Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15a und b auf:
a) — Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes
-- Drucksache 12/6908 —
— Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die weitere Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Elektrizitätswirtschaft und zur Einführung einer Energiesteuer
— Drucksache 12/6382 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/7448 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Seesing
Volker Jung
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/7449 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Rossmanith Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg)
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Jung (Düsseldorf), Robert Antretter, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sicherung der Zukunft der ostdeutschen Braunkohle zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Jung , Angelika Barbe, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Programm Energiesparen/erneuerbare Energien
zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Jung , Holger Bartsch, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Jetzige Sicherung der langfristigen umweltgerechten Nutzung der heimischen Steinkohle
Drucksachen 12/5251, 12/5252, 12/5253, 12/7448 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Seesing Volker Jung
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dietrich Austermann, Peter Harry Carstensen, Dr. Peter Ramsauer und weiterer Abgeordneter sowie ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von zwei Stunden vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Faltlhauser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute entscheiden wir an dieser Stelle über einen wesentlichen Prüfstein im Wettstreit zwischen Koalition und Opposition, den Prüfstein, das bessere Konzept für den Standort Deutschland zu finden. Wer ist in der Lage, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu verbessern und zu erhalten?Die Energiepolitik ist ein entscheidender Faktor für den Standort Deutschland. Die Opposition hat auf diesem Gebiet nur Verwirrung und Utopie zu bieten. Wehe uns, wenn sich das Konzept der SPD und der Grünen durchsetzen würde! Deutschland könnte sich dann als Industriestandort verabschieden.
Metadaten/Kopzeile:
19546 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dr. Kurt FaltlhauserWir haben uns bei dem heute zu beschließenden Gesetz von den Leitlinien der CDU/CSU-Fraktion vom 25. Mai 1993 tragen lassen, in denen es u. a. heißt: Ein sinnvoller Energiemix, bestehend aus Kohle, Erdöl, Kernenergie, Erdgas und regenerativen Energien, muß auch künftig die Grundlage der deutschen Energieversorgung bleiben.Entscheidend ist zunächst: Wir sagen auch in diesem Gesetz ein klares Ja zur Kernenergie.
Jeder in diesem Land kann nachrechnen, daß nicht nur für unsere Generation, sondern auch für die nächste Generation die Kernenergie unverzichtbar ist. Die erneuerbaren Energien einschließlich der Wasserkraft haben 1992 einen Anteil von insgesamt 1,7 % des Primärenergieverbrauchs ausgemacht und einen Anteil am Stromverbrauch der öffentlichen Versorgung von 4,3 % gehabt.Dabei wurden 90 % dieser erneuerbaren Energien von der Wasserkraft bestritten. Selbst bei massivster Förderung kann der Beitrag der regenerativen Energien zur deutschen Stromversorgung im Verlauf der nächsten zehn Jahre allenfalls auf 8 % gesteigert werden.Sicherlich sind auch noch Einsparpotentiale vorhanden. Sie können aber ebenfalls nur langfristig in entsprechend ausreichendem Maße realisiert werden.Die SPD und die Grünen bleiben die Antwort auf die Frage schuldig, wie sie den Strom aus Kernenergie ersetzen wollen, dessen Anteil 1992 in Gesamtdeutschland 34,2 % betrug, in Baden-Württemberg 56 % und in Bayern 66 %.Wie wollen Sie das machen? Sie haben kein Konzept dafür.
In der „Süddeutschen Zeitung" vom 26. April war zu lesen: Die Ministerpräsidenten Schröder und Simonis und Bürgermeister Voscherau hätten bei einem Treffen in Hamburg vereinbart, gemeinsam aus der Atomenergie auszusteigen. Das ist eine schöne Gemeinsamkeit. Das ist ein gemeinsamer Schritt ins energiepolitische Nichts.Nicht nur die Grünen sind energiepolitisch unzuverlässig, sondern auch die SPD.Wie die SPD in der Praxis die Kernkraft behandelt, läßt sich am Kernkraftwerk Brunsbüttel, im Einzugsbereich von Frau Simonis, zeigen. Dieses Kernkraftwerk ist seit dem 25. August 1992 stillgelegt. Ein Mitglied der Mitarbeiterinitiative des Kernkraftwerks Brunsbüttel, die den treffenden Namen „Jetzt reicht's" hat, führte dazu bei einer Anhörung in unserem Fraktionssaal am 13. April 1994 aus:Um technische Fragen geht es schon längst nicht mehr im Streit um das Reparaturkonzept des Kraftwerks Brunsbüttel. Der wahre Grund ist der politisch gewollte Ausstieg der SPD aus der Kernenergie ... Wir, die Mitarbeiter der Kraftwerke und der HEW mit ihren Betriebsräten, waren 1993 nicht länger bereit, diese Behördenwillkür hinzunehmen. Wir haben uns daher im Oktober 1993 zu einer Mitarbeiterinitiative zusammengeschlossen, um gegen die SPD-Ideologen und für unsere Arbeitsplätze zu kämpfen ... Wir wollen keine Politiker, denen ihre persönliche Ideologie über alles geht. Wir wollen arbeiten.
Der Mann hat vermutlich kein CDU-Parteibuch, kein CSU-Parteibuch oder ein sonstiges Parteibuch in der Tasche, aber er sagt hier mit Sicherheit die Wahrheit. Die Verschleppungstaktik in Brunsbüttel kostet pro Monat 25 Millionen DM. Wie wollen Sie den Leuten denn eine derartige Verschwendung und Kapitalvernichtung erklären?
Was wollen die drei SPD-Regierungschefs? Statt der Stillegung eines Kernkraftwerks will man ein Kohlekraftwerk, meine Damen und Herren, aber ein Kohlekraftwerk, das nicht mit deutscher Steinkohle, meine Damen und Herrn von Nordrhein-Westfalen, befeuert wird, sondern natürlich mit Importkohle.
Mit welch schäbigen Fälschermethoden Umweltminister Fischer — —
— Aber, Herr Struck, ich erzähle hier ja doch nichts über die SPD. Seien Sie doch nicht so erschrocken! Ich wiederhole: Mit welch schäbigen Fälschermethoden Umweltminister Fischer in Hessen den sogenannten ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug praktiziert, zeigt sich am Beispiel Biblis.Im Oktober 1983 wurde das Öko-Institut als Gutachter in Biblis eingesetzt. Zwei Gutachter dieses Instituts haben damals ausdrücklich erklärt, daß sie selber keine Experten in Sachen Brandschutz seien. Trotzdem wurden sie vom hessischen Umweltminister beauftragt, im Block B eine Brandschutzschau durchzuführen; so auch im Februar 1994.Obwohl sie bei ihrer Begehung am Vormittag festgestellt haben, daß hier zwar Details verbesserungswürdig sind, aber keineswegs eine akute Gefährung für Personal und Bevölkerung erkennbar ist, wurde diese Feststellung am Nachmittag, als der Vertreter des Auftraggebers, also von Herrn Fischer, anwesend war, um 180 Grad gedreht. Als die Betriebsräte hinterher fragten, was jetzt eigentlich los sei, sagten die Herren, die namentlich zu benennen sind — selbiges gilt für Ort und Zeit —: Wenn mein Auftraggeber zu erkennen gibt, daß er mit meiner Aussage nicht zufrieden ist, dann muß ich darauf reagieren.So fälscht die rot-grüne Regierung in Hessen, gezeigt am Beispiel von Biblis.
So wird da in der administrativen Handhabunggetrickst. Das lassen sich die deutschen Steuerzahler
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19547
Dr. Kurt Faltlhauserund auch die Betriebsräte vor Ort nicht mehr gefallen.
Meine Damen und Herren, wir geben auch der Kohle künftig eine faire Chance.
Es gibt viele gute Gründe, die Subventionen für die deutsche Steinkohle durch den Bund mittelfristig, d. h. ab dem nächsten Jahrhundert, weiter zurückzuführen.
In diesem Jahr werden unter Einschluß der Knappschaft etwa 25 Milliarden DM an Subventionen insgesamt für den Kohlebereich bezahlt. Das ist auf weitere Jahrzehnte hinaus mit Sicherheit nicht zu halten. Aber die Kohle bekommt in diesem Gesetz eine faire Chance.Erstens. Für die Zeit bis 2 000 bleibt es bei der Zusage des Bundeskanzlers — trotz des Widerstands der revierfernen Länder —, ein Subventionsvolumen von 7,5 Milliarden bzw. 7 Milliarden DM pro Jahr bereitzustellen. Eine Umstellung auf Geld — auf 7 Milliarden DM und nicht Mengen — ist ein ordnungspolitisch wesentlicher Schritt, weil dadurch mehr Chancen für Umstrukturierungsmaßnahmen bestehen.Durch diese Garantie bleibt dem Steinkohlebergbau Zeit für Anpassungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen. Dieses Gesetz gibt auch eine gesicherte Kalkulationsbasis dadurch, daß die weiteren Degressionsschritte ab 2001 bereits im selben Gesetz festgeschrieben werden müssen, in dem die Finanzierungsmethode für die Jahre 1997 und später festgelegt wird. Es ist, wie wir meinen, ein heilsamer Zwang, daß man plant und auch entsprechende Rückführungen vornimmt.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird auch die Frage des Kohlepfennigs im Jahr 1996 in den neuen Bundesländern entschieden. Unser Ziel war: In den neuen Bundesländern darf durch den Kohlepfennig das durchschnittliche Preisniveau nicht über das in den alten Bundesländern steigen. Es wäre widersinnig, wenn wir hier zusätzliche Belastungen in den neuen Bundesländern geschaffen hätten. Wir haben, glaube ich, eine vernünftige, eine präzis berechnete Linie gefunden. Kollege Nitsch wird sicherlich noch darauf eingehen.Allerdings muß klar sein: Ab 1997 werden die neuen Bundesländer voll in das neue Finanzierungssystem einzubeziehen sein. Welches Finanzierungsinstrument ab 1997 greifen wird, ist noch offen. Ich habe da meine persönliche Vorstellung. Alle denkbaren Finanzierungen, modifizierter Kohlepfennig, Energiesteuer, Mehrwertsteuer, haben jede für sich große Nachteile und Vorteile.Der schlimmste aller Finanzierungsvorschläge kommt von der SPD in dem Antrag, den Sie am 24. Juni 1993 eingebracht haben: eine Energiesteuer mit einem Aufkommensvolumen von sage und schreibe 20 Milliarden DM. Auf der einen Seiteerhöhen Sie also die direkten Steuern über Ihre Zusatzabgabe für die sogenannten Besserverdienenden; Sie entlasten aber nirgends, sondern belasten auch bei den indirekten Steuern mit 20 Milliarden DM. Und da sagt Frau Matthäus-Maier „Steuerentlastung" . Da kann das Volk doch nur noch lachen.
Es ist unbestreitbar: Mit einer derartigen Steuerpolitik steigert Herr Scharping den Staatsanteil auf 55 %. Er will es nicht wahrhaben, aber es ist die Wahrheit.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Gesetzentwurf auch die erneuerbaren Energien weiter fördern, etwa durch die Herausnahme der Anlagen bis zu 5 Megawatt aus dem Kohlepfennig und weitere Maßnahmen, auf die ich aus Zeitgründen jetzt nicht eingehen kann.Ich will auf den entscheidenden Punkt in dieser Debatte hinweisen.
Die Union hat ein geschlossenes und umfassendes Energiekonzept, ohne Illusionen, mit klaren Vorgaben, die in diesem Gesetzentwurf ihren Niederschlag finden. Dem steht eine SPD entgegen, die aus der Kernenergie heraus will, die gemeinsame Sache mit den energiepolitischen Verrücktheiten der GRÜNEN machen will. Dadurch würden Arbeitsplätze vernichtet, dadurch würde der Standort Bundesrepublik Deutschland geschädigt, dadurch würde die Energiepolitik langfristig mit Sicherheit nicht auf eine klare Linie geführt. Der Gesetzentwurf, der heute vorliegt, gibt allen Bürgern, die auf eine sichere Energieversorgung angewiesen sind, eine klare Vorstellung, wie es bis ins nächste Jahrhundert hinein weitergeht. Dieser Gesetzentwurf sollte deshalb auch Ihre Zustimmung finden.
Der Abgeordnete Volker Jung hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Faltlhauser, wir entscheiden heute nicht über den Standort Deutschland, sondern wir entscheiden darüber, wie wir den Energiebereich im Standort Deutschland ausgestalten, nämlich ob — was wir anstreben — wir der heimischen Steinkohle noch eine Zukunft geben wollen, oder ob Sie daraus einen Auslaufbergbau machen. Das steht im Zentrum der heutigen Entscheidung.
Mit dem vorgelegten Artikelgesetz, das Sie schon am Ende der Konsensgespräche angekündigt haben, wollten Sie uns offensichtlich in die Hürden treiben. Sie haben versucht, uns zu spalten, um auf parlamentarischem Wege nachzuholen, was Sie in den Konsensgesprächen nicht erreicht haben. Ich habe Ihnen
Metadaten/Kopzeile:
19548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Volker Jung
dazu mehrmals gesagt: Diese Strategie wird nicht aufgehen; damit vergiften Sie nur die Atmosphäre für eine Fortsetzung der Konsensgespräche. Was Sie mit dieser Strategie allerdings tatsächlich erreicht haben, ist, daß Sie jetzt aller Welt vor Augen geführt haben, daß Sie in der Energiepolitik selber tief gespalten sind und kein vernünftiges Konzept auf den Weg bringen.
Sie setzen die Zukunft der heimischen Steinkohle aufs Spiel. Einige von Ihnen drängen sogar darauf, ihr Ende schon heute einzuläuten. Auf jeden Fall werden Sie die in der Kohlerunde von 1991 eingegangene Verpflichtung, für das vereinbarte Mengengerüst eine tragfähige Finanzierungsregelung vorzulegen, nicht erfüllen.
Das haben wir als Wortbruch bezeichnet, und davon ist nichts zurückzunehmen.
Bei der Kernenergie ist die Irritation aufgetreten, ob Sie dem Wunsch der Elektrizitätswirtschaft entsprechen werden, eine langfristige Zwischenlagerung von abgebrannten Brennelementen als Entsorgungsnachweis anzuerkennen. Diese Irritation haben Sie in letzter Minute ausgeräumt. Aber Ihrem erklärten Ziel, die Zukunft der Kernenergie zu sichern, sind Sie keinen Schritt näher gekommen; denn ohne einen breiten energiepolitischen Konsens, der von allen relevanten politischen und gesellschaftlichen Kräften getragen wird, wird sich in diesem Land kein einziger Investor mehr finden, der ein neues Kernkraftwerk baut.
Die ökologisch längst überfällige Umstrukturierung der Energieversorgung haben Sie erst gar nicht in Angriff genommen. Am Anfang der Legislaturperiode haben Sie ein Konzept zum Energiesparen verabredet, das bis heute aber nicht vorliegt. Unseren Antrag, ein großdimensioniertes Programm zur Energieeinsparung und zur Förderung erneuerbarer Energiequellen aufzulegen, haben Sie ohne weitere Begründung abgelehnt. Sie werden jetzt die vergleichsweise unbedeutenden Holzabfälle in das Stromeinspeisungsgesetz einbeziehen, lehnen aber die Einbeziehung von Anlagen der Kraft-WärmeKopplung und der Abwärmenutzung, die einen echten ökologischen Erfolg bringen würden, in die Förderung ab.
Sie hatten sich am Anfang der Legislaturperiode zum Ziel gesetzt, die CO2-Belastung bis zum Jahre 2005 um 25 bis 30 % zu reduzieren. Aber auch da gibt es nur eine Fehlanzeige; denn die bisherige Reduzierung ist im Grunde nur auf den wirtschaftlichen Niedergang im Osten zurückzuführen. Das wird man nicht auf die Habenseite der Klimaschutzpolitik schreiben können. Im Westen sind die Belastungen im wesentlichen nicht reduziert worden.
Sie haben sich für eine kombinierte CO2-EnergieSteuer in Europa ausgesprochen. Darum, Herr Faltlhauser, verstehe ich Ihre Polemik in der Frage der Energiesteuer überhaupt nicht. Sie haben doch dieses Projekt betrieben. Sie wissen aber heute, daß diese Steuer am Widerstand der anderen Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft scheitern wird, daß sie in absehbarer Zeit nicht kommen wird. Statt dessen polemisieren Sie jetzt gegen eine ökologische Steuerreform, die wir mit unserem Regierungsprogramm anstreben.
Sie wollten das Energiewirtschaftsgesetz zügig novellieren, aber Wirtschaftsminister Rexrodt wurde bei seinem verspäteten Versuch, eine Novelle vorzulegen, auch von der eigenen Partei wieder zurückgepfiffen. Das ist eine konzeptionslose Flickschusterei in der Energiepolitik.So ist auch das Artikelgesetz einzuschätzen.
Der Bergbau und die Stromwirtschaft können damit nur noch bis zum Jahre 1996 planen, bis zu dem der Kohlepfennig fortgesetzt werden soll. Bis heute haben Sie sich aber nicht darauf verständigen können, wie der Finanzplafond von 7 Milliarden DM für die Jahre 1997 bis 2000 gegenfinanziert werden soll. Festgelegt haben Sie sich nur darauf, daß die Finanzmittel ab dem Jahre 2001 weiter zurückgeführt werden sollen, gleichgültig, ob dies das Ende des heimischen Steinkohlebergbaus bedeutet oder nicht.
Daß in dieser Situation kein Elektrizitätsunternehmen einen längerfristigen Bezugsvertrag mit dem Bergbau mehr abschließt, das wissen Sie so gut wie wir. Darum können wir darin nur Methode sehen.
Vor allem, meine Damen und Herren, gibt es keine sachlich begründete Notwendigkeit, die zeitlich äußerst drängende Frage der Kohlefinanzierung mit den offenen Fragen der Kernenergienutzung zu verbinden. Die vorgesehenen Änderungen des Atomgesetzes machen das zugegebenermaßen bescheidene Zwischenergebnis, das wir in den Konsensgesprächen erreicht hatten, im Grunde zunichte. Sie haben ja ohnehin nur das aufgenommen, was Ihnen in Ihre Politik paßt. In diesem Zusammenhang von einer Weiterentwicklung der Konsensergebnisse zu sprechen ist eine reine Irreführung der Öffentlichkeit. Wir hatten nämlich schon sehr konkret darüber gesprochen, meine Damen und Herren, die am Netz befindliche Generation von Kernkraftwerken nur noch zeitlich befristet zuzulassen. Von dieser zeitlichen Befristung ist in dem Artikelgesetz keine Rede. Im Gegenteil: Sie wollen mit neuen weder quantitativ noch qualitativ ausreichend konkreten Sicherheitskriterien gerade die unbefristete Nutzung der Kernenergie festschreiben.Wir haben in den Konsensgesprächen — das ist ja bekannt — auch über die Frage einer katastrophenfreien Reaktortechnik gesprochen. Die Experten sind sich aber bis heute völlig uneinig darüber, ob ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19549
Volker Jung
solcher katastrophenfreier Reaktor technisch überhaupt machbar ist und ob er, wenn das der Fall sein sollte, wirtschaftlich betrieben werden kann. Es ist deutlich geworden, daß erheblich mehr Zeit gebraucht wird, um die Machbarkeit, die Kriterien und vor allem die Kosten solcher Konzepte zu klären.Einig waren sich die Experten allerdings darin, daß wir zur Klärung dieser Frage noch einige Jahre Zeit haben. Deswegen kann ich es überhaupt nicht verstehen, daß Sie mit Ihrem Gesetzesvorschlag heute diesen Diskussionsprozeß einseitig abbrechen wollen. Statt vorschnelle gesetzliche Regelungen durchzusetzen, sollten Sie vielmehr Bereitschaft zeigen, die offenen Fragen weiter zu diskutieren.Die kürzliche Anhörung im Umweltausschuß hat u. a. ergeben, daß Ihr Gesetzesvorschlag viel zu unbestimmt ist, um Rechtssicherheit zu bieten, und über eine Leitlinie konkretisiert werden müßte. Sie haben daraus in letzter Minute die Konsequenz gezogen, die Kompetenz dafür dem Bundesumweltminister zu übertragen. Aber das ist für uns unannehmbar. Damit wird nämlich das Parlament in einer zentralen Frage der Energiepolitik und der Sicherheitstechnik ausgeschlossen.
Wir können es nur bedauern, daß Sie sich nicht auf unseren Vorschlag eingelassen haben, die direkte Endlagerung als einzigen Entsorgungsweg vorzuschreiben. Die Verwirklichung unseres Vorschlages ist nämlich nicht nur kostengünstiger — das räumt inzwischen auch die Elektrizitätswirtschaft ein —, sondern das würde vor allem die Plutoniumnutzung überflüssig machen.Meine Damen und Herren, wir haben mit unserem Gesetzentwurf zur Finanzierung der Steinkohleverstromung und zur Einführung einer allgemeinen Energiesteuer den Weg gezeigt, wie eine umweltgerechte Kohlenutzung mit einer ökologischen Reform der Energieversorgung verbunden werden kann. Wir wollen die öffentlichen Zuschüsse für die Verstromung von 35 Millionen t ab 1996 direkt an die Bergbauunternehmen zahlen, damit diese den Elektrizitätsversorgungsunternehmen heimische Steinkohle zu Weltmarktpreisen anbieten können.Zur Finanzierung wollen wir im Vorgriff auf eine europäische Lösung eine allgemeine Energiesteuer auf alle Energieträger außer auf erneuerbare Energiequellen einführen. Mit dem Aufkommen wollen wir die Vereinbarung aus der Kohlerunde von 1991 einlösen, aber auch eine langfristige Perspektive für die ostdeutsche Braunkohle sichern, die Sanierung der ökologischen Altlasten finanzieren sowie ein Programm zur Energieeinsparung und zur Förderung erneuerbarer Energien auflegen.Wir wissen doch alle, daß die notwendige und schon lange überfällige ökologische Wende in unserer Energiepolitik nicht zum Nulltarif zu haben ist. Aber daraus haben Sie keine Konsequenzen gezogen. Darum werden Ihre hochgesteckten energie- und umweltpolitischen Ziele auch scheitern.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, nach dem Abbruch der Konsensgespräche haben die meisten Beteiligten ihre Bereitschaft erklärt, diese Gespräche wieder aufzunehmen. Heute kann ich nur feststellen: Das vorliegende Artikelgesetz erschwert einen Neuanfang ganz wesentlich. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen werden.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich muß sagen, daß ich heute leider die Aufgabe habe, zu diesem Tagesordnungspunkt zu sprechen — „leider" nicht wegen des Themas, sondern wegen der Tatsache, daß der energiepolilitische Sprecher der F.D.P.-Bundestagsfraktion, unser Freund Klaus Beckmann, schwer erkrankt im Krankenhaus liegt. Ihm wünsche ich auch von hier aus gute Besserung.
Herr Jung, Sie haben zum Schluß gesagt, daß dieses Artikelgesetz ein weiteres Hindernis sei, eventuell doch — ich sage: wieder — zum energiepolitischen Konsens zu kommen. Ich muß daran erinnern, wie das alles war mit den Sozialdemokraten und wie man den energiepolitischen Konsens haben konnte. Herr Reuschenbach, das ist so lange gar nicht her. Aber das ist alles vergessen, und es werden künstlich Dinge zu Hindernissen erklärt, die unumgänglich gemacht werden müssen.Sie wissen ebenso wie wir ganz genau, daß eine Regelung, wie wir den Verstromungsfonds finanzieren, unausweichlich ist und verabschiedet werden muß. Es geht nur um die Frage des Wie. Deswegen ist dieses Artikelgesetz notwendig. Eine solche Rundherum-Ablehnung, wie Sie sie ausgesprochen haben, ist mit den feierlichen Beschwörungen zur Unterstützung des westdeutschen Steinkohlebergbaus überhaupt nicht in Übereinstimmung zu bringen. Wie wollen Sie das eigentlich jemandem erklären?
Ich komme noch zu dem Thema, wieweit wir das überhaupt noch können. Aber zu sagen: Wir sind die Verteidiger des westdeutschen Steinkohlebergbaus, wir tun was für die Kumpel an der Ruhr, aber das Geld stellen wir nicht zur Verfügung, wir lehnen ab, was die Bundesregierung hier mühsam vorschlägt!, das ist eine ziemlich unehrliche Politik.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz wird ein Etappenziel erreicht. Selbstverständlich sind wir nicht am Ende. Wir können bei Energiepolitik sowieso nie am Ende sein. Es werden Pflöcke für die künftige Steinkohlepolitik und auch für die Kernenergiepolitik gesetzt. Das ist richtig. Es wird erheblich mehr Freiraum für den Einsatz von regenerativen Energien geschaffen. Das ist notwendig und wünschenswert. Den Änderungsantrag allerdings, den wir heute
Metadaten/Kopzeile:
19550 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dr. Otto Graf Lambsdorffbekommen haben — entschuldigen Sie, wenn ich das so sage —, müssen die Befürworter regenerativer Energien zu einem Zeitpunkt unterschrieben haben, — — Ich überlege gerade, wie ich eine Formulierung finde, die mir keinen Ordnungsruf einbringt.
Denn sehen Sie sich das Ergebnis an, meine Damen und Herren: Die EVUs kriegen 200 bis 300 Millionen DM mehr pro Jahr. Die Einnahmen des Verstromungsfonds werden verringert, d. h. wir sitzen weiter mit einem höheren Defizit da. Die Erzeuger regenerativer Energien haben so gut wie nichts davon. Was ein solcher Antrag soll, bleibt mir ein Rätsel. Ich hoffe, er verschwindet noch im Laufe dieser Debatte.Selbstverständlich ist das Ergebnis, über das wir hier diskutieren, ein Kompromiß, nicht mehr und nicht weniger. Der vorliegende Gesetzentwurf schließt mögliche wirtschaftliche Nachteile für die neuen Bundesländer aus. Das ist wichtig. Er macht den Versuch, einen vernünftigen und ausgewogenen Energiemix zu sichern. Ich brauche Ihnen die Einzelheiten nicht aufzuzählen. Sie sind denjenigen, die sich damit beschäftigt haben, bekannt. Wir haben einen Finanzplafonds von 7,5 Milliarden DM pro Jahr bis zum Jahre 1996 — das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen — und für die Jahre 1997 bis 2000 jeweils 7 Milliarden DM für die Sicherung der Verstromung westdeutscher Steinkohle.Ich möchte wissen, wie sich jemand hier hinstellen und sagen kann, das sei das Aus für den westdeutschen Steinkohlebergbau. Sie müssen einmal in der Lausitz und in Sachsen den Arbeitnehmern im Braunkohletagebergbau erzählen, daß 7 Milliarden DM Unterstützung pro Jahr in Westdeutschland das Aus für den Steinkohlebergbau bedeuten sollen. Die hätten gerne einen Bruchteil davon.
Wir sichern die Finanzierung für die Jahre 1995 und 1996 über den Kohlepfennig. Wir haben dabei einen Weg gefunden, mit dem die neuen Bundesländer nicht zur Finanzierung der alten westdeutschen Lasten herangezogen werden. Das wäre wahrhaftig nicht zumutbar gewesen. Wir machen eine maßgebliche Steigerung des Anteils der regenerativen Energieträger im Energiemix durch eine Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes fest.Nun können Sie über Holz und Biomasse reden und sich lustig machen, wie Sie wollen, Herr Jung. Auch ich bin nicht überzeugt, daß darin das Heil der Energieversorgung liegt. Aber einerseits durchs Land ziehen und sagen, wir wollen die regenerativen Energien einsetzen, und zum anderen das hier veralbern macht auch wenig Slim. Das paßt irgendwo nicht zusammen.
Wir haben einen Vorschlag aufgegriffen, den die Sozialdemokraten vor Jahren mit uns gemeinsam diskutiert und gemacht haben, nämlich die Zulassungder direkten Endlagerung, also den parallelen Entsorgungsansatz. Jetzt schreiben wir es ins Gesetz hinein. Heute scheint es nicht mehr recht zu sein.Ich will allerdings hinzufügen, meine Damen und Herren, und völlig unmißverständlich sagen: Einmal hat uns die deutsche Industrie bei Wackersdorf schon auf den Pott gesetzt. Wenn ich jetzt von einem maßgeblichen Vertreter der deutschen Versorgungswirtschaft wieder Zweifel höre, ob Gorleben weiterbetrieben werden soll, dann kann ich den Damen und Herren dieses Industriebereichs nur sagen: Mit uns so nicht. Entweder wird es zusammen gemacht, oder es geht eben gar nichts.
Dann heißt es: „Für künftige Kernkraftwerke wird ein zusätzliches Sicherheitsziel als weitere Risikovorsorge installiert. "
Graf Lambsdorff, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage, die beantwortet werden soll.
Bitte schön.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Graf Lambsdorff, können Sie dem Hohen Haus erklären, warum Sie nicht bereit sind, bei der Kraft-Wärme-Kopplung Unterstützung zu geben? Sie wissen ganz genau, daß dies ein entscheidender Punkt der Energieproduktivität wäre.
Nein, ich glaube nicht, daß das ein entscheidender Punkt der Energieproduktivität ist.
— Ich habe Ihnen gesagt, daß das für mich wahrlich nicht der Stein der Weisen und der Schlüssel zur Lösung des Problems ist.Aber Sie glauben, auf dem Gebiet der regenerativen Energien eine Patentantwort zu finden; und Sie glauben nicht, daß sich das aus sehr vielen kleinen Mosaiksteinen zusammensetzt, bei denen sich dann zeigen wird, daß der eine wichtiger und der zweite hilfreicher als der dritte ist. Wir werden es dann sehen.Bei der Kraft-Wärme-Kopplung ist das Thema nicht die Produktivität; es entsteht dabei die Frage der Kosten. Die Kosten bei der Kraft-Wärme-Kopplung sind, wie wir wissen, sehr hoch.Meine Damen und Herren, wie man sich gegen zusätzliche Sicherheitsziele bei Kernkraftwerken wenden kann, um die wir uns bemühen, ist mir gänzlich unverständlich vor dem Hintergrund von Kernkraftwerken in Osteuropa, deren Gefahren wir alle sehen und die wir gern beseitigt haben möchten.Das Stichwort „inhärente Sicherheit" ist sehr wohl von Bedeutung, Herr Jung. Hier einfach zu sagen, das sei weder quantitativ noch qualitativ ausreichend,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19551
Dr. Otto Graf Lambsdorffhalte ich zumindest für ein vorschnelles und für ein wahrscheinlich falsches Urteil.So wichtig diese energiepolitischen Maßnahmen sind, die wir heute beschließen, so wenig verändern sie langfristig den energiepolitischen Raum, in dem wir uns in Deutschland bewegen. Sie können allenfalls mittelfristige Perspektiven bieten.Die Konjunkturforschungsinstitute haben in ihrem Frühjahrsgutachten gesagt:... Öffnung der Märkte in großen Bereichen der Wirtschaft, die nicht unmittelbar der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind.Sie haben dann zur Energiewirtschaft weiter gesagt:So ist es nicht hinzunehmen, daß Unternehmen in der Energieversorgung unter Einsatz monopolistischer Gewinne in andere Märkte vordringen, statt die Preise für das Angebot von Energie zu senken.Dazu kann ich nur sagen: Das ist richtig. Ich hoffe, daß auch Sie das richtig finden.Wir wollen den Wettbewerb in allen wirtschaftlichen Bereichen; wir wollen ihn auch im Energiesektor.Die deutsche Volkswirtschaft leistet sich zusätzliche Energiekosten in Höhe von 25 Milliarden DM, die durch einen staatlich verordneten Ordnungsrahmen möglich geworden sind. Da sagen Sie, Herr Jung: Wir reden hier nicht über den Standort Deutschland. — Sie reden über Energiepolitik und tun so, als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Das ist eine merkwürdige Betrachtungsweise.
Demarkations- und Konzessionsverträge sin d die Instrumente einer Abschottungspolitik, die den westdeutschen Energieversorgungsunternehmen ordentliche Vorteile gebracht haben. Aber den Wettbewerb haben sie verhindert, und dem Verbraucher sind sie, wenn er genau hinsieht, eine Last. Das muß irgendwann, und zwar möglichst bald, beendet werden. Deswegen unterstützt die F.D.P. die Absicht des Bundeswirtschaftsministers, ein neues Energiewirtschaftsgesetz und eine Neuregelung des Energiekartellrechts vorzulegen. Das ist ein wichtiges Signal für Deregulierung und für einen effektiven Wettbewerb. Dabei stehen die Reduzierung der staatlichen Aufsicht, der Leitungsbau und die Durchleitung im Vordergrund.Zusätzlicher Wettbewerb auf den Energiemärkten wird durch Druck auf Kosten und Margen den Kunden zugute kommen. Der Stromkostennachteil der deutschen Industrieunternehmen gegenüber den französischen Unternehmen — um nur ein Beispiel zu nennen — beläuft sich auf jährlich rund 12 Milliarden DM. Das hat mit dem Standort, Herr Jung, offensichtlich gar nichts zu tun; das scheint für Investitionen völlig unerheblich zu sein. Das ist eine merkwürdige wirtschaftliche Betrachtungsweise.Die zunehmende Bedeutung eines weltweiten Wettbewerbs und die Herausforderungen des EU-Binnenmarktes erfordern eine Verbesserung dieserStandortbedingungen. Deswegen befürworten wir, das möglichst im Gleichklang mit unseren europäischen Partnern anzustreben.Aber Wettbewerb in der Energiepolitik heißt auch Wettbewerb der verfügbaren Energieträger untereinander. Dafür ist deren Chancengleichheit Voraussetzung. Einseitige Bevorteilung eines Energieträgers führt zu unzulässigen Wettbewerbsverzerrungen. Wir sind heute noch bereit, die Sonderlasten für die deutsche Steinkohle zu tragen. Aber wir wissen doch wohl auch, daß sie eher sozialpolitisch und weniger wirtschaftspolitisch begründet sind und daß bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag so nicht fortgefahren werden kann.
Die Zeiten sind vorbei, wo der Staat ohne Auflagen Milliarden zur Stützung der Steinkohle ausgeben konnte. Noch einmal: Vor dem Hintergrund der hinzutretenden Primärenergiereserve Braunkohle ist die alte Politik so nicht mehr fortführbar, und sie ist auch nicht mehr gerecht.
Wir werden über ein neues Finanzierungsinstrument sprechen müssen. Sicher wissen wir alle, daß die sauberste Lösung wäre, das über den Bundeshaushalt zu finanzieren. Das haben wir schon 1974 oder 1975 gewußt, als wir den Kohlepfennig eingeführt haben und das nicht anders finanzieren konnten. Damals gab es einen sozialdemokratischen Finanzminister, der uns genau dasselbe sagte wie jetzt der Finanzminister Waigel: Die Kasse dafür habe ich nicht; versucht einen anderen Weg zu gehen. — Genauso war es doch.Meine Damen und Herren, Energiepolitik ist immer auch eine internationale Angelegenheit. Aber bei SPD und GRÜNEN ähnelt die energiepolitische Debatte nun wirklich einer Provinzschauveranstaltung. Wenn ich einen Sektor finde, bei dem die Sozialdemokraten sich von früheren Positionen weit entfernt und in Richtung Rot-Grün entwickelt haben, dann ist die Energiepolitik das markanteste Zeichen. Hier kann man Sozialdemokraten und GRÜNE in weiten Bereichen überhaupt nicht mehr unterscheiden.Ein Blick über unsere Grenzen scheint bei Ihnen nicht erlaubt zu sein. Auch Sie, Herr Jung, haben nur so getan, als lebten wir energiepolitisch mit festen Wänden um uns herum und von außen gäbe es keinen Wettbewerb und keine Probleme.Das war ja auch der Grund, warum schließlich die Versuche der Energiekonsensgespräche gescheitert sind. Sie nehmen die zunehmende Bedeutung des weltweiten Wettbewerbs und die Herausforderungen des Binnenmarktes eben nur unzureichend zur Kenntnis.Zwei Dinge stehen dabei im Vordergrund: erstens die Energiesicherung der Weltbevölkerung. Wir sind doch nicht allein auf dieser Welt, obwohl Sie manchmal so tun, wenn man hier zuhört. Diese Energiesicherung ist die Grundlage für die wirtschaftliche Prosperität der Entwicklungsländer, insbesondere in
Metadaten/Kopzeile:
19552 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dr. Otto Graf LambsdorffAsien und Afrika, von der wir letztlich, wenn es funktioniert, auch wieder einen Vorteil haben.
