl sagen, das paßt uns nicht, und doch ein gewisses Verständnis für ein Land aufbringen, das uns befreundet ist, daß es sich seine eigenen Gedanken darüber macht, wie es seine eigene und auch unsere Zukunft absichert. Insofern bin ich nicht so eilfertig im Urteil, wie das manche anderen hier gewesen sind.
Eines kann man nicht sagen: Der französische Präsident hat die Öffentlichkeit nicht getäuscht; denn er hat lange vorher, schon im Wahlkampf, mit Entschiedenheit gesagt, daß diese Absicht bestehe. Insofern kann keiner sagen, er sei beschwindelt worden, die französische Öffentlichkeit nicht und auch wir nicht.
Auf der anderen Seite wird man natürlich auch die Enttäuschung von Drittländern begreifen müssen, die so oder so davon betroffen sind. Das sind einmal die Länder, Herr Kollege Pflüger, die in der Nähe sind. Diese sagen sich natürlich: Warum gerade hier, warum gerade jetzt?
Das muß man verstehen. Man muß vielleicht auch ein wenig Verständnis für die - sie sind ja so genannt worden - atomaren Habenichtse haben. Manche von Ihnen könnten jetzt ermuntert sein, etwas zu tun, was wir nicht wollen; denn der Zusammenhang zwischen der unbefristeten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags und den Tests ist offenkundig. Das ist doch gar keine Frage.
Es liegt in der Logik dieses Vertrages, daß die Atommächte darauf verzichten, ihre Arsenale zu vergroßern oder zu verbessern. Nichtsdestoweniger, täuschen wir uns bitte nicht, wenn wir die Zielvorstellungen formulieren. Ein bißchen läuft es darauf hinaus zu fragen, was wichtiger ist, die Vermeidung von acht Tests oder die Erreichung eines allgemeinen Vertrages im nächsten Jahr, der die Tests verbietet. Man muß sehen, daß die Franzosen sagen, sie seien unter Zeitdruck, weil sie den guten Willen hätten, im nächsten Jahr den Vertrag zu unterschreiben. Das ist deutlich zum Ausdruck gekommen.
Wenn ich hier die Prioritäten sehe, dann sage ich in aller Entschiedenheit: Mir ist es wichtig und erstrebenswert, im nächsten Jahr diesen allgemeinen Vertrag zu haben, der die atomaren Tests verbietet, auch wenn ich eine Verlängerung der Moratorien lieber gehabt hätte. Das ist ganz klar.
Dieses Ziel müssen wir erreichen, und gerade eine Bundesregierung, Herr Kollege Schäfer, die ja mit Nachdruck dafür geworben hat, daß der Nichtverbreitungsvertrag unbefristet verlängert wird, hat auch das Recht und ein bißchen die Pflicht, dafür zu sorgen, daß dieser Vertrag im nächsten Jahr zustande kommt. Darum sollten wir uns gemeinsam bemühen. Das ist hier das Wichtige und Wesentliche, und in diesem Sinne wollen wir tätig sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Freimut Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem hat Herr Lummer recht: Für diejenigen, die sich in den letzten Jahren - bei mir nun in fast 15 Jahren - in diesem Parlament um die deutsch-französischen Beziehungen gekümmert haben, ist es ein besonders schwieriger Moment. Ich muß alle hier vorgetragenen Argumente über die möglichen Wirkungen der Entscheidung des französischen Präsidenten teilen; ich halte es für sehr dramatisch, was passiert ist.Allerdings erstaunt mich das Argument, der französische Präsident habe uns alle überrascht. Mitterrand hat im Januar 1994 eine mehrheitlich beschlossene Empfehlung des französischen Parlaments zurückgewiesen - darüber waren wir sehr froh, und gesagt: Wir wollen aus den und den Gründen, u. a. auch „unserer europäischen Freunde" wegen, keine Tests mehr haben. Daß es aber eine Mehrheitsstimmung im französischen Parlament für diese Wiederaufnahme von Tests gab, war deutlich.Mich wundert ein bißchen, Herr Staatsminister, daß die Bundesregierung im Verfolg der französischen Präsidentschaftswahlen und in der ganzen Zeit seit der drastischen Warnung Mitterrands, die er ja wiederholt hat, nicht versucht hat, zur französischen Regierung - auch der Regierung unter dem Präsidenten Mitterrand - stärkeren Kontakt aufzunehmen und zu sagen, es handele sich um eine für uns ganz ernste Absicht, die bei der französischen Parlamentsmehrheit festzustellen sei.
- Gut, das mag sein; es geht hier um die Bundesregierung.Juppé hat noch im Januar in „Politique Internationale" gesagt, auch die Atompolitik müsse jetzt „konzertierbar" werden; ich glaube, so ähnlich hat er es bezeichnet. Das heißt: „Wir Franzosen wollen uns auch mit unserer Nuklearpolitik einordnen, damit eine gemeinsame europäische Position entsteht." Daß sich der Präsident dann an dieses Diktum des
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3591
Freimut Duvefranzösischen Außenministers und neuen Premierministers vom Januar 1995 nicht gehalten hat, zeigt etwas, was uns besorgt machen muß: daß der Präsident mit dieser Mehrheit im Parlament im Rücken möglicherweise aus einem innenpolitischen Kalkül heraus, wissend, daß die übergroße Mehrheit der Franzosen diese Tests akzeptiert, vielleicht sogar für richtig hält, jetzt die Tests fortführt und dafür innenpolitisch Beifall bekommt. Das halte ich für die eigentliche Frage, die sich der deutsch-französische Freund stellen muß.
- Nein. Das ist doch unser Thema zwischen den beiden Ländern, nämlich daß wir aus zwei völlig verschiedenen Erfahrungen heraus zu einer 40jährigen Freundschaft gekommen sind. Aber diese Freundschaft hat die Erfahrungen nicht verändern können.Wir haben dies in der Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre sehr viel in Frankreich diskutiert. Da galten wir als gefährlich, weil wir das alles abschaffen wollten, weil wir auch die atomare Abschreckbarkeit reduzieren wollten. Da warfen uns Franzosen vor: Ihr seid eigentlich gefährlich für die Sicherheit Europas.
Umgekehrt sind wir sehr besorgt darüber, daß in Frankreich das Gefühl, man dürfe nie zu schwach sein, immer noch das vorrangige Gefühl ist, und zwar stärker als das Gefühl, man müsse möglichst integriert sein. Bei uns ist nach den 30er und 40er Jahren das vorrangige Gefühl: Man darf nie zu stark sein, man muß möglichst stark integriert sein. Wir sind hinsichtlich dieser unterschiedlichen Befindlichkeiten in den politischen Klassen in beiden Ländern vielleicht doch noch nicht sehr viel weitergekommen.
Wir sind sehr viel weitergekommen bei der breiten französischen Öffentlichkeit. Aber bei den politischen Klassen herrscht immer noch sehr stark das Gefühl: Letztlich dürfen wir nicht total integriert sein, letztlich müssen wir autonom und stark bleiben. Bei uns ist es umgekehrt: Wir wissen, wenn wir zu stark und alleine sind, dann ist dies für unser Land gefährlich. Das ist das Positive, was bei uns als gemeinsame Stimmung da ist.Ich sehe es als meine Aufgabe an, immer wieder dafür zu werben - auch in Frankreich -, daß wir uns in diesen beiden Stimmungen einander annähern. Vielleicht lernt auch der französische Präsident, daß dieser Schritt für den Prozeß einer gemeinsamen Europapolitik - z. B. in dem Respekt und in der Achtung vor anderen Weltregionen - wichtig ist. Dabei denke ich an Afrika, Australien und Neuseeland. Dabrauchen wir einen gemeinsamen Respekt. Wir haben gegenüber den anderen Weltregionen noch keine gemeinsame europäische Politik, wenn es hart auf hart geht. Wir haben das an Afrika gemerkt.Ich wollte zum Schluß noch ein paar nachdenkliche Worte sagen, weil die deutsch-französische Freundschaft mit das Wichtigste ist, was Europa für den Weltfrieden in diesen letzten 40 Jahren zustande gebracht hat. Wir hoffen sehr, daß das weitergeht.Ich danke für die stille Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger.
Ich schließe damit die Aktuelle Stunde und rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst Schmidbauer , Klaus Kirschner, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/733 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/1206 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache 1'/2 Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für den Bundesrat dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Franz Müntefering, den ich als alten Kollegen hier besonders gerne begrüße.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben als Länder den Entwurf eines Psychotherapeutengesetzes eingebracht, die SPD-Bundestagsfraktion ebenso. Hessen und Nordrhein-Westfalen hatten die Initiative ergriffen. Es kommt jetzt darauf an, was der Bundestag daraus macht.
Die psychischen Leiden nehmen zu. Man kann das an verschiedenen Zahlen festmachen. Beeindrukkend ist, wenn man sieht, wie viele Ärzte sich inzwischen um diese Leiden, um die es auf diesem Gebiet geht, kümmern müssen. 1 700 ärztliche Psychotherapeuten sind ausschließlich in diesem Fachbereich tätig. Es gibt darüber hinaus eine Menge anderer Fachärzte, die ebenfalls in diesem Bereich arbeiten. Es gibt 6 200 nichtärztliche Psychotherapeuten, und es gibt darüber hinaus einen großen - so muß man wohl sagen - grauen Markt.
Psychische Leiden dauern lange, in vielen Fällen länger als fünf, sieben Jahre, ehe die psychotherapeutische Behandlung erfolgreich gewesen ist. Leiden werden chronisch. Für viele Menschen verbindet sich das psychische Leiden sehr oft auch mit Konsequenzen aus erhöhter Medikamenteneinnahme, und viele kommen an Drogen.
Für den gesamten Bereich ist die Klärung bestimmter berufsrechtlicher Fragen dringend erforderlich.
Alles dies, meine Damen und Herren, haben wir gewußt, als wir 1993, 1994, 1995 schon einmal gemeinsam die Diskussion über ein Psychotherapeutengesetz geführt haben.
Der Gesetzentwurf, der nun vorliegt, hat drei Eckpunkte, die ich hervorheben will: Wir wollen erreichen, daß die psychotherapeutische Behandlung zu den Regelleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zählt. Wir wollen erreichen, daß psychisch kranke Menschen einen Erstzugang zum Psychotherapeuten haben. Wir wollen zum dritten, daß Psychotherapie als Sachleistung gegeben und nicht mit einer hohen Selbstbeteiligung belastet wird. - Zu diesen drei Punkten ein paar Anmerkungen.
Erstens. Psychische Krankheit ist zu behandeln wie somatische Krankheit. Alltags geben wir alle zu, daß das so ist; natürlich, man kann da krank sein, und man kann da krank sein. Psychische Krankheit gleich normale Krankheit - das wird sicher jeder hier unterstreichen. Aber die wirkliche Gleichbehandlung ist noch nicht gegeben. Da spielen alte Vorurteile und Ressentiments eine Rolle, die man bisher nicht aus dem Weg räumen konnte. Deshalb ist es ganz wichtig, daß über die allgemeinen Sprüche hinaus, die es dazu gibt, auch in der Politik, in den einschlägigen Gesetzen klar wird: Psychische Krankheit ist eine normale Krankheit, eine Krankheit wie somatische Krankheit auch, und sie muß auch denselben Bedingungen unterliegen.
Zweitens der Erstzugang zum Psychotherapeuten: Bisher muß dieser Weg immer über den somatischen Arzt gesucht werden. Nur von da kann die Delegation hin zum Psychotherapeuten erfolgen. Wir sehen in dem Gesetzentwurf vor, daß der Kranke bzw. die Kranke unmittelbar zum Psychotherapeuten gehen
kann; aber das muß nicht so sein. Wir bestätigen in unserem Entwurf ausdrücklich, daß immer beides abgeklärt sein muß: die psychische Krankheit und die Frage, ob es eine somatische Krankheit im Hintergrund gibt. Manchmal spielt beides zusammen.
Der häufigste Weg bisher ist, daß Menschen über ihren Hausarzt, also über jemanden, der somatisch tätig ist, den Weg zum Psychotherapeuten, zur Behandlung ihrer psychischen Krankheit finden. Aber es kann auch anders gehen: Es kann auch sein, daß die Menschen den unmittelbaren Weg zum psychologischen Psychotherapeuten oder zum ärztlichen Psychotherapeuten suchen und finden.
Wir haben in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, daß unter dem Gesichtspunkt der Sicherung der Qualität die berufsrechtlichen Bedingungen geregelt werden, so daß jeder sicher sein kann, daß diejenigen, die als anerkannte Psychotherapeuten - seien es psychologische oder ärztliche - arbeiten, dem Menschen helfen können, daß sie der Qualitätsanforderung genügen.
Die Angst, mit der Öffnung des Erstzugangs würde so etwas wie Unfinanzierbarkeit ausgelöst, ist absurd. Wir haben aber in unseren Gesetzentwurf die Begrenzung des Vergütungsvolumens auf 2 % des GKV-Gesamtvolumens aufgenommen. Wir wissen, wie heute am Schwarzmarkt, am grauen Markt die Preise aussehen. Wer heute keine Zuweisung zu einer Psychotherapie bekommt und die Behandlung selbst bezahlen muß, bezahlt schnell 3 000 DM und auch 10 000 oder 15 000 DM. Dadurch entsteht natürlich auch eine soziale Kluft, eine soziale Differenz: Nicht jeder kann sich dies leisten.
Es ist heute leider so, daß bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Menschen mit psychischen Krankheiten zum Teil von ihrem Portemonnaie abhängig sind, um den richtigen Weg zu ihrer Heilung zu finden.
Der dritte Punkt unseres Gesetzentwurfs: Wir wollen eine Sachleistung. Wir wollen keine Vorzahlung und dann eine Kostenerstattung durch die Krankenkasse. Wir wollen eine Sachleistung, d. h. ein Verfahren wie bei anderen Krankheiten auch. Wir wollen, daß es keine zusätzliche Selbstbeteiligung gibt.
Dies ist der Punkt, an dem das Gesetz im vergangenen Jahr gescheitert ist. Alles andere, was ich bisher beschrieben habe, kann - davon gehe ich aus - die Zustimmung auch der Koalition finden. Aber dann geht es um die Frage der Selbstbeteiligung. An diesem Punkt ist im vergangenen Jahr alles festgemacht worden.
Wir wollen, daß psychisch Kranke kein „Eintrittsgeld" zahlen müssen, wenn sie zum Arzt gehen. Darauf lief die alte Variante der Koalition hinaus. Ich will Sie jetzt nicht vorfestlegen; vielleicht ist die Einsicht ja gewachsen. Damals war vorgesehen, daß psychisch Kranke zuzahlen, und zwar ist zunächst einmal gesagt worden: 25 %. Dann wurde uns gesagt: vielleicht 10 %.
Minister Franz Müntefering
Ich sage Ihnen: Selbst wenn Sie 1 % oder 2 % gesagt hätten, hätten Sie es gemacht. Denn es ging um das Prinzip. Es ist ganz klar: Die Koalition versucht, durch den Weg über die psychisch Kranken die Selbstbeteiligung für jeden Arztbesuch auch im somatischen Bereich durchzusetzen.
Das ist die Strategie. Wenn Sie mir zustimmen, daß psychische Krankenheiten zu behandeln sind wie somatische, gibt es keine Logik dafür, denjenigen, der psychisch krank ist, bei jedem Arztbesuch zu beteiligen.
Es gibt nur eine Logik: daß Sie dies auch für die somatisch Kranken wollen. Das ist die Linie, die Herr Möllemann natürlich will. Ich wende mich an Herrn Seehofer: Wenn das, Herr Seehofer, was Sie in den letzten Wochen und Monaten wiederholt gesagt haben, stimmt,
daß Sie die Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen und eine höhere Selbstbeteiligung nicht wollen, dann können Sie dem, was die Länder und die SPD-Fraktion vorgelegt haben, gut zustimmen.
Denn wir wollen die psychisch Kranken so wie die anderen Kranken behandeln. Das ist, wenn man sich darauf verständigt, daß es sich zwar um Krankheitsbilder unterschiedlicher Art, aber in beiden Fällen um Krankheiten handelt, die einzig mögliche Antwort.
Es ist damals bei einem der Koalitionspartner deutlich geworden, daß der Weg, den ich eben beschrieben habe, derjenige ist, der gesucht wird. Deshalb steht man an dieser Stelle an einem entscheidenden Punkt im Gesundheitssystem. Wir müssen im Interesse der psychisch kranken Menschen eine gesetzliche Regelung haben. Das haben Sie im letzten Jahr selber geschrieben. Sie wollen bei dieser Gelegenheit erreichen, daß in Zukunft jeder gesetzlich Krankenversicherte, der zu seinem Arzt geht, einen Beitrag leisten muß. Sie werden klein beginnen, und Sie werden sich steigern.
Aber das ist eine Strukturveränderung, das ist eine Prinzipienfrage. Deshalb kann ich Ihnen schon heute sagen: Man kann über die eine oder andere Feinheit in einem solchen Gesetz sprechen, aber an dieser Stelle werden wir stur sein wie Panzer.
„Das wird es mit uns nicht geben",
oder ob er ihr folgt und wieder nicht tun darf, was er eigentlich möchte.
Denn wenn das eine, was Sie sagen, Herr Seehofer, stimmt, fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Sie müßten ihm zustimmen; er müßte für Sie auch zustimmungsfähig sein.
Ich verstehe, daß Herr Möllemann, Herr Thomae und andere das nicht wollen. Das haben wir aber schon letztes Jahr gewußt. Die Menschen mit psychischen Krankheiten werden darauf warten, was der Deutsche Bundestag aus diesem guten Gesetzentwurf macht. Meine Bitte ist, daß der Deutsche Bundestag ihm zustimmt. Das wäre für die psychisch kranken Menschen gut, und es wäre eine klare Richtungsentscheidung dafür, daß wir die Solidargemeinschaft in den Sozialversicherungssystemen nicht aushebeln wollen. Dies ist ein wichtiger Punkt, an dem man das beweisen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Lohmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Müntefering, was ich von Ihnen eben zum Thema Psychotherapeutengesetz gehört habe, war erwartungsgemäß nichts Neues.
Denn diese oder ähnliche Argumente haben wir uns bei verschiedenen Gelegenheiten bis an die Grenze des Erträglichen immer wieder vorgehalten. Wenn Sie erneut versuchen, den Pappkammeraden aufzubauen und zu unterstellen, daß die Koalition ein „Eintrittsgeld" in die ärztliche Praxis fordert oder favorisiert, dann liegen Sie falsch. Das ist nicht nur die Position des Ministers, der sich bemühen muß, uns oder andere im Griff zu behalten, sondern ich habe bei den verschiedensten Gelegenheiten gesagt und geschrieben: Ein „Eintrittsgeld" in die Arztpraxis kommt für uns nicht in Frage.
Nun wird natürlich Herr Schmidbauer sagen - er freut sich schon auf seine Rede -: Wenn es bei den Ärzten nicht in Frage kommt, dann dürft ihr es bei den Psychotherapeuten auch nicht machen." Dazu nehme ich noch Stellung.
Wolfgang Lohmann
Jeder, der die Beratungen zum Regierungsentwurf in der zweiten Hälfte der vergangenen Legislaturperiode miterlebt hat, kennt die Themen und natürlich auch die mehr oder weniger vorfabrizierten Antworten. So konnte vor wenigen Wochen ein in der Gesundheitspolitik bestens bekannter Experte mit einem ironischen Unterton feststellen, daß das Psychotherapeutengesetz jetzt in das 25. Jahr seiner Beratung eintritt. Das ist richtig. Herr Vollmer, aus dessen „Gelbem Dienst" dieses Zitat stammt, hat das wohl mit Recht gesagt.
Der heute vom Bundesrat und von der SPD vorgelegte Gesetzentwurf ist nach unserer Meinung nicht dazu geeignet, aus dem 25. Beratungsjahr auch das letzte Beratungsjahr zu machen. Denn Ihr Gesetzentwurf ist gerade, weil er die politischen Gräben der letzten beiden Jahre nicht verläßt und sich darauf beschränkt, sattsam bekannte grundsatzpolitische Positionen zu wiederholen, nicht dazu geeignet, die anstehenden Fragen eines Psychotherapeutengesetzes für die Zukunft wirklich tragfähig zu lösen.
Ihr Entwurf kommt - vor dem Hintergrund der Debatte über die Fortführung der Gesundheitsstrukturreform - vor allem zur Unzeit. Auch das haben wir Ihnen schon einmal gesagt. Sie wissen das genausogut wie ich, denn ansonsten hätten Sie nicht so lange mit der ersten Lesung dieses Entwurfs gewartet.
Auch Ihre Einbringungsrede, Herr Müntefering, hat mich in dieser Auffassung wiederum leider nur bestärkt.
Ich darf zur Auffrischung Ihrer Erinnerung wiederholen: Wir, d. h. die Koalitionsfraktionen und die von ihnen getragene Bundesregierung, haben in der 12. Legislaturperiode den Entwurf eines Psychotherapeutengesetzes in die parlamentarische Beratung eingebracht und gegen Ihren Widerstand beschlossen.
Wir haben mit diesem Entwurf ein Konzept für die Berufszulassung der psychologischen Psychotherapeuten entwickelt,
das für die qualitativen Anforderungen der Ausbildung der psychologischen Psychotherapeuten richtungsweisend war und insbesondere auch - das ist sehr wichtig - von den maßgeblichen Verbänden und den Vertretern der Psychotherapeuten mitgetragen wurde.
Wir haben mit dem Modell einer zehnprozentigen fakultativen Selbstbeteiligung - das war zugegebenermaßen das Ende der Diskussion im Vermittlungsausschuß - auf der Grundlage eines Vorschlags der Verbände der Psychotherapeuten selbst im Vorfeld eines zweiten Vermittlungsverfahrens einen Vorschlag zur Gestaltung der Selbstbeteiligung der Patienten gemacht. Dieser Vorschlag war sozial ausgewogen, den Patienten zumutbar und entsprach schließlich vor allem auch einer weitverbreiteten Praxis in der psychotherapeutischen Behandlung.
Insofern müßten Sie das, was Sie eben gesagt haben, zumindest relativieren, denn ein großer Teil dessen, was Sie eben diffamiert und als unmöglich dargestellt haben, wird in der Praxis so gehandhabt. Dann müßten Sie das eigentlich auch geißeln.
Wir alle zusammen, auch Sie als Opposition und die Bundesregierung, wären also gut beraten gewesen, wenn dieses Gesetz in der 12. Legislaturperiode noch verabschiedet worden wäre, denn es diente vor allem der Qualifizierung der Therapeuten und damit - so ist meines Erachtens immer zu Recht gesagt worden - auch den Patienten.
Sie haben sich demgegenüber auf zweierlei beschränkt: Sie haben erstens von Anfang an versucht, das qualitätsorientierte berufsrechtliche Konzept der Ausbildung von psychologischen Psychotherapeuten im vermeintlichen Interesse der Psychologen zu verändern - Sie sagen „verbessern" -, und Sie haben zweitens die Selbstbeteiligung der Patienten, auch die zuletzt von uns vorgeschlagene fakultative Selbstbeteiligung von 10 %, als sozial unzumutbar abgelehnt. Und das - ich betone das noch einmal -, obwohl dieses fakultative Beteiligungskonzept in der Praxis zumindest nicht unüblich ist und obwohl die Verbände der Psychotherapeuten dieses Modell selbst als therapeutisch tragfähig und sozial zumutbar vorgeschlagen haben.
Wenn Sie sich immer - wie auch vorhin - in dieser Form über die Selbstbeteiligung auslassen, Sie als SPD quasi so tun, als seien Sie diejenigen, die sich immer schon grundsätzlich gegen die Selbstbeteiligung ausgesprochen haben, nenne ich Ihnen ein Gegenbeispiel: Sie waren es doch, die in Lahnstein durch den notwendigen Druck mit dazu beigetragen haben, daß aus einem vernünftigen Selbstbeteiligungskonzept bezüglich der Arzneimittel durch diese Mißgeburt der packungsbezogenen Selbstbeteiligung eine höhere Selbstbeteiligung entstanden ist als vorher.
Zumindest diese höhere Selbstbeteiligung müssen Sie sich ans Bein binden.
Herr Kollege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Natürlich.
Herr Kollege Lohmann, können Sie mir sagen, welche andere Funktion Ihr Plädoyer für eine Selbstbeteiligung außer der hat, daß die Patienten noch zusätzlich etwas bezahlen sollen? Wie verträgt sich das damit, daß Sie wiederholt erklärt haben, Sie seien dagegen, daß eine weitere Zuzahlung in der GKV erfolge?
Genau auf diese Frage komme ich noch. Ich möchte dies in ein bis eineinhalb Minuten im Zusammen-
Wolfgang Lohmann
hang vortragen, sonst komme ich aus der Linie meines Konzepts heraus. - Wenn Sie allerdings meinen, dies mit einem süffisanten Lächeln abtun zu können, kann ich die Frage auch direkt beantworten.
Auf Grund der Erkenntnisse, die wir inzwischen gewonnen haben, und entsprechend den Vorhaben zur dritten Stufe der Gesundheitsreform wollen wir die Probleme der Psychotherapeuten berufsrechtlich und sozialrechtlich im Zusammenhang lösen. Dies kann nur dann geschehen, wenn die Diskussion soweit gediehen ist, daß beispielsweise im Herbst die ersten Eckpunkte für ein Konsensmodell aufgestellt werden können. Dann werden wir dies alles mit lösen. Dazu komme ich gleich auch noch einmal. Es hat keinen Zweck, jetzt etwas Neues unter ganz anderen Gesichtspunkten vorweg zu regeln.
- Nein. Dies wird möglicherweise erst am 1. Juli 1996 in Kraft treten; das ist richtig. Aber den Psychotherapeuten ist besser damit gedient, daß ab dem 1. Juli 1996 ein Gesetz in Kraft ist, das vernünftig, haltbar und zukunftsträchtig ist, als daß nun ein Gesetz beschlossen wird, das die alten Hüte enthält, über die wir uns schon unterhalten haben.
Nun beschränken Sie sich mit dem heute hier eingebrachten Entwurf darauf, das zu wiederholen, was in der Vergangenheit auch hier im Bundestag immer diskutiert worden ist. Ich möchte diesen Vorgang nicht werten. Aber es drängt sich zumindest der Verdacht auf, daß es sich hier um politischen Opportunismus handelt. Wenn man den gesamten Ablauf und die Ablehnung im Bundesrat und Vermittlungsausschuß unmittelbar vor einer wichtigen Wahl betrachtet und jetzt diesen Entwurf sieht, weiß man, woher der Wind weht. Wir werden dies nicht mitmachen.
Das von Ihnen vorgestellte Konzept ist nicht dazu geeignet, die anstehenden Fragen bezüglich des Berufsrechts, aber auch bezüglich des Sozialversicherungsrechts für die Zukunft tragfähig zu lösen. Deswegen müssen wir den Entwurf ablehnen. Dies muß eigentlich jeder verantwortungbewußte Gesundheitspolitiker tun. Sie sind Oppositionspolitiker und tragen in diesem Fall die Verantwortung nicht mit. Insofern kann ich verstehen, daß Sie diese Entwürfe nun wieder einbringen, weil Sie sich für die Folgen - auch im sozialrechtlichen Bereich - nicht verantwortlich zu fühlen brauchen.
Inzwischen haben selbst Sie - allerdings mit der gewohnten Verspätung; eben war die Rede vom roten Licht - gemerkt, wie ich einer schriftlichen Anfrage des Kollegen Schmidbauer vom 26. Mai entnehme, daß wir nicht gewillt sind, den Regierungsentwurf aus der 12. Legislaturperiode noch einmal einzubringen. Denn auch in der Gesundheitspolitik ist die Zeit schnellebig. Deshalb können auch gute Konzepte veralten. Man muß neue Gesichtspunkte einbringen.
Wie Sie sicher auch gemerkt haben, sind die Bundesregierung und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion seit Beginn dieses Jahres dabei, im Dialog mit allen beteiligten Körperschaften und Verbänden ein Konzept für die dritte Stufe der Gesundheitsreform zu erarbeiten.
Die Fortsetzung der Reform ist unstreitig notwendig. Nachdem in den ersten Monaten des Jahres Ihre Partei, vor allem Herr Dreßler, den ich heute jedoch nicht sehe, immer behauptet hat, es gäbe überhaupt keinen Handlungsbedarf, wurde inzwischen interessanterweise in Papieren der SPD - ich habe diese übrigens dabei - und in den sogenannten Kamingesprächen, unlängst am 11. Juni, Herr Müntefering, erörtert, daß sehr wohl ein Handlungsbedarf im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesundheitspolitik besteht. Diesen mehr oder weniger stillschweigenden Wechsel der Position Ihrer Partei - das sage ich an die Opposition gerichtet - haben Sie zunächst wohl nicht mitbekommen bzw. nicht zur Kenntnis genommen.
Wenn aber alle maßgeblichen politischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland - möglicherweise aus unterschiedlichen Motiven - die Fortführung der Gesundheitsstrukturpolitik für notwendig halten - das unterstelle ich auf Grund der Papiere, die ich von den Kamingesprächen her kenne -, so ist es doch unbestreitbar, daß in eine Strukturreform, die diesen Anspruch zu Recht erhebt, die bei der psychotherapeutischen Versorgung seit Jahren anstehenden Fragen integriert werden müssen. Die sozialrechtliche Einbindung der Psychotherapeuten in unser Gesundheitsversorgungssystem und die berufsrechtliche Zulassung der Psychologischen Psychotherapeuten zu dieser Versorgung sind derzeit allein in diesem Zusammenhang zukunftsfähig lösbar. Alles andere wäre vor diesem Hintergrund Stückwerk. Wir werden uns daher dafür einsetzen, daß das Thema „Psychotherapeutengesetz" in all seinen Facetten und Varianten im Rahmen der dritten Reformstufe erörtert und auch gelöst wird.
