Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie ganz herzlich.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Gerster , Heribert Scharrenbroich, Peter Kittelmann, Dr. Peter Struck, Peter Conradi, Freimut Duve, Manfred Richter (Bremerhaven), Ina Albowitz, Uwe Lühr, Andrea Lederer, Werner Schulz (Berlin) und weiterer Abgeordneter
Verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin — Drucksache 12/6767 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache über den Antrag namentlich abstimmen werden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Peter Conradi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute und stimmen am Schluß darüber ab, ob der Künstler Christo das Reichstagsgebäude in Berlin 14 Tage lang mit Stoff umhüllen darf.
Wir stimmen nicht über Kunst ab.
Adolf Arndt, der Kronjurist der SPD in den fünfziger und sechziger Jahren hat 1960 in seiner großen Rede „Demokratie als Bauherr" dazu gesagt:Nicht nur ist in einer Demokratie niemand da, der bestimmen kann, was Kunst ist, sondern von ihrem eigenen Wesen her darf keiner da sein, der sich dessen von Staats wegen mit Geltung für alle unterfangen dürfte.Demokratie, so Adolf Arndt, beruht nicht allein auf Abstimmung, „sondern grundlegend zuerst auf Übereinstimmung hinsichtlich des Unabstimmbaren, welche Übereinstimmung die Möglichkeit des Zusammenlebens begründet und das Abstimmbare aussondert und zur Wahl freigibt".
Es gibt die letzten Dinge; über die letzten Dinge kann kein Parlament mit Mehrheit entscheiden. Es gibt die vorletzten Dinge, über die wir hier mit Mehrheit verbindlich für alle entscheiden. Das ist Demokratie. Über Kunst kann nicht mit Mehrheit entschieden werden; sie gehört zum Bereich des Unabstimmbaren.
Wir sind von unseren Wählerinnen und Wählern als ihre Vertreter hierher gewählt worden, um über Steuern und Straßen, über Waffenexporte und Wohnungsbau, über Asylrecht und Arbeitslosigkeit abzustimmen, nicht über Kunst. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, macht die Debatte so schwierig; denn wir reden über eine künstlerische Aktion, die dem einen gefällt und dem anderen nicht gefällt. Ich bitte Sie alle, diese Debatte nicht nur in Respekt voreinander, sondern vor allem in Respekt vor dem Künstler und vor der Kunst zu führen.
Adolf Arndt empfiehlt dem Bauherrn Demokratie, „sich für das Reifen seiner ihm nicht abnehmbaren Entscheidung — als Bauherr — des sachkundigen Rates ... freier und mit ihrem Namen verantwortungsbereiter Bürger ... zu vergewissern". Deshalb lassen wir uns bei öffentlichen Bauten der Gemeinden, der Länder und des Bundes von Preisgerichten, von unabhängigen Fachleuten beraten. Manchmal irren die Preisrichter; das haben sie mit uns Politikern gemeinsam.Hier, bei dem Projekt Christos, raten die Fachleute, die Künstler und die Kunstkritiker uns mit überwältigender Mehrheit — fast ohne Ausnahme —, Christo zu gestatten, das Reichstagsgebäude, unser zukünftiges Bundeshaus, zu umhüllen.Das sind ihre Argumente für das Projekt:Erstens. Christos Umhüllung des Gebäudes mit Stoff gibt dem Bau eine neue, überraschende ästhetische
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18276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Peter ConradiGestalt. Er eröffnet uns die Chance, diesen Bau in seiner Eigenart anders wahrzunehmen. Die zeitweilige Verhüllung wird unsere Sicht schärfen — Erkenntnis durch Verfremdung.Zweitens. Die Umhüllung mit Stoff ist ein großes Thema der Kunst. Die Griechen umhüllen ihre Statuen mit leichten Gewändern. Streng sind die Gewänder der gotischen Madonnen, prächtig und üppig ist das Spiel des Stoffs in den Gewändern der Heiligen Drei Könige im Barock. Immer unterstreichen der Stoff und seine Behandlung die Kostbarkeit, den Wert des Umhüllten, so wie ein wertvolles Geschenk durch die Umhüllung wertvoller und nicht weniger wertvoll wird.
Drittens. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäudes kostet den Steuerzahler nichts. Er bezahlt diese Aktion selbst aus den Erlösen seiner Zeichnungen, seiner Bilder, seiner Lithographien, seiner Bücher und Plakate. In einer Welt, in der Kunst vor allem nach ihrem Preis gemessen wird, ist diese Kunstaktion, die man nicht bezahlen kann, die man nicht kaufen kann, eine Erinnerung daran, daß Kunst mehr ist als Ware.
Viertens. Christos Umhüllung bringt das Element des Zeitlichen, des Vergänglichen in unser Bewußtsein. Nur 14 Tage dauert die Aktion. Aber sie wird in vielen Bildern festgehalten. Sie wird im Fernsehen, in den Zeitungen um die Welt gehen, und sie wird im kulturellen Gedächtnis der Menschheit so bleiben wie der Running Fence in Kalifornien oder die umhüllte Brücke in Paris.
Soweit die Argumente der Fachleute, der Kunstkritiker und Künstler. Ich will ein politisches Argument anschließen. Bei allen Projekten Christos ist der lange, oft jahrelange Weg von der Idee bis zur Ausführung Teil des Projekts. Die öffentliche Diskussion über seine Arbeit, über deren Sinn und Bedeutung ist unverzichtbares Element seiner künstlerischen Arbeit. 22 Jahre lang hat Christo mit zahllosen Politikern, mit Journalisten, mit Künstlern, mit Kritikern, mit Bürgerinnen und Bürgern über die Umhüllung des Reichstagsgebäudes gesprochen.Mich beeindruckt diese Beharrlichkeit,
diese Kraft zur Vision, das unmöglich Erscheinende doch möglich zu machen. Das ist eine politische, ja eine demokratische künstlerische Aktion, die nicht elitär über den Menschen steht, sondern die Menschen einbezieht. Hätten wir doch in der Politik solche Visionen, solche Beharrlichkeit, so langen Atem und solche Kampagnen!Meine Fraktion hat zweimal über das Projekt diskutiert. Wir haben nicht abgestimmt. Es gibt bei uns Befürworter — ich hoffe: viele — und Kritiker — ich hoffe: wenige.Ich nehme die Einwände gegen das Projekt ernst und will mich mit ihnen auseinandersetzen. Da wird gesagt: Wirtschaftskrise, Staatsverschuldung, rechtsradikale Gewalt, Millionen Arbeitslose, Zukunftsangst und Resignation — und der Bundestag diskutiert über Kunst. Habt ihr nichts Wichtigeres zu bereden, so werden wir gefragt.Ich frage dagegen: Soll, weil es Not und Angst gibt, weil es Krieg und Arbeitslosigkeit gibt, nicht mehr über Kunst geredet werden?
— Herr Mahlo, ich habe am Anfang ausgeführt, daß hier nicht über Kunst entschieden wird. Wir werden nicht hierher gewählt, um zu entscheiden, was Kunst ist. Wir entscheiden hier, ob der Reichstag für diese Aktion freigegeben wird.
Der Bundeskanzler hat in seiner Hamburger Parteitagsrede, deren Passagen über die SPD ich natürlich pflichtschuldig mit Abscheu und Empörung zurückweise — —
— Das müssen Sie mir noch gestatten. Ich will ihn jetzt gleich loben, Herr Rüttgers.
— Geduld, Geduld!
Herr Kohl hat als Parteivorsitzender in seiner Rede die anrührende, schöne Geschichte von Vernon Walters erzählt, der im Elend der Nachkriegsjahre Hoffnung in Deutschland sah, weil eine Familie in einer Kellerwohnung Blumen in einer Schale auf dem Tisch hatte.— Ein schönes Bild.Damals, im Elend der Nachkriegszeit, blühte die Kunst in Deutschland, blühten Theater, Literatur, Malerei und Kunst. Das alles war für die Menschen lebens-, überlebenswichtig. Die Ruhrfestspiele wurden nicht in den Zeiten des Wohlstands, sondern damals in der Zeit der Armut gegründet.
Was ist das für ein armseliges Argument, in einer Zeit der Not, der Krise müsse zuerst auf die Kunst verzichtet werden? Umgekehrt: Weil es Krieg und Arbeitslosigkeit gibt, weil es Angst und Mutlosigkeit gibt, weil es Resignation und Phantasielosigkeit gibt, wollen wir mit dieser Aktion ein positives Zeichen, ein schönes, leuchtendes Signal setzen, das Mut und Hoffnung macht und Selbstvertrauen ausstrahlt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18277
Peter ConradiÜbrigens: Das Projekt schafft ja Arbeit. Der Stoff muß gewebt werden; die Bahnen werden genäht, Bauarbeiter, Studenten, sogar Alpinisten werden dort beschäftigt.Und so wie in Frankreich, wo Chirac zuerst das Projekt der Umhüllung des Pont Neuf als Marotte einer elitären Minderheit abtun wollte und dann, als Hunderttausende, ja Millionen sich daran begeisterten, immer schon dafür war, so werden auch bei uns die Kritiker von heute morgen von der Schönheit und Kraft dieses Projekts begeistert sein.
Andere sagen: Dafür gibt es Geld, aber bei Arbeitslosen und Kindergärten spart ihr. Noch einmal: Christo finanziert das Projekt selbst, ohne öffentliche Mittel. Ich habe übrigens nicht gehört, daß irgend jemand gefordert hat, wir sollen wegen der Arbeitslosen die Oper oder die Museen schließen.Ich verstehe, daß einige von uns Sorge, ja Angst vor den Wählern haben, sie könnten diese Aktion mißverstehen. Doch es liegt zuerst an uns selbst, den Menschen diese Aktion zu erklären,
dafür um Verständnis zu werben, ihnen deutlich zu machen, daß diese Umhüllung weder die deutsche Geschichte noch das Reichstagsgebäude beleidigt, sondern daß diese Umhüllung ein schönes künstlerisches Zeichen für unseren Neuanfang in Berlin ist, und das alles ohne Steuergelder.Wer hat hier Angst vor dem Wähler? Angst ist kein guter Ratgeber, weder in der Kunst noch in der Politik. Hier ist Mut gefragt, nicht Kleinmut.
Wieder andere sehen die Würde des Hauses in Gefahr. Ist es denn Angst vor dem Ungewohnten, vor dem Neuen? Warum sollten wir uns nicht 14 Tage lang einer neuen Erfahrung aussetzen? Kunst ist oft neu, ist oft ungewohnt. Auch Politik sollte das gelegentlich sein.
Sind wir als Politiker nicht bereit, an dem Ort, an dem wir einmal arbeiten werden, etwas Neues, Ungewohntes zuzulassen? Was soll diese Angst um die Würde des Hauses, die durch die Umhüllung mit Stoff gefährdet sein soll? Da wüßte ich vieles andere, das die Würde, das Ansehen des Parlaments eher beschädigt.
Die Würde unseres Hauses sei gefährdet, so befürchteten einige, als wir nach dem Auszug aus dem Wasserwerk dort drüben Kabarett machen wollten. Ohne falsche Bescheidenheit: Ich glaube, „wir Wasserwerker" haben mit unseren lockeren Reden und Liedern über das Parlament mehr für das Ansehen desParlaments getan als mancher Würdenträger mit vergiftenden Reden.
Wie brüchig, fragt Wolfgang Rainer in der „Stuttgarter Zeitung", muß unser demokratisches Selbstverständnis sein, wenn es von der Umhüllung des Reichstagsgebäudes durch Stoff verletzt wird? Es geht nicht um ein „ironisches Verhältnis des deutschen Volkes zu seiner Geschichte", wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" grämlich befürchtet. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäudes markiert einen Neubeginn, einen neuen Abschnitt in der Geschichte dieses Gebäudes, das danach unser Bundeshaus sein wird, ein neues Kapitel in der Geschichte der deutschen parlamentarischen Demokratie, und das kann ein Zeichen werden für ein selbstbewußtes, gelassenes, tolerantes Parlament, offen für Neues, neugierig auf Ungewohntes, mutig in einer Zeit verbreiteter Verzagtheit.
Ein sanftes Zeichen wird es sein in einer Zeit, in der die Bilder von Gewalt geprägt sind. Wenn die Bilder vom umhüllten Reichstagsgebäude im Fernsehen um die Welt gehen, werden das andere, bessere, friedlichere Bilder von Deutschland sein als die Bilder der Gewalt von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda.
22 Jahre lang bin ich Mitglied dieses Hauses, so lange, wie Christo an diesem Projekt arbeitet.
— Darüber entscheiden nicht Sie, sondern die Wähler.Ich halte das Parlament für eine großartige, für eine wunderbare Einrichtung, in der wir über das Zusammenleben der Menschen, die uns hierher geschickt haben, debattieren und abstimmen. Ich bin sicher, die Umhüllung unseres zukünftigen Parlamentsgebäudes, des Reichstagsgebäudes auf seinem Weg zum Bundeshaus wird dem Gebäude, wird dem Deutschen Bundestag und der deutschen Demokratie nach innen und außen gut tun.Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu diesem Projekt.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
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18278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gehört allmählich Mut dazu, zu bekennen, daß es in diesem Land etwas geben sollte, das den privaten Vergnügungen entzogen ist, und daß es wichtig ist, daß der Reichstag dazu gehört.
Es erfüllt mich nicht mit Freude, daß wir als Bundestag und in dieser Zeit durch eine namentliche Abstimmung, also in höchster Bewertung, zu einem Teil einer PR-Kampagne werden.
Es mißfällt mir, wie leichthin — bis hin zu einem Aids-Plakat — diejenigen abqualifiziert werden, die gegen das Projekt von Christo sind. Es mißfällt mir, daß die Antragssteller mit keinem Wort auf die Beliebigkeit der Argumente des ideologischen Überbaus eingehen, mit denen dieses Projekt begleitet und begründet wird, bis hin zur Verhüllung aus Scham wegen des Dritten Reiches oder Verhüllung, weil es nicht gebraucht wird, oder eine Plastikplane, damit es schön über die Mauer scheinen möge.
Wir entscheiden in der Tat nicht über Kunst, wir entscheiden auch nicht über den offenbar beliebigen ideologischen Überbau, sondern wir entscheiden über den altehrwürdigen Reichstag. Das Gebäude ist noch nach über 100 Jahren in seiner geschlossenen Fassade eindrucksvoll geblieben.
Selbst seine Lage ist ein politisches Symbol: jenseits der alten Stadtgrenze, jenseits des Brandenburger Tors errichtet, mit der Fassade abgewendet vom damaligen Machtzentrum und dem deutschen Volk gewidmet. Es gibt kein Bauwerk in der Bundesrepublik, in dem sich Glanz und Elend eines deutschen Parlamentes und die deutsche Geschichte der letzten 120 Jahre so widerspiegeln wie dort.
Dort haben Bismarck, Bebel, Eugen Richter, Lasker und viele andere einen mühsamen, vierzig Jahre dauernden Weg in die parlamentarische Demokratie begonnen. Dort hat Scheidemann die Republik ausgerufen. Von dort haben Rathenau und Stresemann Deutschland in die Völkergemeinschaft zurückgeführt.
Ich sehe Marinus van der Lubbe, der für dieses Symbol sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. Ich sehe Göring mit seinen feixenden uniformierten Abgeordneten. Ich sehe die Erstürmung durch die Rote Armee und 40 Jahre danach, am 3. Oktober 1990, die Feier der Wiedervereinigung, bei der wir auf der Treppe vor dem Reichstagsgebäude standen und sich manche die Hand gegeben haben.
Nun kommt Herr Christo und verpackt alles. Es wird beruhigend versichert, daß es nichts koste und daß es im übrigen für Berlin eine famose Reklame sein solle, für die die Besucher 500 Millionen DM ausgeben werden. Was für Argumente! Wenn ich das lese: Das
ist nicht einmal unsere Zeit, das ist schlechter Stil, das ist stillos.
Warum verpacken wir nicht auch das Brandenburger Tor, wenn es dem Künstler einfiele? Sollte der Bundestag nicht auch deswegen in das Reichstagsgebäude einziehen, weil dieses Gebäude für uns eine einzigartige historische Bedeutung hat? Da ist nichts zu verpacken, und da ist nichts zu verhüllen.
Wenn Herr Christo vorschlagen würde, das Capitol, das Parliament Building oder die Assemblée Nationale einzupacken, dann würde ein Sturm der öffentlichen Entrüstung ihn und das Projekt hinwegfegen.
So hat jeder seine eigenen Maßstäbe.
Noch etwas: Selbst wenn man viele Menschen von dem künstlerischen Wert des Unternehmens überzeugen könnte, was ist dann eigentlich mit den vielen anderen, zu denen auch ich gehöre, die dadurch das Parlament und unsere Vergangenheit eher unwürdig behandelt sehen?
Ist Ihnen, die für das Projekt sind, das Vergnügen, das Sie empfinden mögen, so viel wert, daß Sie einfach über die Verletzung des Empfindens der anderen hinweggehen, die die Einfälle des Herrn Christo bestenfalls für amüsant, aber nicht für wichtig halten?
Es sollte und es muß in unserem Land noch Dinge geben, die für private Vergnügungen nicht zur Verfügung stehen. Es ist wichtig, daß der Reichstag dazugehört.
Als nächster spricht der Kollege Heribert Scharrenbroich.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte festhalten — etwas anderes würden sicher fast alle von uns ablehnen —: Der Bundestag entscheidet heute nicht über Kunst. Wir entscheiden nur, ob wir zulassen, daß sich an diesem Monument der deutschen Geschichte Kunst darstellt. Nur um diese Erlaubnis geht es heute, um nichts anderes.
Ich möchte, sehr verehrter Herr Kollege Hirsch, auch auf Ihre Argumente eingehen. Sie sagen, Sie wundern sich, daß die Beliebigkeit der Argumente hier so einfach hingenommen wird. Ich glaube, es ist
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18279
Heribert Scharrenbroichdoch gerade typisch für ein Kunstwerk, daß die Zuschauer, die Betrachter, diejenigen, die sich für die Kunst begeistern, das Recht haben, das Kunstwerk auch anders zu interpretieren, als der Künstler es selbst getan hat.
Wie oft haben wir die Gedichte des alten Goethe interpretiert und sicher vieles hineininterpretiert, woran dieser gar nicht gedacht hatte. Das ist doch das Recht desjenigen, der sich mit Kunst befaßt.Ich danke Herrn Kollegen Hirsch auch dafür, daß er auf die Geschichte eingegangen ist, die mit diesem Gebäude verbunden ist. Auch wenn ich gerne meine Begeisterung für dieses Kunstwerk als Sprecher der doch beachtlichen Zahl von Unionsabgeordneten darstellen möchte, die für das Projekt sind,
obwohl ich sehr gerne über die Ästhetik sprechen möchte, möchte ich jetzt als Politiker darstellen, welches Interesse wir als Deutscher Bundestag daran haben sollten, daß diese Verhüllung stattfindet. Den Zweiflern in der Bevölkerung kann man sehr wohl darstellen, welch großen Nutzen diese Verhüllung für uns hat — für den Parlamentarismus, für Deutschland und für Berlin. Man kann es festmachen an der Frage, die ja immer wieder gestellt wird, sehr wahrscheinlich auch heute — Herr Hirsch hat es auch gesagt —: Warum nicht das House of Parliaments, warum nicht das Capitol?
Nun, erstens hat der Künstler das Recht, das Objekt selber vorzuschlagen,
und wir können ihm nicht vorschlagen, was er zu verhüllen hat und was er für seine Kunst für adäquat hält.
— Wir können nein sagen, natürlich. Das steht heute zur Debatte. Herr Kollege Rüttgers, wenn Sie das jetzt so dazwischenrufen, dann möchte ich auch auf einen anderen Einwurf des Herrn Kollegen Hirsch eingehen. Auch ich bedaure es, daß wir heute in dieser Frage, die wir eigentlich mit etwas mehr Leichtigkeit diskutieren sollten, von den Gegnern des Projekts zu einer namentlichen Abstimmung gezwungen werden. Ich halte das nicht für gut.
Vielleicht sollte man bei der Abstimmung auch diese Stilfrage mit bedenken.
— Es ist doch wohl unser gutes Recht, daß wir uns mit den Gedanken des Künstlers befassen. Herr Rüttgers, das dient auch dem Ruf dieses Parlaments.
Ich möchte auch ein anderes Mißverständnis aufklären. Es wird so oft gefragt: Hat denn dieser Deutsche Bundestag nichts Wichtigeres zu tun? Darüber kann man streiten. Aber ich möchte hier klarstellen, daß alle Befürworter der Auffassung waren, darüber sollte der Ältestenrat entscheiden. Diejenigen, die das Projekt ablehnen, waren der Auffassung, daß wir es hier diskutieren sollten. Das kann man so sehen.
Es ist sicher gut, daß man meint, man sollte vor der Öffentlichkeit die Argumente darlegen, warum man dafür ist bzw. warum man dagegen ist. Diese Gelegenheit wollen wir jetzt nutzen.
Erstens. Warum nicht die anderen Parlamentsgebäude? — Nur der Reichstag ist das Parlamentsgebäude eines Staates, der seine Spaltung überwunden hat.
Deswegen ist es für mich so interessant, daß dieses Gebäude verhüllt wird. Das ist gerade der Gedanke von Christo, der aus dem Ostblock geflüchtet ist, daß er dieses Parlament, dieses Gebäude verhüllen will, weil es früher an der Nahtstelle zwischen Ost und West stand. Dem gegenüber sollten wir uns meines Erachtens aufgeschlossen zeigen.
Jetzt befindet sich dieses Gebäude an der Drehscheibe zwischen West und Ost.Ich sage auch: Dieses Parlament verkörpert wie kein anderes Tiefen und Höhen auf dem Weg zur Demokratie. Gerade in der jetzigen dramatischen Situation, in der Länder in Ost- und Mitteleuropa um den Aufbau der Demokratie ringen, kann man an diesem Beispiel doch darstellen, wie schwierig es ist, zur Demokratie zu kommen. Die Verhüllung wird eine grandiose Gelegenheit sein, daß wir über den Parlamentarismus diskutieren und daß wir unsere Bevölkerung einladen, mit uns über den Parlamentarismus zu diskutieren. Diese Chance sollten wir nicht vorübergehen lassen.
Wir sollten daran erinnern — das wird in diesen Tagen geschehen, es ist aber auch schon vorher
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18280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Heribert Scharrenbroichgeschehen —, daß im Reichstag das Parlament der Monarchie die Demokratie abgetrotzt hat, daß in ihm die braunen Despoten die Demokratie geknebelt haben und daß in ihm Geschichte geschrieben wurde, die dann wiederum Grundlage für unser Grundgesetz wurde, eine der besten Verfassungen dieser Welt. Diese Erfahrungen sind in diesem Gebäude konzentriert.Deswegen sage ich: Geben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Weg frei, daß sich unsere Bürgerinnen und Bürger mit unserer Geschichte auseinandersetzen können, daß sie dazu eingeladen werden und vielleicht sogar von der Weltöffentlichkeit dazu gezwungen werden. Die Geschichte wird enthüllt, wenn der Reichstag verhüllt wird. Endlich gelangt das Parlament in das Interesse der Öffentlichkeit.Für uns Befürworter ginge überhaupt nicht die Welt unter, wenn die Entscheidung heute negativ ausfiele. Wir diskutieren, ob Kunst zugelassen wird. Deswegen bitte ich aber auch die Gegner, daß sie sich ruhiger mit diesen Argumenten auseinandersetzen.
Wir sollten Deutschland und Berlin die Chance geben, wieder auf die Weltbühne der Kunst zurückzukehren. Vielleicht ist das der Grund, warum sich alle Regierenden Bürgermeister von Berlin, ob Sozialdemokraten oder Christdemokraten, für dieses Projekt eingesetzt haben. Das sollten wir doch zur Kenntnis nehmen.
Die Begeisterung, die eigentlich bei allen Kunstwerken Christos, nachdem sie vollzogen worden sind, auch die Gegner erfaßt hat —
denken Sie einmal an die Geschichte mit dem Pont Neuf! —, sollte uns doch zu denken geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten das etwas vorwegnehmen, das sollte uns eine Lehre sein, und wir sollten uns von dieser Begeisterung etwas anstekken lassen.Man muß sich einmal vorstellen, wie dieses Gebäude nach der Verhüllung im Licht erscheint. Es wird keine Plastikfolie verwendet. Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen einmal das Material zu zeigen. Mit dem Material, das ich hier in der Hand habe — es ist durchsichtig —, wird das Gebäude in einer sehr würdigen Form verhüllt werden.