— Zur Kohle werde ich Ihnen gleich etwas sagen. Im Jahre 2005 wird die Weltbevölkerung von heute 6 auf 8 Milliarden Menschen angewachsen sein. China braucht heute bei einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen soviel Energie wie die Vereinigten Staaten bei einer Bevölkerung von 250 Millionen. Wenn man sich einmal vorstellt, der Zivilisationsgrad Chinas würde auf unser Niveau steigen — ich denke gar nicht an das Niveau der Energieverschwendung in den USA —, dann müssen wir feststellen, daß riesige energie- und umweltpolitische Probleme entstünden. Der Hauptenergieträger in China ist die Kohle.Sie erzählen uns hier dauernd etwas davon, wir müßten auf die CO2-Belastung reagieren, und sagen dann im gleichen Atemzug, Kernenergie lehnten Sie ab. Die Diskussion darüber in der SPD wird abgebrochen. Sie ist nicht zwischen Ihnen und uns abgebrochen worden, sondern sie ist in Ihrer eigenen Partei zusammengebrochen, weil Sie sich mit Herrn Schröder nicht einigen konnten.
Wer die drohende Klimaveränderung durch die Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre ernst nimmt — wir tun das —, der muß darauf reagieren, meine Damen und Herren, aber nicht so, wie Sie das tun. Wir haben in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte beim Abbau energiebedingter Umweltbelastungen gemacht,
aber Energieversorgung und Energienutzung bleiben auch weiterhin die Hauptquellen der Belastung von Umwelt und Natur, mehr als alles andere. Hier müssen wir unsere nationale Energiepolitik stärker internationalisieren. Wir müssen auch auf diesem Feld globale Arbeitsteilung anstreben.Der Einsatz der Kernenergie in den entwickelten Staaten ist ein möglicher Weg. Denn sie ist umweltschonend und sicher. Kernenergie, so wie sie in den entwickelten Staaten betrieben wird — einschließlich der Sicherheitsvorkehrungen, über die wir eben gesprochen haben —, berücksichtigt eben auch anspruchsvollste Sicherheitskriterien. Ich persönlich stehe im übrigen auf dem Standpunkt — ich habe das hier schon einmal gesagt —, daß es auch ein moralisches Gebot ist, den Entwicklungsländern, die mit den hochentwickelten Techniken nicht umgehen können, den Zugriff auf die fossilen Energievorräte der Erde zu überlassen und bei uns, wo wir hohe Techniken beherrschen und mit ihnen umgehen können, eben die schwierigeren Techniken anzuwenden. Aber bei der Rücksichtslosigkeit, mit der Sie in dieser Frage dem ärmeren Teil der Welt gegenüberstehen, ist ja vermutlich mit Ihnen über so etwas nicht zu reden.
Ihre Forderungen sind eben Zeugnis nicht nur einer kleinkarierten und ideologisch befrachteten Politik, sondern auch noch einer übermäßig egoistischenPolitik, ohne jede Rücksicht auf die Notwendigkeiten dieser anderen Länder.Wir brauchen ja nur in die ehemaligen RGW-Staaten zu sehen, um festzustellen, welche konkreten Umweltschäden eintreten, wenn die ökologische Dimension im Wirtschaftsprozeß kontinuierlich vernachlässigt wird. Auch hier besteht Handlungsbedarf — ich wiederhole es zum x-tenmal auch an dieser Stelle —, vor allem auch im Hinblick auf die in Mittel-und Osteuropa gebauten Kernkraftwerke nach dem Tschernobyl-Typ, wo bisher nichts geschehen ist, allenfalls Geld für ein paar Gutachten zusammengebracht worden ist.Wir haben mit Rio den Anfang einer zukünftigen globalen Energie- und Umweltpolitik markiert. Hier ging es ja nicht nur um die aus Gründen der Klimaschutzvorsorge notwendige Stabilisierung der globalen CO2-Emissionen. Es wurden auch die Karten für die Verteilung von Anpassungslasten zwischen Nord und Süd, Ost und West neu gemischt.Meine Damen und Herren, die Spielräume für eine energiepolitische Initiative, z. B. für den vorsorgenden Klimaschutz, sind zur Zeit sicher begrenzt. Aber eine Erhöhung der Energiepreise kann ein richtiger Schritt sein. Jedoch muß das unter Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen geschehen. Wenn Sie sagen: Eine CO2-Steuer scheint europäisch nicht durchsetzbar zu sein, also machen wir es national, hat das dann wiederum mit dem Standort Deutschland nichts zu tun, Herr Jung? Sie verschlechtern die Wettbewerbsbedingungen des Standortes Deutschland.Wir sind für eine internationale, möglichst OECD-weite, mindestens europaweite CO2-Energiesteuer, die belastungsneutral ausgestaltet ist und Lenkungscharakter hat.Dieses Artikelgesetz, das uns heute vorliegt, öffnet einen Spaltbreit die Tür zu mehr Wettbewerb auf den Energiemärkten. Es schafft Raum für die verstärkte Nutzung der regenerativen Energien und macht Schluß mit der ausufernden und einseitigen Unterstützung eines Energieträgers, der auch nur in einem Teil unseres Landes gewonnen werden kann. Deswegen sollten wir dieses Energie-Artikelgesetz als eine Chance begreifen, unseren globalen Zielen näherzukommen.Die F.D.P.-Fraktion wird dem Energie-Artikelgesetz zustimmen.Ich bedanke mich.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lambsdorff, vielleicht ist das Zivilisationsniveau der Bundesrepublik nicht gerade der nachahmenswerte Maßstab für die Entwicklungsländer. Ich glaube, es ist höchste
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19553
Dr. Dagmar EnkelmannZeit, daß wir über Lebenswerte in dieser Bundesrepublik neu nachdenken.Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Artikelgesetz will die Bundesregierung die Steinkohle in Nibelungentreue weiter an die Atomenergie ketten. Hier wird ein Zusammenhang zwischen Fragen der Atomenergienutzung und der weiteren Nutzung heimischer Steinkohle, ideologisch motiviert, konstruiert. Offensichtlich sollen die Steinkohlebergleute als Geiseln genommen werden, als Geiseln, um die Steinkohle-Bundesländer zu erpressen, den Atomkurs der Regierung bedingungslos zu akzeptieren.Mit der Änderung des § 7 Abs. 2 des Atomgesetzes gesteht die Bundesregierung bemerkenswerterweise die Unsicherheit und Unbeherrschbarkeit der bestehenden Atomanlagen ein.
Ein Risiko wird nicht mehr ausgeschlossen, sondern von der Bundesregierung als real anerkannt und akzeptiert.Die oft angekündigte Verschärfung des Atomgesetzes mit dieser Novelle findet jedoch in der Realität nicht statt. Es wird ein höherer Sicherheitsanspruch suggeriert, der jedoch nicht näher definiert wird. Der Bundesregierung dürfte ebenfalls klar sein, daß das Ziel einer Schadensbegrenzung auf das Kraftwerksgelände, wie es auch in der gemeinsamen Empfehlung der deutschen und französischen Reaktorsicherheitskommission für die Sicherheitsanforderungen an zukünftige Druckwasserreaktoren formuliert wird, nicht verwirklicht werden kann.Auch das Konzept für die Neuentwicklung eines sogenannten europäischen Druckwasserreaktors durch Siemens und Framatom erfüllt die geforderte Sicherheit im Falle einer Kernschmelze nicht.
Es liegt in einer Größenordnung, die für bereits existierende Konvoianlagen angegeben wird, und kann deshalb kaum als wesentliche Verbesserung gelten.Die Einführung des Abs. 2a in § 7 des Atomgesetzes halten wir schlichtweg für verfassungswidrig. Massive gesundheitliche Schädigungen der Bevölkerung im Falle eines schweren Unfalles werden hingenommen. Herr Töpfer, es gibt einen Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes, in dem es heißt: Jeder hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es ist deshalb nicht hinnehmbar, daß bestehende Atomanlagen einen besonderen Bestandsschutz genießen, selbst wenn sie längst nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen.Meine Damen und Herren, die EVUs profitieren von der unseligen Verkettung von Kohle und Atom, wie sie durch das Artikelgesetz fortgeschrieben werden soll. Rein kohlepolitisch gesehen überwiegen allerdings die Nachteile; denn der Abschluß des Jahrhundertvertrages war mit einer Wohlverhaltensklausel verbunden, die folgende Formulierung in § 8 der Ergänzungsvereinbarung enthielt: ,,... wenn sowohl Kohle als auch Kernenergie zum Einsatz kommen". Durch diesen Zusatz wurde im Zusammenhang mitdem Mengengerüst des Jahrhundertvertrages von Anfang an und in voller Absicht eine Politik des Atomenergievorrangs festgelegt.Es war darüber hinaus Bestandteil des Jahrhundertvertrages, daß jeweils 1 % des steigenden Verbrauchszuwachses durch Steinkohleverstromung gedeckt werden sollte, der darüber hinausgehende Verbrauchszuwachs jedoch der Atomenergie vorbehalten bleiben sollte.Bei Abschluß des Jahrhundertvertrages gingen alle Vertragspartner von Stromverbrauchszuwächsen von 3 % pro Jahr und mehr aus, die in der Realität dann allerdings bei 1,4 % lagen.Die nicht erfüllten Verbrauchszuwachsprognosen bei gleichzeitigem Atomenergieausbau hatten eine Verdrängung der Steinkohlekapazitäten aus der Grundlaststromerzeugung zur Folge. Wegen der relativ hohen Fixkosten der Atomkraftwerke ist es eben für die EVUs günstiger, ihre Steinkohlekraftwerke mit den höheren variablen Kosten herunterzufahren.Der heute vorhandene Subventionsbedarf für die Steinkohle hat mehrere Grande.Erstens. Die Fehlkonstruktion der Ruhrkohle AG und die Überbewertung der von den Altgesellschaften eingebrachten Anteile, die über 20 Jahre verzinst abgetragen wurden, trieben die Kosten in die Höhe.Zweitens. Die teilweise unsinnige Rationalisierung und Mechanisierung des Steinkohlebergbaus bei gleichzeitig rückläufiger Förderung und stark ansteigenden Preisen der Bergbauzulieferungsindustrie verursachten in den letzten 20 Jahren erhebliche Kostensteigerungen.Drittens. Für den Bergbau ungünstige Regelungen wie die Ballastkohlenverstromung und die Hüttenverträge verursachten Verluste zugunsten der Elektrizitätswirtschaft und der Stahlindustrie.Viertens. Die mit mindestens 100 Milliarden DM aus Steuermitteln und durch die Stromkunden subventionierte Atomenergie verhinderte einen sinnvollen Einsatz der Steinkohle in der Stromerzeugung bei gleichzeitiger Abwärmenutzung.Fünftens. Die eigentlichen Nutznießer der sogenannten Kohlebeihilfen sind die Energiewirtschaft, die Stahlindustrie und der Maschinenbau.Selbst bei einer völligen Stillegung des Steinkohlebergbaus würde die öffentliche Hand durch notwendige Strukturbeihilfe und jahrzehntelang notwendige erhöhte Aufwendungen für Sozial- und Arbeitslosenhilfe in den strukturschwachen Bergbauregionen belastet. Darüber hinaus ist davon auszugehen, daß die Weltmarktpreise für 01, Gas und Steinkohle mittelfristig wieder anziehen, erst recht, wenn in der EU kein nennenswerter Steinkohlebergbau mehr vorhanden sein sollte. Aus strukturellen Gründen und unter dem Gesichtspunkt der Ve rsorgungssicherheit halten wir den heimischen Steinkohlebergbau für notwendig, auch wenn kurzfristig ein Subventionsbedarf besteht. Eine zukünftige Steinkohlepolitik, die sich an den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung orientiert, muß allerdings in ein Gesamtkonzept einer umweltfreundlichen, ressourcenschonenden und so-
Metadaten/Kopzeile:
19554 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dr. Dagmar Enkelmannzial verträglichen Energieversorgung eingebunden werden.Durch die völlig verfehlte Energiepolitik der Bundesregierung wurde die Chance verpaßt, den Preisverfall des Erdöls und die damit gekoppelte Preisentwicklung des Erdgases im Jahre 1986 durch eine Importabgabe auf Energieträger aufzufangen und diese für Projekte der effizienten Energienutzung, der regenerativen Energienutzung und die Stützung der heimischen Steinkohle einzusetzen. Hierdurch wurde es erst notwendig, die nach dem Dritten Verstromungsgesetz zu zahlende Ausgleichsabgabe auf den Strompreis ab 1996 auf durchschnittlich 8,5 % zu erhöhen.Bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag und die Stromverträge mit der Regierung de Maizière hat die Bundesregierung nichts unternommen, damit die sich in Ostdeutschland engagierenden EVUs ihre Verpflichtungen nach dem Dritten Verstromungsgesetz auch dort erfüllten. Ihnen wurde großzügigerweise eine eindeutige Monopolstellung verschafft. Diese wird genutzt, um seit 1990 für die Verstromung zunehmend Drittlandsteinkohle einzusetzen, die unter fragwürdigen ökologischen und sozialen Mindeststandards gefördert wird und daher kostengünstiger angeboten werden kann. Ungeachtet dieser Tatsachen soll ab 1995 auch in Ostdeutschland eine Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz in Höhe von 4,25 % gezahlt werden, die auf den ohnehin höheren Strompreis aufgeschlagen werden soll.Meine Damen und Herren, dies halten wir für schlichtweg verfassungswidrig. Die PDS/Linke Liste lehnt die Erhebung eines Kohlepfennigs für Ostdeutschland ab. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Erhebung und die Höhe einer Ausgleichsabgabe in Ostdeutschland vom Nachweis der EVUs über tatsächlich eingesetzte Mengen an Steinkohle gemäß dem Dritten Verstromungsgesetz abhängig zu machen, die unzulässige Verknüpfung der Stützung der heimischen Steinkohle mit der Nutzung der Atomenergie zu unterbinden und endlich ein Energiekonzept vorzulegen, das den Kriterien einer umweltfreundlichen, sozial verträglichen und ressourcenschonenden Energieversorgung ohne Atomenergie gerecht wird. Die PDS/Linke Liste hat dazu einen Vorschlag eingebracht. Dieses Artikelgesetz wird unsere Zustimmung jedenfalls nicht finden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Redewendung benutzen, die der Kollege Kleinert in der vorigen Woche in einer Debatte dieses Hauses gebraucht hat. Uns von der Vertreterin einer Partei, die uns das Kernkraftwerk Greifswald hinterlassen hat, über die Risikovorsorge westdeutscher Kernkraftwerke, die
seinerzeit mit Zustimmung aller Koalitionen hier genehmigt und errichtet wurden, belehren zu lassen, das geht entschieden zu weit.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Abgeordneter Jung, wir entscheiden heute sehr wohl über den Standort Deutschland. Die heutige Debatte über das Artikelgesetz ist zu weiten Teilen eine Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und über Arbeitsplätze. Wir müssen nun endlich, nachdem wir uns über Monate bemüht haben, verläßliche Rahmenbedingungen schaffen, die auch in Zukunft ein ausgewogenes Verhältnis aller Energieträger, insbesondere unter Einschluß von Steinkohle, Braunkohle und Kernenergie, Energieeinsparung und Nutzung regenerativer Energien, gewährleisten.Viele der Anträge und Gesetzentwürfe, die heute hier zur Debatte stehen, waren Gegenstand der Konsensgespräche, die wir über das Jahr 1993 hinweg geführt haben. Leider sind wir in diesen Gesprächen nicht zu Ergebnissen gekommen, weil die SPD den Gesamtzusammenhang in der Energiepolitik durch ihr Festhalten am Ausstiegsbeschluß ignoriert hat.Ich muß schon zugeben, daß es innerhalb der SPD während dieser Gespräche auch vernünftige Bestrebungen und Orientierungen gab, die auf einen Konsens gerichtet waren. Das Ganze ist dann aber an einer linken Mehrheit im SPD-Präsidium gescheitert.
— So ist das gewesen.
Es ist eine bedauerliche, eine gefährliche Entwicklung, die damit eingeleitet worden ist. Auf der einen Seite wird von der Opposition eingefordert, daß wir im Bereich von Forschung, Entwicklung und Technologie unsere Spitzenstellung halten oder eine solche Stellung wiedererringen sollen. Auf der anderen Seite wird durch derartige Beschlüsse der Weg dafür geebnet, daß wir in einer Spitzentechnologie, wo wir wirklich noch eine führende Stellung in der Welt haben, einschließlich der Sicherheitstechnik, die Zukunft verspielen.Wie will man denn der Industrie, die jedes Jahr zwischen 150 und 200 Millionen DM in Sicherheitstechnik und in Kraftwerkbau im Kernenergiebereich investiert, zumuten, dies durchzuhalten, wenn es nicht die geringste Chance gibt, daß sich das, was dort entwickelt wird, was in Deutschland gefertigt werden soll, amortisiert?Das kann man der Industrie nicht zumuten. Das gefährdet Arbeitsplätze. Dadurch wird die technologische Leistungsfähigkeit des Landes verspielt. Das wird am Ende dazu führen, daß wir den Kernenergiestrom aus Ländern einführen müssen, in denen diese Sicherheitsstandards nicht gegeben sind, daß wir mehr Geld bezahlen müssen und daß wir darüber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19555
Bundesminister Dr. Günter Rexrodthinaus Arbeitsplätze anderswo sichern, aber nicht bei uns.Was ist das für eine Politik? Wie will man das den Menschen klarmachen? Das ist eine Politik gegen die technologischen Grundlagen des Landes und eine Politik gegen Arbeitsplätze in Deutschland. Dies ist unerträglich.Wir nehmen mit dem Artikelgesetz den Faden der Konsensgespräche wieder auf.
Das ist das Angebot an Sie, meine Damen und Herren, die Diskussion im parlamentarischen Rahmen fortzusetzen und voranzubringen, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Sie haben den angestrebten Konsens in den Gesprächen verhindert.Für die Steinkohleverstromung erhält der Bergbau einen gesicherten Finanzrahmen mit Plafonds von 7,5 Milliarden DM im Jahre 1996 und von 7 Milliarden DM bis zum Jahre 2000. Die beabsichtigte frühzeitige Festlegung der Degressionsschritte für den Plafonds ab 2001 soll den Bergbauunternehmen dann die notwendige Planungssicherheit geben, um den Anpassungsprozeß nach dem Jahr 2001 in geordneten Bahnen vollziehen zu können.Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Neuorientierung des Finanzierungskonzepts. Wir erhalten einerseits einen bedeutsamen Beitrag der Steinkohle zur Sicherung der Stromversorgung, andererseits legen wir nicht mehr feste Mengen für den Kohleabsatz fest, sondern begrenzen Plafonds für die künftigen Subventionsbeträge. Ich meine, daß wir damit einen wesentlichen Beitrag zum notwendigen Subventionsabbau leisten und gleichzeitig auch die Eigenverantwortung der Bergbauunternehmen stärken. Sie haben es nun in der Hand, durch Rationalisierungsmaßnahmen Potentiale auszuschöpfen, um die vorhandenen Mittel optimal zu nutzen.Meine Damen und Herren, wir haben uns die Entscheidungen nicht leichtgemacht. Ich sage zunächst einmal denjenigen, die die Interessen des Bergbaus hier zu wahren haben und wahren wollen: Der Bergbau, Herr Berger, kann sich bei 7,5 bzw. 7 Milliarden DM, die zur Verfügung stehen, nicht beschweren. Das ist auf eine lange Zeit die Subventionierung jeder Tonne geförderter Steinkohle in der Größenordnung von 200 DM. Ich habe schon viel Verständnis dafür, daß viele Menschen in diesem Lande im Norden und im Süden fragen, ob und wie lange wir es uns noch leisten wollen, daß 200 DM pro geförderte Tonne Steinkohle in den Revieren an Subventionen gezahlt werden. Diese Fragen sind berechtigt.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte.
Herr Bundesminister, heute auf den Tag genau vor einem Jahr haben Sie in Bochum vor 100 000 Bergleuten gesprochen. Sie haben vor einem Jahr den Bergleuten zugesagt, Sie würden alles daransetzen und alles tun, um die Ergebnisse der Kohlerunde 1991 auf Punkt und Komma umzusetzen.
Mit dem vorliegenden Artikelgesetz sind Sie wirklich meilenweit davon entfernt. Wollen Sie nicht hier und heute wenigstens die Gelegenheit nutzen, um sich öffentlich für diesen Wortbruch zu entschuldigen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Erstens habe ich gesagt, daß ich mich dafür verwenden will, daß die Ergebnisse der Kohlerunde soweit wie möglich eingehalten werden. Dies habe ich auch getan. Ich wiederhole — das wird auch im Revier so gesehen —: Bei 7,5 bzw. 7 Milliarden DM bis 2001 kann sich niemand bei dieser Bundesregierung beschweren. Was wir hier finanziell auf uns nehmen, das ist einmalig, und das ist vor vielen Steuerzahlern nur schwer zu verantworten. Sagen Sie das Ihren Leuten!
Die wissen das im übrigen besser, als Sie es hier formulieren. Das ist der Punkt.Was in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist, meine Damen und Herren — das sage ich dem Steuerzahler —: Wir haben das System umgestellt. Das ist das Wichtige. Das müssen Sie, weil die Akzeptanz für diese Kohlesubventionen ja erhalten bleiben muß, auch öffentlich machen.Wir haben also eine Systemveränderung in dem Sinne vorgenommen, daß nun nicht mehr bis 2005 35 Millionen t verstromt werden, unabhängig davon, was das kostet, sondern wir beginnen ab 2001 mit der Degression. Für die Zeit vorher haben wir eine Deckelung vorgenommen. Damit muß man leben. Das ist ein Ausgleich, das ist ein Balanceakt, der sich sehen lassen kann. Das ist auch eine verantwortungsvolle Politik gegenüber dem Steuerzahler, dem es immer schwerer klarzumachen ist, wie wir eine Subvention von 200 DM pro geförderte Tonne Kohle an der Ruhr und an der Saar verantworten wollen, meine Damen und Herren.Die neuen Bundesländer werden 1996 erstmalig in die Finanzierung der Steinkohleverstromung einbezogen. Daran führt auch aus verfassungsrechtlichen Gründen kein Weg vorbei. Mit der Übergangsregelung beim Kohlepfennig stellen wir sicher, daß sich die Belastung nicht nachteilig auf das Strompreisniveau und damit auf den wirtschaftlichen Aufschwung im Osten auswirkt. Wir wollen vom Strompreisniveau her keine retardierenden Einflüsse auf die wirtschaftlich günstige Entwicklung in den neuen Bundesländern.Ich fordere aber die Landesregierungen auf, alle Aufsichtsinstrumente zu nutzen, um schon frühzeitig
Metadaten/Kopzeile:
19556 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Bundesminister Dr. Günter Rexrodteiner unangemessenen Strompreisentwicklung in den neuen Ländern vorzubeugen.Sicherung des Industriestandortes Deutschland bedeutet auch wettbewerbsfähige Strompreise. Dazu — da beißt aus meiner Sicht die Maus keinen Faden ab — brauchen wir die Kernenergie. Sie gehört zu einem ausgewogenen Energiemix. Um ihre langfristige Nutzung zu sichern, werden wir im Artikelgesetz zwei wichtige Regelungen verabschieden.
Zum einen wollen wir die Option für neue Kernkraftwerke offenhalten — wobei das oberste Gebot die Sicherheit bleibt —, zum anderen soll, parallel zur Entsorgung des radioaktiven Abfalls über die Wiederaufbereitung, auch die direkte Endlagerung zugelassen werden. Das bedeutet, die Industrie erhält die Möglichkeit, eigenverantwortlich zu entscheiden, welches Verfahren unter betriebswirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Aspekten das geeignete Verfahren ist.Der SPD-Entwurf geht an den entscheidenden wirtschaftlichen Notwendigkeiten vorbei. Er leistet keinen Beitrag zum Subventionsabbau — der ja auch von Ihnen immer im Mund geführt wird —, er sattelt in einer Zeit drauf, in der Konsolidierung und Degression angesagt sind. Mit der Energiesteuer, wie Sie sie sich vorstellen, wird die Finanzierung der Kohleverstromung zum Einfallstor für weitere Steuererhöhungen. Sie verzichten auf die Sicherung des Technologiestandorts Deutschland. Der Verzicht auf — zumindest — die Option auf die Kernenergie ist ein Verzicht auf zusätzliche Arbeitsplätze, ein Verzicht auf die Erhaltung von technologisch hochwertigen Arbeitsplätzen in unserem Lande.Wir haben zum Energieeinsparen und zur Nutzung erneuerbarer Energien klare Regelungen vorgesehen. Darüber gab es auch schon in den Energiekonsensgesprächen Übereinstimmung. Bundesregierung und Koalition haben die Ansatzpunkte der Konsensrunde soweit wie möglich, d. h. vor allem soweit wie finanzpolitisch und wirtschaftspolitisch vertretbar, aufgegriffen. Kleinere Stromerzeugungsanlagen für den Eigenbedarf auf der Basis regenerativer Energien werden von der Verstromungsabgabe befreit. Der Anwendungsbereich des Stromeinspeisungsgesetzes wird um Holz erweitert.
— Das ist eine Menge. Ehe das Holz in den Wäldern verrottet, sollte daraus — so stelle ich mir das vor — Strom erzeugt werden.
Das ist im Interesse der Umwelt und im Interesse unserer Landwirte, also in beiderseitigem Interesse.Außerdem werden wir die Einspeisevergütung von 75 % — das ist schon sehr hoch — auf 80 % der Durchschnittspreise erhöhen. Dies wird neue Impulsefür den Bau zusätzlicher Anlagen im Bereich der regenerativen Energien geben.
Des weiteren sehen wir eine befristete Verlängerung und Aufstockung des Programms zur Förderung der Nutzung erneuerbarer Energien um weitere vier Jahre vor. Damit sollen zusätzliche Marktanreize für diese Energien geschaffen werden.Mit der Elektrizitätswirtschaft haben wir Gespräche über verstärkte Anstrengungen bei der Energieeinsparung und bei der Nutzung erneuerbarer Energien aufgenommen. Wir werden diese Themen auf Expertenebene vertiefen und an einem Gesamtlösungskonzept arbeiten.
Beim SPD-Programm „Energiesparen/erneuerbare Energien" war offensichtlich der Wunsch Vater des Gedankens. Ein Programm über zehn Jahre mit einem Volumen von 5 Milliarden DM, das über eine allgemeine Energiesteuer finanziert wird, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder konjunkturpolitisch noch steuer- und haushaltspolitisch verkraftet werden. Das wissen auch Sie.Wir stehen in einem ereignisreichen Jahr — ein Jahr, in dem wir mit Wahlen konfrontiert sind. Aber das darf nicht Richtschnur unseres Handelns sein. Wir werden in 1994 zeigen, daß erstens die Wirtschaft den Weg aus der Talsohle findet und daß wir zweitens unsere Anstrengungen fortsetzen, die strukturellen Schwierigkeiten der deutschen Wirtschaft zu überwinden. Das ist eine große Palette, das sind schwierige Maßnahmen. Wir haben u. a. gestern in diesem Hohen Hause darüber gesprochen.Für mich ist unverzichtbar, daß wir auch in der Energiepolitik und in der Energiewirtschaft weiterkommen. Wenn wir die Option verspielen, einen Energiemix zu finden, bei dem alle wichtigen Energieträger — Kohle, Kernenergie, Öl, Gas und regenerative Energien — eine Rolle spielen, dann verspielen wir ein Stück Sicherheit und ein Stück Wettbewerbsfähigkeit in diesem Land.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird ihre Strategie zur Sicherung des Standorts Deutschland auf der Grundlage der Marktwirtschaft konsequent weiterverfolgen. Hierzu gehört Klarheit in den drängenden energiepolitischen Fragen. Das Artikelgesetz schafft diese Klarheit. Wer sich ihm verweigert, gefährdet Arbeitsplätze und verspielt die technologischen Grundlagen unseres Landes.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans Berger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussionen um die Energiepolitik unseres Landes sind von einem merkwürdigen Wider-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19557
Hans Bergersprach gekennzeichnet, den viele offenbar nicht bemerken oder nicht bemerken wollen. Wir haben in Deutschland einen Stand der Energieversorgung erreicht, der den Zielen, die für die Energiepolitik unseres Landes wohl unbestritten sind, nämlich Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit, sehr weitgehend entspricht.Als weiteres wichtiges Ziel werden zu Recht Klarheit und Verläßlichkeit energiepolitischer Entscheidungen hervorgehoben, so in letzter Zeit wiederholt auch durch den Kollegen Faltlhauser. Doch genau daran scheint es mir in den letzten Monaten ganz besonders zu mangeln. Unsere Elektrizitätsversorgung beruht auf den Säulen Braunkohle, Kernenergie und heimische Steinkohle. Sie ist damit bisher gegen Störungen von außen weitgehend gesichert. Sie ist ein verläßlicher, kalkulierbarer Standortfaktor von größter wirtschaftlicher Bedeutung.Die Qualität unserer Energieversorgung hat allerdings ihren Preis. Alle drei Säulen der Stromerzeugung in unserem Lande sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, höchst umstritten und damit gefährdet. Gegen den Braunkohlebergbau werden die ökologischen und sozialen Belastungen durch den Tagebau ins Feld geführt. Bei der Kernenergie sind der Betrieb der Kraftwerke, die Entsorgungsfrage und auch die Neubaufrage heftigst umstritten. Belege für die strittige Diskussion um den Einsatz der heimischen Steinkohle brauche ich wohl nicht zu nennen.Meine Damen und Herren, es kommt jetzt darauf an, den Schaden für die Struktur insbesondere unserer Stromversorgung zu begrenzen. Dies gelingt nur mit jener Klarheit und Verläßlichkeit, die zu Recht für energiepolitische Entscheidungen eingefordert wird.
Im Mittelpunkt steht die Frage, welchen Wert wir dem Ziel der Versorgungssicherheit einräumen wollen.
Herr Abgeordneter Berger, der Abgeordnete Dr. Faltlhauser möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Berger, wenn Sie richtigerweise auf den Energiemix und die Zusammenhänge zwischen den drei Säulen der Energieversorgung hinweisen, dann frage ich Sie, was Sie und Ihre Kollegen, die sich insbesondere um die Kohle mühen, in Ihren Reihen tun, damit nicht eine Säule, nämlich die Atomenergie, mutwillig durch politische Beschlüsse kaputtgemacht wird.
Herr Faltlhauser, ich komme auf diese Frage im Zusammenhang mit meinen Ausführungen zurück.
Meine Damen und Herren, der Wert des Zieles Versorgungssicherheit wird häufig in Abrede gestellt. Das kam verstärkt in der Diskussion der letzten Woche und neulich auch im Wirtschaftsausschuß zum Vorschein. Ich will deshalb einige Fakten in Erinnerung rufen, Fakten, die wir nur allzu leicht vergessen oder verdrängen.Der Weltenergieverbrauch steigt rasant. Allein in den letzten zehn Jahren ist er um rund ein Fünftel gewachsen. Dieses Wachstum wird sich in den nächsten Jahren noch weiter beschleunigen. Studien der Internationalen Energieagentur und des Weltenergierats zeigen, daß sich der Weltenergieverbrauch auch künftig in der Hauptsache auf Kohle, Erdöl und Erdgas stützen wird.Allerdings, meine Damen und Herren, dürfte sich die regionale Verteilung des Energieverbrauchs verschieben. Schwellenländer und Länder der Dritten Welt werden ein überproportionales Wachstum des Energieverbrauchs aufweisen, weil sie dem Druck von Bevölkerungswachstum und gewolltem, ja von uns sogar gefördertem wirtschaftlichen Wachstum anders nicht standhalten können.Aber auch in Europa, in der Europäischen Union wird der Energieverbrauch weiter wachsen. Selbst für unser Land dürfte in den nächsten 10 bis 15 Jahren allenfalls eine Stabilisierung, kaum aber ein Rückgang zu erwarten sein. Im Jahre 2010 soll im Vergleich zum Jahre 1995 der Einsatz der Steinkohle zur Stromerzeugung sogar rund ein Fünftel höher liegen, der Einsatz der Kernenergie und der Braunkohle aber um jeweils 7 % niedriger sein.Daß dies bei gleichzeitig wachsendem Strombedarf nicht dazu führt, die eingangs geschilderte Sicherheit und Stabilität unserer Stromerzeugung zu garantieren, ist das Ergebnis reiner Mathematik. Diese Bewertung bekommt um so mehr Gewicht, als wir in den letzten Monaten und Jahren erfahren mußten, daß diese Welt keineswegs sicherer geworden ist. Ob und in welcher Weise Rußland seinen Erdgaslieferverpflichtungen nachkommt, ob und inwieweit der Transport durch das Gebiet selbständiger Staaten zusätzlichen Risiken unterworfen ist, das sind z. B. Fragen hinsichtlich unserer Erwartung auf steigende Erdgaslieferungen aus Rußland. Und Rußland ist nur eines von vielen Beispielen.Graf Lambsdorff, ich stimme Ihnen zu, daß unser Blick zu eng ist, auf den nationalen Bereich begrenzt ist. Aber das kann doch nicht dazu führen, daß wir unsere einzige Ressource abbauen. Das aber ist doch die Quintessenz des Artikelgesetzes, das hier heute vorliegt.
Das alles scheint viele aber nicht weiter zu stören; denn wir führen zur gleichen Zeit eine Diskussion, wie wir den Beitrag heimischer Steinkohle zur Stromerzeugung noch weiter zurücknehmen können. Es werden zudem Entscheidungen gefällt, die den Anteil der ostdeutschen Braunkohle an der Stromerzeugung weiter mindern. Das Beispiel Potsdam ist sattsam bekannt.Wird dieses Kirchturmdenken zum Maßstab der Energiepolitik, so setzen wir damit endgültig einen Prozeß in Gang, an dessen Ende wir dem Auf und Ab der Weltenergiemärkte mit all ihren politischen und ökonomischen Risiken vollständig unterworfen sind.
Metadaten/Kopzeile:
19558 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Hans BergerAuf dem Wege dorthin, meine Damen und Herren, haben wir zudem die ökonomische und soziale Kraft ganzer Regionen zerstört und die Zukunft kommender Generationen verspielt.Der Weg solcher energiepolitischer Kurzsichtigkeit wird von vielen gewählt, weil sie sich finanz- und haushaltspolitische Vorteile versprechen, wie Herr Minister Rexrodt soeben dargelegt hat. Doch die sehnlichst erwarteten Einsparungen fallen bei genauer Betrachtung viel geringer aus, als versprochen wird. Ja, es bestehen sogar erhebliche Zweifel, ob es bei Würdigung aller Konsequenzen überhaupt zu solchen Einsparungen kommen kann.
Herr Abgeordneter Berger, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Grafen Lambsdorff zu beantworten?
Wenn es mir nicht auf meine Redezeit angerechnet wird, ja.
Nein, das tue ich nicht.
Herr Kollege Berger, können Sie mir bestätigen, daß die Entscheidung im Stadtrat von Potsdam gegen den Einsatz der heimischen Braunkohle von der dortigen SPD-Fraktion herbeigeführt worden ist?
Das kann ich bestätigen.
Herr Kollege Berger, der Abgeordnete Reuschenbach möchte Sie ebenfalls befragen.
Verehrter Herr Kollege Berger, sind Sie so freundlich, auch zu bestätigen, daß die Ruhrgebiets-CDU und die Ruhrgebiets-
F.D.P. gegen den Bau eines Kohlekraftwerkes in Gelsenkirchen zu Felde ziehen?
Das muß ich leider auch bestätigen.
Noch jemand? — Bitte schön.
Herr Kollege Berger, können Sie weiter bestätigen, daß die sächsische Landeshauptstadt, in der bekanntlich eine CDU-Regierung das Sagen hat, ihre Energieversorgung auf Erdgas umgestellt hat, obwohl Sachsen nennenswerte Braunkohlevorkommen hat?
Also, die Liste dessen, was ich bestätigen müßte, ist sehr lang
und zeigt die Notwendigkeit, uns darüber zu verständigen, was wir im Interesse unserer Volkswirtschaft und im Interesse der Arbeitsplätze wirklich tun müssen.
Jedenfalls bestätige ich Ihnen, daß Sie geschäftsordnungsmäßig kurz geantwortet haben.