Eckpunkte dieses Lösungsansatzes werden für die Union sein: Erstens. An einer - qualitätsorientierten - Berufszulassungsregelung wird festgehalten.
Zweitens. Die Verknüpfung der Regelung des Berufsrechts mit sozialrechtlichen Fragen ist nach wie vor unverzichtbar. Deswegen haben wir in der Vergangenheit stets den Vorschlag abgelehnt, den berufsrechtlichen Teil wegen des Streits im sozialrechtlichen Teil vorab zu verabschieden.
Drittens. Die psychotherapeutische Behandlung wird - auch in der dritten Reformstufe - im gemeinsam und einheitlich finanzierten gesetzlichen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung anzusiedeln sein. - Das ist sehr wichtig. - Überlegungen, derartige Behandlungen etwa dem Spektrum kassenindividueller, kollektiv finanzierter Satzungsleistungen zuzuordnen, halte ich nicht für tragfähig, da hier eine Differenzierung zwischen medizinisch Notwendigem und weniger Notwendigem bzw. lediglich Wünschbarem nicht möglich ist.
Wolfgang Lohmann
Viertens. An der Konsultation eines Arztes bei der somatischen Abklärung psychisch kranker Patienten wird bei der Einleitung der Psychotherapie festgehalten. Da sind wir uns alle einig.
Fünftens. Auch für die psychotherapeutische Versorgung gilt der Grundsatz „Vorfahrt für die Selbstverwaltung". Die insofern anstehenden Fragen, insbesondere auch das Für und Wider der Integration der Psychologischen Psychotherapeuten in die Strukturen der vertragsärztlichen Versorgung, müssen auf der Grundlage des Selbstverwaltungskonzeptes gelöst werden.
Sechstens. Die Beteiligung der Patienten an den Kosten der Psychotherapie - in der Form einer fakultativen Selbstbeteiligung in Höhe von 10 %, verbunden mit Überforderungs- sowie Härtefallklausel und Zuzahlungsfreiheit bei probatorischen Sitzungen - ist zumindest als Finanzierungsinstrument ernsthaft zu diskutieren.
Dies ist und bleibt auch dann richtig, wenn auf Grund des bisherigen Reformdialoges auf dem Petersberg grundsätzlich der Satz gilt, daß neue Zuzahlungen für Patienten nicht zur Lösung anstehender Fragen in der gesetzlichen Krankenversicherung geeignet sind. Es ist richtig: Wir wollen unter keinen Umständen eine weitere Reform gegen die Patienten. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, hier handelt es sich nicht um neue Zuzahlungen, da gerade in der Praxis der psychotherapeutischen Behandlung derartige fakultative Zuzahlungen nicht unüblich sind.
Schließlich - dieses Argument ist aus meiner Sicht entscheidend -: Bei der Neuregelung eines derartigen expansiven Leistungsbereichs müssen die finanziellen Auswirkungen eines solchen Schrittes in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Sie selbst haben im Zusammenhang mit der Diskussion über eine 2%ige Begrenzung gesagt, daß zumindest eine Korsettstange gegen eine unendliche Ausweitung eingebaut werden sollte.
Dies kann mit guten Gründen auch durch die von uns in der 12. Legislaturperiode vorgeschlagene fakultative Selbtbeteiligung erreicht werden.
Ich bitte darum, daß wir entsprechend verfahren und die Diskussion um eine weitere - dritte - Reformstufe, die inzwischen alle für notwendig halten, mit einbeziehen und so zu einer Lösung kommen. Im übrigen sind wir in weiten Bereichen, gerade auch was den Inhalt des berufsrechtlichen Teils anbelangt, der gleichen Meinung.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Es geht um das Psychotherapeutengesetz und damit um die Gewährleistung psychotherapeutischer Krankenbehandlung. Sie soll im allgemeinen Gesundheitsversorgungsangebot ausreichend verankert werden. In den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ist diese Heilbehandlung aufzunehmen. Das Erstzugangsrecht soll vorgesehen werden, um die Gleichstellung der akademischen Heilberufe sicherzustellen. Es soll eine berufsrechtliche Regelung geben. Die psychotherapeutische Krankenbehandlung soll von Selbstkostenbeteiligung freigehalten sein, um soziale und ökonomische Benachteiligungen der seelisch Kranken gegenüber den somatisch Kranken abzuwehren. Und es soll überhaupt ein Psychotherapeutengesetz geben mit dem Ziel, eine klare Strukturierung in der Angebotsvielfalt im Sinne des Patienten- und Patientinnenschutzes zu schaffen, damit sich Therapiesuchende im Dschungel der Psycho-Angebote auskennen können, weil eben nicht genau gewußt werden kann, welche und wieviel Psychotherapie welcher Qualität die Kassen überhaupt bezahlen und ob sich die Patienten und Patientinnen in ein gesichertes wissenschaftlich anerkanntes Verfahren hineinbegeben, wenn sie auf dem freien Markt wählen.
Und warum bitte gibt es das alles noch nicht - heute, im Jahre 1995? Wozu haben wir diese Debatte - wir hörten, daß eine Regelung seit 25 Jahren ansteht - noch nötig?
Das Fehlen dieses Gesetzes ist vor allem dann nicht mehr zu verstehen, wenn davon ausgegangen wird, daß ein ganzheitliches, ein gleichstellendes und ein emanzipatorisches Gesundheits- und Krankenverständnis in unserer aufgeklärten Zeit vorausgesetzt werden kann. Aber woran hapert es? Ist es wirklich ein Parteienstreit, oder beruht alles schlicht auf der Verweigerung der Bundesregierung, einem Kompromiß beizutreten, den andere, nämlich die Länder und Fachverbände, im Interesse der Sicherstellung qualitätsgesicherter psychotherapeutischer Gesundheitsversorgung gefunden haben? Fällt es ihr deshalb schwer? Wenn die Koalitionsparteien hier weiter allein die Bedingungen des Gesetzes bestimmen wollen und an das GSG fesseln, dann haben sie auch allein das Scheitern zu verantworten.
Sie, Herr Bundesminister Seehofer, haben in der letzten Zeit häufig Abwehrargumentationen gegen dieses Gesetz benutzt, und die lassen aufhorchen. Denn Sie erwecken den Eindruck, Psychotherapie sei Luxus, sei gar elitär. Sie, Herr Minister, unterbreiteten - gestatten Sie mir, daß ich es so interpretiere - immer wieder ein stark organzentriertes Krankheitsverständnis. Irgendwie, scheint es, soll es doch den Ärzten vorbehalten bleiben, darüber zu befinden, ob eine Psychotherapie überhaupt die richtige Heilbehandlung für ihre Patienten und Patientinnen ist. Von mündigen Patienten und Patientinnen, die um ihre seelische Erkrankung wissen und die auch wissen, was gut und richtig für sie ist, wird nicht viel gesprochen.
Monika Knoche
Wer zur Kenntnis nimmt, wie viele somatische Fehlbehandlungen seelisch Kranken angetan werden, kann sich schwerlich auf den Arztvorbehalt einlassen. Oder soll eben doch nur jenen psychisch Erkrankten weitgehende Autonomie zugebilligt werden, die ökonomisch in der Lage sind, die Kostenanteile selbst zu schultern? Was bliebe, wäre ein Zweiklassenanrecht auf fachgerechte Behandlung. Will Herr Seehofer über eine Gesundheitsstrukturreform reden, oder will er über Geld reden?
Im Grunde genommen kann das heute zu lösende Problem nicht gemeint sein, wenn nur über Geld geredet wird.
Es dauerte sehr lange, bis sich das Nachkriegsdeutschland der Diskriminierung seelisch kranker Menschen bewußt wurde. Bis 1975 die PsychiatrieEnquete zusammenfand, war Klinikzentriertheit, war Verwahrpsychiatrie die erniedrigende Normalität. Ambulante Psychotherapie entwickelte sich erst sehr spät und auch nur auf Grund eines allgemeinen Reformklimas im Land.
Aus- und Abgrenzung, Nichtverstehen und Angst vor dem anderen im anderen Menschen, das in einem selber auch sein und das Ich erfassen kann, sind spürbar, wenn noch immer negativ und abwertend oder nachrangig über Psychotherapie geredet wird. Das geht tiefer, als es sich mit den Begriffen Stigmatisierung, Hospitalisierung und Drehtürpsychiatrie vermitteln läßt.
Gemeindenahe Sozialpsychiatrie in Deutschland markierte einen Neubeginn und verdeutlichte gleichfalls den Nachholbedarf. Es besteht u. a. in der Anerkennung psychologischer Psychotherapie als ganz normaler Regelversorgung. Das Fehlen bedeutet mehr als nur eine Lücke. Dieser Mangel birgt folgenreiche Konsequenzen für seelisch Kranke. Diese heißen: Fehldiagnose, Fehltherapie und Therapieversagen.
Wenn gerade erst die WHO feststellt, daß weltweit 25 % der Behandlungsuchenden in Allgemeinpraxen psychische Erkrankungen und 31 % isolierte psychische Symptome haben, dann nimmt Deutschland in dieser Mängelstatistik keine Sonderstellung ein.
Das BMG-Gutachten aus 1991 kommt - in Prozentzahlen - zu dem Ergebnis, 30 % aller Patienten und Patientinnen haben psychische oder psychosomatische Erkrankungen, nur 3 % werden als solche erkannt. Es dauert durchschnittlich sieben Jahre, bis der Irrweg durch die allgemeinmedizinische Somatik ein Ende findet, bis die richtige Heilbehandlung kommt. Oft sind schwere Krisen Anlaß für eine stationäre psychiatrische Intervention. Das ist dann eine sehr schwerwiegende Zäsur im Leben und Erleben der Kranken.
Wenn wir weiter zur Kenntnis nehmen, daß nur 5 % der frei praktizierenden Ärzte und Ärztinnen Fachpsychotherapeuten und Fachpsychotherapeutinnen sind, und weiter wissen, daß 1,5 Millionen
Menschen psychopharmakaabhängig mit Rezept sind, dann genügen die Zahlen, um dieses Problem statistisch darzustellen. Geholfen ist den Kranken damit noch nicht.
Herr Minister Seehofer wird nicht müde, die Sparzange Kostenbeteiligung an das System der solidargemeinschaftlichen Gesundheitsleistung anzulegen. Er lockt die Psycho-Fachverbände mit der berufsrechtlichen Regelung, wenn diese bereit sind, nicht mehr bedingungslos Lobbyisten und Lobbyistinnen ihrer Patienten und Patientinnen zu sein. Die Berufsverbände aber sagen geschlossen: Lieber kein Psychotherapeutengesetz für uns als Kostenbeteiligung für unsere Patienten und Patientinnen.
- Die, mit denen ich gesprochen habe, haben diese Meinung. Das ist eine beachtliche Zahl und daher äußerst repräsentativ. Ich finde es außerordentlich hervorhebenswert, daß sich die Behandler in diesem Punkt auf die Seite der zu Behandelnden stellen und Solidarität zeigen. -
An dieser festen Haltung, die diese Psychotherapielobbyisten und -lobbyistinnen haben, kommen Sie in der Regierung nicht vorbei. Deshalb hat die Regierungskoalition weder in den Ländern noch bei den Verbänden Aussicht auf ein anderes Verhandlungsergebnis. Sie müssen diesem Kompromiß schon beitreten. Sonst gibt es eben keinen.
Ist es ein Macht-, ist es ein Parteienstreit, oder ist es ganz einfach nur Stiefväterlichkeit gegenüber den ungeliebten, gerne vergessenen anders Kranken? Mit Seehofer - gestatten Sie mir, daß ich immer wieder auf Sie zurückkomme, aber ich fand es sehr interessant, wie Sie sich gerade in der letzten Zeit öffentlich dazu geäußert haben - würde einmal mehr gerade jener Personenkreis zuerst aus der adäquaten Heilbehandlung gedrängt, der sie am meisten braucht. Der Eigenanteil selektiert, grenzt aus, z. B. kinderreiche Familien aus der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Wirtschaftlich abhängige Frauen, Arme und Flüchtlinge verlieren daher zuerst die Gleichbehandlungsrechte.
Wir Grüne haben in den vorliegenden Entwürfen der SPD und der Länder eine ganze Reihe von Punkten gefunden, die wir genauso sehen.
Wir haben eine Weile darüber nachgedacht: Was machen wir an diesem Punkt? Stellen wir einen eigenen Gesetzesantrag, erarbeiten wir einen eigenen Gesetzentwurf? Wir sind uns in der Frage, daß junge Menschen mit 21 Jahren immer noch durchaus in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie richtig am Platz sind, mit den Antragstellern einig. Wir sind der Meinung, daß die Quote von 2 % eine Mindestquote ist, die regionale Sonderbedarfe berücksichtigen
Monika Knoche
muß und nicht den ärztlichen Leistungen gegengerechnet werden kann und soll. Wir meinen natürlich, daß der Arztvorbehalt dieses Gesetz auf gar keinen Fall diktieren darf.
Wir haben all die Punkte, die uns wichtig sind, in Änderungsanträgen vorgestellt. Aber einen Punkt möchte ich noch herausgreifen, der mir sehr am Herzen liegt. Es ist die frauengerechte Psychotherapie, die in der Frage der wissenschaftlich anzuerkennenden Therapieverfahren in allen Diskussionsbeiträgen und -vorlagen bisher eine viel zu geringe - wenn nicht überhaupt keine - Rolle spielt. Wenn wir wissen, wie sehr die Lebenszusammenhänge, die Diskriminierung, die kulturelle Randständigkeit für Frauen zur Psychiatrisierung, Medikamentierung ihrer Befindlichkeitsstörungen führt, dann können wir aus unserer Erfahrung, aus unserer frauenpolitischen Kenntnis der Gesundheitspolitik sagen: Es ist dringend erforderlich, daß die Wissenschaftlichkeit der anzuerkennenden Verfahren auf ihre Gültigkeit für Frauen überprüft wird.
Wir wollen, daß es endlich ein Psychotherapeutengesetz gibt. Aus diesem Grund schließen wir uns den Anträgen der Länder und der SPD voll an.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Jürgen Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Freien Demokraten halten ein Psychotherapeutengesetz aus zwei Gründen für notwendig.
Erstens ist eine gesetzliche Regelung für diejenigen nötig, für die ja Gesundheitspolitik gemacht wird, nämlich für die Patienten. Diese erwarten Behandlungssicherheit, d. h. die Sicherheit, psychotherapeutisch qualifiziert behandelt zu werden, wenn eine solche Behandlung notwendig ist. Also muß der Gesetzgeber ein Berufsrecht auf den Weg bringen, das diese Behandlungsqualität garantiert. Der Patient muß auch in diesem wesentlichen Bereich vor Inkompetenz geschützt werden.
Zweitens müssen die Psychotherapeuten davor geschützt werden, daß die therapeutische Reputation der großen Mehrheit durch die professionelle Unlauterkeit einiger weniger beschädigt wird. Die Psychologischen Psychotherapeuten brauchen also auch ihrerseits ein klares Berufsrecht, das die Aus-, Fort-und Weiterbildungsvorgaben klar definiert.
Wir Liberalen, liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachten ein solches Psychotherapeutengesetz aber nicht als ein isoliertes Problem. Es muß aus unserer Sicht zeitlich und konzeptionell in das Gesamtkonzept bei der anstehenden Reform des Gesundheitswesens eingebettet werden.
Dabei sind für uns Ausgangspunkt unsere Vorschläge für einen strukturellen Wandel im Gesundheitswesen, wie wir sie - wenige Meter von hier - auf unserem gesundheitspolitischen Kongreß am 2. Mai präsentiert haben. Dazu gehört u. a.: Transparenz für die Versicherten durch schrittweise Einführung der Kostenerstattung, also Absage an das gegenwärtige Blankoschecksystem -- Punkt -; Schutz der Solidargemeinschaft vor Mißbrauch, auch durch Selbstbeteiligungsregelungen einschließlich Härtefallregelungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann die Phantomdiskussion bei diesem Thema eigentlich nicht mehr ganz nachvollziehen. Es ist nicht diskriminierend, Selbstbeteiligung bei Zahnersatzleistungen zu haben. Es ist nicht diskriminierend, Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln zu haben. Es ist nicht diskriminierend, Selbstbeteiligung beim Krankenhausaufenthalt zu haben. Aber es ist unglaublich diskriminierend, Selbstbeteiligung beim Psychotherapeutenbesuch oder beim Arztbesuch zu haben!
Man kann ja sagen, die Solidargemeinschaft habe die Kosten generell zu tragen; aber diejenigen, die die Selbstbeteiligungsregelung aus wohlerwogenen Gründen in bestimmten Bereichen mittragen, sollten nicht so tun, als sei Selbstbeteiligung, für sich genommen, etwas Diskriminierendes. Diese Argumentation ist einfach unlauter. Man kann trefflich darüber streiten, wo sie in welchem Umfang angesiedelt sein kann, ob sie eine steuernde Wirkung hat und in welchem Umfang sie diese haben kann. Sie aber als ein Element der Kostenbegrenzung, der Verhaltenssteuerung zu diskriminieren, wenn sie doch als solches eingesetzt wird und wenn die Alternative möglicherweise eine dauernde Steigerung der Beiträge für alle ist - das finde ich nicht sonderlich überzeugend.
Der dritte Punkt ist die Beseitigung der starren Ausgabendeckelung in allen Bereichen, die wir vereinbart haben.
Zu den Überlegungen gehört auch der Abbau von Bürokratisierung und Reglementierung; dazu gehören schließlich alle Mechanismen, die geeignet sind, ein freiheitliches Gesundheitswesen bezahlbar und leistungsfähig zugleich zu halten.
Wir wollen im Herbst - und das ist ja wahrlich nicht mehr lange hin - mit unserem Konzept für ein - -
Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Kollege Möllemann, wenn Sie vom Wegfall der Ausgabenbudgetierung sprechen: Heißt dies, daß Sie vor dem Hintergrund der neuesten Zahlen in Kauf nehmen wollen, daß uns die Ausgaben im Gesundheitswesen davonlaufen?
Nein, Herr Kollege. Ich bin beim Thema Budgetierung auf eine interessante Publikation des ersten Redners dieser Debatte,
Jürgen W. Möllemann
des Kollegen Müntefering, aufmerksam geworden, der davon gesprochen hat, daß die starre Budgetierung, wie wir sie jetzt haben, eher ein Instrument sozialistischer Planwirtschaft sei. Ich kann ihm da gar nicht widersprechen. Wir sind gegen diese starre Budgetierung und sprechen von anderen Mechanismen, die die Ausgabenentwicklung steuernd beeinflussen sollen. Bei diesem Punkt war ich gerade, und in diesen Kontext gehört dann natürlich auch dieses Thema.
Also: Wir wollen uns im Herbst in Koalitionsverhandlungen über diese gesundheitspolitische Reform mit der Union verständigen und möchten das Psychotherapeutengesetz in diesen Kontext eingeordnet wissen. Die Rahmenbedingungen der vorliegenden Gesetzentwürfe des Bundesrates und der SPD sowie der Antrag der Grünen gehören auch in diesen Zusammenhang. Ob das dann der richtige Weg ist, wird sich zeigen, aber sachlich gehört das mit in diesen Zusammenhang. Wir werden also - der Herbst ist nun wirklich nicht mehr lange hin - über diese Themen dann gemeinschaftlich reden.
Ich finde, Herr Kollege Müntefering, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, daß ein Psychotherapeutengesetz eben auch auf soliden Finanzierungsgrundlagen basieren muß. Ich finde nicht, daß Sie die damit verbundenen Fragen in Ihren Entwürfen wirklich beantwortet haben.
Sie haben es gesagt: Wir hören in diesen Tagen erstaunliche Zahlen über die angebliche Ausgabenentwicklung bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir werden sehen, wohin sie wirklich tendiert. Das ist nicht die Frage eines Quartals; da würden wir schon ganz gem den Überblick über einen längeren Zeitraum haben. Aber wir werden über geeignete Maßnahmen zur Ausgabenbegrenzung zu reden haben; ich habe vorhin einige angesprochen.
Auf jeden Fall wird jedes Psychotherapeutengesetz weitere Kosten verursachen; also sollten wir auch im Kontext der Gesamtreform entscheiden. Das wird im Herbst geschehen. Bis dahin wird man sich gedulden können und müssen.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Dr. Ruth Fuchs, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch immer und, wie wir heute gehört haben, schon fast 25 Jahre lang fehlt eine adäquate gesetzliche Regelung für die heilberufliche Tätigkeit der Psychologischen Psychotherapeuten. Im Kern muß es darum gehen, daß nur ausreichend qualifizierte Psychologische Psychotherapeuten bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten entsprechende Behandlungen erbringen können und daß endlich auch die Grundlagen für eine gleichberechtigte und eigenverantwortliche heilberufliche Tätigkeit dieser Berufsgruppen in der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen werden.
Wir begrüßen deshalb, daß Bundesrat und SPD- Fraktion nach dem Scheitern der bisherigen Bemühungen nun ihrerseits eine entsprechende Initiative ergriffen haben. In der Heilkunde müssen sich die Patienten uneingeschränkt darauf verlassen können, daß der jeweilige Behandler über eine solide wissenschaftliche Ausbildung verfügt und daß der Gesetzgeber dafür wirksame Garantien schafft. Zum anderen ist die psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung vielerorts durch lange Wartezeiten, nicht selten auch durch zu spät vorgenommene oder ganz unterbleibende Behandlungen gekennzeichnet. Es herrscht also eher Unter- als Überversorgung.
Bekanntlich ist davon auszugehen, daß in den industrialisierten Ländern - ohne daß man sich dabei ganz exakt festlegen muß - mindestens ein Drittel aller Patienten unter Krankheiten leidet, die mit einer einseitig naturwissenschaftlich-biologischen Betrachtungsweise nicht adäquat zu erfassen sind. Ihre noch immer meist ausschließlich apparativ-technische Diagnostik und die oft nachfolgende medikamentöse Behandlung gehen zwangsläufig an den ursächlichen Faktoren vorbei und führen leider häufig zu Krankheitsverläufen, die nicht nur unnötiges Leid hervorrufen, sondern auch enorme zusätzliche Kosten verursachen.
Nimmt man dies alles zusammen, dann geht es mit diesem Gesetz keineswegs nur um die Schaffung eines überfälligen Berufsrechtes und auch nicht nur um die Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung - so wichtig diese Punkte auch sind. Letztendlich geht es um die Frage, welchen Stellenwert sprechende und zuwendungsorientierte Behandlungsformen in der Heilkunde unseres Landes einnehmen sollen - kurz: ob wir eine eher seelenlose oder eine mehr menschliche Medizin haben wollen.
Das vorliegende Gesetzesvorhaben - daran besteht keinerlei Zweifel - ist also dringend notwendig. Der anstehende Handlungsbedarf wird auch von keiner Seite bestritten. Im Gegenteil: Im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens in der vorigen Legislaturperiode sind von allen Beteiligten, vor allem auch von den betroffenen Fachvertretern sowie von den Patienten selbst, viele konstruktive Vorschläge eingebracht worden, um diesen in der Tat nicht unkomplizierten Gegenstand schließlich zufriedenstellend zu regeln. Am Ende lag auch ein Entwurf vor, der bereits in vieler Hinsicht Anerkennung finden konnte. Strittig blieb aber die Frage der Selbstbeteiligung der Patienten im Falle der Inanspruchnahme eines Psychologischen Psychotherapeuten. Koalition und Regierung bestanden auf derartigen Zuzahlungen, was zur Ablehnung des Gesetzes im Bundesrat führte -
und das, meine Damen und Herren, völlig zu Recht. Schließlich handelt es sich keineswegs um irgendeine Detailregelung, die man, etwa im Interesse eines bereits erreichten Gesamtfortschritts, in Kauf nehmen könnte. Ganz im Gegenteil: Hier geht es durchaus um Grundsätzliches.
Dr. Ruth Fuchs
Es gehört heute zu den bemerkenswerten Paradoxien in der Debatte um die gesetzliche Krankenversicherung, daß manche die finanziellen Folgen der angestauten Struktur- und Steuerungsprobleme im Gesundheitswesen gerade dadurch bewältigen wollen, daß sie das Beste, was dieses System besitzt und was im Kern seinen größten Vorzug bildet, nämlich die Solidarität bei der Bewältigung des Krankheitsrisikos, über Bord werfen wollen. In erster Linie gehören hierher die geradezu unermüdlichen Bestrebungen, immer wieder und an den verschiedensten Stellen Formen der Patientenselbstbeteiligung einführen zu wollen. Wir lehnen dies aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Vor allem verschlechtern Selbstbeteiligungen regelmäßig die Versorgungssituation, da sie für viele Menschen den Zugang zu medizinischer Hilfe empfindlich beeinträchtigen.
In diesem Zusammenhang übrigens es übrigens sehr aufschlußreich, daß die maßgeblichen Ärzteorganisationen, die ansonsten in diesen Fragen leider keineswegs besonders kleinlich sind, eine Zuzahlung für die Inanspruchnahme ihrer unmittelbaren ärztlichen Leistungen ganz entschieden ablehnen. Um so mehr muß es sich verbieten, diesen Einstieg gerade bei der Psychotherapie und bei den Psychologischen Psychotherapeuten erzwingen zu wollen, d. h. auf einem Gebiet, wo es um Menschen mit seelischen Störungen geht, die oft ohnehin zu den sozial Schwächeren der Gesellschaft gehören.
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, daß in den vorliegenden Entwürfen des Bundesrates und der SPD-Fraktion auf Selbstbeteiligungen völlig verzichtet wird und damit auch in diesem Punkt der gebotenen Gleichbehandlung körperlich und seelisch kranker Menschen zum Durchbruch verholfen werden soll.
Auch in der Kostenfrage bringen die vorliegenden Entwürfe durch die Erhöhung des vorgesehenen Vergütungsvolumens deutliche Verbesserungen. Im Unterschied zum bisherigen Ansatz wird damit der Gefahr, daß es für die Psychotherapie eher zu Einschränkungen als zu Entwicklungschancen kommt, in angemessener Weise entgegengewirkt. Auch weitere Modifizierungen, die noch stärker auf Gleichstellung und gleichberechtigte Kooperation der Psychologischen Psychotherapeuten und Ärzte zielen, z. B. das nunmehr klare Abrücken vom Arztvorbehalt, die veränderte Zusammensetzung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen oder auch die vorgesehenen Maßnahmen zur Entwicklung der psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung nach 1999, finden unsere Unterstützung.
In diesem Zusammenhang wird es besonders wichtig sein, daß die Selbstverwaltung dafür sorgt, daß unter Zugrundelegen strenger Maßstäbe auch neue, wissenschaftlich anerkannte Therapieverfahren Eingang in die Ausbildung und kassenrechtliche Zulassung finden können. Ich erinnere hier besonders an die dafür bereits bestehende Notwendigkeit bei der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie.
Meine Damen und Herren, nach unserer Auffassung liegt dem Parlament jetzt eine weitgehend reife Fassung des Psychotherapeutengesetzes vor. Noch bestehender Klärungs- und Verbesserungsbedarf sollte im Ausschuß zügig behandelt werden können.
Notwendig ist nunmehr vor allem, daß Regierung und Koalition über ihren Schatten springen, das heißt den politischen Willen einbringen, das Gesetzesvorhaben zu einem guten Ende zu führen. Alles andere entspräche nicht der Verantwortung dieses Hauses für eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung der Menschen in diesem Lande, und zwar aller Menschen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Sigrun Löwisch.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt von allen Seiten gehört, alle wollen das Gesetz lieber heute als morgen. Nur darüber, wie es aussehen soll, gehen die Meinungen heute eigentlich noch mehr auseinander als gestern.
Gestern - genauer gesagt: am 24. Februar 1994, in der 210. Sitzung dieses Hohen Hauses - sagte der Berichterstatter der SPD in der Aussprache zum Psychotherapeutengesetz, ca. 20 sehr substantielle Anträge der SPD hätten Regierung und Koalition in diesen Gesetzentwurf übernommen. Er sagte weiter - ich zitiere -:
Das hat zu fundamentalen Änderungen im Berufsrecht geführt. Dies hat letztendlich dazu geführt, daß wir dem berufsrechtlichen Teil zustimmen konnten.
Er sagte etwas später in derselben Rede - ich zitiere nochmals -:
Der berufsrechtliche Teil war ausgewogen, war zustimmungsfähig.
Das ist wortwörtlich zitiert.
Nun können Sie sich fragen, wer das wohl war. Der Berichterstatter, der das sagte, ist immer noch derselbe; es ist unser Kollege Horst Schmidbauer. Nur, heute vertritt er etwas anderes.
Unser Gesetzentwurf vom Februar 1994 ist auch derselbe geblieben. Im berufsrechtlichen Teil, der ja damals ausdrücklich Ihren Beifall gefunden hat, sind wir Ihnen, wie Sie alle wissen, im Vermittlungsverfahren noch einmal entgegengekommen, für mich und für manche andere bis zur Schmerzgrenze.