Ich lasse es gern gleich einmal rundgehen, damit Sie es anfassen können.Meine Damen und Herren, gerade in bezug auf die Entscheidung, die jetzt bevorsteht, auch was den Umbau des Reichstags angeht, ist es doch phantastisch, zu sehen, wie durch diese Verhüllung die Hauptlinien des Reichstagsgebäudes deutlich werden. Wer sich die Modelle des Reichstagsgebäudes anschaut, wird sehen, wieviel jetzt noch fehlt und was das, was noch da ist, für ein Klotz ist. Ich möchte mein Plädoyer für das Projekt Christo mißbrauchen, um Sie zu bitten, sich die Modelle anzuschauen und zu überlegen, ob nicht sinnfällig wird, daß dort etwas fehlt. Gerade nachdem ich mir die Modelle von Christo angesehen habe, bin ich ein begeisterter Anhänger der Auffassung, daß das Reichstagsgebäude wieder eine Kuppel braucht, damit es nicht so klotzig in der Welt steht. Auch dafür kann man dieses Kunstwerk gebrauchen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, geben Sie uns Deutschen die Chance, daß wir den Reichstag wieder aufwerten und daß wir das Interesse der Bevölkerung für den Reichstag noch vergrößern.Herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem bulgarisch-amerikanischen Künstler Christo für seine künstlerischen Arbeiten meine hohe Achtung aussprechen. Es ist das schöne, daß manches einen sehr glücklich macht, manches einem Fragen stellt und Probleme aufwirft. Aber das ist ja offensichtlich Sinn und Zweck und Funktion der Kunst.Christo ist offensichtlich der erste Künstler, der in der Geschichte des Deutschen Bundestages die Chance hat, in einer Plenardebatte eine ganze Stunde gewürdigt oder kritisiert zu werden. Ich kann mir schon vorstellen, daß viele andere seiner Kolleginnen und Kollegen sehr traurig sind, daß sie diese Chance nicht haben.Ich als Bundestagsabgeordneter bin traurig, daß wir in dieser Legislaturperiode keine Zeit gehabt haben, uns hier im Bundestag über den Kulturstandort Deutschland, über die Kulturlandschaft in Deutschland, über die Wahrung und den Ausbau der kulturellen Infrastruktur zu verständigen. Daß wir in eine Situation gekommen sind, daß heute der Bundestag darüber zu entscheiden hat, macht mich nicht glücklich. Und ich gestehe auch, es hat in mir vieles an Für und Wider hervorgerufen. Ich sage Ihnen auch, warum.Ich fühle mich an DDR-Zeiten erinnert, als das Politbüro und nicht eine Kunstkommission oder der Direktor des Palastes der Republik darüber entschied, welche Künstler im Palast der Republik ausstellen können und welche Bilder ausgestellt werden.
Es ist nicht Aufgabe des Bundestages, über so etwas zu entscheiden. Wenn wir aber darüber entscheiden müssen, dann sage ich, obwohl es mir schwerfällt, ja zu dieser Entscheidung, und das aus zwei Gründen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18281
Dr. Dietmar KellerErstens hatte Christo wegen seines Vorhabens, den Reichstag zu verhüllen, keine Chance, in die DDR zu kommen und jemals in der DDR auszustellen. Ich möchte mit diesem Ja einen Teil von dem wiedergutmachen, was an ihm an Schaden verursacht worden ist.
Ich gestehe ehrlich — ich habe mit Christo darüber gesprochen —, daß wir ihn einladen wollten, aber nie die Chance hatten und es verboten bekamen.Ich stimme zweitens dafür, weil ich bewundere, daß ein Künstler seit über zwei Jahrzehnten um die Realisierung dieses Kunstwerkes kämpft, so daß die zuständigen Institutionen des Bundestages, der Ältestenrat schon lange die Möglichkeit gehabt haben, eine positive Entscheidung zu fällen, weit vor der Einheit Deutschlands, ohne daß dieser Glorienschein über den Reichstag gehüllt werden mußte.Ich stimme also mit Ja. Und sollte ich nicht das Glück haben, zu der Mehrheit zu gehören, dann empfehle ich Christo, den Antrag zu stellen, die Treuhand einzupacken,
oder er kann auch, um dem Wunsch nach einer Friedenspause für das Wahljahr nachzukommen, die Gauck-Behörde einpacken.Danke.
Als nächster spricht der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Etliche Kommentatoren stellten in den letzten Tagen die Frage, ob denn das deutsche Parlament nichts Sinnvolleres zu tun habe, als sich mit Christos Verhüllung des Reichstages zu befassen. Natürlich haben wir anderes zu tun, und das tun wir ja auch.Aber ist es nicht eine der Ursachen der allgemeinen Ödnis, der Oberflächlichkeit, der Sinnleere, daß Menschen es nur noch selten lernen, sich mit Kunst auseinanderzusetzen und durch eigene Kreativität zu sich selbst zu finden? Kunst ist mehr als Kommerz und Unterhaltung. Sie befreit, weitet den Blick. Sie orientiert und hilft, den Sinn des eigenen Lebens zu finden.Meine Damen und Herren, es ist wirklich keine Schande und keine verlorene Zeit, wenn sich einmal auch die Parlamentarier in diesem Hohen Hause über ein Kunstwerk streiten und darüber nachdenken.
Durch diesen Prozeß werden wir selbst Teil des Kunstwerkes, das Christo mit bewunderungswürdiger Hartnäckigkeit und Gestaltungskraft seit vielen Jahren erschafft. Nur selten gelingt es einem Künstler, einen so breiten Diskurs auszulösen. Dazu braucht es schon die Professionalität und Überzeugungskunsteines Christo. Diese soziale Komponente des Werkes kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wie langweilig ist dagegen alles, was nicht zum Widerspruch oder zu Fragen reizt. Glatte Eintönigkeit gibt es wahrlich genug.Die Verhüllung des Reichstages, meine Kolleginnen und Kollegen, ermöglicht es uns, diesen zentralen und ambivalenten Ort deutscher Geschichte in anderem Licht zu sehen und sinnlich neu zu erfahren. Die Verhüllung ist keine Entwürdigung. Sie ist ein Ausdruck der Ehrfurcht und schafft Freiraum zur Besinnung auf das Wesentliche.In der katholischen Liturgie der Karwoche wird das Kreuz verhüllt, um dann am Höhepunkt des Karfreitags feierlich enthüllt zu werden. In der jüdischen Tradition sind es die Thorarollen, die verhüllt werden, um immer daran zu erinnern, wie kostbar das ist, was sie bergen.Der Reichstag wird durch Christos Verhüllung nicht entweiht, er wird geadelt — so merkwürdig das für ein Haus der Demokratie auch klingen mag.
Er wird hervorgehoben als ein besonderer Ort, ganz einmalig und unvergleichbar. Durch die Verhüllung wird unsere Erinnerung an das, was in und mit diesem Haus geschehen ist, an die Schaffung, den Untergang und die Wiedergeburt der Demokratie belebt. Die Verhüllung ist Erinnerungsarbeit. Nichts anderes kann unsere Auseinandersetzung mit der Geschichte doch sein: daß wir uns ein Bild machen von dem, was sich unter den Ablagerungen der Zeit an gewesener Wirklichkeit bietet.Die Verhüllung des Reichstages wird uns an die Begrenztheit unserer Wahrnehmung erinnern und daran, wie ungewiß unsere Erkenntnis ist.Das ist die Vision: Der Stein des Reichstages wird eine Zeitlang unseren Blicken verborgen. Was bleibt, ist die Form unter dem weich fallenden Stoff, die veränderte, verfremdete Gestalt. Was wir wirklich sehen werden, können auch Christos Zeichnungen nur andeuten. Aber es wird neu, und es wird vergänglich sein. Es wird ein Einschnitt sein in die Geschichte dieses Hauses, und — anders als bei dem Brand vor einem halben Jahrhundert — es wird eine friedliche, eine schöpferische Zäsur sein. Der weiche Stoff, der den Reichstag umhüllt, wird uns an die Flammen gemahnen, die aus diesen Mauern schlugen, und daran, wie verletzlich und gefährdet Demokratie ist.Die Enthüllung schließlich ist das Symbol für die Wiedergeburt der Demokratie, für den Aufbruch unseres Landes, das mit der Wiedervereinigung ein neues Land werden sollte.Ich wünsche uns, meine Damen und Herren, daß wir den Mut finden, uns der kreativen Provokation dieser symbolischen Verhüllung zu stellen, daß wir Mut zeigen zur ironischen Distanz mit uns selbst als Teil dieses Kunstwerks und zugleich zur verantwortlichen Integration unserer Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen, mit allem Bösen und Guten, wofür dieser Reichstag steht.
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18282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Konrad Weiß
Die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen sich dieser Herausforderung stellen und stimmen Christos Projekt zu.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
— Ich werde korrigiert. Der nächste Redner ist der Abgeordnete Manfred Richter.
Manfred Richter (F.D.P.) (von Abgeordneten seiner Fraktion mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kunst, zumal zeitgenössische Kunst, hat es häufig nicht leicht. Fast regelmäßig ist sie Gegenstand von Kontroversen. Für so manchen, der heute als Klassiker gilt, kann gesagt werden: Du wirst erst beliebt, wenn es dich nicht mehr gibt. — Doch nicht die Frage, ob das Projekt, das Christo „Wrapped Reichstag" nennt, Kunst ist oder nicht, ist hier und heute Gegenstand der Erörterung. Der Deutsche Bundestag würde sich überheben, wenn er sich darüber zu urteilen anmaßte. Und wir sollten uns auch davor hüten, ihn in die Rolle eines Kunstschiedsrichters zu bringen. Deswegen geht ja auch die Entscheidung quer durch die Fraktionen. Das kann gar nicht anders sein.Aber: Die Kontroverse um das Reichstagsprojekt braucht uns nicht zu schrecken; denn in der kontroversen Diskussion über dieses Projekt wird ebenso mehr von dem Charakter des Bauwerkes deutlich, wie es nach meiner Meinung durch die Verhüllung mehr offenbart, als es verbirgt.Christo reduziert Formen auf große Linien, Bauten auf wesentliche Körper. Verfremdung ist sein Stilmittel. Die Projekte, die er in der Vergangenheit gemacht hat — sei es der verhüllte Pont Neuf, sei es Running Fence —, sämtlich sind sie spektakulär gewesen, haben eine breite Diskussion ausgelöst und viel Beachtung gefunden. Die „Süddeutsche Zeitung" schrieb:Christo verändert Silhouetten von Bauwerken oder Landschaften. Die Spur seiner vergänglichen, die Phantasie befruchtenden Kunst führt gleichsam um den Globus.Die kontroversen Betrachtungen sind also nicht Gegenstand unserer Entscheidung. Die Bedenken, die über diese Frage hinausgehen, richten sich an den Ort des Geschehens. Kann man ein Symbol — und als solcher wird der Reichstag ja verstanden —, kann man ein solches Symbol, den Ort, an dem deutsche parlamentarische Geschichte mit seinen Höhen und Tiefen besonders eindrucksvoll sichtbar wird, kann man dieses Gebäude verhüllen lassen, ohne ihm seineWürde, seine historische Bedeutung zu nehmen? — Ich glaube sehr wohl, daß man das kann.
Meine Damen und Herren, dem Gebäude wird nichts angetan, es bleibt, was es ist. Der Reichstag in seiner jetzigen Gestalt wird verhüllt — übrigens kurz bevor andere, nämlich Bauhandwerker, ihn mit einem Gerüst umstellen und ihn wahrscheinlich — wenn auch optisch weniger wirksam — mit Planen verhängen.
Das wird dann sein, meine Damen und Herren, wenn sich der Reichstag in eine Großbaustelle verwandelt, was ja sehr bald nach der Verhüllung durch Christo der Fall sein wird. Viele von denen, die sich sehr kritisch zu Christos Projekt äußern, scheinen diesen Widerspruch in ihrer Betrachtung nicht zu empfinden, denn gegen den Umbau, gegen das Verwandeln einer historischen Stätte in einen Großbauplatz habe ich keine kritischen Stimmen gehört.
Es ist für mich, meine Damen und Herren, übrigens auch erstaunlich, daß viele von denen, die sich besonders kritisch zur Verhüllung äußern, überhaupt keine Probleme damit hatten, ein künstliches Abbild des alten Stadtschlosses in der Berliner Innenstadt aufstellen zu lassen.
Und es ist auch nicht wahr, daß Christo etwa leichtfertig mit einer historischen Stätte umgehen würde. Wer sich mit ihm unterhalten hat, der weiß, daß er sich sehr wohl der Bedeutung des Ortes bewußt ist, daß er auch die Tragik dieses Bauwerkes erfaßt hat, das „dem deutschen Volk" gewidmet ist, und daß er sensibel mit dem Gebäude umgehen wird.Meine Damen und Herren, das Bauwerk Reichstag verdient in der Tat Respekt. Dieses große Symbol der deutschen Geschichte wird durch Christos Projekt herausgehoben; es wird für eine große Zahl von Menschen Gegenstand besonderer Betrachtung und Auseinandersetzung. Viele Menschen, wahrscheinlich Millionen, werden sich auf den Weg nach Berlin machen, in die Hauptstadt von Deutschland, so wie sich Millionen seinerzeit nach Paris aufgemacht haben, um den verhüllten Pont Neuf zu sehen. So werden der Reichstag und die deutsche Hauptstadt in das Interesse einer Weltöffentlichkeit gerückt.
Und selbst wenn man die Bedenken hinsichtlich des Kunstcharakters als richtig unterstellen würde — was ich nicht tue —, dann wäre allein dies Grund genug, dem Projekt die Zustimmung nicht zu verweigern.
Meine Damen und Herren, das Projekt kostet den Steuerzahler keinen Pfennig. Es stimmt, Christo
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18283
Manfred Richter
betreibt ein sehr effektives Marketing. Deshalb kann er auch auf öffentliche Gelder verzichten. Ihm das nun zum Vorwurf machen zu wollen erschiene mir allerdings wirklich verfehlt.
Öffentliches Geld wird nicht benötigt, sorgfältiger Umgang, Recycling, mit dem anfallenden Material wird zugesichert, das Material wird in den neuen Bundesländern hergestellt.Meine Damen und Herren, ich glaube, dieses Projekt ist eine große Chance für Deutschland, besonders für Berlin, aber auch für den Deutschen Bundestag, der es jetzt in der Hand hat, seine künftige Wirkungsstätte in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu heben. Zudem entsteht die Chance, bei der Gelegenheit der Verhüllung auch auf die künftige Rolle dieses Hauses besonders hinzuweisen.Ich bitte Sie um Unterstützung für den Antrag.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! An uns, an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, ist die Frage gestellt, ob wir einverstanden sein wollen mit dem Vorhaben, den Reichstag in Berlin mit 100 000 m2 Stoff zu verhüllen. Über diese Frage haben wir heute zu entscheiden.
Bei dieser Entscheidung helfen uns — das ist gesagt worden — künstlerische Kriterien nicht weiter. Das ist keine Entscheidung über Kunst. Sie kann und sie darf dies nicht sein. Niemand von uns wird sich anmaßen wollen, zu entscheiden, ob das Vorhaben von Christo künstlerisch sinnvoll ist oder nicht.
Christo selbst hat im vergangenen Jahr erklärt, er lasse sich auf akademische Erörterungen über die Frage, was Kunst ist, nicht ein. Ihm gehe es um die sozialen und politischen Elemente seiner Arbeit. Dies müssen auch für uns die entscheidenden Gesichtspunkte sein.
Deshalb geht es nicht um die Frage, ob die einen mehr aufgeschlossen sind für Kunst und für das, was mit Kunst bewirkt, auch provozierend bewirkt werden kann, als die anderen. Man sollte den Kritikern und Gegnern der Reichstagsverhüllung genausowenig Sensibilität und Urteilsvermögen absprechen wie den Befürwortern des Vorhabens.
Jedenfalls braucht den Vorwurf der Ignoranz niemand auf sich sitzen zu lassen.
Ich meinerseits habe großen Respekt vor dem Werk und dem Schaffen von Christo. Seine Aktionskunst scheint mir von hoher, — nicht nur ästhetischer — Wirkung, und sie lehrt uns, vieles mit anderen Augen
zu sehen. Auch mich haben seine Werke beeindruckt, ob es die von rosafarbenen Plastikbahnen umkränzten Inseln in Florida waren, die Schirmlandschaften in Japan oder Kalifornien, der riesenhafte Vorhang quer durch eine Schlucht in Colorado oder zuletzt die von sandfarbenem Kunststoff verhüllte Brücke Pont Neuf in Paris.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Reichstag ist eben nicht Pont Neuf.
Der Reichstag ist ein herausragendes politisches Symbol der jüngeren deutschen Geschichte,
ein Symbol, das wie kaum ein zweites die Höhen wie die Tiefen unserer Geschichte repräsentiert. Die Wechselfälle, die schmerzlichen Zäsuren haben an dem Gebäude ihre Spuren unmittelbar hinterlassen. So ist der Reichstag zu Berlin steinernes Zeugnis deutschen Schicksals in diesem Jahrhundert.
Von einem seiner Balkone rief Philipp Scheidemann 1918 die erste freiheitliche deutsche Republik aus. Im Februar 1933 lieferte der Reichstagsbrand den Nationalsozialisten einen Vorwand, mit dem Ermächtigungsgesetz ihre barbarische Diktatur zu errichten. Zwölf Jahre später hißten zwei Rotarmisten auf seinem Dach die Sowjetflagge zum Zeichen des Untergangs des Dritten Reiches.
Wir, der Deutsche Bundestag, haben während der Teilung Deutschlands und Berlins mit unserer Präsenz im Reichstag unser Festhalten am Ziel der Einheit in Frieden und Freiheit und an der Zugehörigkeit des freien Berlins zur Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck gebracht.
Hinter der Ostfassade des Reichstags verlief fast 20 Jahre lang die Schandmauer, die Berlin, Deutschland und Europa teilte. Vor der Westfassade haben wir in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Freiheit und Frieden feierlich begangen.
Wir Deutsche besitzen nicht viele Symbole, die die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre mit ähnlicher Wucht, mit ähnlicher Dramatik lebendig werden lassen. So ist der Reichstag wohl das symbolträchtigste und bedeutungsvollste politische Bauwerk in Deutschland. Mit einem solchen Symbol sollten wir sorgsam umgehen!
Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Renate Hellwig?
Nein.
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18284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Dr. Wolfgang SchäubleVerehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie haben vielleicht zuwenig bedacht, wie viele unserer Mitbürger Schwierigkeiten haben, die Debatte und jede denkbare Entscheidung zu verstehen.
Wir sollten uns Mühe geben, unsere Argumente klar vorzutragen.
— Herr Kollege Conradi, Sie haben die Debatte eröffnet, indem Sie dafür geworben haben, daß man in Ruhe die Argumente austauschen soll.
Ich finde, Ihre eigenen Ratschläge sollten Sie noch eine Dreiviertelstunde später beherzigen.
Christo selbst wirbt für seine Projekte gerne mit dem Hinweis, daß sich ihre Wirkung auf die Menschen im voraus kaum berechnen lasse, daß man die Resultate erst konkret vor sich sehen müsse. Es sind Experimente, und daran ist sonst ja auch nichts auszusetzen. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil der Reichstag eben nicht irgendein Gebäude ist, sollten wir mit ihm gerade keine Experimente veranstalten.
Es ist auch gesagt worden, Christo bemühe sich seit 20 Jahren um das Projekt. Mit allem Respekt: Mich irritiert etwas die Beliebigkeit, mit der die Begründungen in diesen 20 Jahren abwechseln, die für das Projekt vorgetragen worden sind.
Zunächst hieß es, der Reichstag sei ein Symbol des Dritten Reiches — was historisch nun wirklich falsch ist —, seine Verhüllung ordne sich ein in die Bemühungen, die NS-Vergangenheit in Deutschland aufzuarbeiten.
— Ich habe ja nicht gesagt, daß Christo das gesagt habe; Begründungen werden ja auch von anderen vorgetragen.
Darm wurde gesagt, das Verhüllungsprojekt ziele auf die besondere Dramatik, die sich mit der Lage des Reichstages im Schatten der Mauer, an der Nahtstelle zwischen Ost und West verbinde. Der Reichstag werde durch die Verhüllung als Symbol der Teilung ins Bewußtsein gehoben. — Jetzt, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, geht es angeblich weniger um Verhüllung als um Enthüllung. Jetzt geht es um den Reichstag als Symbol für den Neuanfang im vereinten Deutschland.Frank Schirrmacher schrieb dieser Tage in der „FAZ", alle Argumente, die für das Verhüllungsprojekt vorgebracht werden, hätten den Beiklang des Gesuchten. Das Verhüllungsprojekt sei letztlich eben doch nur Selbstzweck. — Mir erscheint das richtig. Es gibt keine konsistente und überzeugende Antwort auf die Frage, was das Ganze eigentlich soll.
Warum gerade der Reichstag? In keinem anderen Land gab es bisher die Überlegung, ein Gebäude von vergleichbarer Bedeutung zum Gegenstand einer solchen Aktion zu machen. Auch in anderen Ländern drücken Parlamentsgebäude Geschichte aus, aber die Hausherren im Palace of Westminster, auf dem Capitol Hill oder im Palais Bourbon würden doch niemals dem Gedanken einer Verhüllung ernsthaft nähertreten.
— Das ist ja nie geschehen. — Ist denn in diesen Ländern das Verständnis von politischem Stil, politischer Würde, von politischer Kultur gefestigter als bei uns?
Jedenfalls weiß man in anderen Demokratien um die Ehrwürde, die einem Traditionsgebäude freiheitlicher Demokratie innewohnt und innewohnen muß. Wir Deutsche tun uns schwer mit Symbolen, die unsere Geschichte zum Ausdruck bringen, und angesichts der Brüche und Verletzungen ist das nur zu verständlich. Aber gerade deshalb sollten wir behutsam sein.Unsere repräsentative Demokratie, ihre Institutionen, auch ihre Repräsentanten haben derzeit eher zuwenig als zuviel Vertrauen, und weil solche Defizite bestehen, müssen sie abgebaut werden. Wir sollten niemand in Versuchung führen oder ihm Gelegenheit bieten, solche Defizite für sich auszunutzen, um unsere freiheitliche Demokratie zu schwächen.
Die Menschen in unserem Land müssen heute vieles an Veränderungen und an Verunsicherungen aushalten. Sie müssen die Belastungen aus dem wirtschaftlichen Strukturwandel tragen; sie müssen Einschnitte hinnehmen, die sie in 40 Jahren Wohlstand und sozialer Sicherung nicht mehr gewohnt waren. Sie sehen sich neuen und zusätzlichen Gefährdungen ihrer Sicherheit ausgesetzt, im Innern wie von außen her, und in dieser Situation müssen wir den inneren Zusammenhalt unserer freiheitlichen staatlichen Gemeinschaft stärken. Wir müssen uns der Grundlage unserer Gemeinschaft, unseres Fundaments gemeinsamer Werte, auch unserer nationalen Identität neu vergewissern. Wir brauchen diesen Zusammenhalt als Klammer für die Kräfte, die auch angesichts enger werdender Verteilungsspielräume eher auseinanderstreben, statt zusammenzufinden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18285
Dr. Wolfgang SchäubleWir müssen daran erinnern, daß die staatliche Gemeinschaft nicht nur durch ein System perfektionierter Rechtsnormen oder durch ein System pefektionierter Sozialleistungen, sondern vor allem durch Institutionen, in denen die grundlegenden Normen Ausdruck finden, zusammengehalten wird. Wir müssen daran erinnern, daß wir diese Institutionen stabil und integrationsfähig halten müssen, wenn diese Gemeinschaft eine gute Zukunft haben soll.
Und das hat auch mit den Bauwerken zu tun, die diese Institutionen beherbergen. Das Bild dieser Bauwerke prägt sich den Menschen ein. Und so verkörpern sie, die Bauwerke, diese Institutionen; sie repräsentieren sie nach außen. Damit sie sich glaubwürdig repräsentieren können, sollten wir mit ihrer äußeren Erscheinung keine Experimente veranstalten.