Meine Damen und Herren, durch den Wegfall von beispielsweise 10 Millionen t Steinkohleförderung würde die öffentliche Hand Hilfen zur Absatzsicherung in der Größenordnung von 1,3 Milliarden DM einsparen; das ergibt die oberflächliche Rechnung. Die gleiche Rechnung in die Tiefe gemacht, zeigt ein anderes Ergebnis: Der Bruttoproduktionswert des Steinkohlebergbaus würde um 2,8 Milliarden DM und die davon abhängige gesamtwirtschaftliche Produktion sogar um 7 Milliarden DM zurückgehen. Unsere ohnehin defizitäre Leistungsbilanz würde bei einem Ersatz von 10 Millionen t heimischer Förderung durch den Import von zusätzlicher Steinkohle um weitere 1 Milliarde DM belastet.Im Steinkohlebergbau gingen fast 20 000 Arbeitsplätze verloren und in abhängigen Wirtschaftsbereichen weitere 25 000. Dieser Arbeitsplatzverlust hätte bei der gegenwärtigen Lage auf dem Arbeitsmarkt bei der öffentlichen Hand Mehrausgaben, z. B. beim Arbeitslosengeld, und Mindereinnahmen, z. B. bei der Lohnsteuer und den Sozialversicherungsbeiträgen, zur Folge, die in der Größenordnung von 40 000 bis 50 000 DM pro Arbeitsplatz liegen. Die Belastung insgesamt würde also rund 2 Milliarden DM betragen.
In der Summe wäre die finanzielle Belastung der öffentlichen Hand bei einer solchen Förderreduzierung weit höher als die mögliche Ersparnis bei den Absatzbeihilfen.
Erstens Ansteigen der energiepolitischen Risiken und zweitens finanzielle Mehrbelastung statt der versprochenen Einsparungen — das wäre das Resultat, Herr Minister Rexrodt, wenn sich diejenigen durchsetzen, die selbst das Minimalergebnis des Gesetzentwurfs noch weiter verwässern wollen.Diese Rechnung zeigt auch den Wert, den ein höherer Einsatz ostdeutscher Braunkohle, die ja preiswerter ist, für unsere Volkswirtschaft hätte. Wir hätten unsere Anstrengungen darauf richten müssen, mehr ostdeutsche Braunkohle auf den Markt zu bringen, statt den Abbau weitgehend stillzulegen.
Hinzu kommt, daß der bereits eingetretene politische Schaden und der Verlust an politischer Glaubwürdigkeit ohnehin groß genug sind. Die Regelungen dieses Gesetzentwurfs für den Einsatz heimischer Steinkohle in der Verstromung sind nicht die Umsetzung der Ergebnisse der Kohlerunde 1991, wie mein Kollege Formanski bereits deutlich gemacht hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19559
Hans BergerDer damalige Kompromiß wird in keiner Weise eingehalten.
Dabei hat es in der gesamten Debatte kein einziges Argument gegeben, das nicht schon 1991 bei der Kohlerunde bekannt gewesen wäre und ein Abweichen gerechtfertigt hätte.
Weder die Umwidmung der Mengenvereinbarung in einen Finanzplafond noch die Degressionsdrohungen waren Gegenstand dieses Kompromisses, erst recht nicht die Frage, ob es nach 2005 noch einen Steinkohlebergbau geben soll.Denen, die glauben, sie hätten einen Sieg errungen, prophezeie ich, daß dies ganz schnell zum Pyrrhussieg werden kann. Wir sind uns in diesem Hause doch einig, daß unser Land dringend einen neuen Energiekonsens braucht. Die Anstrengungen des vergangenen Jahres, einen solchen Konsens zu erreichen, sollen und müssen fortgesetzt werden. Das habe ich heute mehrmals gehört. Ich bekenne mich dazu ausdrücklich.
Aber ich frage mich, Herr Hinsken, wie die Menschen vom Wert eines solchen Konsenses überzeugt werden sollen, wenn hier zugleich demonstriert wird, wie mühsam gefundene Kompromisse zum einseitigen Diktat auf Kosten eines der Beteiligten umgedreht werden.
Ich will das wiederholen, was ich anläßlich der ersten Lesung gesagt habe: Wir werden dieses Gesetz selbst dann nicht als Einhaltung der Kohlerunde von 1991 akzeptieren, wenn wir gezwungen sind, alle Anstrengungen zu unternehmen, um damit zurechtzukommen.Meine Damen und Herren, dieses Gesetz taugt kohlepolitisch höchstens dazu, Schlimmeres zu verhüten, Kahlschlag und Absturz abzubremsen und einen Rest an energiepolitischer Gestaltungsfähigkeit zu erhalten.Ich habe den Gesetzentwurf meiner Partei unterstützt, weil er die Umsetzung der 91er Vereinbarung gewährleistet und weil er erheblich mehr energiepolitische Substanz hat.
Dem Artikelgesetzentwurf kann ich deshalb meine Stimme nicht geben.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Heinrich Seesing das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man Energiepolitik für die Zukunft betreiben will, dann kann es keine bevorrechtigten Energieträger mehr geben. Nur, in der alltäglichen Diskussion erleben wir eher das Gegeneinander als das Miteinander dieser Energieträger, auch das Gegeneinander von Interessen, etwa der Stromerzeuger, der Stromverteiler und der Stromkunden. Das gilt entsprechend auch für andere Energien. Deswegen ist es mir schon ein Anliegen, etwas über die Bedeutung der heutigen Beschlüsse für unsere Energielandschaft zu sagen, aber auch einige grundsätzliche Bemerkungen zu machen.In der Standortdiskussion um Deutschland ist, wie ich hoffe, deutlich geworden, daß auch die Frage der Energiekosten bei Überlegungen zur Errichtung oder Verlagerung von Produktionsstätten keine geringe Rolle spielt. Betriebe, die einmal für Deutschland verlorengegangen sind, bleiben verloren.
Investitionen müssen sich lohnen; das gilt auch für alle Bereiche der Energieversorgung. Es kann nicht statthaft sein, durch ständig neue Vorschriften und politische Absichten die Wirtschaftlichkeit von Investitionen negativ zu beeinflussen.Nun gibt es ja auch unterschiedliche Auffassungen über den Wert von Anlagen der Energieversorgung — je nach Blickwinkel oder Voreinstellung, ja auch nach Vorurteilen. Wir, die Politik, müssen schon aufpassen, daß uns nicht kommende Generationen eine unverantwortliche Verschleuderung von Volksvermögen vorwerfen.
Meine Damen und Herren, ich komme aus Kalkar. Bei jedem Gang um dieses wunderschöne historische Städtchen sehe ich das riesenhaft in den niederrheinischen Himmel ragende Bauwerk des Schnellen Brüters.
In unserem Lande sind viele stolz darauf, dieses Projekt „umgebracht" zu haben, wenn man das so formulieren darf.
Aber, daß damit rund 7 Milliarden DM ausgegeben wurden, ohne daß aus dieser Anlage eine Wertschöpfung stattgefunden hätte, ist schon bedrückend.
Gut, man könnte sagen, daß der Bau ja ein tolles Konjunkturprogramm gewesen sei; ein Programm allerdings, das keinen dauerhaften Arbeitsplatz und keinen Ertrag geschaffen hat. Noch nicht einmal Wissen für die Zukunft hat man der Anlage entnehmen können, weil sie nicht zum Laufen kam. Das machen jetzt die Japaner, die einen fast identischen Schnellen Brüter soeben in Betrieb genommen haben.
Metadaten/Kopzeile:
19560 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Heinrich SeesingEs ist mehr als bedauerlich, daß wir keinen Konsens darüber erzielen können, daß wenigstens die vorhandenen Energieanlagen unbehindert von politischen Einflüssen betrieben werden können.
Das gilt nicht nur für Kernkraftwerke, obwohl es da ganz besonders auffällt. Nein, wir können es uns nicht mehr erlauben, den Betrieb von Anlagen willkürlich zu beenden, wenn dem Betrieb oder Weiterbetrieb nur politische Voreinstellungen entgegenstehen.Es geht also letzten Endes darum, alles zu tun, um einen Konsens in der Energiepolitik zu finden. Wir waren ja schon einmal nahe dran. Das ist heute oft genug geschildert worden. Aber anscheinend war die Zeit noch nicht reif dafür. Aber sie wird kommen, und dann ist es gut zu wissen, wohin die Reise gehen kann.
Konsens setzt Kompromisse voraus. Wer aber keine Meinung hat, kann auch keine Kompromisse schließen. Deswegen muß es gestattet sein, unsere Ausgangsposition nochmals darzustellen: Die deutsche Steinkohle soll auch für die Jahre bis mindestens 2005 einen angemessenen Beitrag in der Stromerzeugung leisten. Das wird mit diesem Gesetz gewährleistet.
Um deutsche Steinkohle zu Weltmarktpreisen liefern zu können, werden den Bergbauunternehmen — ich wiederhole das ausdrücklich — unterschiedlich hohe Finanzplafonds zur Verfügung gestellt. Für das Jahr 1995 gilt noch die bisherige Regelung. Im Jahre 1996 werden den Bergbauunternehmen 7,5 Milliarden DM zur Verfügung stehen. In den Jahren 1997 bis einschließlich 2000 werden die Finanzplafonds 7 Milliarden DM im Jahr betragen. Ab 2001 sollen die Finanzplafonds in ihrer Höhe zurückgeführt werden.In einem Gesetz sollen die Art der Mittelbeschaffung für die Jahre 1997 bis 2005, die Abwicklung bestehender Defizite der Verstromungsfonds, die Höhe der Finanzplafonds für die Jahre 2001 bis 2005 sowie die Frage geregelt werden, ob und in welcher Höhe auch nach 2005 Mittel für die Steinkohleverstromung bereitgestellt werden sollen oder müssen. Diese frühzeitige Festlegung der Degressionsschritte ist nach unserer Ansicht erforderlich, um dem Bergbau die notwendige Planungssicherheit zu geben.In ganz Deutschland gibt es erhebliche Vorbehalte gegen die weitere Subventionierung der Steinkohle. Oft wird die sofortige oder baldige Einstellung des Unternehmens Steinkohle verlangt. Wir haben uns aus vielerlei Gründen dafür entschieden, die längerfristigen Regelungen für die Steinkohle jetzt zu treffen.Ich wünsche mir, daß sich die Bergbauunternehmen jetzt in die Pflicht nehmen lassen und ihren, wie ich allerdings glaube, schon längst eingeleiteten Weg der Kostensenkung und einer aktiven inneren Strukturpolitik intensiv fortsetzen. So kann es möglich gemacht werden, daß die Teile der Finanzplafonds, die für die Verstromung nicht benötigt werden, für regional eingegrenzte Maßnahmen zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen bzw. für die Rückführung der aufgelaufenen Defizite der Verstromungsfonds eingesetzt werden können.Meine Damen und Herren, es ist sicher nicht Aufgabe des energiepolitischen Sprechers der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, sich einseitig für einen Energieträger einzusetzen. Im Gegenteil, es gilt, alle Energieträger und -formen zusammenzuführen, um einen großen Energiemix zu sichern. Nur durch Vielseitigkeit und Konkurrenz werden wir wirtschaftlich vernünftige Energiepreise erhalten. Wir können uns in mehr oder weniger intelligenten Zirkeln darüber unterhalten, ob und wie schnell eine kräftige Preiserhöhung für Energie den Energieverbrauch drosseln kann. Auch ich glaube, daß es noch Einsparmöglichkeiten gibt, wobei der Energieverbrauch — Herr Berger sagte es eben auch — allerdings insgesamt ansteigen wird.Warnen kann ich aber nur vor dem Versuch, im nationalen Alleingang die deutschen Energiepreise weiter hochzuschaukeln. Die Hälfte der industriellen Energiekosten entfallen auf die Elektrizität. Schon heute liegt der deutsche Industriestrompreis urn durchschnittlich 6 Pfennig je Kilowattstunde über dem französischen. Von diesen Mehrkosten entfallen etwa 2 Pfennig auf Umweltschutzmaßnahmen, 1,8 bis 2 Pfennig auf den Einsatz deutscher Kohle, 1 Pfennig auf teurere Kernkraftwerke, z. B. durch lange Stillstände — meist aus ideologischen Gründen —, und 1 Pfennig auf sonstige Nachteile. Zu den sonstigen Nachteilen zählt man oft auch die Förderung erneuerbarer Energien. Diese Förderung ist aber — ich sage das ausdrücklich — politisch gewollt.
Entgegen der ursprünglichen Absicht sind doch erhebliche Förderelemente in diesem Gesetz enthalten. Schon in der nächsten Sitzungswoche wollen wir eine weitere Initiative versuchen, die durch eine Änderung des Baugesetzbuches und des Wasserhaushaltsgesetzes bestehende Hemmnisse für die Nutzung von Wind- und Wasserkraft sowie Biomasse abzubauen hilft. Ein Problem muß noch gelöst werden, nämlich die überdurchschnittliche Belastung einiger Energieversorgungsunternehmen durch Vergütungen nach dem Stromeinspeisungsgesetz.Auch in der Energiewirtschaft werden neue Entwicklungen einsetzen. Dezentrale Energieversorgungsanlagen werden vor allem den Wärmemarkt, aber auch die Stromversorgung zunehmend beeinflussen. Auch wenn eine Industriegesellschaft nicht ohne Großkraftwerke existieren kann, so wird dennoch in den nächsten Jahrzehnten ein zunehmender Anteil der Strom- und Wärmeproduktion aus kleineren Blockheizkraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung oder anderen Anlagen stammen. Auch diese Entwicklungen brauchen Zeit.Bei einem Nachweis der Wirtschaftlichkeit werden solche Anlagen nach und nach entstehen. Ich kann die Energieversorgungsunternehmen, gerade auch im Bereich der Gas- und Ölwirtschaft, nur ermuntern, in dieses Geschäft mit einzusteigen. Bei solchen Ent-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19561
Heinrich Seesingwicklungen mitbeteiligt zu sein bringt sicher mehr als das Abseitsstehen. Hier sehe ich selbst durch den Einsatz intelligenter Kugelbettreaktoren eine Chance für die weiterentwickelte Kernenergietechnik.Das alles ändert aber nichts daran, daß auch in Zukunft der größte Teil der Stromversorgung im Grundlastbereich aus der Braunkohlenverstromung, ein weiterer wichtiger Teil aus der Kernenergie in bisheriger Technik mit neugestalteter Sicherheitsphilosophie stammen wird, während im Mittellastbereich nach wie vor die Steinkohle ihren Einsatzbereich haben sollte.Meine Damen und Herren, die Politik hat nicht die Aufgabe, Entwicklungen zu behindern oder gar zu verhindern, sondern die bestmögliche Energielandschaft zu sichern und auszubauen.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister Dr. Klaus Töpfer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beispiele, die in der an den Kollegen Berger gestellten Zwischenfrage genannt wurden — sie können in der Tat beliebig erweitert werden — zeigen eines ganz deutlich: Wir brauchen einen energiepolitischen Konsens.
Wir sehen das in Lübeck, in Erlangen, bei der Genehmigung einer Erdgasleitung aus Norwegen, wir sehen es flächendeckend überall und bei sämtlichen Energieträgern. Deswegen ist es zu bedauern, daß der Energiekonsens in Deutschland überhaupt erst einmal verlorengegangen ist.
Man muß daran erinnern — Graf Lambsdorff hat es getan, ich will es noch einmal tun —: Er ist nicht dadurch verlorengegangen, daß die Koalitionsparteien ihn aufgekündigt hätten, sondern dadurch, daß die SPD ihn aufgekündigt hat.
Der Jahrhundertvertrag, der jetzt ausläuft, hatte ganz eindeutig die Basis eines Zusammengehens von Kohle und Kernenergie.
Herr Kollege Berger, da wir uns schon des öfteren sehr konstruktiv unterhalten haben: Es wäre doch eigentlich ganz sinnvoll gewesen, wenn Sie die Vorschläge, die Sie etwa mit Ihrem Kollegen Rappe zur weiteren Entwicklung der Kernenergie im Zusammenhang mit der Kohle gemacht haben, die auch vernünftig waren und in den Energiekonsens mit eingegangen sind, an dieser Stelle auch angesprochen hätten. Dann wären wir nämlich in der Diskussion des Artikelgesetzes ein ganzes Stück weitergekommen.
Es ist doch nicht von uns erfunden, sondern es ist doch nachlesbar, daß die IG Chemie-Papier-Keramik eine solche Entwicklung in Gemeinsamkeit für notwendig erachtet hat, und es ist doch niemand von uns gewesen, sondern es waren der Kollege Rappe und andere, die gesagt haben, der Energiekonsens sei an den Ideologen im SPD-Präsidium gescheitert.
Das ist doch nicht uns eingefallen, sondern das hat Kollege Rappe gesagt. So ist doch die Situation.
Deswegen widerspreche ich dem Kollegen Jung, wenn er sagt, die Energiekonsensgespräche seien zu Ende. Nein, wir haben uns bewußt darauf geeinigt, daß sie unterbrochen sind und später weitergeführt werden sollen.
Gehen wir also etwas vorsichtiger miteinander um, denn wir wollen uns ja offenbar nach der Wahlauseinandersetzung wieder zusammensetzen und zum Konsens kommen, wenn es denn nicht möglich ist, ihn schon vorher zu erreichen.
Deswegen, meine Damen und Herren, empfehle ich auch Vorsicht mit solchen Begriffen wie „Wortbruch" . Wie sind wir denn auf diese 7 Milliarden DM gekommen? Die sind doch nicht irgendwie vom Himmel gefallen, sondern diese 7 Milliarden DM errechnen sich wie folgt: 35 Millionen Tonnen Förderung; die Differenz zwischen Förderkosten und Weltmarktpreis beträgt je Tonne 200 DM; 200 DM mal 35 Millionen sind 7 Millarden DM.
— Nun haben wir doch erst einmal dieses als eine Fixierung auf 35 Millionen Tonnen. Die Argumente, die ich von Ihnen bisher bekommen habe, lauten doch eigentlich, im Zweifel — —
Herr Bundesminister, ich muß Sie kurz unterbrechen.
Ich wäre dankbar, wenn die Gepflogenheiten des Hauses eingehalten würden und die Minister, die nicht in das Haus gehören, die Minister von der Bundesratsbank, dorthin gingen, wo sie hingehören: auf die Bundesratsbank. Danke schön.
Sie können jetzt fortfahren.
Eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wagner.
Ich würde diesen Aspekt gern zu Ende bringen. Auf Ihre Frage, Herr Kollege Wagner, komme ich sofort zurück.Die Argumente, die ich bisher von Ihnen gehört habe, laufen doch darauf hinaus, daß Sie sagen: Im Zweifel ist die Versorgungssicherheit in Zukunft geringer, und damit wird wohl offenbar der Weltmarktpreis nicht niedriger, sondern höher sein. Das heißt, Sie argumentieren die ganze Zeit wie folgt: Möglicherweise brauchen wir in Zukunft die 200 DM pro Tonne gar nicht, und dann können wir mit den 7 Milliarden DM glänzend auskommen.
Metadaten/Kopzeile:
19562 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Bundesminister Dr. Klaus TöpferIch kenne doch einige aus Ihrer Partei, die auch in den Konsensgesprächen nicht gesagt haben, dies sei zuviel, sondern die äußerten, wir müßten vorher schon degressiver gestalten, weil eine gewisse Rationalisierungsnotwendigkeit da sei. Dann weiß ich nicht, warum wir einen solchen Vorschlag, der, wenn wir das unter uns bereden, von vielen mitgetragen wird, nicht annehmen und damit eine Sicherung von 35 Millionen Tonnen ermöglichen und gleichzeitig Strukturmöglichkeiten in den Revieren nutzen. Das ist unser Vorschlag.
Jetzt kann der Kollege Wagner gerne seine Frage stellen.
Ja, Herr Minister, eine Frage: Stimmen Sie mir zu, daß die 200 DM keine Erfindung der Bundesregierung sind, sondern daß die Europäische Kommission das am 2. August 1992 zur Grundlage der künftigen Energiepolitik in der EG gemacht hat?
Würden Sie mir zweitens bitte bestätigen, daß nach Ihrer Darlegung im Saarland nur noch ein einziges Steinkohlenbergbauunternehmen übrigbleibt, nämlich die Grube Ensdorf, während nach den Kriterien dieses Artikelgesetzes alle anderen geschlossen werden müssen?
Der ersten Frage messe ich deswegen keine Bedeutung zu, weil es eine einvernehmliche Festlegung ist, daß die Fördersumme gegenwärtig 200 DM beträgt. Daß auch die Europäische Gemeinschaft dem zugestimmt hat, zeigt nur, daß wir richtig gerechnet haben.
Ihrer zweiten Aussage widerspreche ich mit großem Nachdruck. Aber Sie können ja hierherkommen und Ihre Meinung dann belegen. Ich widerspreche ihr mit großem Nachdruck.
Jetzt komme ich zum Ausgangspunkt zurück: Wir brauchen diese Kohleförderung — das ist meine feste Überzeugung — nicht nur deshalb, weil wir auch eine Energieversorgung auf heimischer Basis brauchen, sondern wir brauchen sie — und da nehme ich das auf, was Graf Lambsdorff gesagt hat —, weil, was immer in den nächsten Jahren und Jahrzehnten kommen möge, Kohle eine Grundlage der Energieversorgung in der Welt sein wird. Wenn das richtig ist, dann muß eine technologisch führende Nation wie Deutschland alles daransetzen, die besten Techniken zur Nutzung von Kohle bei uns zu entwickeln und sie zu exportieren.
Dafür brauchen wir einen lebenden Bergbau.
Das ist eine zusätzliche Begründung, die ich leider von Ihnen nicht gehört habe. Ich würde sie aber dringlich einfordern, denn damit werden unsere Exportqualitäten auf Dauer abgesichert. Auch da gilt es, ein Stück weiter über die vorgefaßten Meinungen hinauszudenken. Es ist doch völlig richtig: Wir reden weltweit von „clean coal technologies". Wir sprechen
darüber, mit welchen Wirkungsgraden sich die Kraftwerke demnächst darstellen müssen. In Deutschland wird die KoBra-Technik entwickelt. Die GuD-Technik ist bei uns entwickelt worden. Das sind Exportartikel erster Qualität.
Ich muß das, was der Kollege Seesing gesagt hat, aufgreifen und muß fragen: Will denn wirklich jemand ausschließen, daß wir Kohlevergasung und Kohleverflüssigung auf Dauer nicht wollen? Haben wir nicht die Möglichkeit, sie in vernünftigen Wärmequellen tatsächlich einzusetzen und in Deutschland solche Technologien zu entwickeln? Warum wollen wir, Herr Kollege Berger, die Frage der Kernenergie in ihrer Option als Technik der Zukunft ausblenden? Damit blenden wir doch auch ein Stück Technologie der Kohlenutzung aus. Es geht mir darum, daß das nicht nur eine Frage des Preises ist. Das ist etwas komplexer.
Deswegen muß heute ein Signal gesetzt werden, daß wir, wenn wir eine Kohlefinanzierung über 7 Milliarden DM mit einer fixen Zusage beschließen, auch in der Entwicklung der Kernenergietechnik vorankommen. Darum geht es doch.
Es ist auch vom Kollegen Jung gesagt worden, dies alles sei ganz schlecht, weil wir nicht schon im Gesetz die Kriterien festgeschrieben haben.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Berger zu beantworten?
Eine Frage vom Kollegen Berger mit besonderer Freude.
Herr Minister, stimmen Sie mir zu, daß diese Technologie nur angewandt werden kann, wenn wir in Deutschland noch Steinkohle haben?
Herr Kollege Berger, dem stimme ich deswegen nicht ganz zu, weil es natürlich genauso der deutschen Braunkohle bedarf.
Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn wir solche modernen Technologien bekommen, dann wird das im Zweifel für die Braunkohle noch wichtiger sein als für die Steinkohle. Ich bin fest davon überzeugt.Nebenbei: Als wir das einmal diskutiert haben, stand gerade die Frage der qualifizierteren Nutzung von Braunkohle im Mittelpunkt unserer Diskussion. Denn daß man aus Braunkohle auf Dauer wirklich nur Strom erzeugen kann, das will mir nicht in den Kopf. Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich: Gerade weil wir Braunkohle und Steinkohle in einem energiepolitischen Konzept zu berücksichtigen haben, brauchen wir diese technologische Weiterentwicklung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19563
Bundesminister Dr. Klaus TöpferDamit, meine Damen und Herren, sorgen wir auch dafür, daß die CO2-Zielsetzung, Herr Kollege Jung, erreicht wird. Es ist und bleibt, auch wenn Sie es wiederholen, natürlich nicht richtig, was Sie sagen. Die CO2-Emissionen sind von 1987 bis heute in der Tat um 15,7 % zurückgegangen. Sie sind in den westlichen Bundesländern praktisch konstant geblieben. Aber Sie dürfen dabei nicht übersehen, daß in dieser Zeit die Bevölkerung in der alten Bundesrepublik Deutschland von 61,2 Millionen auf 65,4 Millionen angestiegen ist und daß die Pro-Kopf-Emission an CO2 in dieser Zeit gesunken ist. Das kann man doch nicht übersehen. Das sind nackte Zahlen. Ich wollte das, was Sie gesagt haben, nicht stehenlassen. Deswegen bin ich auf dieses Thema eingegangen.Wir bekommen die Situation nur in den Griff — ich sage das noch einmal —, wenn wir die Förderung der Braunkohle nicht nur zurückfahren, sondern aus der Braunkohle, die gefördert wird, mehr Energie und mehr Dienstleistungen für Energie bekommen, als wir gegenwärtig haben.
Deswegen ist der Teil im Artikelgesetz zur Kernenergie nicht so etwas wie ein Erpressungsinstrument oder was auch immer, sondern eine notwendige Ergänzung, und zwar sowohl im Hinblick auf die Technologieschiene als auch auf die Energieversorgung. Aus diesem Grunde halte ich es für richtig, daß wir in dem Artikelgesetz hierzu entsprechende Entscheidungen vorgelegt haben.Meine Damen und Herren, nur der Vollständigkeit halber: Wie problematisch eine andere Form der Kohlefinanzierung auch für Sie selbst ist, zeigt mir die Tatsache, daß der Bundesrat bisher noch nicht in der Lage war, das von zwei Bundesländern eingebrachte Gesetz mit Mehrheit zu verabschieden. Das liegt doch auf Eis. Ich frage mich, warum.
Das ist doch ein bemerkenswertes Faktum. Wenn das alles, was Sie sagen, so toll ist, dann, so hätte ich erwartet, hätte der Bundesrat doch längst die Mehrheit für den vorliegenden Gesetzentwurf gefunden. Der Entwurf ist nicht mehrheitsfähig; er liegt auf Eis.
— Ich freue mich auf die Diskussion dieses Artikelgesetzes im Bundesrat. Ich freue mich wirklich darauf. Ich bin gespannt, wie das alles, was Sie hier so groß gefordert haben, hinterher umgesetzt wird und wie sich das in der Interessendifferenzierung der Bundesländer, die von der SPD regiert werden, wiederfindet. Darüber wird man sich dann ja unterhalten dürfen. Nur, man darf das hier nicht vergessen, weil es möglicherweise nicht die richtige Dimension wiedergibt.Deswegen zurück zum Ausgangspunkt: Das Artikelgesetz sichert die deutsche Steinkohle auf dem vereinbarten Niveau, gibt ihr aber noch größereChancen durch mehr Flexibilität in der Finanzierung. Das, so meine ich, ist ein vorzeigbares Ergebnis. Damit gehe ich mit Freude ins Saarland zurück und verkünde das als eine Sicherung der saarländischen Steinkohle genauso,
wie wir das im Revier getan haben. Ich habe gerade eine schöne Darstellung in Bottrop hinter mir, Herr Kollege Berger. Nebenbei: Dort ist eine moderne Technik wiedergefunden worden, um anderes zu erzeugen, das vielleicht vorher vergessen worden ist.Noch ein paar Sätze zur Kernenergie. Wir haben die neue Vorschrift im Atomgesetz so formuliert, daß es nicht eine anlagenspezifische Anforderung ist. Vielmehr haben wir ein weiterreichendes Schutzziel gefordert, das auf die anlageninterne Beherrschung ausgerichtet ist. Wir haben kein anlagenspezifisches Schutzziel formuliert.
Ich bin nämlich davon überzeugt, daß es die Möglichkeiten a und b geben muß, also etwa auch die Frage der Hochtemperaturreaktoren in der Zukunft als Entwicklungschance. Nebenbei: Das ist eine deutsche Technologie, die wir an vielen Stellen ganz sinnvoll weiter verwenden müßten. Herr Kollege Seesing hat ebenfalls darauf hingewiesen.Wir haben es so gehalten, daß es für meine Begriffe absolut eine offene Herausforderung ist. Wenn Sie alle der Meinung sind, dies sei zu anspruchsvoll formuliert — Herr Jung sagt, wenn so ein Reaktor gebaut würde, wäre er zu teuer; dafür fänden wir keinen Abnehmer —, können Sie ohne weiteres zustimmen. Wenn es eh nicht geht, wie Sie meinen, dann können Sie risikolos zustimmen. Wir sind der Meinung, es sei eine Herausforderung für Technologie. Ob sie erfüllt wird oder nicht, ist nicht unsere Aufgabe als Politiker. Es ist vielmehr die Aufgabe der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Forschung, sie zu erreichen. Wenn sie sie erreichen, müssen sie die Gewähr haben, daß sie dann eine solche Technik auch einsetzen können, wenn sie sie beantragen. Das ist der Zusammenhang.
Ich mache mir jetzt noch keine Gedanken darüber, ob diese Forderungen, wenn sie erfüllt werden, zu teuer werden.
— Nein, das kann ich nicht, Herr Kollege Schütz, weil ich nämlich sehr genau weiß, daß wir für die Sicherheit zuständig sind. Wenn wir von vornherein fordern, es müsse wirtschaftlich sein, wird uns die alleinige Bindung an die Sicherheit nicht mehr abgenommen.
Deshalb formuliere ich unabhängig davon Sicherheitskriterien. Wissenschaft, Forschung und Industrie
Metadaten/Kopzeile:
19564 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Bundesminister Dr. Klaus Töpferwerden prüfen und ermitteln, wie eine sinnvolle Lösung erreicht werden kann.Dann kommen wir zu den Endlagerfragen, meine Damen und Herren. Auch hier sind wir einen wesentlichen Schritt auf Sie zugegangen. Das war doch das Petitum, das die SPD eingebracht hat. Sie wollte auch die direkte Endlagerung. Das steht jetzt im Artikelgesetz: Die direkte Endlagerung kann genutzt werden. Wir haben nochmals deutlich gemacht — offenbar auch mit Ihrer Zustimmung —, daß direkte Endlagerung nicht heißt, daß man den Entsorgungsnachweis allein über bestehende Zwischenlager hat. Auch darüber sind wir uns doch einig. Wir haben allerdings dazu gesagt, daß wir in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht festhalten, daß ein Kernkraftwerk genehmigt und betrieben werden kann, ohne daß ein Endlager schon faktisch zur Verfügung steht, wenn es wenigstens Fortschritte in der Erkundung eines Endlagers gibt. Auch das steht so drin.Dann frage ich mich wirklich: Warum kann ein solches Gesetzespaket, das außerdem Sicherheit für Steinkohle bringt und das deutlich macht: Es gibt eine zweite heimische Energie, nämlich die Braunkohle, gerade in den neuen Bundesländern, abgelehnt werden? Ich möchte hinzufügen, daß wir die mit der Braunkohle verbundenen sozialen Probleme wirklich nicht nur kennen, sondern dort auch gehandelt haben.
Meine Damen und Herren, es kann nicht übersehen werden, daß wir mit Zustimmung und unter Mitwirkung der Gewerkschaft gegenwärtig etwa 16 000 Menschen in den Bereichen der Laubag und der Mibrag damit beschäftigen können, daß sie die unglaublichen Hinterlassenschaften des früheren Braunkohletagebaus in diesen Ländern aufräumen, daß dort saniert wird, daß dort neue Zukunftschancen geschaffen werden.
1,5 Milliarden DM für 16 000 Mitarbeiter in diesen Bereichen: Das hat etwas mit Zukunftsfähigkeit der neuen Länder und mit Arbeitsmöglichkeiten für die zu tun, die vorher in der Braunkohle gearbeitet haben. Das heißt, hier gibt es die Solidarität auch mit der Braunkohle. Sie muß weiter eingefordert werden, auch in der Verstromung. Ich war vor wenigen Tagen an der Schwarzen Pumpe und habe mir die neue Baustelle für das große Braunkohlekraftwerk angesehen. Ich glaube, der erste Spatenstich ist vom Ministerpräsidenten Brandenburgs, Herrn Stolpe, vorgenommen worden.
Es ist eine hervorragende Anlage, die da entsteht, mit Milliardeninvestitionen. Sie erreicht genau das, was wir wollen: mit modernster Technik aus der Braunkohle soviel Energie herauszuholen wie nur irgend möglich und Arbeitsplätze zu sichern und Zukunftschancen dort abzusichern. Das ist ein Gesamtkonzept, das durch unsere Bemühungen ergänzt wird, die erneuerbaren Energien in ihre Chancen hineinwachsen zu lassen.Welche großartigen Wirkungen so etwas wie das Stromeinspeisegesetz hat, sehen wir fast schon an den damit zusammenhängenden Reaktionen: Wenn ich heute in die norddeutsche Tiefebene komme, sehe ich einerseits, daß in großem Maße Windparks entstehen oder schon in Betrieb sind. Andererseits wird mir, wenn ich mit den dortigen EVUs spreche — den Energieversorgungsunternehmen —, zunehmend die Frage gestellt, ob es nicht bald möglich sein könnte, so etwas wie einen „Windenergiepfennig" zu bekommen, denn sie müßten eine zu hohe zusätzliche Belastung in dieser Region tragen. Aber das heißt doch, meine Damen und Herren: Offenbar ist die Windenergie unglaublich in Gang gekommen. Dann will ich nicht dauernd nur hören: Wir konzentrieren uns nur auf Kernenergie oder auf Kohle. Nein: Mit diesem Stromeinspeisegesetz haben wir die beste Förderung für regenerative Energien gemacht, die wir überhaupt jemals machen konnten.
Wir haben sie verbessert. Es ist doch gut, wenn wir dann Schritt für Schritt weitergehen.Zu mir sind die Waldbauern in Deutschland gekommen und haben gesagt: Lieber Herr Töpfer, mit Ihrem Papierrecycling machen Sie uns die Märkte für unser Schwachholz kaputt, weil wir dieses nicht mehr in die Papierherstellung einbringen können.
Herr Bundesminister, mein lieber Herr Töpfer, da Sie die freie Rede ausgezeichnet beherrschen, wird es Ihnen ja nicht allzu schwer fallen, nicht zuviel Redezeit von den nachfolgenden Koalitionsabgeordneten zu verbrauchen.
Nein. Herr Präsident, ich bin Ihnen herzlich dankbar. Ich habe das übersehen.
Ich möchte zum Schluß sagen: Dann lassen Sie uns doch den Schritt mit Holz machen. Das ist ein sinnvoller Schritt. Das heißt nicht, daß das der einzige ist. Lassen Sie uns auch bei diesem Schritt Übereinstimmung möglich machen; lassen wir die Zeit frei für weitere.
Ich danke Ihnen herzlich.
Bevor ich nun dem Abgeordneten Hans Georg Wagner zu einer Kurzintervention das Wort erteile, erteile ich ihm zunächst einmal einen Ordnungsruf für die Bemerkung an den Minister: „Der hat damals schon gelogen."
So, Herr Abgeordneter, vielleicht nehmen Sie die Gelegenheit wahr, sich zu entschuldigen und dann Ihre Kurzintervention zu machen.
Herr Präsident, es ist für mich ein neues Erlebnis, erfahren zu dürfen, daß man, wenn man die Wahrheit spricht, gerügt wird. Aber bitte, das ist Ihre Entscheidung, die ich nicht zu kritisieren habe.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19565
Hans Georg WagnerHerr Minister Töpfer, was wir Ihnen als Wortbruch vorwerfen, ist nichts anderes, als daß das Ergebnis der Kohlerunde 1991 nicht eingehalten wird. Es ging um das Jahr 2005. Sie haben eben vehement das Jahr 2000 verteidigt. Sie gehen von 7 Milliarden DM für das Jahr 1997 aus. Bei 35 Millionen sind das in der Tat 200 DM. Aber Sie haben keinen Inflationsausgleich in der Rechnung, so daß im Jahr 2000 bei einer geringen Inflationsrate von 2,5 % nur noch 6,3 Milliarden DM übrigbleiben. Die teile ich durch 3.5 Millionen, dann liege ich bei 173 DM. Damit sind sämtliche saarländischen Bergwerke geschlossen. Das ist Ihre Politik, Herr Töpfer, die Sie eben vehement verteidigt haben.Ein zweiter Punkt kommt hinzu. Sie wissen ganz genau, daß das Durchschnittsalter der Saarbergleute bei 32 Jahren liegt. In sechs Jahren sind die 38. Ich kann mir keinen Sozialplan vorstellen, der schon 38jährige in den Vorruhestand schickt. Also heißt das: Entlassungen. Sie programmieren mit Ihrer Entscheidung, mit Ihrer vehementen Verteidigung heute, daß sich im Saarland die Arbeitslosigkeit verdoppelt. Das ist Ihre Strategie. Es tut mir leid: Die mache ich nicht mit.