Trotzdem - und das ist das Erstaunliche - hat die SPD nun auf diesem Sektor den breiten Konsens gekündigt. Ich muß Ihnen sagen, das ist enttäuschend. Ich glaube, daß es auch unnötig war. Es ist enttäuschend nicht nur für uns, daß wir im berufsrechtlichen Teil nun vor ganz neuen Anträgen und Vorstel-
Sigrun Löwisch
Lungen stehen, die von den unseren wieder sehr abweichen - ich werde das nachher gleich ausführen -, sondern es ist auch enttäuschend für alle, die auf dieses Gesetz warten. Und da sind wir uns wieder einig, daß viele auf dieses Gesetz warten.
Ich habe mich sogar gefragt - vielleicht können Sie nachher darauf antworten -, ob die Übereinstimmung, die wir damals im Berufsrecht gehabt haben, gar nicht so ernst gemeint war, wie Sie, meine Kollegen von der SPD, oder auch Herr Müntefering damals gesagt haben. Ich habe das extra noch einmal nachgelesen, was er damals gesagt hat.
Eines möchte ich auch noch einmal betonen: Der Vorschlag, den wir damals ausgearbeitet hatten und der uns eigentlich wirklich nur noch hauchdünn voneinander trennte, ist an der starren Haltung der SPD-geführten Bundesländer gescheitert. Das müssen Sie auch verantworten.
- Wir sehen das so, und wenn Sie ein bißchen in sich gehen, dann merken Sie auch, daß wir recht haben.
Wir haben jedenfalls, so hoffe ich, in Zukunft immer noch ein gemeinsames Ziel, und zwar die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Psychotherapie zum Wohle der Patienten. Dies muß der Leitgedanke sein. Da komme ich nun schon zum Berufsrecht. Ich möchte mir einmal Punkt für Punkt vornehmen, was Sie im berufsrechtlichen Teil andern wollen und was uns doch sehr bedenklich erscheint.
In erster Linie ist es der Arztvorbehalt. Er wurde ja heute schon angesprochen. Ich sage ganz eindeutig: Es liegt nicht im Interesse der Patienten, diesen Arztvorbehalt zu streichen oder zu verwässern; denn wir können auf die somatische Erklärung durch einen Arzt zu Beginn einer Psychotherapie - Sie wissen, daß wir zwei Sitzungen vorschalten - nicht verzichten. Man darf nicht so tun, als ob es bei einer derartigen Konsultation um eine gewisse Gängelung der Psychotherapeuten ginge. Das ist nicht der Fall.
Nun schaue ich Herrn Professor Knaape an, der das als Arzt viel besser weiß als wir.
- Dr. Knaape; er nimmt es gern entgegen. Wenn er nicht mehr im Bundestag ist und mehr Zeit hat, wird er es vielleicht einmal.
Wir wissen heute sehr wohl - und Sie wissen es noch besser als ich, da ich keine Medizinerin bin -, daß psychische Störungen durch verschiedenste somatische Erkrankungen ausgelöst werden können, ob es Stoffwechselkrankheiten sind, hormonelle Störungen oder Tumore. Wir wissen inzwischen sogar, daß auch gewisse Antibiotika psychische Störungen hervorrufen können. Das ist nur eine kleine Aufzählung.
Die Frage ist: Wie sollte ein nichtärztlicher Psychotherapeut das beurteilen können? Denn im Grunde ist er ein Laie. Zwar ist er überdurchschnittlich informiert - sicherlich besser als mancher von uns -, aber er ist ein Laie. Wir wissen auch, daß nicht selten nur eine Kombination aus pharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung Aussicht auf Erfolg verspricht.
Wir wissen, daß eine enge Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Arzt zwingend ist. Mir geht es noch nicht weit genug, daß wir nur zu Beginn der Behandlung eine Abstimmung zwischen Therapeut und Arzt fordern. Daher freue ich mich, daß bereits viele Ärzte und viele Therapeuten von Anfang an gut zusammenarbeiten. Ich denke, das ist das Normale. Wo das nicht so ist, müssen wir als Gesetzgeber eingreifen und dafür sorgen, daß diese Zusammenarbeit zugunsten der Patienten erfolgt.
Ein weiterer Punkt, den wir sehr kritisch betrachten, ist die Frage der praktischen Ausbildung in der Psychiatrie. In der Psychiatrie soll ein Jahr lang praktiziert werden. Diese Ausbildungszeit ist von Ihnen in beliebig kurze Abschnitte - wie ich es so schön sage - „ zerhackstückelt" worden. Denn wir gehen von einer unteren Grenze von drei Monaten aus, d. h. das Ausbildungsjahr kann in dreimonatige Abschnitte aufgeteilt werden. Daran, daß Sie das jetzt im Grunde freigeben und die eine oder andere Stippvisite, die eine oder andere Hospitation einfach nicht das bringen wird, was wir wollen, kann man erkennen, daß die Anforderungen für eine gute Ausbildung nicht ausreichen.
Die Möglichkeit, dieses Ausbildungsjahr in dreimonatige Abschnitte aufzuteilen, bedeutet eigentlich eine Untergrenze. Es wird oft gesagt, daß es nicht anders geht, weil es eine soziale Härte wäre, wenn diese Psychologen in einer Institution ein Jahr lang ihr Praktikum als Hospitanten, ohne ein Entgelt dafür zu erhalten, absolvieren müßten. Das wird immer wieder betont. Das ist aber nicht zutreffend. Wir haben - manchmal kommt auch von der Regierung etwas Gutes; das wissen Sie auch - durch die Psychiatrie - -
- Lieber Herr Thomae, Sie wissen ja, daß das ironisch gemeint war. Darüber sind wir uns doch einig.
Durch die Psychiatriepersonalverordnung wurden in den psychiatrischen Kliniken - wir haben in unseren Kliniken insgesamt etwa 70 000 Betten für psychisch Kranke - etwa 2 000 Psychologenstellen neu geschaffen.
Sigrun Löwisch
Ich habe mehrere Gespräche dazu geführt. Es ist ohne weiteres möglich, etwa 500 dieser Stellen für Psychologen im Praktikum - entsprechend den Ärzten im Praktikum; dann handelt es sich statt um den AIP uni den PIP - anzubieten. Das wären insgesamt 1 000 Stellen, da es sich um Halbtagsstellen handelt.
Dieses Angebot steht. Aber - das wissen Sie vielleicht nicht; sonst hätten Sie es wahrscheinlich in Ihrem Gesetzentwurf anders gemacht - die psychologischen Berufsverbände sind bisher nicht bereit gewesen, mit der Gesellschaft für Psychiatrie über diese Fragen in ein Gespräch einzutreten. Dieses Angebot wurde also bis jetzt nicht angenommen. Das kann deswegen nicht der Grund dafür sein, daß man sagt: Man kann das nicht am Stück machen.
Ich würde mir wünschen - ich hoffe auf die Vernunft der Praktikanten -, daß sie in Zukunft sagen: Wenigstens ein halbes Jahr oder, besser noch, ein ganzes Jahr werden wir diese Ausbildung am Stück machen.
Es stellt sich auch noch die Frage, ob die SPD und der Bundesrat etwa glauben, daß das sorgfältige Kennenlernen von psychiatrischen Erkrankungen nicht wichtig sei und daß man darauf verzichten könne. Das kann natürlich ebenfalls sein. Aber dann kann man eindeutig sagen - das bestätigt Ihnen wiederum Herr Dr. Knaape -: Sie gehen fehl.
- Ich glaube, Sie sollten mehr auf ihn hören.
Ein weiterer Schwachpunkt ist das Gutachten zur wissenschaftlichen Anerkennung von Verfahren. Wir sind der Meinung, daß das Psychotherapeutengesetz natürlich sicherstellen muß, daß die angebotenen Behandlungsweisen seriös und wissenschaftlich fundiert sind. Wir wissen ja, daß wir es mit etwa 300 verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren zu tun haben. So viele sind auf dem Markt. Es geht einfach nicht, daß Behörden nach ihrem eigenen Belieben entscheiden können, ob sie ein Gutachten in Auftrag geben oder nicht.
Eine weitere kritische Frage ist die, ob Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten auch Erwachsene behandeln sollen. Ich sehe das mit Sorge.
- Die Grenzfälle können wir sofort ansprechen.
Sie wissen, lieber Herr Kollege, daß, wenn z. B. ein Jugendlicher mit 18 Jahren zu einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in eine Therapie kommt, diese solche Patienten auch dann weiter behandeln können, wenn sie 21 oder 22 Jahre alt sind. Sie wissen, daß beispielsweise bei Familientherapien auch Erwachsene mitbehandelt werden. Es gibt aber keinen Grund dafür, daß man jetzt die Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten grundsätzlich zur Behandlung von Erwachsenen zuläßt; denn Sie wissen doch selbst: Wir haben viel zu wenige Behandler für Kinder.
Die therapeutische Behandlung von Kindern ist ganz besonders schwierig. Ich denke, Sie sollten auf diesen Vorschlag verzichten. Das lehnen wir ab. Wir wollen diese gut und hochqualifiziert ausgebildeten Leute lieber zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen einsetzen.
Frau Kollegin Löwisch, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Knoche?
Ja, bitte schön.
Könnten Sie sich dem Gedanken anschließen, daß es eine Rechtfertigung dafür gibt, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen doch Über-18-Jährige anzuvertrauen, analog zu Regelungen, die es im Kinder- und Jugendhilfegesetz gibt, oder zu Regelungen, die auch das Strafgesetzbuch kennt, wonach man davon ausgeht, daß die Jugend mit 18 Jahren eben nicht immer abgeschlossen ist?
Ich kann mir das nicht vorstellen, Frau Kollegin, weil ich denke, daß gut ausgebildete ärztliche Psychotherapeuten ebenfalls in der Lage sind, junge Menschen, die nach ihrer Meinung noch jugendlich sind, obwohl sie die Volljährigkeit schon erreicht haben, ebenso gut zu versorgen und zu betreuen wie die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Ich bin nicht der Meinung, daß z. B. andere Therapeuten Kinder genauso gut - in manchen Fällen mag das zutreffen, aber in vielen Fällen eben nicht - wie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten behandeln können. Deswegen möchte ich Sie bitten, daß wir uns gemeinsam auf die Behandlung von Kindern beschränken. Ich glaube, das wäre wichtiger.
Ein weiterer Punkt ist, daß die SPD die Übergangsregelungen, die wir im Vermittlungsausschuß schon ausgeweitet hatten, noch einmal aufweichen will. Sie will noch einmal aufsatteln. Das ist insofern erstaunlich, weil Sie wissen, daß wir eigentlich keine Notlage an Psychotherapeuten haben.
Wir haben in Deutschland die größte Zahl von Psychotherapiebetten und Psychotherapeuten auf der ganzen Welt. Wir haben inzwischen die USA hinter uns gelassen. Wir haben keinen Bedarf an sehr viel mehr Psychotherapeuten, sondern wir haben einen
Sigrun Löwisch
Bedarf an besonders gut und qualifiziert ausgebildeten Psychotherapeuten. Deswegen können Übergangsregelungen nicht bis zum Gehtnichtmehr aufgeweicht werden.
Daß die Übergangsregelungen in unserem Gesetz gut sind, sagt z. B. unsere liebe Kollegin, die Ministerin Helga Solinger von der SPD; denn sie hat auf eine Anfrage von Abgeordneten des baden-württembergischen Landtages, ob die Zahl derer, die einer Nachqualifizierung bedürfen, groß genug sei, wie folgt Stellung genommen:
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht eine sehr weitgehende Übergangsregelung vor, die die meisten bisher --
Frau Kollegin, bitte lesen Sie es nicht ganz vor; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, ich zitiere, Herr Präsident:
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht eine sehr weitgehende Übergangsregelung vor, die die meisten bisher in der psychotherapeutischen Versorgung mitwirkenden nichtärztlichen Psychotherapeuten und Psychologen einschließt.
Ich meine, wenn das Ihre Kollegin von der SPD sogar schriftlich von sich gibt,
dann möchte ich doch bitten, daß Sie insgesamt den berufsrechtlichen Teil noch einmal überlegen.
Ich wünschte, wir kämen wieder auf den Konsens zurück. Dann hätten wir es im Herbst, wenn wir hoffentlich ein gutes Psychotherapeutengesetz verabschieden, leichter.
Vielen Dank.
Ich bitte um Verständnis, daß ich noch einmal die Rolle des amtierenden Präsidenten erläutere.
Ich mache die Kollegen am Schluß oder sogar ein wenig nach dem Schluß Ihrer Redezeit darauf aufmerksam, daß das rote Licht schon aufleuchtet. Ich mache das nicht, weil mir das viel Spaß macht, sondern weil die Zeit den Rednern derselben Fraktion später abgezogen wird. Es wird von mir erwartet, daß ich das tue.
Wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß die Zeit abgelaufen ist, dann sagen Sie bitte nur noch einen Satz und tragen Sie nicht noch ein ganzes Zitat vor oder hangen einen ganzen Absatz an.
Ich erteile als nächstem dem Kollegen Horst Schmidbauer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte am Anfang mehrere Ziele voranstellen und sagen, wo wir die Schwerpunkte sehen. Wir wollen Psychotherapie statt Psychopharmaka, wir wollen die Gleichstellung der psychisch Kranken statt der Diskriminierung, wir wollen psychotherapeutische Regelversorgung statt Fehl- und Unterversorgung, und wir wollen einen Sicherstellungsauftrag statt einer Zwei-Klassen-Medizin.
Wir wollen Qualitätssicherung statt eines Marktes von Scharlatanen, wir wollen Gleichstellung von Psychotherapeuten und Ärzten statt Delegationsprinzip, und wir wollen Kosten sparen statt für Chronifizierung und Frühverrentung zu bezahlen.
Ich denke, die Ziele sind klar. Deshalb wollen wir dieses Psychotherapeutengesetz.
Unser erstes Ziel: Wir wollen Psychotherapie statt Psychopharmaka. 1 200 Millionen DM jährlich für Psychopharmaka sind zuviel.
800 Millionen DM jährlich für Pyschotherapien sind zuwenig. Ich bitte darum, daß wir auch dann aufbegehren, wenn es um die 1 200 Millionen DM geht; denn darin liegt die Ursache des Problems.
Unser zweites Ziel: Wir wollen die Gleichstellung der psychisch Kranken statt der Diskriminierung. 20 Jahre und noch mehr warten sie auf die Gleichstellung. Das ist zu lange. Eine Diskriminierung durch eine Selbstbeteiligung ist der falsche Weg.
Das dritte Ziel: Wir wollen psychotherapeutische Regelversorgung statt Fehl- und Unterversorgung. Nicht akzeptabel ist, daß Psychotherapie unter der Ladentheke der Krankenkassen gehandelt wird; nicht akzeptabel, daß nur jeder fünfte eine psychotherapeutische Therapie erhält; nicht akzeptabel, daß Betroffene durchschnittlich sieben Jahre lang durch den medizinisch-industriellen Komplex irren, bevor sie adäquat behandelt werden.
- Ja, das hat das Gutachten der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht.
Viertes Ziel: Wir wollen einen Sicherstellungsauftrag statt einer Zweiklassenmedizin. Nicht der Geldbeutel darf über den Zugang zur Psychotherapie entscheiden. Ohne Sicherstellungsauftrag in der gesetzlichen Krankenversicherung geht das nicht.
Unser fünftes Ziel: Wir wollen Qualitätssicherung statt eines grauen Marktes mit Scharlatanen. Der unübersichtliche Markt von Psychotherapeuten muß
Horst Schmidbauer
geordnet werden. Verbindliche Qualitätskriterien müssen den hochqualifizierten Behandler vor selbsternannten Heilern schützen. Das ist der beste Verbraucherschutz.
Sechstes Ziel: Wir wollen Gleichstellung von Psychotherapeuten und Ärzten statt Delegationsprinzip. Das heißt, wir wollen - dies sage ich zur Kollegin Löwisch gewandt - eine qualitativ hochstehende Kooperation, die in beide Richtungen funktioniert: Wir wollen nicht, daß die Ärzte als Nadelöhr beim Zugang zur Psychotherapie wirken, und wir wollen nicht, daß der Therapeut letztendlich die Hilfsperson des Arztes ist.
Unser siebtes Ziel: Wir wollen Kosten sparen, statt für Chronifizierung und Frühverrentung zu zahlen. Wir wollen nicht länger eine Chronifizierung bei Hunderttausenden von psychisch kranken Menschen, und wir wollen nicht Jahr für Jahr 25 000 von ihnen frühverrenten.
Mit unserem Gesetzentwurf wird nun die Gleichstellung Wirklichkeit. Wir Sozialdemokraten halten Wort beim Psychotherapeutengesetz. Wir Sozialdemokraten haben nur wenige Monate nach der Wahl das Psychotherapeutengesetz qualitativ weiterentwickelt.
Ja, es ist richtig, wir haben auch im berufsrechtlichen Teil eine qualitative Weiterentwicklung vorgenommen, weil wir mit den Betroffenen, mit den Therapeuten natürlich Gespräche geführt haben, in denen die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung zum Ausdruck kam.
Im Interesse der Patienten schaffen wir endlich im Sozialrecht die überfällige Gleichstellung von psychisch Kranken mit somatisch Kranken. Deshalb wird es mit der SPD eine Selbstbeteiligung nicht geben.
Im Interesse der Therapeuten schaffen wir endlich ein Berufsrecht, daß ärztliche und psychologische Psychotherapeuten gleichstellt. Der direkte Zugang der Patientinnen und Patienten zu einem Psychotherapeuten ihres Vertrauens wird ermöglicht. Dies sehen wir als Kern des Vorhabens: daß es keinen Arztvorbehalt gibt, sondern die Kooperation gefragt ist. Im Interesse der Kassen schaffen wir endlich eine gesetzliche Grundlage für die psychotherapeutische Versorgung. Einzelvertragsregelungen mit den Therapeuten werden dadurch überflüssig.
Im Licht der Qualität dieses neuen Gesetzentwurfes ist es für alle Beteiligten um so weniger nachvollziehbar, daß die Koalition Schwierigkeiten hat, uns zu folgen.
- Man wird es gleich sehen. - Für den Erfolg des Psychotherapeutengesetzes steht sich nämlich die Koalition selbst im Weg.
Das läßt sich an koalitionsinternen Widersprüchen belegen. Ich will das gern an drei Widersprüchen belegen. Den ersten Widerspruch werde ich bei der Selbstbeteiligung aufzeigen, den zweiten Widerspruch bei der Qualitätssicherung und den dritten Widerspruch bei der Selbstverwaltung.
Widerspruch Nummer eins: Widerspruch bei der Selbstbeteiligung. Der Minister im „Gelben Dienst" vom 29. Mai 1995:
Einen weiteren Ausbau der Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen wird es mit mir nicht geben.
Dagegen der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, der bekanntermaßen der F.D.P. angehört, am 24. Februar 1994 im Deutschen Bundestag zum Psychotherapeutengesetz:
In der Tat führen wir hier zum erstenmal die Selbstbeteiligung ein ... 1996, beim nächsten Schritt der Gesundheitsreform, muß ... auch im ärztlichen Bereich eine Selbstbeteiligung eingeführt werden, um eine Gleichstellung zu erzielen.
Ich sage das ganz ehrlich...., wir können nicht auf Dauer in einem Bereich eine Selbstbeteiligung einführen und in einem anderen Bereich nicht. Damit das klar ist: Ich sage dies von seiten der F.D.P.
- Das war die Solonummer.
Weiter der Minister im „Gelben Dienst" vom 29. Mai 1995: Gegen Wünsche nach Ausbau der Selbstbeteiligung wird er „mit aller Kraft kämpfen".
Dagegen die Parlamentarische Staatssekretärin in der Fragestunde am 17. Mai 1995 in ihrer Antwort auf meine Frage:
Wie Sie wissen, ist der Gesetzentwurf in der vergangenen Legislaturperiode an der Weigerung der SPD-regierten Länder gescheitert, hinsichtlich der Zuzahlung der Versicherten zu einem Kompromiß zu kommen. Solange die SPD-regierten Länder von dieser Position nicht abrücken ..., erscheint eine neue Initiative der Bundesregierung nicht sinnvoll.
Horst Schmidbauer
Ich denke, diese Selbstblockade der Koalition auf dem Rücken der Betroffenen ist nicht länger hinnehmbar.
Widerspruch Nummer 2: Widerspruch bei der Qualitätssicherung. Für alle Bereiche der Gesundheitsversorgung wird Qualitätssicherung gefordert und gefördert. Dazu der Minister - Interview in der „WAZ" am 19. November 1994 -:
Wer mehr Wirtschaftlichkeit in unserem Gesundheitswesen will, muß gleichzeitig dafür sorgen, daß die Qualität der medizinischen Versorgung gesichert wird. Das sind zwei Seiten einer Medaille.
Dagegen: Die Untätigkeit der Koalition beim Psychotherapeutengesetz verhindert, daß der Bundesausschuß nach § 91 des Sozialgesetzbuches V durch Richtlinien Verfahren zur Qualitätssicherung und -beurteilung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung bestimmen kann. Diese Selbstblockade der Koalition zu Lasten der Qualitätssicherung ist nicht länger hinnehmbar.
Widerspruch Nummer 3: Auf dem Petersberg wird einerseits das hohe Lied von der Stärkung und der Verantwortung der Selbstverwaltung gesungen. Die Kassen sind jetzt aber andererseits auf Grund der Blockadepolitik der Koalition gezwungen, Einzelvereinbarungen abzuschließen. Sie sind in der Verantwortung, trotz der fehlenden gesetzlichen Grundlage für ihre Versicherten die notwendige psychotherapeutische Versorgung sicherzustellen.
Der Minister - Presseerklärung des BMG vom 12. Januar 1995 -:
Vor allem sind wir uns einig, daß bei der Fortentwicklung des deutschen Gesundheitswesens die Selbstverwaltung Vorfahrt haben soll.
Dagegen bestätigt die Parlamentarische Staatssekretärin, daß sich das Ministerium vorbehalte, diese Einzelvereinbarungen zu kippen. In der Fragestunde am 17. Mai 1995 sagte sie:
Wir werden sehr aufmerksam beobachten, ob die Krankenkassen weiterhin Verträge abschließen und inwieweit diese auf gesetzlicher Grundlage beruhen. Ist dies nicht der Fall, müssen diese Verträge geahndet werden.
Also eine Selbstblockade der Koalition auf dem Rücken der Selbstverwaltung, die nicht länger hinnehmbar ist.
Dies sind die drei Widersprüche und der Grund dafür, daß man nicht recht weiß, auf welchen Weg sich die Koalition begibt; denn in der Koalitionsvereinbarung von 1990 war unter dem Stichwort „Gesundheit" vermerkt: „Gesetzlich zu regeln ist das Berufsbild und die Tätigkeit der psychologischen Psycho therapeuten gemäß den von den Koalitionsfraktionen festgelegten Eckdaten." In der Koalitionsvereinbarung für die 13. Legislaturperiode dagegen: Fehlanzeige.
Zusammenfassend kann ich nur sagen: Im Licht der Qualität des neuen Gesetzentwurfes ist es für alle Beteiligten um so mehr nachvollziehbar, daß der Koalitionsentwurf eines Psychotherapeutengesetzes scheitern mußte.
Fest steht: Mit dem jetzt eingebrachten Gesetzentwurf hat die SPD einen Qualitätsstandard gesetzt, hinter den in Zukunft niemand zurückkann. Mit dem jetzt eingebrachten Gesetzentwurf hat die SPD einen Qualitätsstandard gesetzt, der von allen getragen wird: getragen von den Patientinnen und Patienten, getragen von allen Therapeuten und getragen von den Krankenkassen. Ich denke, da muß Erfolg angesagt sein.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über 20 Jahren reden wir jetzt über das Psychotherapeutengesetz. Es ist absolut müßig, immer wieder die gleichen Argumente zu wiederholen.
Ich habe das auch nicht vor.
Erstens. Dieses Gesetz könnte längst in Kraft sein, wenn die SPD-geführten Länder im Sommer des letzten Jahres im Bundesrat zugestimmt hätten.
Deshalb hat die Verantwortung für die Regelungslücke, die auf diesem Gebiet besteht, alleine die SPD.
Zweitens. Wir hatten zum Berufsrecht einen Konsens. Deshalb, Frau Kollegin Knoche, geht es überhaupt nicht darum, ob man für oder gegen die fachlich qualifizierte Behandlung von psychisch kranken Menschen ist - wir sind absolut dafür; das kann man nicht oft genug betonen -, sondern es geht alleine um die Frage der Finanzierung.
Ich halte das Berufsrecht auch in der Zukunft für konsensfähig. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen als Politiker und Politikerinnen endlich einmal akzeptieren: Wer in diesem hochentwickelten Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland ein völlig neues Leistungsspektrum mit weitreichenden Leistungen in die Welt setzen will, muß eine dauerhafte und stabile Finanzierung mitliefern.
Bundesminister Horst Seehofer
Herr Müntefering, man kann - und soll dies sogar - in vielen politischen Fragen unterschiedlicher Auffassung sein. Aber mich stört bei Ihnen besonders folgendes, weniger bei Herrn Schmidbauer, da habe ich jede Hoffnung aufgegeben. Ich denke nur daran, daß er hier für die Bekämpfung der Psychopharmaka und seine Fraktion für Modellversuche bei Heroin eintritt. Das ist ein großer Widerspruch.
Da habe ich jede Hoffnung verloren. Aber Ihnen, Herr Müntefering, halte ich vor, daß Sie pausenlos bei Beteiligten Illusionen aufbauen, denen Sie dort, wo Sie Verantwortung tragen, nicht gerecht werden können. Sie haben heute wieder die Lösung mit den 2 % Budgetierung angeboten. Herr Müntefering, Sie waren es doch, der vor wenigen Monaten in der Ärztezeitung erklärt hat, die Budgetierung sei ein planwirtschaftliches Instrument und deshalb keine Antwort auf die Herausforderungen in der Zukunft. Hier und heute schlagen Sie sie wieder als einziges Instrument zur Kostenbeherrschung in der Zukunft vor.
An das zweite möchte ich hier nur erinnern; es wird uns in der nächsten Woche im Deutschen Bundestag noch beschäftigen. Meine Damen und Herren, die SPD ist pausenlos unterwegs, neue, zusätzliche Ausgaben zu verlangen, uns zu überbieten, Neues zu fordern. Wenn man dann dort, wo die Finanziers sitzen, die man dazu braucht, abfordert, anfragt, um schriftliche Stellungnahmen bittet, ist Fehlanzeige. Herr Schmidbauer ist hier aufgetreten und hat gesagt: Große zusätzliche humanitäre Leistungen für die HIV-Geschädigten der 80er Jahre! - Ich habe das damals schon als sehr zwiespältig und doppelzüngig eingestuft. Anschließend habe ich alle Ministerpräsidenten der SPD angeschrieben. Sie haben mir mitgeteilt: Vereinbart ist vereinbart. Keine Mark zusätzlich. Wir folgen dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion nicht.
Meine Damen und Herren, diese Doppelzüngigkeit, ja diese Heuchelei in der Politik, daß man hier mehr fordert und es dort, wo die Finanziers sitzen, ablehnt, dürfen wir nicht durchgehen lassen.
Zur Zuzahlung will ich hier eine ganz klare Aussage treffen, an die ich mich auch immer halten werde: Bei den etablierten Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung haben wir eine Zuzahlung. Dort sind alle zusätzlichen Möglichkeiten ausgereizt. Das habe ich immer gesagt, und das werde ich immer sagen, und es wird auch nie anders kommen, jedenfalls nicht mit mir, meine Damen und Herren. Das sind mehr als 10 Milliarden DM. Die Verstärkung der Zuzahlung, die in den letzten drei Jahren erfolgt ist, ist allein auf den Vorschlag der SPD zurückzuführen, die Zuzahlung bei den Arzneimitteln vom Preis auf die Packungsgröße umzustellen. Dabei bleibt es.
Hier haben wir es mit einem ganz anderen Sachverhalt zu tun. Obwohl die Finanzen in den Sozialhaushalten außerordentlich angespannt sind, sollen wir uns entschließen, eine völlig neue Leistung mit einem beachtlichen Volumen und mit einer großen
immanenten Kostendynamik in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu implantieren. Es geht hier nicht um die Zuzahlung bezüglich bereits bestehender Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, die ich für nicht mehr erhöhbar halte, sondern es geht um ein völlig neues Leistungsspektrum mit einem gewaltigen Volumen und mit einer großen Kostendynamik. Meine Damen und Herren, wer der Bevölkerung ehrlich gegenübertreten will, wer auf Dauer die Finanzierbarkeit sichern will, wird bei einem völlig neuen sozialen Leistungsspektrum nicht daran vorbeikommen, diejenigen, die die Leistungen in Anspruch nehmen, zu einer Zuzahlung heranzuziehen, so wie wir es für alle anderen Leistungen der ambulanten ärztlichen Versorgung auch tun.
Dabei kommt immer der sozialistische Vorschlag der Gleichmacherei. Man sagt: Wenn ihr es hier tut, müßt ihr auch die Eintrittsgebühr für die Arztpraxis verlangen. Diese Gleichmacherei ist typisch: Wenn es da nicht ist, darf es dort nicht stattfinden, und wenn man es hier macht, muß man es dort auch machen. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, daß die von der SPD mit beschlossene Selbstbeteiligung im Krankenhaus, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, dazu führen muß, auch die Selbstbeteiligung für den Eintritt in die Arztpraxis einzuführen. Kein Mensch würde darauf kommen.
Warum kann man nicht bei diesem neuen Leistungsspektrum eine Zuzahlung der Versicherten einführen, ohne daß man daraus die Schlußfolgerung zieht: Wir brauchen auch eine Zuzahlung für den Eintritt in die ärztliche Praxis?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte.