So ist ein Bauwerk wie der Reichstag ein politisches Symbol. In solchen Symbolen bündeln sich wie in einem Brennglas die historischen Erfahrungen eines Volkes. Es sind ruhende Pole, Achsen, um die das Mit- und Gegeneinander der politischen Kräfte über Jahrzehnte kreist. Insofern verbinden sie ein Volk auch und gerade im Widerstreit der Interessen, der Ziele und der Überzeugungen. In solchen Symbolen kann sich die innere Einheit eines Volkes verkörpern. Die ganze staatliche Gemeinschaft soll sich in solchen Symbolen wiederfinden können.Dies, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist der Grund dafür — nicht Humorlosigkeit, Intoleranz oder mangelnder Respekt vor künstlerischer Freiheit —, warum man überall sonst auf der Welt nationalen Symbolen behutsamen Respekt angedeihen läßt, warum man ihrer Verfremdung im allgemeinen wenig abgewinnen kann.
Es ist auch gesagt worden, die Verpackung des Reichstages werde das ironische Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte dokumentieren. Ich sagte schon, daß wir Deutsche uns mit unserer Geschichte schwertun angesichts all der Umbrüche und Blessuren, angesichts der Wechselbäder von Hochstimmungen und Niederlagen gerade in den letzten 150 Jahren. Deswegen würde ich jedenfalls jeden Anschein von Ironie — und sei es nur ein Mißverständnis — im Umgang mit unserer Geschichte, meiden wollen.
Staatliche Symbole, Symbole überhaupt, sollen einen, sie sollen zusammenführen. Eine Verhüllung des Reichstags — Burkhard Hirsch hat es gesagt — würde aber nicht einen, nicht zusammenführen, sie würde polarisieren.
So viele Menschen würden es nicht verstehen und nicht akzeptieren können.
So viele Menschen würden diesen Umgang mit einem Bauwerk, das in der deutschen Geschichte eine so außergewöhnliche Bedeutung für den deutschen Parlamentarismus, für die deutsche Demokratie hat, nicht verstehen können. Wir haben doch heute schon genügend Dinge, die uns Deutsche eher auseinanderbringen,
und zuwenig Dinge, die uns zusammenführen. Wir sollten es uns nicht leisten, zu viele Menschen gleichsam am Wegesrand zurückzulassen, die ein solches Unterfangen nicht verstehen und nicht nachvollziehen können.
Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich höre so viele Zwischenrufe, die stören. Ich brauche nicht auch noch Zwischenfragen. Ich finde, daß die Art, wie Sie hier stören, dem Anlaß wirklich nicht angemessen ist.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, viele verstehen nicht, daß wir uns überhaupt so intensiv mit dieser Angelegenheit befassen. Haben wir nicht genug andere Sorgen?
Viele fragen sich, ob wir unsere Energie und unsere Aufmerksamkeit nicht auf Wichtigeres lenken sollten.
Wie auch immer: Nachdem diese Debatte jetzt notwendig geworden ist, sollten wir entscheiden. Jedes Mitglied des Hohen Hauses sollte dabei nicht nur an seinen persönlichen Geschmack, sondern vor allem daran denken, was das Beste für unser Gemeinwesen ist, wie wir Nutzen mehren und Schaden von ihm wenden können.
Der Ausgang eines Experiments ist immer ungewiß, und der Nutzen kann nur ein begrenzter sein. Deshalb sollten wir das Risiko einer Beschädigung höher bewerten.
Deshalb bitte ich Sie alle: Bedenken Sie die Gefahr,daß das Vertrauen zu vieler Mitbürger in die Würdeunserer demokratischen Geschichte und Kultur Scha-
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18286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Dr. Wolfgang Schäubleden nehmen könnte. Stimmen Sie mit mir und der großen Mehrheit meiner Fraktion einer Verhüllung des Reichstags nicht zu!
Als nächste spricht die Kollegin Eike Ebert. — Entschuldigen Sie, der Kollege Eike Ebert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kämpfe nach wie vor dafür, daß „Eike" ein norddeutscher Männername ist, obwohl der BGH inzwischen anders entschieden hat.
Meine Damen und Herren, es ist nicht leicht, nach Wolfgang Schäuble als Sozialdemokrat dafür zu plädieren, die Verhüllung des Reichstages abzulehnen.
Es ist deshalb nicht leicht, weil man Gefahr läuft, mit dem ganzen konservativen Überbau identifiziert zu werden, den Wolfgang Schäuble hier vorgetragen hat.
Meine Damen und Herren, ich spreche trotzdem für die vielen Sozialdemokraten in meiner Fraktion, die der Auffassung sind, daß dieses Unternehmen nicht stattfinden sollte. Die Argumente sind hier, glaube ich, in ausreichender Form ausgetauscht worden. Ich habe zehn Minuten Redezeit und denke, ich sollte von diesen zehn Minuten nicht komplett Gebrauch machen.
Ich verstehe diese Kürzung auch als Beitrag zu der Argumentation, daß ich es als unangemessen ansehe, daß sich dieses Parlament in dieser großen Zahl von anwesenden Abgeordneten und mit dieser langen Diskussion überhaupt mit dieser Frage beschäftigt.
Die Menschen in diesem Land verstehen es nicht.
Die Menschen in diesem Land verstehen es nicht etwa deshalb nicht, lieber Peter Conradi, weil sie kein Verständnis dafür hätten, daß Kunst auch in Zeiten des knappen Geldes weitergefördert werden muß, sondern sie verstehen nicht, daß sich ein Bundestag über die ganz deutliche Meinung im Lande so hinwegsetzen kann. Denn es ist sicherlich kein Populismus, wenn man feststellt, daß 70 % der Bevölkerung in diesem Lande dieses Experiment mit dem Deutschen Reichstag ablehnen.
Ich bin eigentlich etwas betroffen darüber, Frau Präsidentin, daß Sie in der Entwicklung dieser ganzen Frage nicht die Initiative in der Form an sich gezogen haben, mit einem Federstrich und der Autorität Ihrer
Person zu entscheiden: Ich als Hausherrin werde das dort nicht dulden! Das wäre für mein Empfinden die richtige Entscheidung gewesen.
Dann hätten wir diese Debatte hier nicht führen müssen.
Meine Damen und Herren, es ist deutlich geworden, daß wir hier nicht über Kunst debattieren, sondern darüber, ob man ein Gebäude wie den Deutschen Reichstag zum Gegenstand eines solchen Experimentes machen darf und machen sollte.
Da bin ich, meine Damen und Herren, obwohl ich die Argumentation von Wolfgang Schäuble in diesem riesigen Überbau nicht übernehme, der Auffassung: So etwas tut man nicht!
Meine Damen und Herren, so etwas tut man schlicht und einfach nicht!
Ich denke, alle diejenigen haben recht, die darauf hinweisen, daß man sich keine westliche Demokratie vorstellen kann, in der eine solche Frage auch nur annähernd mit dieser Dauer diskutiert würde, wie wir uns das hier leisten.
Meine Damen und Herren, darüber bin ich betroffen, und ich denke, wir sollten das schnell zum Abschluß bringen.
Es sind hier viele geschichtliche Momente angesprochen worden, die im Zusammenhang mit diesem Gebäude stehen. Ich möchte die Sozialdemokraten gerne daran erinnern, daß dieses Gebäude über lange Jahrzehnte die Kulisse gewesen ist, vor der die 1.-Mai-Feiern des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der organisierten Arbeitnehmerschaft in diesem Land, stattgefunden haben.
Ich erinnere Euch, meine lieben Freunde, daran, daß vor dieser Kulisse Ernst Reuter im Angesicht der schrecklichen Mauer die Völker dieser Welt aufgerufen hat, auf diese Stadt zu schauen.
Ich meine, daß Ihr etwas tiefer über diese Frage und auch darüber nachdenken solltet, wie unsere Wähler — ich spreche über Erfahrungen aus meinem Wahlkreis — dieses Vorhaben beurteilen. Ich möchte Euch bitten, daß Ihr nach draußen geht und Eure blauen Karten in rote umtauscht.
Herr Kollege Ebert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Nein, ich möchte gerne die Tradition fortführen, ohne Unterbrechung zu reden. Ich habe Herrn Weiß auch nicht gefragt.
Ich möchte die Kollegen, die hier im Raum sind, bitten, Platz zu
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18287
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthnehmen; denn wie immer Sie zu der Debatte stehen, Sie sollten in Ruhe zuhören.
Meine Damen und Herren, es ist, glaube ich, deutlich geworden, daß dieses ganze ästhetisierende Gerede darüber, was mit dieser Verhüllung deutlich gemacht werden soll, doch nicht weiterhilft. Es wird nur deshalb vorgetragen, weil man selbst innere Probleme damit hat, daß dieses Gebäude Gegenstand dieser Veranstaltung sein soll. Meine Damen und Herren, darüber denken Sie einmal als Befürworter nach.
Es hat vor vielen Monaten einen Wettbewerb gegeben, wie der Umbau des Deutschen Reichstages aussehen soll. Ich möchte Sie gerne daran erinnern, daß Sir Norman Foster den ersten Preis gewonnen hat. Ich möchte Sie gerne an das Modell erinnern, mit dem er diesen ersten Preis gewonnen hat. Es ist vorgesehen, daß man den Reichstag zwar innen umbaut, aber die Fassade unverändert stehenläßt, und daß man darüber ein riesiges Glasdach spannt. Ich denke, dies ist die richtige Symbolik für dieses Gebäude, denn es macht deutlich, daß hier etwas bewahrt werden soll, nämlich deutsche Geschichte. Diese deutsche Geschichte dürfen wir nicht verhüllen. Ich finde es schlimm, daß wir einem Künstler so lange dazu verhelfen, kostenlos PR für sich zu machen.
Danke schön.
Herr Kollege Ebert, ich stelle noch einmal klar, daß ich von einer Entscheidung des Ältestenrates ausgegangen bin. Aber auch ich als Präsidentin habe Mehrheiten im Parlament zu respektieren, wenn die Entscheidung erfolgt ist, im Parlament abstimmen zu lassen.
Als nächstem erteile ich dem Kollegen Briefs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war einfach zu befürchten, daß aus der Diskussion über die Verhüllung des Reichstags eine ernste, gelegentlich bitter ernste Debatte über den Umgang mit sogenannten nationalen Symbolen und mit der sogenannten nationalen Würde bei Befürwortern wie bei Gegnern der Verhüllung werden würde. Dabei wäre es — auch in bezug auf das zu verhüllende Objekt, den Reichstag —wahrscheinlich angebrachter gewesen, die Entscheidung für das Ja oder Nein dieser Verhüllung leichthändig, im Vorfeld formeller ernsthafter Parlamentsdebatten zu treffen.
Vielleicht hätte man auch einfach die Würfel entscheiden lassen sollen. Völlig unangebracht ist es jedenfalls, die Verhüllung damit abzulehnen, daß damit „eine verunsicherte Nation nach der Wiedererlangung der Einheit sich erst selbst finden muß " — das sind Zitate — und daß man die „Gefühle der Menschen in diesem Land nicht auf die Probe stellen darf". So geäußert u. a. vom Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe.
Nationale und national eingefärbte Töne haben in dieser Debatte nichts, aber auch gar nichts zu suchen. Wenn wir uns dieses Argument -- die Gefühle vieler Menschen würden verletzt — einmal ausnahmsweise näher betrachten: Ist es denn wirklich so, daß sich mit dem Reichstag, mit einem steinernen Symbol der unglücklichen Geschichte der deutschen parlamentarischen Demokratie, bei vielen Menschen in diesem Lande tiefere Gefühle verbinden? Ich wage zu behaupten, daß der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Reichstag fremd und gleichgültig ist. Es wäre ja vielleicht nicht schlecht, wenn der Reichstag — dessen Verhüllung übrigens lange vor der Wiedervereinigung und als diese in keiner Form absehbar war, als Kunstprojekt formuliert wurde — positive Identifikationsgefühle der deutschen Bevölkerung auf sich ziehen würde. Aber es ist doch nicht so. Markus Wasmeier oder Katarina Witt ziehen doch viel mehr derartiges Identifikationspotential auf sich.
Man kann über den künstlerischen Wert des Verhüllungsprojekts, das einen leicht gigantomanischen Zug hat, völlig entgegengesetzter Meinung sein. Nach dieser Debatte hier, nach den verhalten nationalen Tönen in dieser Debatte muß man schlicht dafür sein. Wie Werner Schmalenbach, der Gründungsdirektor der Kunstsammlung NRW, zu Recht sagt, sollte man sich einen Stoß geben, für die Verhüllung zu stimmen. Denn die Verhüllung ist zumindest — diesen Wert hat sie — eine spektakuläre Aktion gegen nationales und gegen sonstiges deutsches Spießertum.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.
Als letzter in der Debatte spricht der Kollege Freimut Duve.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles in allem eine gute Debatte. Aber, Herr Kollege Schäuble, Sie haben die Dimension, über diesen Gegenstand zu sprechen, zu einer nationalen Frage hin erweitert. Wenn die Argumente, die Sie vorgetragen, und die Warnungen, die Sie ausgesprochen haben, ernst zu nehmen wären, dann dürften wir den Reichstag nicht umbauen.
Dann müßte er genau so stehenbleiben, unberührt von Bauhandwerkern, unberührt von Architektenplänen. Das wäre dann das Symbol der Wunden unserer Geschichte.Das sanfte Signal, das von der Verhüllung ausgehen kann und das jeder verschieden interpretiert — Peter Conradi hat das gesagt —, ist sicher auch eine Antwort
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18288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Freimut Duveauf die Wunden unserer Geschichte, Herr Kollege Schäuble.
Ich denke, man darf es nicht so überhöhen, wie Herr Schäuble das hier gemacht hat.
Wir gehen in einen Neubau des Reichstags. Wir haben einen höchst interessanten Vorschlag. Für mich als Politiker gibt es ein Grundelement dieses interessanten Vorschlags. Ich habe alle Projekte von Christo überprüft. Überall gab es eine leidenschaftliche Gegnerschaft. Häufig war diese leidenschaftliche Gegnerschaft, etwa in der Stadt Paris, genauso überhöht wie die Leidenschaft von Herrn Schäuble heute morgen. Hinterher gab es leidenschaftliche, aber entspannte, heitere, liebenswürdige Zustimmung von allen, auch von den Kritikern.
Uns Deutschen tut dieser Moment — es geht ja nur um einen kurzen Moment in unserer Geschichte —
der Entspanntheit, der Moment des heiteren Umgangs mit etwas sehr gut. Der Welt wird es auch guttun, ein solches Signal von uns zu bekommen,
daß wir mit so etwas entspannt umgehen können. Das sind andere Bilder in den Fernseharchiven als über Rostock und Mölln, die jetzt immer wieder herausgeholt werden, wenn über Deutschland berichtet wird. Das ist ein anderes Bild, ein gutes Bild.Herr Schäuble, bei Politikern ist es häufig umgekehrt. Wir mobilisieren die Leute für unsere Visionen und Ideen — Herr Kohl kann ein Lied davon singen —, und wenn wir die Ideen realisieren, sind die Leute enttäuscht. Bei Christo waren die Leute noch nie enttäuscht. Sie waren immer begeistert.
Genau das werden wir erreichen.Ich bitte darum diejenigen, die jetzt gesagt haben, der Schäuble hat mich so bei meiner demokratiepatriotischen Saite gepackt: Überlegen Sie noch ein bißchen. Lassen Sie es uns gelassen angehen.
Lassen Sie uns diese neue deutsche, demokratische Gelassenheit
durch ein großes Symbol für 14 Tage leisten. Dann gehen wir mit großem Vergnügen und mit großem Ernst in den umgebauten Reichstag — wenn wir die Regierung stellen, Herr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung haben die Kollegen Lammert, Koschyk, Grüner, Bierling, Türk, Brecht, Schmidt , Bühler (Bruchsal), von Stetten und die Kollegin Homburger vorgelegt.*)Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Abgeordneten Johannes Gerster, Heribert Scharrenbroich, Peter Kittelmann und weiterer Abgeordneter mit dem Titel „Verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin", Drucksache 12/6767.Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. —Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht abgegeben? — Das ist offensichtlich der Fall. —Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. **)Wir setzen die Beratungen fort. Ich möchte Sie bitten, Platz zu nehmen. — Ich wiederhole: Nehmen Sie bitte Platz. — Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, warte ich so lange, bis Sie Platz genommen haben.
Es gibt immer noch einige Kollegen, die mich offenbar nicht verstehen. Ich fordere Sie auf, Platz zu nehmen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungErster Altenbericht der Bundesregierung — Drucksache 12/5897 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht zu uns die Bundesministerin Hannelore Rönsch.*) Anlage 2* *) Ergebnis Seite 18294 A
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18289
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wäre auch den Kollegen dankbar, die jetzt noch stehen, wenn sie sich hinsetzen würden.
Denn das Thema, das wir heute behandeln, wird auch in Zukunft Ihr Thema sein. Ich kann nur immer wieder sagen: Jeder wächst meiner Klientel, den Senioren, zu. Deshalb würde ich Ihnen empfehlen, mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören.Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Seniorenministerin bin ich ausgesprochen dankbar, daß wir heute im Deutschen Bundestag den Ersten Altenbericht der Bundesregierung diskutieren. Wir diskutieren über die Situation der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, und wir sprechen über die Situation der ausländischen Senioren hier bei uns im Land. Die wachsende Bedeutung der älteren Menschen in Deutschland, auch bedingt durch die demographische Entwicklung, macht es dringend erforderlich, daß sich alle Verantwortlichen in Politik, in der Gesellschaft verstärkt mit den Belangen der Älteren auseinandersetzen.Zentrale Aussage dieses umfassenden Gesamtberichtes ist: Die Situation der älteren Menschen hat sich in den zurückliegenden Jahren in der Bundesrepublik Deutschland spürbar verbessert. Dies gilt ganz besonders auch für die älteren und alten Menschen in den neuen Bundesländern unseres wiedervereinigten Landes.Im Februar 1989 hatte meine Vorgängerin im Amt, Frau Professor Ursula Lehr, eine Sachverständigenkommission beauftragt mit der Erstellung eines Gesamtberichts zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik. Angesichts der bevorstehenden Wiedervereinigung Deutschlands wurde er 1990 auf die Situation der Menschen in den neuen Bundesländern erweitert. Mit Blick auf die enger werdende Zusammenarbeit auf europäischer Ebene stellte sich die Kommission „Seniorenpolitik" die Aufgabe, sich auch mit den Nachbarländern auseinanderzusetzen und die Lebenssituation in unseren Nachbarländern ebenfalls zu eruieren. Die Sachverständigenkommission unter Leitung von Herrn Professor Dr. Schütz übergab mir Ende 1992 ihren Bericht, der Ihnen nun gemeinsam mit der Stellungnahme der Bundesregierung vorliegt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ältere Menschen leben heute länger als früher. Sie gehen gesünder in die nachberufliche Lebensphase und die vor ihnen liegende Zeit. Wenn man mit 60 aus dem Arbeitsprozeß ausscheidet, liegt oft noch ein Drittel des Lebens vor einem. Mit 60 begreifen sie vielfach, daß sie ihren neuen Lebensabschnitt neu gestalten müssen, daß sie neue Aufgaben vor sich haben. Wir alle in Politik und Gesellschaft sind gefordert, sie hierbei zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für ein zufriedenes, für ein aktives und ein lebenszugewandtes Altern zu schaffen.Die erste Grundlage hierfür ist die weitere Korrektur des Altersbildes in unserer Gesellschaft. Leider nur allzu oft wird in der Öffentlichkeit ein Bild verbreitet, das den älteren Menschen als inkompetent, als hinfällig, vielleicht als nicht ganz ernst zu nehmend, als vergeßlich darstellt. Auch werden Begriffe wie „Altenlast" oder „Überalterung" genannt. Wir wissen aber, daß der weitaus größte Teil der älteren Menschen leistungsfähig und durchaus aktiv ist.Ich möchte an dieser Stelle deshalb noch einmal an uns alle, aber auch ganz besonders an die Medien appellieren, endlich einen Beitrag zu einem realistischen und zu einem differenzierten Altersbild in der Öffentlichkeit zu leisten. Wir dürfen nicht immer Alter als Belastung für Gesellschaft oder für die Älteren selbst darstellen, sondern wir müssen die Kompetenz und die gelebte Lebenserfahrung wesentlich wirklichkeitsnaher in der Öffentlichkeit deutlich machen. Denn, ich denke, wir sollten uns doch klarmachen: Die meisten älteren Mitbürger möchten ihr Leben so lange wie möglich selbständig führen und am gesellschaftlichen und am politischen Leben teilhaben.Viele Kommunen, viele Bundesländer unterstützen dies. Doch es fehlt häufig noch an einer Anlaufstelle; es fehlen Informationen, und es werden Angebote und Bedürfnisse nicht genügend zusammengeführt. Um dies zu verbessern, habe ich 1992 im Rahmen des Bundesaltenplans das Modellprojekt der Seniorenbüros entwickelt.
Mit den Seniorenbüros, für die es derzeit bundesweit 32 Modellstandorte gibt — diejenigen, die sich mit der Altenpolitik beschäftigen, wissen, daß wir die in diesem Jahr auf mindestens 50 Seniorenbüros erhöhen wollen —, will die Bundesregierung älteren Menschen neue Betätigungsfelder für ihren Alltag eröffnen und sie z. B. zur Übernahme einer freiwilligen sozialen Tätigkeit motivieren. Durch eine offene Konzeption haben wir bewußt den vielfältigen Interessen der älteren Menschen Raum gelassen.Wichtig ist, daß Menschen sich engagieren, daß sie in den Seniorenbüros auch weiterhin einen Ansprechpartner haben, der sie unterstützt. Auch kann es die Aufgabe der Seniorenbüros sein, den Aufbau selbstorganisierter Gruppen zu leisten und den Anstoß dazu zu geben. So können z. B. Nachbarschaftsdienste ins Leben gerufen werden oder Werkstätten, in denen Ältere ihre handwerklichen Fähigkeiten zum Nutzen anderer anbieten.Die große Resonanz dieses Modellprogramms und die Vielfalt der bereits umgesetzten Ideen beweisen, daß sich hier unserer Gesellschaft Kräfte anbieten, auf die wir nicht verzichten können und nicht verzichten dürfen.Ich erwarte von diesem Modellprojekt, daß es unter der aktiven Mitwirkung der Senioren Wege und Möglichkeiten aufzeigt, wie das Leben im Alter aktiv gestaltet werden kann und wie dies zum Nutzen unserer gesamten Gesellschaft beitragen kann.Für die Zukunftssicherung des Standortes Deutschland wird es ebenfalls langfristig unumgänglich sein,
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18290 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Bundesministerin Hannelore Rönschdie Kompentenz, das Fachwissen und die Erfahrungen der älteren Arbeitnehmer und Selbständigen stärker als bisher zu nutzen.Der sich abzeichnende demographische Umbau wird im Ergebnis dazu führen, daß weniger Erwerbstätige die Alterssicherung für mehr ältere Menschen aufbringen müssen. Deshalb unterstütze ich eine weitere Flexibilisierung der Altersgrenzen, wie sie im Rentenreformgesetz 1992 bereits eingeführt sind.Außerdem muß der gegenwärtige Trend zur Frühverrentung gestoppt und mittel- und langfristig umgekehrt werden. Dies kann am besten gelingen, wenn rechtzeitig auch für ältere Arbeitnehmer geeignete Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich appelliere deshalb auch von dieser Stelle an die Unternehmer: Denken Sie um, und bauen Sie Vorurteile gegenüber älteren Arbeitnehmern ab.