Der Redner hat laut Geschäftsordnung durchaus das Recht, auf eine Kurzintervention eine Replik zu geben. Das Recht haben Sie jetzt. Bitte sehr, Herr Minister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich mache nur zwei knappe Anmerkungen.
Erstens. Offenbar kann sich der Kollege gar nicht vorstellen, daß auch im Saarbergbau Produktivitätsfortschritte in der Zukunft verwirklicht werden.
Ich vertraue auf die saarländischen Bergleute, daß sie ihre Produktivitätssteigerungen — wie in der Vergangenheit — weiterführen werden.
Deswegen werden sie das auch in hohem Maße ausgleichen können.
Zweitens. Meine Damen und Herren, offenbar kennzeichnet es Ihre Vorstellungen, Herr Kollege Wagner, von dem Einfallsreichtum der saarländischen Strukturpolitik, wenn Sie der Meinung sind, daß Mittel, die auch zur Strukturveränderung dieses Landes bereitgestellt werden und neue Arbeitsplätze schaffen sollen, dort nicht genutzt werden können. Dann haben Sie recht. Dann hätten Sie Arbeitslosigkeit. Bei meiner Politik wird das nicht der Fall sein, sondern es gibt eine moderne Struktur im Saarland. Darum geht es.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dietmar Schütz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Töpfer, Sie haben gerade den energiepolitischen Konsens wieder eingefordert. Ich halte das natürlich nach wie vor für richtig. Aber wenn Sie jetzt auf die Energiediskussion noch ein Artikelgesetz im Atomrechtsbereich draufsatteln, so schlagen Sie doch die Tür zu einem energiepolitischen Konsens wieder zu, und zwar dadurch, daß Sie eine Diskussion über einen sehr kleinen Ausschnitt führen, ohne das mit uns abzustimmen, ohne daß wir im Rahmen dieser Konsensdiskussion einen entsprechenden Artikel in diesem Gesetz finden. Das führt zu einer Klimaverschlechterung, die Sie in Kauf nehmen. — Sie hören jetzt gar nicht zu, insofern rede ich vergeblich.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Hinsken möchte Ihnen gern eine Frage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Ja.
Dann bitte schön.
Herr Kollege, ich schätze, Sie haben sich ja jetzt, zu Beginn Ihrer Rede, sehr gut auf das eingelassen, was vorher gesagt worden ist. Deshalb die Bitte an Sie, doch zur Kenntnis nehmen zu wollen, daß wir über den Konsens bezüglich Kohle und Kernenergie schon seit vielen Jahren reden.
Deshalb die Frage an Sie: Haben Sie das bisher zur Kenntnis genommen? Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen? Was wollen Sie in Zukunft tun? Das war die Frage.
Ich schließe daraus, daß es vernünftiger ist, daß Sie nicht den Torso einer Atomrechtsnovelle vorlegen, bestehend aus zwei Artikeln, sondern das, was sich der Umweltminister früher einmal vorgenommen hatte, nämlich eine umfangreiche Novellierung, die auch mit den Oppositionsparteien — den Noch-Oppositionsparteien — zusammen diskutiert wird. Was Sie jetzt machen, ist überflüssig, weil Sie nämlich die Tür wieder zuschlagen und keinen Konsens mehr eröffnen.
Meine Damen und Herren, die Diskussion zu dieser Novelle ist also aus dem Grunde, daß Sie nämlich keinen Konsens eröffnen, kontraproduktiv; sie ist aber auch aus anderen Gründen kontraproduktiv.Die Diskussion zu dem Atomgesetz mit seinem ungebrochenen Förderzweck bewegt sich eigentlich nur an einer schmalen Stelle. Ich halte es für viel zu kurz gegriffen, wenn man nur die Genehmigungsgrundsätze rausgreift.
Metadaten/Kopzeile:
19566 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dietmar SchützWir haben, wie Sie wissen, schon 1987 ein Kernenergieabwicklungsgesetz vorgelegt, um diese absolut verkürzte Diskussion umfangreicher führen zu können. Ich meine, es ist unklug, wenn wir nur so verkürzt diskutieren. Ich sage Ihnen nichts Neues, was die Positionen der Sozialdemokratie angeht, wenn ich betone, daß wir an dem Ziel des Ausstiegs aus der Kernenergie festhalten, weil immer noch gilt und weiter gelten wird, daß Reaktorkatastrophen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, daß die Entsorgung des Atommülls weltweit weiterhin nicht gesichert ist und daß die Gefahren durch Anhäufung und Handel mit waffenfähigem Kernbrennstoff wachsen.Nach Tschernobyl, meine Damen und Herren, dessen achten Jahrestags wir in dieser Woche gedacht haben, erscheint für eine große Zahl von Bürgern die Inkaufnahme atomarer Risiken nicht mehr begründbar.Nun wollen einige Interessierte — Herr Minister Töpfer hat vorhin ebenfalls darauf hingewiesen — diese feste Haltung mit dem Argument aufbrechen, daß diese Risiken dann begründbar und verantwortbar seien, wenn damit noch größere Risiken ausgeschlossen werden können.Die drohende Klimakatastrophe und die Akkumulierung von CO2 in der Atmosphäre werden verstärkt als ein Hauptargument für die Atomenergie genutzt. Macht es Sinn — frage ich mich — im Zuge einer Risikoabwägung oder einer Risikostreuung den Atompfad weiter auszubauen? Wir haben darauf geantwortet: Es macht überhaupt keinen Sinn. Es macht keinen Sinn, ein lebensbedrohendes Risiko durch ein anderes zu ersetzen. Innerhalb eines großtechnischen Energiesystems mit Atomenergie besteht nicht die Wahl zwischen einem größeren oder weniger großen Risiko. Es besteht vielmehr eine systemimmanente Tendenz zur Risikoakkumulierung, wenn wir dort weitergehen.Nicht trotz, sondern gerade wegen einer effektiven Klimaschutzpolitik muß aus der Atomenergie ausgestiegen werden. Das klingt paradox. Der scheinbare Widerspruch löst sich aber auf, wenn man ehrlich die Chancen zur Nutzung von Energiesparen und dem Ausbau alternativer Energien und auch der Sonnenenergie betrachtet.Das kostet alles sehr, sehr viel Geld. In diesem Kontext muß man die bisher sehr einseitige Bindung von Kapital, Forschungskapazität, wissenschaftlicher Bildung und auch beruflicher Karrieren an die Atomenergie betrachten.Von 1974 bis 1991 flossen 20 Milliarden DM an öffentlichen Forschungs- und Fördermitteln in die Kernenergie. Wenn man die Jahre weiter zurückblickt, sind es über 20 Milliarden. In die Kernfusion flossen 2,5 Milliarden DM, während kümmerliche 2,8 Milliarden DM in die Erforschung regenerativer Energien gingen. Das ist nicht einmal ein Zehntel.Wenn man das ansieht — darüber kann man gar nicht streiten —, so binden doch diese Kosten die Fähigkeit, auf anderen Gebieten etwas vernünftiger und risikoloser zu erreichen, als auf diesen Wegen immer weiterzumachen. Das ist nicht Vergangenheit, Herr Minister, das ist Fortsetzung dieser Politik.Ein klarer Wechsel in den Kapitalflüssen, ein klarer Wechsel in der öffentlichen Forschungspolitik, in der Ausrichtung beruflicher Karrieren und auch in der ideologischen Fixierung auf die Kernkraft ist dringend erforderlich. Der Themenwechsel hin zum Energiesparen, zur Effizienzsteigerung auch in der Kohleverstromung und zu regenerativen Energien kann nur erfolgreich sein, wenn alle diese Kräfte nicht länger durch die politisch einseitig geförderte Großtechnologie Atomkraft gebunden bleiben.Der Ausbau des Atompfades ist kein Beitrag zur Bekämpfung der wachsenden Klimaproblematik. Er ist zu teuer, dauert zu lange und verschärft die schon heute unvertretbaren Risiken der Kernenergie.
Kann man aber — so frage ich mich —, wenn wir die gerade aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen einmal hintanstellen, gleichwohl mit der von der Bundesregierung hier vorgelegten atomrechtlichen Vorstellung, mit dem atomrechtlichen Torso leben? Ist er wenigstens systemimmanent akzeptabel und eine Verbesserung? Meine Antwort darauf ist auch: Er ist es nicht.Die Formulierungen des Regierungsentwurfs verwirren eher und machen die rechtliche Lage unklarer, weil sie den Verdacht von zweierlei Sicherheitsstandards für Alt- und Neuanlagen aufkommen lassen. Bereits jetzt verlangen Gesetz und höchstrichterliche Rechtsprechung, daß Schäden durch die Errichtung und den Betrieb einer kerntechnischen Anlage praktisch ausgeschlossen sind. Das Kalkar-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1978 spricht davon, daß jenseits dieser Schwelle der praktischen Vernunft Ungewißheiten ihre Ursachen in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens haben.Offensichtlich ist es der Bundesregierung gelungen, jenseits dieser Grenzen der praktischen Vernunft vorzudringen; denn bis zu dieser Schwelle muß ja bereits heute eine Anlage sicher sein. Wie kann denn eine Anlage noch sicherer werden, wenn sie schon nach der jetzigen Rechtsprechung bis zur Schwelle der praktischen Vernunft sicher sein muß! Die von der Bundesregierung gewählte Formulierung legt es nahe, bestehende Anlagen dann nicht mehr dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik anzupassen. Es wird ein versteckter Altanlagen-Bestandsschutz eingeführt, der den ergänzenden gesetzlichen Genehmigungstatbestand des Atomgesetzes gefährlicher macht als den alten.Die Gefahr der Festschreibung der Ist-Standards der Altanlagen in dem Sinne, daß im Bereich der Risikovorsorge nicht nachgerüstet werden muß, steht ganz eindeutig im Widerspruch zum Verfassungsgrundsatz des dynamischen Grundrechtsschutzes.
— Ich glaube das, weil diese Unterscheidung nicht machbar ist. Sie können doch nicht heute schon kein Risiko haben dürfen und dann plötzlich darüber hinausgehen. Das macht keinen Sinn und kann nur verwirren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19567
Dietmar SchützIn der Formulierung des Regierungsentwurfs wird versucht, das Trugbild eines „Inhärent sicheren Reaktors" vorzugaukeln, der spätestens am Zaun des Reaktorgeländes nicht mehr gefährlich ist. Wir können hier keine Unterscheidung zwischen diesem vorgegaukelten Reaktor und den vorhandenen Reaktoren machen. Wir dürfen einen Unterschied nicht zulassen, meine Damen und Herren. Deswegen lehnen wir dies ab.Schlimm finde ich auch, daß mit der Formulierung „Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit" der Drittschutz des Bürgers, des Nachbarn, ausgeschlossen wird. Er kann sich gegen derartige Anlagen nicht wehren. Wir haben keine Möglichkeit, den Rechtsschutz auszubauen. Diesen verkürzten Bürgerschutz habe ich schon immer gegeißelt, und ich tue es auch hier.Eine Änderung des § 9, der jetzt eine parallele Entsorgung zuläßt, findet auch nicht unsere Zustimmung. Wir lassen keinen Zweifel daran, daß wir für eine direkte Endlagerung sind und das für den einzigen akzeptablen Entsorgungsweg halten.
Wir lehnen es deswegen ab, Herr Töpfer, weil wir nur direkte Endlagerung wollen und nicht dieses Wahlrecht zwischen Wiederaufbearbeitung und direkter Endlagerung.
Sie sind doch schon einmal mit der Wiederaufarbeitung in Wackersdorf gescheitert. Warum wollen Sie das alles offenlassen, wenn wir wissen, daß sogar die Industrie die Wiederaufarbeitung für viel zu teuer hält und damit kokettiert, das möglicherweise auch nicht mehr zu machen.Im übrigen haben wir immer darauf hingewiesen, daß die Plutoniumanhäufung eine gefährliche Situation auch für die Sicherheitsorgane unseres Staates schafft. Eine massive Plutoniumwirtschaft ist mit den Prinzipien eines liberalen Rechtsstaates nicht vereinbar.Aus all diesen Gründen müßten wir ausschließlich in die direkte Endlagerung einsteigen und dürften nicht diesen Doppelweg aufzeigen.Ich will an dieser Stelle meine Genugtuung darüber nicht verhehlen, daß die CDU — Gott sei Dank, muß ich sagen — ihren geplanten Antrag einer längerfristigen Zwischenlagerung aufgegeben hat und jetzt klar ist, daß der Entsorgungsnachweis nur durch die Endlagerung erbracht ist. Dieses Wackeln ist nun überwunden, und ich freue mich, daß Sie diesen Antrag nicht gestellt haben. Wir können es ja nicht unterstützen, wenn Sie so etwas machen; aber es ist richtig.Die Anhörung zum Atomgesetz hat nämlich praktisch ergeben, daß wir, wenn wir mit der längerfristigen Zwischenlagerung weitermachen würden, alle fünf Jahre ein Zwischenlager bauen müßten. Das ist nicht hinnehmbar, weil wir viel zuviel an Atommüll in der Landschaft aufhäufen. Das werden wir nicht akzeptieren.Meine Damen und Herren, wir wollen diesen Novellierungstorso zum Atomgesetz nicht unterstützen. Statt dieses Torsos brauchen wir ein Kernenergieabwicklungsgesetz, das auf der Grundlage der von mir aufgezeigten Prinzipien eingebracht wird. Wir werden das in der nächsten Wahlperiode wieder tun.Wir werden das Artikelgesetz der Bundesregierung ablehnen, weil es falsch ist.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Johannes Nitsch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Menschen und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern interessiert am meisten, wie es mit dem Strompreis weitergeht. Sie wissen, daß der Strompreis in Ostdeutschland schon jetzt höher ist als in den alten Ländern, obwohl wir bis Ende 1995 keine Verstromungsabgabe zahlen. Gründe dafür könnten die schlechten Wirkungsgrade der Kraftwerke und Übertragungsanlagen, die erforderlichen umweltbedingten Nachrüstungen und der starke Rückgang des Energieverbrauchs bei gleichbleibenden Fixkosten sein. Die Brennstoffkosten werden es kaum sein, denn die ostdeutsche Braunkohle ist ohne Subventionen wettbewerbsfähig. Aber auch die Investitionen in neue Kraftwerke und Stadtwerke werden bis zum Jahre 2005 45 bis 55 Milliarden DM betragen, was letztendlich auch auf den Strompreis durchschlägt.Im Zusammenhang mit der Festlegung der Verstromungsabgabe für 1996 war es deshalb wichtig, die Höhe des derzeitigen Strompreises in den neuen Bundesländern in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Die Regierungen der neuen Länder haben sich entschieden gegen die Einführung gewandt. Da aber eine Nichteinführung des Kohlepfennigs verfassungsrechtlich nicht zulässig ist, hat die Koalition nach der ersten Lesung dieses Gesetzes als politisches Ziel ein gleiches durchschnittliches Strompreisniveau in den alten und neuen Bundesländern festgelegt.Deshalb heißt es in § 4 des Art. 2 des heute zur Verabschiedung vorliegenden Gesetzes — ich zitiere —:Für das Beitrittsgebiet wird die Verstromungsabgabe als Übergangsregelung auf 4,25 vom Hundert der Bemessungsgrundlagen nach Absatz 3 festgesetzt. Sollte diese Festlegung im Ergebnis zu einem im Vergleich zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach dem Stand bis zum 3. Oktober 1990 unterschiedlich hohen durchschnittlichen Strompreisniveau führen, hat die Bundesregierung diesen Prozentsatz durch Rechtsverordnung bis zum 31. Dezember 1995 zu ermäßigen oder zu erhöhen.Diese Bedingung wird leider in den Pressemeldungen, die mir gestern vorgelegt worden sind, immer weggelassen. Deshalb will ich dies hier ganz besonders betonen.
Metadaten/Kopzeile:
19568 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Johannes NitschDamit besteht erstens die Gewähr — das halte ich für eine äußerst wichtige Feststellung —, daß die Entwicklung des Strompreises in Ostdeutschland von Interesse für ganz Deutschland bleibt. Denn die Speisung des Fonds für die Steinkohleverstromung wird bei weiter steigenden Strompreisen in Ostdeutschland nicht in vollem Umfange möglich sein. Außerdem habe ich die Hoffnung, daß damit die Strompreise im Laufe der Zeit etwas transparenter werden.Es drängt sich die Frage auf, ob die bisherigen gesetzlichen Möglichkeiten nach dem Energiewirtschaftsgesetz und nach dem Kartellrecht in einem Bereich, der dem Wettbewerb weitgehend entzogenausreichen. Auch Minister Rexrodt hat auf diesen Punkt ganz kurz hingewiesen.Ein Schritt in die richtige Richtung ist, daß zukünftig die neuen Länder Sitze mit Gaststatus im Aufsichtsrat der VEAG erhalten sollen. Vielleicht könnte man dort noch etwas weitergehen und zumindest einen Sitz mit Stimmrecht ausstatten.Sehr erstaunt haben mich jedenfalls die Zahlen, die im Zusammenhang mit der Privatisierung der VEAG genannt wurden. Daß 50 % des Verkaufspreises aus dem Verkaufsobjekt selbst kommen, ist doch bemerkenswert. Welche Rolle hat der bisherige Strompreis für die Bildung dieser Rücklagen gespielt? Das ist aber nicht unser heutiges Thema.Das zeigt jedoch: Der erzielte Kompromiß zur Verstromungsabgabe führt zu einer wirtschaftlichen Analyse der Preisbildung und nicht zu einer ideologischen Ost-West-Energiedebatte. Das war das Ziel, das wir uns in der ersten Lesung gestellt hatten, und ich glaube, wir haben es erreicht.
Ich erteile das Wort dem Minister für Wirtschaft des Saarlandes, Herrn Reinhold Kopp.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Herr Kollege Töpfer wie vor ihm schon Graf Lambsdorff auf den historischen Energiekonsens rekurriert, dann sollte er keine Geschichtsklitterei betreiben.
Helmut Schmidt hat den historischen Energiekonsens einmal kurz zusammengefaßt: So viel Steinkohle wie möglich und so viel Kernenergie wie nötig.
Aber in diesen 20 Jahren ist die heimische Steinkohle der einzige Energieträger gewesen, der an Marktanteilen abrupt verloren hat, während die Kernenergie dazugewonnen hat.
Sie haben in immer schneller folgenden Kohlerunden — 1987, 1989, 1991 — der Steinkohle noch nicht einmal das betriebswirtschaftlich notwendige Maß an Anpassungszeit gegeben, sich auf diesen Prozeß einzustellen.
Deshalb ist das keine Aufkündigung des Energiekonsenses von seiten der SPD gewesen, sondern von Ihrer Seite. Sie haben nämlich die Geschäftsgrundlage für die Steinkohle entzogen. Das Artikelgesetz jetzt ist im Grunde genommen der Einstieg in den Ausstieg aus der Steinkohle. Es ist im Grunde genommen die Architektur eines Auslaufbergbaus, was dieses Gesetz kennzeichnet.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage, die der Abgeordnete Lammert stellen möchte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Minister, halten Sie es für überhaupt vorstellbar, daß der von Ihnen vorhin zitierte Altbundeskanzler Helmut Schmidt bei der Formulierung „so viel Steinkohle wie möglich" gemeint haben könnte: so viel wie förderfähig, völlig unabhängig von den Förderkosten und den Differenzen zu den jeweiligen Energieweltmarktpreisen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich stelle fest, daß es in Zeiten von Helmut Schmidt jedenfalls nie die Probleme für die deutsche Steinkohle gegeben hat, die wir haben, seit die jetzige Koalition die Bundesregierung stellt.
Wenn ich das Artikelgesetz aus der Sicht eines Revierlandes würdige, dann muß ich feststellen, daß es eine vertane Chance ist, zu einem föderalen Energiekonsens über die heimischen Energieträger, nämlich über Braunkohle und Steinkohle, über Energieeinsparung und erneuerbare Energie zu kommen.Herr Kollege Töpfer, die Beratungen sind gerade nicht dazu genutzt worden, Einvernehmen über die Fragen herzustellen, bei denen es in greifbarer Nähe gewesen ist.Was Sie hier zu den erneuerbaren Energien gesagt haben, ist für einen Umweltminister doch sehr bescheiden. Diese formale Öffnung des Stromeinspeisegesetzes reguliert doch nur das, was tatsächlich schon erfolgt. Das machen doch schon alle Energieversorgungsunternehmen.
Das ist doch nicht etwa mit dem zu vergleichen, was wir im Hinblick auf die Markteinführungsprogramme für erneuerbare Energien im Hinblick auf technologische Effizienz und technologische Weiterentwicklung für erneuerbare Energien vorgeschlagen haben. Ich finde das sehr bescheiden.Meine zweite Bemerkung zum Artikelgesetz: Das Artikelgesetz bleibt ein Überschriftenungetüm, das den Wortbruch in der Kohlerunde 1991 verdecken soll und das den Einsatz heimischer Steinkohle sachfremd mit der unbefristeten Standortgarantie für Kernkraftwerke verknüpft.Wenn Sie uns hier den Vorwurf machen, daß der Bundesrat einen Gegenentwurf dazu bisher nicht vorgelegt hat, darf ich zunächst einmal daran erin-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19569
Minister Reinhold Kopp
nern, daß der Bundesrat im ersten Durchgang dieses Artikelgesetz fast einhellig abgelehnt hat.Man muß nicht stolz darauf sein, daß das aus unterschiedlichen Gründen geschehen ist. Es war eine Notwendigkeit, weil Ihr Artikelgesetz ja so angelegt ist, meine Damen und Herren, daß es eine klassische Aufspaltung der Interessen der Bundesländer vornimmt, daß es im Grunde genommen in einem Gesetzespaket unvereinbare Positionen miteinander verknüpft, die denjenigen, die ihm zustimmen sollen, nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera lassen. Ich glaube, das ist ein Verfall politischer Kultur, auch in der Gesetzgebungstechnik.
Der Gegenentwurf der beiden Kohleländer, der bei vielen Nichtkohlerevieren Unterstützung gefunden hat, ist ja noch nicht vom Tisch. Aber solange Sie natürlich über diese klassische Aufspaltung der Interessen Signale aussenden — etwa an die neuen Bundesländer, daß es nicht angetan ist, diesen Gesetzentwurf zu unterstützen, weil Sie ja nicht wollen, daß aus der Energiesteuer auch neue Mittel etwa für die Braunkohle kommen können, indem wir der Braunkohle den Wärmemarkt erschließen —, gibt es doch für die neuen Bundesländer überhaupt keinen Anlaß, unseren Energieentwurf im Bundesrat zu unterstützen.Ähnliches gilt natürlich für die Bundesländer, die an einem Aufkommen für die Förderung erneuerbarer Energien interessiert sind. Erst wenn Sie hier signalisieren, daß Sie eine verläßliche Finanzierungsgrundlage für die gemeinsame deutsche Energiepolitik, für die heimischen Energieträger mitzutragen bereit sind, wird es im Bundesrat auch eine deutliche Mehrheit für den Entwurf der beiden Revierländer geben.Statt dessen bringt das Artikelgesetz aus der Sicht der Revierländer den sicheren Weg in den Auslaufbergbau. Ich möchte das kurz begründen:Finanzplafondierung ohne Klarheit über die Mittelbeschaffung gefährdet nicht nur das fest vereinbarte Mengenziel der Verstromung, es bringt auch keine Planungs- und Investitionssicherheit für die Bergbauunternehmen.
Sie gefährden nämlich nicht nur die Fortführung der etwa im Saarbergbau seit 1980 erreichten realen Kostenkonstanz, sondern Sie gefährden geradezu die Verbesserung dieser Kosten durch die Optimierungskonzepte, für die ja bereits hohe Vorleistungen im Vertrauen auf den Kohlekompromiß 1991 unwiderruflich in die Erde vergraben worden sind.
Da die Optimierungsmodelle, Herr Faltlhauser, ja an der Effizienzgrenze ansetzen, gefährden Sie auch die Liquidität und die Existenz der Bergbauunternehmen.
Herr Minister, der Herr Abgeordnete Töpfer möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Kopp, dürfte ich Sie fragen, ob es Ihnen möglich ist, diese Aussage über die reale Kostenkonstanz im Saarbergbau auch mit dem Kollegen Wagner abzustimmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich befinde mich mit Herrn Wagner durchaus in Übereinstimmung.Aber Sie hatten ja vorhin das Argument mit den Produktivitätsfortschritten eingebracht. Doch Produktivitätsfortschritte müssen nicht nur reale Kostenkonstanz gegenüber Inflation und Währungsrisiken und vielen anderen Risiken erwirtschaften, sondern man muß natürlich auch an die allgemeine Kostensteigerung denken. Oder wollen Sie die Bergleute für alle Zeit von Lohnerhöhung en ausnehmen?
Das wird ja wohl keiner machen.Ich glaube, daß dieses Artikelgesetz auch kein Vertrauen für den Steinkohlebergbau schafft. Ganz im Gegenteil. Die Finanzierung ausschließlich für das Jahr 1996, die Verschiebung der Entscheidung über die Finanzierungsinstrumente hinter die Bundestagswahl werden vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen mit nicht eingehaltenen Zusagen aus früheren Kohlerunden gerade nicht das dringend notwendige Signal für langfristige Anschlufiverträge in den Energieversorgungsunternehmen geben. Deshalb kommen diese Verhandlungen, die ja Anschlußverträge über die Jahrtausendwende hinweg erbringen sollen, derzeit nicht voran.Ich sage das auch für die spezifische Situation der Saarbergwerke, die ja eigene Kraftwerke betreiben. Die Investitionen für den Kraftwerksneu- und -ersatzneubau bleiben einseitig im Risiko von Saarberg. In diesem Sinne ist das Artikelgesetz Steine statt Brot für leistungsfähige und leistungswillige Bergleute und für umstrukturierungswillige Unternehmen sowie für die vom Strukturwandel stark gebeutelten Regionen.Ich bleibe dabei: Energiepolitik ist nationale Verantwortung und keine Spielwiese für Finanzmogeleien zu Lasten der Bergbauunternehmen und der Montanreviere.
Die Verantwortung für Energieversorgungssicherung — und ich sage: auch für Wettbewerbsfähigkeit im Sinne der Standortdiskussion — kann man nicht der Energiewirtschaft allein überlassen. Insofern werte ich die Krokodilstränen, die hier über das Strompreisniveau etwa von Frankreich vergossen werden, im Grunde genommen als eine Ablenkungstaktik. Wenn Sie die Frage der Standortqualität wirklich unter Wettbewerbsgesichtspunkten diskutieren wollten, dann sollten Sie nicht auf Frankreich, sondern auf Dänemark hinweisen. Dort sind die Strompreise nämlich noch um ein Drittel günstiger als in Frankreich; und dort steht kein Kernkraftwerk, sondern sie machen das auf der Basis von Importkohle.Deswegen meine ich: Wettbewerb kann nicht über die Kernenergie geschaffen werden, Herr Kollege Töpfer. Wettbewerb muß man herstellen, indem auch
Metadaten/Kopzeile:
19570 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Minister Reinhold Kopp
auf der Energieerzeugerbasis Wettbewerb geschaffen wird. Im Gegensatz dazu schafft das Deregulierungsgesetz, das Herr Rexrodt vorhat, nur auf der Verteilerebene Wettbewerb und leistet damit der Monopolisierung der Energieversorgungsstrukturen Vorschub, weil es die Meinen Stadtwerke sowie die regionalen und lokalen Energieerzeuger benachteiligt.
Deshalb plädiere ich dafür, zu versuchen, diesen föderalen Interessensausgleich auf der Basis der heimischen Energieträger zustande zu bringen.Ich weiß, daß in manchen Nichtkohleländern in der Plafondierung von Kohlebeihilfen sympathisiert wird. Dabei wird aber meist verkannt, daß die vereinbarte schrittweise Mengenreduzierung, verbunden mit dem Kostenminderungsdruck des neuen europäischen Beihilferegimes, ohnehin einen degressiven Trend der Beihilfen vorzeichnet. Eine zusätzliche nationale Plafondierung des Beihilfevolumens verlagert auch die nicht prognostizierbaren Größen, wie die Währungsrelationen, die Inflation und die Weltmarktrisiken, auf den Bergbau, der mit den Problemen der Stahlkrise und dem damit verbundenen Nachfragerückgang bei der Kokskohle schon erhebliche Fördereinbußen verkraften muß.Bergbau, der im Gegensatz zur Auffassung einiger unserer westlichen Nachbarländer bei uns lebendig und nachhaltig sein muß, kann dies nicht verkraften. Deshalb bitte ich, daß Sie den Mut haben, dies den Bergleuten offen zu sagen, statt hier den Eindruck zu erwecken, man könnte das Geld zweimal ausgeben: für die Förderkosten der heimischen Steinkohle und für die Umstrukturierung der Revierländer. Das ist dasselbe Geld, nicht etwa zusätzliches, über das Sie verfügen.Vielen Dank.
Herr Kollege Klaus Lippold, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister, es ist schon erstaunlich, daß Sie sagen, Energiepolitik sei eine nationale Aufgabe, und sich dann um den nationalen Standort Deutschland überhaupt nicht mehr kümmern, daß Sie als Wirtschaftsminister weder auf Innovationen noch auf schlanke Produktion noch auf Deregulierung noch auf Kostensenkung eingehen, sondern nur jammern, alles müsse so bleiben, wie es ist, man dürfe nur ja nichts tun, und meinen, wenn Sie das vertreten, müßten Sie noch gelobt werden, weil Sie an den bisherigen Regelungen unbeirrt festhalten.
Ich sage Ihnen: Das geht so nicht.
Herr Minister, wir müssen sehen, daß die Kohleförderung in den neuen Bundesländern ganz dramatisch zurückgenommen wurde. Wir können dort nicht zusagen, mit den Milliarden, die wir für den Steinkohlebergbau weiter zugesichert haben, dort einzuspringen. Machen Sie sich einmal klar, was das bedeutet, was Sie den Kumpels drüben zumuten, um hier nichts tun zu müssen. Um Ihre Worte einmal deutlich zu übersetzen: Wir tun nichts, wir lassen alles beim alten, wir wollen nur das Geld! — So geht es eben nicht. Das muß man ganz deutlich sagen. So nicht, Herr Minister!
Wir können nicht den einen etwas zumuten, während sich die anderen zurücklehnen und die Hand aufhalten, ohne nachzudenken.
Dies ist ja eine Debatte, und deshalb soll man hier keine vorbereiteten Reden ablesen.
Zu Ihnen, Herr Kollege Schütz. Sie spekulieren auf die Angst mit Tschernobyl. Das ist genau das richtige Stichwort. Wer etwas für die Verbesserung der Kernkraftsicherheit tun will, muß diesem Gesetz zustimmen, das sich an die Spitze der internationalen Bewegung setzt, das unseren international fortschrittlichsten Standort noch weiter voranbringt. Wir stehen an der Spitze der Sicherheitstechnik. Wer will, daß in den osteuropäischen Ländern nichts in die Luft geht, muß diese erprobte und bewährte Sicherheitstechnik weiter ausbauen, muß Kernkraft weiterführen, damit wir in die anderen Länder der Erde Sicherheit liefern können. Nur so erhalten wir die Sicherheit, die wir brauchen.
Dagegen hilft keine Polemik.
Ich sage Ihnen noch einmal ganz deutlich, Herr Schütz: Sie sind im Gegensatz zu den GRÜNEN doch unglaubwürdig. Wenn die Kernkraft verantwortbar ist, dann können Sie ja dazu sagen. Sie können hier aber nicht die Kernkraft als Risiko hinstellen, sich dann aber um die Konsequenz herummogeln und sagen: Wir halten es doch noch länger. Sie geben auch dort keine klaren Antworten. Sie wollen denjenigen, die in den Kernkraftwerken und in der Zulieferindustrie arbeiten, einen Hoffnungsschimmer lassen, polemisch, wie Sie sind, weil Sie Angst vor klaren Aussagen haben.
Da lobe ich mir die GRÜNEN. Sie sagen deutlich: Wir machen die Arbeitsplätze in der Kernkraftindustrie kaputt. Aber Sie mogeln sich um diese Aussage herum. Das müssen wir Ihnen ganz deutlich sagen.
Herr Kollege Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schütz?
Gerne.
Herr Kollege Lippold, worin besteht denn der Unterschied zwischen dem sehr progressiven Sicherheitsstandard, den wir jetzt schon haben und bei dem wir in der Welt führend sind, und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19571
Dietmar Schützdem Zustand, den wir erreichten, wenn wir das in der Novelle Vorgesehene zusätzlich täten? Können wir auf den Sicherheitsstandard, den wir bereits jetzt haben, überhaupt noch etwas draufsatteln? Müssen wir nicht schon jetzt an der Spitze des Standards sein? Was kann noch draufgesattelt werden, was wir nicht schon haben?
Ich kann Ihnen diese Frage sehr konkret beantworten. Wir haben das höchste Sicherheitsniveau der Welt. Wir sind gerade dabei, auf der Basis der internationalen Diskussion in der Wissenschaft Schutzziele festzuschreiben, die über das Höchstniveau noch hinausgehen.
Das liegt, wie mir die Experten in der Anhörung gesagt haben — das haben Sie hier falsch dargestellt—, jenseits der praktischen Vernunft. Wir gehen so weit, daß es mit praktischer Vernunft schon nicht mehr erklärbar ist.Ich will auch folgendes deutlich machen. Frau Kollegin Enkelmann, es geht wirklich nicht, daß ausgerechnet diejenigen über Tschernobyl schwadronieren, die uns als SED-Mitglieder zusammen mit den anderen kommunistischen Parteien im Ostblock diese Sicherheitsprobleme eingebrockt haben. Diejenigen, die damals daran mitgewirkt haben, sind die Falschen, um sich heute hier hinzustellen und zu erklären: Wir wollen noch mehr Sicherheit.
Die SED-Nachfolgepartei ist wirklich die letzte, die das machen kann.Hier wurde auch die Klimadiskussion angesprochen. Fest steht — es ist ja eine niedersächsische Enquete-Kommission, die das erarbeitet hat —: Ihre Politik führt geradewegs in die Klimakatastrophe. Mit Ihrer Ausstiegspolitik bereiten Sie den Weg dafür, daß schädliche Treibhausgase verstärkt in die Atmosphäre abgegeben werden, was zur Beschleunigung des Prozesses beiträgt.Ich zitiere hier doch nicht die Ergebnisse von Untersuchungen, die wir in Auftrag gegeben haben, sondern es handelt sich um die Ergebnisse von Untersuchungen, welche die niedersächsische Landesregierung in Auftrag gegeben hat.
Man muß einmal ganz deutlich sagen: Sie erhöhen den Kohlendioxidausstoß und tragen damit zur Gefährdung des Klimas bei. Gleichzeitig wollen Sie sich hier so darstellen, als wären Sie die eigentlichen Klimaschützer.Greenpeace behauptet, durch die Kernkraftwerke entstünden zusätzliche Belastungen. Ich bin Vorsitzender der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre". Dort sind die exzellentesten Wissenschaftler dieser Republik versammelt. Sie sagen klipp und klar zu dem, was der BUND in diesem Zusammenhang verlautbart hat: Das ist Quatsch. Das sagen alle Wissenschaftler, auch diejenigen, die von Ihnen benannt wurden. Damit will ich deutlich machen, daß es sich nicht um eine parteiliche Aussage handelt.Ich möchte auf ein weiteres eingehen, das ich für sehr wichtig halte. Ich glaube, daß wir deutlich machen müssen, daß in Zukunft die Wettbewerbsfähigkeit, die ich vorhin schon angesprochen habe, international hergestellt werden muß. Deshalb können wir auch nicht sagen, daß wir auf ewig Subventionen festschreiben. Der Standort Deutschland läßt dies nicht zu.Nun kann man sagen, die Wettbewerbsfähigkeit im Energiebereich sei nicht allein entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Sie ist aber mit entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Deshalb können wir nicht einen Bereich in diesem Umfang subventionieren.Wenn wir die Aufgabe haben, in den anderen Bereichen zukunftsweisende Technologien, alternative Technologien, regenerative Energien zu fördern, dann können wir nicht hierbei stehenbleiben. Das geht einfach nicht. Wenn wir Spielraum haben wollen, um in die neuen regenerativen Energien einsteigen zu können, dann müssen wir an anderer Stelle einsparen und können nicht gegebene Bestände ewig ausbauen.Ich will auch folgendes deutlich sagen: Wir würden damit in der Bundesrepublik Deutschland einen Berufungsfall schaffen. In jedem Fall, in dem die Unternehmen gezwungen sind, ihren Standort zu schließen, könnten sich diese darauf berufen, daß wir in anderen Bereichen der Wirtschaft Garantien über Jahrzehnte geben, diese Garantien nicht befristen und erklären: Ihr habt ewigen Bestandsschutz, ohne daß ihr etwas tun müßt.Mit welcher Begründung soll ich denn Arbeitnehmern abschlagen, daß an ihrem Standort nicht gefördert wird, während Sie den kompletten Schutz — unangetastet — fordern, ohne daß Sie bereit sind, darüber nachzudenken, wie man die Situation verbessern kann? Nein, da muß ich ganz deutlich sagen: Nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes — wenngleich auch aus Gründen des Umweltschutzes —, sondern auch aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland muß dieses Energie-Artikelgesetz hier verabschiedet werden. Es ist eine gute Basis.Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es ist auch eine Basis für die Fortführung der Gespräche mit Ihnen. Denn wenn bei Ihnen erst einmal die Wahlkampfarithmetik in diesem Superwahljahr heraus ist, dann werden Sie im Gespräch mit Ihren Ministerpräsidenten zu einer gemeinsamen Position kommen. Im übrigen sind Ihre Ministerpräsidenten unseren Vorstellungen zum Teil viel näher, als sie das hier zum Ausdruck gebracht haben.