Herr Bundesminister, Sie haben eben postuliert, daß psychotherapeutische Therapie in Deutschland eine völlig neue Leistung sei. Könnten Sie mir die Qualität der neuen Leistung erläutern?
Wir sind hier doch nicht im Kindergarten. Zum Berufsrecht und zur Qualitätssicherung haben wir doch überhaupt keine unterschiedlichen Positionen. Wir diskutieren hier immer um des Kaisers Bart. Wir sind doch in allen Punkten - vielleicht wissen Sie das nicht - mit Ihrer Fraktion völlig einig gewesen. Es geht alleine um den marginalen Punkt einer zehnprozentigen Zuzahlung, wobei wir sogar noch vorgeschlagen haben, daß der Psychotherapeut auf freiwilliger Basis mit seinen Patienten mehr vereinbaren kann, mit all den Härtefallregelungen: daß die Einkommensschwachen, daß die Kinder usw. ausge-
Bundesminister Horst Seehofer
klammert werden. Diskutieren Sie doch hier nicht über einen Punkt, der überhaupt nicht streitig ist! Nicht die Qualität, nicht das Berufsrecht, nicht die Qualitätssicherung, nicht die Art und Weise der Behandlung sind strittig, sondern die Finanzierung. Drücken Sie sich nicht ständig um diese Frage herum, und reden Sie nicht über Dinge, die überhaupt nicht maßgeblich sind!
Herr Bundesminister, die Kollegin Knoche und der Kollege Schily würden ebenfalls gerne Fragen stellen. Wären Sie bereit, sie zu beantworten?
Wenn es um die Finanzen geht, dann ja. Aber ich führe keine Scheindiskussion über völlig unstrittige Punkte. Mich würde die Finanzierung interessieren.
Bitte, Frau Kollegin Knoche.
Danke.
Gehe ich eigentlich fehl in der Annahme - wenn ich in diesem Punkt Informationsbedarf habe, gebe ich das gerne zu -, daß die psychologische Psychotherapie, sofern Sie in der Klinik in stationärer Behandlung erfolgt, sehr wohl von den Kassen getragen wird, wohingegen sie, wenn sie bei demselben Krankenkreis ambulant erbracht wird, unter die Selbstbeteiligung fallen würde, was eine eklatante Ungleichbehandlung und auch nicht mehr im Sinne dessen, was Sie vorhin vorgetragen haben, wäre?
Es geht allein um die Frage: Die Politik entscheidet sich in einer finanziell hochproblematischen Zeit - übrigens auch für die gesetzliche Krankenversicherung - dafür, ein neues Leistungsspektrum berufsrechtlich und leistungsrechtlich in die Krankenversicherung einzubauen.
Die Logik: Vor etwa einem Jahr haben wir in diesem Deutschen Bundestag eine völlig neue Leistung im Sozialhaushalt beschlossen, nämlich die Pflege von pflegebedürftigen Menschen. Damals hat die SPD mit uns entschieden, daß wir nicht 100 % der Gesamtkosten übernehmen, sondern nur den pflegebedingten Mehraufwand. Die SPD hat mit uns die Entscheidung, die wir hier bei der psychotherapeutischen Behandlung in vergleichbarer Weise treffen wollen, getragen, daß der pflegebedingte Mehraufwand nicht völlig übernommen, sondern nach oben gedeckelt wird. Die Entscheidung, daß man pflegebedürftigen Menschen nicht die gesamten Kosten abnimmt, sondern sie beispielsweise die Kosten für Unterkunft und Verpflegung tragen läßt, hat die SPD hier mit uns getroffen. Deshalb ist überhaupt nicht einzusehen, warum der gleiche Gedanke jetzt bei
der Verwirklichung einer hochdynamischen zusätzlichen Leistung nicht wieder verwirklicht werden soll. Dabei bleibt es: Ohne diese Zuzahlung wird es ein Psychotherapeutengesetz in der Bundesrepublik Deutschland nicht geben. Darauf können Sie sich verlassen.
Herr Kollege Schily.
Herr Minister, wenn die Frage der Zuzahlung nach Ihrer Einschätzung ein marginaler Punkt ist, warum lassen Sie denn das Gesetz daran scheitern?
Weil ich als verantwortlicher Politiker wie die ganze Koalition kein Leistungsgesetz zusätzlich mehr in Kraft setze, bei dem wir der Bevölkerung nicht guten Gewissens sagen können: Diese Leistung ist auf Dauer stabil finanziert, so daß wir nicht alle zwei oder drei Jahre eine Reform zur Kostendämpfung für diese Leistung machen müssen. Wenn hier eine Dynamik entsteht, dann sollen an ihr auch jene beteiligt sein, die an diesem neuen Leistungsspektrum beteiligt sind. Anders kann man es nicht verantworten.
Ich habe nie gesagt, Herr Kollege Schily, daß eine Selbstbeteiligung auf diesem Sektor Steuerungswirkung hat. Ich habe immer gesagt - ich habe alle meine Reden zu diesem Thema nachgelesen -: Wir brauchen das Geld, um dieses Leistungsspektrum finanzieren zu können.
Bei 90 % der Fragen haben wir einen völligen Konsens, und nur der letzte Punkt hat uns letztes Jahr zum Scheitern gebracht, weil Sie nicht zugestimmt haben. Hier waren in Ihrem Kreise aber durchaus unterschiedliche Meinungen vorhanden.
Herr Bundesminister, Kollege Schily möchte gern noch eine Zwischenfrage stellen.
Jetzt ist dieser Punkt erledigt. Ich glaube, die politischen Botschaften sind eindeutig. Ohne diesen Punkt wird es das Gesetz nicht geben. Wir haben jetzt eine letzte Chance, in diesem Jahrhundert das Psychotherapeutengesetz noch zu verabschieden. Das ist die Gesundheitsstrukturreform III. Wir werden es im Herbst damit verbinden. Ich weise alle Neugierigen darauf hin. Die Situation ist damit nicht einfacher geworden, weil die Kostenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung uns zwingt, besonders sorgfältig und sparsam zu sein.
Ich rufe allen Beteiligten in den Psychotherapieverbänden zu, was ich im letzten und vorletzten Jahr immer gesagt habe: Wer auf diesem Sektor alles will, bekommt nach aller menschlichen Erfahrung nichts. Deshalb appelliere ich noch einmal an die SPD, sich hier zu bewegen. Wenn sich die SPD in der Finanzie-
Bundesminister Horst Seehofer
rungsfrage nicht bewegt, so daß das Gesetz auf Dauer solide und stabil finanziert ist, tut es mir leid; dann könnte ich gegenüber der Öffentlichkeit ein neues Leistungsspektrum nicht verantworten. Dann kommt eben kein Psychotherapeutengesetz.
Lieber Herr Schmidbauer, zur Selbstverwaltung: Solange die Selbstverwaltungslösung nicht verwirklicht ist, haben sich alle in der gesetzlichen Krankenversicherung an die Gesetze zu halten, die heute gelten. Wenn heute Verträge geschlossen werden, die mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehen, werden wir diese Verträge nicht in Kraft treten lassen können. Das ist unser Verständnis von einem Rechtsstaat. Herr Müntefering, tragen Sie Ihren Teil dazu bei. Wenn Sie sich hier nicht bewegen - das soll jeder wissen, der an dieser Diskussion teilnimmt -, wird es dieses Gesetz nicht geben.
Ich erteile der Kollegin Petra Ernstberger das Wort, die ihre erste Rede im Bundestag hält.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Knoche hat in ihren Ausführungen schon auf die Studie „psychologische Probleme in der Grundversorgung" der Weltgesundheitsbehörde, der WHO, hingewiesen und mit ihren Zahlen dargelegt, wie bedeutsam psychotherapeutische Behandlung ist.
Aus diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen ergibt sich mit ganz stringenter Notwendigkeit gesundheitspolitischer Handlungsbedarf, d. h., die Verabschiedung eines Psychotherapeutengesetzes muß integrierter Bestandteil einer zukunftsweisenden Gesundheitspolitik in Deutschland sein.
Der in diesem Zusammenhang von der Koalition vorgelegte Gesetzentwurf war und ist in seinen Kernpunkten völlig ungenügend. Da meine Vorredner schon sehr viel dargestellt haben, möchte ich mich auf zwei Aspekte konzentrieren.
Erstens. Nach Maßgabe aller fachlichen Einschätzungen führt die von der Bundesregierung vorgesehene Budgetierung von 1,25 % zu Versorgungsdefiziten bzw. zu einem Versorgungsabbau, deckt doch das von der Regierungskoalition als ausreichend betrachtete Ausgabenvolumen nicht einmal die derzeitig erbrachten Leistungen.
Statt dieser rigiden Leistungsbudgetierung sieht der Gesetzentwurf der SPD einen Kostenrahmen in Höhe von 2 % der Ausgaben der vertragsärztlichen Gesamtvergütung vor. Erst das sich daraus ergebende Ausgabenvolumen von 768 Millionen DM gewährleistet die Sicherstellung einer adäquaten psychotherapeutischen Versorgung bei Beachtung des Grundsatzes der Beitragsstabilität.
Ferner ist dabei zu bedenken, daß wissenschaftlichen Erhebungen zufolge jede für Psychotherapie aufgewendete Mark an anderer Stelle 2,50 DM für die Krankenkassen einspart, was sich z. B. in reduziertem Medikamentenverbrauch, verringerten Krankschreibungszeiten oder in der Abnahme von stationären Krankenhausbehandlungen niederschlägt.
Wer wie die Bundesregierung meint, im Bereich der psychotherapeutischen Versorgung einen rein kostenpolitischen Kreuzzug führen zu können,
wer den immer mehr ins Bewußtsein tretenden Zusammenhang zwischen psychischer Befindlichkeit, somatischer Erkrankung und Heilungsprozeß negiert, handelt vordergründig, einseitig und kurzfristig und vergibt darüber hinaus noch die einzige wahre und wirkliche Chance für Einsparungen.
Zweitens, die umstrittene - was wir nun mitbekommen haben - Selbstbeteiligung: Die im Gesetzgebungsverfahren geführte Diskussion über die Höhe der Zuzahlung - erst 40 %, dann 25 %, schließlich 10% - erinnert in beklemmender Art und Weise
- das ist mir bekannt - an das Feilschen auf einem orientalischen Basar.
Ich stelle hier klar und deutlich fest: Mit der SPD gibt es keine wie auch immer verbrämte Form der Selbstbeteiligung.
Herr Möllemann, Sie sind in Ihrer Partei auch nicht ganz unumstritten.
Sie haben kürzlich die totale Selbstbeteiligung als zentrale Forderung im Rahmen liberal genannter Gesundheitspolitik erwähnt. Die Stoßrichtung Ihrer Partei ist seit langem offenkundig: Die geplante Einführung der Zuzahlung und die absolute Verweigerung, diese Selbstbeteiligung aus dem Gesetz zu streichen, spiegelt das strategische Ziel wider, durch dieses Einfallstor den Einstieg in die generelle Selbstbeteiligung in der ambulanten Versorgung der Versicherten zu vollziehen.
Sie, Herr Minister Seehofer, haben verkündet, daß bei der Selbstbeteiligung bereits das Ende der Fahnenstange erreicht sei, daß durch den Ausbau der
Petra Ernstberger
Selbstbeteiligung überhaupt keine Steuerungswirkung zu erwarten sei. Für mich ist das Fazit dieser kafkaesken Farce: Es wird taktiert, es wird verzögert, es wird verschleppt.
Sie haben vorhin gesagt, daß wir das Psychotherapeutengesetz eventuell im Rahmen der Gesundheitsstrukturreform III verabschieden könnten. Dies ist für mich ein Zeichen dafür, daß Sie auf keinen Fall daran interessiert sind, es noch vorher zu verabschieden.
Herr Minister, ich kann mich auch nicht des Eindrucks erwehren, daß das Problem der Zuzahlung bei psychotherapeutischen Leistungen geschickt auf die Ebene der Krankenkassen verlagert werden soll. Sollten am Ende vielleicht die psychotherapeutischen Leistungen gar nicht mehr im Pflichtkatalog der Krankenkassen auftauchen? Ein Schelm muß der sein, der solch Böses denkt.
In der Diskussion über die Zuzahlung wird meines Erachtens die menschliche Dimension außer acht gelassen. Ein Beispiel: Eine Ehefrau ist ohne eigenes Einkommen, somit gegenüber ihrem Gatten unterhaltsberechtigt, was natürlich auch ärztlicherweise für notwendig erachtete Behandlungen, wie z. B. die Psychotherapie, subsumiert. Dieser Unterhaltspflicht steht ein Informations- bzw. Auskunftsanspruch des Unterhaltsverpflichteten, hier also des Ehegatten, gegenüber. Bei der Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung wird nun die Ehefrau gezwungen, die Tatsache der Behandlung und die Ursachen, die zu dieser Behandlung führten, offenzulegen. Zutiefst persönliche und intime Tatsachen müssen genannt werden, und zwar vielleicht gerade der Person, die zwar nicht monokausal, aber zumindest im partizipativen Sinne die Entstehung der psychischen Störung bzw. Krankheit forciert hat.
Der dadurch verursachte Verlust der Anonymität verletzt in eklatanter Weise das im Grundgesetz verankerte Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Argumente sage ich nein zu der die psychisch Kranken diskriminierenden Selbstbeteiligung.
Frau Kollegin, Sie sind jetzt schon ein so großes Stück über Ihre Redezeit
hinaus, daß ich Sie bitte, nur noch einen letzten Satz zu sagen.
Gut, nur noch einen Satz. - Ich sage ja zur Regelung der SPD, welche die Standards der psychotherapeutischen Versorgung sichert und erhöht, und ja zu unserer Regelung, die auch den Menschen dient.
Ich bitte den Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, wenn ich auf die Zeit hinweise, mir nicht ins Wort zu fallen und dagegenzureden. Du machst das immer, Uwe.
- Mach das mal!
Ich habe bei der ersten Rede sehr viel Zeit dazugegeben. Wenn ich aber bitte, jetzt zum Schluß zu kommen, dann sollte mir nicht dazwischengeplärrt werden.
Jetzt hat unser Kollege Herr Minister Müntefering noch einmal um das Wort gebeten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will noch einmal ganz kurz Herrn Seehofer und Herrn Möllemann ansprechen, weil ich es nicht bei dem belassen will, was hier vorgetragen wurde.
Ich habe Herrn Seehofer seit langer Zeit wieder einmal gesehen. Es war eine interessante Begegnung. Herr Seehofer, so nervös habe ich Sie lange nicht gesehen.
- Na ja, ich war ja länger nicht hier.
Die Art und Weise, wie Sie argumentiert haben, zeigt, daß Sie nicht wissen, wie es in der Gesundheitspolitik weitergehen soll.
Sie haben ziemlich wahllos alle Argumente, die Ihnen gerade einfielen, zusammengebunden. Ein logisches Bild hat das aber nicht ergeben.
Ich will Sie nur noch einmal auf die Sache mit der Budgetierung ansprechen. Sie werfen uns die 2%ige Budgetierung vor und fragen, wie man das eigentlich machen soll. Sie werden sich daran erinnern, daß in dem Entwurf, den Sie im letzten Jahr durchbringen wollten, 1,25 % vorgesehen waren. Da war dies noch heilig. Heute aber guckt er mich an und fragt: Was sollen diese 2 %? - Was soll denn diese Logik?
Minister Franz Müntefering
Es geht noch weiter: Letztes Jahr waren 1,25 % und eine minimale Selbstbeteiligung ausreichend. Die Positionen - das ist eben noch einmal gesagt worden - liegen dicht beieinander. Die fakultative Selbstbeteiligung soll 10 % betragen, es darf auch weniger sein. - Wenn das also im letzten Jahr zu finanzieren war, jetzt aber 2 % nicht ausreichen, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder keilen Sie um sich und sammeln keine Argumente mehr, oder aber Sie haben vor, die Selbstbeteiligung über 10 % steigen zu lassen. Auch das könnte eine Lösung sein.
Wenn Sie die Selbstbeteiligung in diesem Bereich, der von grundsätzlicher Bedeutung ist, in einer solchen Weise zur Finanzierung heranziehen, dann steckt etwas anderes dahinter. Eines Tages sind es nämlich nicht mehr nur 10 %, sondern doch 25 % oder 40 %. Das ist Ihr Problem.
Das, was Sie eben gesagt haben, wird zum Nachlesen sehr interessant sein; denn Sie haben keine Rede gehalten, sondern einfach das gesagt, was Ihnen gerade eingefallen ist. Die Wahrheit ist - das ist hier deutlich geworden -: Sie haben zur einen Seite die Stimme erhoben, obwohl es eigentlich der anderen Seite galt. Ihr Problem ist doch ganz offensichtlich - bei Herrn Möllemann war das ganz klar -: Sie versuchen unter Mißbrauch der besonderen Last der psychisch Kranken eine Selbstbeteiligung einzuführen. Damit öffnen Sie die Tür, um das auch für den gesamten somatischen Bereich vorzusehen.
Sie wollen das, andere aber nicht. Die Koalition ist damit leider nicht mehr in der Lage, eine einigermaßen rationale Gesundheitspolitik zu machen. Das ist das heutige Ergebnis.
Im Gegensatz zur SPD, die ihre vereinbarte Redezeit mit dieser Intervention ein gewaltiges Stück überschritten hat, hat die Koalition noch acht Minuten. Ich weiß nicht, ob der Kollege Möllemann ein Stück dieser Redezeit beansprucht.
Bitte sehr, Herr Bundesminister.
Lieber Herr Müntefering, machen Sie sich keine Sorgen um meine Psyche oder meinen Gesundheitszustand.
Ich bin nach der letzten Wahl wieder berufen worden; Ihnen steht das noch bevor.
Ich möchte noch einmal die drei wesentlichen Argumente zusammenfassen. Ich habe einige Passagen meiner Rede, die niedergeschrieben ist und zu der ich Wort für Wort stehe, deshalb nicht vorgetragen, weil ich es müßig finde, 20 Jahre lang immer wieder die gleichen Argumente zum Berufsrecht und zur Weiterbildung vorzubringen und darüber zu reden, daß es notwendig ist, daß wir für die psychisch Kranken sind. Ich finde es auch müßig, darüber zu reden, daß wir ein Stück weit Schaufensterreden für die psychotherapeutischen Verbände halten, damit sie wissen, daß man wirklich hinter ihnen steht. Ich bin es einfach leid, daß wir diese Schaufensterpolitik immer wieder betreiben. Das war der erste Grund, warum ich nicht alles vorgelesen habe.
Zweitens zur Budgetierung. Sie haben natürlich den Mangel Ihrer Initiative erkannt: Sie müssen eine Finanzierungsantwort geben. Sie sind jetzt auf das alleinige Instrument der Budgetierung gestoßen und lassen alles andere weg. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß wir als ein Instrument von mehreren auch die Budgetierung vorsehen und auch für die Zukunft vorsehen würden, wenn es denn zu einem solchen Gesetz kommt. Sie aber haben sie aber als alleiniges Instrument vorgesehen.
Wenn jemand die Budgetierung als alleiniges Instrument für die nächsten Jahre vorsieht, dann, meine Damen und Herren, muß ich ihn an dem messen, was er vor wenigen Monaten zu diesem Finanzierungsinstrument gesagt hat. Herr Müntefering, Sie können nicht bestreiten, daß Sie in der „ÄrzteZeitung" erklärt haben - offensichtlich wollten Sie vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl den Ärzten dort etwas Nettes und Schönes mitteilen -, daß die Budgetierung - und damit gehe ich jeden Tag ins Bett, weil ich es für sehr interessant halte - ein sozialistisches, ein planwirtschaftliches Instrument ist. Damit müssen Sie sich konfrontieren lassen.
Drittens. Bei der Selbstbeteiligung ist eine differenzierte Betrachtung geboten. Ich halte die herkömmlichen und bereits etablierten Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung bezüglich der Selbstbeteiligung für ausgereizt und die Selbstbeteiligung insofern nicht mehr für erhöhungsfähig. Eine Ausweitung würde die Kranken überfordern. Im übrigen haben wir das meiste 1992 in diesem Deutschen Bundestag gemeinsam beschlossen.
Eine ganz andere Frage ist es, wenn sich die Politik trotz der ernsten finanziellen Situation aller Sozialhaushalte - von der Sozialhilfe bis zur gesetzlichen Krankenversicherung - entscheidet, dennoch etwas völlig Neues in das Leistungsspektrum zu implantieren.
- Neu ist das Berufsrecht, neu ist das Leistungsrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Bisher war das alles Delegationsrecht; zum Teil stand es ohne jede rechtliche Grundlage neben dem Delegationsrecht. Deswegen ist es in der Tat etwas völlig Neues.
Wenn also etwas Neues in das Leistungsspektrum aufgenommen werden soll, dann müssen wir das auf die gleiche Stufe stellen wie die völlig neue Sozialleistung Absicherung der Pflegebedürftigkeit. Wir waren uns in dem einen Falle völlig einig, daß diese Ab-
Bundesminister Horst Seehofer
Sicherung auf eine solide finanzielle Grundlage auch unter Beteiligung der Pflegebedürftigen gestellt werden muß und daß wir nicht alle Kosten übernehmen können; wir deckeln die zu übernehmenden Kosten sogar nach oben. - Ich denke, es ist auch bei diesem Bereich, der, wie Sie ja wissen - dies kann nicht bestritten werden -, mit einer ungeheuren Dynamik gepflastert ist - es ist sehr schwer, die Erforderlichkeit der psychotherapeutischen Behandlung nach oben abzugrenzen -, einfach nicht möglich, ein völlig neues Leistungsspektrum ohne Beteiligung der Versicherten ins Leben zu rufen. Dabei bleibt es. Das ist kein Widerspruch zu dem, was ich im übrigen zur GKV in den letzten Monaten gesagt habe.
Es ist allgemein bekannt, daß Jürgen Möllemann und ich nicht unbedingt ein Liebesverhältnis unterhalten. Aber ich muß Sie enttäuschen: In diesem Punkt, was die Psychotherapie betrifft, sind wir absolut einer Meinung; ich hoffe, daß das Herrn Möllemann nicht schadet. Über die restlichen Punkte werden wir noch zu reden haben.
Herr Kollege Möllemann, Sie haben das Wort.
Keine schlechte Idee! - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte weniger zu den möglichen und unmöglichen Liebesbeziehungen hier im Hause etwas sagen,
sondern zwei Bemerkungen zu dem machen, was Herr Müntefering angesprochen hat. Herr Kollege Müntefering, ich habe vorhin den Zusammenhang, der spätestens seit heute unbestritten besteht - rein prozedural, aber auch in der Sache -, zwischen den Beratungen über die dritte Stufe der Gesundheitsreform und diesem Gesetz - zumindestens was die Finanzierungsproblematik angeht - hergestellt. Die Finanzierungsproblematik bekommt möglicherweise eine besondere Dimension. Deswegen ist es kein Wunder, daß wir uns mit dieser Finanzierungsproblematik, auch was die denkbaren Beeinflussungen des Ausmaßes der Finanzierungsnotwendigkeiten angeht, intensiv zu beschäftigen haben werden.
Ich habe Sie darüber informiert, daß wir nach der Sommerpause darüber Koalitionsgespräche haben werden. So ist das verabredet. Nun habe ich in den letzten Tagen gelesen, daß es auch anderswo Koalitionsgespräche gibt. Auch da soll es vorkommen, daß sich nicht von vornherein alle Koalitionsbeteiligten, auch solche, die es noch werden wollen, völlig einig sind. Man wird sich auch weiterhin daran gewöhnen müssen, daß, wenn Koalitionsverhandlungen anstehen, die daran Beteiligten vor deren Beginn ihre Ausgangspositionen markieren und dann versuchen, zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen. Ich glaube sehr wohl im Blick auf die bisherige Arbeit, die diese Koalition in der Gesundheitspolitik geleistet hat, daß
das sehr gut möglich sein wird. Daran sind wir Freien Demokraten interessiert, weil wir den Erfolg dieser Koalition wollen. Der Erfolg wird aber nur eintreten, wenn sich alle Beteiligten mit ihrem Profil in einer solchen Koalition auch wiederfinden. Darum werden wir uns schon bemühen.
Vielen Dank.
Herr Bundesminister, verstehe ich Ihre Frage richtig, daß Sie die verbliebene Zeit noch einmal Herrn Müntefering anbieten würden?
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/733 und 13/1206 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Vereinbarte Debatte
zur Arbeit der Enquete-Kommission Demographischer Wandel - Herausforderungen unserer alter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Nolte, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt die Initiative des Deutschen Bundestages, die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" in der 13. Legislaturperiode erneut einzusetzen. Die Veränderung des Altersgefüges der Bevölkerung und deren Folgen für den einzelnen und für unser Gemeinwesen zählen zu den großen politischen Herausforderungen der Gegenwart und sind bestimmend für die Zukunft. Wir dürfen über die vielen bedeutenden Gegenwartsaufgaben unserer Politik nicht den Blick für die über unsere Generation hinausreichenden Folgen des demographischen Wandels verlieren. Die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit muß für die Probleme, aber auch für die im demographischen Wandel liegenden Chancen gewonnen werden, die in der Verbindung von Innovationsbereitschaft der Jungen und der Lebenserfahrung der Älteren liegen. Wir brauchen ein generationsübergreifendes Umdenken.
Bundesministerin Claudia Nolte
Meine Damen und Herren, die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wird in ihrer Struktur nur noch bedingt mit der heutigen Gesellschaft vergleichbar sein. Wir erleben eine Entwicklung von der Alterspyramide zum Alterspilz. Während zu Beginn dieses Jahrhunderts nur jeder zwölfte im Seniorenalter war, ist es nun jeder fünfte. Gleichzeitig haben wir derzeit den niedrigsten Geburtenstand.
Für uns stellt sich nicht nur die Frage, wie wir das Altern unserer Gesellschaft bewältigen, welche Folgen es haben wird, sondern ebenso die, wie wir mit unserem politischen Handeln auch künftig zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Generationen beitragen können.
Meine Damen und Herren, die Zunahme des Anteils an Hochbetagten ist die eigentliche demographische und politische Herausforderung. Ihre Zahl von heute 3 Millionen wird auf 4,3 Millionen im Jahr 2030 steigen. Zum erstenmal in der Geschichte haben bereits heute bis zu fünf Generationen die Möglichkeit, am Leben des jeweils anderen teilzunehmen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich die Leistungen der Familie in der Pflege und Betreuung ihrer Angehörigen hervorheben.
Mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden von Familienangehörigen gepflegt. Auf Grund der demographischen Entwicklung werden sie künftig jedoch nicht im selben Umfang wie bisher die Hauptlast der Pflege tragen können.
Unserer Seniorenpolitik muß es gelingen, neue Formen der Solidarität zwischen jung und alt auch außerhalb der Familie aufzubauen und sie auch innerhalb der Altengeneration zu verstärken. Es wird für uns alle zu einer großen Aufgabe, neue Gemeinschaftsstrukturen, Lebens- und Wohnformen anzubieten, in denen Hilfe und Pflege möglich sind.
Schon heute lebt rund die Hälfte der Über-60-Jährigen in Einpersonenhaushalten. Dieser Anteil wird sich erhöhen. Für ein befriedigendes Leben im Alter ist dann die Pflege und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen unerläßlich. Dafür müssen wir Rahmenbedingungen schaffen. Wir brauchen kreative Lösungen im natürlichen Wohn- und Lebensumfeld. Das entspricht auch dem Wunsch der Älteren selbst, dies trägt zu einer humanen Lebensgestaltung bei.
Ein wichtiges Ziel meiner Seniorenpolitik ist es weiter, daß alte Menschen nach ihren Vorstellungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sich mit ihrer Lebenserfahrung und ihrer Kompetenz in die Gesellschaft einbringen können.
Die kommende älter werdende Generation verfügt über eine Vielzahl von Potentialen und Ressourcen. Die Zahl und der Anteil der aktiven Alten wird weiter ansteigen. Das Bild vom grauen, gebrechlichen Alter hat längst seine Gültigkeit verloren. Seniorinnen und Senioren sind engagierte Bürgerinnen und Bürger. Unser Land lebt davon, daß sie auch nach ihrer Erwerbstätigkeit mitdenken und mittun. Ich sehe darin auch Chancen für mehr Ehrenamt.
Meine Damen und Herren, nur miteinander funktioniert eine menschliche Gesellschaft. Deshalb brauchen wir mehr Begegnung und Austausch zwischen jung und alt, den Dialog der Generationen. Wir müssen das Separieren der Gesellschaft in einzelne Gruppen überwinden.
Aus diesem Grund fördert mein Ministerium Aktivitäten und Projekte, die generationsübergreifend angelegt sind. Nicht im Gegensatz, sondern nur im Miteinander der Generationen gelingt es, Deutschland zukunftsfähig zu gestalten.
Ich finde es skandalös, wenn versucht wird, ältere Menschen auszugrenzen, ihr Wahlrecht in Frage zu stellen und jung und alt gegeneinander auszuspielen. Dies kann und darf nicht unsere Antwort auf den demographischen Wandel sein.
Alt und jung müssen sich aufeinander verlassen können. Dazu gehört auch der Generationenvertrag. Die Lebensgestaltung im Alter ist entscheidend von der Sicherheit der individuellen Einkommenssituation bestimmt. Die Rente bleibt Alterseinkommen für Lebensleistung. Es muß deutlich werden, daß zur Lebensleistung auch die Erziehung von Kindern und die Pflege von Angehörigen zählen.