Denn sie sind oft noch leistungsfähig und können vor allem ihre Erfahrung aus dem Arbeitsleben, aber auch ihre Lebenserfahrung einbringen.Die Bundesregierung hat bereits gehandelt. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 ist die Möglichkeit geschaffen worden, Teilzeitarbeit und Teilrente zu kombinieren. Leider wird dieser Weg, der für ältere Menschen sehr vielversprechend ist, noch zu wenig genutzt.Ganz besonders am Herzen liegt mir die Lebenssituation der älteren Menschen in den neuen Bundesländern. Der erste Altenbericht belegt sehr deutlich, daß sich ihre Situation seit der Wiedervereinigung spürbar zum Positiven verändert hat.Lassen Sie mich dies nur am Beispiel der Renten erläutern. Legt man einen Durchschnittsverdienst bei 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren zugrunde, erhielt ein Rentner in den neuen Ländern im Dezember 1990 672 DM Rente. Im Januar 1994 bezog derselbe Rentner 1 500 DM. Dies macht eine Steigerung von 120 % aus.Langfristig kommt es darauf an, den Generationenvertrag auch unter den veränderten demographischen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Auch hierzu haben wir im Rentenreformgesetz 1992 die nötigen politischen Weichen gestellt.
— Ich habe leider die Zwischenfrage akustisch nicht mitbekommen.
— Aber Herr Kollege, Sie sind doch mindestens so lange im Bundestag wie ich. Deshalb muß ich Ihnen nicht erzählen, was seit 1982 alles an kinderfreundlicher Politik hier in diesem Hohen Hause beschlossen worden ist.
— Sie mögen recht haben, wenn Sie sagen: Es ist zu wenig. Wenn ich das aber mit dem vergleiche, was die Sozialdemokraten bis 1982 getan haben,
dann kann ich natürlich sagen, daß wir eine mindestens 300prozentige Steigerung in der Familienpolitik gehabt haben.
— Das wissen Sie als Kinderbeauftragter genauso gut wie ich.
Aber lassen Sie uns heute doch die Situation der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland diskutieren. Auch dies ist eine positive Bilanz, und deshalb möchte ich das hier weiter ausführen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Blunck?
Ich hatte gerade der Kollegin Blunck gesagt, daß wir heute eigentlich die Situation der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland diskutieren.
Ich frage nur, ob Sie dazu eine Zwischenfrage der Kollegin Blunck zulassen, ja oder nein?
Ja.
Frau Ministerin, darf ich davon ausgehen, daß Sie den Armutsbericht der Paritätischen Wohlfahrtsverbände kennen? Darf ich Sie weiterhin fragen, ob Ihnen die Anzahl der Zunahme an Altersarmut, an Kinderobdachlosigkeit und an Kinderarmut bekannt ist, die während der Regierungszeit der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition so dramatisch zugenommen hat?
Sehr geehrte Frau Blunck, da ich davon ausgehe, daß Sie auch die Analyse dieses Armutsberichts sehr genau gelesen haben, wissen Sie, daß das ein sehr differenziertes Thema ist.
Ich habe heute leider nicht die Zeit und nicht dieGelegenheit, Ihnen deutlich zu machen, um welche
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18291
Bundesministerin Hannelore RönschPersonenkreise es sich handelt und wie Armut definiert werden muß.
Wenn Sie den Bezug von Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland als Armut definieren, dann hat die Anzahl derjenigen, die arm sind, natürlich zugenommen. Diese Begriffsbestimmung ist aber nicht richtig.Wir werden demnächst noch Gelegenheit haben, hier sehr ausführlich darüber zu diskutieren, damit diese Polemik, die leider mit dem Armutsbericht in den letzten Tagen und Wochen versucht worden ist, endlich unterbleibt. Wenn wir hier differenziert darüber reden und Sie sich die Personenkreise anschauen — und auch die Zahlen der Sozialhilfe hinterfragen —, dann, denke ich, kommen auch Sie zu einer richtigen Bewertung.Aber, liebe Frau Kollegin, da Sie gerade Kinder angesprochen haben und aus Schleswig-Holstein kommen, nehme ich auch wieder die Gelegenheit wahr, das Land Schleswig-Holstein aufzufordern, doch CDU-regierten Bundesländern nachzufolgen und endlich ein Landeserziehungsgeld einzuführen.
Dann haben Sie die Möglichkeit, endlich etwas für Familien mit Kindern zu tun.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Link?
Selbstverständlich.
Frau Bundesministerin, es ist doch richtig, daß dies der erste Altenbericht überhaupt in der Bundesrepublik Deutschland ist. Die demographische Entwicklung war doch in den 70er Jahren auch schon erkennbar, als die SPD regierte.
Warum ist zu dieser Zeit kein Altenbericht erstellt worden?
Herzlichen Dank, Herr Kollege Link. Ich habe vorhin zwei Worte gebraucht: Alterslast und Überalterung. Diese beiden Worte waren für den Sprachgebrauch der Sozialdemokraten in der Vergangenheit immer typisch. Ich bin deshalb dieser Bundesregierung und meiner Vorgängerin, Frau Lehr, ausgesprochen dankbar, daß die Situation der älteren Menschen endlich einmal deutlich gemacht wird, daß ihre Kompetenz dargestellt werden kann, daß auch klar gezeigt wird, welche Lebensleistung — und wir werden bei der Pflegeversicherung ja auch darauf noch zu sprechen kommen — sie erbracht haben, daß wir endlich ein reales Altersbild haben und auch endlich über die Situation der alten Menschen diskutieren können — auch über ihre Rentensituation, die sich seit 1982 so erheblich verbessert hat.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Aber selbstverständlich. Ich darf jedoch noch einmal sagen, Frau Präsidentin: Jetzt sind es nur noch fünf Minuten, die ich hier habe. Ich habe den Eindruck, daß mir doch die Zeit irgendwo angerechnet wird.
Nein, die steht hier still.
— Die Zeit steht still.
Frau Höll, bitte.
Frau Ministerin, gestatten Sie bitte die Frage, ob ich Ihre Antwort auf die Frage der Kollegin Blunck so verstehen kann, daß Sie entgegen den bisherigen Handlungen der Bundesregierung noch darauf hinwirken werden, daß ein Armutsbericht der Bundesregierung erstellt wird.
Vielleicht ist es Ihnen dann auch möglich, in diesem Zusammenhang z. B. zu begründen, warum es in den neuen Bundesländern dazu kommt, daß trotz der hohen Wertschätzung der älteren Bürgerinnen und Bürger, die Sie ja hier ausgedrückt haben, bei der Berechnung der Sozialhilfe kein Mehrbedarfszuschlag für ältere Menschen gewährt wird.
Meinen Sie, im Rahmen dessen, was Sie bisher durch eine Aktion mit Plakaten, auf denen man sehr großflächig ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger sieht, getan haben, einen Wandel in der Gesellschaft erreichen zu können, was ich doch sehr bezweifle?
Es würde mich dann auch sehr interessieren, ob es Ihnen möglich wäre, bei Ihrem Beispiel der Rentenberechnung, das für einige Menschen zutreffend ist, aber doch auch mit zur Kenntnis zu nehmen, —
Frau Höll, das wird zu lang. Eine Frage, bitte!
— das ist jetzt der Abschluß —, daß dort Rentenrecht in politisches Strafrecht verwandelt worden ist. Und was ist mit den Renten, die prinzipiell auf 801 DM begrenzt sind?
Ich danke.
Frau Kollegin Höll, Sie sind ja im Ausschuß für Familie und Senioren, und deshalb müßten sich eigentlich einige Fragen, die Sie hier gestellt haben, von selbst beantworten, weil die ja nun immer auch Thema des Ausschusses sind. Ich werde heute hier keine Sozialhilfediskussion führen, obwohl ich dies sehr gerne tue und wir diese Diskussion auch zu einem anderen Zeitpunkt hier im Plenum durchaus mit Ihnen führen werden. Sie kennen die Sozialhilfezahlen für die alte Bundesrepublik und für die neuen Bundesländer. Ich bin ganz sicher, auch derjenige, der in den neuen Bundesländern Sozialhilfe zusätzlich zu seiner Rente bezieht, hat damit einen angemessenen Lebensspielraum.
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18292 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Bundesministerin Hannelore RönschAber jetzt noch einmal zu der von Ihnen immer wieder erwähnten Plakataktion. Ich würde Ihnen empfehlen, doch einmal mit älteren Menschen zu reden.
— Das ist kein verkehrter Vorschlag, Frau Kollegin. Man sollte öfter gerade mit älteren Menschen reden.
— Sie sehen vielleicht, wie oft ich besonders in den neuen Bundesländern bin. Ich würde das an Ihrer Stelle doch einmal zur Kenntnis nehmen. Dann würden Sie erkennen, daß sich alte Menschen auf diesen Plakaten wiedergefunden haben. Sie wollen nicht als inkompetent und debil hingestellt werden, sondern sie wollen genau das an die junge Generation weitergeben, auf das ich später gern noch zu sprechen kommen würde.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ältere Menschen sind mit ihrer Wohnsituation durchweg zufriedener als jüngere; sie wünschen sich auch keine gravierenden, weil für sie natürlich belastenden Veränderungen ihrer Wohnverhältnisse. Der Altenbericht verweist jedoch auf die nach wie vor problematische Wohnsituation älterer Menschen in den neuen Bundesländern. Bedenkt man, daß ältere Menschen oft vier Fünftel des Tages oder mehr in der Wohnung verbringen, ist rasche Abhilfe zwingend geboten. Neben den Instrumenten des sozialen Wohnungsbaus sehe ich hier besonders eine Aufgabe der Kommunen, der Architekten und Städteplaner, die Bautätigkeit so zu steuern, daß die Belange der älteren Menschen wesentlich stärker berücksichtigt werden. Mit Verordnungen zum „barrierefreien Wohnen" hat der Bund die gesetzgeberischen Grundlagen geschaffen; sie müssen nun wirksam umgesetzt werden.In der Altenhilfe sind gerade in den letzten Jahren seit der Wiedervereinigung wesentliche Fortschritte erzielt worden. Hier bitte ich ganz einfach die Kolleginnen von der PDS, auch einmal Sozialstationen zu besuchen.
— Dann haben Sie endlich einmal etwas Neues dazugelernt, denn diese Sozialstationen gab es, Frau Kollegin, in der alten DDR nicht. Wir mußten 900 Sozialstationen einrichten, um die ambulante Versorgung alter Menschen endlich sicherzustellen.
Sie wurden in den vergangenen Jahren zu Hause nicht so betreut, wie das jetzt möglich ist. Ich muß sagen, das ist eine sehr stolze Leistungsbilanz.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riegert?
Frau Ministerin, Sie haben gerade die Sozialstationen angesprochen. Das ist nun ein Feld, in dem die Länder die Zuständigkeit haben. Wie sieht es auf diesem Gebiet in den alten Bundesländern und insbesondere in den Bundesländern, die von der SPD geführt sind, aus?
Wir haben die Sozialstationen in den neuen Bundesländern nach demselben Personenschlüssel aufgebaut, wie gesagt, eine Anzahl von jetzt 900. Ich würde mir wünschen, daß in die in den alten Bundesländern schon seit vielen Jahren bestehenden Sozialstationen, seinerzeit initiiert von Heiner Geißler — begonnen in Rheinland-Pfalz, dann auch von sozialdemokratisch geführten Bundesländern übernommen —, zusätzlich Kurzzeitpflegeeinrichtungen und Tagespflegekliniken installiert würden, damit diejenigen, die zu Hause Pflegeleistungen erbringen, auch die Möglichkeit haben, die zu Pflegenden einmal für kurze Zeit, vielleicht während einer Krankheit des Pflegenden, unterzubringen oder in der Tagespflege unterstützende Hilfe zu erhalten.
Hier haben die alten Bundesländer noch ein erhebliches Defizit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben jetzt über die ambulante Versorgung gesprochen. Was mich aber besonders bedrückt — da würde ich die beiden Damen von der PDS einmal bitten zuzuhören —
ist die Situation der alten Menschen in den Alten- und Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern. Hier haben wir eine Erblast aus der alten DDR übernommen, die mir im Innern immer noch ausgesprochen bitter ist. Nur 10 % der Häuser, in denen alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen untergebracht sind, sind nach unserem Standard, nach der Heimmindestbauverordnung, auch in Zukunft verwendbar.
— Hier muß ich Ihnen sagen, liebe Frau Kollegin Höll: Gehen Sie einmal in ein Altenpflegeheim, wenn Sie sich hineintrauen! Sehen Sie, was man zu DDR-Zeiten den alten Menschen dort angetan hat, wie man sie untergebracht hat!
Wir konnten bisher ganz Erhebliches verbessern, aber es reicht noch nicht aus. Hier sind die Bundesländer insgesamt gefordert, sind die neuen Bundesländer gefordert, ihrer Aufgabe nachzukommen; denn wir dürfen alte Menschen nicht auf eine bessere
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18293
Bundesministerin Hannelore RönschZukunft verweisen. Sie haben 40 Jahre in der DDR leben müssen,
hatten keine Möglichkeit, dieses Land zu verlassen, und jetzt müssen wir diesen alten Menschen noch eine Perspektive in einer angenehmen Umgebung geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir läuft die Zeit davon.
— Das geht Ihnen ganz genauso wie mir; denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle werden älter. Wenn ich zu Beginn gesagt habe, daß auch Sie später irgendwann zur Klientel der Seniorenministerin gehören werden, dann trifft es den einen früher und den anderen ein wenig später.
— Herr Kollege Conradi, wir haben uns in diesem Hause schon darüber unterhalten.Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf eine Personengruppe aufmerksam machen, die bei uns in der Bundesrepublik Deutschland lebt und die Bundesrepublik Deutschland mit aufgebaut hat. Ende 1991 lebten in Deutschland rund 300 000 Ausländer im Alter von 60 und mehr Jahren. Ihre Zahl wird voraussichtlich bis zum Jahr 2010 auf rund 1,3 Millionen und bis zum Jahr 2030 auf 2,8 Millionen ansteigen. Die ausländischen Senioren sind damit die am stärksten anwachsende Bevölkerungsgruppe in der Bundesrepublik.Genauso, wie wir Antworten auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der älteren deutschen Mitbürger finden müssen, müssen wir uns dieser Senioren, dieser älteren Arbeitnehmer aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen annehmen. Wir müssen Angebote schaffen und ausbauen, und den Vorstellungen der älteren Ausländer in Deutschland müssen wir auch an ihrem Lebensabend gerecht werden. Hier müssen wir helfen.
Es sind dies viele Gastarbeiter der ersten Stunde. Sie haben viele Jahre und oft Jahrzehnte an der Schaffung des Wohlstandes der Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt, sie haben dazu beigetragen, und sie haben auch mitgeholfen, daß wir die Wiedervereinigung so bewältigen konnten. Sie haben damit Immenses für uns alle geleistet.Viele von ihnen, vor allem Männer, kamen ja ursprünglich aus den Heimatländern mit einer Rückkehroption. Sie wollten einige Jahre hier in der Bundesrepublik arbeiten und leben und dann wieder in ihr Heimatland zurück. Aber die Lebensrealität hatsich in der Zwischenzeit für viele erheblich geändert. Sie haben die Familien nachgeholt, oft sind Kinder hier geboren, und viele haben hier in der Bundesrepublik jetzt schon Enkel.Auch die Bindung an die Heimat, auch die soziale Absicherung in der Heimat ist nicht mehr vorhanden. Jetzt gilt es, diesen alt werdenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die aus anderen Kulturen kommen, bei uns eine neue Heimat zu schaffen. Ich denke, daß es unsere zwingende Aufgabe ist, auch ihren Kulturen gerecht zu werden. Wir müssen in der Politik darauf eingehen, denn gerade im Alter müssen wir solidarisch zu ihnen stehen. Deshalb werden die Belange der älteren Ausländer künftig auch in der Seniorenpolitik der Bundesregierung eine ganz maßgebliche Rolle spielen.
Ich habe in einem ersten Informationsgespräch mit Vertretern von Selbsthilfegruppen älterer Ausländer über die spezifischen Bedürfnisse, über die Schwierigkeiten diskutiert, und wir werden diesen Dialog fortsetzen. Im Rahmen des Bundesaltenplans fördert mein Haus schwerpunktmäßig Projekte zur Entwicklung neuer Wege in der Altenarbeit und der Altenhilfe für ausländische Senioren.Exemplarisch will ich nur eine Altentagesstätte in Mannheim nennen, die speziell für ältere Türken eingerichtet worden ist. Sie trägt der Idee Rechnung, daß sich die Politik für ältere Ausländer an deren ureigensten kulturellen, sprachlichen und religiösen Vorstellungen orientieren muß. Sie muß den unterschiedlichen ethnischen Prägungen gerecht werden, sie berücksichtigen und zugleich einen Prozeß der Integration in unsere Gesellschaft bewirken und fördern. Dies ist jedoch nur auf der Basis von gegenseitigem Verständnis und Toleranz zu erreichen.Seniorenpolitik, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Zukunftsaufgabe, und wir alle in der Politik, in der Gesellschaft müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß allen älteren Menschen in Deutschland heute und auch in Zukunft ein Alter in größtmöglicher Selbstbestimmung und Würde ermöglicht wird. Hierbei sind alle Ebenen, die Politik in Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch alle gesellschaftlichen Gruppierungen aufgefordert, sich dieser Aufgabe zu stellen. Dazu gehört, daß die Anliegen der Älteren wahrgenommen werden, daß mit ihnen der Dialog geführt wird und daß wir Wege beschreiten, um Bewährtes weiterzuentwickeln. Der Erste Altenbericht der Bundesregierung zeigt, daß wir damit auf dem richtigen Weg sind.
Meine Damen und Herren, bevor ich die Aussprache fortsetze, gebe ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Abgeordneten Gerster, Scharrenbroich, Kittelmann, Dr. Struck, Conradi und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 12/6767 bekannt. Abgegebene Stimmen: 531. Mit Ja haben gestimmt 295, mit Nein haben gestimmt 226, Enthaltungen: 10.
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18294 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 525; davon:ja: 292nein: 223enthalten: 9ungültig: 1JaCDU/CSUDr. Ackermann, Else Austermann, DietrichDr. Bergmann-Pohl, Sabine Bleser, PeterBörnsen , Wolfgang Buwitt, DankwardCarstensen ,Peter HarryClemens, Joachim Dehnel, Wolfgang Diemers, Renate Doss, Hansjürgen Eppelmann, Rainer Eylmann, Horst Falk, IlseFockenberg, Winfried Fritz, Erich G.Ganz , Johannes Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Dr. Geißler, HeinerDr. von Geldern, Wolfgang Gerster , Johannes Gibtner, HorstGres, JoachimGrotz, Claus-Peter Haungs, Rainer Hedrich, Klaus-Jürgen Dr. Hellwig, RenateDr. h. c. Herkenrath, Adolf Hintze, PeterDr. Hornhues, Karl-Heinz Junghanns, Ulrich Kampeter, Steffen Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Kauder, Volker Kittelmann, PeterDr. Köhler ,VolkmarKossendey, Thomas Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf Kronberg, Heinz-JürgenDr. Lammert, Norbert Lehne, Klaus-Heiner Limbach, EdithaLink , WalterMaaß , Erich Marienfeld, Claire Meckelburg, Wolfgang Molnar, ThomasNitsch, Johannes Dr. Olderog, RolfOtto , Norbert Petzold, UlrichDr. Pflüger, Friedbert Pofalla, RonaldPützhofen, Dieter Reinhardt, Erika Ringkamp, Werner Sauer , Roland Schätzle, Ortrun Scharrenbroich, Heribert Schmalz, UlrichDr. Schmidt, Christa Schmidt , AndreasSchmidt , Trudi Dr. Schockenhoff, Andreas Frhr. von Schorlemer,ReinhardSchulhoff, Wolfgang Schwarz, StefanDr. Schwörer, Hermann Seesing, HeinrichDr. Sprung, Rudolf Dr. Stercken, Hans Dr. Süssmuth, Rita Dr. Voigt ,Hans-PeterDr. Vondran, Ruprecht Wiechatzek, Gabriele Würzbach, Peter KurtSPDAdler, BrigitteAndres, GerdBachmaier, Hermann Barbe, AngelikaBecker , Helmuth Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, RudolfBlunck , Lieselott Bock, TheaDr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, Anni Büchler (Hof), Hans Büchner (Speyer), PeterDr. von Bülow, Andreas Büttner , Hans Bulmahn, Edelgard Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter Daubertshäuser, KlausDr. Diederich , Nils Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, RudolfDuve, FreimutDr. Eckardt, PeterDr. Ehmke , Horst Eich, LudwigDr. Elmer, Konrad Erler, GernotEsters, HelmutEwen, CarlFerner, ElkeFormanski, Norbert Fuchs , Anke Fuchs (Verl), Katrin Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, NorbertGilges, KonradGleicke, IrisGroßmann, Achim Habermann, Michael Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel Hasenfratz, KlausDr. Hauchler, Ingomar Heyenn, GüntherHiller , Reinhold Hilsberg, StephanDr. Holtz, UweHorn, ErwinHuonker, Gunter Ibrügger, Lothar Iwersen, Gabriele Jäger, RenateJanz, IlseJaunich, HorstDr. Jens, UweJungmann , HorstKemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun Klose, Hans-UlrichDr. Knaape, Hans-Hinrich Kolbe, ReginaKolbow, Walter Kretkowski, Volkmar Kubatschka, Horst Dr. Kübler, KlausDr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lange, Brigittevon Larcher, Detlev Lennartz, Klaus Lörcher, ChristaLohmann , KlausDr. Lucyga, Christine Maaß , Dieter Marx, DorleMascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Meckel, MarkusMehl, UlrikeMeißner, HerbertDr. Mertens , Franz-JosefDr. Meyer , Jürgen Mosdorf, SiegmarMüller , Michael Müller (Pleisweiler), Albrecht Müller (Zittau), ChristianDr. Niehuis, Edith Dr. Niese, RolfOdendahl, Doris Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan Palis, KurtPaterna, PeterDr. Penner, Wilfried Peter , Horst Dr. Pick, Eckhart Poß, JoachimReimann, Manfred Rennebach, Renate Reschke, OttoReuschenbach, Peter W. Reuter, BerndRixe, GünterSchanz, DieterDr. Scheer, Hermann Schily, OttoSchloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer ,HorstSchmidt , Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schnell, Emil Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Karl-Heinz Schwanhold, Ernst Seidenthal, Bodo Seuster, LisaSinger, JohannesDr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Soell, HartmutSorge, Wieland Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Thierse, Wolfgang Titze-Stecher, UtaToetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried Verheugen, GünterVoigt , Karsten D.Wagner, Hans Georg Wallow, HansWalter , Ralf Walther (Zierenberg), Rudi Wartenberg (Berlin), GerdDr. Wegner, Konstanze Weiler, BarbaraWeis , Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Welt, JochenDr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Dr. Wetzel, Margrit Weyel, Gudrun Wiefelspütz, Dieter Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Zapf, UtaF.D.P.Albowitz, InaBaum, Gerhart Rudolf Bredehorn, Günther van Essen, JörgDr. Feldmann, Olaf Funke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGenscher, Hans-Dietrich Grüner, MartinGünther , JoachimDr. Guttmacher, Karlheinz Hansen, DirkHomburger, Birgit Dr. Hoyer, Werner Irmer, UlrichDr. Kolb, Heinrich L. Lüder, Wolfgang Lühr, UweMöllemann, Jürgen W. Otto ,Hans-Joachim Parr, DetlefPeters, LisaRichter , ManfredSchmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt , ArnoDr. Schmieder, Jürgen Schüßler, Gerhard Sehn, MaritaSeiler-Albring, Ursula Dr. Semper, Sigrid Thiele, Carl-Ludwig Türk, JürgenDr. Weng , WolfgangWolfgramm , TorstenZurheide, BurkhardPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Enkelmann, DagmarDr. Gysi, GregorDr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, UllaDr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Stachowa, Angela
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18295
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPoppe, GerdSchenk, ChristinaSchulz , Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, VeraFraktionslosDr. Briefs, UlrichNeinCDU/CSUAdam, UlrichDr. Altherr, Walter Franz Augustinowitz, Jürgen Bargfrede, Heinz-GünterDr. Bauer, WolfBaumeister, Brigitte Belle, MeinradBlank, RenateDr. Blens, Heribert Dr. Blüm, NorbertBöhm , Wilfried Dr. Bötsch, WolfgangBohl, FriedrichBorchert, Jochen Brähmig, KlausBreuer, PaulBrunnhuber, Georg Büttner , HartmutCarstens , Manfred Dempwolf, GertrudDeres, KarlDeß, AlbertDr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Eichhorn, MariaEngelmann, WolfgangErler , Wolfgang Eymer, AnkeDr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, JochenDr. Fell, Karl H.Fischer , Dirk Fischer (Unna), Leni Frankenhauser, HerbertDr. Friedrich, Gerhard Fuchtel, Hans-Joachim Geiger, Michaela Glos, MichaelDr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Götz, PeterDr. Götzer, Wolfgang Dr. Grünewald, JoachimGünther , Horst Harries, KlausHaschke , GottfriedHasselfeldt, Gerda Hauser , Otto Hauser (Rednitzhembach),HansgeorgHeise, ManfredDr. Herr, Norbert Hiebing, Maria Anna Hinsken, ErnstHörsken, Heinz-Adolf Hörster, JoachimDr. Hoffacker, Paul Hornung, Siegfried Jäger, ClausJaffke, SusanneDr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Kahl, Harald Karwatzki, Irmgard Kiechle, IgnazKlein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Kohl, Helmut Koschyk, Hartmut Kraus, RudolfKrause , Wolfgang Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, KarlLamp, HelmutDr. Laufs, PaulLaumann, Karl-Josef Dr. Lehr, UrsulaLenzer, Christian Dr. Lieberoth, ImmoDr. Lippold ,Klaus W.Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, SigrunLohmann , WolfgangLouven, JuliusLummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Magin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marschewski, Erwin Marten, GünterDr. Mayer , MartinMeinl, RudolfDr. Meyer zu Bentrup, ReinhardMichalk, MariaDr. Möller, Franz Dr. Müller, Günther Müller ,Hans-WernerDr. Neuling, Christian Neumann , Bernd Niedenthal, ErhardNolte, ClaudiaOst, FriedhelmOswald, EduardDr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pfeifer, AntonPfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Raidel, HansDr. Ramsauer, Peter Rau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm Reddemann, Gerhard Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Dr. Rieder, NorbertDr. Riedl , Erich Riegert, KlausDr. Riesenhuber, Heinz Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),HanneloreRomer, FranzDr. Rose, KlausRossmanith, Kurt J.Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, ChristianRühe, VolkerDr. Rüttgers, Jürgen Sauer , Helmut Dr. Schäuble, Wolfgang Schell, ManfredSchemken, HeinzScheu, GerhardSchmidt , Christian Graf von Schönburg-Glauchau, Joachim Dr. Scholz, RupertDr. Schulte , DieterSchulz , Gerhard Schwalbe, Clemens Seehofer, HorstSeiters, RudolfSikora, JürgenSothmann, BärbelSpilker, Karl-HeinzSpranger, Carl-Dieter Steinbach, ErikaStockhausen, KarlStrube, Hans-GerdStübgen, MichaelSusset, EgonDr. Uelhoff, Klaus-Dieter Verhülsdonk, Roswitha Vogel , Friedrich Vogt (Düren), WolfgangDr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, TheodorGraf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wetzel, KerstenDr. Wilms, Dorothee Wilz, BerndWimmer , Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, FritzWittmann , SimonWonneberger, Michael Wülfing, ElkeYzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zöller, WolfgangSPDDr. Brecht, EberhardDiller, KarlEbert, EikeFischer , Lothar Graf, GünterHacker, Hans-Joachim Heistermann, DieterDr. Janzen, UlrichKastner, SusanneDr. Klejdzinski, Karl-Heinz Neumann , GerhardPurps, RudolfRappe , HermannSchwanitz, RolfDr. Sperling, Dietrich Weiermann, Wolfgang Dr. de With, HansF.D.P.Dr. Babel, GiselaBeckmann, KlausDr. Blunk , Michaela Cronenberg (Arnsberg),Dieter-JuliusEngelhard, Hans A. Friedhoff, Paul K. Friedrich, HorstDr. Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Dr. Hoth, SigridDr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Mischnick, WolfgangNolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer Paintner, JohannRind, HermannDr. Röhl, KlausDr. Solms, Hermann Otto Dr. Thomae, Dieter Würfel, UtaFraktionslosDr. Krause , Rudolf KarlLowack, OrtwinEnthaltenCDU/CSUAugustin, Anneliese Bierling, Hans-DirkHüppe, HubertDr. Jüttner, EgonDr.-Ing. Schmidt , JoachimSPDSteiner, Heinz-Alfred F.D.P.Leutheusser-Schnarrenberger, SabineWalz, IngridBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Feige, Klaus-DieterDer Antrag ist angenommen.