Sie haben doch einige Ländervertreter gar nicht sprechen lassen. Einen haben Sie zwar hierher geschickt, aber nicht den niedersächsischen.
Wenn ich dessen absolute Reduktionszahlen hier genannt hätte, wären Sie ausgeflippt. Ich hätte dann deutlich machen müssen, daß das seine Zahlen sind und nicht meine. Bei mir hätten Sie gepfiffen, aber bei
Metadaten/Kopzeile:
19572 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dr. Klaus W. Lippold
dem haben Sie damals weggehört. Das ist die Situation.Deshalb sage ich: Die Tür wird nicht zu sein. Wenn das Wahlkampfgeklingel vorüber ist, werden auch Sie an den Verhandlungstisch zurückkehren.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Ich bin inzwischen daran gewöhnt, daß ich die Verantwortung für 40 Jahre — und länger — DDR übernehmen muß,
was langsam ein bißchen lächerlich wird. — Lesen Sie bitte nach.
Einige Bemerkungen zu dem, was Kollege Lippold und Kollege Lambsdorff vorhin gesagt haben. Es ist tatsächlich so, daß es in der DDR zu Greifswald, zu Rheinsberg und auch zu Stendal einen breiten Konsens gegeben hat — leider. Es gab diesen Konsens nicht nur innerhalb der SED, sondern es gab ihn gemeinsam mit den Blockparteien. Alles andere ist Verschleierung der Vergangenheit. Die Ursache für diesen Konsens lag in den fehlenden Informationen oder, um es noch deutlicher zu sagen, in der Desinformation durch die DDR-Regierung.
Ein Umdenken hat in der DDR vor allen Dingen nach Tschernobyl eingesetzt. Auch dieses Umdenken zog sich durch alle Parteien. Von daher hat es Widerstand gegen Kernkraftwerke in der DDR auch in allen Parteien gegeben. Ich schließe die SED da nicht aus.
Ich will Sie nur vor einem warnen: Machen Sie sich nicht lächerlich! Vergangenheit ist nicht dadurch zu bewältigen, daß Sie die Vergangenheit sozusagen auf eine einzige Partei abschieben. Die Blockparteien sind in gleichem Maße verantwortlich.
Ihre Kollegen der Ost-CDU, der Ost-LDPD, der Ost-
NDPD haben genauso Verantwortung getragen wie die SED. Mit allem anderen machen Sie sich nur lächerlich.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Enkelmann, bei diesem letzten Punkt kann ich mich doch einiger etwas merkwürdiger Gefühle nicht erwehren.
— Nein, Wahrheit ist Wahrheit! —
Da muß man einfach sehen, wie das Parteiensystem in der DDR tatsächlich war und wie es tatsächlich funktioniert hat.
— Ich sage das doch nicht, um ausgerechnet den Blockflöten jetzt eine späte Ehrenrettung zukommen zu lassen; das ist nicht der Punkt. Aber Wahrheit ist Wahrheit.
— Nein, das hat nichts mit Philosophie zu tun. Es ist einfach eine Erfahrungstatsache, daß die SED auch wesentlich in die Blockparteien hinein bestimmt hat. Das dürfen wir doch nicht vergessen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, das Wichtigste vorne weg: In dieser Energiedebatte wird geradezu Schindluder mit den Lebensinteressen der Menschen an Ruhr und Saar getrieben. Die Energiepolitik dieser Bundesregierung und dieser Koalition und das vorgelegte Artikelgesetz sind der Einstieg in den langsamen, schleichenden Tod des deutschen Steinkohlebergbaus. Die Menschen an der Ruhr und an der Saar müssen begreifen: Die Aufbauleistungen, die Schinderei der Nachkriegsjahre sind vergessen. Vergessen ist, mit welchen Opfern und körperlichen Belastungen in einer Zeit, in der die Kohle zum Teil teilweise tatsächlich noch mit der Hacke abgebaut wurde, in einer Zeit, in der man die heutige, Gott sei Dank inzwischen hochautomatisierte Förderung unter Tage noch nicht kannte, die Grundlage für den Wiederaufbau der gesamten Volkswirtschaft in der Nachkriegszeit geschaffen wurde.Die Marktwirtschaft hat kein Gedächtnis. Die Marktwirtschaft kennt keine Dankbarkeit. Die Energiepolitik dieser Bundesregierung, dieser Koalition, ist durch ein besonders hohes Maß an Konzeptionslosigkeit gekennzeichnet. Das wird auch durch so bramarbasierende Beiträge, wie wir sie soeben gehört haben, absolut nicht beiseite geschafft.In einer Zeit, in der die Zurücknahme des Energieverbrauchsniveaus erste Priorität haben muß, wird auf weitere Expansion gesetzt. Statt ein umfassendes, druckvolles Programm zur Erhöhung des gesamtenergetischen Wirkungsgrades zu entwerfen und umzusetzen, läßt man weiter zu, daß der größere Teil der z. B. in den riesigen Braunkohlekraftwerken nicht weit von hier in Frimmersdorf, in Neurath, in Niederaußem, in Weisweiler usw. erzeugten Energie nutzlos verpufft. Die Erhöhung des gesamtenergetischen Wirkungsgrades wäre übrigens auch eine zentrale und prioritäre Aufgabe für die Forschungspolitik.Um — das ist soeben angesprochen worden — u. a. 5 000 Arbeitsplätze, zugegebenermaßen hochqualifizierte Arbeitsplätze, in der atomtechnischen Indu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19573
Dr. Ulrich Briefsstrie zu erhalten, sollen — das ist das Ziel dieses Projektes — weiter AKWs entwickelt und gebaut werden. Jedes der in der Bundesrepublik bereits betriebenen AKWs hat aber allein 4 000 Arbeitsplätze im Steinkohlebergbau vernichtet. Das wird dabei immer vergessen.Oder: Wieviel an Fortschritten bei der billigen Massennutzung erneuerbarer Energien hätte inzwischen erreicht werden können, wenn nicht 30 Milliarden DM für nicht zu Ende fährbare Atomgroßprojekte in Kalkar, in Wackersdorf und in Hamm-Uentrop nutzlos verausgabt worden wären?Zugegeben, das will ich gleich dazu sagen, an diesen Fehlentwicklungen waren auch die Regierungen vor dieser Regierung — ich denke, man muß bis zu Balke und Strauß zurückgehen — beteiligt. Keine der wirklich entscheidenden Fragen, wie die notwendige Änderung von Verbrauchsweisen, also Verhaltensänderungen von uns allen, wie die Sicherung einer ausreichenden sicheren eigenen Primärenergiebasis in diesem Land, wie die weitere systematische Abkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch, werden systematisch und konzeptionell von dieser Bundesregierung und dieser Koalition aufgegriffen und industriepolitisch umgesetzt.Die Sicherung der Energieversorgung mit ausreichenden ökologischen Standards ist eine übergreifende Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte. Deshalb ist der Konsensansatz richtig. Allerdings: Dieser Konsensansatz wird doch torpediert, wenn man einen Teil der Bevölkerung, z. B. die Menschen an Ruhr und Saar, zu erpressen versucht.Der SPD-Vorschlag einer Energiesteuer erscheint mir dagegen als ein ganz wichtiger Beitrag zu einem umfassenden und hoffentlich in der Zukunft auch konsensgetragenen energiepolitischen Konzept, weil er nämlich eine transparente, für jedermann einsehbare und auch spürbare Finanzierung der notwendigen Leistungen für die überfällige grundlegende Umstrukturierung in der Energiepolitik zustande bringen kann.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Zur Geschäftsordnung hat der Kollege Dietrich Austermann um das Wort gebeten. Ich erteile es ihm hiermit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Debatte um das Energiegesetz ging es vor allen Dingen um die Frage: Kohle- oder Kernenergie. Das Thema erneuerbare Energie ist verständlicherweise auf Grund der unterschiedlichen Diskussionslage ein bißchen ins Hintertreffen geraten.
Wir haben deshalb mit einer ganzen Reihe von Kollegen parteiübergreifend zusätzliche Anträge gestellt. Wir gehen dabei davon aus, daß der Kohlepfennig ein Akt der Solidarität ist, ein Akt der Solidarität der Menschen, die Strom aus Kohle oder Kernenergie beziehen.
Ich habe kein Verständnis dafür, wenn hier gesagt wird, wir hätten abrupt die Unterstützung der Kohle abgebaut. Ich darf nur ein paar Zahlen nennen: 1975
betrug der Kohlepfennigsatz 3,24 %, herausgekommen sind zugunsten der Bergarbeiter 0,8 Milliarden DM. 1981 waren es 4,5 %, herausgekommen sind 1,97 Milliarden DM. 1993 sind es 7,5 % gewesen, die 5,15 Milliarden DM erbracht haben. 1994 werden es 8,5 % sein, die 6 bis 7 Milliarden DM erbringen. Wenn dann davon gesprochen wird, hier gebe es einen Abbruch der Unterstützung zugunsten der Kohle, dann ist das eindeutig falsch.
Also: Das jetzt vorliegende Gesetz bestätigt die Solidarität zugunsten der Kohle. Das vorliegende Gesetz bestätigt die Solidarität zugunsten der günstigen, preiswerten Kernenergie, wenngleich ich mir gewünscht hätte, daß man in das Gesetz selber noch eine Regelung einbaut, die verhindert, daß willkürlich Genehmigungsverfahren so verlängert werden, daß Arbeitsplätze in Kernkraftwerken in Gefahr gebracht werden.
Herr Kollege Austermann, bis jetzt war das ein Debattenbeitrag.
Ich bitte, zur Geschäftsordnung zu sprechen.
Herr Präsident, ich glaube, daß aus dem, was ich gleich sage, schlüssig wird, daß sich das auch auf den Antrag, den wir vorgelegt haben, konzentriert.Ich rede davon deshalb, weil in meinem Wahlkreis zwei Kernkraftwerke liegen, von denen eines seit einem Jahr und sieben Monaten nicht arbeiten kann, weil im Genehmigungsverfahren schikaniert wird.
Wir sind der Meinung, daß darüber hinaus noch stärker Solidarität zugunsten der erneuerbaren Energien erforderlich ist. Dies haben wir an zwei Punkten mit unserem Änderungsantrag deutlich gemacht.Der eine Punkt ist der: Wir wollen unterstreichen, daß im Außenbereich Windenergieanlagen, Anlagen der erneuerbaren Energien, über das bisher gültige Maß hinaus unterstützungswürdig sind, ohne daß wir die Landschaft zubauen wollen. Wir wollen gleichzeitig sicherstellen, daß die zusätzliche Belastung, die bei erneuerbaren Energieanlagen immer noch da ist, gemeinsam getragen wird, daß auch hier Solidarität von allen geübt wird.Ich sage jetzt aber: Weil sich in der bisherigen Debatte das alles auf Kohle und Kernenergie konzentriert hat, sind die erneuerbaren Energien in der Diskussion — auch in der Diskussion, die bei einem Gesetzgebungsverfahren mit der zuständigen Verwaltung, dem Wirtschaftsministerium, dem Umweltministerium usw., notwendig ist — an den Rand gedrängt worden. Es konnte nicht solide genug vorgearbeitet werden.Deshalb habe ich mich in Absprache mit den Fraktionsvorsitzenden von F.D.P. und CDU/CSU einverstanden erklärt, daß wir in der nächsten Sitzungswoche eine gemeinsame Initiative für stärkere
Metadaten/Kopzeile:
19574 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dietrich AustermannAkzente der erneuerbaren Energie vorlegen, wo diese beiden Aspekte, die ich erwähnt habe, aufgenommen werden und wo sich möglicherweise noch mehr für erneuerbare Energien durchsetzen läßt.Da es, wenn man mehr erreichen kann als das, was man hier vorschlägt, logisch ist, daß man dann sagt, dann ziehe ich den Antrag zurück, so ziehe ich den Antrag zurück. Ich gehe davon aus, daß die Kollegen, die ihn mitunterzeichnet haben, im Interesse der erneuerbaren Energien das gleiche tun.
Nun habe ich gehört, daß Kollegen aus der SPD sagen: Nun führen wir die Kameraden einmal vor und stellen dann unsererseits den Antrag. Dazu muß ich sagen: Das wird nur dann logisch, wenn Sie das tun, was wir nach dem Beschluß über den Änderungsantrag tun wollten, nämlich in dritter Lesung auch dem Gesamtpaket zuzustimmen. Sonst ist das reine Schaumschlägerei;
denn sonst stellen Sie in der zweiten Lesung selber einen Antrag und lehnen diesen in der dritten Lesung wieder ab.Ich bitte deshalb herzlich darum: Sorgen Sie dafür, daß wir mehr Durchbruch für erneuerbare Energien bekommen — auch, indem wir die Energieversorgungsunternehmen mehr zwingen, mehr Einsatz zu zeigen. Unterstützen Sie das Energieartikelgesetz und in der nächsten Sitzungswoche eine weitere, hoffentlich gemeinsame zusätzliche Initiative.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Dr. Hermann Scheer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte diesen Antrag, der jetzt seitens des Kollegen Austermann zurückgezogen worden ist, mitunterschrieben,
und ich ziehe diese Unterschrift nicht zurück. Deswegen bleibt dieser Antrag.Ich weiß, daß die Möglichkeiten, mit diesem Antrag durchzukommen, geringer geworden sind. Aber ich glaube, daß hier eine richtige Initiative vorlag, die auch von Kollegen aus der Unionsfraktion, die sich in der gleichen Richtung einsetzten wie ich, initiiert worden war.Ich bedauere die jetzt entstehende Situation, weil das, was dann als Alternative versprochen worden ist— offensichtlich weil den Kollegen gesagt worden ist: Jetzt kommt aber etwas Wirkliches! —, meines Erachtens ein erneuter ungedeckter Scheck ist.
— Nein, dieser Antrag wäre, wenn er angenommen würde, kein ungedeckter Scheck.Ich hätte trotzdem, ohne daß das Schaumschlägerei ist, Herr Kollege Austermann, in der Gesamtabstimmung nicht zugestimmt. Aber es ist ein ganz normales Verfahren,
wenn man versucht, ein Gesetz, dem man in der Gesamtheit doch so nicht zustimmen kann, an bestimmten Stellen zu verbessern.Natürlich begrüße ich die Zusätze zum Stromeinspeisegesetz, die jetzt drin sind. Es ist völlig klar, das macht das Gesetz besser. Wenn dieses auf Grund einer entsprechenden Mehrheit des Hauses durchkommt, so ist es besser, es kommt in besserer Form durch als in schlechterer, und daß man dazu seinen Beitrag leistet, ist übliche parlamentarische Praxis aus sämtlichen Haushaltsberatungen. Natürlich bemüht sich jede Opposition immer um eine Verbesserung des Haushalts in ihrem Sinne, auch wenn sie deswegen am Schluß nicht zustimmt.Daß dieser Antrag wichtig gewesen wäre, hat hohe aktuelle Bedeutung. Es gibt z. B in Niedersachsen auf Grund von unscharfen Bundesgesetzen, die beliebige Auslegungen auf örtlicher Ebene zulassen, allein in vier Landkreisen 900 Anlagen zur Nutzung der Windkraft im Genehmigungsstau. Das ist ein Investitionsvolumen von fast 1 Milliarde DM. Dies kümmert und dümpelt so vor sich hin. Es gibt auch zunehmende Schwierigkeiten in Schleswig-Holstein. All das hat seinen Grund in Entscheidungen unterer Planungsbehörden, bei denen beliebige Möglichkeiten zur Blokkierung des Ausbaus erneuerbarer Energien vorhanden sind.
Dieser Zustand muß beendet werden.Wir haben heute immer noch die Situation, daß bestimmte Straßen, Hochspannungsmasten oder irgendwelche anderen Gewerbegebäude — auch die Nutzung der Windenergie ist Gewerbe — leichter genehmigt werden als Windkraftanlagen. Das war der Grund dieses Antrags. Es handelt sich nicht um eine Kleinigkeit. Es ist eine Geschichte, die den Ausbau, die Entfaltung eines erneuerbaren Energieträgers, und zwar unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, gegenwärtig permanent behindert.
Hier ist dringende Abhilfe notwendig. Man kann nicht bei den erneuerbaren Energien immer nur ein paar Sahnehäubchen draufsetzen und im übrigen neben dem rhetorischen Bekenntnis von Sympathie die Dinge in der Praxis völlig unverhältnismäßig weiterlaufen lassen.Wenn es um Wettbewerbsfähigkeit geht, dann muß man daran erinnern, daß in dieser Frage in ganz wesentlichem Maße die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes in Zukunft mit auf dem Spiel steht, denn es geht hier um die Produktion von energiesparenden Techniken.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19575
Dr. Hermann Scheer— Das hat alles mit solchen Anträgen zu tun. — Der vorliegende Antrag allein würde das Problem nicht lösen; das wissen alle, die ihn geschrieben und unterzeichnet haben. Aber in keinem Gesetz wird das Gesamtproblem auf einmal gelöst. Es sind viele Anstöße notwendig. Es gibt viele Begründungen für erneuerbare Energien, die leider immer unter den Tisch fallen. Das gilt gerade auch für das Verhältnis von Kohle und erneuerbaren Energien. Was hier gemacht wird, ist so nicht verhältnismäßig. Das ist ganz eindeutig. Im Wirtschaftsetat sind 10 Millionen DM für die Markteinführung erneuerbarer Energien vorgesehen. Jetzt beschließen wir 7,5 Milliarden DM für die Kohle, das ist ein Verhältnis von 750:1. Ein 750 : 1-Verhältnis ist, wenn es um Markteinführungsförderung geht, nicht tragbar,Es geht nicht um die Reduktion der Nutzung eines heimischen Energieträgers. Es geht darum, daß ein anderer heimischer Energieträger, der uns als einem Land, das technische Produkte herstellt, große zusätzliche industrielle Chancen verspricht, wesentlich stärker gefördert werden muß.
Herr Kollege Scheer — —
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. — Hier finden Vernachlässigungen auf breiter Front statt; ich will gar nicht nur auf eine Seite schauen.
Ich kann diesen Antrag nicht wegen eines weiteren ungedeckten Versprechens zurückziehen, zumal dieses Versprechen in den Koalitionsfraktionen intermediär gegeben worden ist. Ich erhalte diesen Antrag deswegen von mir aus aufrecht.
Meine Kolleginnen und Kollegen, da dieser Verlauf absehbar war, habe ich die letzten beiden Wortmeldungen sozusagen noch in die Debatte und nicht erst in die Abstimmung hineingenommen, denn solange die Debatte im Gange ist, können Änderungsanträge gestellt oder in diesem Fall aufrechterhalten werden. Es genügt eine Unterschrift. Diese eine Unterschrift bleibt bestehen.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes, Drucksachen 12/6908 und 12/7448 Nr. I.Dazu liegt der Änderungsantrag auf Drucksache 12/7450 vor, der nur noch die Unterschrift des Kollegen Scheer trägt
und der eben noch einmal begründet wurde. Über diesen Änderungsantrag stimmen wir zuerst ab.Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt gegen den Änderungsantrag? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? - Bei zwei Enthaltungen ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit Mehrheit angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei einer Enthaltung und zahlreichen Gegenstimmen angenommen.Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt unter Nr. II seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/7448 die Annahme einer Entschließung.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen zum Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/7459. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat beantragt, die Vorlage zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Haushaltsausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt hingegen sofortige Abstimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor.Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.Damit stimmen wir gleich in der Sache ab. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der PDS/Linke Liste? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD über die weitere Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Elektrizitätswirtschaft und zur Einführung einer Energiesteuer auf Drucksache 12/6382. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/7448 Nr. III, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 12/6382 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, uni ihr Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Sicherung der Zukunft der ostdeutschen Braunkohle. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/5251 abzulehnen.Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? —Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Metadaten/Kopzeile:
19576 Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Vizepräsident Hans KleinDer Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt weiterhin, den Antrag der Fraktion der SPD zu einem Programm Energiesparen/erneuerbare Energien auf Drucksache 12/5252 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt schließlich, auch den Antrag der Fraktion der SPD zur Sicherung der langfristigen umweltgerechten Nutzung der heimischen Steinkohle auf Drucksache 12/5253 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich seiner Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Ich habe noch mitzuteilen, daß der Kollege Holger Bartsch zu diesem Tagesordnungspunkt eine persönliche Erklärung nach §31 der Geschäftsordnung abgegeben hat.*)Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung des Mißbrauchs der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung— Drucksache 12/7 108 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für Gesundheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Gerd Andres, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDOffensive für mehr Teilzeitarbeit — Drucksache 12/7107 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung lnnenausschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für GesundheitAusschuß für Bildung und WissenschaftHaushaltsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich ganz offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erste Lesung des SPD-Antrages „Offensive für mehr Teilzeitarbeit" und des SPD-Gesetzentwurfes zur Beseitigung des Mißbrauchs der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem sich ein allgemeiner Orientierungswechsel ankündigt. Arbeitszeitverkürzungen werden in wachsendem Maße*) Anlage 2als Mittel zur Sicherung und Umverteilung von Beschäftigung gesellschaftsfähig. Das ist auch der im wesentlichen ein Verdienst der Betriebsparteien der Wolfsburger VW-Werke. Bereits am 22. April des vorigen Jahres schrieb der Automobilmanager Daniel Goeudevert in einer deutschen Tageszeitung — ich zitiere —:Im technologischen Fortschritt ist Wandel unausweichlich. Wir haben nur die Wahl, wie wir damit fertig werden. Wenn wir nichts tun, riskieren wir das Entstehen einer Welt, in der einige überarbeitet und andere unterbeschäftigt oder arbeitslos sind. Der Wandel folgt dann wahrscheinlich erst nach schweren sozialen Konflikten. Wir müssen ganz zwangsläufig eine Methode der Teilung verfügbarer Arbeit ins Auge fassen und sicherstellen, daß die gestiegene Freizeit konstruktiv genutzt wird.Die Meinungen Herrn Goeudeverts lesen sich im Rückblick wie eine Philippika gegen die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien, die in den letzten zehn Jahren und noch bis vor wenigen Monaten nichts unterlassen haben, um Arbeitszeitverkürzungen jedweder Art pauschal zu diffamieren und trotz dramatisch steigender, hoher Arbeitslosigkeit den Menschen Arbeitszeitverlängerungen als das Gebot der Stunde einzureden versucht haben.Ich will an die berühmten Worte des Bundeskanzlers vom „Freizeitpark Deutschland" vor wenigen Monaten und an die Aufmunterung, es müsse länger und nicht kürzer gearbeitet werden, erinnern. Jeder, der drei und drei zusammenzählen kann, weiß, daß eine Verlängerung der Arbeitszeit gleichzeitig eine deutliche weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit mit sich bringt.Teilzeitarbeit ist in den Augen vieler Menschen die einzige Arbeitszeitform, mit der zumindest vorübergehend konkurrierende Zeitanforderungen von Familie und Beruf bewältigt werden können. Zunächst ist zweierlei festzuhalten. Die Nachfrage nach attraktiven und qualifizierten sozialversicherungsrechtlich geschützten Teilzeitarbeitsplätzen ist weitaus größer als das Angebot. Hier liegen ganz erhebliche beschäftigungspolitische Potentiale. Es ist aber auch festzuhalten, daß Teilzeitarbeit auf massive Vorbehalte stößt, weil damit sozialversicherungsfreie, also sozial ungeschützte Miniteilzeitarbeitsplätze verbunden werden.Die Bundesregierung hat auch diese eher negative Entwicklung maßgeblich gefördert. Anstatt gemeinsam mit den Tarifparteien attraktive Rahmenbedingungen für qualifizierte Teilzeitarbeit zu schaffen — diese Aufgabe wurde in den vergangenen Jahren völlig ignoriert —, hat sie den massiven Aufwuchs sozial ungeschützter Minibeschäftigungsverhältnisse wohlwollend toleriert. Es ist kein Zufall, daß die SPD beide Projekte zeitgleich hier ins Parlament einbringt: Es besteht ein enger Sachzusammenhang. Wer Teilzeitarbeit attraktiver machen will, muß zunächst die mißbräuchliche Nutzung sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse unterbinden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19577
Ottmar SchreinerDie Sozialversicherungsfreiheit sogenannter geringfügiger Beschäftigung hat dazu geführt, daß die Zahl der Personen in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen ist: auf inzwischen mehr als 4,5 Millionen. Die gesetzliche Verbilligung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse bewirkt volkswirtschaftlich ganz erhebliche Wettbewerbsverzerrungen, da der Produktionsfaktor Arbeit sehr unterschiedlich belastet ist. Die Kostenvorteile durch geringfügige Beschäftigung reizen das Kleinstöckeln von regulären Arbeitsverhältnissen geradezu an. Das ist in den letzten Jahren massenhaft geschehen. Hier liegt auch der eigentliche arbeitsmarktpolitische Mißbrauch, den es zu beseitigen gilt und den wir beseitigen wollen.Die Sozialversicherungsfreiheit wirkt folglich wie eine öffentliche Subvention ungeschützter Arbeitsverhältnisse, die von den anderen, nämlich den beitragszahlenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den beitragszahlenden Betrieben, finanziert werden muß. Es geht uns um die Beseitigung des Mißbrauchs. Es geht nicht um die Beseitigung dieser Beschäftigungsform als solcher, die von vielen angestrebt wird.
— Es geht um die Beseitigung des Mißbrauchs.
Ich bin sehr gespannt auf die nachfolgende Argumentation der Koalition und will Ihnen zu einem Teilbereich ein Zitat nahelegen:Der Haushalt als arbeitsmarktpolitisches Gelände ist jedoch noch immer eine Terra incognita. Sozialrechtlich haben wir den Haushalt tabuisiert oder auf den minderen Status der GeringfügigBeschäftigten ohne Sozialversicherungsbeitrag reduziert — was nur eine legalisierte Form von Schwarzarbeit ist. Als Arbeitsmarkt gibt es den Haushalt nur im Bilderbuch des Klassenkampfes mit Direktor und Dienstmädchen.Wir wollen die neuen Chancen nicht wahrnehmen aus ängstlicher Erinnerung an alte Mißstände. Die Probleme werden jedoch nicht gelöst durch Augenschließen. Ohne Binde vor den Augen und Brett vor dem Kopf: Wir müssen die Arbeitsverhältnisse im Haushalt steuer- und sozialrechtlich gleichstellen.
Dieses Zitat, meine Damen und Herren — die blumige Sprache deutet darauf hin —, stammt vom amtierenden Bundesarbeitsminister aus einem Aufsatz vom 14. Januar dieses Jahres in der Wochenzeitung „Die Zeit".
Es wird sich entlang der Wortbeiträge der Koalition gleich herausstellen, ob das, was Herr Blüm. geschrieben hat, ernstgenommen werden muß oder ob es sich hier um eine fast übliche Form des Maulheldentums handelt. Das werden wir gleich von Ihnen in Erfahrung bringen.Bezüglich der Teilzeit haben wir Ihnen einen Antrag vorgelegt, der versucht — —
Herr Schreiner, „Maulheldentum" ist nicht nett.
Es ist zwar nicht nett, aber auch nicht besonders schlimm.
Es ist eigentlich auch nicht parlamentarisch.
Für meine Verhältnisse ist es fast schon wieder nett.
Für Ihre Verhältnisse: zugegeben.
Aber vielleicht können Sie die Verhältnisse ein bißchen ändern.
Da wir dem Wochenende entgegengehen, bin ich guter Hoffnung.
Wir haben versucht, mit unserem Teilzeitantrag attraktive Rahmenbedingungen zu formulieren, die es den Menschen erleichtern, Teilzeitarbeitsverhältnisse einzugehen, die sie auf freiwilliger Basis auch suchen.
Erster Eckpunkt: Durch ein flexibel ausgestaltetes Recht zur Rückkehr nach einer Phase von Teilzeit- zur Vollzeitarbeit soll die Möglichkeit, Teilzeitarbeit anzunehmen, deutlich erleichtert werden. Das wird mit einem gesetzlichen Verbot verbunden, die Teilzeitarbeit zu benachteiligen.
Wir wollen — zweitens — eine Erweiterung der Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst durch Änderung des Beamtenrechts, deutlich weitergehend als die Überlegungen innerhalb der Bundesregierung.
Wir wollen — drittens — eine modifizierte Verlängerung des Altersteilzeitgesetzes.
Wir wollen — viertens — eine auf zwei Jahre befristete Sonderaktion in Höhe von jeweils 500 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt. Hauptbestandteil ist eine Teilzeitbeihilfe für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aus arbeitsmarktpolitischen Gründen — wohlgemerkt: aus arbeitsmarktpolitischen Gründen — für mindestens zwei Jahre von Vollzeit- auf Teilzeitarbeit wechseln.
Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Wenn bei einer schlechten Auftragslage ein Unternehmen mit 100 Beschäftigten gezwungen wäre, fünf davon zu entlassen, und sich zehn oder mehr Beschäftigte bereit finden würden, vorübergehend in Teilzeitarbeit zu wechseln, könnten Entlassungen vermieden und gegebenenfalls die Übernahme von Auszubildenden erleichtert werden. Die Teilzeitbeschäftigten würden in diesem Fall eine Teilzeitbeihilfe erhalten. Also: kein Gießkannenprinzip, sondern eine enge Abgrenzung — sofern arbeitsmarktpolitische Motive vorliegen —, um Entlassungen, die ansonsten wahrscheinlich wären, zu verhindern.
Wir haben zudem ein zweijähriges Sonderprogramm für ein besseres Angebot an ganztägigen Betreuungseinrichtungen für Kinder vorgeschlagen
Ottmar Schreiner
und haben schließlich angeregt, in besonderen Fällen, sofern bestimmte Voraussetzungen vorliegen, Investitionskostenzuschüsse auch für die Arbeitgeber auszuzahlen. Das gilt insbesondere, wenn Teilzeitarbeitsplätze im Bereich höher qualifizierter Arbeiten angeboten werden. Die Überlegung dabei ist, die Teilzeitarbeit aus dem Geruch minderwertiger Beschäftigungsverhältnisse herauszuführen.
Die Bundesregierung hat bis zur Stunde kein auch nur halbwegs in sich konsistentes Programm zur Teilzeitarbeit vorgelegt, wiewohl sie ständig darüber redet. Von offensiven Vorstellungen kann überhaupt keine Rede sein. Die bisherigen Überlegungen deuten darauf hin, daß das Pferd mal wieder am Sehwanze aufgezäumt werden soll. Im Falle von Arbeitslosigkeit bei Teilzeitarbeit sollen die entsprechenden Kolleginnen und Kollegen Lohnersatzleistungen erhalten, die am Vollzeiterwerbseinkommen orientiert sind. Das ist eine rein defensive Maßnahme und hat nichts mit einer attraktiven Ausgestaltung, attraktiven Rahmenverhältnissen für qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze zu tun.
Der Bundesarbeitsminister hat sich dann, als er merkte, daß er in die Defensive geraten ist, mit einem zusätzlichen Flop zu retten versucht: Er hat vor einigen Wochen vorgeschlagen, eine pauschale „Köderprämie" in Höhe von 3 000 DM an die Arbeitgeber für jeden bereitzustellenden Teilzeitarbeitsplatz zu zahlen. Das haben die Arbeitgeber, zu Recht entrüstet, zurückgewiesen.
Auch die F.D.P. hat hin und wieder ein Körnchen der Wahrheit gefunden und hat hier im Bundestag zu Recht erklärt, der Arbeitsminister Siam wolle Geld, das er nicht habe, denjenigen schenken, die es gar nicht wollen. So ist diese Bundesregierung nun mal: Von Konzept keine Spur, der eine hü, der andere hott; jeder macht es gerade so, wie es ihm einfällt.
Zum Schluß möchte ich sagen: Ein verbessertes Angebot von Teilzeitarbeit ist nicht die Lösung unserer Beschäftigungsprobleme, wie einige das der Öffentlichkeit suggerieren. Aber: Verbesserte Angebote von Teilzeitarbeit können ein wichtiger Baustein, ein wichtiger Teil der Lösung sein. Darum geht es uns: die Möglichkeiten weiter auszuschöpfen und diesen einen wichtigen Baustein bei der Suche nach Wegen aus der Vollbeschäftigung auch hier im Parlament angemessen zu diskutieren.
Schönen Dank.
Auf die Sekunde genau die Redezeit eingehalten!
Ich erteile dem Kollegen Julius Cronenberg das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Die Wiederholung ist die Mutter der Weisheit." Diese alte Erkenntnis haben sich die Genossinnen und Genossen der SPD zu eigen gemacht und uns mangels neuer Ideen alte Hüte präsentiert.
Aber die alten Römer waren der Meinung, daß nur Weisheiten wiederholt werden sollten.
Dieses Prädikat aber kann ich den beiden Vorlagen, die es heute zu diskutieren gilt, beim besten Willen nicht verleihen.
Zweifelsohne ist es notwendig, uns mit den Möglichkeiten, mehr Beschäftigung zu bekommen, zu beschäftigen. Das war ja auch das Thema am letzten Freitag, als wir die Unterschiede — auch Ottmar Schreiner tat das an dieser Stelle — herausgearbeitet haben. Sie, die SPD, taten das für die angeblich gerechtere Verteilung von Arbeit: Arbeit zu rationieren oder — wie ich es gesagt habe — Arbeit auf Bezugsschein; heute hörten wir die Wiederholung vom Kollegen Schreiner. Wir taten es unter dem Motto: Arbeit durch Arbeit schaffen.Ich wiederhole: Es gibt in diesem Land viel, sehr, sehr viel Arbeit; sie muß nur bezahlbar sein. Es gibt noch viel mehr Arbeit auf den Exportmärkten, aber nur für wettbewerbsfähige und preiswerte Produkte. Kurz und bündig: Um unsere Beschäftigungsprobleme zu lösen, brauchen wir Aufträge und keine Mangelverwaltung.
Lieber Kollege Schreiner, wenn ich bei mir im Betrieb keine Aufträge habe, dann kann ich nicht auf die Idee kommen und sagen: Arbeiten wir alle ein bißchen weniger; möglicherweise kriegen alle noch ein bißchen weniger Lohn, und dann ist die Geschichte wieder in Ordnung. — Falsch!
Dann ist der Laden pleite. Wir müssen uns mit unseren Produkten am Markt durchsetzen; wir müssen Aufträge besorgen und nicht Arbeit verteilen.
— Aber das wäre doch die Auswirkung all dessen, was Sie vorschlagen.
— Lieber Herr Kollege Schreiner, wenn Sie gerne was sagen wollen, können Sie mir jetzt eine Frage beantworten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19579
Dieter-Julius Cronenberg
— Ob das geschäftsordnungsmäßig geht, werden wir sehen, aber Kopfnicken des Präsidenten reicht wohl.Sie haben den Kollegen Norbert Blüm zitiert im Zusammenhang mit der Frage der Belastungen eines Vollarbeitsplatzes und denen eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses im Haushalt. Der Haushalt wird hier als Betrieb gesehen. — Frau Kollegin, Ihr Telefon leuchtet da auf; vielleicht kann da mal einer rangehen.