Immer weniger Erwerbstätige müssen für die Absicherung von immer mehr älteren Menschen aufkommen. Auch deshalb kommt der Sicherung der Arbeit und ihrer flexibleren Gestaltung künftig eine noch entscheidendere Bedeutung zu. Dies dient auch der Vereinbarkeit von Beruf und Familienarbeit, sei es in der Kindererziehung oder in der Pflege.
Meine Damen und Herren, Antworten auf den demographischen Wandel zu finden ist eine herausragende Zukunftsaufgabe. Hierzu ist es unerläßlich, daß unsere Gesellschaft kinder- und familienfreundlicher wird und die Bedeutung der älteren Menschen in der Gesellschaft gestärkt wird. Es ist unverzichtbar, die Solidarität innerhalb der Generationen und zwischen ihnen zu festigen. Hierzu zählt für mich ein gerechter Belastungsausgleich zwischen Familien mit Kindern und Kinderlosen. Die Erziehungs- und Pflegearbeit muß auf Dauer stärker in der Alterssicherung zu Buche schlagen. Wir brauchen mehr Möglichkeiten, Familienarbeit - sei es in der Kindererziehung oder in der Pflege - mit der Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, und wir brauchen mehr familien- und seniorengerechte Wohnungen, die auch alternative Wohn- und Lebensformen sowie neue Gemeinschaftsstrukturen insbesondere für alte Menschen ermöglichen.
Nur wenn es uns gelingt, strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien und älteren Menschen zu überwinden und die Kompetenz und vor allem Erfahrung alter Menschen für die gesamte Gesellschaft zu nutzen, werden wir auch in Zukunft die Herausforderungen der sich wandelnden Gesellschaft bewältigen.
Bundesministerin Claudia Nolte
Ich werde die Arbeit der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" mit großem Interesse verfolgen und danke allen Mitgliedern der Kommission für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit.
Das Wort hat der Kollege Arne Fuhrmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In einer großen deutschen Tageszeitung vom 23. Juni des Jahres 2025 befindet sich auf Seite 5 der folgende Beitrag. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitiere ich.
Kollege Fuhrmann, Sie bedürfen keiner Genehmigung, wenn Sie zitieren, selbst wenn es sich um einen fiktiven Beitrag handelt. Dieses Relikt aus der Frankfurter Paulskirche ist damals nur eingeführt worden, weil Ludwig Uhland ständig seine eigenen Gedichte vorgetragen hat. - Bitte sehr.
Vielen herzlichen Dank. - Also, ich zitiere:
Während der Plenardebatte des Deutschen Bundestages am gestrigen Tage wurde die 92 Jahre alte Vizekanzlerin von den 276 Mitgliedern der PRPP zum Rücktritt aufgefordert, weil sie sich - so die PRPP - nicht in ausreichendem Maße um die Betreuung ihrer 71jährigen Tochter und deren 83 Jahre alten, arbeitslos gewordenen Lebensgefährten gekümmert habe.
Im gleichen Blatt wird auf Seite 7 unter der Rubrik „Regionaler Zerfall" darauf hingewiesen, daß Fahrer von Solarmobilen und Aquarollern die Vororte meiden sollten, da von den unbewohnten Villen und den in den 70er Jahren erbauten sogenannten Einfamilienhäusern herabstürzende Balkone und Dächer den Verkehr in ganz erheblichem Umfange stören und behindern könnten.
Das ist eine graue Perspektive und sicherlich auch eine ziemlich unwahrscheinliche Zukunftsvision.
- Möglich, aber wer von uns wüßte das heute schon mit Sicherheit zu beantworten, Frau Peters?
Mit absoluter Sicherheit wissen wir, daß sich an der Wende zum dritten Jahrtausend in allen Industriestaaten ein neuer und bisher unbekannter Trend ankündigt, die demographische Zeitenwende, oder, um mit den Worten meines Fraktionskollegen Uli Klose das noch einmal auf den Punkt zu bringen, eine Revolution auf leisen Sohlen.
Der Deutsche Bundestag hat dieser Erkenntnis Rechnung getragen und durch die Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" die erfolgreiche und wegweisende Zukunftsarbeit, die diese Kommission bereits 18 Monate lang in der vergangenen Legislaturperiode geleistet hat und mit ihrem Zwischenbericht eindrucksvoll dokumentieren konnte, auch in der 13. Legislaturperiode ermöglicht. Dafür bedanke ich mich nochmals sehr nachdrücklich bei allen Fraktionen dieses Hohen Hauses.
Bevor ich mich nun der zukünftigen Arbeit und den Zielsetzungen der Enquete-Kommission zuwende, will ich mich nochmals in aller Herzlichkeit beim verbliebenen Stammpersonal unseres Sekretariats für die intensive und bis ins Detail ausgesprochen erfolgreiche Arbeit bis zum heutigen Tag bedanken.
Wir verfügen heute über eine umfangreiche und sehr informative Auswertung unseres Zwischenberichts, unterschiedliche Bewertungen, Vorschläge zur weiteren Arbeit, ein hohes Interesse an dem Bericht seit der Vorlage, das - dokumentiert von Einzelwissenschaftlern, Institutionen und Politik - sehr deutlich zeigt, daß das, was das Sekretariat getan hat, Anerkennung im wahrsten Sinne auch verdient. Mein Dank gilt an dieser Stelle nicht nur dem Sekretariat und allen Kommissionsmitgliedern für die kritische und konstruktive Zusammenarbeit, die sie in der Zwischenzeit geleistet haben, sondern auch all denen, die sich in den inzwischen vergangenen Monaten sehr intensiv mit unserer Arbeit befaßt haben und durch ihre Einbringung auch in Zukunft unterstützend wirken.
Der Einsetzungsbeschluß vom 1. Juni besagt, daß sich die Aufgaben der Kommission grundsätzlich an den Empfehlungen des Zwischenberichtes orientieren werden. Dies ist in Ordnung und entspricht auch der Absichtserklärung aller Kommissionsmitglieder der 12. Legislaturperiode.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, wir werden uns mit Beginn dieses neuen Arbeitsabschnittes auch mit dem Schwerpunkt „Zuwanderung und ihre Folgen" zu befassen haben. Die Frage, ob Deutschland ein Zuwanderungsland ist und ob wir ein entsprechendes Gesetz brauchen, mag ja noch unterschiedlich beantwortet und strittig diskutiert werden. Unstrittig ist nach meiner Meinung, daß die Bevölkerungsentwicklung in der Welt einen ungeheuren Zuwanderungsdruck auf die Staaten der Europäischen Union ausübt, daß wir viel zuwenig wissen und viel zu undifferenzierte Vorstellungen von Anzahl, Alter, Herkunft und beruflicher Qualifikation von potentiellen Einwanderern haben und daß uns die Konsequenzen einer sich verändernden Bevölkerungszusammensetzung bei weitem noch nicht klar genug sind. Wir alle benutzen den Begriff einer multikulturellen Gesellschaft gern und oft; was sich aber für Europa, für Deutschland daraus an Konsequenzen ergibt, ist in Teilen immer noch sehr nebulös.
Unumgänglich scheint mir im Zusammenhang mit einer denkbaren Steuerung der Zuwanderung die Untersuchung möglicher Auswirkungen einer Flexibilisierung der Arbeitszeit, der Förderung von Alters-
Arne Fuhrmann
erwerbsarbeit und der Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit zu sein. In unseren Wertvorstellungen dominiert der leistungsfähige, dynamische, anpassungsfähige junge Mensch, im Regelfall nicht in Konkurrenz zum Alter, sondern im Bewußtsein eines Alleinherrschertums, das ihm von der Wiege an vorgegeben wurde. Dies wird sich in einem - an der Weltgeschichte gemessen - relativ kurzen Zeitraum gewaltig ändern.
Die Fakten dazu sind bekannt und im wahrsten Sinne Allgemeingut geworden. Dennoch habe ich den Eindruck, als könnte nicht oft genug wiederholt werden, was in diesem Zusammenhang in Wirtschaft, Kultur und Politik jede Zukunftsplanung beeinflussen müßte: Die steigende durchschnittliche Lebenserwartung bei gleichzeitig konstant niedriger Geburtenrate wird bis zum Jahr 2030 - das hat die Frau Ministerin bereits erwähnt - aus der Alterspyramide einen Pilz machen. Während im Jahr 1990 der Anteil der Über-60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung Deutschlands noch 21 % betrug, wird er bis zur Jahrtausendwende auf 26 % und bis zum Jahr 2030 auf mehr als 35 % anwachsen. Gleichzeitig wird die Zahl der Deutschen, ohne Gegensteuerung und ohne politisches Handeln, um 10 Millionen sinken.
Die Kommission hat im Zwischenbericht sehr entschieden darauf hingewiesen, daß es trotzdem weder eine richtige bzw. optimale Bevölkerungsgröße noch eine richtige bzw. optimale Altersstruktur gibt. Das heißt, es gibt damit nach Auffassung der Kommissionsmitglieder auch keine Überalterung. Die Schlußfolgerung hieraus kann dann nur sein, daß der politische Handlungsbedarf und der politische Handlungsspielraum ausgewogen und präzise auf den Punkt gebracht werden müssen. Antworten auf diese große Herausforderung werden wir nur geben können, wenn wir bereit sind, diese Herausforderung auch anzunehmen. Die Zukunft wird also nicht durch zu viele Alte oder zu wenig Junge geprägt, sondern durch eine neu zu formulierende Politik, die sich aus den bisherigen Denk- und Handlungsmustern verabschiedet und den Mut dazu hat, den demographischen Wandel als eine unumgängliche Tatsache, aber auch als eine Bereicherung zu akzeptieren und anzunehmen.
Brauchen wir Bankgebäude oder Jugendtreffs?
Das Wort hat jetzt die Kollegin Lisa Peters.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Meine lieben Kolleginnen! Ich wollte meine Rede eigentlich damit beginnen, daß ich feststelle, daß bei uns der demographische Wandel schon eingesetzt hat, auf eine ungute Art und Weise. Ich muß das aber zurücknehmen, weil mich der Kollege Heinrich jetzt noch unterstützt.
- Ja, es ist heute abend überall gleich. Ich glaube, das hat ganz bestimmte Gründe, die wir sicher tolerieren müssen. Ich sehe es nicht so, daß kein Interesse vorhanden ist. Das meine ich überhaupt nicht.
Lisa Peters
Es ist nun natürlich ein bißchen schwierig, nach drei oder vier Rednern noch das darzustellen, was noch nicht gesagt worden ist. Ich will es versuchen.
Liebe Frau Kollegin, gestatten Sie denn eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?
Ich weiß nicht; wenn er gern zwischenfragen möchte, gestatte ich das sicher.
Sonst hätte ich mich ja sicher nicht hingestellt. - Fm Kollegin Peters, besteiht nich ook de Möglichkeit, dat de Red op plattdüütsch holen warden, damit de Gruppen, de dor boven Sitten deit ut Nordfriesland un ut Dithmarschen, dat en beten better verstohn kann?
Jo, Peter Harry, ik weet nich, ob de bi jo in Dithmarschen nu überhaupt kein Hochdüütsch verstoht. Ik wür dat jo giem moken. Ik mut dat nicht avlesen; ik kann dat so frei eigentlich veel beder, aver ik glöv, dann komm wi mit de Stenographen und mit all de annern in Ruum nich klor, weil wi dat jo hüde nich besonners anmeld hebbt.
- Ik bün noch nich ganz ferdig. Dat uns Stenographen dat könnt, dat hebbt sie jo bewiesen, dat hebt wi jo sehn an't Protokoll, wat tomals ganz astrein weer, as wi uns hier öber dat Plattdüütsche unterholen hebbt.
- Ik kunn dat jo mol moken, wenn de hier in Sol inverstohn sünn. - Nein, ne? - Goot!
Ich nehme an, daß Arne Fuhrmann wieder Vorsitzender wird; ich weiß es nicht.
- Nicht. Oh, dann habe ich etwas Falsches gesagt. Ansonsten würde ich sagen: Auch er kann Plattdeutsch verstehen.
Also, ich gebe zu Protokoll: Auch ich kann das verstehen.
Frau Präsidentin, das freut mich sehr. Ich denke, wir haben in diesem Hause noch einmal Gelegenheit, über die plattdeutsche Sprache zu sprechen.
Meine Herren und meine Damen, ich denke, die Enquete-Kommission in der 12. Wahlperiode hat uns einen guten Zwischenbericht hinterlassen. Mit diesem Zwischenbericht kann man wirklich unheimlich gut arbeiten. Ich habe ebenfalls gehört - ich werde mich kundig machen -, daß sehr viel weiteres Material da ist.
Die Enquete-Kommission hat damals gesagt: Wir sollen zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt wieder eine Kommission einsetzen. Ich denke, der frühestmögliche Zeitpunkt ist jetzt da. Gleich nach der Sommerpause oder vielleicht auch schon vorher kann man richtig mit der Arbeit beginnen.
Für mich ist das hier ein sehr komplexes Thema. Die Politik muß rechtzeitig reagieren; das ist bereits gesagt worden. Wir müssen die erforderlichen Weichen stellen und die Sachlage mit offenen Augen betrachten. Wir müssen die Daten vorliegen haben, damit wir Beschlüsse fassen können, um Gesetze eventuell verändern zu können.
Wir müssen uns mit den Ergebnissen der bisherigen Enquete-Kommission auseinandersetzen und all das zusammentragen, was wir in den nächsten drei Jahren erarbeiten wollen. Ich denke, wir sind alle betroffen, nicht nur die Menschen, die im Jahre 2030 noch leben.
Herr Fuhrmann, ich habe das Panorama, das Sie dargestellt haben, richtig genossen. Ich hatte mir in mein Manuskript geschrieben: Angstmacherei ist nicht angesagt - ich sehe das sehr real, aber Sie sind wieder dahingekommen -, Schwarzmalerei gilt nicht. Wir müssen auch keine Zukunftsangst ausbreiten; statt dessen sollten wir diese Sache kräftig anpacken. Ich denke, daß sich in den nächsten Jahren das Bewußtsein dafür noch sehr viel mehr schärfen muß.
Wir werden diese Herausforderung nur bestehen, wenn wir alle erkennen, daß wir den demographischen Wandel bewältigen müssen, und zwar jeder an seinem Platz, ob es Kinder oder Jugendliche in der Schule oder Ausbildung sind, ob es die Berufstätigen sind, die ohne ein lebenslanges Lernen in Zukunft nicht weiterkommen werden, oder ob es der ältere Mensch ist, der in der Regel ohne berufliche Beanspruchung sehr viel mehr Zeit hat. Diese Zeit, denke ich, muß man aktiv nutzen. Wir müssen weiterhin mitreden, und wir können ruhig mit ein wenig mehr Herz und Gefühl reden.
Der Staat, meine Damen und Herren, mit seinen Institutionen und Verbänden kann immer nur den Rahmen setzen, etwas anbieten und Gesetze gestalten. Wir, die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, müssen dieses Gerüst und diesen Rahmen ausfüllen.
In der letzten Wahlperiode hat Herr Engelhard für uns diese Enquete-Kommission geführt. Die Damen und Herren, die dabei waren, wissen, daß er sich große Mühe gegeben hat. Ich habe noch einmal nachgelesen, was dazu im Bundestag gesagt worden ist. Ich freue mich, daß ich diese Herausforderung annehmen kann und da weiterarbeiten darf.
Ich will nur einige Themenbereiche aufgreifen; denn über vieles ist schon gesprochen worden. Für mich ist die Frage sehr wichtig - das soll sich durch den Auftrag durchziehen -: Wie sind die Verhältnisse
Lisa Peters
in der ganzen Europäischen Gemeinschaft? Für mich ist ebenfalls wichtig: Wie sind die Verhältnisse in den osteuropäischen Ländern? All das wird uns stark tangieren.
Ein großes Paket stellt die deutsche Einheit dar. Seit dem denkwürdigen Novembertag sind fast sechs Jahre vergangen. Trotzdem stelle ich manchmal fest - ich habe es heute, als wir eine Diskussion führten, wieder einmal bemerkt -, daß wir uns in vielen Bereichen leider noch nicht nähergekommen sind. Ich denke manchmal, daß wir weiter auseinanderdriften. Das darf einfach nicht sein.
Ich meine, daß wir in den nächsten drei Jahren einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können, Kluften, die aufgebrochen sind, wieder zu schließen.
Auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer älteren Arbeitnehmer sind zu berücksichtigen. Es darf in Zukunft nicht so sein, daß Frauen und Männer mit 50 oder 55 Jahren in den Ruhestand gehen oder geschickt werden, wie es in den letzten Jahren manchmal sein mußte. Wir müssen da zu neuen Formen finden. Arbeitslosigkeit, Schaffung von zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen, Innovation und neue Ideen, alles das, denke ich, sind Herausforderungen an die zukünftige Gesellschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen viel über Ein- und Zuwanderung sprechen. Wir müssen uns einfach damit auseinandersetzen. Wir müssen mehr Hilfe, Beratung und Unterstützung anbieten, die Wirtschaftsförderung muß andere Formen annehmen, und über Entwicklungshilfe muß man nachdenken.
Einen großen Arbeits- und Diskussionsbedarf - die Ministerin und auch andere Vorredner haben es erwähnt - wird die zukünftige Familienstruktur in unserem Land geben. Der Weg, der derzeit eingeschlagen wurde und der sich überwiegend dadurch ausdrückt, daß wir Ein-Personen-Haushalte haben, darf auf Dauer so nicht weitergegangen werden. Wir müssen dieser Sache entgegenwirken. Das wird ein weites Aufgabenfeld sein.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die erforderliche soziale Unterstützung und das Umfeld: All das sind Fragen, die sich uns stellen und auf die wir in den nächsten Jahren Antworten geben müssen.
Die nächste Frage lautet: Wieweit halten Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen? Sind sie bei fortgeschrittenem Alter überhaupt noch vorhanden? Wer springt ein, wer erledigt diese Aufgaben?
Auch die finanzielle Situation von Familien muß eine große Rolle spielen.
Es ist sicher nicht so einfach, Kinder zu erziehen. Kinder bringen fürchterlich viel Freude, aber Kinder bringen auch finanzielle Risiken mit sich. Wir müssen jedenfalls versuchen, all das aufzuzeigen; lösen werden wir das in den drei Jahren nicht können.
Für mich ist wichtig, wie sich die zukünftige materielle Situation darstellt, wie wir mit Risikogruppen umgehen, ob unsere sozialen Sicherungssysteme ausreichen oder ob wir mehr private Vorsorge brauchen. All das sind Fragen, denen sich diese Enquete-Kommission zu stellen hat.
Ich persönlich denke, daß wir aktiv und bewußt älter werden müssen. Diese Phase unseres Lebens erweitert sich durch eine längere Lebenserwartung. Es sind für mich Jahre des Lebens, die man bewußt leben muß. Deshalb müssen sich Menschen rechtzeitig und ohne Angst auf diese Phase ihres Lebens vorbereiten können.
Aktiv älter werden, ohne das Alter verdrängen zu wollen - das ist mein Ansatz. Andere sehen das sicher anders; das habe ich dem Bericht entnommen. Aktiv alt werden kann ich jedoch nur, wenn mein Umfeld mir dazu die Möglichkeit gibt. Es bleibt noch viel zu tun: Der Städtebau ist hier angesprochen worden, Behinderte, Obdachlosigkeit - ich will das alles überschlagen, weil die Uhr hier rennt. Aber ich denke, ich habe noch eine Minute mehr, weil die Ministerin nicht ganz so lange gesprochen hat. Man kann das aber auch in wenigen Sätzen eingrenzen.
Wir alle können etwas einbringen, die Abgeordneten und die Wissenschaftler. Zusammen sind wir stark; wir müssen einfach diese Chancen nutzen.
Unser Land - ich war 1945 gut elf Jahre alt - hat 1945 und danach die Phase des Wiederaufbaus genutzt und die Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen geschafft. Wir haben die Herausforderung der 70er und 80er Jahre angenommen, als es darum ging, die Bildung zu vervollständigen. Wir sind jetzt dabei, die Wiedervereinigung irgendwie zu finanzieren, und wir schaffen es.
Ich bin wirklich der ganz festen Überzeugung, daß wir dann, wenn wir es gemeinsam wollen - der Bundestag sieht das ja so, sonst hätte er in der vorigen Wahlperiode diese Enquete-Kommission nicht eingesetzt, und sonst würden wir jetzt nicht weiterarbeiten -, es schon schaffen werden. Ich persönlich bin sehr interessiert daran. Ich bin heute 61, gehöre eigentlich schon zum „alten Eisen", also auf die Seite, die eigentlich nur etwas kostet. Ich sehe das nicht so.
Unsere Aufgabe ist es, der 15jährigen Frau, die am Anfang ihres Lebens steht, deutlich zu machen, wohin der Weg vielleicht führt, und wir müssen das auch dem 45jährigen Mann deutlich machen, der meint, er würde nur diese „alte Gesellschaft" unterhalten müssen. Wenn es uns gelingt, einen Konsens zwischen den Generationen herzustellen, sind wir ein ganz großes Stück weitergekommen.
Ich bin ein realistischer Mensch. Aber manchmal muß man eben einfach andere Dinge wahrnehmen, sie auch aussprechen und auf sie hinwirken. Mit einem Gesicht, das nur düster in die Zukunft schaut, können wir keine Menschen begeistern oder von Ansichten herunterholen, von denen sie eigentlich herunter müssen.
Danke schön.
Nun hat die Abgeordnete Heidemarie Lüth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission aus der 12. Wahlperiode fordert von der Politik, sich anders als bisher auf die Herausforderungen des demographischen Wandels einzustellen.
Vielfach bestätigt und von allen politischen Parteien auch so aufgegriffen sind die Erkenntnisse zu den Trends der zunehmenden Alterung der Bevölkerung infolge der sinkenden Geburtenzahlen und der steigenden Lebenserwartung sowie der Veränderungen in der Gestaltung familialer Lebensstile.
Wie wird es sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn in wenigen Jahren die Parkbänke für die Seniorinnen und Senioren nicht mehr ausreichen, wenn sich in vielen Fällen zwei Großelternpaare um einen Enkel sorgen? Wie wird es sein, wenn die Kindergeneration und die Eltern gemeinsam Seniorinnen und Senioren sein werden, wenn immer mehr Seniorinnen und Senioren ohne familiale Bindungen im Alter allein leben? Werden da ausreichend Netze geknüpft sein, werden sie in der Lage sein, sich Pflege zu kaufen? Werden ausreichend Mädchen und Jungen bereit sein, in dem schweren Beruf „Altenpfleger" zu arbeiten, oder werden diese Tätigkeiten in Gehaltsbreiten abgeschoben, die für sie nicht akzeptabel sind?
Wie wird es sein, wenn immer mehr „junge Alte" aus der Arbeitswelt herausgedrängt werden? Wie werden die vielen Langzeitarbeitslosen in den neuen Bundesländern aus den Geburtskohorten 1940ff. mit den geringen Renten, die sie zu erwarten haben, zurechtkommen?
Nüchtern heißt das in den Themenschwerpunkten der Enquete-Kommission: „Spannungsfeld zwischen den steigenden Arbeitslosenquoten und der Frühverrentung sowie nachberuflichen Tätigkeitsfeldern älterer Menschen". Das ist jedoch schon Praxis. Die Regierung hat ernstzunehmende Antworten darauf bisher nicht ausreichend gesucht, und wenn sie welche gefunden hat, gingen sie nicht an die Ursachen des Problems.
Materielle Einschränkungen, fehlende Kommunikation und soziale Beziehungen, nicht ausreichende Mobilität und damit auch schwindende Kompetenz führen schon heute dazu, daß sich Seniorinnen und Senioren, besonders die Hochbetagten, wie der Seniorenreport aus Leipzig bestätigt, nicht nur ausgegrenzt fühlen, sondern auch ausgegrenzt sind.
Nach Klärung dieser Sachlage steht besonders die Frage der materiellen Sicherstellung im Vordergrund; denn obwohl im Osten die Rentenanpassungen auf höherem Niveau erfolgen, wird sich die Einkommens- und Vermögensstruktur noch auf lange Zeit von der im Westen unterscheiden.
Erfreulich ist, daß im Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission auch das Gesamtproblem der sozialen Sicherungssysteme unter die Lupe genommen wird,
deutet sich gerade auch hier nach der Einführung der Pflegeversicherung an, daß der Erhalt der Kompetenz im Alter umfangreiche Überlegungen erfordert, die den Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege" auch in die Tat umsetzen. Darin eingebettet ist die Beseitigung der enormen Lücken in der geriatrischen Rehabilitation und der Versorgung psychisch kranker alter Menschen.
Es ist schon wahr, es wird auch auf den Markt gesetzt; denn besonders die Seniorinnen und Senioren in Westdeutschland repräsentieren ihn. Die hier vorhandenen Vermögen werden in Milliardenhöhe geschätzt. Doch in einem „Wohlfahrts-Markt" kann wohl nicht die Lösung des Problems liegen.
Die heute zu beschließende Enquete-Kommission kann für die Analyse und die Festschreibung des Lösungsweges Wertvolles leisten. Sie wird um so treffsicherer der Jahrhundertherausforderung entsprechen, je mehr es zu den Arbeitsprinzipien gehören wird, das Wissen, die Kompetenz und die Erfahrungen der Seniorenverbände sowie von Seniorinnen und Senioren einzubeziehen und diese an den Entscheidungsfindungen teilhaben zu lassen.
Sinnvoll ist das Vorhaben jedoch nur dann, wenn mit tatsächlichen politischen Entscheidungen auf kompetente Aussagen reagiert wird, keinesfalls aber nach dem koalitionsgemäßen Leitthema: „Gut Geld will Waigel haben. "
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Peter Keller.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht teilen Sie meine Auffassung, daß das Wort vom demographischen Wandel zu einem Schlagwort in unserer Zeit geworden ist. Ich meine aber, wir als Politiker müssen verhindern, daß es nicht zu einem politischen Kampfwort gegen die Älteren wird.
Wahrscheinlich haben auch Sie die Erfahrung gemacht, wenn Sie einen einzelnen Bürger fragen, wie es ihm geht und wie er die Zukunft sieht, daß er diese meist optimistisch sieht. Wenn Sie aber den gleichen Bürger fragen, wie denn die gesellschaftliche Entwicklung aussieht, so sieht er sie mehr pessimistisch.
Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, muß es unser Ziel sein, daß wir sachliche Antworten auf die Verunsicherungen über die Zukunft gerade unserer sozialen Sicherungssysteme geben.
Ich glaube, wir können alle froh sein, daß es in unserem Land seit den 50er Jahren auf der Grundlage des Generationenvertrags gelungen ist, die Lebenslage älterer Menschen entscheidend zu verbessern. Auf Grund des demographischen Wandels stehen
Peter Keller
wir aber heute und auch morgen vor neuen Herausforderungen - nicht nur für die sozialen Sicherungssysteme, sondern auch für diesen sie tragenden Generationenvertrag.
Darum wird es entscheidend darauf ankommen, das Prinzip der Generationssolidarität im Bewußtsein gerade der jungen Menschen zu stärken, um einen möglichen Generationenkonflikt zu vermeiden. Dies können wir nur erreichen, wenn wir eine wissenschaftlich fundierte Datenbasis schaffen und politische Handlungsmöglichkeiten aufzeigen.
In der letzten Enquete-Kommission haben wir uns überwiegend mit der aktuellen Lage beschäftigt. Nach unseren Vorstellungen müssen wir uns jetzt mit den Zukunftsperspektiven über das Jahr 2030 hinaus auseinandersetzen. Die jungen Familien, die jetzt ihren Beitrag zum Generationenvertrag leisten, haben ein Recht, einen Anspruch darauf, zu erfahren, was sie im Alter tatsächlich erwartet.
Unsere Kommission hat fast drei Jahre Zeit, die im Zwischenbericht genannten Themen weiter auszuführen. Neu ist, daß wir die europäische Dimension stärker einbeziehen wollen; denn auch Europa, das Europa der Gemeinschaft, wird „älter". Fast 70 Millionen Menschen in Europa, in der EG sind über 60 Jahre alt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir können angesichts der öffentlichen Diskussion über die Belastungsfähigkeit des Generationenvertrages nicht mehr zur Tagesordnung übergehen, gerade weil viele Äußerungen ein so stark negatives Bild vermitteln. Ich kann zwar feststellen, daß im Ergebnis die zahlenmäßige Entwicklung der Gesamtbevölkerung annähernd den bisherigen Schätzungen entspricht, aber - und das ist wichtig - der Alterungsprozeß verläuft viel schneller als angenommen.
Wir dürfen auch nicht verkennen, daß es gewisse Ängste in der Bevölkerung über die Finanzierbarkeit von Renten und Pensionen in der Zukunft gibt. Begriffe wie „Rentenbetrug" oder „Rentenlüge" belegen dies.
Es ist eine Tatsache, daß alle Formen künftiger Existenzsicherung auch im sozialen Bereich ausschließlich von der Leistungskraft und Solidaritätsbereitschaft der Erwerbstätigen abhängen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine andere Feststellung: Deutschland muß wie bisher für eine vernünftig begrenzte Zuwanderung und für Asyl offenbleiben.
Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, wenn ich sage, daß sich die Gewährleistung der Zukunft im Kern auf ausreichend eigenen Nachwuchs stützen müßte. Hier sind die derzeit noch zahlreichen, aber schon in den nächsten Jahren weniger werdenden Frauen und Männer im Familiengründungsalter angesprochen. Gerade sie würden am meisten betroffen sein, wenn in der Generationenfolge Fähigkeit und Bereitschaft zur Solidarität gegenüber den Seniorinnen und Senioren abnähmen. In Gesprächen mit jungen Menschen können wir erfahren, wie diese unbestimmten Ängste für die soziale Zukunft deutlich werden.
Ich frage auch: Ist die Lebenswirklichkeit nicht so, daß heute viele Jüngere mit Kinderwunsch bei schwierigen Lebenssituationen zunächst oder ganz auf Kinder verzichten? Eine solche Entwicklung haben wir schon in den neuen Bundesländern verspürt.
Deshalb müssen wir familienpolitisch die Rahmenbedingungen so setzen, daß die vorhandenen Kinderwünsche auch realisiert werden können. Dazu gehören - ich darf einiges wiederholen - eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ein wesentlich erweitertes Angebot familienergänzender Betreuung und Erziehung von Kindern, gesicherte Erwerbsperspektiven für Frauen und Männer und bezahlbare Wohnungen, die genauso wichtig sind wie ein ausreichender Familienlastenausgleich. Dabei darf ich daran erinnern, daß der Deutsche Bundestag am 2. Juni 1995 eine beachtliche Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs beschlossen hat, die eine erste Stufe darstellt.
Es geht also sowohl darum, es jungen Paaren zu erleichtern, sich überhaupt und möglichst nicht allzuspät für das erste Kind entscheiden zu können, als auch darum, daß sich Ehepaare für mehr Kinder entscheiden können, als es ihnen bei den derzeitigen Rahmenbedingungen möglich erscheint.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auch wenn ich Widerspruch erzeuge: Ich persönlich bin der Auffassung, daß auch künftig die Option offengehalten werden muß, daß in Familien im wesentlichen nur ein Elternteil erwerbstätig ist und der andere so abgesichert ist, daß er sich den Kindern und der Familie widmen kann.
Es liegt auf der Hand, daß die Förderung der Familien deshalb einer der Schwerpunkte der Enquete-Kommission sein wird, sicher eingebettet in allgemeine gesellschaftliche Zusammenhänge.
Wir stimmen sicher auch darin überein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß Kinder eine optimale Ausbildung brauchen und daß Kinder das Humanvermögen unserer Gesellschaft sind. Investitionen in dieses Humanvermögen sind sicher eine gute Investition.
Ich glaube aber auch, daß wir den Mut haben müssen, in unseren Stellungnahmen und Empfehlungen über das hinauszugehen, was momentan aktuell durchsetzbar erscheint. Politische Verantwortungsträger aller Ebenen, Sozialpartner, gesellschaftliche Gruppierungen und Mitbürgerinnen und Mitbürger aller Altersgruppen und sozialen Schichten müssen wir in diesen fruchtbaren Dialog mit hineinnehmen.
Peter Keller
Wir sind also auf eine gute Zusammenarbeit mit allen beteiligten Bundesministerien, Ländern und Kommunalverbänden, mit Vertretern von Wirtschaft und Gesellschaft und vor allem der Wissenschaft angewiesen.
Hohe Anforderungen werden natürlich auch an die Geschäftsführung gestellt, wobei ich noch einmal für die Arbeit der Hauptamtlichen der letzten Enquete-Kommission danke. Diese hohen Anforderungen an die Geschäftsführung, an die Mitarbeiter der Kommission und an uns sind so gestellt.
Einen letzten Satz als Schlußbemerkung: Der vor 30 Jahren verstorbene Religionsphilosoph Romano Guardini hat einmal gesagt:
... daß in der richtigen Weise nur der alt wird, wer das Altwerden innerlich annimmt. Etwas anderes muß aber hinzugefügt werden: Es hängt viel davon ab, daß die Allgemeinheit
- ich würde sagen, die Gesellschaft -
ebenfalls und ihrerseits das Alter annehme.
Das letztere ist sicher unsere politische Aufgabe in dieser Enquete-Kommission.
Schönen Dank. - Es spricht jetzt die Kollegin Doris Barnett.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der demographische Wandel ist an sich ja nichts Negatives, sondern etwas Natürliches. Aber die sozialen Sicherungssysteme sind kein biologisches Problem. Diese Feststellung ist vorneweg zu treffen und findet ihre Bestätigung im Zwischenbericht der Enquete-Kommission der letzten Wahlperiode.
Durchgängig finden wir in diesem Bericht Hinweise darauf, daß unsere Sicherungssysteme - betreffen sie die soziale Sicherung oder die Lebensstandardsicherung - von der Frage der Beschäftigung abhängig sind. Unsere Sicherungssysteme beruhen nicht auf einem möglichst hohen Bevölkerungswachstum, sondern auf einem möglichst hohen Stand der Beschäftigung. Was nützt es denn, wenn auf einen Rentner z. B. zwei erwerbsfähige Personen kommen? Entscheidend ist doch, daß es zwei erwerbstätige Personen sind.
Wenn wir nun darangehen, Möglichkeiten zu suchen, wie unsere sozialen Sicherungssysteme auch bis weit ins nächste Jahrhundert funktionieren sollen, dürfen wir vorgenannte Feststellungen nicht aus dem Auge lassen: Sand im Getriebe der Sicherungssysteme sind hohe Arbeitslosigkeit, lückenhafte Erwerbsbiographien insbesondere von Frauen und auch sozialversicherungsfreie Beschäftigungszeiten. Denn das entzieht dem Sicherungssystem Mittel, die wir z. B. für das Rentensystem dringend brauchen.
Deshalb muß unser Hauptaugenmerk darauf gerichtet sein, die Grundlagen des Sicherungssystems zu sichern, nämlich Beschäftigung und Produktivitätssteigerung.
Natürlich ist mir klar, daß wir neben der Beschäftigungs- und Produktivitätsquote noch etwas bedenken müssen, nämlich, wie wir mit der Produktivitätssteigerung umgehen, wie wir also die Früchte des Fortschritts verwenden.
Nun will ich nicht verhehlen, daß heute nicht alle Arbeitswilligen eine Arbeit finden und somit unsere Sicherungssysteme stützen können. Natürlich ist die deutsche Bevölkerung auch keine wachsende; das braucht sie auch nicht zu sein. Aber genau hier kommt es jetzt zu einem Paradoxon.
Ab der Jahrtausendwende wird es mehr Erwerbstätige geben, die über 50 Jahre alt sind, als Unter-30Jährige. Ursächlich dafür ist der demographische Bruch im Verlauf der neunziger Jahre. Der Anteil junger Arbeitskräfte aus dem Inland, die in den Arbeitsmarkt eintreten, nimmt auf Grund der geburtenschwachen Jahrgänge ab. Bleibt die Zuwanderungsrate konstant, werden die doppelten Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt drastisch verstärkt. Als Lösung wurden von der Wirtschaft Einwanderungen in einer Größenordnung von 300 000 Menschen pro Jahr gefordert. Es ist sowohl wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch als auch im Sinne der Sicherungssysteme in hohem Maße widersinnig, durch passive Hinnahme von steigender Arbeitslosigkeit und staatlich subventionierter Frühverrentung Humankapital zu entwerten und gleichzeitig einen enormen arbeitsmarktpolitisch begründeten Einwanderungsbedarf auszulösen.
Sofern wir nicht endlich geeignete Initiativen insbesondere zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit ergreifen, wird in einigen Jahren die groteske Situation gegeben sein, daß akuter Arbeitskräftemangel und ein dann allerdings kaum oder gar nicht mehr verwendbarer Arbeitskräfteüberschuß nebeneinander existieren. Für unsere sozialen Sicherungssysteme ist diese Situation ein hochbrisanter Sprengsatz.
Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf setzt dieser Entwicklung mit seiner Forderung nach mehr privater Vorsorge geradezu die Krone auf. Denn das kommt einer Aufkündigung des bisher bestehenden, wenn auch fragilen gesellschaftlichen Konsenses gleich. Aber wir wissen Herrn Blüm in unserer guten Gesellschaft, und deswegen ist mir so bange nicht.
Als soziale Wesen können wir es nämlich nicht zulassen, unsere Gesellschaft in wertvolle und weniger wertvolle Mitglieder aufzuteilen, die dann nach eigenem Vermögen ihre Absicherung betreiben. Es muß unser vorderstes Bestreben bleiben, unseren Sicherungssystemen, die sich jetzt hundert Jahre und länger bewährt haben, nicht die Grundlage wegzuschlagen, sondern sie auf einer sicheren Basis für die nächsten hundert Jahre fit zu machen. Grundvoraus-
Doris Barnett
Setzung dafür bleibt die ökonomische Lösung des Problems Arbeitslosigkeit; denn die Arbeitsmarktpolitik ist ein untrennbarer Bestandteil der Sicherungssysteme.
Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Walter Link das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel - Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik". In der kommenden Woche wollen wir die konstituierende Sitzung dieser Kommission durchführen. Ich freue mich auf die Fortsetzung der Arbeit und darauf, daß ich dieser Kommission vorsitzen darf.Heute ist es mir ein besonderes Anliegen, der Enquete-Kommission, die in der 12. Legislaturperiode knapp zwei Jahre gearbeitet hat, für ihre geleistete Arbeit ein herzliches Dankeschön zu sagen, auch besonders Ihnen, Herr Kollege Fuhrmann, als Vorsitzenden. Mein Dank gilt den Abgeordneten aus allen Fraktionen, den Wissenschaftlern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Sekretariat.Vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt ein Zwischenbericht, der eine fundierte Grundlage für unsere Arbeit in der 13. Legislaturperiode sein wird. Der Zwischenbericht gibt uns eine Fülle von Analysen, Perspektiven und Lösungsansätzen. Die zeitliche Perspektive, die dieser Zwischenbericht gibt, reicht bis in das Jahr 2030. Wir sollten bei der Arbeit in den nächsten Jahren versuchen, die zeitliche Perspektive über das Jahr 2030 hinaus auszudehnen. Dies hört sich zunächst sehr fern an.Wer aber heute Kinder oder Enkelkinder im Schulalter hat, kann sich an deren Lebensweg verdeutlichen, wie notwendig diese weite Perspektive ist. Das heutige Erwerbsleben umfaßt einen Zeitraum von etwa 35 bis 40 Jahren. Das ist normalerweise der gesamte Karriereverlauf eines einzelnen Menschen bis hin zum Ausscheiden aus seinem Berufsleben. Für den, der heute schon im mittleren Erwachsenenalter ist, bedeutet eine Zeitspanne von 35 bis 40 Jahren, daß sie weit bis in seinen dritten Lebensabschnitt hineinreicht.Die Zukunftsgestaltung geht uns alle an. Die Verantwortlichen, die heute diese Entscheidung treffen, müssen sich der Verpflichtung stellen, absehbaren Entwicklungen frühzeitig Rechnung zu tragen. Nachdenken über die Gestaltung der Zukunft gehört zu den vornehmsten und - wie ich denke - wichtigsten Aufgaben der Politik. Dieses Nachdenken muß über mehrere Generationen hinausgehen.Die Menschen in unserem Lande machen uns Politikern und Politikerinnen oft den Vorwurf, daß wir nur von einer Wahl zur anderen reden, denken und handeln. Wir, die in Zukunft in dieser Kommission arbeiten werden, haben die Verpflichtung, der Bevölkerung deutlich zu machen, daß wir mit unserem Handeln und Tun Perspektiven über Legislaturperioden hinweg aufzeigen wollen. Unsere Aufgabenstellung in der Enquete-Kommission ist Querschnittsarbeit und umfaßt nahezu alle Politikbereiche.Die Bundesrepublik Deutschland steht nicht allein vor diesen Herausforderungen des demographischen Wandels. Gleiche bzw. ähnliche Entwicklungen lassen sich in allen hochindustrialisierten Staaten beobachten, insbesondere bei den Staaten der Europäischen Gemeinschaft. Deshalb wird die europäische Dimension bei unserer Kommissionsarbeit eine ganz wichtige Rolle spielen müssen. Ein Zusammenwachsen Europas wird und muß uns ein neues europäisches Bewußtsein geben. Dieser Gedanke muß insbesondere in das Thema „Wanderungen - europäischer Arbeitsmarkt" und in viele andere Bereiche eingehen.Ein weiterer Schwerpunkt der zukünftigen Kommissionsarbeit wird darin liegen, die sozialen Sicherungssysteme im Hinblick auf die Anpassung an die demographischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu überprüfen. Dies gilt für den Generationenvertrag, der die Grundlage unseres Rentensystems bildet. Allerdings beginnt hier die Arbeit nicht bei Null. Die Rentenreform von 1992 hat bereits erheblich dazu beigetragen, angesichts des sich abzeichnenden demographischen Wandels die Rentenversicherung zukunftssicherer zu machen.Bei der von der Kommission gesetzten zeitlichen Perspektive werden wir eingehend und mit Umsicht weitere Anpassungsmöglichkeiten des Systems prüfen müssen. Das Rentenversicherungssystem ist abhängig von der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft, von der Zahl der Beitragszahler und von der Produktivität des einzelnen und der Gesellschaft. Sie hat auch mit der Dauer des Erwerbslebens und der Zahl der Arbeitsplätze zu tun.Eine erfolgreiche Wirtschaft kann vielen Menschen Arbeit bieten. Wir leisten uns in Deutschland zu lange Ausbildungszeiten und damit einen zu späten Einstieg in das Erwerbsleben. Wir werden in den nächsten Jahren in der Kommission analysieren und prüfen müssen, wie die im System vorhandenen Möglichkeiten ausgenutzt werden können. Es geht darum, Sicherheit, Gerechtigkeit und ein friedliches Miteinander zwischen den Generationen auch in Zukunft zu gewährleisten.Familienpolitische Fragestellungen, wie z. B. der Familienleistungsausgleich verbessert und wie eine gerechtere Lastenverteilung zwischen Familien mit und ohne Kindern erreicht werden kann, gehören als wichtige Eckpfeiler zu unserer Kommissionsarbeit.Der zu erarbeitende Kommissionsbericht wird sich auch mit der Lebenssituation und der Perspektive der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer befassen müssen. Viele von ihnen, die schon
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1995 3623
Walter Link
vor Jahren zu uns kamen, hatten ursprünglich die Absicht, nach dem Erwerbsleben in ihre Heimat zurückzukehren. Viele von ihnen werden diese Planung nicht mehr verwirklichen, denn die Bindungen an die alte Heimat sind lockerer geworden, und hier in Deutschland sind neue Bindungen entstanden. Kinder und Enkel leben und arbeiten hier. So treffen sie die Entscheidung, nach Beendigung ihres Erwerbslebens den Ruhestand bei uns in Deutschland zu verbringen.Dies heißt mit anderen Worten: Wir müssen uns verstärkt der Seniorenarbeit und den Einrichtungen der Altenhilfe zuwenden, um den besonderen Situationen und Bedürfnissen unserer älteren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gerecht zu werden.Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den wenigen Minuten, die mir zur Verfügung standen, konnte ich nur einige Aufgabenfelder, die die Kommission zu bearbeiten hat, aufzeigen.Nachdenken über die Gestaltung unseres Zusammenlebens in der Zukunft ist die Grundaufgabe der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel". Das ist für uns alle eine große Herausforderung. Wir werden uns dieser Aufgabe stellen und unseren Beitrag zu einer Zukunftsgestaltung leisten, die von Fairneß und Gerechtigkeit und von Solidarität zwischen den Gruppen und Generationen geprägt sein muß.Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz
Tätigkeitsbericht 1993 und 1994 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz - 15. Tätigkeitsbericht - gemäß § 26 Abs. 1 des Bundesdatenschutzgesetzes
- Drucksache 13/1150 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senoiren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz
14. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 26 Abs. 1 des Bundesdatenschutzgesetzes
- Berichtszeitraum Anfang 1991 bis Anfang 1993 -
- Drucksachen 12/4805, 13/725 Nr. 13, 13/1636 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Bosbach
Dr. Burkhard Hirsch
Dorle Marx Manfred Such
Ulla Jelpke
Zum 14. Tätigkeitsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Bosbach.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben unter diesem Tagesordnungspunkt insgesamt drei Beratungsgegenstände: den 14. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die entsprechende Beschlußempfehlung, den 15. Tätigkeitsbericht sowie einen Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit ist es leider nicht möglich, über die Beratungsgegenstände so intensiv zu diskutieren, wie dies angesichts der Bedeutung dieser Thematik wünschenswert wäre. Es können daher nur wenige, kontrovers diskutierte Punkte stichwortartig angesprochen werden.
Der Antrag der Grünen, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung im Grundgesetz zu verankern, ist erstaunlich. In den letzten gut elfeinhalb Jahren müßte es sich eigentlich herumgesprochen haben, daß dieses Grundrecht bereits jetzt Bestandteil unserer Verfassung ist.
Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 völlig unzweideutig festgestellt. Dabei ist dieses Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vom Gericht weder entdeckt noch erfunden worden. Diesen Begriff gibt es in der juristischen Literatur bereits seit Beginn der 70er Jahre; er ist vom Verfassungsgericht in der erwähnten Entscheidung lediglich aufgegriffen worden.
Wolfgang Bosbach
Entgegen dieser klaren Rechtslage erwecken die Bündnisgrünen mit ihrem Antrag den Eindruck, als habe das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Deutschland keinen Verfassungsrang. Es drängt sich daher der Verdacht auf, daß dies der eigentliche Zweck des Antrages ist.
Ähnlich unverständlich ist auch der Antrag auf Einführung eines allgemeinen Rechts auf Akteneinsicht als angeblich zwingende Folge des Rechts auf Informationsfreiheit. Hierbei wird zunächst übersehen, daß es bereits jetzt in zahlreichen Gesetzen eine große Anzahl von Auskunfts- und Einsichtsrechten gibt. Beispielhaft erwähne ich das Recht auf Auskunft über Daten im Datenschutzgesetz selber, das Akteneinsichtsrecht nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz im Zusammenhang mit zahlreichen Planungsverfahren sowie das allgemeine Recht auf Akteneinsicht in den verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren.
Darüber hinaus übersehen die Antragsteller, daß Art. 5 des Grundgesetzes ganz ausdrücklich nur von „allgemein zugänglichen Quellen" spricht. Interne Verwaltungsakten sind jedoch keine allgemein zugänglichen Quellen im Sinne unserer Verfassung. Demgemäß setzen die gesetzlichen Vorschriften beim Recht auf Akteneinsicht ein rechtliches oder zumindest ein berechtigtes Interesse an der Auskunft oder der Einsicht voraus.
Ein sogenanntes Jedermann-Recht zur Einsicht in alle Akten und Unterlagen einer Verwaltung, auch wenn ein rechtliches Interesse weder dargetan noch ersichtlich ist, wenn vielleicht ausschließlich die blanke Neugierde oder gar Geschäftemacherei das Motiv ist, wäre daher verfassungswidrig, so daß diesem Antrag nicht gefolgt werden kann.
Meine Damen und Herren, Ihnen liegt die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum 14. Tätigkeitsbericht vor. Dieser behandelt in Ziffer 1 das Thema Datenabgleich wegen Leistungsmißbrauch. Da auch die Bündnisgrünen in ihrem Antrag das Thema ansprechen, will ich zu diesem Punkt kurz Stellung nehmen.
Mit der Beschlußempfehlung wird die Bundesregierung aufgefordert, vor der Einrichtung von Datenabgleichsverfahren zu prüfen, ob sie im Interesse des Gemeinwohls zur Erreichung eines konkreten Zieles erforderlich und verhältnismäßig sind. Darüber hinaus sollen die Bürger auf mögliche Datenabgleiche rechtzeitig aufmerksam gemacht werden.
Unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann auf Datenabgleich zukünftig grundsätzlich nicht verzichtet werden. Beispielhaft verweise ich auf das sogenannte DALEB-Verfahren, bei dem allein im Jahre 1993 734 000 Zahlungsüberschneidungen festgestellt wurden, die zu Rückforderung von 180 Millionen DM führten.
Der Datenabgleich zwischen den Meldebehörden und dem Postrentendienst über den Tod von Personen führt zur Vermeidung von Rentenüberzahlungen
an die Hinterbliebenen von jährlich 100 Millionen DM. Diese beiden Zahlen machen deutlich, daß und warum auf Datenabgleich grundsätzlich auch zukünftig nicht verzichtet werden kann.
Zu Recht hat der Bundesbeauftragte darauf hingewiesen, daß das Informationszeitalter und der rasante technische Fortschritt bei der Informationsverarbeitung in ganz besonderer Weise neue Herausforderungen für den Datenschutz mit sich bringen. Datenautobahnen und Multimedia sind wichtige Themen der Zukunft. Durch diese Veränderungen sind neue, bisher nicht gekannte Auswirkungen auch beim Persönlichkeitsrecht der Bürger zu erwarten.
Wir dürfen und wollen uns nicht gegen technische Neuerungen stellen. Wir müssen uns jedoch mit den Konsequenzen und Perspektiven, die sich hieraus für den Datenschutz ergeben, ernsthaft beschäftigen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß ganz herzlich dem Bundesbeauftragten Dr. Jacob, seinen Mitarbeiterinnen und seinen Mitarbeitern nicht nur für die beiden Tätigkeitsberichte und die damit verbundene Mühe, sondern auch für eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken.
Das Dankeschön gilt auch Ihnen für das geduldige Zuhören zu später Stunde.
Jetzt hat die Kollegin Marx das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte mich gern den Worten meines Vorredners anschließen und Herrn Dr. Jacob für die intensive Arbeit danken, die insbesondere mit der Vorlage des 15. Tätigkeitsberichtes zum Ausdruck kommt. In meiner Parlamentsgeschichte kann ich mich nicht erinnern, jemals einen so ausführlichen Bericht erhalten zu haben. Dafür einen besonderen Dank!
Bei der Einbringung des 14. Berichtes in die parlamentarische Beratung hatten wir Sozialdemokraten uns besonders mit dem angestiegenen Datenabgleich zum Zweck der Bekämpfung des Mißbrauchs sozialer Leistungen beschäftigt. Herr Dr. Jacob hatte ja auch angemahnt, daß man hier mit Sorgfalt vorgehen müsse, weil es nicht sein könne, daß der Staat dem Bürger von vornherein mit Mißtrauen begegnet.
Ich freue mich, daß wir uns im federführenden Ausschuß in einer gemeinsamen Stellungnahme darauf einigen konnten, daß solche Abgleiche erforderlich und verhältnismäßig sein müssen und daß künftig auch darüber informiert werden muß, daß solche Abgleiche durchgeführt werden. Eine gleichsam populistische soziale Rasterfahndung sollte danach künftig ausgeschlossen sein.
Dorle Marx
Verwundert bin ich in diesem Zusammenhang ein wenig darüber, daß der Entschließungsantrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser Frage hinter den Beschlußvorschlag des Innenausschusses zurückfällt. Ihr Wunsch, die Datenabgleiche, wie es bei Ihnen heißt, „so weit wie möglich" einzuschränken, enthält eine Generalklausel, die sehr viel beliebiger interpretiert werden kann als die Kriterien der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit. Ihr Antrag enthält im weiteren Forderungen, die auch die SPD- Fraktion schon mehrfach in diesem Haus zur Abstimmung gestellt hat. Vieles ist von der Mehrheit abgelehnt worden, manches haben wir beschlossen und mahnen es seit Jahren an, etwa den Arbeitnehmerdatenschutz.
Allerdings bewegen sich alle die von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN angesprochenen Bereiche im traditionellen Verständnis des Datenschutzes als Abwehrrecht des Bürgers gegenüber dem Staat.
Ich möchte heute für die Fraktion der SPD neue Schwerpunkte für die Beratung des 15. Tätigkeitsberichts anmelden. Bei der geschilderten Entwicklung der Informationsgesellschaft wird der Staat den Bürger künftig verstärkt gegenüber Dritten schützen müssen. Das Recht auf Privatheft und informationelle Selbstbestimmung gefährdet heute keineswegs nur der Staat.
Liebe Kolleginnen und liebe Kolleginnen, können Sie sich vorstellen, künftig bei einem Einstellungsgespräch Ihre Gesundheitschipkarte vorzulegen? Wahrscheinlich nicht. Ich gehe davon aus, Sie würden das als unerträgliche Zumutung zurückweisen. Sie könnten sich dabei auch auf die langjährige Rechtsprechung der Arbeitsgerichte stützen, die das Recht einräumen, die Beantwortung aller Fragen zu verweigern, die sich nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der beabsichtigten Tätigkeit stellen. Den Job würden sie dann allerdings auch nicht bekommen. Das gewählte Beispiel ist nicht nur schauerliche Zukunftsvision.
Herr Dr. Jacob hat in seinem 15. Tätigkeitsbericht das Beispiel einer privaten Sicherheitsfirma genannt, die ihre Stellenbewerber dazu aufgefordert hat, beim Bundeskriminalamt Auskunft über dort zu ihnen gespeicherte Daten zu verlangen und diese Auskunft dann vorzulegen. Bezeichnenderweise hat dies nicht die Bewerber veranlaßt, sich bei Herrn Dr. Jacob zu melden. Die Nachfrage kam vom Bundeskriminalamt, das sich über vervielfältigte Anfrageformulare gewundert hat.
Beide Beispiele weisen in die Richtung der tiefgreifenden Veränderungen, die der Zugriff auf Daten in den letzten Jahren erfahren hat. Als vor 25 Jahren in meinem Heimatland Hessen das weltweit erste Datenschutzgesetz verabschiedet wurde, sollte die Privatsphäre der Bürger vor allem vor unbegründeter Wißbegier des Staates geschützt werden. Regelungsaufhänger waren Großrechner, die sich nicht zur Zentraldatei für Bürger entwickeln sollten. Nicht voraussehbar war damals das Ausmaß der Dezentralisierung der Datenverarbeitung und die Erweiterung der Nutzungsmöglichkeit auf quasi jedermann. Inzwischen sind wir über PCs, Laptops und Notebooks bei Smartcards angelangt. Die Smartcard ist die intelligenteste Form der Chipcard. Sie enthält - auf praktischem Scheckkartenformat - selbst nicht nur eine große Speicherkapazität, sondern auch einen eigenen Mikroprozessor, mit dem die Daten der Smartcard ergänzt und überarbeitet werden können.
Auch die Kommunikationstechnologie erhebt und verarbeitet immer mehr Daten. Da erscheint beim Angerufenen auf dem Display die Rufnummer des Anrufers. ISDN macht nicht nur dieses möglich. Aber auch simple Anrufbeantworter bieten als Zusatzfunktion bei der Fernabfrage die Raumüberwachung an. Dieser „private Lauschangriff" hat dieses Haus noch nicht beschäftigt. Herr Dr. Jacob weist dankenswerterweise in seinem neuen Tätigkeitsbericht auf diese kleine, aber nicht unwichtige Frage hin.
Wie romantisch waren dagegen doch die ersten Jahre des Datenschutzes! Da erstritten sich die Verbraucher das Recht der Einschränkung des Adressenhandels, den damals auch die Bundespost betrieben hat. Durch den Eintrag in eine sogenannte Robinsonliste konnte der eigene Briefkasten von unerwünschter Werbepost entlastet werden. Heute ist die Preisgabe weitaus sensiblerer persönlicher Daten zur unerläßlichen Eintrittskarte für die Konsumgesellschaft geworden. Die Kreditkartenabrechnung entlarvt die persönlichen Einkaufsgewohnheiten und das Lieblingsrestaurant. Wer öffentlich zum Shell-Boykott aufgefordert hatte, hätte künftig besser bar bezahlt.
Vernetzung ist das aktuelle Schlagwort der Informationstechnologie. Die vom Bundesverfassungsgericht nur unter Einschränkungen zugelassene Vernetzung bestehender Dateien ist längst nicht mehr das Hauptproblem. Integrierte Serviceangebote wie ISDN oder die Kundenkarten einer Fluglinie, die zugleich Kredit- und Telefonkarte sind, ermöglichen umfassende Kommunikations- und Bewegungsprofile. Auch die verschiedenen, oft internationalen Informationsnetzwerke speichern die Zugriffsgewohnheiten der Benutzer.
Datenschützer werden gerne als fundamentalistische Nörgler hingestellt. Denn schließlich, so heißt es angesichts der technischen Entwicklung, sei doch die Dezentralisierung der Informationsverarbeitung und die Vereinfachung des Zugangs erst die Zugriffsmöglichkeit des sogenannten „kleinen Mannes" zu Wissen und Einfluß. Wer aber - so wurde jüngst auf dem Herrhausen-Kolloquium der Deutschen Bank gefragt - wird all die neuen Angebote abrufen, wenn 90 % der Besitzer von Videorecordern ihr Gerät nicht bedienen können?
Eine neue Zunft ist deshalb im Entstehen. Sogenannte Informationsmanager wollen künftig ihre Dienste als Chauffeure auf den Datenautobahnen anbieten. Es fragt sich allerdings, ob der Infomanager oder der Auftraggeber die Fahrtrichtung bestimmt. Schon jetzt ist der Mailbox-„Sysop" - das ist das liebevolle Kosewort für den „System operator" - auf dem Weg zum Therapeuten der 90er Jahre. Dieses Vergnügen sollen und wollen die Datenschützer sicherlich niemandem vermiesen.
Dorle Marx
Es geht aber darum, wie künftig noch Privatsphäre gesichert werden kann. Professor Similis formulierte auf dem letzten hessischen Datenschutzforum, auf der Datenautobahn gäbe es nur gläserne Fahrer. Es ist deshalb an der Zeit, die Anonymisierung des Zugangs zu den vielfältigen automatisierten Dienstleistungen zu ermöglichen. Non olet, Geld stinkt nicht, diese Maxime aus dem alten Rom erhält eine neue Bedeutung.