Nach diesem Beifall setze ich die Aussprache fort. Als nächste spricht unsere Kollegin Arne Fuhrmann. — Entschuldigung, als nächster spricht unser Kollege
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18296 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthArne Fuhrmann. Heute verwandele ich alle Männer in Frauen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde das wunderschön — zweimal heute! Ich habe einen Bruder, der Eike heißt. Ich selbst heiße Arne. Es paßt also.Bevor ich mit meinem eigentlichen Konzept beginne, Frau Rönsch, möchte ich gerne auf zwei Ihrer Zitate zurückkommen. Das eine ist natürlich falsch; denn die Klientel der Älterwerdenden wächst nicht Ihnen politisch zu, sondern selbstverständlich bis zum 16. Oktober den Sozialdemokraten und danach Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger.Das zweite Zitat, auf das ich gerne eingehen möchte, ist folgendes: Sie haben völlig zu Recht gesagt, die Zeit läuft Ihnen davon. Das merkt man auch an der Art und Weise, wie Sie den Ersten Altenbericht der Bundesregierung heute dargestellt und erläutert haben.
— Nicht immer zeigt des Brüllers Sinn auf seine Cleverness stets hin, Herr Kollege Link.
Das sollten Sie sich irgendwann auch zu eigen machen. Dann würden Sie sich möglicherweise das eine oder andere ersparen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Altern hat Zukunft. Ich sage das hier nicht etwa deshalb, weil ich Reklame für das Buch meines Fraktionsvorsitzenden machen will — das im Grunde genommen für sich selbst spricht; denn es ist hervorragend —, sondern ich sage es deshalb, weil es so ist. Als Vorsitzender der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" muß ich es im Grunde genommen wissen; denn in der Kommission beschäftigt uns dieses Thema mm auch schon seit über einem Jahr sehr intensiv.Es scheint, daß auch die Bundesregierung dieser Meinung anhängt; denn schließlich ist der heute vorgelegte Altenbericht ein Novum. Während die Jugend bereits achtmal und die Familie viermal Gegenstand eines Regierungsberichts war, erfährt die ältere Generation heute erstmals die ihr gebührende Aufmerksamkeit zumindest durch die Vorlage eines Berichts im Deutschen Bundestag.
— Nach zwölf Jahren immerhin eine stramme Leistung! Ich möchte das ausdrücklich würdigen, meine Damen und Herren von der Regierung; denn es ist höchste Zeit, mehr über die Lebensbedingungen von mehr als einem Fünftel der Bevölkerung zu erfahren. Ich will die Zahlen der zukünftigen Altengeneration und die Bedeutung der Über-60-jährigen nicht wiederholen. Sie sind ausreichend bekannt. Wir Sozialdemokraten können von uns behaupten, frühzeitig auf die Auswirkungen des demographischen Wandels hingewiesen und im Grunde die Einsetzung der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" vorangetrieben zu haben.Wie wir während der bisherigen Arbeit in der Enquete-Kommission feststellen konnten, enthält der von der Expertenkommission der Regierung vorgelegte Bericht eine Fülle wichtiger Informationen, Zahlen, Aussagen zur Situation der Älteren. Er beschreibt den Ist-Zustand und ist insofern eine gute Grundlage für die von unserer Kommission zu leistende Arbeit der Bewertung der Konsequenzen des demographischen Wandels bis zum Jahre 2030.Es läßt sich mit Fug und Recht behaupten, daß mit der Einsetzung unserer Kommission und den Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr der älteren Generation und der Solidarität der Generationen untereinander die Altenpolitik erst richtig an Gewicht gewonnen hat.Bedauerlich ist, daß bislang weder das Ministerium für Familie und Senioren noch die Bundesregierung in ihren Stellungnahmen zum Bericht der Expertenkommission wesentlich neue oder zukunftsorientierte Gedanken formuliert haben. Sie betonen in ihrer Situationsbeschreibung immer wieder die kontinuierliche Verbesserung der wirtschaftlichen, der gesundheitlichen und der sozialen Lage der Älteren in den letzten Jahrzehnten. Das ist im Grunde genommen eine Selbstverständlichkeit, und es wäre auch sehr verwunderlich, wenn es anders wäre; denn schließlich sind sie — die Alten nämlich, die in den letzten zehn Jahren in diese Lebensphase eingetreten sind —diejenigen, die diese Republik nach dem Krieg mit aufgebaut haben, die in der Regel auf ein langes und intensives Arbeitsleben zurückblicken können und deren soziale und gesundheitliche Versorgung sich wesentlich von der ihrer Eltern unterscheidet. Das ist gut so, und das muß im Grunde auch noch besser werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren in der Bundesregierung! Ich finde es aber, gelinde gesagt, ein bißchen unnötig, wenn nicht gar störend, wenn Sie im Altenbericht die älteren Menschen sozusagen mit erhobenem Zeigefinger auf die richtige Verwendung von Arzneimitteln hinweisen, wo Sie doch andererseits die Förderung der Selbständigkeit und der gesellschaftlichen Beteiligung der älteren Menschen zum Ziel Ihrer Altenpolitik erklären.
Das ist eine Frage des Stils und im Grunde auch der Einstellung gegenüber der Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Hier sollte statt der Verschreibungspraxis der behandelnden Ärzte eher einmal angesprochen werden, wie die denn mit der Klientel der Älteren umgehen. Ihr Kollege, Herr Seehofer, hat das Problem erkannt und einen ersten Versuch unternommen, es in den Griff zu bekommen. Ich denke, darüber zu diskutieren — auch im Zusammenhang mit dem Altenbericht — wäre sicher sinnvoller.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18297
Arne FuhrmannDie Förderung der Selbständigkeit scheint mir überhaupt der wunde Punkt in Ihrer Selbstdarstellung zu sein. Hier klaffen für bestimmte Gruppen der Gesellschaft, namentlich auch unter den älteren Menschen, Anspruch und Wirklichkeit auseinander.Ich frage die Bundesregierung in diesem Zusammenhang, wie denn die Förderung der Selbständigkeit mit der immer stärker werdenden Tendenz zur Frühverrentung älterer Arbeitnehmer in den Betrieben zu vereinbaren ist. Die Koalition erleichtert den Arbeitgebern mit immer neuen Ausnahmeregelungen die Ausgrenzung der älteren Kolleginnen und Kollegen, und Sie wissen ja selbst, daß dies in der Regel mit einer niedrigeren Rente verbunden ist.Wir, die Sozialdemokraten, haben dafür — wenn denn ein Personalabbau unvermeidlich ist — eine solidarische Umlagefinanzierung durch die Arbeitgeber, ausgenommen die Kleinbetriebe, vorgeschlagen, und wir halten das nach wie vor für die richtigere Politik.
— Frenetischer Beifall bei meiner Fraktion, danke.In Ihrer Stellungnahme zur wirtschaftlichen Situation der Älteren betonen Sie den Ausnahmecharakter von Altersarmut, und Sie verweisen auf den Rückgang des Anteils der Älteren unter den Sozialhilfeempfängern von 20 % auf derzeit 8 %. Sie gestehen gleichzeitig zu, daß sich die absolute Zahl lediglich von 170 000 auf 150 000 reduziert habe. Das kann doch im Klartext nur bedeuten, daß sich die Armut ausweitet, nämlich auf die verschiedensten Bevölkerungsgruppen, damit auch und selbstverständlich auf zukünftig Ältere.
Nimmt man diejenigen, die den Gang zum Sozialamt scheuen — aus Scham, Angst oder weil sie einfach schlecht informiert sind — dazu, so sind ungefähr 250 000 bis 300 000 Rentnerhaushalte in Deutschland sozialhilfebedürftig oder sozialhilfeabhängig. Jede vierte alleinstehende alte Frau ist arm. Diesen Menschen versprechen Sie in einem kurzen Nebensatz Ihre „besondere Aufmerksamkeit" .Besonders deutlich wird dies, wenn wir die Situation der Rentner in den neuen Bundesländern betrachten. Dort war beispielsweise der Anteil der alleinerziehenden und nicht verheirateten Frauen größer als in den alten Bundesländern.Die Übernahme des westdeutschen Rentenrechts und die damit verbundene Abschaffung der zuvor bestehenden eigenständigen Alterssicherung der Frau haben für diese Frauen, die keinerlei Hinterbliebenenansprüche erlangen können, keine Verbesserung, sondern die Perspektive eines auf Sozialhilfe angewiesenen Lebensabends eröffnet.Da hilft es auch wenig, wenn Sie dieses Kind anschließend „Sozialzuschlag" nennen. Tatsache bleibt, daß Hunderttausende von Frauen auf diesen Zuschlag dringend angewiesen sind, um mit den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt zu halten.Was soll man da von der Bemerkung halten, daß — wieder Zitat — „diejenigen, denen Sozialhilfezusteht, diese zunehmend auch als Rechtsanspruch für sich beantragen"? Sollen wir das etwa für einen Fortschritt halten?Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß das Problem der Altersarmut nicht in der Sozialhilfe, sondern in der Rentenversicherung gelöst werden muß.
Wir fordern deshalb eine soziale Grundsicherung im Alter und bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und sehen damit keineswegs das Leistungsprinzip und unser im großen und ganzen bewährtes Rentensystem gefährdet.Als ein weiteres Ziel der Altenpolitik formuliert die Regierung die Angleichung der Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Das war bereits Ziel des Einigungsvertrages und bedarf im Grunde an dieser Stelle keiner besonderen Erwähnung. Wenn ich mir allerdings die Situation der nächsten Altengeneration in den neuen Bundesländern, also der heute 50- bis 60jährigen ansehe, dann stellt sich die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll.Viele Menschen dieser Generation werden auf Grund der aktuellen Arbeitsmarktprobleme nur eine lückenhafte Erwerbsbiographie aufweisen. Vermögen konnten in den letzten Jahrzehnten nur bescheiden angehäuft werden. Hier tickt eine soziale Zeitbombe, über die wir uns heute Gedanken machen müssen. Aber da diese Menschen noch nicht zu den Älteren gehören, kommen sie in der Stellungnahme der Bundesregierung eben nicht vor. Ich kann Ihnen jedoch versprechen, dieses Thema werden wir in der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln.Vieles von dem, was die Regierung im Bereich der Verbesserung der sozialen Infrastruktur für Altere als notwendig erachtet, wird von uns geteilt: Verbesserungen auf der kommunalen Ebene bei aktivierenden und rehabilitativen Angeboten, Ausweitung des Angebots an Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen, Vernetzung und Koordination der Hilfsdienste und eine Ausweitung der hauswirtschaftlichen Hilfen. Damit gehen wir d'accord.Nun erklären Sie aber einmal, wie dieses löbliche Vorhaben mit folgender Tatsache zusammenzubringen ist: Die Bundesanstalt für Arbeit hat im zweiten Halbjahr 1993 die Mittel zur Förderung von Umschulungsmaßnahmen zum Beruf des Altenpflegers/der Altenpflegerin drastisch reduziert. Gut die Hälfte derer, die diesen Beruf ergreifen wollen, sind Umschüler. Das sind häufig Menschen, die eine sehr bewußte Entscheidung für diesen Beruf auf Grund ihrer biographischen Erfahrungen getroffen haben.Angesichts der absehbaren Bedarfe an qualifizierten Fachkräften für die Altenpflege — dabei muß man an die veränderte Heimpersonalverordnung vom 19. Juli 1993 erinnern — besteht hier eindeutig ein arbeitsmarktpolitisches Interesse, dieses Berufsfeld zu entwickeln und zu fördern.Das Land Hessen hat einen Entwurf dazu vorgelegt. Die Bundesregierung und insbesondere der Bundesarbeitsminister als übergeordnete Instanz tragen die
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Arne FuhrmannVerantwortung, wenn dringend benötigte qualifizierte Fachkräfte fehlen. Die Pflegeleistungen lassen sich gerade im ambulanten Bereich nicht allein von den zumeist mehrfach belasteten Frauen — Ehefrauen, Töchtern, Schwiegertöchtern — erbringen.Im Grunde sollten Sie froh sein, daß die Nachfrage in diesem Berufsfeld zunimmt. Sie sollten nicht etwa auf dem Opferaltar für Herrn Waigel die Zukunft einer qualifizierten Ausbildung im Bereich der Pflege opfern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren in der Koalition, ich habe in der Stellungnahme der Regierung vergeblich ein Wort zur Situation der älteren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gesucht. Kann man daraus schließen, daß deren Lebenslage mit denen der deutschen Bevölkerung übereinstimmt? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.Der Bericht der Sachverständigenkommission widmet sich auf immerhin zwei Seiten diesem Thema, wirft allerdings die Aussiedler mit auf diese zwei Seiten. Hier liegt offenkundig ein Versäumnis vor.Zwar war 1990 die Zahl der über 65jährigen Ausländerinnen und Ausländer mit gut 150 000 noch gering, aber die Prognosen sehen einen starken Anstieg.Wenn man sich überlegt, daß Altwerden in unserer Gesellschaft für jemanden, der aus einem anderen kulturellen Umfeld kommt, mit gänzlich anderen Problemen behaftet ist, als das für unsere deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger der Fall ist, dann frage ich mich — auch bei der finanziellen Belastung, die auf diese älter werdenden Ausländer zukommt —, warum dieses Thema im Altenbericht im Grunde nicht angesprochen wird.Die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" wird sich sehr intensiv mit diesem Thema befassen. Allerdings werden wir nicht pauschale Aussagen machen, sondern wir werden dieses Thema in dem endgültigen Bericht, der in der 13. Wahlperiode zu erarbeiten sein wird, dann auch vorlegen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß — und das ist einfach so — kann ich es mir nicht verkneifen, noch eine Bemerkung zum jüngsten steuerpolitischen Vorstoß von Frau Ministerin Rönsch zu machen, in memoriam Kaiser Tiberius, der bereits im Goldenen Zeitalter als Nachfolger von Augustus eine Strafsteuer für Kinderlosigkeit erließ, frei nach einer Devise, die er sich selbst gesetzt hat — „Geld stinkt nicht".Glauben Sie im Ernst, Frau Rönsch, daß Sie mit einer Strafsteuer für Kinderlose irgendeinen Anreiz geben, die Geburtenrate zu erhöhen? Ist das überhaupt Ihre Absicht, oder ist das vielleicht ein wahlkampfpolitischer Fehlgriff?Es kann doch nicht angehen, daß Sie einer 20jährigen ledigen Frisörin oder Krankenschwester noch tiefer in die Tasche greifen wollen, während Spitzenverdiener — egal, ob mit oder ohne Kinder — gegenüber den Beziehern niedriger Einkommen auf jedenFall bessergestellt sind. Wollen Sie wirklich den Menschen, die keine Kinder bekommen können, weil es die Natur ihnen verwehrt oder weil sie vielleicht eine andere, Ihnen fremde sexuelle Veranlagung haben und deshalb nicht in einer gemischtgeschlechtlichen Partnerschaft leben, eine weitere Diskriminierung aufbürden?Wir schlagen Ihnen vor, unseren Vorschlägen zur Reform des Familienlastenausgleichs zu folgen, ein einheitliches Kindergeld zu schaffen, das ungerechte Ehegattensplitting abzuschaffen, darüber hinaus an der Verbesserung der Bedingungen für die Familien in dieser Gesellschaft mitzuwirken und nicht die Bedingungen der Kinderlosen einseitig zu verschlechtern, die Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie, Berufstätigkeit und Erziehung für Frauen und Männer zu schaffen, Wohnungen und Wohnumfeld familienfreundlich zu gestalten, die Umwelt, die wir im Grunde für unsere Kinder verwalten, zu schützen.Wenn wir das alles erledigen, dann werden wir ein Zusammenleben aller Generationen und eine Sicherheit auch für das Älterwerden in Deutschland erreichen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Entschuldigung, Herr Abgeordneter Engelhard, es ist zunächst einmal vorgesehen, daß die Abgeordnete Erika Reinhardt sprechen soll, ist mir gerade mitgeteilt worden, und das sei Ihnen auch gesagt worden.
Bitte schön.
— Herr Kollege Hörster, wenn wir das dann klären könnten, weil ich dann doch in eine gewisse Verlegenheit komme, wenn ich mitgeteilt bekomme, das wäre in Übereinstimmung mit dem Abgeordneten Engelhard so vorgesehen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor uns liegende erste deutsche Altenbericht ist kein Buch mit sieben Siegeln, sondern ein gut fundierter Bericht mit Analysen und Aussagen zur Situation unserer älteren Mitbürger in Gesamtdeutschland, wobei sehr genau zwischen den jungen und alten Bundesländern differenziert wird.
— Nein, nein, er ist auch so gut. Er ist eine gute Grundlage für unsere Seniorenpolitik, und ich möchte allen danken, die daran gearbeitet haben, besonders der Sachverständigenkommission.
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Erika ReinhardtDer Bericht ist zugleich aber auch ein Erfolg des Ministeriums für Familie und Senioren. Die Seniorenpolitik hat durch dieses Ministerium ein eigenes Profil erhalten, und es wird ebenfalls deutlich, daß diese Bundesregierung ein Schwergewicht auf ihre Seniorenpolitik gelegt hat.Die meisten älteren Menschen, meine Damen und Herren, sind selbständig, selbstbewußt und aktiv. Sie wollen am öffentlichen Leben teilnehmen und engagieren sich oftmals mit viel Erfolg in nachberuflichen Tätigkeiten, in denen sie anderen mit ihren gewonnenen Erfahrungen helfen können, was uns aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß es auch viele pflegebedürftige Menschen gibt, die unserer Hilfe bedürfen.Wenn ich daran denke, daß die dringend notwendige Pflegeversicherung bereits im Oktober von dieser Regierung gegen die Stimmen der SPD im Bundestag verabschiedet wurde, im Bundesrat von den SPD-regierten Ländern abgelehnt und seither mit unsozialen Tricks verhindert wurde, dann steigt schon in mir diese kalte Wut auf, meine Damen und Herren.
Ich muß Sie wirklich fragen: Können Sie eigentlich dieses Verhalten gegenüber unseren pflegebedürftigen Menschen noch verantworten?
— Nein, nein, meine Dame. Wir wissen heute ganz genau, daß die SPD, nicht die F.D.P. blockiert. Unser Entwurf ist durch, er wurde verabschiedet. Das ist aber ein eigenes Thema. Ich diskutiere dies gerne einmal mit Ihnen; das zahlt sich fast aus.Die demographische Entwicklung, meine Damen und Herren, hat sich verändert. Zur Zeit sind in Deutschland rund 16 Millionen Menschen, das sind 20 % der Bevölkerung, älter als 60 Jahre. Bis zum Jahre 2030 werden es 35 % sein. Dieser Trend ergibt sich nicht nur für Deutschland, sondern für alle Industrieländer.Der vor uns liegende Bericht umfaßt alle Bereiche des Lebens, die für die älterwerdende Generation von Bedeutung sind. Wir werden uns in den Ausschüssen im einzelnen sehr intensiv damit befassen.Es gelingt mir natürlich nicht, hier alle Bereiche anzusprechen; denn dies würde den Zeitrahmen, der mir zur Verfügung steht, sprengen. Deshalb möchte ich nur einige Schwerpunkte herausgreifen.So wird im Bericht z. B. dargestellt, daß das Alter ein Lebensabschnitt ist, der heute gute Chancen für eine hohe Lebensqualität und wirksame Beiträge zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bietet. So sehen Frauen und Männer der mittleren Altersgruppe ihrem eigenen Alter heute überwiegend positiv entgegen. Als gut bewerten sie dabei vor allem die wirtschaftliche Stabilität, das bessere Wohnen, die hohe Mobilität sowie die Angebote der Altenhilfe, die den individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen. Daß dies heute so gesehen wird, ist ein Erfolg dieser Regierung; denn sie hat die ältere Generation nicht vergessen.Die Studie macht deutlich, daß künftige Generationen älter werdender Menschen gesünder, besser ausgebildet, selbstbestimmter und materiell auch gesicherter sind. Die wirtschaftliche Situation älterer Menschen ist überwiegend gut; auch dies wird im Bericht deutlich. Vermögen oder Grundbesitz sind vielfach vorhanden, auch das Nettoeinkommen liegt weitgehend im mittleren oder sogar höheren Bereich. Ca. 45 % der 60- bis 70jährigen verfügen über ein Nettoeinkommen zwischen 1 600 und 3 000 DM, in der Gruppe der Über-70jährigen sind es sogar über 50 %.Für das Einkommen der älteren Generation haben Leistungen der staatlichen Alterssicherungssysteme einen überaus großen Stellenwert. Die subjektive Einschätzung der finanziellen Situation durch die Senioren ist eher positiv. Das heißt: Alter bedeutet nicht gleich Armut, wie uns immer einzureden versucht wird. Dies stimmt so nicht.Der Bericht macht aber natürlich auch deutlich, daß es vor allem Frauen sind, die oft mit niedrigen Renten auskommen müssen. Hier werden wir uns, ausgehend von den Empfehlungen der Kommission, verstärkt engagieren. Die Anerkennung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung oder die Pflege sind wichtige Schritte dieser Regierung gewesen.