Sie aber wollen ein abgabenpflichtiges Arbeitsverhältnis begründen, ohne daß für den Arbeitnehmer nennenswerte Ansprüche entstehen. Ich habe jetzt eine ganz konkrete Frage: Wenn Sie sich mit Ihren Vorstellungen, die Teilzeitarbeit sozialversicherungspflichtig auszugestalten, durchsetzen würden — auf die systematische Problematik komme ich später zu sprechen —, würde das bedeuten, daß damit die dem Arbeitgeberhaushalt entstehenden Kosten steuerlich relevant abgezogen werden könnten? Ja oder nein? Wenn Sie diese Frage mit Ja beantworten, dann können Sie mit Fug und Recht unsere Vorschläge bezüglich der Haushaltshilfe nicht ablehnen.
Beantworten Sie sie aber mit Nein, ist Ihre Argumentation schlicht und ergreifend inkonsequent.
Meine Damen und Herren, im Antrag auf Drucksache 12/7108 gibt es aber eine erwähnenswerte Erkenntnis. Früher wurden von der SPD immer große Zweifel angemeldet, ob es sich bei der Teilzeitarbeit um ein echtes und richtiges Arbeitsverhältnis handelt. Diese Einstellung hat sich geändert, und ich stehe nicht an, mich dafür zu bedanken. Aus der Skepsis gegenüber mehr Teilzeitarbeit, die früher bei Ihnen vorhanden war, ist nunmehr eine Offensive für mehr Teilzeitarbeit geworden. Ich finde das sehr vernünftig, und man sollte das auch erwähnen.
Aber nicht alle Vorschläge und Anregungen, die in der Vorlage sind, sind deshalb gleichermaßen vernünftig. Sie bleiben sich selber treu. Wenn Sie nicht überzeugen können, dann muß eben subventioniert werden. Befristet auf zwei Jahre, soll 1 Milliarde DM dort hineingebuttert werden. Aber seien wir mal ganz ehrlich, auch untereinander: Wann und wo ist es uns denn schon einmal gelungen, Subventionen zu befristen? Das ist doch ein Unternehmen, das uns beiden nie gelungen ist, und deswegen glauben auch Sie ja sicher selber nicht daran.Mit Ihren Subventionsvorschlägen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, befinden Sie sich mit Teilen der Union in guter oder — aus meiner Sicht — in schlechter Gesellschaft. Denn auch dort hat es ja Bestrebungen gegeben, entweder dem Arbeitgeber oder dem Arbeitnehmer und manchmal beiden Zuschüsse zuzubilligen.Ich sage das deswegen, weil es bedrückend und deprimierend ist, daß hier etwas subventioniert werden soll, was sich selber rechnet. Ich sage das aus der eigenen betrieblichen Erfahrung. Wir haben, mit wachsender Tendenz, Teilzeitbeschäftigte eingestellt, die sich sogar die Tageszeit aussuchen können, wann sie arbeiten. Diese Arbeitsplätze haben sich ungewöhnlich schnell amortisiert. Auch die Leistungen, die während der Teilzeit erbracht werden, sind höher als die, die während der Vollzeitbeschäftigung erbracht werden. Die Sache rechnet sich. Und darum ist es unsinnig, etwas zu subventionieren, was sich auch so rechnet. Denn dafür haben wir nicht genug Geld; das ist Verschwendung.
Natürlich gibt es wirksame Instrumente, um Teilzeitarbeit zu fördern. In dem Zusammenhang erinnere ich an das Arbeitsförderungsgesetz, das wir geändert haben, was Sie, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, abgelehnt haben. Wer von Vollzeitarbeit auf Teilzeitarbeit umsteigt, hat einen auf drei Jahre befristeten Bestandsschutz für die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Das ist konkrete Förderung von Teilzeitarbeit.Ich möchte auch daran erinnern, daß die Analyse richtig ist, die der Kollege Ottmar Schreiner gegeben hat, nämlich daß zuwenig Teilzeitarbeitsplätze angeboten werden. Das kann man sinnvoll fördern, indem man z. B. die Rahmenbedingungen ändert. Es ist doch nicht vernünftig, daß bezüglich vieler Regelungen die Teilzeitbeschäftigten wie Vollzeitbeschäftigte behandelt werden. Ich will das einmal an einem Beispiel klarmachen. Da müssen vom Arbeitgeber Pausenräume, Toiletten und vieles andere vorgehalten werden, obwohl die Leute gar nicht in dieser Zahl alle gleichzeitig im Betrieb sind. Die Teilzeitbeschäftigten zählen wie Vollzeitarbeitende. Wenn wir andere Lösungen finden, wird das aine konkrete Erleichterung sein für das, was wir gemeinsam wollen.Es ist für mich auch unerträglich, um nicht zu sagen bedrückend, daß die Ministerien sich mehr als zurückhaltend verhalten. Ich wünschte mir, daß sich die Behörden und die Ministerien, auch der Bundestag selbst, in dieser Sache vorbildlich verhielten. Das tun sie nicht. Sie finden immer Argumente, warum es nicht geht. Ich möchte Argumente hören, warum es geht. Denn es geht; ich weiß es aus der eigenen betrieblichen Erfahrung.Ich möchte nun noch kurz auf den Dauerbrenner Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenze zu sprechen kommen.
Es ist ein Vorschlag, der, wenn er realisiert würde, einen beachtlichen Beitrag zur Vernichtung von Miniteilzeitarbeitsplätzen bedeutete.
Metadaten/Kopzeile:
19580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Dieter-Julius Cronenberg
Ich will einmal beiseite lassen, ob das mit den 4,5 Millionen stimmt. Ich konnte es nicht nachkontrollieren, und ich habe da erhebliche Zweifel. Lassen wir das aber mal weg!
— Ja, das mag ja sein.Aber unbestritten ist, daß ein erheblicher Teil von diesen 4,5 Millionen Nebentätigkeiten ausübt. Das sind also Leute, die ordentlich sozialversichert sind. Und die gehören doch wohl nicht zum Kreis jener, die Sie mit Ihrer allumfassenden Fürsorge beglücken wollen.Meine Damen und Herren, wenn dieser Antrag Erfolg hätte, wären viele, sehr viele — ich bin überzeugt, sogar die meisten — ihre geringfügige Beschäftigung los, weil die vorgeschlagene Regelung die geringfügige Beschäftigung so teuer macht, diese Arbeit so unbezahlbar macht, daß sie nicht mehr genutzt wird.
Sie nähmen vielen, die häufig auf den Zusatzverdienst angewiesen sind, diese Möglichkeit. Ich bitte die Sozialpolitiker der SPD, einmal ernsthaft darüber nachzudenken.Für mich ist in diesem Zusammenhang besonders erschreckend, daß Sozialversicherungsbeiträge kassiert werden, ohne daß ihnen Leistungen gegenüberstehen. Den Abgaben, die die Arbeitgeber für die Sozialversicherungsbeiträge leisten, stehen ja keine Leistungen gegenüber.Sie wenden sich damit von dem bisher gemeinsam vertretenen Grundsatz ab, daß bei den beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssystemen den Beiträgen angemessene Leistungen gegenüberstehen. Sie machen dann Sozialversicherungsbeiträge zu Steuern. Es war bisher unsere gemeinsame Auffassung, daß das nicht sein kann.
Herr Kollege Cronenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Cronenberg, ich will Sie nicht aus sozialpolitischer Sicht fragen, sondern einfach nur fragen, ob Sie mir zustimmen können, daß es ein grober Verstoß gegen die Wettbewerbsfairneß ist, wenn diejenigen Betriebe bestraft werden, die Leute anständig zu sozialversicherungspflichtigen Konditionen beschäftigen, während es andererseits Betriebe gibt, die in zunehmendem Maße sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurückdrängen, durch Kleinstückelung sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse einführen und diejenigen, die sozialversicherungsfrei beschäftigt sind, teilweise von den Beitragsleistungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Betriebe profitieren, die sich korrekt verhalten.
Kollege Schreiner, selbstverständlich uneingeschränkteZustimmung! Jede Art von Mißbrauch, insbesondere von Schwarzarbeit, bekämpfe ich genauso wie Sie. Und ich sage das nicht nur, wir haben das auch getan. Ich habe mich für den Sozialversicherungsausweis, für die Meldepflicht eingesetzt. Ich habe mich unter erheblichen Schwierigkeiten, die einige Datenschützer in unserer Fraktion machten, für den Abgleich der Daten eingesetzt, was nicht ganz unproblematisch war. Ich bin gegen jede Art von Mißbrauch in diesem Zusammenhang. Die Zahl der Mißbrauchsfälle, die sich dabei herausgestellt hat, hat mich sehr erschreckt. Meine Position war offenbar richtig. Das erklärt auch, warum ich in der Zeit, in der ich mich dafür eingesetzt habe, so viele wütende Briefe bekommen habe. In dem Punkt sind wir einer Meinung.Aber es gibt eben einen Teil von Arbeit, der durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sinnvoll abgedeckt werden kann. Da ist die Grenze, die wir gefunden haben, vernünftig. Sie schütten das Kind mit dem Bade aus, das ist das Problem. Sie können nicht sauber genug unterscheiden zwischen dem, was die Menschen wollen, was die Betriebe brauchen und was andererseits sozialpolitisch und auch steuerpolitisch richtig ist. Diese saubere Abgrenzung, dieses vernünftige Abwägen geht durch Ihren Antrag, wenn er sich denn durchsetzen würde, verloren. Das ist meine Sorge.Ich sage es noch einmal, weil es mir mit dieser Sache sehr ernst ist und man hier auch sozialpolitisch argumentieren muß: Wenn Sie Sozialversicherungsbeiträge in die Sozialversicherungssysteme abführen lassen und dem keine Leistungen für die Berechtigten gegenüberstehen — —
-- Nein! Der Anspruch entsteht ja nicht für denjenigen, für den gezahlt wird. Das ist es doch. Lesen Sie sich den Antrag durch!
— Entschuldigung, bei den geringfügig Beschäftigten, über die wir jetzt reden, ist das nicht der Fall bzw. wird die Rentenbiographie verschlechtert.
— Nein, nein. Rechnen Sie doch einmal nach! Da entstehen Mini-Ansprüche, die mehr Schaden anrichten als nützen. Das ist keine läßliche Sünde, das ist eine Todsünde.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen: Es entspricht dem Bedürfnis der Menschen und es entspricht den Möglichkeiten und Bedürfnissen unserer ohnehin überregulierten Wirtschaft, wenn wir das Institut der geringfügigen Beschäftigung, so wie wir es seit Jahren praktizieren, aufrechterhalten. Ihre Vorschläge, dies abzuschaffen, bestätigen meine und unsere große Sorge. Wenn Sie den Menschen die Freiheit nehmen, ein solches Arbeitsverhältnis legal einzugehen, dann ist dies
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19581
Dieter-Julius Cronenberg
wiederum die Bestätigung einer Entwicklung, die wir bedauern. Die Freiheit stirbt eben zentimeterweise.
Sie können durch immer neue Regelungen, durch immer engmaschigere Verordnungen auch mündige Bürger in ein papierenes Gefängnis sperren. Das tun Sie Schrittchen für Schrittchen mit ihren Vorschlägen, immer aus guten Motiven heraus, jedes für sich nachvollziehbar, alles zusammen aber ein papierenes Gefängnis. Lassen Sie den Arbeitsuchenden die Freiheit, auch eine geringfügige Beschäftigung anzunehmen,
und lassen Sie die Bedingungen so, daß die Arbeitgeber sie auch anbieten können! Dann tun Sie etwas Vernünftiges für diejenigen, die solche Arbeit suchen, für diejenigen, die solche Arbeit anbieten wollen, und vermutlich sogar für die SPD; denn die meisten von denen, die solche Arbeitsverhältnisse nutzen, neigen — könnte ich mir vorstellen — eher Ihnen als uns zu. Damit tun Sie also sogar etwas für die eigene Klientel. — Aber das ist nicht mein Problem.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
Der Kollege Louven hat das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schreiner, wir müssen wohl davon ausgehen, daß Sie nunmehr mit wöchentlichen Anträgen und Initiativen versuchen, eine besondere Fach- und Sachkompetenz hinsichtlich des Arbeitsmarktes nachzuweisen.
Immer geht damit einher, daß Sie die Bundesregierung für die Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, was Sie ja eigentlich selbst nicht glauben. Ich darf in diesem Zusammenhang einmal aus Ihrem Papier vom 18. Oktober zitieren, in dem es heißt, die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in Deutschland sei überwiegend die Folge der weltweiten Rezession, die sich wegen der DM-Aufwertung und der ausgeprägten Exportorientierung unserer Volkswirtschaft in Deutschland besonders stark auswirke.
An anderer Stelle heißt es in Ihrem Papier — Herr Schreiner, Sie sind ja wohl der Vater dieses Papiers —, die Sonderprobleme der deutschen Einheit verstärkten und überlagerten die Krise. — Dies zu Ihrem Papier und zu Ihren Aussagen.In der Tat sind wir alle gehalten, dafür zu sorgen, daß wir mehr Beschäftigung bekommen. Nur, HerrSchreiner, mit Ihren beiden heutigen Vorlagen weisen Sie wenig Fach- und Sachkompetenz nach.
Sie schildern zwar den Sachverhalt richtig, kommen aber immer zu den falschen Rezepten: Regulieren um jeden Preis!
Ihr Entwurf zielt, obwohl Sie gesagt haben, Sie wollten den Mißbrauch bekämpfen, auf die Abschaffung dieses Instruments, während wir nun wirklich der Meinung sind, daß insbesondere bei der geringfügigen Beschäftigung jeder Mißbrauch bekämpft werden muß. Herr Schreiner, ich will Ihnen sagen: Dieses Instrument dient dazu, der Wirtschaft Möglichkeiten zu geben, Auftragsspitzen zu bewältigen. Dies gilt insbesondere für die mittelständische Wirtschaft und hier insbesondere für den Dienstleistungsbereich.Herr Schreiner, ich sage in aller Deutlichkeit: Dieses Instrument dient nicht dazu, ordentliche Arbeitsverhältnisse abzubauen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hätte meinen Betrieb, in dem 15 feste Mitarbeiter beschäftigt waren, nicht führen können, wenn es nicht das Instrument der geringfügig Beschäftigten gegeben hätte. Denn ich brauchte an Spitzentagen zusätzlich 20 Aushilfskräfte.
Das waren Frauen und Männer, die etwas dazuverdienen wollten und dies meist am Wochenende tun mußten.
Frau Weiler, wenn ich diesen Frauen und Männern gesagt hätte: „Ich muß euch zur Sozialversicherung anmelden, ich brauche eine zweite Versicherungskarte", hätten sie gesagt: „Louven, nein danke." Frau Weiler, hier in Bonn bekämen Sie in mancher Landesvertretung abends kein Glas Bier, wenn es nicht das Instrument der geringfügig Beschäftigten gäbe. Wir sind also der Meinung, daß dieses Instrument bestehenbleiben muß.Sie glauben, Sie hätten den Königsweg gefunden, der darin besteht, daß Sie die Arbeitgeber zusätzlich belasten. Sie rechnen Mehreinnahmen in Höhe von 6,5 Milliarden DM vor. Heute morgen hatte ich zusammen mit dem Kollegen Schreiner ein Pressegespräch zu bestreiten. Dort hat er noch wie ich beklagt, daß die Lohnnebenkosten zu hoch seien. Hier heißt es dann zusätzliche Einnahmen in Höhe von 6,5 Milliarden DM, eine Zusatzbelastung im wesentlichen der Unternehmen.Von den Mehrleistungen, Herr Kollege Schreiner, die Sie ins Gesetz schreiben wollen, reden Sie nicht. Dabei hat der Verband der Rentenversicherungsträger Sie doch vor entsprechenden Regelungen in der Rentenversicherung gewarnt. Bei Ihrer Regelung entstehen zu Lasten der Rentenversicherung nicht-
Metadaten/Kopzeile:
19582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Julius Louvenbeitragsgedeckte Leistungsansprüche bei der EU-Rente, bei der BU-Rente und im Bereich der Rehabilitation.
Herr Kollege Louven, jetzt liegt ein Fragebegehren des Kollegen Ottmar Schreiner vor.
Bitte sehr.
Ich wollte Sie zwei Dinge fragen, Herr Kollege Louven: Erstens möchte ich wissen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Mehrbelastungen, die auf der einen Seite entstehen, durch Minderbelastungen auf der anderen Seite zumindest zum großen Teil kompensiert werden, weil bislang ein ganz erheblicher Teil von Leistungen an Personen ausgezahlt worden ist, die eben nicht sozialversicherungspflichtig gewesen sind, und daß es genau darum geht, dieses Grunddilemma zu beseitigen.
Zweitens. Sie haben gesagt, Sie fänden überhaupt keine Leute mehr, wenn wir die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sozialversicherungspflichtig machten. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es eine bundesweite Fragebogenaktion der überwiegend mit Ihnen befreundeten Katholischen Arbeitnehmerbewegung Deutschlands gibt, deren Ergebnis ist, daß der ganz überwiegende Teil der befragten Frauen eine Sozialversicherungspflicht will? — Soll ich Ihnen das schriftlich geben oder telefonisch mitteilen?
Lieber Herr Kollege Schreiner, ich kenne natürlich die Stellungnahme der KAB. Ich bin nicht Mitglied der KAB. Die KAB ist keine Organisation der CDU, sondern eine selbständige. Wir müssen halt zur Kenntnis nehmen, daß die KAB hier einen anderen Standpunkt vertritt als wir. Das ist nun einmal so im politischen Leben.Was die Belastungen angeht, bleibe ich dabei: Sie belasten allein die Wirtschaft mit zusätzlich 6,5 Milliarden DM.
Ich sehe nicht, wie Sie den Betrag an anderer Stelle zugunsten der Wirtschaft einsparen.Ich war eben dabei, darzustellen, daß dies zu zusätzlichen Belastungen in der Rentenversicherung führt. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir doch die Rentenreform 1989, die wir gemeinsam beschlossen haben, nicht breiter machen wollen, was Sie jedoch tun.In anderen Leistungsbereichen sollen Beiträge gezahlt werden, ohne daß Leistungsansprüche entstehen. Herr Schreiner, was hat denn dies noch mit Sozialversicherung zu tun? Glauben Sie, dies sei verfassungskonform? Die Regelung, die Sie vorschlagen, ist sehr kompliziert. Eine solche Regelungswut führt dazu, daß diese Arbeitsverhältnisse zukünftig in der Illegalität stattfinden, was dann bedeutete, daß auch noch die Steuerausfälle hinzukämen.Ich bezweifle im übrigen auch, daß die Zahl von 4,5 Millionen richtig ist.
Im übrigen ist das Verhältnis der Vollzeitbeschäftigten, der normal Beschäftigten, zu den geringfügig Beschäftigten in den letzten Jahren gleichgeblieben.Nun will ich Ihnen auch sagen, warum ich die Zahl bezweifle.
— Hören Sie sich doch mal meine Meinung an! Ich bin doch hier nicht der Vertreter des Arbeitsministeriums.Es ist doch bei den Erhebungen so, daß ein und dieselbe Person zwölfmal im Jahr in dieser Statistik erfaßt wird. Sie könnten z. B. zwölfmal im Jahr bei einem anderen Arbeitgeber beschäftigt werden, und Sie würden auch zwölfmal gezählt. Im übrigen muß ich zur Berechnung der Beitragsausfälle auch darauf hinweisen, daß ja längst nicht jeder geringfügig Beschäftigte sein Minimum von 560 DM ausschöpft. Von da her relativieren sich auch Ihre Zahlen.
Wir sind der Meinung, daß es in der Tat in diesem Bereich zu Wettbewerbsverzerrungen gekommen ist. Dies darf nicht sein. Es ist in der Tat nach dieser Regelung auch Mißbrauch getrieben worden. Wir haben seit 1989 eingeführt, daß die Betriebe entsprechende Lohnunterlagen führen müssen. Wir haben 1990 die Meldepflicht eingeführt, womit nun endgültig geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nicht unentdeckt bleiben, und wir haben seit 1991 den Sozialversicherungsausweis. Nun haben wir den Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit der Meldepflicht und mit dem Sozialversicherungsausweis vorliegen. Ich denke, wir sollten vor dem Hintergrund dieses Berichts darüber diskutieren, wie wir noch weiteren bestehenden Mißbrauch beseitigen können.Wir sollten auch einmal darüber nachdenken, ob wir nicht eine Quotenregelung einführen können, womit wir dann an Hand einer Quote auf Basis der Lohnsumme erreichen könnten, daß Betriebe nicht aus ordentlichen Arbeitsverhältnissen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse machen. Wenn ich gewisse Gastronomieketten und das Gebäudereinigerhandwerk sehe, dann könnten wir dies hier mit einer Quote — bezogen auf die Lohnsumme — mit einem Federstrich in Ordnung bringen. Hier haben wir entsprechende Initiativen ergriffen.
— Wir haben intern Initiativen ergriffen, und es wird zur Zeit noch geprüft, ob diese Quotenregelung verfassungskonform sein kann.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19583
Julius LouvenMeine Damen und Herren, wir haben eigentlich, so denke ich, mit unserem 30-Punkte-Papier für mehr Beschäftigung und Wachstum den Weg in die richtige Richtung gezeigt. Zum Thema Teilzeitbeschäftigung wird sich mein Kollege Peter Keller im wesentlichen noch äußern. Ich will nur soviel dazu sagen: Auch die hier von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen sind so kompliziert, daß ich befürchte, sie führen zu nichts.Noch eine Klarstellung. Herr Kollege Schreiner, Sie haben eben davon gesprochen, der Arbeitsminister sehe bei der Teilzeitbeschäftigung einen Köder für die Arbeitgeber vor. Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was der Arbeitsminister im Einvernehmen mit der Arbeitsgruppe Arbeit und Sozialpolitik meiner Fraktion vorgeschlagen hat, ein finanzieller Anreiz sowohl für Arbeitnehmer wie für Arbeitslose wie für Unternehmer sein soll? Ich hielte eine finanzielle Förderung der Teilzeitarbeit in dieser Situation für richtig, um zu einem Schub zu kommen; denn es ist eigentlich nicht einzusehen, daß 2,4 Millionen Vollzeitarbeitnehmer in eine Teilzeitbeschäftigung wollen und wir dennoch in diesem Bereich keine Fortschritte erzielen. Deshalb plädiere ich hier für eine finanzielle Förderung. Auch hier sind wir noch in Gesprächen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe noch zwei Minuten gut. Ich darf Sie bitten, mir diese für das nächste Mal gutzuschreiben.
Ihnen allen wünsche ich ein schönes Wochenende.
Die Verfahren, Herr Kollege Louven, sind hier so ungerecht: Die zwei Minuten bekommt jetzt der Peter Keller.
Ich erteile der Kollegin Andrea Lederer das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gegenwärtig haben in allen politischen Lagern Überlegungen zur Förderung der Teilzeitarbeit Konjunktur, was auch gut ist. Unabhängig von der Ausgestaltung im einzelnen gibt es eine Übereinstimmung in der Zielsetzung, durch den Ausbau der Teilzeitarbeit den Arbeitsmarkt zu entlasten und Massenarbeitslosigkeit entgegenzuwirken.
Zwei Millionen Menschen könnten zusätzlich in Arbeit gebracht werden, so das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, und damit könnte die Bundesrepublik im internationalen Vergleich der Gruppe der skandinavischen Länder näherkommen, wo heute schon jeder vierte Arbeitsplatz ein Teilzeitjob ist.
In die Diskussion reiht sich auch der SPD-Antrag ein, der heute zur Debatte steht und den wir begrüßen. Von den Vorstellungen der Bundesregierung hebt er sich zumindest dadurch wohltuend ab, daß die derzeitige Ausgestaltung der Teilzeitarbeit nicht einfach hingenommen wird, sondern eben gerade auch Anreize zum Übergang von Vollzeit- auf Teilzeitbeschäftigung — eine neue Qualität von Teilzeitarbeitgeschaffen werden sollen.
In vielen Punkten können wir dem Antrag zustimmen, weil damit gerade negative Seiten der bisherigen Praxis angepackt werden.
Dennoch einige Anmerkungen zu einem für uns bestehenden Grundproblem. Die Diskussion über Teilzeitarbeit müßte viel stärker, als es auch in diesem Antrag zum Ausdruck kommt, in die facettenreiche Debatte über Arbeitszeitverkürzung gestellt werden. Sie sollte zumindest nicht vorrangig beschäftigungspolitischem Kalkül entspringen. Leider wird der Antrag aber so begründet, daß es darum gehe, „eine strikt auf zwei Jahre befristete arbeitsmarktpolitisch motivierte Sonderaktion zur Förderung des ... Übergangs von Voll- auf Teilzeitarbeit" zu schaffen.
Besser wäre doch, wenn diese Teilzeitoffensive als Ansatzpunkt für einen Einstieg in die generelle Verkürzung der Arbeitszeit genutzt würde, in deren Mittelpunkt die Zeitsouveränität der abhängig Beschäftigten steht. Es ist für uns zu kurz gegriffen, wenn nicht gerade jetzt die prekäre Beschäftigungslage dazu genutzt wird, den Einstieg für ein Umdenken in bezug auf Lebens- und Arbeitsweise zu finden. Ich glaube, nur so wäre es möglich, in diesem Antrag auch die erwähnte gesellschafts- und gleichstellungspolitische Besserung differenzierter Arbeitszeiten zu erfassen.
Sie hätten in diesem Antrag durchaus mit Fug und Recht auch betonen können, daß die jetzige Praxis eigentlich Teilzeitarbeit denunziert. Denn im Arbeitsleben gibt es teilzeitspezifische Diskriminierungen. Diese Arbeit hat für die übergroße Mehrheit derjenigen, die sie wahrgenommen haben, kein existenzsicherndes Einkommen, geschweige denn die Absicherung bei Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit geboten. Hierin liegt die eigentliche Crux der bisherigen Teilzeitarbeitsregelungen. Nicht Selbstbestimmung, sondern Notlage war das zentrale Motiv. Von einer so gestalteten Teilzeitarbeit sind vor allem die Frauen betroffen, aus den unterschiedlichsten Gründen.
Deshalb müssen im Zentrum von Teilzeitarbeitsregelungen die Kompensation von Einkommensverlusten und die Sicherung sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche stehen. In dieser Hinsicht werden in dem Antrag durchaus wichtige und gute Vorschläge gemacht. So soll die Teilzeitoffensive die Vereinbarkeit von Familie und Beruf — bisher der entscheidende Grund dafür, daß Teilzeitarbeit fast ausschließlich Frauensache war — für Männer und Frauen gewährleisten, vor allem durch sozialpolitisch flankierende Maßnahmen. Zu nennen ist auch das auf der arbeitsrechtlichen Ebene vorgeschlagene Recht der Rückkehr in Volizeitarbeit. Allerdings halten wir es für problematisch, daß dies für den Arbeitgeber nicht bindend formuliert ist. Auch die Überstundenregelung ist etwas halbherzig gestaltet. Wichtig und richtig ist für uns das Verbot der Benachteiligung gegenüber Vollzeitbeschäftigten, u. a. bei betrieblichen Karrieren.
Der auch von der PDS/Linke Liste erhobenen Forderung nach Finanzierung von Arbeit statt. Arbeitslo-
19584 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Borin, Freitag, den 29. April 1994
Andrea Lederer
sigkeit entsprechen im Ansatz auch die vorgeschlagene Teilzeitbeihilfe und die darin vorgesehene soziale Komponente. Leider soll diese Aktion ja nur auf zwei Jahre befristet sein. Insofern würde ich mich freuen, wenn die Prognose des Kollegen Cronenberg, eine Befristung habe noch nie geklappt, einträfe. Leider wird diese Befristung von Ihnen so vorgeschlagen und ist ein Einkommensverlust für die Dauer der Teilzeitbeschäftigung für untere und mittlere Einkommensgruppen jedenfalls nicht vollständig ausgeschlossen. Deshalb ist zu befürchten, daß diese nur eingeschränkte Kompensation von Einkommensminderungen den auf Dauer gewünschten Effekt der Umverteilung von Arbeit nicht befördern wird.
Das erwähnte VW-Beispiel funktioniert nur deshalb, weil die Beschäftigten dort die Lohneinbußen wegen des vergleichsweise hohen Einkommensniveaus bei VW gerade noch verschmerzen können. Für die Textilindustrie, den Einzelhandel und andere Bereiche wäre eine Regelung wie bei VW undenkbar. Allerdings wären gerade hier Beschäftigungseffekte dringend geboten.
Die PDS/Linke Liste fordert zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit die Umverteilung der vorhandenen Arbeit durch radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich für untere und mittlere Einkommen und spricht sich gleichzeitig für eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit aus.
Dabei müssen folgende Prinzipien eingehalten werden: Erstens. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit muß sich nach den Bedürfnissen der Menschen, nicht nach denen der Maschinen richten. Das beinhaltet grundsätzlich die Freiwilligkeit der Betroffenen. Gleichzeitig soll die Ausgestaltung der Arbeitszeit dem Anspruch nach mehr Zeitsouveränität der Beschäftigten entsprechen.
Zweitens. Neben einer weitgehenden Einkommenssicherung muß vor allem die sozialversicherungsrechtliche Absicherung dringend garantiert werden. Die Ansprüche auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung und vor allem auf spätere Renten dürfen durch die Reduzierung der Arbeitszeit nicht gemindert werden, weil damit unabsehbare Spätfolgen, z. B. die Altersarmut von Frauen, weiter programmiert werden.
Drittens. Mitbestimmungs- und Gestaltungsrechte dürfen nicht eingeschränkt werden, sondern müssen erhalten bleiben. Soziale Rahmenbedingungen wie flächendeckende Kinderbetreuungseinrichtungen und ausreichende Pflege sind unverzichtbar, gerade um flexible Arbeitszeitmodelle im Sinne der Gleichstellung von Frau und Mann zu nutzen.
Ein letztes Wort zum Thema Beseitigung des Mißbrauchs der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung. Wir sind der Auffassung: Eigentlich muß jede Stunde Arbeit sozialversichert sein.
Der Vorschlag ist ein Schritt in die richtige Richtung. Deshalb werden wir ihn unterstützen.
Herr Kollege Konrad Weiß, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt das Anliegen der SPD, durch die Ausweitung von Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dies entspricht unseren eigenen arbeitsmarktpolitischen Konzepten. In einer wirtschaftlich schwierigen Situation, die durch hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, ist die Solidarität derjenigen, die einen Arbeitsplatz haben, in besonderer Weise gefordert. Zu Recht wird im SPD-Antrag auf das Beispiel der Volkswagen AG verwiesen. Die von der SPD geforderten Initiativen halten wir für vernünftig.Zu zaghaft scheint uns jedoch der Antrag im letzten Absatz zu sein, wo es um die fristgemäße Umsetzung des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz geht. Das, was die SPD so überaus bescheiden fordert, ist ohnehin Gesetz. Wenn wir es ernst meinen mit der Unterstützung für berufstätige Eltern und mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer und Frauen, müssen wir doch mehr anbieten als die notgedrungene Umsetzung des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz für Drei- bis Sechsjährige. Dann müssen wir allen, die dies möchten und benötigen, insbesondere den Alleinerziehenden, ein vielfältiges Angebot machen.Nach unserer Auffassung sollte der Schwerpunkt nicht bei betriebsbezogenen Einrichtungen liegen. Wir möchten vielmehr die Vielfalt, die pädagogische Qualität, die Wohnortnähe und die Gestaltungsmöglichkeiten der Eltern im Mittelpunkt wissen.Das Grundanliegen des Gesetzentwurfs zur Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung wird vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gleichfalls unterstützt. Wir halten den Ansatz, versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse für die Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen, für vernünftig. Wichtig ist uns dabei insbesondere, daß die Lohnnebenkosten denen von normalen Arbeitsverhältnissen angeglichen werden und daß die finanzielle Schwelle zur Ausweitung der Beschäftigung auf ein existenzsicherndes Niveau gesenkt wird.Eine Reihe von Lösungsvorschlägen, die der Gesetzentwurf anbietet, sehen wir jedoch skeptisch. Trotz der erheblichen Beitragsausweitung, die für viele ein Sinken ihres Nettolohns bedeutet, gibt es kaum Leistungsverbesserungen; da folge ich durchaus dem Kollegen Cronenberg. Im Bereich der Krankenversicherung werden nur diejenigen zur Zahlung herangezogen, die bisher kostenfrei versichert waren. Die Sozialhilfeempfängerin jedoch, die neben der Erziehung ihrer Kinder eine kleine Putzstelle innehat, kann weiterhin über ihre kleine Beschäftigung keine Versicherungspflicht begründen. Das gilt auch für diejenigen, die nach einer Scheidung nicht mehr familienversichert sind.Im Bereich der Rentenversicherung soll ein Pflichtbeitrag zweiter Klasse eingeführt werden. Ich bin nicht der Auffassung, daß damit wirklich die soziale Absicherung verbessert wird, sondern fürchte, daß hierdurch das Rentensystem nur weiter kompliziert wird. Wenn Einkommen unterhalb von 560 DM ren-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19585
Konrad Weiß
tenversichert werden, ist das kein wirklicher Beitrag gegen die Altersarmut.
Im Bereich der Arbeitslosenversicherung scheinen der SPD die Verschlechterungen entgangen zu sein, die die Änderungen der letzten Jahre im Arbeitsförderungsrecht mit sich gebracht haben. Gerade Frauen, die nach der Erziehungszeit wieder ins Berufsleben wollen, sind davon betroffen. Die Anwartschaft auf ein minimales Unterhaltsgeld hilft ihnen nicht, wenn sie nicht einmal mehr die Fördermaßnahmen selbst finanziert bekommen.Fragwürdig finde ich ferner die Kostenschätzung im vorliegenden Entwurf. Die SPD vermutet, daß die Beiträge in Privathaushalten nur zu einem Drittel, im übrigen zu zwei Dritteln realisiert werden können. Es ist doch wenig sinnvoll, ein Gesetz zu beschließen, von dem man von vornherein vermutet, daß es mehrheitlich nicht beachtet werden wird.Wenn wir nicht nur die Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungsträger erhöhen, sondern die tatsächliche Verbesserung der Leistung erreichen wollen, dann müssen wir die Lebenswirklichkeit der Menschen berücksichtigen, die teilzeitbeschäftigt sind. Immer mehr sind nicht kontinuierlich über die eigene Erwerbstätigkeit oder die des Ehepartners abgesichert. Immer mehr haben eine wechselhafte Biographie von Zeiten der Arbeit und der Arbeitslosigkeit, von Betreuungs- und Pflegezeiten, von Teilzeitarbeit usw. Typisch ist dann ein wechselndes Nach- und Nebeneinander von Arbeitseinkommen und Sozialleistungen.Hier müssen wir Regelungen schaffen, damit diese Menschen nicht — was immer häufiger geschieht — aus dem Sozialversicherungssystem herausfallen. Dazu aber brauchen wir mehr Phantasie und sicher auch mehr Geld, als nach den vorliegenden Anträgen investiert werden soll.Ich habe meinen Beitrag etwas kurz gehalten, um dem Teilzeit-Anliegen gerecht zu werden.
Das Wort hat die Kollegin Barbara Weiler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ca. zehn Jahren hat die Mehrheit dieses Parlaments die bis dahin geltenden Begrenzungen für geringfügig Beschäftigte aufgehoben und die Einkommensgrenze dynamisiert. Mit dieser sozialpolitisch völlig falschen Weichenstellung haben Sie verheerende Folgen für den Arbeitsmarkt ausgelöst. Die Geister, die Sie damals riefen, haben Sie bisher nicht wieder eingedämmt, und diese Geister lösen auch in Kreisen der CDU/CSU Besorgnis aus: nicht nur bei der KAB, sondern auch bei Kolleginnen und Kollegen aus der CDU-Kommunalpolitik und auch bei Kolleginnen und Kollegen hier im Hause.Das BMA hat eine Studie in Auftrag gegeben, die 1989 zu dem Ergebnis kam, daß fast 3 Millionensogenannter geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse existieren. Das bezeichnete der damalige Staatssekretär Vogt seinerzeit als unerwartet hoch und sagte, es bestehe tatsächlich Handlungsbedarf, bislang jedoch fehle eine schlüssige Konzeption.Sie haben sich sehr viel Zeit gelassen; denn ich habe den Eindruck, daß Ihnen bis heute eine schlüssige Konzeption fehlt. Bereits damals haben Sie gesagt — auch Vertreter des BMA —, daß in Deutschland Konsens darüber bestehen sollte, daß geringfügige Beschäftigungsverhältnisse eine Ausnahme auf dem deutschen Arbeitsmarkt sein sollten. Von einer Ausnahme kann man bei 4,5 Millionen solcher Arbeitsverhältnisse ja wohl nicht mehr sprechen.