Schon heute kann etwa mit dem Kauf vorausbezahlter Telefonkarten die Speicherung von Verbindungsdaten vermieden werden. Dieses System läßt sich aufs Internet genauso übertragen wie künftig vermutlich auch auf die Maut-Autobahnen.
Bei anderen Modellen identifiziert sich der Benutzer nur mit einer PIN-Nummer, die wiederum bei einem vertrauenswürdigen Dritten hinterlegt ist. Damit kann eine Identifizierung durch den Geschäftspartner nicht stattfinden; es fragt sich allerdings, wer den vertrauenswürdigen Dritten kontrolliert. Denn dieser vertrauenswürdige Dritte - so wird er genannt - hat ja dann seinerseits im Wortsinne die Schlüsselgewalt über die anfallenden persönlichen Daten des Bürgers.
Auf alle diese neuen Fragen gibt unser bisheriges Datenschutzrecht noch keine ausreichenden Antworten. Es wird künftig darum gehen müssen, die neuen Technologien auch technisch mit Persönlichkeitsschutzvorrichtungen auszustatten. Diesen neuen Aspekt deutet der 15. Tätigkeitsbericht an. Er sollte bei den Ausschußberatungen besonders berücksichtigt werden.
Unsere Aufgabe ist es, die entwickelte Alltagstechnik mit dem Prüfsiegel der Vereinbarkeit mit individuellen Freiheitsrechten zu versehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt spricht der Kollege Manfred Such.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bosbach, ich weiß nicht, wo Sie im Grundgesetz die Regelung über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung finden, das wir fordern. Ich frage Sie auch, wo Sie die Verankerung des Bundesdatenschutzbeauftragten im Grundgesetz finden.
Alles das, was Sie heute vorgetragen haben, von dem Sie meinen, daß es vorhanden sei, ist noch lange nicht vorhanden. Wenn Sie das Datenschutzgesetz hier zitieren und sagen, es sei ausreichend, um die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu wahren, muß ich Ihnen entgegenhalten: Dieses Datenschutzgesetz ist ein Datenschutzgesetz; es schützt nämlich die Daten der Bürgerinnen und Bürger vor den Bürgerinnen und Bürgern, die Informationen über ihre Daten haben wollen. Schauen Sie sich das Gesetz an, dann werden Sie das feststellen.
Wenn Sie draußen im Lande die Bürgerinnen und Bürger fragen, die bei den entsprechenden Behörden nach ihren Daten nachfragen wollen, werden Sie erleben, wie schwierig es ist, etwas über die eigenen Daten zu erfahren.
Meine Damen und Herren, Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind zarte, noch junge Gewächse unseres Rechtssystems. Sie sind deshalb, wie die heute zu beratenden Tätigkeitsberichte des Bundesbeauftragten verdeutlichen, weiterhin in Gefahr, nicht beachtet oder gar zertreten zu werden, wenn ihnen nicht durch sorgsame Pflege zu Wachstum und Blühen verholfen wird.
In Zeiten internationaler Krisen sowie großer ökonomischer und politischer Probleme droht Datenschutz leicht ins Abseits zu geraten und als sperriges Luxusrecht oder gar als Täterschutz diffamiert zu werden, wie Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, es immer wieder tun.
Daher ist beharrlich daran zu erinnern, daß die Freiheit, ohne Furcht vor Ausforschung private bzw. intime Informationen für sich zu behalten oder aber preiszugeben, ein elementares Menschenrecht darstellt.
Diese Freiheit ist etwa durch die beständige Zunahme von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen insbesondere im Bereich von gesundheitlicher und sozialer Versorgung gefährdet. Meine Kollegin von der SPD hat gerade schon darauf hingewiesen. Die dahinterstehende öffentliche Debatte um die Aufspürung von Leistungsmißbrauch darf angesichts der realen Dimensionen des Problems nicht weiter angefacht, und bestimmte eingerissene Kontrollpraktiken müssen zurückgefahren werden.
Ähnliches gilt für das auch von den Mitgliedern der Bundesregierung und von der CDU gern bemühte, aber bezeichnenderweise nie zu belegende Wort vom angeblichen Täterschutz. Statt den Datenschutz so als Hemmnis der Kriminalitätsbekämpfung zu diffamieren und vor der Forderung nach zusätzlichen Befugnissen zur Datenerhebung, wie z. B. dem großen Lauschangriff, müßten die herrschende Kriminalpolitik und die bestehenden Instrumente einer rationalen Wirksamkeitsprüfung unterzogen werden.
Unsere entsprechenden Anfragen an die Bundesregierung haben belegt, daß hierzu praktisch keine Erkenntnisse vorliegen oder öffentlich preisgegeben werden sollen. Deshalb müssen solche Rechtstatsachen vollständig gesichtet und nüchtern analysiert werden, statt - wie aktuell geplant - zu selektiver polizeilicher Propaganda mißbraucht zu werden. Nicht nur wegen dieser Notwendigkeit bitte ich Sie um Unterstützung des Entschließungsantrages meiner Fraktion. Hierin sind zahlreiche weitere Anliegen zur
Manfred Such
Fortentwicklung von Datenschutz und Informationsfreiheit, die über die knapp gefaßte Beschlußempfehlung des Innenausschusses hinausweisen, enthalten. Beispielhaft nenne ich nur die überfällige Schaffung eines allgemeinen Akteneinsichtsrechts, wie es in anderen Staaten schon lange Standard ist, und die Anpassung des Umweltinformationsgesetzes an die Vorgaben der entsprechenden EU-Richtlinie. Auch darin wird das schon gefordert.
Abschließend - meine Zeit ist leider zu Ende - möchte ich dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Herrn Jacob, sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einmal öffentlich für die verdienstvolle und engagierte Tätigkeit, wie sie in den Tätigkeitsberichten dokumentiert ist, ganz herzlich danken, Herr Jacob.
Das Wort hat der Herr Kollege Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muß ehrlich sagen, daß ich mit dem Antrag der Grünen nichts anfangen kann. Wenn das im Innenausschuß behandelt worden wäre, dann hätte man im einzelnen darstellen können, was hinter unserem Entschließungsantrag zurückbleibt, was geltendes Recht ist, was eingebracht worden ist. Wir könnten uns darüber unterhalten, daß wir in der Verfassungsreformkommission über ein Grundrecht auf Privatheit lange gestritten haben und daß dieses Haus diese Frage entschieden hat.
Ich habe den Eindruck, das ist einer der Anträge, die in der Erwartung gestellt werden, daß sie abgelehnt werden, um dann damit herumrennen und sagen zu können: Seht einmal, was die alles nicht wollen!
Ich möchte mit einem ganz anderen Punkt anfangen. Konrad Zuse, der Erfinder des Computers, hat heute seinen 85. Geburtstag. Ich möchte ihm von dieser Stelle aus herzlich gratulieren
und meine Bewunderung nicht nur dafür zum Ausdruck bringen, daß er die moderne Datenverarbeitung erfunden hat, sondern auch dafür, daß er immer wieder darauf hingewiesen hat, welche Gefahr darin besteht, wenn der Mensch sich nicht mehr der Maschine bedient, sondern beginnt, sich der Maschine anzupassen. Das ist in der Tat ein bemerkenswerter Gedanke, wenn man der Auffassung ist, daß Datenschutz als Schutz unserer Privatheit ein Teil unserer Rechtsordnung ist.
Der 14. Datenschutzbericht - noch von Herrn Einwag - bezieht sich auf die Jahre 1991 und 1992. Er zeigt den hohen Stand der Datenschutzgesetzgebung in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Staaten, aber er zeigt auf der anderen Seite auch, daß die Datenverarbeitung in einem außerordentlichen Umfang staatliche und private Kontrollinstrumente geschaffen hat, die bequem sind, die lautlos wirken und zu denen die Verwaltung immer häufiger greift, weil der Bürger sie nicht bemerkt.
Es gehört für mich zu den eindrucksvollsten Darstellungen dieses Berichtes, wenn dort ausgeführt wird, daß die ständigen Angriffe der Leitungsebene des Bundeskriminalamtes auf den Datenschutz als „Überlast an Freiheitsrechten" in keinem einzigen Fall als berechtigt belegt worden sind.
Darum wiederhole ich, daß Datenschutz nicht Täterschutz ist, sondern Schutz der Privatheit des Bürgers, und das gehört zu unserer Rechtsordnung genauso wie der Schutz des Eigentums oder der Menschenwürde.
Ich beziehe mich pauschal auf die Empfehlungen des Innenausschusses. Ich wünschte, daß die dort angesprochenen Ressorts endlich die Initiative ergriffen. Dazu gehört natürlich der Arbeitnehmerdatenschutz, den wir seit 1984 fordern, dazu gehören Regelungen im Bereich der Zivildienstleistenden und ehemaligen Soldaten usw.
Herr Kollege Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber ja. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Herr Kollege Hirsch, Sie haben mit Bezug auf den Datenschutzbericht angesprochen, welche Defizite noch beim Staat - das wurde vorhin schon an anderer Stelle von anderen Rednern gesagt - und bei den Ressorts bestehen.
Ich möchte ganz ernsthaft jetzt die Frage stellen, wann denn eigentlich die Datenschutzregelungen für den Deutschen Bundestag endlich einmal hier behandelt und verabschiedet werden. Das ist ein Defizit, das wir schon jahrelang mit uns herumschleppen.
Also, dieser Zustand ist in der Tat traurig. Das muß man ohne Einschränkungen einräumen. Man kann eigentlich nur bedauern, daß der Bundestag in der vorigen Legislaturperiode eine Gesetzgebung zu diesem Punkt zurückgestellt hat, bis sich die Landtage zu irgendwelchen Vereinbarungen durchgerungen hatten.
Ich glaube, es wird in der Tat hohe Zeit, in diesem Jahr mit der konkreten Gesetzgebung zu beginnen und eine Initiative einzubringen. Ich kann sie nicht von der Bundesregierung erwarten, weil es sich um den Datenschutz des Hauses handelt, aber es ist
Dr. Burkhard Hirsch
wirklich dringend notwendig, daß wir dazu eine interfraktionelle Initiative haben. Ich hoffe, daß sich alle Fraktionen des Hauses diesem Unternehmen anschließen können.
Der 15. Datenschutzbericht des Beauftragten Dr. Jacob widmet sich insbesondere der europäischen Datenschutzrichtlinie und den Folgen der modernen technischen Entwicklung. Insofern ist dies in der Tat völlig identisch mit dem, was in dem hessischen Symposium, das Sie, Frau Marx, erwähnt haben, behandelt wurde: Die technische Entwicklung eilt der Gesetzgebung weit voraus. Wir sehen uns völlig neuen Systemen gegenüber, den Möglichkeiten der Chipkarten, der Entwicklung von Persönlichkeitsprofilen, von Bewegungsprofilen. Man kann alle möglichen Kontrollmechanismen einführen, deren man sich im täglichen Leben eigentlich nicht bewußt ist.
In dem Datenschutzbericht wird eine ganze Reihe von Fallbeispielen dargestellt, die keine theoretischen Überlegungen sind, sondern aus der Wirklichkeit, dem täglichen Leben stammen. Wir ziehen daraus den Schluß, daß bei der Beratung des 15. Datenschutzberichtes im Innenausschuß eine Anhörung zu genau dem Thema zu beantragen ist, um herauszubekommen, welche Folgen sich aus der modernen Telekommunikationsentwicklung notwendigerweise für eine neuere Datenschutzgesetzgebung ergeben müssen. Ich hoffe, daß wir dieses Ziel gemeinsam verfolgen können, und bin sicher, daß wir einiges herausfinden werden.
Zum Schluß bleibt mir nur das, was auch schon die anderen Kollegen gesagt haben, nämlich dem Datenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeitern herzlich zu danken. Sie sind Auge und Arm dieses Parlaments. Ohne die Tätigkeit des Datenschutzbeauftragten wäre eine konkrete Behandlung des Datenschutzes durch dieses Haus über allgemeine Schlagworte hinaus nicht möglich. Dafür gebührt ihnen unser Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Bericht des Datenschutzbeauftragten gibt Anlaß zu erheblicher Sorge. In der Kürze der Zeit muß ich mich auf einige wenige Punkte beschränken; schließlich umfaßt der Bericht 228 Seiten, und ich habe drei Minuten Redezeit.
Für Ausländerinnen und Ausländer sieht es hinsichtlich des Datenschutzes besonders schlecht aus. Der Datenschutzbericht kritisiert am neugefaßten Ausländerzentralregister-Gesetz insbesondere den automatisierten Datenverbund von Polizei, Nachrichtendiensten und dem AZR. Dies ist nach Ansicht des Datenschutzbeauftragten verfassungswidrig. Ein
vergleichbares Zentralregister für Deutsche wäre tatsächlich vom Grundgesetz her nicht durchsetzbar. Aber Ausländerinnen und Ausländer sollen weiterhin unter diesem informationellen Sonderrecht leben müssen.
Sämtlichen Asylbewerberinnen und -bewerbern werden bei Antragstellung Fingerabdrücke abgenommen. Diese Daten werden in ein automatisiertes Identifizierungsprogramm eingespeist. Auch Bürgerkriegsflüchtlinge sollen künftig sämtlich zwangsweise erkennungsdienstlich behandelt werden. Der Datenschutzbeauftragte kritisiert unseres Erachtens zu Recht, daß hierbei sachwidrige Daten erhoben werden, die - hier zeigt sich, wie verräterisch die Sprache der Bundesregierung ist - gegebenenfalls erst später an Bedeutung gewinnen können. Wohin dieser Weg führt, zeigt meines Erachtens auch die geplante Einführung der sogenannten Asylcard.
Der Datenschutzbeauftragte beklagt sehr ausführlich die unbefriedigende Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für den Verfassungsschutz. Offensichtlich reagiert er hier auf bestimmte Vorkommnisse mit Verbitterung, wenn auch im Ton verbindlich. Er kritisiert zu Recht die unzulässig umfangreiche Zusammenarbeit des Bundesamtes zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit der Kölner Geheimdienstzentrale. Auch die Umstände der Befragung von Asylsuchenden durch das Bundesamt für Verfassungsschutz werden moniert, ebenso wie die Regelanfrage an das Bundesamt für Verfassungsschutz bei Einbürgerung in zwei Länder.
Ich möchte schließlich noch auf eine Reihe einzelner Punkte hinweisen. Zum Beispiel erklärt der Datenschutzbeauftragte, daß im Hinblick auf die Verbrechensbekämpfung keine weiteren offenen oder verdeckten Überwachungsmöglichkeiten geschaffen werden sollen. Er fordert einen jährlichen Bericht über die Ergebnisse der Telefonüberwachung. Er fordert schließlich bereichsspezifische Regelungen für Arbeitnehmer und weist darauf hin, daß diese für Beamte schon seit zwei Jahren geregelt sind, daß bereits seit 1984 der Bundesregierung die Aufgabe gestellt ist, ein entsprechendes Gesetz vorzulegen, was bisher aber nicht erfolgt ist.
Hier ist von Herrn Bosbach ausgeführt worden, daß es ja schon eine Regelung von Verfassungsrang für das informelle Selbstbestimmungsrecht gebe. Es ist wahr, daß es eine entsprechende Bundesverfassungsgerichtsentscheidung ist, und das ist uns auch in der Verfassungskommission entgegengehalten worden. Aber Sie wissen ja auch, daß eine Regelung in der Verfassung nicht dasselbe ist wie Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Das hat übrigens auch der Datenschutzbeauftragte in seinem Bericht ausdrücklich erklärt.
Ich möchte also sagen, die Arbeit des Bundesbeauftragten hier hat uns eine Fülle von Aufgaben gestellt, und ich meine, daß Regierung und die Ausschüsse dieses Parlaments sich dem stellen und die Anregungen hier aufgreifen sollten.
Dr. Uwe-Jens Heuer
Ich wünsche uns allen, daß wir mit allem Ernst diese Aufgaben angehen, damit der nächste Datenschutzbericht nicht mehr diese Defizite aufweist.
Danke schön.
Jetzt hat das Wort für die Bundesregierung der Herr Staatssekretär Lintner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem jüngsten Tätigkeitsbericht gibt der Bundesbeauftragte für den Datenschutz einen umfassenden Überblick über seine Kontrolltätigkeit und auch über die Entwicklung des Datenschutzes in den letzten zwei Jahren.
Sein Bericht zeigt: Auch in den Jahren 1993 und 1994 war der Bundesbeauftragte für die öffentlichen Stellen des Bundes ein strenger Kontrolleur, aber auch ein kooperativer Berater zur Sicherstellung des Datenschutzes. Und wie die zuletzt 3 000 Anfragen und Eingaben in einem Jahr zeigen, sehen auch die Bürger in ihm den Anwalt ihrer datenschutzrechtlichen Interessen. Für die mit großem Fleiß und Sachverstand geleistete Arbeit möchte ich namens der Bundesregierung dem Bundesbeauftragten für Datenschutz und seinen Mitarbeitern herzlich danken.
Am 15. Dezember 1993 jährte sich zum zehnten Mal die Verkündung des sogenannten Volkszählungsurteils, in dem das Bundesverfassungsgericht bestätigte, daß der einzelne Bürger grundsätzlich selber über die Preisgabe und die Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen kann. Eingriffe in dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung, meine Damen und Herren, unterliegen deshalb strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Wie der Bundesbeauftragte, so beurteilt auch die Bundesregierung die datenschutzrechtliche Entwicklung in Deutschland seit diesem Urteil als positiv. Gerade im Berichtszeitraum des 15. Tätigkeitsberichts haben wir mit dem Ausländerzentralregister-Gesetz, der Novelle zum Bundesgrenzschutzgesetz, dem Krebsregistergesetz und den datenschutzrechtlichen Regelungen im Rahmen der Postreform II - um hier nur einige Beispiele zu nennen, Herr Bundespostminister - wichtige bereichsspezifische Rechtsgrundlagen für den Umgang mit personenbezogenen Daten geschaffen.
Mit dem Bundesbeauftragten sieht auch die Bundesregierung auf einigen Feldern noch gesetzlichen Handlungsbedarf, z. B. beim BKA-Gesetz. Im Anschluß daran sollen dann auch - so jedenfalls die Vorstellung der Bundesregierung - die datenschutzrelevanten Ergänzungen des Strafverfahrensrechts in einem Strafverfahrensänderungsgesetz zügig beraten und beschlossen werden.
Handlungsbedarf, meine Damen und Herren, besteht auch hinsichtlich der Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz. Wie Sie wissen, wurde das Ausländergesetz mehrfach geändert. Aber mit Hilfe der kurz nach Verkündung des neuen Ausländergesetzes vom Bundesministerium des Innern erarbeiteten vorläufigen Anwendungshinweise, die von den Ländern akzeptiert worden sind, wurde eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis de facto gewährleistet.
Dazu eine zusätzliche Bemerkung. Die Bundesregierung ist nach wie vor von der Notwendigkeit dieser Verwaltungsvorschriften überzeugt, kann jedoch wegen der schwierigen horizontalen Abstimmung in den Ländern keine zeitliche Perspektive nennen.
Ähnliches, meine Damen und Herren, gilt für eine Kodifizierung des Arbeitnehmerdatenschutzes. Auch hier führten wichtige Gesetzgebungsvorhaben - wie etwa das Pflegeversicherungsgesetz oder das Entgeltfortzahlungsgesetz - zur Unterbrechung der Arbeiten an einem Referentenentwurf. Die Bundesregierung hofft, die bereits geleisteten Vorarbeiten so bald wie möglich zu einem Gesetzentwurf zusammenführen zu können.
Überhaupt kann man feststellen, daß sich die in der Beschlußempfehlung des Innenausschusses enthaltenen Aufforderungen an die Bundesregierung fast ausnahmslos mit deren Absichten decken. Einzige Ausnahme sind die geforderten Regelungen zum Bereich Statistik, die teilweise die Gefahr einer Überreglementierung in sich bergen. Fordert man bereits für eine technische Neuerung wie die Datenerhebung durch Laptops eine eigengesetzliche Regelung, so schafft man damit nach unserer Überzeugung einen Präzedenzfall, der die Bemühungen um Rechtsvereinfachung und einen schlanken Staat konterkariert.
Die Bundesregierung kann dem Bundesbeauftragten allerdings insoweit nicht folgen, als er auch im 15. Tätigkeitsbericht eine Entwicklung prognostiziert, die den einzelnen durch übermäßige Eingriffsbefugnisse des Staates zunehmend zum „gläsernen Bürger" mache. Gerade auf dem im Tätigkeitsbericht genannten Feld der inneren Sicherheit ist eine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgende Verarbeitung persönlicher Daten festzustellen, die das auch im Interesse des Bürgers zu schützende Rechtsgut - nämlich die öffentliche Sicherheit und Ordnung - gewährleistet.
Gleiches gilt im übrigen für die Datenabgleiche zum Zwecke der Mißbrauchsverhinderung im Bereich der Leistungsverwaltung. Hier gebietet allein das Sozialstaatsprinzip, dafür zu sorgen, daß die knapper werdenden Mittel ausschließlich Berechtigten zugewiesen werden.
Meine Damen und Herren, ebenso wie der Bundesbeauftragte in seinem Tätigkeitsbericht möchte ich die Verabschiedung eines gemeinsamen Standpunktes für eine EG-Datenschutzrichtlinie am 20. Februar dieses Jahres herausheben. Dieser Be-
Pari. Staatssekretär Eduard Lintner
Schluß des Ministerrats ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Harmonisierung des Datenschutzrechts auf hohem Niveau in den EU-Mitgliedstaaten.
Nutznießer dieser Entwicklung ist nicht nur die Wirtschaft, deren EG-internen grenzüberschreitenden Datentransfers dann keine datenschutzrechtlichen Hemmnisse mehr entgegenstehen, sondern Nutznießer sind vor allem die Bürger in den einzelnen EU-Staaten, deren Persönlichkeitsrecht durch die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht gestärkt wird.
In dem Zusammenhang möchte ich noch erwähnen, daß in Brüssel der Durchbruch zu einem politischen Konsens unter den Mitgliedstaaten nach fast vierjährigen Verhandlungen im zweiten Halbjahr 1994 unter deutscher Präsidentschaft erzielt wurde. Den Vorsitz in der zuständigen Arbeitsgruppe des Rates führte der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Herr Dr. Jacob. Speziell für dieses erfolgreiche Engagement und die ausgezeichnete Kooperation mit der Bundesregierung möchte ich Herrn Dr. Jacob ausdrücklich danken.
Meine Damen und Herren, neue Entwicklungen nicht zu hemmen, sie aber in für das Persönlichkeitsrecht des Bürgers verträgliche Bahnen zu lenken dürfte in der nahen Zukunft mit den sich abzeichnenden Datenautobahnen und neuen Multimediadiensten die vordringlichste Aufgabe des Datenschutzes sein.
Ich hoffe, daß der Bundesbeauftragte für den Datenschutz auf diesem und allen anderen datenschutzrelevanten Gebieten die Belange des Datenschutzes weiterhin mit Leidenschaft und Augenmaß wie bisher vertreten wird.
Damit schließe ich die Aussprache. Ich möchte dem Herrn Datenschutzbeauftragten im Namen des ganzen Hauses für sein Erscheinen heute abend danken.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des 15. Tätigkeitsberichts auf Drucksache 13/1150 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum 14. Tätigkeitsbericht. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist damit bei wenigen Enthaltungen angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/1735. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Sicherung des Friedens und der demokratischen Entwicklung in Burundi
- Drucksache 13/1731 -
b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Sicherung des Friedens und der demokratischen Entwicklung in Ruanda
- Drucksache 13/1732 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Tappe das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Herzen Afrikas spielt sich seit mehr als einem Jahr eine menschliche Tragödie ab, für die es in der neueren internationalen Geschichte keine Parallele gibt. In Ruanda hat im vorigen Jahr ein Genozid stattgefunden mit mehr als 1 Million Opfern und mehr als 2 Millionen Flüchtlingen, die in katastrophalen Verhältnissen in Lagern im Elend leben müssen. Ich denke in dieser Beziehung an die etymologische Bedeutung dieses alten deutschen Wortes.
Die Lage in Burundi ist zur Zeit hochexplosiv. Es gibt dort seit zwei Jahren einen schleichenden Putsch, der zunehmend eskaliert. Begonnen hatte es damals mit der Ermordung des erstmals frei gewählten Präsidenten Ndadaye im Oktober 1993. Infolge dieses Mordes gab es in Burundi mehr als 100 000 Tote.
Die internationale Presse berichtet täglich ganz aktuell von weiteren Opfern; vor allen Dingen sind dies Kinder und alte Menschen. Gestern erst ist der letzte Hutu-Professor an der Universität von Bujumbura ermordet worden. Die Stadtteile Kamenge und Kinama in Bujumbura sind Hutu-frei gemacht worden. Die legitimierte Regierung und der Präsident sind de facto entmachtet; das Tutsi-dominierte Militär hat die Macht übernommen. Dieses duldet jugendliche Todesschwadronen, die mordend und brandschatzend durch das Land ziehen, finanziert von einer kleinen Clique privilegierter Tutsis. Deren führender Kopf ist der ehemalige Diktator Bagaza, der am 25. Mai, also vor gerade vier Wochen, einen Aufruf an diese jugendlichen Banden erlassen hat. Ich möchte das, was in diesem Aufruf steht, gern im Auszug zitieren. Bagaza sagt:
Meine Militärs vom Camp Base werden den Auftrag haben, den Präsidentenpalast und den des Präsidenten der Nationalversammlung sowie die Minister und Anhänger der FRODEBU anzugreifen. Ich verlange, daß dieser Auftrag Mitte der
Joachim Tappe
Woche durchgeführt wird, denn am Wochenende gehen viele gebildete Hutus nach Uvira. Aber vergeßt nicht, die Vertriebenen dort zu töten, wohin sie sich geflüchtet haben. Soldaten, seid euch bewußt, daß die internationale Meinung aufschreien wird, aber haltet eure Ohren zu und tötet, führt den Auftrag durch. Sobald alle Leichen sind, werden wir die internationale Meinung täuschen .. .
Genau das scheint unmittelbar bevorzustehen. Was tut die internationale Gemeinschaft, zu der Deutschland gehört? Sie guckt zu, beklagt, verurteilt und gewährt hinterher humanitäre Hilfe. Ich finde, das ist zynisch.
Unsere Reise im April nach Burundi und Ruanda hat deutlich gemacht: Es gibt Chancen für eine Befriedung, allerdings nur dann, wenn schnell gehandelt wird. Es gibt ein ganzes Pakt kleinerer und größerer Maßnahmen. Ich will gerne einräumen, daß Deutschland nicht in der Lage ist, alles allein zu leisten, aber im Konzert der europäischen Länder scheint es möglich zu sein, wenn dazu der politische Wille vorhanden ist.
Ich möchte drei Punkte mit mittelfristiger Orientierung, bei denen uns auf Grund des hohen deutschen Ansehens in beiden Ländern eine besondere politische Verantwortung in Gestalt von praktischer, ideeller, personeller und materieller Hilfe zufällt, ansprechen.
Erstens. Wir sollten uns dazu durchringen, und wir fordern die Bundesregierung dazu ausdrücklich auf, eine konsequente Demokratisierung der Herrschaftssysteme in beiden Ländern zu unterstützen, d. h. eine Stärkung der demokratischen Institutionen, vor allem eine Reform der Armee, damit sie endlich multiethnisch zusammengesetzt ist. Dazu gehört sicherlich auch, daß die Gendarmerie und die Armee voneinander getrennt werden.
Aufbauhilfe für den Justizapparat und die Verwaltung: Hier kann ich mir durchaus vorstellen, daß deutsche Beamte, Offiziere, Juristen und Polizisten einen wertvollen Dienst leisten können.
Verstärkung der bilateralen Kontakte des Parlaments: Ich hoffe, daß die Präsidentin meinem Wunsch folgt und den Vizepräsidenten des Parlaments von Ruanda, Herrn Laurent Kungoli, nach Deutschland einlädt.
Eine wichtige Angelegenheit in dieser Frage ist die Hilfe bei der Herstellung von Recht und Gerechtigkeit. Vielleicht hat die deutsche Bundesregierung Möglichkeiten, auch über diplomatische Kontakte, das internationale Tribunal funktionsfähig zu machen, damit die Mörder endlich bestraft werden können, was im Zusammenhang mit einer von uns erhofften Versöhnung dringend notwendig ist.
Schließlich meine ich, auch unter außenpolitischen Gesichtspunkten, daß es wichtig und notwendig erscheint, eine Regionalkonferenz zu unterstützen, weil die Probleme in Burundi und Ruanda nur im Zusammenspiel der unmittelbaren Nachbarn bewältigt werden können.
Frau Präsidentin, im Einvernehmen aller Fraktionen darf ich darum bitten, daß über die vorliegenden Anträge heute schon abgestimmt wird. Das wäre auch eine Maßnahme zur Rückenstärkung der sicherlich nicht einfachen Mission des Bundesaußenministers Ende Juli, wenn er in diese beiden Länder fährt.
Herzlichen Dank.
Wir werden über die beiden Anträge gleich abstimmen. Das ist so beschlossen worden.
Ich möchte jetzt im Namen des Hauses den Herrn Botschafter von Burundi begrüßen, der mit seiner Begleitung auf der Tribüne Platz genommen hat.