Klare Aussagen macht der Bericht zur Kompetenz. Jede Person verfügt über im Lebenslauf entwickelte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen. Je besser diese Fähigkeiten in jungen Jahren erworben werden, desto länger bleibt die Kompetenz im Alter erhalten. Kompetenz bedeutet also auch ein lebenslanges Lernen.In Zukunft wird die Gesundheit — Ernährung, Bewegung, Aus- und Weiterbildung — für die Kompetenzerhaltung im Alter eine stärkere Rolle spielen. Hier bedarf es gezielter Aufklärung und Informationen, die zu mehr Eigenverantwortung führen.Die Familienstrukturen haben sich zwar verändert — so gibt es nur sehr wenige Großfamilien —, grundsätzlich aber — dies wird auch im Bericht deutlich — ist die Familie intakt.Für die Zufriedenheit und das persönliche Wohlbefinden älterer Menschen sind vor allem das Wohnen und das Wohnumfeld von entscheidender Bedeutung. Die meisten älteren Menschen leben in Ein- und Zwei-Personen-Haushalten. Hierbei ist entscheidend, daß viele von ihnen dies wünschenswert finden, weil es ihre Selbständigkeit erhält. Angemessener Wohnraum ist für ältere Menschen Grundlage der Lebenszufriedenheit; denn sie verbringen ja häufig vier Fünftel des Tages und mehr in ihrer Wohnung.Bei der Qualität der Wohnungen zeigen sich wesentliche Unterschiede zwischen den alten und den jungen Bundesländern. Während der Zustand der Wohnungen in den alten Bundesländern durchweg als gut bezeichnet wird, weisen die Wohnungen in den jungen Bundesländern erhebliche Mängel auf. Ich glaube, auch dies ist ein Resultat des Sozialismus. 22,4 % aller Wohnungen verfügen dort über kein Innen-WC, ca. 30 % haben noch keine Zentralhei-
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Erika Reinhardtzung. Es wird unsere Aufgabe sein, dazu beizutragen, daß dieses Ungleichgewicht beseitigt wird.Die Bundesregierung hat gerade auch in den jungen Ländern im Wohnungsbau viel getan. Die Mittel dafür sind ständig erhöht worden, und durch die Wohngeldanpassung haben wir die Verhältnisse wesentlich verbessert.Neue Wohnformen müssen aber weiterhin entwikkelt werden, um den Bedürfnissen der älteren Menschen Rechnung zu tragen. Mit Mehr-GenerationenHäusern, betreutem Wohnen und genossenschaftlichen Wohnprojekten werden schon heute sehr gute Erfahrungen gemacht. Eine Intensivierung solcher Modelle ist sicherlich wünschenswert.Das Konzept des barrierefreien Wohnens muß wegweisend für die Zukunft sein. Wer barrierefrei baut, baut nicht nur altengerecht, sondern auch kind-gerecht. Dies muß uns allgemein bewußt werden.Aber auch das Wohnumfeld ist natürlich sehr entscheidend. Soziale Versorgung und die gute Anbindung an Geschäfte müssen vorhanden sein, um älteren Menschen die Mobilität so weit und so lange wie möglich zu erhalten. Hierzu gehört auch der Ausbau der sozialen Dienste, der in einigen Bundesländern hervorragend ist. Für Baden-Württemberg kann ich ganz stolz sagen, daß wir hier wirklich an der Spitze stehen. Aber andere Länder haben Nachholbedarf.Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts ist die Gesundheit. Hier weist die Studie auf die wesentlichen physischen und psychischen Störungen hin und befaßt sich ausgiebig mit den Möglichkeiten, solchen Krankheiten vorzubeugen. Weit verbreitet sind Erkrankungen von Herz und Kreislauf. An zweiter Stelle liegen rheumatische Beschwerden und an dritter Stelle Schädigungen des Bewegungsapparates.Die Krankheit mit der höchsten Zuwachsrate — so der Bericht — ist die Demenz. Da eine Heilung bisher noch nicht möglich ist, kommt es gerade in diesem Bereich auf die Rehabilitation, aber auch auf die Prävention besonders an.Rehabilitation und Prävention müssen generell in der Zukunft eine größere Rolle spielen. Im Bereich der Rehabilitation und der Geriatrie bleibt in der Bundesrepublik noch viel zu tun. Ein mehrdimensionales Rehabilitationskonzept, das sowohl Ärzte als auch Angehörige und Kliniken einbezieht, besteht bisher nur in Ansätzen. Es ist unsere Aufgabe, solche Konzepte zu durchdenken und weiterzuentwickeln. Hier liegt die größte Chance für die Zukunft der gesundheitlichen Versorgung unserer älteren Menschen.Wenn sich die geriatrische und psychogeriatrische Versorgung auch verbessert hat, so bestehen nach wie vor Lücken. 14 geriatrische und 14 psychogeriatrische Tageskliniken in der gesamten Bundesrepublik sind nicht ausreichend. Auch hier steht Baden-Württemberg mit an der Spitze.Mehr Eigenverantwortung ist auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln angezeigt. Die Gruppe der Über-65jährigen ist mit einem Verbrauch im Wert von ca. 12 Milliarden DM im Jahr extrem hoch vertreten. Es wird darauf ankommen — und da stimme ich unserem Bundesgesundheitsminister Seehoferzu —, den bewußten Umgang mit Medikamenten zu fördern.Ein wesentliches Kapitel im Bericht ist der Situation der Pflege gewidmet. Auch hier wird wieder deutlich, daß die schnelle Einführung der Pflegeversicherung unabdingbar ist. Wir müssen uns vor Augen halten, daß 90 % der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, was die Pflegepersonen physisch und psyschisch extrem stark belastet. Sie brauchen Hilfe und Entlastung durch vielfältige Angebote, wie sie unser Pflegegesetz vorsieht, bessere Absicherung der Pflegepersonen und die Anerkennung von Pflegezeiten in der Rente. Tages- und Kurzzeitpflegeplätze ermöglichen, Urlaub zu machen.Rückläufig ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger. Dies ist richtig so. Sie ist von 20 % auf 8 % zurückgegangen. Allerdings betrifft es diejenigen, die nicht in Einrichtungen sind. Damit wird aber auch deutlich, daß sich die finanzielle Situation von älteren Menschen verbessert hat und in Zukunft noch verbessern wird, wie dies auch im Bericht zum Ausdruck kommt.Meine Damen und Herren, der Altenbericht zeigt uns, daß wir den Prozeß des Alterns neu definieren müssen. Wir müssen Alter als einen neuen Lebensabschnitt, als dritte Lebensphase begreifen, denn niemand ist mit 63 oder 65 Jahren alt, wenn 100 Jahre keine Seltenheit sind.
Da das Alter immer auch Resultat des gesamten Lebenslaufs ist, sollte Seniorenpolitik nicht nur Politik für ältere Menschen sein, sondern Bestandteil umfassender Gesellschaftspolitik. Unsere ältere Bevölkerung ist kompetent, aktiv, selbständig, interessiert und mobil. Der medizinische Fortschritt und der Wandel in den Lebensbedingungen gaben dem Leben Jahre.
Frau Abgeordnete, darf ich Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen? Sie haben schon deutlich überzogen.
Herr Präsident, es ist mein letzter Satz. Ich wiederhole ihn, denn sonst ist er aus dem Zusammenhang gerissen.
Der medizinische Fortschritt und der Wandel in den Lebensbedingungen gaben dem Leben Jahre. Aufgabe der Politik und der Gesellschaft ist es, den Jahren Leben zu geben.
Ich danke Ihnen.
Nunmehr hat der Abgeordnete Hans Engelhard das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war auch von der Sache her geboten, den ersten Altenbericht der Bundesregierung und die große Anfrage zur Situation ausländischer Rentner und Senioren hier in der Bundesrepublik Deutschland in verbundener Debatte zu behandeln. Menschen, die als Gastarbeiter vor Jahrzehnten begonnen haben, unsere Wirtschaft mit aufzubauen, sind, von vielen fast unbemerkt, nun auch in die Jahre
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Hans A. Engelhardgekommen und in den wohlverdienten Ruhestand getreten. Dieser ersten Generation ausländischer Arbeiter im demokratischen Deutschland danken wir an dieser Stelle herzlich.
Viele wollen hier ihren Lebensabend verbringen. Wer über die Altenpolitik nachdenkt und sich mit den Fragen beschäftigt, muß sich auch mit den oft speziellen Problemen dieser Menschen beschäftigen. Gerne hätte Cornelia Schmalz-Jacobsen, unsere Ausländerbeauftragte, hier das Wort genommen, aber leider reicht die Zeit dieser Debatte nicht aus.Meine Damen und Herren, der Altenbericht der Bundesregierung vermittelt uns fachlich hochqualifiziert ein Schaubild vom Leben älterer Menschen. Aber es tauchte im Gespräch schon die Frage auf, was eigentlich die Enquete-Kommission ,,Demographischer Wandel" jetzt noch leisten soll. Ich will versuchen, aus meiner Sicht darauf eine Antwort zu geben. Das Ziel der Kommission muß es sein, von der Zustandsbeschreibung zur Aufgabenstellung zu kommen, ja noch einen Schritt weiterzugehen, nicht nur die Aufgabenstellung sondern quasi eine Handlungsanweisung vorzunehmen, und zwar auch einmal einen politischen Hintergrund vorzutragen, nicht nur eine Welt, wie sie sein sollte, nein, sondern auch eine Welt, wie sie besser ist, aber wie sie auch durchsetzbar und finanzierbar ist. Dann müssen wir auch zu den finanziellen Fragen kommen, die im Altenbericht über weite Strecken aus sehr verständlichen Gründen von den Experten nicht so angepackt wurden. Auch hier häuft sich ein Berg von Aufgaben, dessen Bewältigung teuer ist. Aber wie das bezahlt werden soll, darauf geht man nicht ein.Wir werden uns im übrigen, meine Damen und Herren, alle darum bemühen müssen, dem Irrtum zu begegnen, daß wir jetzt mit unseren Bemühungen dabei seien, eine neue Welt für ältere Menschen zu zimmern, und das alles auf Kosten des Freiraums jüngerer Menschen. Nein, solches wäre nicht nur ein Irrtum. Es ist schlimmer. Solche Auffassungen, wenn sie verbreitet würden, wären ein schwerer Denkfehler, weil nämlich vergessen wird, was über Jahrzehnte in einer noch jüngeren Gesellschaft den Menschen alles vorenthalten wurde.Hier komme ich etwa auf die Frage des Wohnens oder des Wohnumfeldes. Wir legen Wert darauf, daß in denselben Häusern, mindestens aber im selben Block und Quartier Wohnungen verschiedener Größe vorhanden sind. Es ist nicht nur der Wunsch alter Menschen, dort zu bleiben, wo man es gewohnt ist, wo man eingelebt, wo man vielleicht schon geboren ist. Nein, auch Jüngere wollen das. Auch Familien mit Kindern wollen nicht, daß man seine Spielgefährten verliert, weil man umziehen muß, weil ein zweites Kind geboren wurde, weil die Wohnung zu klein ist und man sich weiter wegbewegen muß.Wir wollen das barrierefreie Wohnen, so wie es hier bereits genannt wurde. Wir wollen hindernisfreie Gehwege. Wir wollen verkehrsberuhigte Straßen und benutzerfreundlichen öffentlichen Nahverkehr — um in der kurzen Zeit nur einige Punkte zu nennen. Dasalles ist ja gezielt — es ist erfreulich, daß wir diesen Anstoß erfahren haben — für ältere Menschen. Aber gefragt ist es natürlich genauso für die Mutter mit dem Kind, mit dem Kinderwagen, den sie zu bewegen hat. Es ist im übrigen für alle anderen nützlich und gut.Stellen wir einmal die Frage: Warum sind in den Städten die Höfe gepflastert mit Garagen, mit PkwStellplätzen, aber so häufig ohne Plätzchen für die Kinder, ohne Ruhebank für ältere Leute? Ich meine, das muß endlich angepackt werden.Da stellt sich mir und uns allen die Frage: Wird die Gesellschaft der Alten in der nächsten Zeit das durchsetzen und schaffen, was den Müttern und den Kindern in einer Zeit, wo die Gesellschaft noch jünger war, aus nicht ganz verständlichen Gründen nicht gelungen ist? Ich glaube, die Chance, jetzt endlich etwas durchzusetzen, war noch nie so gut.
Meine Damen und Herren, bevor solche Überlegungen, stärkend für das Selbstbewußtsein älterer Mitbürger, ihnen überhaupt bekanntgeworden sind, wurde ihnen in diesen Tagen mitgeteilt, es gäbe ganz Wichtiges. Ihre gesicherte materielle Existenz sei in Gefahr; denn ein Absinken der Renten käme bald. Schuld sei ein Rentensystem, das es zu korrigieren gelte.Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten machen solche Dummheiten nicht mit. An der Spitze aller unserer Bemühungen steht die langfristige Sicherung unseres Rentenversicherungssystems.
Deshalb sind wir seit Ende der siebziger Jahre für die Nettolohnbezogenheit eingetreten, die dann schließlich im Rentenreformgesetz 1992 im Konsens aller drei Fraktionen Wirklichkeit geworden ist.Das baut auf dem Generationenvertrag auf und hat zur Folge, daß die Rentnergeneration von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung nicht abgekoppelt werden darf: nicht im Guten, aber, wenn es denn nicht anders geht und die Situation so ist, auch nicht im Schlechten. Denn wer anderes will, der muß dann natürlich bereit sein, die Beiträge zur Rentenversicherung zu erhöhen und damit gleichzeitig bei den aktiv im Erwerbsleben Stehenden die Nettolöhne weiter abzusenken. Wer will dies?Das ist unüberlegtes Gerede, das ich als verantwortungslos bezeichnet habe, weil es alte Menschen in Unsicherheit stößt, weil es zu Bedenken führt, die nicht zu sein brauchen in einer Zeit, in der wir ein funktionierendes Rentenversicherungssystem haben und in der die Menschen das, was ihnen zusteht, auch erhalten bzw. in Zukunft erhalten werden.Meine Damen und Herren, ich will einen weiteren und letzten Punkt ansprechen: Altere Menschen brauchen verstärkt personelle Hilfe. Ich spreche jetzt nicht von den Pflegebedürftigen. Nein, nichts wird sich jetzt auf Dauer mehr in den Weg stellen können: Wir brauchen die Pflegeversicherung. Man muß sie durchsetzen.
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Hans A. EngelhardDie Finanzierung muß sichergestellt werden.Aber davon spreche ich nicht. Ich spreche jetzt auch nicht von der richtig festgestellten notwendigen ideellen und materiellen Aufwertung der Pflegeberufe. Nein, ich spreche von etwas ganz anderem, mit dem man sich aus unverständlichen Gründen kaum beschäftigt: nämlich von dem Widerspruch, daß von seiten älterer Menschen, aber auch von Jüngeren, von Müttern mit Kindern und vielen anderen, eine sehr starke Nachfrage besteht, Hilfe im privaten Haushalt zu erhalten. Aber da sind kaum Angebote vorhanden, und das in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit, wo im übrigen absehbar ist, daß die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie auch bei einer Belebung der Konjunktur nicht mehr so wachsen wird, daß sie im Vergleich zu früher ziemlich weit unten angesiedelt bleibt.Dann können wir feststellen, daß wir hier keinen funktionierenden Markt haben. Um den müssen wir uns längerfristig bemühen. Denn allenfalls findet man jemanden im Wege der Schwarzarbeit, und das sind nämlich genau diejenigen — da wird natürlich keine Steuer bezahlt, da wird keine Versicherung bezahlt —, die uns dann eines Tages als Kleinrentner wieder beschäftigen werden, weil sie nichts dazu getan haben — obwohl fleißig an der Arbeit —, überhaupt die notwendigen Grundlagen für ihre Alterssicherung zu schaffen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns um diese Fragen kümmern. Ich wundere mich, daß hier so wenig geschieht. Es geht um die Reinigung der Wohnung. Es geht um die Hilfe beim Einkaufen — gerade da, wo ein Pkw erforderlich ist, um über eine längere Strecke größere Warenmengen in den Haushalt zu bringen. Es geht um die Gartenarbeit, da ältere Leute ja nicht deswegen ihre Wohnung sollen wechseln müssen, weil sie alt und nicht mehr kräftig genug sind, noch selbst mit dieser Arbeit fertig zu werden.Meine Damen und Herren, wenn wir uns damit beschäftigen, dann muß uns klar sein, daß es hier nicht um die Nachfrage nach Ganzzeitarbeitskräften geht. Nein, ein breites Angebot an Teilzeitarbeit stünde hier bereit. Es werden sich mehrere zusammentun, um eine Person zu beschäftigen. Das ist dann auch finanzierbar.Es stellt sich die Frage: Wie sollen eigentlich ältere Mitbürger dies finanzieren? Ich weiß, ich spreche jetzt nur von den alten Bundesländern. Selten ist soviel vererbt worden wie heute. Wer immer nur von der Altersarmut spricht, der verschweigt eben auch das andere, daß eine breite Schicht der Bevölkerung es in harter Arbeit nach dem Kriege verstanden hat, sich etwas aufzubauen.
Meine Damen und Herren, ich meine, viele alte Menschen, die wortwörtlich nicht der Parole anhängen — ich zitiere —: „Alles verbraucht vor meinem End, das macht ein richtig Testament", sind bereit, auch von ihrem Ersparten aus der Substanz zu ihrem persönlichen Wohlergehen Aufwendungen zu machen —
Herr Abgeordneter, es gehört zu meinen Pflichten, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie Ihre Redezeit deutlich überschritten haben.
— Ich danke, Herr Präsident, und schließe den Satz — etwas auszugeben, um auch in diesem Bereich zu ihrem persönlichen Wohlergehen etwas zu unternehmen.
Danke schön.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Ersten Altenbericht hat die Bundesregierung anläßlich des Europäischen Jahres des älteren Mitbürgers eine wirklich lobenswerte, wenn auch späte Initiative ergriffen, die Lage älterer Menschen in der Bundesrepublik zu beschreiben. Dieser Analyse liegen umfangreiche Studien namhafter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zugrunde, mehr oder weniger kritischer Art.Liest man dann die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission, dann wünscht man sich, in diesem Land zu leben, in dem alles, wirklich alles für alte Menschen getan wird, keine armen, obdachlosen und arbeitslosen Bürgerinnen und Bürger leben und es sich insbesondere Frauen leisten können, ehrenamtlich und aufopferungsvoll für die Alten zu sorgen, ohne Angst um die eigene Zukunft.Das Erwünschte wird zur Realität geredet. Ich muß sagen, das kennen wir auch von früher, Frau Rönsch. Da heißt es z. B., daß Frauen und Männer ihrem eigenen Alter überwiegend positiv entgegensehen und dabei wirtschaftliche Stabilität, geborgenes, komfortables Wohnen, Mobilität und bezahlbare Angebote der Altenhilfe bewerten.Nach den aktuellen Zahlen zur Arbeitsmarktlage gilt dies doch wohl nicht für alle Menschen, wenn auch für einen Teil. Es gibt allein im Arbeitsamtsbezirk Leipzig 60 592 registrierte Arbeitslose. 66,4 % davon sind Frauen, 6,7 % Alleinerziehende, 2,4 % Schwerbehinderte. In anderen Regionen sieht es noch schlimmer aus.Von den 15 544 Umschülern und Umschülerinnen in Leipzig sitzen insbesondere Frauen zum wiederholten Male auf der Schulbank, jedoch oft ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Das gilt insbesondere dann, wenn eine Frau noch kleine Kinder zu versorgen hat, älter als vierzig ist und sich damit tatsächlich schon dem Alter für eine Rente nähert oder anderes „normwidriges Verhalten" aufweist, z. B. hohe Qualifikation — das war ja die Regel für Frauen in der DDR — oder eine spezifische DDR-Vergangenheit.Wie die 37 730 Altersübergangsgeldempfänger im Arbeitsamtsbezirk Leipzig erleben überall diese hochgeschätzten älteren, erfahrenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die sich die Bundesregierung einsetzen will, daß sie für die Gesellschaft
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Dr. Barbara Höllplötzlich wertlos wurden, nicht mehr gebraucht werden und nicht mehr selbst zur Erarbeitung künftiger Rentenansprüche beitragen können. Ihre Einstiegsrente wird demzufolge auf einem niedrigeren Niveau liegen als bei voller Erwerbsbiographie.Aber dieser Personenkreis wird ebenso wie die Altersrentner und Altersrentnerinnen angeben, einigermaßen zufrieden zu sein, brauchen sie doch wenigstens nicht mehr den Kampf um den Arbeitsplatz und die rapide Verschlechterung des Betriebsklimas mitzuerleben oder sich zum wiederholten Male vor Personalkommissionen dafür zu entschuldigen, daß sie in der DDR aktiv mitgearbeitet haben.Oder nehmen wir das Problem Wohnen. Unter den über eine Million Obdachlosen in Deutschland sind auch viele alte Menschen. Mancher davon wird unter dem Hochwasser der letzten Wochen im Dezember sicher mehr gelitten haben als der Wagen des Bundeskanzlers in seiner Tiefgarage. Aber über ihre Lage wird nicht gesprochen. Im Osten sind alte Menschen stark besorgt, ob sie die nächste Mieterhöhung noch verkraften können. So haben 76 % Angst vor weiteren Preiserhöhungen, 71 % vor Mieterhöhungen und 65 % vor einer Entwertung ihrer Ersparnisse. 57 % aller Wohngeldbezieher und -bezieherinnen in Leipzig sind Senioren; 43 % der Senioren haben Wohngeld beantragt, aber 32 % wollen sich diese Schande, als die sie es empfinden, nicht antun. Da stehen Alteigentümer vor der Tür, oder es werden Wohnungen so saniert, daß alte Menschen darin keinen Platz mehr haben.Die Treuhand tut ihr übriges. Zu nennen wäre hier als eklatantes Beispiel die Schloßverkäufe im Land Brandenburg. Hier wurden mehrere Schlösser, u. a. mit Fördermitteln aus Nordrhein-Westfalen, saniert, da in den Schlössern Pflegeeinrichtungen der Diakonie waren. Die Treuhand verkaufte dann die Schlösser für eine Mark an einen millionenschweren Bauunternehmer aus dem alten Bundesgebiet bzw. an dessen Enkeltöchter. In zwei Fällen mußten die Heimbewohner und -bewohnerinnen, beim einen Mal alte und beim anderen Mal geistig behinderte Menschen, ausziehen. Das ist möglich in dem im Bericht beschriebenen altenfreundlichen Land.Um beim Thema Altenheim zu bleiben: In der Tat gab es in der DDR — das leugnen wir nicht, Frau Rönsch — eine Reihe von Heimen, die nicht den bundesdeutschen Standards entsprechen. Aber in welcher Weise sie dem nicht entsprechen, darüber wird nichts ausgesagt. Zwei Beispiele, die ebenfalls darunter fallen: In Leipzig gibt es ein sehr großes Altenheim; es hat 738 Bewohner. Das Land zahlt keine Fördermittel für die Sanierung, weil die Stadt ihren Anteil an den Fördermitteln nicht erbringen kann. Die Stadt kann es aber nicht, denn das Heim ist bei seiner Größe prinzipiell nicht förderungswürdig, es sei denn, es würde die Kapazität auf 300 Betten abbauen, weil laut bundesdeutscher Heimverordnung nur bis zu 300 Betten gefördert werden. Den Schaden haben die Heimbewohner, weil sich für sie nichts ändern wird.Altenheime waren in der DDR häufig die einzige, zugegeben nicht unbedingt glückliche Alternative des Wohnens im Alter, wenn die eigene Wohnung nicht mehr bewältigt werden konnte, zu groß oderbaufällig war. Auch diese als Wohnstätten fungierenden Heime fallen aber heute unter die Heimgesetzgebung der Bundesrepublik, und so müssen sich mobile alte Menschen, die gern länger als vier Wochen ihre Kinder besuchen wollen oder sonstige Reisen unternehmen, dafür eine Genehmigung holen und prüfen lassen, ob sie überhaupt heimbedürftig bzw. reisefähig sind. In einer Aussprache mit den Heimbeiräten — Sie sehen, Frau Rönsch, auch wir machen uns hier kundig, auch wenn Sie jetzt nicht zuhören — erklärten die Senioren, daß sie dies als Freiheitsberaubung empfinden. Das kannten sie früher nicht.Nehmen wir einen anderen Aspekt. In unserer Gesellschaft besteht ein hoher und zukünftig steigender Bedarf an sozialen Dienstleistungen. So heißt es in der Stellungnahme der Bundesregierung. Das wird verbunden mit dem Begriff „Ehrenamtlichkeit". Tatsächlich werden infolge sich verändernder familiärer Strukturen und Lebensstile, die man als Emanzipation der Generationen bezeichnen kann, zunehmend Dienstleistungen im Bereich der Altenhilfe nötig. Aber warum die Betonung von Ehrenamtlichkeit? Kein Politiker, kein Jurist, Manager oder Arzt, der bis ins hohe Alter bei einem meist sehr hohen Entgelt tätig sein kann, würde unentgeltlich seine Dienstleistungen erbringen oder sich mit einer geringen Aufwandsentschädigung abspeisen lassen. In der Altenhilfe wird das erwartet. In Sachsen gibt es die „Aktion 55", und danach können Vorruheständler für 200 DM monatlich steuerfrei fünf bis 18 Stunden wöchentlich u. a. Altenhilfe leisten. Wer im Rentenalter ist, bekommt gar nichts. Kein reaktivierter Leihbeamter würde sich dies wohl gefallen lassen. Aktive Senioren und Seniorinnen müssen das. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Sozialstationen bekommen etwa ein Drittel der in ihrer Arbeit notwendigen Leistungen nicht bezahlt, es sei denn, sie finden Formulierungen, die die notwendigen Leistungen für Kostenträger bezahlungswürdig erscheinen lassen.Dazu gehört auch die psychosoziale Begleitung, die Sterbebegleitung, die Hilfe für hinterbliebene Angehörige, also Leistungen, die auch im Altenbericht als notwendige Bestandteile der Altenhilfe angesehen werden.Zwei Ursachen liegen dem offensichtlich zugrunde. Zum einen ist Altenhilfe und -pflege in erster Linie Frauenarbeit, und dies wird in einer männerdominierten Gesellschaft als ehrenamtliche Arbeit erwartet. Zum zweiten erfolgt in der bundesdeutschen Sozialgesetzgebung eine Aufteilung des Menschen in fiktive Ebenen, die eine tatsächliche ganzheitliche und kontinuierliche Betreuung erschweren.Dem ohnehin in seiner Mobilität eingeschränkten kranken alten Menschen und seiner Familie fällt es deshalb oft sehr schwer, die notwendigen Wege zu gehen, um bedarfsgerecht versorgt zu werden.Auf einige der angeführten Probleme konnte der Altenbericht noch nicht eingehen, da die Expertisen zum Teil in einer Zeit angefertigt wurden, als es noch eine einigermaßen wirtschaftliche Stabilität gab, die Einheit Deutschlands noch nicht bestand und die Krise in Europa noch nicht so sichtbar war.