Und die letzte Studie vom Frühjahr 1992 weist aus, daß sich der Trend noch verschlechtert hat. Inzwischen haben wir im Rahmen dieser Arbeitsverhältnisse über 63 % Frauen in Westdeutschland und 46 % Frauen in Ostdeutschland, die keine abgesicherten Arbeitsverhältnisse haben. Diese Größenordnung macht offenkundig, daß ein Mißbrauch bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen besteht. Niemand kann behaupten, daß etwa betriebliche Wünsche nach mehr Flexibilität hierfür ursächlich sind. Vielmehr hat die bestehende Sozialversicherungsfreiheit die Form einer staatlichen Subvention von ungeschützten Arbeitsverhältnissen angenommen. Da müßte doch eigentlich die F.D.P., wenn sie es mit ihrem hehren Anspruch „Weniger Staat" ernst meinte, ganz auf unserer Seite sein und sagen: Wir müssen es dem Markt und den Tarifpartnern überlassen, wie sie Beschäftigungsverhältnisse regeln. Jedenfalls dürfen wir nicht eine Form von Arbeitsverhältnis staatlich subventionieren.Handlungsbedarf für das Parlament besteht auch wegen verschiedener Gerichtsurteile. Das Bundesarbeitsgericht hat im Juli 1992 den Teilzeitkräften mit weniger als 18 Stunden pro Woche immerhin einen Anspruch auf Zusatzrente zugebilligt. Der Beschluß über die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse steht noch aus.Der Europäische Gerichtshof hat im Juli 1989 den Ausschluß der geringfügig Beschäftigten von der Lohnfortzahlung als Verstoß gegen das Verbot der mittelbaren Diskriminierung von Frauen gewertet und aufgehoben, und das Bundesarbeitsgericht hat dem im. Oktober 1991 zugestimmt.Sie haben das Gesetz inzwischen zwar geändert, aber ich sage einmal ganz kritisch: Ohne die beiden Gerichtsurteile — das des Europäischen Gerichtshofs und das des Bundesarbeitsgerichts — hätten Sie wahrscheinlich bis heute noch nichts gemacht.
Die europäische Richtlinie zur Regelung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen wird uns in Kürze auf den Tisch kommen. Sie sieht eine Regelung vor, wonach nur noch Beschäftigungsverhältnisse unter acht Stunden im Monat Sozialversicherungsfreiheit ermöglichen.Aber unabhängig davon, wie wir im deutschen Parlament die Chancen einer Verabschiedung beur-
Metadaten/Kopzeile:
19586 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Barbara Weilerteilen, finde ich es als Parlamentarierin schon peinlich, wenn nicht wir als Gesetzgeber die Sozialpolitik gestalten, sondern die Gerichte.Meine Damen und Herren, wir wissen, daß es einige Branchen gibt, in denen überproportional viele solcher Beschäftigungsverhältnisse existieren. Dazu gehört vor allen Dingen das Reinigungsgewerbe, dazu gehört das Gastgewerbe, dazu gehören die privaten Haushalte, der Handel, aber immer mehr auch Branchen, die früher nicht Menschen in solchen Beschäftigungsverhältnissen eingestellt haben, beispielsweise die Post und der öffentliche Dienst. In Krankenhäusern werden Frauen nicht nur in solchen Beschäftigungsverhältnissen eingestellt, die Reinigungsarbeiten vornehmen, sondern auch in vielen anderen Bereichen.Wir wissen, daß die Menschen, ganz besonders die Frauen, die solche Beschäftigungsverhältnisse eingehen, in kaum einer Weise sozialrechtlich geschützt sind. Sie erhalten nicht immer Tarifgehälter, sie erhalten nicht den ihnen zustehenden Urlaub, sie erhalten weder Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Fahrtkosten, Berufskleidung noch Erschwerniszulage.Die Arbeitsschutzbedingungen sind katastrophal. Selten gibt es einen Betriebsrat. Noch nicht einmal ein Fünftel der Beschäftigten im Reinigungsgewerbe hat einen schriftlichen Arbeitsvertrag.Ich denke, es gibt eine ganze Reihe von Benachteiligungen. Wir brauchen gar nicht so weit zu suchen. Auch hier im Bundestag gibt es Fälle, die in jeder Weise diskriminierend sind. Ist Ihnen übrigens bekannt, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß die Mitarbeiter von Kursen und Fortbildungsmaßnahmen der PARLAKOM ausgeschlossen sind, falls sie die Wochenstundenzahl von 18 Wochenstunden unterschreiten? Ist Ihnen bekannt, daß das hier gewährte Übergangsgeld für Mitarbeiter, die weniger als 18 Stunden beschäftigt sind, nicht gilt? Es besteht überall Handlungsbedarf. Mit dieser Form der Rechtlosigkeit muß endlich Schluß sein.Interessant ist auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, daß inzwischen auch eine Reihe von Arbeitgebern erkannt hat, daß es mehr und mehr Wettbewerbsverzerrungen gibt, die eigentlich auch die Arbeitgeber aufhorchen lassen müßten.Der Bundesinnungsverband des Gebäudereinigerhandwerks, der nun besonders betroffen ist, hat in seiner Mitgliederversammlung die völlige Abschaffung der Sozialversicherungsfreiheit und die anteilige Sozialversicherungspflicht für alle beschlossen, und zwar zum einen wegen der vielen Mißbrauchsmöglichkeiten, zum anderen wegen der Wettbewerbsfähigkeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Unterschied zwischen der Diskussion in den letzten zehn Jahren und dem heute von uns vorgelegten Gesetzentwurf ist, daß wir diese Beschäftigungsverhältnisse nicht völlig beseitigen wollen. Wir wollen nur die Anreize für Arbeitgeber und Arbeitnehmer beseitigen, solche Verhältnisse einzugehen.Wir wollen keine Privilegierung, aber wir wollen auch keine Diskriminierung. Herr Cronenberg ist jetztleider nicht mehr da, sonst würde er vielleicht zuhören.
Sie wissen, Frau Kollegin, daß er den Dalai-Lama empfängt und sich entschuldigt hat.
Ja, ich habe das gehört.
Ich denke, es ist für uns und die F.D.P. wichtig — vielleicht kommen wir da auch zu einer Einigung —, zu wissen, daß wir auch die Geringverdienergrenze, in gewisser Weise eine Diskriminierung der Arbeitgeber, abschaffen wollen. Sie war eh ein Fossil, das durch die Dynamisierung der Geringfügigkeitsgrenze bald aufgehoben wäre.
Wir wollen mit unserem Ansatz einer Entkoppelung der individuellen Versicherungspflicht von Arbeitnehmern und der Beitragspflicht der Arbeitgeber einen Beitrag für die Arbeitsmarktflexibilisierung leisten. Das ist eine Flexibilisierung, die individuelle Arbeitszeiten ermöglicht, die familienfreundlich ist, die aber auch an den Bedürfnissen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer orientiert ist.
Das heißt, wenn wir es mit mehr Teilzeit und mehr individueller Arbeitszeit ernst meinen, dann ist die Grundvoraussetzung, daß die geringfügigen oder Teilzeitbeschäftigungen wenigstens sozialversicherungspflichtig sind und daß alle Beschäftigten in diesen Bereichen auch die Chance haben, Rentenansprüche und Arbeitslosenansprüche aufzubauen. Das ist mit unserem Gesetz ermöglicht.
Daher ist es ein ganz wichtiger Baustein für eine gleiche Beteiligung von Männern und Frauen am Erwerbsleben und an der sozialen Sicherung; denn die Rentenansprüche, so gering sie sein mögen, sind im Zusammenhang mit dem Gesamtleistungsmodell sehr wohl von Vorteil für die Frauen.
Wir erwarten logischerweise — lassen Sie mich das zum Schluß sagen —, daß diese vielen zersplitterten Arbeitsverhältnisse, die eben nicht den Bedürfnissen der Beschäftigten entsprechen, sondern die staatlich subventioniert sind und aus diesem Grunde existieren, sich langfristig tatsächlich auflösen. Für einen Teil, nämlich für Schüler, Studenten und Saisonbeschäftigte, wird das selbstverständlich noch ermöglicht und zum anderen Teil bei Arbeitsverhältnissen, die es Männern und Frauen ermöglichen, einen ausreichenden Verdienst und eine ausreichende Sozialversicherung zu haben.
Das Wort hat der Kollege Peter Keller.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst will ich daran erinnern, daß das deutsche Parlament in den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19587
Peter Keller50er Jahren die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse eingeführt hat.
Ich unterstelle natürlich, daß damals niemand vor Augen gehabt hat, daß diese Zahl heute auf die schon genannten 4,5 Millionen wachsen würde.
Aber man muß natürlich unterscheiden — ich will das noch einmal deutlich machen —, daß es da zwei Komponenten gibt, nämlich: Es sind 3 Millionen Frauen und Männer, die ausschließlich einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, und 1,5 Millionen, die als Arbeitnehmer oder auch als Beamte oder als Selbständige ihren Hauptberuf haben und das als Nebentätigkeit ausüben.Was aber das wirkliche politische Problem ist und was auch manchmal den Aufschrei begründet, ist der damalige Ausnahmecharakter, der sich heute leider in einigen Branchen — z. B. in der Gebäudereinigung — zum Regelarbeitsverhältnis ausgeweitet hat. Arbeitsmarktpolitisch ist es heute eine Wirklichkeit, daß neben den Voll- und Teilzeitstellen auch dieser — ich sage es einmal so salopp — 560-DM-Vertrag für viele als ein weiteres Arbeitsmodell angesehen wird.Bedauerlicherweise steckt hinter diesem rapiden Anstieg ein erheblicher Anteil von Mißbrauch. Genau diesen Mißbrauch müssen wir bekämpfen — Mißbrauch gegenüber Arbeitnehmern und Mißbrauch gegenüber den Konkurrenten im marktwirtschaftlichen Wettbewerb.Mißbraucht werden auch die Arbeitnehmer, deren sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse im wahrsten Sinne des Wortes zerstückelt werden. Mißbraucht werden natürlich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch dadurch, daß ihnen die arbeitsrechtliche Gleichstellung, die nämlich vollkommen vorhanden ist, in der Lebenswirklichkeit im Betrieb zum größten Teil vorenthalten wird, und zwar in allen Bereichen — wahrscheinlich auch im öffentlichen Bereich —, z. B. bei der Lohnfortzahlung, im Krankheitsfall und bei der gesamten betrieblichen Mitbestimmung.Welcher Betriebsrat oder welcher Personalleiter weiß denn, daß auch geringfügig Beschäftigte letzten Endes den Betriebsrat mitwählen können oder auch selber kandidieren können? Das gilt auch beim bezahlten Erholungsurlaub, für Weihnachts- und Urlaubsgeld, für Kündigungsschutzvorschriften und weiteres.Das ist an sich der soziale Skandal. Ich kann hier nur an Arbeitgeber, Betriebs- und Personalräte appellieren, das zu sehen und auszugleichen. Aber ich nehme an, das ist oft eine Frage des Nichtwissens.
— Das ist meine Erfahrung, Frau Weiler, weil ich mich mit dem Bereich beschäftige.Nun stellt sich hier nach diesen einleitenden Bemerkungen natürlich die Frage: Ist die von der SPD geforderte Abschaffung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse die richtige Antwort? Ich muß Ihnen sagen — Sie werden enttäuscht sein —: leider nein. Aber ich bringe andere Vorschläge.Unsere Position will ich auf den Punkt bringen: Wir wollen, daß die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse erhalten bleiben, aber daß wir nachdrücklich den Mißbrauch bekämpfen und eindämmen. Die Opposition hat ja in ihren Wortbeiträgen deutlich gemacht, daß sie für unsere wirtschaftliche Struktur diese Beschäftigungsverhältnisse als nützlich ansieht.Ich kann mir jetzt Beispiele schenken, die hier schon genannt worden sind, wie z. B. den Biergarten, der natürlich nur an herrlichen Tagen bewirtschaftet werden kann. Dafür kann man keinen festangestellten Kellner nehmen. Gleiches gilt für Tätigkeiten in der Landwirtschaft, beim Erdbeerpflücken, bei der Weinlese bei uns in Unterfranken oder auch bei der Reinigung einer privaten Zwei-Zimmer-Wohnung. Das sind keine Chancen für echte Teilzeitarbeitsplätze.Im Gegensatz dazu bin ich der Auffassung, daß die mißbräuchliche Inanspruchnahme der Sozialversicherungsfreiheit geeigneter Gegenmaßnahmen bedarf. Aber die Wiedereinführung der Versicherungspflicht bis, wie die SPD es will, auf 80 Mark herunter halte ich wirklich für den falschen Weg.Lassen Sie mich das an einigen Punkten und in wenigen Stichworten problematisieren. Bei einer allgemeinen Sozialversicherungspflicht bestünde die Gefahr der gezielten Ausnutzung. Durch Kleinstbeiträge würde ein vergleichsweise hoher Sozialschutz erlangt. Um eine ungerechtfertigte Inanspruchnahme der Solidarkassen zu vermeiden, müßte, wie es die SPD vorschlägt, entsprechend sachgerecht entgegengehalten werden, z. B. dadurch, daß Wartefristen verlängert oder andere Leistungsbestandteile ausgeklammert würden. Das gäbe erhebliche Eingriffe in unser soziales Rechtssystem. Deshalb ist das kaum praktikabel.
— Gut. Ich halte es nur nicht für machbar.
Was den Vorschlag der Einbeziehung in die Rentenversicherung betrifft, muß eines klipp und klar festgestellt werden: Wer heute maximal 560 DM aus einer Beschäftigung erzielt, kann seinen Lebensunterhalt daraus praktisch nicht bestreiten. Deshalb ist davon auszugehen, daß er auch andere Quellen hat, aus denen er seinen Lebensunterhalt bestreitet. Ich meine, der Zweck der Sozialversicherung besteht darin, einen dem Lebensstandard gemäßen Schutz bei Alter, Krankheit und Rente zu gewähren. Deshalb muß man die Sicherung im Alter an die Quellen regelmäßigen Einkommens anknüpfen und nicht an mehr oder weniger zufällig ausgeübte geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.Außerdem — auch das will ich dazu bemerken — führen Minibeiträge zu Kleinstrenten. Nur eine Zahl dazu: Wer ein Jahr lang monatlich 250 Mark verdient, hat einen späteren Rentenanspruch von 3,75 DM. Das sind bei 40 Jahren 150 DM. Was wäre die politische Folge? Der Ruf und der Druck, eine Grundrente für
Metadaten/Kopzeile:
19588 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Peter Kellerdiejenigen einzuführen, die 40 Jahre in solchen Miniarbeitsverhältnissen gearbeitet haben, würden noch stärker werden. Das würde unser Rentensystem wirklich nicht aushalten, denn wir wollen unsere Rente weiterhin leistungsbezogen gestalten.
— Ich halte die Rentenlösung für gerecht. Deshalb muß ich andere Fragen anders lösen.Eine weitere Gefahr sehe ich darin, daß Arbeitgeber bei einer allgemeinen Sozialversicherungspflicht stärker auf die Konstruktion einer Scheinselbständigkeit des Arbeitnehmers ausweichen. Das wäre ein weiterer Rückzug hinein in die Schwarzarbeit. Das wollen wir vermeiden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich versuche nun, eine Bewertung vorzunehmen und zu fragen: Wie können wir diesem wirklich wichtigen Problem von allen Seiten gerecht werden? Im Ergebnis würde — um das vorwegzunehmen — der SPD-Entwurf das Aus für die Hinzuverdienstmöglichkeiten von vielen Frauen und Männern bedeuten. Er würde die wirtschaftliche Flexibilität entscheidend schmälern.
Auch sind diese Arbeitsverhältnisse in großem Maße den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen angepaßt.
— Das ist so, Frau Kollegin Weiler.Wir dagegen wollen diese Beschäftigungsform nicht generell vom Arbeitsmarkt verdrängen, sondern wir wollen die sozialen Defizite, die sicher da sind, und vor allem die Mißbrauchsmöglichkeiten eindämmen. Dazu muß die überhöhte Attraktivität ohne Zweifel verringert werden. Das ist ein entscheidender Ansatz. Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse müssen wieder das werden, was sie früher waren, nämlich die Ausnahme und nicht die Regel in ganz bestimmten Branchen.Deshalb bitte ich, gemeinsam zu überlegen. Hierzu einige Vorschläge. Statt der Wiedereinführung der Sozialversicherungspflicht könnte man an ein Einfrieren oder an eine Kappung der Geringverdienergrenze denken. So etwas hielte ich für viel praktikabler. Man könnte es auch steuerlich für den Arbeitgeber weniger attraktiv machen, indem man einen höheren Lohnsteuerpauschalsatz festlegt. Er liegt zur Zeit bei 15 %; es waren schon 19 % vorgesehen.Ich wiederhole auch den Vorschlag des Kollegen Louven, eine Quotenregelung einzuführen, die nur eine bestimmte Anzahl von geringfügig Beschäftigten im Vergleich zur Gesamtbeschäftigtenzahl zuläßt, z. B. 10 oder 15 %Das sind Vorschläge, mit denen man leben kann, um den Mißbrauch stärker zu bekämpfen.Ich meine aber, daß auch eine gewisse Vorbildfunktion dazugehört, etwa nach dem Motto: Worte belehren, aber Beispiele reißen mit. Könnte nicht — ichfrage einfach einmal — die gesamte öffentliche Hand, also nicht nur die Ministerien, sondern die gesamte Kommunalverwaltung, eine Vorbildfunktion als Arbeitgeber bei der Auftragsvergabe wahrnehmen? Zum Beispiel sind vor 20 Jahren die meisten kommunalen Reinigungseinrichtungen in das private Reinigungsgewerbe überführt worden.
Herr Kollege Keller, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende bringen.
Ich meine also, jeder Gemeinderat, jeder Stadtrat hat es in der Hand, zu entscheiden, ob überwiegend Beschäftigte, die unter die Geringsfügigkeitsgrenze fallen, oder normal Versicherte diese Arbeiten übernehmen. Ich habe das damals als Gemeinderat und als Fraktionsvorsitzender in meiner Heimatgemeinde durchsetzen können, und darauf bin ich auch ein bißchen stolz. Nur, jeder muß ein bißchen dazu beitragen.
Kollegin Weiler würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?
Ja.
Im Zusammenhang mit Ihrer Bemerkung über die Vergabepraxis der Kommunen wollte ich von Ihnen wissen, ob Ihnen bekannt ist, daß ein ganz großer Teil der Kommunalparlamente bereits vor der Vergabe von Aufträgen an Firmen des Reinigungsgewerbes den Nachweis verlangt, daß deren Beschäftigte in der Sozialversicherung angemeldet sind.
Sind Sie weiterhin nicht auch der Meinung, daß neben diesen richtigen Aktivitäten der kommunalen Auftraggeber auch ein Schutz und eine Hilfe für die betroffenen Frauen, die nicht im öffentlichen Dienst, sondern bei privaten Unternehmern eingesetzt werden, genauso notwendig wäre?
Frau Kollegin Weiler, ich habe von den Beispielen gesprochen, und ich freue mich über jedes Beispiel. Wenn Sie den Schutz ansprechen, dann komme ich zum nächsten Vorschlag und darf das damit abrunden.Ich könnte mir auch vorstellen — zumindest könnte man das überlegen —, daß auch die Tarifvertragsparteien mithelfen könnten, hier Abhilfe zu schaffen. Ich frage mich z. B., ob nicht die IG Bau-Steine-Erden — sie hat das einmal vorgehabt — mit dem Reinigungsgewerbe einen Tarifvertrag abschließen könnte, der solche Verhältnisse ausschließt, wie sie gegenwärtig bestehen. Wenn Sie sich die Zahlen vor Augen halten, stellen Sie fest, daß das ein großer Brocken wäre. Im Reinigungsbereich gibt es etwa 700 000 Beschäftigte. 500 000 davon sollen ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis haben, darunter 90 % Frauen. Der Abschluß eines Tarifvertrages wäre hier eine echte Hilfe. Viele solcher kleinen Schritte würden das Bewußtsein ändern. Dabei müssen wir gemeinsam mithelfen. Das ist meine feste Überzeugung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19589
Peter KellerMeine lieben Kolleginnen und Kollegen, es gibt also eine Reihe von Möglichkeiten, über die man gemeinsam nachdenken kann, ohne gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Meine Damen und Herren, in der restlichen Zeit noch einige wenige Bemerkungen zur Teilzeitarbeit: Viel wichtiger, als das andere zu bekämpfen, wäre es, wirklich echte Teilzeitarbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube, daß da der Antrag der Opposition bei uns offene Türen einrennt, weil wir schon diese Teilzeitoffensive gestartet haben. Es gibt in Ihrem Vorschlagskatalog eine Reihe von problematischen Punkten — ich kann sie aus Zeitgründen hier nicht mehr vortragen —, die sich so nicht realisieren lassen, wie das fünfjährige Wahlrecht zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung oder die Staffelung der Teilzeitbeihilfe.Alles im allem aber vermag ich bei diesem Antrag von Ihrer Seite keine ernsthaften neuen Ansätze gegenüber unseren Vorstellungen zu erkennen. Das Bemühen darum möchte ich durchaus unterstellen.Richtig ist, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß Deutschland zur Zeit noch ein Entwicklungsland in Sachen Teilzeitarbeit ist. 2 bis 3 Millionen Arbeitnehmer wären bereit, auf ihre Ganztagsstelle zu verzichten und auf Teilzeitarbeit überzugehen. Unsere Aufgabe ist es, neue Wege, neue Brücken zu finden und auch neue Arbeitszeitformen ins Blickfeld zu nehmen. Da muß uns noch mehr einfallen. Ich meine, Teilzeitarbeit kann man auch auf die Woche beziehen: drei Tage für den einen, zwei Tage für den anderen. Teilzeitarbeit kann auch Monate umfassen und vielleicht auch dem Lebensrhythmus besser angepaßt werden. Ich frage mich manchmal, wieso ein 60jähriger die gleiche Arbeitszeit wie ein 20jähriger haben muß. Warum sollte er den Übergang in den Ruhestand nicht schrittweise vollziehen können?Unsere Aufgabe ist es — allein können wir das nicht schaffen, wohl aber gemeinsam mit den gesellschaftlichen Kräften —, gedankliche Barrieren zu überwinden und Vorurteile abzubauen, damit möglichst viele in Teilzeitarbeit gehen können.Schlußbemerkung: Ich meine, es ist auch bei diesen Beratungen deutlich geworden, daß wir den Mißbrauch ganz entschieden bekämpfen wollen und Vorschläge diskutieren werden. Aber wir wollen die Beibehaltung dieser Arbeitsvertragsform, der sozialversicherungsfreien 560-DM-Tätigkeiten, erhalten. Eine Alles-oder-nichts-Haltung, wie sie von der SPD zumindest im Antrag vertreten wird, hilft uns nicht weiter. Gleichzeitig wollen wir unsere Offensive für echte Teilzeitarbeit weiter vorantreiben. Dazu fordere ich alle gesellschaftlichen Gruppen in unserem Lande auf, weil das die Politik allein nicht schaffen kann.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, als nächste Rednerin hat unsere Frau Kollegin Ulla Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Keller, wenn es denn so wäre, daß wir in unseren Anträgen nichts Neues bringen würden, dann wären wir ja schon sehr zufrieden, wenn Sie wenigstens das mitmachten, was wir schon seit langem fordern, und das wirklich einmal ausprobierten.
Ich glaube, ich habe bei Ihrer Rede sehr genau zugehört, und wir sind ja gar nicht soweit voneinander entfernt in der Einschätzung, daß die öffentlich geführte Debatte um gesellschaftliche Solidarität ganz eng damit verbunden ist, wie die Menschen am Erwerbsleben teilhaben können. Dies ist verbunden mit der Frage von Arbeitszeitreduzierung und flexibleren Arbeitszeiten und auch damit, daß es endlich Zeit wird, daß wir die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufheben.Ich glaube, auf die vielen Beispiele, die es dafür in dieser Republik gibt, und auf die Versuche, Arbeitszeit zu verkürzen, um Beschäftigung zumindest vorübergehend zu sichern, brauche ich hier nicht mehr einzugehen. Der Kollege Schreiner hat aber darauf hingewiesen, daß die Frage der Arbeitszeitverkürzung nur ein Weg sein kann, Beschäftigung zu sichern, aber nicht immer der Königsweg ist, um dieses Ziel zu erreichen. Für mich ist immer dort eine Grenze vorhanden, wo über die Erwerbsarbeit die Existenz nicht mehr gesichert werden kann. Wenn man einmal davon ausgeht, kann es gar nicht darum gehen, daß es unsere Aufgabe nur ist, Hinzuverdienstmöglichkeiten zu fördern. Wir wollen für Männer und Frauen das Recht, ihre eigene Existenz über Erwerbsarbeit abzusichern. Es sollte nicht immer nur darum gehen, dazuzuverdienen, wenn der eine Lohn nicht ausreicht.
In der Tatsache, daß dies oft nicht der Fall ist, ist vielfach die Kritik an Teilzeitarbeit begründet. Trotzdem, Kolleginnen und Kollegen, bin ich der Auffassung, daß wir angesichts von sechs Millionen Menschen ohne Arbeit und auch angesichts der Tatsache, daß Erwerbsarbeit etwas mit Existenzsicherung und Existenzsicherung etwas mit der Freiheit von Menschen in einer Demokratie zu tun hat, nicht darüber hinwegsehen können, daß Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darauf hinweisen, daß durch Verkürzung der individuellen Arbeitszeit Möglichkeiten geschaffen werden können, das Arbeitsvolumen um 10 bis 30 % — je nach Kürzung — zu erhöhen.Wir können auch nicht übersehen, daß es gleichzeitig der Wunsch von vielen Menschen ist, aus persönlichen, familiären oder Qualifizierungsgründen ihre Arbeitzeit zu reduzieren — manche vorübergehend, manche längerfristig. Deshalb sage ich: Wir müssen die Teilzeitarbeit aus arbeitsmarktpolitischen sowie aus familiären und individuellen Gründen fördern.
- Wir kommen dann wenigstens dazu, daß wir das Problem richtig anpacken, so daß die Akzeptanz erhöht wird, liebe Kollegin.
Metadaten/Kopzeile:
19590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Ulla Schmidt
Tatsache ist doch: Wir hatten 250 000 Arbeitslose, die einen Teilzeitarbeitsplatz suchten. Dem standen 32 000 Teilzeitarbeitsplätze gegenüber. Die Mehrzahl derjenigen, die Teilzeitarbeitsplätze suchen, sind Frauen. Es sind Frauen, die bis heute noch immer weiter benachteiligt sind, weil sie teilzeitarbeiten. Es geht nicht nur um die Frage, daß das Familieneinkommen gering ist und daß den Frauen die Hinzuverdienermentalität zugeschrieben wird. Es geht nicht nur um die Frage, daß es in diesen Beschäftigungsverhältnissen keine arbeitsrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Absicherungen gibt.Für viele Frauen ist die Teilzeitarbeit in der Regel nicht die Grundlage für eine eigene Existenzsicherung.Es ist so, daß der berufliche Aufstieg automatisch in die Ferne rückt, Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen schon eine Menge an Diskussionen voraussetzt und in qualifizierten Funktionen Frauen vergeblich nach Teilzeitarbeitsplätzen suchen. Ein Schritt muß sein, wenn wir eine Offensive wollen, daß wir genau da ansetzen und sagen: Wir wollen die bestehenden Benachteiligungen bei Teilzeitarbeit abbauen und damit auch die gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen.
Dazu müssen wir die Teilzeitarbeit erwerbs- und sozialrechtlich absichern. Dazu gehört auch die Option, auf einen Vollzeitarbeitsplatz zurückzukehren, und zwar da, wo er vorhanden ist. Deswegen ist das auch eingeschränkt. Wenn der Betrieb nicht mehr existiert, nützt mir eine Rückkehroption nichts. Denn der Arbeitsplatz muß vorhanden sein. Aber wir brauchen das, wenn wir wirklich hingehen und sagen: Wir appellieren an die Solidarität derjenigen, die einen Arbeitsplatz haben, daß sie überlegen, inwieweit sie ihre Arbeitszeit reduzieren können, um anderen Menschen die Chance zu geben, Arbeit zu haben und ihr Einkommen selber zu sichern. Wir appellieren natürlich an die Männer, indem wir sagen: Wir bieten euch qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze, damit ihr ebenfalls eure Arbeitszeit reduziert
und damit ihr auch andere, unbezahlte Arbeit in dieser Gesellschaft wahrnehmen könnt, nämlich die Erziehungsarbeit und die Pflegearbeit.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wenn wir das wirklich durchsetzen — solche Ideen werden ja oft als die verrückten Ideen von ein paar verrückten Weibern angesehen, die in dieser Gesellschaft nichts anderes zu tun haben —, ist es ein Gewinn für die Männer, weil sie endlich die Chance haben, mehr von ihren Kindern mitzubekommen, weil sie die Chance haben, in ihrer Freizeit mehr ihren Hobbys und anderen Dingen nachzugehen. Es ist ein Gewinn für die Familien, weil nämlich Männer und Frauen ihre Zeit investieren können. Es ist darüber hinaus ein Gewinn für die Unternehmen, weil eindeutig klar ist — das beweisen Untersuchungen —, daß diejenigen, die nicht einseitig auf ihren Beruf ausgerichtet sind, viel kreativer undviel effektiver sind. Dadurch wird die Produktivität erhöht.Ich möchte zum Schluß noch etwas erwähnen. Wenn wir hingehen und sagen: Wir wollen eine Offensive starten, um die gesellschaftliche Akzeptanz von Teilzeitarbeit zu erhöhen, dann müssen wir alle Benachteiligungen abbauen, die Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten haben.
Sonst wird es so bleiben, Herr Kollege Keller, daß Teilzeitarbeit nur die Hinzuverdienermentalität fördert, aber nie so ist, daß sich Männer und Frauen in dieser Gesellschaft unbezahlte und bezahlte Arbeit wirklich teilen. Ich persönlich bin der Meinung, daß Mann und Frau, die je sechs Stunden arbeiten können und ein Zwölf-Stunden-Einkommen für die Familie haben, bessergestellt sind als mit einem Acht-Stunden-Einkommen für den Mann und der Hinzuverdienerrolle für die Frau in einem ungeschützten Arbeitsverhältnis.
Es hat auch etwas mit der eigenen sozialen Absicherung im Alter zu tun. Es wird davon geredet, was die Unternehmen bezahlen müssen: Ich halte es nicht für gerecht, daß Menschen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen leben, daß wir solche Arbeitsverhältnisse dulden, ohne das Solidarprinzip der Sozialversicherung einzufordern, und daß anschließend die Allgemeinheit über Steuern und Sozialhilfe all das ausgleichen muß, weil Menschen ihre Existenz nicht mehr über eigene Arbeit sichern können.
Ich bin auch fest davon überzeugt: Wir werden eine breite Akzeptanz von individueller Arbeitszeitreduzierung nur dann durchsetzen können, wenn wir unseren Appell auch an diejenigen richten, die über höhere Einkommen verfügen, weil genau diejenigen am allerehesten in der Lage sind, etwas von ihrem Einkommen abzugeben, ohne daß direkt die Existenz von Familien bedroht ist oder daß der Staat subventionieren und Lohnkostenzuschüsse geben muß. — Es gibt also viele Gründe.Zum Schluß: Wir reden soviel über Werte. Es gibt eine Wertedebatte in dieser Gesellschaft. Ich bin sehr gern bereit diese Wertedebatte zu führen: über die Fragen von gesellschaftlicher Solidarität, über die Frage von Teilen und neu Verteilen und über die Frage, wie wir das Bündnis in dieser Gesellschaft zwischen denjenigen, die stärker sind, und denjenigen, die schwächer sind, herstellen können.Dabei geht es zum einen uni die, die mehr verdienen als die anderen, zum anderen um die gerechte Verteilung zwischen Männern und Frauen. Das werden die Voraussetzungen dafür sein, daß wir eine solidarische Gesellschaft haben und daß wir uns wirklich wieder über Werte unterhalten, die hinführen zu mehr Demokratie, zu mehr Freiheit für alle und die langfristig davon wegführen, daß alle Menschen immer abhängiger werden von den Leistungen des Staates oder von sonstigen Leistungen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19591
Ulla Schmidt
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, zum Schluß der Debatte erteile ich jetzt dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Rudolf Kraus, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich feststellen zu können, daß sich fast alle Redner, die in dieser Debatte gesprochen haben, ausdrücklich für die vermehrte Förderung von Teilzeitarbeit ausgesprochen haben und daß wir alle der Meinung sind, daß mit dieser Teilzeitregelung durchaus ein Beitrag zur Bewältigung aktueller arbeitsmarktpolitischer Probleme geleistet werden kann — wenn auch die unterschiedlichen Begründungen nicht von jedermann geteilt werden. Ich habe genau beobachtet, wann der Herr Kollege Schreiner nicht geklatscht hat, nämlich als bestimmte Gründe für die Teilzeitarbeit angeführt worden sind. Das muß man feststellen, damit hier auch gesehen wird: Man kann Teilzeitarbeit aus unterschiedlichen Gründen befürworten.
Wir wissen alle, daß in anderen Ländern der Anteil der Teilzeitbeschäftigten sehr viel größer ist als bei uns. Wir wissen aber auch, daß wir hier natürlich ganz besonders auf die Betriebe und auf die Tarifvertragsparteien angewiesen sind.
Die Bundesregierung hat im Rahmen des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985 für die Verlängerung der befristeten Arbeitsverträge und für die Regelungen über eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung im Arbeitszeitrechtsgesetz unseres Erachtens das Notwendige getan. Vieles muß durch die Tarifvertragsparteien ausgehandelt werden, beispielsweise auch die Frage des Rechts auf Rückkehr in Vollzeitarbeit.
Eines möchte ich allerdings ganz klar darstellen: Wir betrachten diese Teilzeitarbeit nicht etwa als etwas, was in die allgemeine Strategie hineinpaßt: Arbeitszeitverkürzung als Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Arbeitszeitverkürzung, global und pauschal gesehen, ist unseres Erachtens wirklich nicht geeignet, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Die Voraussetzungen stimmen nicht. Es gibt genügend Arbeit, allerdings zu bezahlbaren Bedingungen, wie die Beschäftigung vieler Ausländer beweist.
Es ist ein Grundirrtum, wenn man glaubt, daß die Arbeit nur auf mehr Schultern verteilt werden müßte, wenn man sie von den arbeitenden Schultern heruntergenommen hat. Die Schultern, auf die Arbeit verteilt werden könnte, sind zum größten Teil dafür nicht geeignet, sei es, daß die Betreffenden eine andere Berufsausbildung haben, örtlich nicht verfügbar sind, diese Dinge vielleicht aus familiären Gründen nicht tun können, daß sie älter und vielleicht auch gesundheitlich angeschlagen sind oder in dem einen oder anderen Fall zugegebenermaßen sicher auch keinen
besonderen Drang haben, diese Tätigkeit zu übernehmen.
— Der Drang zur Werkbank oder zum Schreibtisch ist bei manchen Leuten eben nicht so ausgeprägt, wie man es vielleicht erwarten sollte. Das ist aber eine altbekannte Tatsache; die Lebenswirklichkeit zeigt es immer wieder.
— Was das anbelangt, so gibt es in Ihrem Land Amigos in großer Fülle, wie wir aus einer Reihe von Berichten wissen.
Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Weiler zu?
Aber selbstverständlich.
Bitte, Kollegin Weiler.
Herr Kollege, Ihre Bemerkungen zur Arbeitszeitverkürzung generell haben mich doch sehr verwundert. Ist Ihnen nicht klar, daß die Arbeitszeitverkürzung in den letzten drei, vier, fünf Jahren — von den Gewerkschaften mit den Arbeitgebern ausgehandelt — zusammen mit dem Abbau der Überstunden — zwar noch viel zu zaghaft, aber immerhin — massenhaft Arbeitsplätze erhalten hat?
Ich bestreite, Frau Weiler, dieses ausdrücklich. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, daß durch Arbeitszeitverkürzung zusätzlich Arbeitsplätze geschaffen werden können.Das ist eine logische Geschichte. Wir haben derzeit auf jeden Fall noch zusätzlichen Bedarf; eine Sättigung der Märkte gibt es nicht, weder im Bereich der Dienstleistungen noch der Güternachfrage. Wenn das so ist, ist die Tatsache, daß weniger, kürzer gearbeitet wird, selbstverständlich mit der Tendenz verbunden, daß die Güter und Dienstleistungen teurer werden. Wenn diese teurer werden, können sie weniger Leute bezahlen, obwohl der Bedarf dafür vorhanden ist.Ich halte Arbeitszeitverkürzung als Ausdruck des sozialen und gesellschaftlichen Fortschritts natürlich für eine gute Sache. Auch ich bin dafür, daß der einzelne mehr Freizeit hat, aber man darf das nicht mit einer arbeitsplatzschaffenden Methode verwechseln.