Jetzt hat der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Burundi hat in seiner Geschichte nur zwei Phasen der Hoffnung erlebt: die erste Anfang der 60er Jahre mit Prinz Rwagasore, die zweite unter Präsident Melchior Ndadaye. Beides waren Zeiten der Demokratie, beides Zeiten des Ausgleichs zwischen der Hutu-Mehrheit und der Tutsi-Minderheit.
Das gibt uns Hoffnung, eine Wiederherstellung der Demokratie würde auch die ethnischen Konflikte mit ihrem unsäglichen Leid im Lande und Abertausenden von Flüchtlingen beenden. Denn wenn das Volk von Burundi - Hutu, Tutsi und Twa, die immer vergessen werden - das Sagen hätte, könnte es vorbildlich demonstrieren, wie verschiedene Ethnien zusammenleben und ein Land aufbauen.
Seit Jahrhunderten leben dort Hutu und Tutsi friedlich in den Dörfern - dort heißt es: auf den Hügeln - zusammen. Ein Drittel der Bevölkerung stammt aus gemischten Ehen. Es gab zwar immer Hierarchien und ethnische Unterscheidungen, aber es gab auch Regelungen, wie man damit leben konnte.
Wenn wir heute als deutsches Parlament nach Mitteln suchen, um den Völkermord in Etappen und das endgültige Gelingen des seit Oktober 1993 schleichenden Putsches zu verhindern, so müssen wir zunächst nach den Wurzeln des Übels fragen. Sie liegen in der Vergangenheit.
Das erste Übel ist die Diskriminierung von über 80 % der Bevölkerung, der Hutu. Seit Beginn dieses Jahrhunderts wurden erst von den Kolonialmächten Deutschland und Belgien, später durch die regierenden Militärdiktaturen immer nur Angehörige der Tutsi-Minderheit, von den Twa ganz zu schweigen, ausgebildet und auf die Entscheidungsposten in Verwaltung, Armee und Wirtschaft gesetzt. Besonders
Alois Graf von Waldburg-Zeil
verderblich wirkte sich aus, daß den Hutu der Umgang mit Bildung verwehrt wurde: von der Bevorzugung von Tutsi durch die Missionsschulen bis zur Ausrottung aller Gebildeten beim großen Massaker von 1972 - man kennt die Zahlen nicht genau; es betraf zwischen 300 000 und 500 000 Menschen -, bei dem alle Schüler ab Klasse 7 umgebracht wurden.
Mit Entsetzen sehen wir, daß diese Tradition von 1972 wieder auflebt. Es ist gerade erwähnt worden, daß die Extremisten diese Politik fortzusetzen suchen: Die Universität von Burundi wurde am 11. und 12. dieses Monats ethnisch gesäubert, die Leichen der ermordeten Hutu-Studenten verscharrt; vorgestern früh um 10 Uhr brachten Tutsi-Milizen den letzten Hutu-Professor, der es wagte, an der Universität von Burundi zu arbeiten, vor seinem Büro um.
Das zweite Übel ist die monoethnische Zusammensetzung der Armee. Seitdem Ende der 60er Jahre alle Hutu durch Hinrichtungen, Mord und Exilierung aus der Armee vertrieben worden waren, der sie ursprünglich natürlich ebenfalls angehörten, handelt diese Armee nicht als Beschützer der gesamten Bevölkerung, sondern als Exekutionsorgan des Interesses der Mächtigen. Man kann es beim Namen nennen: des Clans Hima aus Bururi.
Dieser Clan stellte alle drei Militärdiktaturen - Micombero, Bagaza, Buyoya - und bis heute 80 % des Offizierskorps. Ihre Führer schürten und schüren den ethnischen Konflikt zur Durchsetzung ihrer egoistischen Interessen. Sie geben vor, für die Sicherheit der Tutsi sorgen zu müssen, müßten aber wissen, daß dies nur durch Vertrauensbildung möglich wäre. Vertrauen schafft man jedoch nicht durch Morden.
Die Länder, welche diese Armee jahrelang durch Militärhilfe aufgebaut haben - Frankreich, Belgien und auch Deutschland - haben eine besondere Verantwortung, Druck auszuüben, damit sich diese Armee ab sofort aus allen Bevölkerungsgruppen rekrutiert. Nur so kann sie zu dem werden, was eine Armee sein sollte: Beschützer, nicht Verfolger der eigenen Bevölkerung.
Ich muß hier eines hinzufügen: Man kann nicht immer nur „hier Tutsi, da Hutu" sagen. Vielmehr gibt es in dieser Armee auch Tutsi, die bereit sind, für die Demokratie zu kämpfen. Sie müssen wir unterstützen, und wir müssen denen den Mut entziehen, die glauben, aufs neue das Volk ins Unglück stürzen zu können.
Das dritte Grundübel ist die Straflosigkeit der Mörder. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch Burundis Geschichte. Weder wurden die Massenmörder früherer Massaker noch die Mörder des Präsidenten Ndadaye zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, einige der Massenmörder sitzen heute im „Nationalrat für Sicherheit", der vor wenigen Tagen de facto den Ausnahmezustand und die Machtübernahme durch dieses in der Verfassung gar nicht vorgesehene Organ verfügt hat.
Die Putschisten gegen die Demokratie vom 21. Oktober 1993 laufen nicht nur frei herum, sondern sind weiter Befehlshaber in der Armee. Was sie auch tun - Deckung der Todesschwadronen, Mord und Plünderung im Lande, ethnische Säuberung in den Vorstädten der Hauptstadt -, niemand wird sie zur Rechenschaft ziehen. Die internationale Gemeinschaft ist hier dringendst aufgerufen, endlich durch eine Internationale Untersuchung Licht ins Dunkel zu bringen. Für Ruanda wurde mit Recht eine internationale Gerichtskommission zur Untersuchung des Völkermordes an den Tutsi von 1994 gefordert. Mit gleichem Recht kann man heute aber auch eine internationale Gerichtskommission zur Aburteilung der in Burundi geschehenen Verbrechen fordern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesen Tagen ringt das Parlament von Burundi um seine demokratische Existenz. Ich glaube, im Einvernehmen mit Ihnen allen zu sprechen, wenn ich sage, daß wir unsere Sympathie und unsere Solidarität für die Kolleginnen und Kollegen im burundischen Parlament zum Ausdruck bringen,
daß wir sie ermutigen, gegen die Entmachtung der demokratischen Institutionen, gegen ein Unterkontrollestellen der Verwaltung durch Militärkommissionen, gegen die Einführung der Zensur und gegen den Mißbrauch der Justiz zu kämpfen.
Ich glaube, daß wir den Politikern Respekt zollen sollten, die ihr Leben für die Demokratie und für die Menschenrechte gelassen haben. Wir müssen denjenigen Respekt zollen, die mit einem unerhörten Mut unter der Drohung der Todesschwadronen weiterhin ihre Pflicht für Demokratie und Menschenrechte erfüllen.
Verehrte Frau Präsidentin, ich glaube, daß dies zusammen mit den Ergebnissen der gemeinsamen Entschließung dieses Parlaments dann auch an die Kolleginnen und Kollegen des Parlaments in Burundi überbracht werde sollte.
Meine Damen und Herren, die Demokraten Burundis brauchen internationalen Beistand. Brauchen sie den wirklich? Können sie ihre Probleme nicht selber lösen? Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor 20 Jahren mit einem sehr harten - „verkrampten" hat man damals gesagt - Buren geführt habe. Dieser hat mir in dem heftigen Streitgespräch gesagt: Zerbrecht ihr euch doch nicht unsere Köpfe! Er hat unrecht gehabt; denn der demokratische Wandel in Südafrika ist zwar das Verdienst der dort handelnden Personen gewesen, aber ohne die Mithilfe und das
Alois Graf von Waldburg-Zeil
Mitdenken der internationalen Völkergemeinschaft wäre er nicht zustande gekommen.
Wir wollen im Deutschen Bundestag mitdenken und mitfühlen, um Frieden und Demokratie im Herzen Afrikas zu fördern. Wir können zwar keine Lösungen anbieten, aber wir können den Kräften, die dafür arbeiten, versuchen zu helfen, so gut es geht. Die gemeinsame Entschließung der Fraktionen des Deutschen Bundestages versucht, dies in einer Reihe von Möglichkeiten darzustellen.
Meine Damen und Herren, ich würde gerne zu zwei Punkten noch etwas sagen:
Erstens. Aggression entsteht immer durch Furcht. Die Aggressionen, die in Burundi entstanden sind, waren die Folge von Furcht vor der Ablösung von der Macht. Sie haben die Reihe der schrecklichen Völkermorde, die dort geschehen sind, ausgelöst. Aber das Beispiel, warum man Angst gehabt hat, war, daß man gesehen hat, daß es in Ruanda anders gelaufen ist. Auch dort hat es Völkermord gegeben. Nach der ersten Exilwelle nach der Unabhängigkeit hat man versucht zurückzukommen. Da hat es eine schauderhafte Mordwelle gegeben. Genau das, was vor 30 Jahren passiert ist, ist jetzt wieder geschehen: Als die Kräfte zurückgekommen sind und die Regierung wieder an sich gerissen haben, gab es diesen entsetzlichen Gegenmord.
Zur Furcht: Man muß Furcht nehmen können. Furcht nehmen zu können heißt immer, den Minderheiten zu sagen, daß sie als Minderheiten auch geschützt werden, den Mehrheiten aber zu ihrer demokratischen Legitimation zu verhelfen.
Zweitens: die Flüchtlinge. Das Beste, was wir tun können, um Flucht in ungeahntem Ausmaß zu verhindern, ist zu helfen, daß in Burundi die Explosion nicht stattfindet, die in Ruanda stattgefunden hat; denn dann werden die Flüchtlinge in den großen Wellen gar nicht erst kommen, und umgekehrt werden Flüchtlinge von draußen wieder zurückkommen.
Schwieriger ist das sicher in Ruanda. Dort gibt es Flüchtlinge, die vor 30 Jahren geflohen sind, die jetzt zurückkommen bzw. zurückgeholt werden und an die das Eigentum der anderen verteilt wird. Es ist sehr schwer für die anderen zurückzukommen. Das Vertrauen wird durch die Geschehnisse in den Lagern nicht besonders gestärkt.
Ich erinnere mich, daß wir vor ganz kurzer Zeit der Leistung der deutschen Flüchtlinge gedacht haben, die sofort nach dem Krieg gesagt haben: keine Rache. Ich glaube, wir müssen die Flüchtlinge unterstützen, die sagen: Jetzt nicht wieder bewaffnen, nicht wieder zurückkommen, nicht wieder alles umschmeißen! Die Unterstützung muß denen gelten, die versuchen, sich eine Bildung anzueignen, um von Grund auf zu helfen, ihre Staaten wieder aufzubauen; denn Demokratie ist kein Überstülpen europäischer Formen, sondern Demokratie ist etwas Urafrikanisches. Es war einst die Demokratie auf den Hügeln.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. Das Wort hat jetzt die Kollegin Uschi Eid.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Nachrichten, die uns aus Burundi täglich erreichen, sind alarmierend. Meine Vorredner haben einige Beispiele genannt. Aber die internationale Öffentlichkeit schaut weg. Wir dürfen dies nicht hinnehmen. Deshalb ist die Debatte heute im Bundestag wichtig. Dabei leitet uns die Frage: Wie kann die so hoffnungsvoll begonnene Demokratie in Burundi wiederhergestellt werden, und wie kann ein friedliches Zusammenleben der Menschen erreicht werden?
Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierzu überhaupt ist die von dem Staatspräsidenten dringend geforderte Einsetzung einer internationalen Kommission, die die Vorgänge bei der Ermordung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ndadaye am 21. Oktober 1993 im Camp Para der persönlichen Garde des ehemaligen Diktators Buyoya zu untersuchen und die Mörder vor Gericht zu bringen hat. Die meisten laufen, wie der Kollege Graf Waldburg-Zeil schon sagte, immer noch unbehelligt herum.
Wer fragte jemals den immer noch amtierenden Armeechef Bikomagu, ob er etwas mit der Auslieferung von Ndadaye an seine Folterer und Mörder zu tun hat?
Warum steht der Hintermann der Todesschwadronen und Waffenhändler Mathias Hitimana als belgischer Staatsbürger nicht längst in Belgien vor Gericht?
Warum schließt der Dominikanerorden nicht wenigstens den Befehlshaber der Tutsi-Milizen, Bruder Déo Niyonzima, aus?
Aber was geht all dies uns an? Erstens meine ich, es darf uns aus grundsätzlich moralisch-ethischen Erwägungen nicht egal sein, wenn, wo auch immer auf dieser Erde, Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Die ethischen Grundwerte, auf denen eine zivile Gesellschaft aufgebaut sein muß, fordern zivile Einmischung auch im Falle Burundis. Und dazu fordere ich die Bundesregierung auf.
Zweitens könnte Burundi ein Beispiel dafür sein, wie die gewachsene außenpolitische Verantwortung Deutschlands aktiv wahrgenommen wird. Internationale Verantwortung bedeutet vor allem, eine führende Rolle bei der friedlichen Konfliktprävention und Konfliktregulierung einzunehmen. Herr Bundeskanzler, übernehmen Sie diese Rolle! Meine Fraktion wird Sie dabei unterstützen.
Dr. Uschi Eid
In Burundi ist es noch nicht zu spät für deeskalierende friedensstiftende Maßnahmen. Deshalb bitte ich Sie, Herr Kinkel, jetzt bald und nicht erst Ende Juli nach Burundi zu reisen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, die zivilen friedensschaffenden und friedensfördernden Maßnahmen, die alle Fraktionen des Deutschen Bundestages heute abend verabschieden werden, ohne Zeitverlust umzusetzen. Ich möchte nur einige wenige nennen, die auch gar keine großen finanziellen Mittel erfordern.
Als erstes ware es kein Problem, daß die ausländischen Expertinnen und Experten nicht abgezogen werden. Wir können den Mördern das Land nicht ausliefern. Es muß internationale Öffentlichkeit vorhanden sein.
Als zweites sollten wir mindestens in jeden der 115 Landkreise internationale Beobachter schicken; denn eine erhöhte ausländische Präsenz kann dazu beitragen, Übergriffe zu verhindern.
Wir müssen drittens Hilfe geben beim Aufbau des Justizwesens und der Ermittlungsbehörden, damit die Verantwortlichen für Gewalttaten zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden können.
Wir müssen viertens einen nationalen Dialog fördern, der geführt und organisiert wird von Moderatoren, die von allen Konfliktparteien anerkannt sind.
Wir müssen fünftens die Schaffung eines ,.Friedensrundfunks" unterstützen, damit den Hetzparolen der Extremisten wirkungsvoll entgegengetreten werden kann.
Des weiteren muß die Koordination aller Friedensbemühungen in der EU verbessert werden. Die EU muß mit einer Stimme sprechen und auch geschlossen handeln. In Burundi hat man uns gesagt, daß EU-Mitglieder ihr eigenes Interesse verfolgen, und man hat damit vor allem Frankreich gemeint.
Mutige Männer und Frauen, allen voran unsere Kolleginnen und Kollegen im burundischen Parlament, wehren sich trotz aller Todesdrohungen gegen die völlige Machtübernahme durch die Putschisten und ihre Armee. Dafür bezeugen wir ihnen unseren Respekt und sagen ihnen unsere Unterstützung zu.
Vielen Dank.
Es spricht jetzt die Kollegin Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die beiden interfraktionellen Entschließungsanträge zur Situation in Burundi und Ruanda werden hier heute abend zur Abstimmung gestellt in Vorbereitung auf die Reise von Außenminister Kinkel in diese beiden geschundenen Länder im Herzen Afrikas. Die Bundesrepublik Deutschland kann und darf in der Tat nicht wegsehen, wo systematisch Menschenrechte verletzt werden. Deswegen, denke ich, ist es wichtig, daß wir der
Bundesregierung diese Kataloge auch von sehr praktischen Maßnahmen zur Vorbereitung dieser Reise mit auf den Weg geben, damit die Reise einen Sinn macht.
Morden und Unterdrücken dürfen nicht im dunkeln bleiben. Die Fernsehkameras sind abgeschaltet, der Kitzel des ganz Brutalen ist vorbei. Das darf nicht so bleiben. Gerade weil die Bundesrepublik Deutschland in diesen Ländern einen guten Ruf genießt, muß sie sich politisch und auch materiell engagieren.
Ich denke, daß die Europäische Union in diesen Ländern in den letzten Jahren zu zurückhaltend gewesen ist. Sie hätte dort eine andere, eine bessere Rolle spielen können.
Das hat aber auch etwas damit zu tun, daß zwei Mitglieder der Europäischen Union dort eine eigene Vergangenheit haben.
Es wäre wichtig, wenn auch die Europäische Union die Entwicklungshilfe für Ruanda wieder aufnehmen würde. Es ist wichtig, sie im Falle von Burundi weiterzuführen. Es wird dort nichts verbessert, wenn keine Hilfe geleistet wird.
Es ist aber, gerade für Burundi, genauso wichtig, daß alle Mittel eingesetzt werden, um im Land deeskalierend zu wirken. Was würde besser deeskalierend wirken als die Anwesenheit von Ausländern, die den Mördern auf die Finger schauen?
Deswegen müssen wir weiter militärische und zivile Beobachter in Burundi haben. Wir müssen auch eigene Menschenrechtsbeobachter dorthin entsenden. Ich sage dies ausdrücklich als eine Bitte an die Bundesregierung, dies möglichst vorzubereiten.
Damit der innere Frieden überhaupt wachsen kann, ist es genauso wichtig, Vertrauen zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen entstehen zu lassen. Das wiederum kann nur möglich werden, wenn ein Dialog zwischen den ethnischen Gruppen in Gang gesetzt wird. Deswegen ist es wichtig, daß das Menschenrechtszentrum in Bujumbura zu einem solchen Dialogzentrum ausgebaut und funktionsfähig gestaltet wird.
Wichtig ist es auch, daß der einzelne Vertrauen in rechtsstaatliche Formen und in seine Verwaltung haben kann. Nur eine funktionsfähige Verwaltung, die Möglichkeit, als einzelner sein Recht auch tatsächlich zu bekommen, können die Voraussetzung dafür bilden, daß langsam Frieden wachsen kann.
All denjenigen, die eventuell Zweifel haben, ob in diesen Ländern demokratische Formen möglich sind, sei gesagt, daß die hoffnungsvollsten Zeiten in Bujumbura diejenigen waren, als es in der Tat demokratische Grundbedingungen gab.
Dr. Irmgard Schwaetzer
Die Bilder, die vor einem Jahr aus Ruanda zu uns gekommen sind, werden wir sicherlich nicht vergessen: die archaische Gewalt, mit der Kinder einerseits abgeschlachtet wurden, Kinder aber andererseits auch gemordet haben. Es ist fast unbegreiflich, daß die unhaltbaren Zustände in den Gefängnissen von Ruanda nach wie vor existieren und daß es das internationale Tribunal nach wie vor nicht gibt. Hier ist die Bundesregierung gefordert, mit aller Kraft, die sie hat, darauf zu dringen, daß die Grundbedingung dafür geschaffen wird, daß diejenigen, die unterdrückt sind und an denen Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind, überhaupt Hoffnung auf eine eigene Zukunft schöpfen können.
Darüber hinaus ist gerade für Ruanda der Verwaltungsaufbau, aber auch die Entsendung von Richtern, um die Schuldigen in den Gefängnissen aburteilen zu können, von ungeheurer Wichtigkeit. Zu reden ist mit der Regierung in Kigali auch über die Flüchtlinge, die Flüchtlingslager, die Rückführung der Flüchtlinge, die Klärung der Eigentumsfragen. Kollege Waldburg-Zeil hat eben darauf hingewiesen, welche schwierigen Probleme dadurch, daß die Altflüchtlinge zuerst zurückgekommen sind und ihren alten Besitz wieder für sich reklamiert haben, dort entstanden sind. Hier sind dringend Klärungen herbeizuführen, damit die Rückführung der Flüchtlinge nicht zu neuen Konflikten mit Gewalt führt.
Gerade die Flüchtlingsprobleme in Ruanda werden sich aber nur durch einen regionalen Dialog lösen lassen. Es ist damit zu rechnen, daß nicht alle Flüchtlinge ins Land zurückkehren. Um so wichtiger ist es, daß auch für diejenigen, die nicht zurückkehren wollen, in den Ländern um Ruanda und Burundi sichere Zufluchtsorte geschaffen werden.
Frieden ist nur möglich, wenn sich Vertrauen bildet. Deswegen müssen unsere Maßnahmen darauf zielen, dieses Vertrauen wachsen zu lassen. Wir können es nicht von außen implantieren, aber wir sind gefordert, Hilfestellung zu leisten, damit die Menschen die Kraft finden, diesen Frieden zu gestalten.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Tippach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich völlig unmöglich, in drei Minuten detailliert auf eine sehr komplexe Situation in zwei Ländern einzugehen. Ich beschränke mich auf einige globale Punkte, die ich für wichtig halte. Vorab möchte ich sagen, daß ich es für etwas bedauerlich halte, daß bei der Abstimmung zu einem interfraktionellen Antrag die
Gruppe der PDS außen vor geblieben ist. Das halte ich für nicht besonders hilfreich.
- Ich bin da.
Neben der grundsätzlich begrüßenswerten Absicht, den Konflikt in Burundi nicht zur totalen Katastrophe werden zu lassen, die Situation in Ruanda im Sinne einer friedlichen Entwicklung zu befördern und die dort nach wie vor instabile Situation zu stabilisieren, enthalten die vorliegenden Anträge der vier Fraktionen zahlreiche Vorschläge und Initiativen, die wir in diesem Kontext mittragen können. Das betrifft insbesondere die Absicht zur Unterstützung des Menschenrechtszentrums in Burundi, die Stärkung von basisorientierten politischen Prozessen, inklusive der besonderen Förderung und Berücksichtigung der Beteiligung von Frauen daran, den Willen zur Beteiligung bei der Aufarbeitung des Völkermordes in Ruanda und die Forderung danach, gerade auch angesichts der nach wie vor unhaltbaren Zustände in den dortigen Gefängnissen und der fehlenden Aktivitäten des internationalen Tribunals, sowie vor allem auch die Intensivierung von Kontakten zur Vermittlung.
Andererseits wird die starke Position Deutschlands in beiden Ländern in den Formulierungen dieses Antrages zum Teil als Legitimation gebraucht, um Forderungen aufzustellen, die ich zumindest für problematisch halte. Darunter fallen u. a. der Wunsch nach Entsendung von Richtern und Polizisten, gewünschte Eingriffe in Armeeumstrukturierungen oder auch die eventuelle Entsendung eines Moderators nach Ruanda. Angesichts der historischen Vergangenheit Deutschlands in der Region, die durch die Ausnutzung und Vertiefung der sozialen Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi
die heutige Situation zu einem erheblichen Teil mitverantwortet,
ist ein Höchstmaß an Sensibilität für regionale gesellschaftspolitische Traditionen erforderlich. Ich halte das für unerläßlich. Das schließt auch die Vermeidung von neokolonialistischen Ansätzen ein.
Des weiteren finde ich die Erkenntnis der Kollegen, die im April die beiden Länder besucht haben, daß nämlich die Ursache der Krisen dort die zunehmende Armut ist, nur sehr unzureichend in den Anträgen berücksichtigt.
Wenn die einzige Möglichkeit zu einer nachhaltigen Krisenbewältigung die Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation ist, bedarf es auch einer entsprechenden Bereitschaft zu einem finanziellen Engagement. Dies vermisse ich in weiten Teilen dieser Anträge.
Steffen Tippach
Trotz der geäußerten Bedenken und gerade auf Grund der Dringlichkeit und der Verantwortung für noch mögliches präventives Handeln werde ich diesen Anträgen zustimmen.
Danke.
Danke schön. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Werner Schuster.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem doppelten Dank beginnen: Der erste Dank gilt all denjenigen - auch im Auswärtigen Amt -, die uns sehr unkonventionell vor Ostern diese Reise ermöglicht haben. Ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei meinem Kollegen Pinger. Es war alles ungewöhnlich. Frau Präsidentin, diese Reise hat gegen ein großes Vorurteil in den Medien bewiesen, daß Abgeordnetenreisen sinnvoll sind.
Wir sind auch deshalb sehr dankbar aufgenommen worden, weil wir als Abgeordnete gerade jetzt vor Ort erschienen sind.
Der zweite Dank geht an Sie alle. Ich persönlich habe nicht mehr geglaubt, daß wir es wirklich schaffen würden, einen in der Substanz so tragfähigen Konsens zu finden. Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Beteiligten.
Zu den konkreten Vorschlägen hinsichtlich Ruanda und Burundi haben meine Vorredner bereits Ausführungen gemacht. Ich beschränke mich deshalb auf einige generelle Aspekte - oder besser: ein paar hilflose Fragen - aus dem Blickwinkel eines Entwicklungspolitikers.
Sie erinnern sich, daß vor zwei Jahren Herr Dr. Ruck, Herr Andreas Schmidt und ich in Ruanda und Burundi waren. Wir kamen wieder mit dem Vorschlag, nach dem Friedensschluß in Arusha UN-Polizei für ein paar Jahre als Puffer dorthin zu schicken. Die Kosten hätten sich auf etwa 50 Millionen DM belaufen. Damals hatten wir das Geld nicht. Herr Staatsminister, inzwischen haben wir das Sechsfache bezahlt, nämlich 320 Millionen DM. Viele unserer Freunde sind ermordet worden. Warum tun wir uns als Gesellschaft eigentlich so schwer mit der Vorbeugung?
Warum denken wir bei jeder Konfliktlösung erst einmal an Militärinterventionen als Prima ratio und nicht als Ultima ratio? Auch jetzt finden Sie in unseren Anträgen eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die alle deutlich unterhalb der friedenserzwingenden Maßnahmen gemäß Chapter VII der UN-Charta liegen. Sie, Herr Staatsminister, haben zu meiner großen Überraschung am 15. März 1995 im Auswärtigen Ausschuß eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die weitgehend deckungsgleich sind. Warum ist noch so wenig passiert?
Warum, Herr Staatsminister, verschließen wir die Augen vor der Wahrheit? Es ist unübersehbar gewesen, daß nach wie vor Munition und Waffen nach Ruanda und Burundi geliefert worden sind. Europäische Staaten haben hierüber zumindest schützend ihre Hand gehalten. Müssen wir erst lernen, daß menschliches Zusammenleben nur funktioniert, wenn wir wahrhaftig sind?
Herr Tappe hat darauf hingewiesen, daß sich das Problem ohne regionale Kooperation nicht lösen lassen wird. Sind wir eigentlich als Entwicklungspolitiker bereit, diese regionale Zusammenarbeit auch wirklich zu honorieren?
Wir alle wissen von der Brisanz in den Flüchtlingslagern in Ruanda und Zaire. Wir haben aber die Unterstützung reduziert.
Dort leben Menschen zur Zeit häufig nur noch von 150 Gramm Nahrungsmitteln pro Tag. Die Konsequenzen können wir uns vorstellen.
Unsere gesamten entwicklungspolitischen Maßnahmen und Mittel werden in letzter Zeit überwiegend für Schadensreparaturen kurzfristiger Art ausgegeben anstatt für langfristige Ursachenbekämpfung und Förderung der Zivilgesellschaft sowie der Demokratisierung.
Dies sind alles Fragen, die wir in der Sache entscheiden müssen. Dies heute zu beschließen reicht noch nicht. Es muß auch eine Umsetzung erfolgen.
Wenn Sie mich nach den Perspektiven dieser beiden Länder fragen, muß ich sagen: Zur Zeit erscheint die Situation hoffnungslos. Auf die Gefahr, daß wir in Burundi das gleiche Drama erleben werden wie in Ruanda, ist hingewiesen worden. Ich selber habe zitiert: Ich kam mir vor wie Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt. - Archaische Strukturen!
Trotzdem, meine Damen und Herren: Wer von uns erinnert sich eigentlich noch an Südafrika nach dem Soweto-Desaster 1976? Keiner von uns hätte damals einen Pfennig für Südafrika ausgegeben. Plötzlich hat sich Europa zusammengetan und schrittweise Embargos durchgesetzt: ein Waffenembargo, ein Ölembargo, einen Wirtschaftsboykott. Heute stehen wir staunend da und sehen, was aus Südafrika geworden ist, weil Europa gemeinsam gewollt hat.
Mein Traum ist - ich hoffe, es ist auch Ihr Traum -, daß Herr Kinkel und Herr Spranger gemeinsam diese Anregung interfraktioneller Art aufgreifen, Hand in
Dr. R. Werner Schuster
Hand nach Brüssel gehen, dort mit ihren jeweiligen Kollegen, den Vertretern der 15 Länder und den zuständigen EU-Kommissaren reden und eine europäische Initiative starten.
Wir, der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung, sollten uns heute abend versprechen: Wir wollen eine solche, europäische, nichtmilitärische Friedensinitiative - und das mit betroffener Leidenschaft.
Ich bedanke mich.
Herr Staatsminister Schäfer hat seine Rede, Ihr Einverständnis voraussetzend, zu Protokoll gegeben. - Dann schließe ich die Aussprache.*)
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur Sicherung des Friedens und der
*) Anlage 16
demokratischen Entwicklung in Burundi, Drucksache 13/1731. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß dieser Antrag ohne Gegenstimmen einstimmig angenommen worden ist.
Dann kommen wir zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur Sicherung des Friedens und der demokratischen Entwicklung in Ruanda, Drucksache 13/1732. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß auch dieser Antrag einstimmig angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 13, Antirassismusgesetz, wird morgen aufgerufen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 23. Juni, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.