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18304 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Dr. Barbara HöllDie Stellungnahme der Bundesregierung hätte aber auf diese Probleme Bezug nehmen müssen und können, soll der Altenbericht tatsächlich Anleitung zum Handeln und nicht einfach schmückendes Beiwerk zum Jahr des älteren Mitbürgers sein.Zum Abschluß möchte ich sagen, daß es Verantwortung besonders hier im Hause und der führenden Politikerinnen und Politiker wäre, insbesondere ältere Menschen nicht weiter durch die Diskussionen über die Renten, notwendige Einsparungen der Krankenkassen, die Pflegeversicherung und anderes zu verunsichern. Ich hoffe, daß der Altenbericht als erster Bericht ein Einstieg sein kann, wenn man auch das beherzigt, was hier in der Diskussion von verschiedenen Seiten gesagt wurde. Ich hoffe, daß er von der Erstellung eines Armutsberichtes begleitet wird, auf den wir dann nicht wieder so lange warten müssen.Ich danke Ihnen.
Das Wort wird nunmehr Dr. Wolfgang Ullmann erteilt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß mich doch erst der Frau Ministerin zuwenden, um ihr für ihren ersten Satz zu danken, der mir von ihrer ganzen Rede am besten gefallen hat.
Ich will ihn, Frau Ministerin, auch sofort anwenden. Sie haben nämlich gesagt, man solle sich der Realität der älteren Menschen zuwenden. Richtig so.
Nun wird es aber ganz schwierig für mich. Vor allen Dingen finde ich es ausgesprochen schade, daß ich Sie jetzt nicht mehr anreden kann, denn ich wollte mich hier, meine Damen und Herren, an die Über-60jährigen wenden. Das scheitert, glaube ich, vollständig, wenn ich mich so umsehe. Nicht einmal der Kollege Engelhard würde darunter fallen.
Herr Abgeordneter, ein Blick nach hinten kann das ein wenig ändern.
Dann erlauben sich die wenigen alten Knaben hier, sich in folgender Weise anreden zu lassen. — Ich denke, ich werde es lieber so machen, daß ich der hier noch versammelten Jugend erzähle — da ist natürlich die Frau Ministerin sofort wieder einbegriffen —, wie es mir zumute ist, wenn ich mit anhöre, wie in unserer Gesellschaft über meinesgleichen geredet wird.Da gibt es fortwährende Wechselbäder, was die Renten anbelangt: wie sicher sie sind und ob sie heruntergesetzt werden müssen. Dann wird in alarmierender Pracht das Schreckbild der Alterspyramide an alle möglichen und auch unmöglichen Wände projiziert. Da müssen wir hinnehmen, daß es eigentlich unseretwegen geschieht, daß während der Diskussion um die Pflegeversicherung die Kulturerrungenschaften unserer Feiertage zur Disposition gestellt werden.Meine Damen und Herren, Sie sehen es mir wahrscheinlich doch nach, wenn ich behaupte, daß wir nicht ganz so dumm sind, um nicht zu bemerken, was als Fazit dieser ganzen Debatte unter dem Strich herauskommt: Es gibt zu viele von uns. Wir leben viel zu lange, manche bis zum Alter von 100 Jahren, wie gerade gesagt wurde.Die, die über uns reden, wissen nun allmählich nicht mehr, wie lange sie das noch bezahlen wollen oder bezahlen können, je nach dem. Auch dem Altersbericht der Bundesregierung ist dieses Stimmungsbild wohl vertraut. Auf Seite 81 wird es uns sogar in einer meine Schilderung noch überbietenden Drastik vorgeführt: Auf den schwächlichen Schultern eines mißmutig dreinschauenden Babys ist der bärtige Vater mit der attraktiven Liebsten zu sehen. In der Etage darüber wird es erst so richtig schlimm — das ist dann meine Etage —: Hämisch dreinschauende Korpulenzen müssen hochgestemmt werden, und von der sehr gebrechlichen vierten Generation ganz oben hat man schonenderweise nur noch die dürren Beinchen abgebildet. So sieht die Alterspyramide nach „Informationen zur politischen Bildung" , Nr. 220 aus dem Jahre 1988, Seite 8, aus. Natürlich wird uns dann vom Bericht alsbald bedeutet, das sei eher humoristisch gemeint. Der Kommentar zieht auch alle Register der Sympathiewerbung, um von diesem unvorteilhaften Image der älteren Generation abzulenken und ihm entgegenzutreten bzw. uns darüber zu belehren, wie ihm entgegenzutreten sei. Das ist ja heute reichlich geschehen — ich glaube aber, eben im Gegensatz zu dem ersten Satz der Frau Ministerin.Aber so ganz beim Kern des Problems sind wir wohl erst in den Empfehlungen der Sachverständigenkommission am Ende des Berichtes angelangt. Das gilt schon deswegen, weil wir weit davon entfernt sind, das energisch zu verfolgen, was hier empfohlen wird. Unter Ziffer 20.2 finden wir uns auf einmal wieder mitten unter den uns ständig bedrängenden Arbeitsmarktproblemen.Man braucht nur nachzulesen. Der Bericht verwandelt sich hier in eine Tagesordnung der Sozialpolitik, der kein verantwortlicher Politiker, keine verantwortliche Politikerin ausweichen kann: Maßnahmen zur Verbesserung und Erhaltung der Erwerbschancen, Verbesserung der Berufschancen und Karrieremöglichkeiten für Frauen.Angesicht des nach der Rentenreform von 1992 sichtbar gewordenen Anpassungs- und Änderungsbedarfes muß eine baldige Klärung über die Weiterentwicklung dieses Systems herbeigeführt werden. Das stammt alles nicht etwa vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sondern das ist Originalton des Sachverständigenberichtes.Mit gutem Grund mahnt der Bericht die vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992 geforderte stärkere Berücksichtigung von Familienleistungen in der Sozialversicherung an. Kann man die Verklammerung von Arbeits- und Rentenproblem klarer ausdrücken, als es hier geschieht? Aber haben wir bereits annähernd erfaßt, meine Damen und Herren, wie weit die Zukunft der Arbeit nicht nur die zukünftige Lebensqualität der Rentner, sondern unser aller zukünftige Lebensqualität bestimmen wird?
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Dr. Wolfgang UllmannMan wird das kaum bejahen können, wenn man sieht, wie der Altersbericht den auch durch einen Bundestagsbeschluß vom 21. Juli 1991 bestätigten Konsens über die Verbesserung der Alterssicherung von Frauen ebenso unterstreicht wie das obengenannte Urteil. Aber in keinem der beiden Fälle sind von der Bundesregierung angemessene Initiativen ergriffen worden. Selbst im Rahmen der Vorschläge zur Pflegeversicherung gibt es noch keine rentenrechtliche Absicherung ehrenamtlicher Pflegepersonen — die Kollegin Höll hat ja darauf hingewiesen —, die übrigens — was schon Gesagtes zusätzlich unterstreicht — zu 85 % Frauen sind.Von seiten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN kann im Sinne einer Initiative zur Weiterentwicklung des Systems der Alterssicherung auf das von uns vorgeschlagene Modell einer bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter hingewiesen werden. Diese Grundsicherung will eine Ergänzung zur gesetzlichen Rentenversicherung, aber keine Alternative zu ihr sein, wie immer wieder fälschlich behauptet wird.Dieser Vorschlag unterscheidet sich darum auch von dem anderen Grundrentenmodell Miegel/Biedenkopf, das den langfristigen Ausstieg aus der heutigen Rentenversicherung zum Ziel hat. Mit dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Modell soll sichergestellt werden, daß durch ein möglichst unbürokratisches Verfahren die verdeckte Altersarmut zurückgedrängt werden kann. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Sachverständigenempfehlungen des Berichts eine Verbesserung der Datenlage zur Altersarmut verlangen — eine Unterstreichung unserer ständig und auch heute wiederholten Forderung nach dem immer wieder von der Bundesregierung ohne Gründe verweigerten Armutsbericht.
Meine Damen und Herren, die Redezeit ist abgelaufen. Ich will auch wirklich zum Schluß kommen. Aber ich muß noch eine Sache loswerden. Ich denke, so respektabel dieser Altenbericht ist— da kann ich mich nur dem Gesagten anschließen —, er hat eine große Lücke. Da fehlt eine ganze Dimension. Das fällt mir als einem Historiker natürlich sofort auf.Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß die Kommission überwiegend aus Medizinern bestanden hat. Ich bin der letzte, der nicht ihre Belehrungen annähme, auch schon im Interesse meiner Physis. Aber in dem Bericht wird ja dauernd auch von der Familie geredet. Das ist eben unhistorisch, Frau Rönsch. Dieses Familienmodell aus dem 19. Jahrhundert gibt es streckenweise noch. Aber was für die alten Menschen — das weiß ich gerade als 65jähriger ganz genau — viel wichtiger ist als das Festhalten an nicht mehr funktionierenden Familienstrukturen, ist das Gespräch, die Kommunikation der Generationen. Damit diese zustande kommt, braucht man mindestens drei Generationen und nicht bloß die zwei dieser altertümlichen Familie. Das wollte ich angemahnt haben. Das fehlt leider. Ich halte das für wichtig. Insofern kann ich dann wieder die Bundesministerin zitieren — das müßte sich unsere hedonistische und narzißtische Gesellschaft doch einmal ins Stammbuchschreiben —: Die Zukunft ist nicht die Jugend, sondern unsere Zukunft ist das Alter, und zwar unser aller.Vielen Dank.
Nunmehr hat die Abgeordnete Lisa Seuster das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genau 17 Minuten hat die Pressekonferenz gedauert, auf der Frau Ministerin Rönsch 1993 den ersten Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Menschen in Deutschland vorgestellt hat.
17 Minuten für einen Politikbereich, den sie selber als eine der großen Zukunftsaufgaben bezeichnet. Eigentlich haben die ersten vollmundigen Versprechungen, was die Aufwertung der Seniorenpolitik dieser Bundesregierung angeht, schon mit der Gründung des neuen Ministeriums für Familie und Senioren begonnen. Mit dieser Ressortbildung wollte die Bundesregierung ihren eigenen Äußerungen zufolge die politische Antwort auf die Herausforderung unserer Tage geben: die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft. Je länger dieses Ministerium besteht, um so mehr verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß es über diesen symbolischen Gründungsakt hinaus bislang keine verantwortungsvolle politische Weichenstellung gegeben hat und daß wir derartiges auch nicht zu erwarten haben.
Ich befürchte, daß selbst bei eingehender Betrachtung kaum Beweise für eine konstruktive Seniorenpolitik zu finden sein werden. Dort, wo sie als Ministerin mit ihrem Einsatz und ihrem Engagement dringend gefragt ist, etwa bei der Verabschiedung der Pflegeversicherung, der Neuregelung der Altenpflegeausbildung oder der Sanierung der Altenheime in den neuen Bundesländern, sucht man greifbare Ergebnisse vergebens.
Was die zahlreichen Presseveröffentlichungen zu diesen Punkten betrifft, kann man jedoch nicht von Untätigkeit sprechen.
Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Link möchte gern eine Frage stellen. Sind Sie bereit?
Selbstverständlich.
Frau Kollegin Seuster, habe ich es richtig verstanden, daß Sie unserer Seniorenministerin unterstellen wollen, sie
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18306 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Walter Link
hätte sich nicht für die Pflegeversicherung eingesetzt?
Ich kann jedenfalls von außen nicht erkennen, daß es da einen besonders harten Einsatz gegeben hat. Ich habe zwar immer wieder gehört, daß man das wolle, aber daß intensiv gekämpft worden ist und daß sie z. B. erreicht hat, daß der Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz anwendet, habe ich bisher nicht bemerkt.
Ich gehe noch einmal auf die Presseerklärungen ein. Hier wird Frau Rönsch nicht müde, hoch angesetzte Versprechungen über angeblich bevorstehende Maßnahmen zu machen. Ich habe ihre Veröffentlichungen in den vergangenen Tagen noch einmal durchgesehen. Was ihren Einsatz z. B. bei Wettbewerbsausschreibungen und Preisverleihungen angeht, ist sie sehr rege. Ich frage mich aber, wie sie die politische Handlungslosigkeit mit der Äußerung in Einklang bringen kann, die sie 1993 auf der Pressekonferenz zum Altenbericht gemacht hat:Wir sind in der Altenpolitik auf einem guten Weg, den wir in den nächsten Jahren beharrlich fortsetzen müssen. Angesichts der wachsenden Zahl älterer Menschen ist die Seniorenpolitik eine der großen Zukunftsaufgaben.Ähnliche Sprechblasen haben wir auch heute morgen vernehmen können.Mir scheint, der Weg vom guten Vorsatz zur guten Tat ist in diesem Ministerium ein unüberwindbarer.
Mein Kollege Arne Fuhrmann hat schon darauf hingewiesen, daß die Einrichtung der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" erfolgreich von der SPD-Fraktion beantragt wurde und eben nicht das Ministerium die Initiative dazu ergriffen hat. Übrigens auch die Tatsache, daß wir heute diesen Altenbericht diskutieren, haben wir nicht dem Ministerium Rönsch zu verdanken, sondern noch dem alten Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Ich bin auch sicher, es gäbe diesen Altenbericht in dem neuen Ministerium nicht. Die wichtigsten Impulse und Weichenstellungen für die zukünftige Entwicklung infolge des demographischen Wandels kommen eben nicht von dieser Ministerin.Die SPD-Bundestagsfraktion stellt sich dieser Aufgabe. Wir erarbeiten Antworten auf die Frage, wie dieser Prozeß bewältigt werden kann, Antworten, die sicherstellen, daß es gelingt, einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu finden, wie diese bevölkerungs- und sozialpolitischen Verschiebungen bewältigt und positiv beeinflußt werden können.Die Analysen und Empfehlungen, die von den Sachverständigen in den Altenbericht eingebracht worden sind, werden uns diese Konsensfindung erleichtern. Wir haben verwendbares Zahlenmaterial und mit dem Bericht als solchem eine gute Grundlagefür alle diejenigen, die als Praktiker im Bereich der Seniorenpolitik tätig sind.Auf die einzelnen Berichtsteile ist mein Kollege Fuhrmann bereits eingegangen, so daß ich mich in meinen Ausführungen auf die dazugehörige Stellungnahme der Bundesregierung beziehen möchte.Anläßlich der Vorstellung des Altenberichts vor der Presse hat Frau Ministerin Rönsch im Herbst 1993 folgende vier zentrale altenpolitische Herausforderungen für die Zukunft formuliert: erstens die Pflegeversicherung, zweitens die bundeseinheitliche Regelung der Altenpflegeausbildung, drittens die Sanierung der Altenpflegeheime in den neuen Bundesländern, viertens den Ausbau der Rehabilitation.
Daß es sich bei diesen vier Punkten um zentrale altenpolitische Herausforderungen handelt, dem können wir zustimmen. Aus diesem Grunde möchte ich jetzt noch einmal genauer hinsehen, was denn passiert ist.Ich komme zum ersten Bereich, der Pflege. Hier hat es ja gestern wieder keine Einigung gegeben, und es geht heute weiter. Für Außenstehende ist diese quälende Diskussion längst nicht mehr verständlich. Machen wir uns nichts vor: Bei einem endgültigen Scheitern werden insbesondere die beiden großen Parteien erheblichem Erklärungsdruck bei den Betroffenen, aber auch bei den eigenen Mitgliedern ausgesetzt sein.Die Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion und der Bundesregierung lagen ursprünglich weit auseinander. Da die Koalition auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen ist, ist sie uns an einigen Stellen entgegengekommen. Wir unsererseits haben auch Konzessionen gemacht, soweit es uns im Sinne der betroffenen Menschen möglich war. Jetzt ist die Koalition gefragt, die notwendige Kompromißbereitschaft zu zeigen, damit die Pflegeversicherung nicht endgültig scheitert. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Bemühen um eine akzeptable Pflegeversicherung nicht länger durch internen Meinungsstreit und politische Bewegungslosigkeit zu torpedieren.
Der kritische Punkt, der eine Einigung bisher unmöglich macht, ist: Sollen die Kosten auf der Arbeitgeberseite ausgeglichen werden — wozu sich die SPD durchgerungen hat —, oder sollen — wie die Bundesregierung es will — bei dieser Gelegenheit den Unternehmen finanzielle Geschenke gemacht werden?Wir sind zur Streichung eines Feiertages zur Kostendeckung auf Arbeitgeberseite bereit. Die Regierung, meine Damen und Herren, fordert aber auf Druck der F.D.P. nach wie vor die Streichung von zwei Feiertagen. Dieser zweite Feiertag ist nach eigenen Zahlen von Arbeitsminister Blüm zur Finanzierung der Pflege nicht erforderlich. Die Streichung eines zweiten Feiertags wäre eine reine Umverteilungsstrategie unter dem Deckmantel der Pflege. Es wäre Aufgabe
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Lisa Seusterder Seniorenministerin, das in der Öffentlichkeit ganz deutlich zu sagen.
Ich komme zum zweiten wesentlichen Punkt, der Altenpflegeausbildung. Bisher waren alle Bemühungen vergeblich, endlich eine bundeseinheitliche Regelung der Altenpflegeausbildung durchzusetzen, obwohl Frau Rönsch selbst hier nur allzuoft dringenden Handlungsbedarf betont.Wie bereits in der vergangenen, ist auch in der jetzigen Legislaturperiode keine Lösung mehr in Sicht. Der Zeitpunkt, an dem eine einheitliche Regelung hätte verabschiedet werden können, ist schlicht-weg verpaßt worden. In der 11. Legislaturperiode hat eine reale Chance für diese Regelung bestanden. Jetzt warten die Bundesländer nur noch auf die Verabschiedung der Pflegeversicherung in der Hoffnung, daß zumindest der größte Teil der Ausbildungskosten analog zur Krankenpflege über die Pflegesätze finanziert werden kann. Im übrigen verfestigen sich in den einzelnen Bundesländern die unterschiedlichen Ausbildungsstrukturen immer mehr, für die Altenpflegerinnen und Altenpfleger eine sehr bedauerliche, negative Entwicklung, die dem Berufsbild und dem Ansehen des Berufes schadet.Das Thema Altenpflegeausbildung macht deutlich, daß ein spezielles Seniorenministerium die politische Durchsetzungskraft der Ministerin nicht gestärkt hat.
Ich komme zum dritten Punkt: Pflegeheime in den neuen Bundesländern. Welchen Zickzackkurs das Ministerium um die Sanierung der Alten- und Pflegeheime in den neuen Bundesländern eingeschlagen hat, will ich an Hand folgender Erklärungen deutlich machen:Sowohl die Ministerin als auch der Ausschuß für Familie und Senioren haben nach der Wiedervereinigung ausgedehnte Reisen in die neuen Bundesländer gemacht, um die Situation in den Heimen zu begutachten. Einstimmig wurde festgestellt, daß sich die Häuser in einem katastrophalen Zustand befinden. Nach westlichen Standards müßten die meisten sofort geschlossen werden. Ein Sanierungsbedarf von 16 Milliarden DM wurde berechnet. Positiv zu vermerken war — darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen —, daß die Heime personell wesentlich besser versorgt waren als die in den alten Bundesländern. Es ist nicht richtig, Frau Ministerin, wenn Sie hier sagen, daß den alten Menschen dort einiges angetan wurde. Das ist eine Diskriminierung derjenigen, die in der Pflege unter schwierigen Bedingungen gearbeitet haben.