Außerdem gibt es eine ganz natürliche Grenze der Arbeitszeitverkürzung. Auch das muß man sehen. Dies ist der Zweitberuf. Wenn die Leute nur wenig verdienen, weil sie immer weniger arbeiten können
Metadaten/Kopzeile:
19592 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Parl. Staatssekretär Rudolf Krausoder dürfen, dann werden sie im Endeffekt natürlich mit dem Geld, das sie verdienen, nicht auskommen, wenn sie ihren Lebensstandard erhalten wollen. Dann ergreifen sie einen Zweitberuf. Dann stehen wir vor der Situation, wie wir sie jetzt haben, nämlich daß in vielen Bereichen eben sehr viel mehr zusätzlich gearbeitet wird, was Sie auf der anderen Seite wiederum nicht wollen.Ich möchte mich in Anbetracht der Tatsache, daß die Argumente praktisch ausreichend ausgetauscht worden sind, jetzt hier sehr kurz fassen und nur noch ganz kurz auf die Frage der geringfügig Beschäftigten eingehen. In der Tat: Die Zahl von 4,5 Millionen wird aus unserem Hause bestätigt. Von den 4,5 Millionen sind allerdings 1,5 Millionen geringfügig Nebenbeschäftigte. Das ist also eine andere Qualität, zumindest was die soziale Seite anbelangt. Die Notwendigkeit der sozialen Absicherung müßte man sicher berücksichtigen. Daß es in diesem Bereich Mißbrauch gibt, und zwar gerade in letzter Zeit, ist uns selbstverständlich ebenfalls bekannt, insbesondere dadurch, daß Vollzeitarbeitsplätze zerteilt, zerlegt werden in eine Vielzahl von Miniarbeitsplätzen. Das ist eine ungute Entwicklung.
Wir sind uns auch darüber einig, daß hier der Mißbrauch bekämpft werden muß. Wir haben einiges getan. Vom Kollegen Louven wurde dies bereits ausreichend aufgezählt.Unser Problem liegt ja auch darin — was Sie ebenfalls angeschnitten haben —, daß wir uns alle darüber einig sind, Mißbrauch zu verhindern, auf der anderen Seite aber auch die Notwendigkeit für Ausnahmen sehen. Frau Weiler, Sie haben vorhin eine ganze Reihe von Tatbeständen aufgeführt, für die Sie Ausnahmeregelungen gültig sein lassen wollen. In diesem Bereich konkret und ganz scharf abzugrenzen wird fürchterlich schwierig sein. Das macht uns das größte Kopfzerbrechen. Das gilt insbesondere für eine Quotenregelung für die einzelnen Betriebe. Ich stelle das hier nur einmal in den Raum. Ob das der Weisheit letzter Schluß ist, muß bezweifelt werden.
— Das macht nichts; das wird von allen Seiten immer wieder gebracht.Ich möchte das hier nur sagen, weil einfach die Verhältnisse ganz, ganz unterschiedlich sind. Es müßten zumindest die branchenspezifischen Bedingungen in besonderer Weise berücksichtigt werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich denke, daß es in Anbetracht der langen Diskussionszeit richtig ist, meine Redezeit nicht voll auszuschöpfen.Danke schön.
Herr Staatssekretär, ich sage vielen Dank.
Nun kommen wir zur abschließenden Behandlung der Vorschläge, die gemacht worden sind. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/7108 und 12/7107 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zum letzten Punkt der heutigen Tagesordnung, nämlich der Beratung der Zusatzpunkte 4 bis 6:
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hans Modrow, Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Beseitigung der Behinderung und Diskriminierung von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern bei der Europawahl
— Drucksache 12/7384 —
Überweisungsvorschlag: Innenausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Teilnahme von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern
— Drucksache 12/7420 —
Überweisungsvorschlag: Innenausschuß
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes
— Drucksachen 12/6621, 12/6733, 12/6744, 12/7405 —Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Heinrich Krey Hans-Joachim Welt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe auch da keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserer Frau Kollegin Andrea Lederer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um was geht es bei dieser Debatte? Der Vertrag von Maastricht hat der Bundesregierung im Grunde genommen einen ersten Schritt zur Einführung eines Ausländerwahlrechtes abgerungen. Erstmals nämlich können Menschen mit anderer Staatsbürgerschaft als der deutschen an einer Wahl in dem Land teilnehmen, in dem sie ihren Lebensmittelpunkt haben, also z. B. Französinnen, Engländer etc. in der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie hier leben. Gemeint sind also die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger.Was die Bundesregierung aber getan hat — das spricht für ihre Haltung zu diesem Recht —, ist, hohe Hürden aufzubauen, damit wahrscheinlich relativ
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19593
Andrea Ledererwenige in den Genuß kommen, dieses Wahlrecht in Anspruch zu nehmen.Zum einen hat sie eine sehr kurze Frist festgelegt, innerhalb derer Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in den Meldebehörden erscheinen müssen, um zu beantragen, in ein Wählerverzeichnis eingetragen zu werden. Die Frist läuft am 9. Mai ab. Ich sage bewußt: am 9. Mai — also bevor der Bundestag hier wieder zusammentritt und noch etwas entscheiden kann.Zum zweiten hat es die Bundesregierung dabei bewenden lassen, Flugblätter zu verteilen und einige Anzeigen in Zeitungen zu schalten. Sie hat es aber unterlassen — was ohne Probleme möglich gewesen wäre --, alle in der Bundesrepublik lebenden Unionsbürgerinnen und Unionsbürger anzuschreiben und sie zumindest darüber zu informieren, daß sie nunmehr wählen können, ob sie in ihrem Heimatland wählen wollen, beispielsweise über die Botschaften, oder ob sie das Wahlrecht hier in diesem Land, in dem sie leben, in dem sie ihren Wohnsitz haben, wahrnehmen wollen.Wir haben von Anfang an davor gewarnt zu versuchen, über erstens eine kurze Frist und zweitens eine verfehlte, völlig unausreichende Informationspolitik zu verhindern, daß alle überhaupt die Möglichkeit haben, darüber zu entscheiden, wo sie wählen. Meines Erachtens ist das auch eine Form der Beschneidung des Wahlrechts. Es tangiert das Wahlrecht wirklich im Kern.Es wäre erforderlich gewesen, sämtliche Behörden anzuweisen, die in diesem Land lebenden Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten anzuschreiben und sie zu informieren, und zwar in der jeweiligen Muttersprache, damit sie sich frei entscheiden können, wo sie wählen wollen.Es gibt jetzt schon Erfahrungen — man konnte davon hören und in der Presse lesen —, daß viele auch sehr große Probleme auf Grund der Formalien haben, die verlangt werden, wenn man überhaupt in ein Wählerverzeichnis eingetragen werden will. Ich kenne einen konkreten Fall, in dem eine italienische Kollegin versucht hat, mit Formularen der Meldebehörde, mit Fragebögen etc. bei Emigrantenverbänden oder in anderen Kreisen dafür zu werben, das Wahlrecht hier auszuüben. Es wurde ihr verweigert, diese Formulare und Fragebögen mitzunehmen. Sie wurde darauf verwiesen, daß dies Sache der Information über Falt- und Flugblätter durch die Kommunen sei. Nicht einmal eine Unterstützung in dieser Hinsicht ist also gewollt.Ich habe mich mit einem Brief an das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gewandt und erfahren, daß 1,4 Millionen Faltblätter ab Ende März versandt worden sind. Mitte April sind, freilich in deutscher Sprache, Anzeigen geschaltet worden.Nötig wäre erstens eine Fristverlängerung. Wir schlagen eine Fristverlängerung bis zum 31. Mai vor, die heute beschlossen wird. Zweitens wäre es notwendig, die Behörden zu verpflichten, alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger anzuschreiben und sie zumindest darüber zu informieren, daß sie hier wählen können, wenn sie — entsprechend den Voraussetzungen — ihren Wohnsitz hier haben.Ich will gleich erklären, warum ich heute auf Abstimmung über unseren Antrag bestehen werde. Das Problem ist folgendes. Wir haben darüber beraten, ob es möglich sein könnte, die Anträge — auch den der SPD — an die Ausschüsse zu überweisen und in der Woche vom 17. Mai an darüber zu beraten und möglichst zu erreichen, daß in dieser Woche noch ein Beschluß gefaßt wird.Wir haben folgende gesetzliche Lage. Die Frist läuft am 9. Mai ab. Angenommen, der beste Fall tritt ein — Bundesregierung und Regierungskoalition stimmen letztlich einer Fristverlängerung zu —, so haben wir die Situation, daß zwischen dem 9. und dem 19. Mai — das wäre der frühestmögliche Termin, zu dem hier eine Entscheidung fallen könnte — die Menschen nicht einmal zu den Meldebehörden gehen und beantragen könnten, daß sie in die Wählerverzeichnisse eingetragen werden. So ein Verfahren ist meines Erachtens völlig widersinnig.Leider hat sich die SPD in ihrem Antrag auf eine Fristverlängerung bis zum 20. Mai beschränkt, was übrigens eine Überweisung noch widersinniger machen würde; denn dann könnten wir am 19. Mai beschließen, daß die Frist bis zum 20. Mai verlängert wird.Aber beide Anträge sind völlig plausibel. Sie müßten auch den Ministerien plausibel sein. Deswegen möchte ich für unsere Gruppe darauf bestehen, daß wir über unseren Antrag heute abstimmen. Die Abstimmung wird dann, wenn die Regierungskoalition nicht zustimmt, deutlich machen, wie ernst sie das nimmt, was durch den Vertrag von Maastricht, den sie mit ausgehandelt hat, an Rechten für Menschen und an Öffnung geschaffen wurde. Es ist wirklich ein Beitrag zu einer europäischen Öffnung, daß maßgeblich ist, wo der Lebensmittelpunkt ist, und nicht die Staatsbürgerschaft entscheidet.Ich will bei der Gelegenheit gleich eine weitere Warnung loswerden. Der Vertrag von Maastricht schreibt nämlich auch vor, daß bis zum 1. Januar 1995 Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern das kommunale Wahlrecht in den Wohnsitzstaaten ermöglicht wird. Wir werden die Bundesregierung in der nächsten Woche befragen, was sie eigentlich unternommen hat, um dies schnellstmöglich umzusetzen. Wir sind auch der Meinung, daß es diesem Land gut angestanden hätte, mindestens diese Regelung schon in diesem Jahr, in dem sehr viele Kommunalwahlen stattfinden, in Kraft zu setzen und damit nicht bis zum letztmöglichen Termin zu warten. Wir werden der Bundesregierung auf die Finger schauen.
Wir werden diese neue Regelung, die wir sehr begrüßen, auch dazu nutzen, uns weiterhin für ein allgemeines Wahlrecht auch von Menschen anderer Nationalität, die ihren Lebensmittelpunkt hier haben, die seit längerer Zeit hier leben, zu engagieren. Es wird Ihnen bald kein Argument mehr bleiben, warum beispielsweise eine Französin, die seit drei Monaten hier wohnt, ein Wahlrecht hat— momentan zumindest bei Wahlen zum Europäischen Parlament und bei kommunalen Wahlen —, während auf der anderen Seite eine Türkin, die entweder schon hier geboren ist
Metadaten/Kopzeile:
19594 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Andrea Ledereroder seit 20 Jahren hier lebt, kein Wahlrecht haben soll.
Das heißt, wir werden diese Möglichkeiten auch dazu nutzen, für dieses Recht einzutreten.Es ist so peinlich: In dieser Woche ist das, was Sie allesamt in Sachen doppelter Staatsangehörigkeit hier einmal versprochen haben, von Ihnen abgelehnt worden.
Sie wissen genau: Die Dringlichkeitsentschließung des Europäischen Parlaments, die letzte Woche ergangen ist, meint genau die Zustände in Sachen Europawahlrecht in diesem Land.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Dieter Schloten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich den Antrag der PDS-Gruppe las, habe ich mir die Augen gerieben und mich gefragt: Wie kann so schnell aus dem Bock ein Gärtner werden?
Kürzlich noch hat die PDS den Vertrag zur Europäischen Union abgelehnt. Heute schon möchte sie der Wächter seiner Umsetzung sein, und das, Frau Lederer, ausgerechnet bei Wahlen!
Die PDS will sich doch wohl nicht die jahrzehntelange Erfahrung ihrer Vorgängerpartei mit Wahlverfahren zunutze machen?
Das Anliegen des Antrages Ihrer Gruppe ist in der Tat ein anderes. Es verdient eine rasche und sorgfältige Prüfung. Denn es wäre der Reputation der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union abträglich, wenn die Unionsbürger in unserem Staat ihr Wahlrecht zum Europäischen Parlament gemäß Art. 138 des Unionsvertrages nicht wahrnehmen könnten.
Sie wären dann entweder nicht hinreichend informiert oder gar durch Fehlverhalten von Behörden diskriminiert worden. Bevor allerdings eine Gruppe im Deutschen Bundestag derartige Vorwürfe öffentlich in Form eines Antrages erhebt, sollte sie deren Wahrheitsgehalt sowie die Umsetzungsmöglichkeiten ihrer Forderungen prüfen.Wenn die PDS mit ihrem zweiten Antragspunkt die Bundesregierung — ich zitiere — „auffordert, ihre Behörden erneut anzuweisen, daß sie unverzüglich ihrer Pflicht nachzukommen haben", dann verkennt sie — vielleicht aus parteigeschichtlichen Gründen — den föderalen Aufbau unseres demokratischen Rechtsstaates, in dem die Kommunen ein hohes Maß an Selbstverwaltung haben. Zum Glück kann keine Bundesregierung eine Gemeindeverwaltung „anweisen" .Nicht frei von nationaler Arroganz ist die Aufforderung an die Bundesregierung in Punkt 4 Ihres Antrages, Frau Lederer, gegenüber anderen EU-Staaten ihren Einfluß geltend zu machen, damit sie ihren im Vertrag über die Europäische Union übernommenen Verpflichtungen nachkommen. Mich würde interessieren, welche angeblich diskriminierenden Umstände die PDS veranlaßt haben, die Bundesregierung aufzufordern, ihre Nachbarn und Partner durch Überheblichkeit zu verärgern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Kern des Antrages, nämlich der Forderung nach einer Verlängerung der Frist zur Eintragung in die Wählerverzeichnisse. Die dafür vorgesehene Frist endet am 9. Mai. Die PDS will sie bis zum 31. Mai verlängert wissen. Am 12. Juni ist schon Europawahl. Frühestens am 1. Juni könnten demnach die Antragsformulare an die zentralen Anlaufstellen der Mitgliedstaaten versandt werden. Von dort müssen sie zwecks Prüfung der Wahlberechtigung bzw. einer nicht zulässigen Doppelwahl in die Heimatgemeinde des jeweiligen Antragstellers weitergeleitet werden. Nach der Prüfung dort erfolgt der entsprechende Rücklauf.Wer einmal einen Brief aus Andalusien, Kalabrien oder von der Peloponnes erhalten hat, weiß, daß der Postweg in der Regel mindestens eine Woche in Anspruch nimmt — ohne inhaltliche Prüfung durch zwei Behörden. Fazit: Der PDS-Antrag auf Fristverlängerung bis zum 31. Mai ist ein Wahlverhinderungsantrag für die Unionsbürger.
Deshalb mußten wir Sozialdemokraten einen eigenen Antrag einbringen, der eine maßvolle Fristverlängerung um elf Tage bis zum 20. Mai vorsieht. Bei viel gutem Willen aller beteiligten in- und ausländischen Behörden könnte das nach unseren Recherchen gerade noch klappen.Wir bitten deshalb die Bundesregierung, unverzüglich mit unseren Unionspartnern zu sprechen, ob eine derartig rasche Prüfung und Rücksendung möglich ist. Unsere Gemeindeverwaltungen sind selbstverständlich zur schnellen Bearbeitung der Anträge bereit und fähig. Auf keinen Fall darf durch eine Fristverlängerung auch nur ein Unionsbürger seine Wahlmöglichkeit einbüßen.Dabei möchte ich darauf hinweisen, daß ohnehin in Deutschland und Großbritannien die längste Antrags-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19595
Dieter Schlotenfrist vorgesehen ist. In allen anderen EU-Staaten müssen die Anträge vor dem 9. Mai abgegeben werden. In Luxemburg und Portugal ist die Antragsfrist bereits abgelaufen.Trotz dieser Verfahrensweise und Terminschwierigkeiten beantragt die SPD-Fraktion eine maßvolle Fristverlängerung. Wir wollen nämlich, daß sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den bei uns lebenden Unionsbürgern die Ausübung ihres Wahlrechts zu ermöglichen. Dafür brauchen wir offenbar mehr Zeit. Denn trotz Informationen über amtliche Bekanntmachungen, ein mehrsprachiges Faltblatt der Bundesregierung, Presseveröffentlichungen sowie einer individuellen Anschreibenaktion zahlreicher Kommunen ist die Nachfrage nach Antragsformularen sehr gering, der Rücklauf bis gestern, 28. April, minimal.Hier einige Beispiele, bewußt in alphabetischer Reihenfolge: Bremen: Bis gestern 113 Anträge von 6 500 Wahlberechtigten. Hannover: 278 Anträge von 13 318 Wahlberechtigten. Kiel: 60 Anträge von 2 100 Wahlberechtigten. Mülheim an der Ruhr — das ist meine Heimatstadt; deswegen bringe ich das Beispiel hier —: 50 Anträge von 2 558 Wahlberechtigten. München: 103 Anträge, keine Angabe zu den Wahlberechtigten; sehr viele, nehme ich an. Stuttgart: 150 Anträge von 33 000 Wahlberechtigten. Wiesbaden: 200 Anträge von 10 000 Wahlberechtigten.Interessant ist ein Blick in die neuen Länder. Dazu habe ich nur pauschale Angaben: Brandenburg— sehr interessant —: 460 Unionsbürger gemeldet, 1 300 Anträge auf Eintragung ins Wählerverzeichnis— ein Lichtblick mit Fragezeichen. Sachsen-Anhalt: ca. 1 300 Unionsbürger, bisher liegen keine Antragszahlen vor. Für Thüringen gilt bei 1 000 Unionsbürgern das gleiche, Mecklenburg-Vorpommern: nur 300 Unionsbürger, ebenfalls bisher keine Antragszahlen. Sachsen konnte mir bis gestern keine Angaben machen.Wir würden es uns zu einfach machen, wollten wir diese mageren Zwischenergebnisse ausschließlich mit mangelnder Information durch die Bundesregierung begründen. Ich muß zunächst auf zwei wichtige Ursachen hinweisen: Zuweilen gibt es Diskrepanzen zwischen den Eintragungen in den Karteien von Einwohnermeldeämtern und den tatsächlichen Anschriften. So kamen z. B. in Hannover 1 000 von 13 318 individuellen Informationsschreiben als „unzustellbar" zurück.Es gibt für Griechen und Italiener auf Bitten der jeweiligen Botschaft mit dem Einverständnis der Bundesregierung eigene Wahllokale in zahlreichen von den Konsulaten ausgesuchten Städten und Gemeinden, in denen diese Unionsbürger ihre nationalen Kandidaten für das Europäische Parlament bereits am 11. Juni wählen können. Nach den bisherigen Erfahrungen ist davon auszugehen, daß die große Mehrzahl der Griechen und Italiener in Deutschland von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wird. Allein in Mülheim an der Ruhr sind dies 42 % der Wahlberechtigten. Sollten noch andere Mitgliedsstaaten der Union von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, was ich zur Zeit nicht weiß, könnte der Anteil der Unionsbürger,die hiesige Kandidaten wählen wollen, relativ klein bleiben.Es erscheint mir fraglich, ob dieses Verfahren den Europagedanken fördert. Wir sollten das einmal im EG-Ausschuß hier und im zuständigen Ausschuß des Europäischen Parlamentes demnächst erörtern.Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung auf, in einer breitangelegten Informationskampagne die Unionsbürgerinnen und -bürger über ihr Wahlrecht erneut zu informieren.
Ich höre die Antworten schon: Alles längst geschehen, mehr kann man doch nicht tun. Allein, mir fehlt der Glaube, denn das neunsprachige Faltblatt des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Stand: März 1994, kam z. B. erst am 24. April im Rathaus meiner Heimatstadt an.Die offiziellen Informationen in Anzeigen und Presseveröffentlichungen haben offenbar nur einen kleinen Teil der Wahlberechtigten erreicht. Amtsblätter und Anschläge an Schwarzen Brettern werden zumeist nur im Rathaus gelesen. Die Wahlberechtigten wohnen bekanntlich außerhalb desselben.Der Empfehlung des Deutschen Städtetages, Postkarten bzw. individuelle Schreiben mit Antragsformularen an alle Wahlberechtigten zu versenden, sind nicht alle Gemeinden gefolgt. Als Beispiel möchte ich die „arme" Stadt Düsseldorf nennen, die nach eigener Angabe pleite ist und deshalb keine persönlichen Anschreiben verschickt hat. Die Folge: Von 24 580 Wahlberechtigten haben bisher ganze 20 — das sind 0,08 % — in Düsseldorf einen Antrag eingereicht.
Was bleibt uns, die wir an einer hohen Wahlbeteiligung interessiert sind, anderes übrig, um die Demokratie in der Europäischen Union zu stärken, als auf eine erneute Informationskampagne zu setzen?
Aber bitte nicht mehr über Amtsblätter, Schwarze Bretter und Anzeigen in überregionalen Tageszeitungen. Über die Lokalzeitungen und über das Fernsehen muß sie schon laufen. Das nächste Kanzlerinterview in SAT 1 steht uns doch gewiß noch vor der Europawahl ins Haus. Und die Finanzierung eines Werbespots zwischen 19 und 20 Uhr im Fernsehen müßte doch auch noch im Etat sein.
Der Deutsche Städtetag setzt immer noch auf eine gute Wahlbeteiligung. Wir sollten ihn darin unterstützen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit zu dieser Zeit.
Meine Damen und Herren, auf Grund der letzten Bemerkung des Kollegen Dieter Schloten will ich nur noch einmal sagen: An und für sich war vorgesehen, daß wir bis 13 Uhr hier
Metadaten/Kopzeile:
19596 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Vizepräsident Helmuth Beckerfertig sind. Viele von uns haben so auch ihre Zeitpläne eingeteilt, um in den Veranstaltungen in den Wahlkreisen zur Verfügung zu stehen. Ich will jetzt nur darauf aufmerksam machen, weil wir uns nicht beklagen können, daß wir unsere eigenen Vorgaben nicht einhalten.
— Ich will das nur erklären.Nächster Redner ist unser Kollege Wolfgang Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Versuchen, hier noch neue Daten festzusetzen, begegne ich mit großer Skepsis. Wenn die Bundesregierung auf Grund ihrer Prüfung zu dem Ergebnis käme, noch mehr Luft geben zu können, wäre ich damit einverstanden. Ich meine nur, wir müssen auch auf zwei Dinge achten.
Das eine ist: Es muß vermieden werden, daß wir durch Fristunsicherheit neue Anfechtungsgründe schaffen. Wenn z. B. jemand darauf vertrauen würde, daß vielleicht doch noch eine Fristverlängerung kommt und er deswegen erst am 7. seinen Antrag einreicht, kann das schwierig werden.
Das zweite ist: Wir müssen auch sehen, daß wir den europäischen und den föderalen Abstimmungsprozeß hinbekommen. Wenn wir es schaffen, lieber Herr Waffenschmidt, kurzfristig, d. h. für mich innerhalb der nächsten drei Tage, Anfang der nächsten Woche Klarheit zu schaffen, dann ist das in Ordnung. Aber bitte keine neuen Unsicherheiten.
Ich möchte an dem Punkt anknüpfen, den Herr Schloten mehrfach erwähnt hat. Ich halte es für das allerwichtigste, daß wir noch in der nächsten Woche mit mehr Kampagnen an die Öffentlichkeit kommen. Ich möchte das um zwei Bereiche ergänzen. Das eine ist: Fassen wir uns doch mal an die eigene Nase. Unsere Parteien machen so viele Informationen über Wahlkampfwerbung. Man müßte auch die Wahlbeteiligungswerbung und damit auch die Werbung zur Eintragung in die Wählerliste zum Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit von uns allen in den Parteien machen.
Zweitens. Sie haben den Kommunalbereich angesprochen, und ich unterstreiche das. Es gibt Gemeinden, wie z. B. Berlin — ich erwähne das, weil wir da in der Opposition sind; da kann man ja auch mal was Positives sagen —, die alle in Betracht kommenden wahlberechtigten Unionsbürger angeschrieben haben. Dann wissen die Bescheid.
Ich hätte die Bitte, lieber Herr Waffenschmidt, daß die Bundesregierung noch einmal auf ihrem Informationsweg den Kommunen gegenüber die Bitte äußert, doch noch kurzfristig die Wahlberechtigten anzuschreiben, wo sie noch nicht angeschrieben worden sind.
Das wahrt die institutionelle Unabhängigkeit der Kommunen. Aber so eine Bitte kann doch wohl, verdammt noch mal, nichts schaden.
Das dritte ist: Diese Bundesregierung versteht sich eigentlich, wenn es darauf ankommt, immer sehr gut auf Öffentlichkeitsarbeit. Das Presseamt ist gut bezahlt, gut besetzt und macht gute Arbeit — manchmal sogar zu gut und manchmal sogar zu parteilich.
— Ich sage ja: Manchmal zu parteilich. Sie haben mir das Wort nur vorweggenommen.
Aber hier wäre es eigentlich geboten, sich so etwas nicht mehr zu leisten. Ich habe hier eine Bekanntmachung — möglicherweise werden diese sogar noch im Anzeigenteil der Zeitungen und in deutscher Sprache veröffentlicht —, bei der noch nicht einmal die Frist fettgedruckt ist: „Für Staatsangehörige der übrigen Staaten der Europäischen Gemeinschaft zur Wahl zum Europäischen Parlament in der Bundesrepublik Deutschland". Wer so etwas herausgibt, vergeudet Geld.
Wer so etwas wie dieses Mehrfachfaltblatt des Bundespresseamtes herausgibt, macht eine gute Arbeit. Auf dieser Basis sollten wir, so meine ich, weitermachen.
Ich habe die herzliche Bitte, daß sich insbesondere diejenigen, die den Zugang zu den Medien zu schätzen und zu nutzen wissen — dabei denke ich auch an unseren Herrn Bundesinnenminister, der das ja sehr gut kann —, einmal in den Dienst Europas stellen und noch in dieser Woche die Informationsarbeit als Sachkampagne vorantreiben. Es müßte doch gelingen, daß wir die europäischen Bürger, zum Teil auch in ihrer Sprache, ansprechen und daß wir über die Medien mehr Informationen geben, möglichst auch in den Zeitungen, die in der Sprache der nichtdeutschen Unionsbürger erscheinen. Auch hier kann viel geschehen.
Mein Appell lautet: Nutzen wir die nächste Woche zur Information, damit sich die Leute noch bis zum 9. Mai, 16 Uhr, eintragen, ehe wir in Unsicherheiten kommen, von denen wir nicht wissen, ob sie beseitigt werden können. Eine große Wahlbeteiligung der deutschen und nichtdeutschen Bürger der Europäischen Union am 12. Juni wäre doch, unabhängig vom Wahlausgang, eine gute Grundlage auch für die Präsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union in der zweiten Hälfte dieses Jahres. Nur wer das Wahlrecht der Europäer ernst nimmt, macht auch wirklich Ernst mit und für Europa. Das sollten wir alle wollen.
Herr Kollege Konrad Weiß, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kol-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994 19597
Konrad Weiß
lege Konrad Elmer, den ich hier nicht sehe, mahnt uns ja unablässig zur Mitmenschlichkeit.
Ich möchte dieser Mahnung in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit folgen, indem ich die Argumente, die ich vorzutragen habe, zu Protokoll gebe. Ich möchte nur sagen, daß ich den Antrag der SPD unterstütze.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Weiß.
Ich muß noch feststellen lassen, ob alle damit einverstanden sind, daß dieser Beitrag zu Protokoll gegeben wird. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Nun kommen wir zum letzten Redebeitrag in dieser Debatte, den unser Kollege Dr. Horst Waffenschmidt, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, hält.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei Punkte: Erstens. Ich denke, wir sind alle übereinstimmend der Auffassung, daß wir jede nur denkbare Möglichkeit ausnutzen sollten, um noch zu informieren und zu mobilisieren, an der Europawahl teilzunehmen. Es kann nur unser gemeinsames Anliegen sein, eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen.
Ich will in diesem Zusammenhang sagen, daß neben dem, was an Informationsarbeit geleistet wurde, in den nächsten Tagen sicherlich noch die Möglichkeit besteht, weiteres zu tun.
Ich bin den Kollegen dankbar, die auf Möglichkeiten dazu hingewiesen haben.
Ich will Sie darüber informieren, daß ich heute die notwendigen Aktivitäten eingeleitet habe, um ARD und ZDF dafür zu gewinnen, darauf in den kommenden Tagen noch einmal in den verschiedensten Sendungen in geeigneter Weise — auch in sprachlich geeigneter Weise — hinzuweisen.
Ich halte es für ganz wichtig, noch mehr über das Fernsehen zu werben. Das ist die beste Chance, die Menschen zu erreichen,
zumal es auch in den großen öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten Sendungen gibt, die besonders für unsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger geschaltet werden.
Wir können kurzfristig auch noch einmal die kommunalen Spitzenverbände mobilisieren — mit ihnen stehen wir in Dauerkontakt —, damit sie ihrerseits etwas bei ihren Mitgliedstädten und -gemeinden tun.
Auch das Bundespresseamt wird noch einmal auf geeignete Möglichkeiten angesprochen werden.
Zweitens. Was die Antragsfristen angeht, so bin ich den Kollegen dankbar, daß sie gesagt haben — dies, Frau Kollegin Lederer zeigt, daß Sie da nicht ins Schwarze getroffen,
sondern einen irreführenden Eindruck erweckt haben —: Wir in Deutschland haben die längste Antragsfrist. In den anderen Ländern ist es zum Teil schon abgeschlossen. Wir wollen den anderen Ländern doch nicht unterstellen, daß sie die kurze Antragsfrist nur deshalb haben, um die Leute von der Wahl abzuhalten. Ich bin strikt gegen eine solche Auffassung. Das wäre nationaler Hochmut; den wollen wir hier nicht verbreiten.
Wir haben die längste Frist. Ich sage für unser Ministerium aus dem Willen heraus, viele zur Wahl zu bringen, zu, daß wir noch einmal prüfen — aber das muß in kürzester Frist geschehen —, ob wir die Frist verlängern können. Das muß zusammen mit den Bundesländern und den Gemeinden geprüft werden, aber auch zusammen mit den anderen europäischen Staaten. Wir müssen hier ja gegenchecken, damit nicht doppelt gewählt wird.
— Ich will Ihre Fragen gern beantworten.
Der Herr Staatssekretär Waffenschmidt läßt die beiden Fragen zu. Zuerst Frau Kollegin Weiler, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie sagten gerade, wir hätten die längste Antragsfrist. Das hört sich unwahrscheinlich formal und bürokratisch an. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß es in anderen europäischen Ländern, in denen es formal vielleicht nicht eine solche Antragsfrist gibt, zusammen mit dem Europäischen Parlament große Kampagnen gibt, um die ausländische Bevölkerung zur Teilnahme an der Wahl aufzurufen.
Ich war vor Ostern privat in Lissabon und den umliegenden Städten. Dort gibt es eine unwahrscheinliche Kampagne, die ausländischen Mitbürger zur Teilnahme an der Wahl zu bewegen. Hier in Deutschland gibt es in dieser Hinsicht überhaupt nichts.
Ich weiß nicht, was es soll, wenn Sie sich hier auf Formalien, auf Antragsfristen herausreden, wenn die Betroffenen nicht informiert werden. Das ist eine Sache der Publicity und der Öffentlichkeitsarbeit, nicht allein der formalen Antragsfristen.
Keinen Redebeitrag, sondern eine Frage!
Frau Kollegin, ich will jetzt nicht Ihren formalen Gesichtspunkt aufgreifen, denn das wäre ein Eigentor. Sie stellen ja einen Antrag auf Festlegung von Formalien. Man hat im Rahmen
Metadaten/Kopzeile:
19598 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. April 1994
Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidtder Europäischen Union unsere Presse- und Informationsarbeit lobend hervorgehoben. Das können Sie beispielweise in französischen Zeitungen nachlesen. Man hat gesagt: Die Deutschen haben hier eine beispielhafte Informationskampagne durchgeführt.
Das stand in unabhängigen französischen Zeitungen. Gleichwohl werden wir prüfen, was wir noch besser machen können.Bitte schön.Vizepräsident Helmuth Becker Nun noch Frau Kollegin Lederer, bitte.
Herr Staatssekretär, erste Frage: Stimmen Sie mit mir darin überein, daß das Problem nicht nur die Frist ist, sondern daß das Problem in der Kombination einer Frist — selbst wenn sie länger als in anderen europäischen Ländern ist — und einer nicht ausreichenden Information derjenigen, die ihre Rechte wahrnehmen wollen, besteht?
Zweitens. Sind Sie bereit, hier zu erklären, daß Sie innerhalb der nächsten Woche prüfen, inwieweit eine maßvollere Frist, etwa eine Verlängerung à la SPD bis zum 20. Mai, technisch möglich ist? Sind Sie bereit, noch innerhalb der nächsten Woche das Verfahren für eine Fristverlängerung einzuleiten, verbunden mit einer verstärkten Information derjenigen, die die entsprechenden Rechte wahrnehmen können?
Liebe Frau Kollegin, ich habe bereits gesagt: Wir werden die Öffentlichkeitsarbeit in dem Sinne, wie sie schon gelobt worden ist, verstärkt betreiben.
Zweitens werden wir prüfen, ob die Fristverlängerung möglich ist. Das habe ich bereits vor Ihrer Frage zugesagt.
Drittens möchte ich hier erklären — ein Kollege hat mit Recht darauf hingewiesen —: Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern aus den anderen Ländern der Europäischen Union gestatten, daß sie eventuell lieber ihre eigenen Kandidaten wählen. Das müssen wir ihnen ermöglichen. Wir dürfen also nicht zu penetrant nur darauf hinwirken: Wenn ihr euer Wahlrecht hier wahrnehmen wollt, müßt ihr unter allen Umständen die deutschen Kandidaten wählen.
Es muß für sie die Möglichkeit bestehen, auch ihre eigenen Kandidaten zu wählen. Denken Sie nur an Italien: Wer beispielsweise die Lega Nord wählen will, findet hier kaum einen adäquaten Partner.
Ich sage gern zu, daß wir das, was machbar ist, auch machen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muß ganz deutlich gesagt werden: Wir dürfen bei all unseren Maßnahmen, die wir in den wenigen noch verbleibenden Tagen durchführen, keine Anfechtungsgründe schaffen. Es muß sichergestellt sein, daß diejenigen, die zur Wahl gehen, damit auch eine verbindliche demokratische Entscheidung treffen.
Wegen der fortgeschrittenen Zeit und aus Gründen der Mitmenschlichkeit gebe ich den Rest meiner Rede zu Protokoll.
Abschließend möchte ich gern sagen, daß wir uns, Herr Präsident, am Schluß dieser arbeitsreichen Woche in einem einig sein sollten: Wir wollen, daß viele dieses Wahlrecht wahrnehmen. Wir, die Regierung, werden alles rechtlich Mögliche tun, um dafür die Wege zu ebnen.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich muß darauf aufmerksam machen, daß wir Reden nicht halb halten und halb zu Protokoll geben können.
Aber allein schon wegen des Themas bitte ich doch, daß wir die vorliegende Rede in das Protokoll mit aufnehmen. Ich hoffe, daß Sie einverstanden sind. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann wird das so gemacht.*)
Meine Damen und Herren, interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7420 an den Innenausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vereinbart war, auch den Antrag der Gruppe PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/7384 an den Innenausschuß zu überweisen. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat jedoch zwischenzeitlich — Frau Kollegin Lederer hat das soeben begründet — sofortige Abstimmung verlangt. Nach unserer ständigen Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor. Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Überweisung so beschlossen. Wir können also heute in der Sache nicht abstimmen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum Europawahlgesetz, Drucksache 12/7405. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 12/6744 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Frau Kollegin Lederer ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit — mit ungefähr einer Stunde Verspätung — am Schluß unserer heutigen Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 18. Mai 1994, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.