Die Bundesregierung versprach angesichts des großen Nachholbedarfs bei der Sanierung des Alten- und Pflegeheimbereichs, finanziell zu helfen. Der Sanierungsbedarf könnte von den neuen Ländern und den Kommunen allein nicht bewältigt werden, das sei einegesamtgesellschaftliche Aufgabe. So wurden auch zwei Jahre lang im Rahmen eines Soforthilfeprogramms Bundesmittel in Höhe von 200 Millionen DM eingesetzt, die letztendlich jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein waren. Nach Ablauf dieser Zweijahresfrist war die Sanierung der Heime in den neuen Ländern dann plötzlich keine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mehr. Dies war nach Ansicht unserer Regierung jetzt im Rahmen der Aufteilung zwischen Bund und Ländern allein Sache der fünf betroffenen Länder und ihrer Kommunen, eventuell noch der Träger der Einrichtungen.In der Diskussion im Familien- und Seniorenausschuß haben wir Sozialdemokraten immer wieder darauf hingewiesen, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West durchaus eine vordringliche Aufgabe des Bundes sei. Bei der Koalition sind wir damit jedoch auf taube Ohren gestoßen.Als nächstes wurde — ich nehme an, um das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen — die Stiftung „Daheim im Heim" gegründet. Sie soll die Sanierung von Alteneinrichtungen voranbringen. Zur Gründung der Stiftung gab es Presseerklärungen der Ministerin, über die Arbeit der Stiftung jedoch nicht. Ist dies vielleicht ein Indiz für die Effektivität dieser Einrichtung?Jetzt, 1994, lautet die neueste Version, daß die Sanierung der Heime nicht mehr Aufgabe von Bund, Ländern, Kommunen oder gar der Stiftung sei, vielmehr sei es jetzt die Aufgabe der Beitragszahler der neuen Pflegeversicherung.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Warum sollen die Kosten jetzt plötzlich auf den Kreis der Arbeiter und Angestellten abgewälzt werden? Die Beitragsmittel der Pflegeversicherung können nicht dazu benutzt werden, ein Sanierungsproblem zu bewältigen. Wir wollen allein den Pflegebedürftigen diese Beiträge zugute kommen lassen. Wir als SPD-Fraktion fordern, daß der investive Nachholbedarf für ostdeutsche Pflegeheime über acht Jahre an Hand der eintretenden Einsparungen in der Kriegsopferversorgung finanziert wird. Hier wird es zu Einsparungen von insgesamt 800 Millionen DM jährlich kommen. Da diese Summe eine langfristige, zuverlässige Planung in den neuen Bundesländern ermöglichen wird, bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie dem zu!
Ich komme zum letzten Punkt, und zwar zur Rehabilitation. In der Beurteilung, daß der Ausbau von Rehabilitationsmöglichkeiten fortgesetzt werden muß, stimme ich mit der Ministerin überein. Bei einem Sportler sind Rehabilitationsmaßnahmen nach einer Meniskusoperation selbstverständlich. Dies muß genauso selbstverständlich sein, wenn ein älterer Mensch, z. B. nach einem Schlaganfall, ins Krankenhaus eingeliefert wird. Auch hier müssen die ersten Reha-Maßnahmen bereits im Akutkrankenhaus beginnen. Je nach allgemeinem Gesundheitszustand
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Lisa Seustermüssen die Behandlungen — möglichst in ortsnahen Reha-Zentren — anschließend fortgeführt werden. Mit geeigneten geriatrischen Reha-Maßnahmen könnte man erreichen, daß ältere Menschen möglichst lange ihre eigene Lebensführung erhalten können.Mit der Fortschreibung des Grundsatzes „Rehabilitation geht vor Pflege" ist im Rahmen des Gesundheitsreformgesetzes 1989 ein wichtiger Schritt getan worden. Damit wurde auch die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen verbindlich festgeschrieben. Folgerichtig ist in den letzten Jahren auch die Zahl der geriatrischen Abteilungen in den Akutkrankenhäusern und in den Rehabilitationsbereichen angestiegen. Dies gilt es weiter auszubauen. Die Pflegeversicherung könnte auch hier wichtige Impulse geben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, in allen vier wichtigen Punkten sind Lösungen nicht greifbar. Frau Rönsch hat ihre selbstgesteckten Ziele nicht erreicht. Sie ist auch mit ihrer Seniorenpolitik gescheitert.Abschließend möchte ich nur zu gern wissen: Wie wird Frau Rönsch versuchen, ihr Scheitern in der Seniorenpolitik zu kaschieren? Wird sie — wie in der Familienpolitik — von ihrem Scheitern mit einem unausgegorenen Vorschlag abzulenken versuchen? Wie wäre es damit: Alle Über-60jährigen, die ihren Führerschein abgeben, haben freie Fahrt in Bus und Bahn. Die Einnahmeausfälle zahlen die uneinsichtigen Über-60jährigen, die weiter Auto fahren wollen, als Strafsteuer.Vielleicht aber fällt der Ministerin noch etwas Besseres ein.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Walter Link das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute morgen meine Rede zum Altenbericht der Bundesregierung mit den Sätzen überschrieben: Wie wir mit den alten Menschen umgehen, zeigt den menschlichen oder unmenschlichen Charakter unserer Gesellschaft.Ich füge hinzu: Es hat schon viele Jugendberichte der Bundesregierung gegeben, aber es gab noch nie einen Altenbericht. Das ist heute der erste, und dieser Altenbericht ist von Frau Professor Ursula Lehr, einer — wie ich meine — in der ganzen Welt anerkannten Alternsforscherin, veranlaßt worden.Und die dritte Überschrift lautet: 98 % aller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 60 und 80 Jahren leben völlig selbständig ohne fremde Hilfe. Ich glaube, es ist das eigentlich Schöne an dieser Situation, daß so viele Menschen in einem so hohen Alter noch völlig selbständig glücklich und ohne fremde Hilfe leben können.
Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl hat als erste Regierung in der Bundesrepublik Deutschland ein eigenständiges Ministerium für Senioren geschaffen. Damit hat der Bundeskanzler gezeigt, daß er die Herausforderung der demographischen Entwicklung erkannt und angenommen hat.
Die Lebenserwartung in der Bundesrepublik hat sich in den letzten hundert Jahren fast verdoppelt. Herr Kollege Vogel, das haben wir gestern abend gerade bei dem Symposium in der Parlamentarischen Gesellschaft noch einmal so deutlich gehört, an dem wir beide teilgenommen haben. Also die Lebenserwartung hat sich fast verdoppelt in den vergangenen hundert Jahren.Heute sind in der Bundesrepublik 16 Millionen Menschen über 60 Jahre alt, das sind 20 % — jeder fünfte — unserer Bevölkerung.Der erste Altenbericht der Bundesregierung gibt uns viele Hinweise, wie Seniorenpolitik in der Zukunft gestaltet und verbessert werden kann.Ich möchte, meine sehr verehrten Damen und Herren, an dieser Stelle hervorheben, daß ich gestern morgen zu Beginn unserer Ausschußsitzung an den Tod unseres Freundes, des Staatssekretärs Albrecht Hasinger, erinnert habe. Wir haben uns zu seinen Ehren gestern in unserem Ausschuß erhoben, weil er in der Tat über viele Jahre mit uns in freundschaftlicher und enger Gemeinschaft für diese Politik gearbeitet hat.Statistiker starten immer wieder den Versuch, einen Menschen von einem bestimmten Geburtstag an als alt zu bezeichnen. Egal, ob dies mit 60 oder 65 Jahren geschieht, dies ist der Ansatz einer verfehlten Betrachtung. Die Unterschiedlichkeit des menschlichen Lebensstils, die Lebensführung und die menschliche Differenziertheit lassen dies nicht zu. Darum kann man nicht schematisch von „den Älteren", „den Senioren" oder „der älteren Generation" sprechen.Man muß sich nur einmal bewußt werden, wo überall von Senioren gesprochen wird. Einer meiner Berufe ist Sportlehrer. Der Begriff „Senior" ist nicht nur auf ältere Menschen zugeschnitten, sondern dieser Begriff wird vielfältig positiv verwendet, so z. B. im Sport. Bei vielen Sportarten bezeichnet man ab dem 21. Lebensjahr die Altersklasse, in der man startet, als die Seniorenklasse.Schlimm wird es, wenn wir von der „Alterslast", dem „Rentenberg" oder von der „Überalterung" sprechen. Die demographische Entwicklung zeigt uns, daß sich der Anteil der Menschen, die älter als 65 Jahre sind, in den nächsten 40 Jahren verdoppeln wird.Die Statistiker sagen auch — das habe ich vorhin in der Überschrift schon gesagt —, daß 98 % aller Menschen zwischen 60 und 80 Jahren völlig selbständig leben. Hieran sieht man, wie falsch es ist, wenn Altsein in die Nähe von Gebrechlichkeit und Krankheit gerückt wird.Auch ist in diesem Zusammenhang ein besonders bedeutender Aspekt, daß Frauen über Jahre hinweg, wenn z. B. der Ehepartner gestorben ist, ohne Eheoder Lebenspartner leben müssen. Dieser Erkenntnis
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Walter Link
ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies muß ein besonderes Interesse in der Betrachtung und Umsetzung von Altenpolitik finden.Die Bundesregierung legt nun einen umfassenden Bericht vor, der die unterschiedlichen Lebenssituationen älterer Menschen unter wirtschaftlichen und sozialen wie unter gesundheitlichen und psychischen Gesichtspunkten erfaßt. Der Altenbericht macht deutlich, daß Altenpolitik kein geschäftsordnungsbedingtes Referat sein kann. Altenpolitik muß gesellschaftliche Strukturpolitik sein. Sie ist Querschnittsauftrag bei allen gesellschaftlichen Aufgaben und allen Ministerien.Von daher, Frau Kollegin Seuster, ist Ihr Angriff von eben gegenüber der Ministerin völlig falsch. Man kann nicht Altenpolitik und Geschäftsordnung verbinden. Es ist gut, daß diese Bundesregierung gesagt hat: Wir zeigen eine besondere Aufmerksamkeit, indem wir das Ministerium schaffen; aber es wird Querschnittspolitik bleiben wie z. B. bei der Rente,
wie z. B. bei der Pflegeversicherung, wie z. B. im Wohnungsbauministerium. Das andere war A und S. Querschnittsaufgabe muß es sein. Frau Ministerin Rönsch — das wissen wir nun einmal besser als Sie von der Opposition — hat sich mit all ihrer Kraft eingesetzt, daß die Pflegeversicherung kommt.
Wenn ein Viertel unserer Gesellschaft zu den Älteren zählt, stellt sich die Frage, wie man diese strukturellen Probleme der Gesellschaft lösen und welchen Beitrag der einzelne dazu bringen kann. Daraus die Konsequenzen zu ziehen heißt, keine Nischenpolitik für angebliche und tatsächliche Defizite für ältere Menschen zu betreiben. Es heißt, die wirklichen Bedürfnisse älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger bei allen politischen Entscheidungen mit einzubeziehen.Deshalb hat unsere Seniorenministerin Hannelore Rönsch 1992 im Rahmen des Bundesaltenplanes ein Modellprogramm „Seniorenbüro" ins Leben gerufen. Mittlerweile haben wir viele Jugendberichte, und wir haben einen Jugendplan. Es ist das Verdienst dieser Ministerin und dieser Regierung, daß wir nun einen Altenbericht und auch einen Altenplan haben. Daran kommen auch Sie von der Opposition nicht vorbei. Das sind Erfolge.
Hier werden unseren Senioren ganz konkret neue Betätigungsfelder z. B. in den Seniorenbüros angeboten. Vor allen Dingen werden hier die jahrelangen Erfahrungen der Seniorinnen und Senioren nach ihren Interessen in gezielte ehrenamtliche Tätigkeit umgesetzt. Die Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, sollten auch geschult werden. Ich glaube, es ist ganz wichtig, daß wir die Ehrenamtlichkeit nicht nur fordern, sondern von den Städten, Gemeinden und Kreisen auch Schulungen anbieten. Zu Recht kann davon gesprochen werden, daß die Selbständigkeitund die Beteiligung älterer Menschen in solchen Seniorenbüros vorbildlich gelebt werden.Meine Fraktion, die CDU/CSU, ist der Auffassung, daß nachbarschaftliche Netze dort wiederherzustellen sind, wo sie nicht mehr bestehen. Ziel muß es sein, in den Städten, Kreisen und Gemeinden ein gut strukturiertes Netz von sozialen Diensten zu schaffen, das zwar durch die Kommunen gesteuert und organisiert wird, aber durch zahlreiche Helferinnen und Helfer auch im Ehrenamt getragen wird. Jede Stadt sollte eine Vermittlungsbörse für soziale Hilfsdienste einrichten.Das sollte auch heute noch einmal aus dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages der Appell an unsere Kommunen sein. Das wäre ein echter Gewinn für Seniorenpolitik, der nicht nur wünschenswert, sondern auch von der Finanzierbarkeit für Kommunen und Länder machbar ist und auf Dauer gesehen sogar eine Entlastung bringen könnte.In diesem Zusammenhang wäre auch eine Erweiterung des Aufgabenspektrums der Sozialstationen möglich, die gegenseitige Besuchs- und Hilfsdienste organisieren. Es muß dafür gesorgt werden, daß Menschen ihren dritten Lebensabschnitt in großer Sicherheit verbringen können.Neben dem Schutz vor Gewalt und Kriminalität spielt auch die Sorge um die finanzielle Sicherheit der Renten eine Rolle. Ich denke, wir sollten alle gemeinsam in diesem Hause das Gerede von der Unsicherheit der Renten lassen. Wir haben doch nicht umsonst zwischen der Koalition und der Opposition vor Jahren ein Gesetz geschaffen, um unseren Menschen die Sorgen zu nehmen.
Ich verstehe schon, Frau Kollegin Seuster, daß junge Leute heute fragen: Wenn ihr denn eine Lebensversicherung macht, profitiere ich auch davon, oder muß ich nur zahlen? Wenn schon die Renten so gut sind wie heute, profitiere ich auch noch davon? Daß diese Sorgen betrachtet werden müssen, auch über das Jahr 2000 hinaus, ist richtig, und das müssen wir gemeinsam tun,
aber nicht unsere alten Menschen verunsichern. Das sage ich auch zu Kollegen meiner eigenen Partei.
Schlimm wäre dies besonders für die Rentner in Ostdeutschland, die nicht nur 40 Jahre Gefängnis in der DDR zu ertragen hatten, sich trotz Arbeit keinen Wohlstand schaffen konnten, wenn es hier zu einer Rentenkürzung käme. Die CDU/CSU sagt deutlich, daß es zu keiner Rentenkürzung in ihrer Regierungszeit kommen wird.
— Ach, wissen Sie, wie lange das noch ist, dasbestimmen nicht Sie; das bestimmen die Wählerinnenund Wähler in der Bundesrepublik Deutschland. Da
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Walter Link
wollen wir dann einmal im Oktober gucken, wie das aussieht.
Wir haben gerade in dieser Woche auf dem Bundesparteitag bewiesen — und die gesamte veröffentlichte Meinung in Deutschland mit —, daß wir die Partei der Familie sind.Dieser Altenbericht heute und die Diskussion über diesen Altenbericht zeigen doch noch einmal sehr deutlich, daß wir auch die Partei der Seniorinnen und Senioren in Deutschland sind, und mit diesen Wählergruppen den Kampf mit Ihnen zu führen, die Sie sich aus diesen Politikbereichen längst abgemeldet haben, darauf freuen wir uns alle.
Sagen Sie einmal: Warum ist eigentlich in den 70er Jahren, in den Jahren von 1969 bis 1982, als Sie regiert haben — Brandt, Schmidt; die demographische Entwicklung, wie wir sie heute haben, war schon abzusehen — kein Altenbericht gemacht worden? Warum haben Sie kein Seniorenministerium eingerichtet? Sie sind doch während Ihrer Regierungszeit die Versager auf der ganzen Linie gewesen, und heute laufen Sie nur hinter uns her! Das ist doch die Tatsache.
Der Altenbericht der Bundesregierung ist eine gute Analyse der jetzigen Situation der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Er zeigt auf, wie in der Zukunft Politik für ältere Menschen aussehen kann. Auch die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission kann diesen Bericht in ihrer Arbeit sicherlich gut aufnehmen und verwenden.Ich will Ihnen mal etwas zu den Sozialstationen sagen, weil Sie hier so dazwischenrufen und uns ständig Vorwürfe machen, und sagen, daß Sie mit unserer Altenpolitik nicht zufrieden sind. Daß zur Altenpolitik Sozialstationen geschaffen wurden, ist heute morgen von Heiner Geißler schon einmal gesagt worden.
Sie sind bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Kollege Fockenberg, bitte sehr.
Herr Kollege Link, Sie haben mir das Stichwort mit dem Wort „Sozialstationen" gegeben. Ich möchte ein weiteres Stichwort von Altenpolitik aufgreifen, das Sie ebenfalls genannt haben. Wie sieht es, Herr Kollege Link, eigentlich mit der Altenpolitik da aus, wo Sozialdemokraten über Mehrheiten verfügen — ich möchte gar nicht sagen, in der Verantwortung stehen:
zum Beispiel in Niedersachsen?
Herr Präsident, ich bitte mir die Zeit nicht anzurechnen.
Herr Kollege Fockenberg, ich bin Ihnen wirklich dankbar, daß Sie diese Frage stellen. Ich bin ja Niedersachse. Ich bin stellvertretender Landesvorsitzender der Union in Niedersachsen. Ich will dazu mal so ein paar Takte sagen. Die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen hat sich 1990 mit Wahlversprechen in der Sozial- und Familienpolitik den Wahlsieg erschwindelt.
Wir erinnern uns noch sehr gut daran, wie Sie Frau Süssmuth damals, als sie als Sozialministerin nach Niedersachsen gehen wollte, mit Schmutz übersät haben und dort alles versprochen und uns alles abgesprochen haben.
Wenn die SPD hier in Bonn aus der Opposition überzogene Forderungen erhebt, sollte sie nach Niedersachsen schauen, wo sie den Ministerpräsidenten stellt. Ein Gesetz über die Sozialstationen in Niedersachsen, das diesen die finanziellen Mittel kürzt, liegt in der Schublade und wird nach den Wahlen herausgezogen. — Die SPD versteht ja etwas von Schubladen. Die SPD in Niedersachsen hat Verbesserungen für den Personalschlüssel bei den Sozialstationen angekündigt, aber nicht eingehalten.
Herr Abgeordneter, ich möchte Sie auf die Geschäftsordnung aufmerksam machen dürfen. Ich habe Verständnis dafür, daß Sie das nun so schön herunterlesen, weil man das ja nicht alles im Kopf haben kann. In der Geschäftsordnung aber ist vermerkt, daß nicht nur die Frage, sondern auch die Antwort kurz und präzise sein soll. Wenn ich also die Antwort nicht auf Ihre Zeit anrechnen soll, bitte ich, sich auch an die Geschäftsordnung zu halten,
Die SPD hat versprochen, in Niedersachsen Kurzzeit- und Altenpflege in der Tagespflege einzurichten. Wir stellen nach vier Jahren fest: Fehlanzeige. Die SPD hat gesagt, sie würde in drei Jahren 3 000 Wohnungen schaffen, auf 47 Kreise aufgeteilt. Es kommt nicht viel dabei heraus; denn das würde z. B. für die große Landeshauptstadt Hannover 20 Wohnungen bedeuten. Sie hat mit den GRÜNEN versprochen, die Sozialstationen in Niedersachsen zu stärken. Nichts ist geschehen. Hermann Schnipkoweit ist in Niedersachsen der Vater der Sozialstationen; die SPD hat sie vier Jahre lang weiterverwaltet, ohne auch nur irgend etwas positiv zu verändern.
Herr Abgeordneter, ich lasse die Uhr jetzt wieder laufen, weil ich glaube, daß das in Ihre normale Rede gehört.
Das zeigt deutlich und klar: Sozialisten versprechen sehr viel, wenn
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18311
Walter Link
sie in der Opposition sind. Wenn sie in der Regierung sind, sind sie nicht in der Lage, dies umzusetzen.Ich will noch etwas zur Stiftung sagen, Frau Kollegin Seuster, weil Sie der Ministerin hier einen Vorwurf gemacht haben. Sie haben sich ja bei der Stiftung „Mutter und Kind" sehr schwergetan. Sie haben lange dagegengeredet, anschließend die segensreiche Tätigkeit dieser Stiftung festgestellt und sich dann Jahr für Jahr im Ausschuß der Stimme enthalten, anstatt gut und vernünftig mitzuarbeiten.
Wenn Frau Rönsch, die fast ständig — es vergeht kaum eine Woche — in den neuen Ländern ist und dort erfährt, wie elendig die Menschen in den letzten 40 Jahren und zum Teil noch immer in den Altenheimen leben, den Mut hat, eine Stiftung ins Leben zu rufen — diese Stiftung baut bereits die ersten Altenheime —, dann sollten Sie sie unterstützen. Die finanzstarken Leute im Westen unserer Republik sollten ihr Geld zur Verfügung stellen, um diesen Menschen zu helfen, nicht nur immer kritisieren.
Abschließend hoffe ich, daß aus diesem Altenbericht eine neue, eine noch bessere Politik für unsere Senioren hervorgeht. Unsere Senioren in Deutschland haben eine gute Politik verdient.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Krause das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kapitel des Altenberichtes sind handwerklich wirklich sehr sauber, lesbar, übersichtlich und wissenschaftlich fundiert gearbeitet. Er weist aber erhebliche Lücken auf, soweit es sich um die Lage der Senioren in den neuen Ländern handelt, und ist weitgehend materiell ausgerichtet.Der Mensch lebt nun nicht vom Brot allein, unsere Rentner schon gar nicht. Lassen Sie mich daher bitte nur eines zur materiellen Situation sagen: Bei der Rentendiskussion vor einem Dreivierteljahr hatte ich bereits mein Entsetzen darüber zum Ausdruck gebracht, daß ganze Bevölkerungsgruppen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung 1,8 Entgeltpunkte beanspruchen dürfen, pauschal, ohne Einzelfallprüfung, quasi als gesellschaftliche Sippenhaftung auf 1,0 herabgestuft werden.Es ist sehr makaber, wenn der 20 bis 30 Jahre als LPG-Vorsitzende tätig gewesene Christ, der zum Teil in der Kirchenleitung tätig war, der seine Familie immer existentiell gefährdet hat, jetzt für diese Jahre in der Rente auf 1,0 Entgeltpunkte herabgestuft wird, der Pastor aber, dem er die ganze Zeit geholfen hat, jetzt die volle Rentenpension bekommt, wie sie keinem Arzt, keinem Lehrer und anderen Vergleichbaren in den neuen Ländern gegönnt wird. Nein, sie werden noch von 1,8 Entgeltpunkten auf 1,0 heruntergestuft. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun. Das sind ideologische Überbleibsel einer Pauschalverurteilung, die, so hoffe ich, in der nächsten Legislaturperiode beendet werden wird — durch wen auch immer.Nun aber zu den ideellen Dingen. Der Kollege Walter Link hat es wenigstens kurz angesprochen, aber als einziger. Die Kriminalitätsexplosion betrifft die Alten existentiell. Sie haben Angst. Es gibt wohl Täterstatistiken, aber es gibt keine Opferstatistiken. Wenn — wie gestern die beiden Innenminister sagten — die Kriminalität von 41/2 Millionen Straftaten auf jetzt über 7 Millionen gewachsen ist, wobei es sich vor allem um Kleinkriminalität durch importierte Kriminelle handelt, dann trifft das vor allem die alte Generation. Es gehört auch zu einer verantwortungsvollen Altenpolitik, wieder eine solche Kriminalpolitik zu machen, die den alten Menschen die Angst nimmt, zu Hause Einbrecher anzutreffen, und die dafür sorgt, daß sie sich wieder auf die Straße trauen.Zum nächsten ideellen Punkt: Der kulturelle Alltag unserer alten Menschen wird weitgehend vom Fernsehen bestimmt. Es ist eine Beleidigung für unsere alten deutschen Männer und Frauen, wenn sie dort ständig Pornographie und Gewalt zu sehen bekommen. Es ist eine große Fehlleistung unserer Gesellschaft, daß sie nichts dafür tut, daß diese Gewalt- und Pornographiewelle wieder aus den Fernsehprogrammen verschwindet. Wo sind die deutschen Märchen? Wo sind die deutschen Volkslieder? Wo sind die Heimatfilme? Wo ist das, was bei den alten Menschen eine positive Erinnerung hervorruft? Es fehlt fast völlig.Ein weiterer Punkt hierzu: Im Fernsehen und in den anderen Medien ist immer stärker eine einseitige Besudelung der deutschen Vergangenheit, aber auch eine Fehldarstellung der DDR-Vergangenheit festzustellen. Für viele Menschen sind weite Teile ihrer Erinnerung schön, gut, anständig und edel, aber sie dürfen es nicht in den Medien miterleben. Alles, was früher war, war schlecht; alles, was in der DDR war, war schlecht — so wird es dargestellt. Aber so ist es wirklich nicht. Meine Familie und ich, wir hatten zwei Jahre unter „Berufsverbot" — so sagt man heute — zu leiden. Aber auch da gab es viele schöne Tage und viele schöne Wochen. Es gibt jedoch keine Chance, daß dieser Alltag der deutschen Vergangenheit auch positiv dargestellt wird.Ein letztes: Zum lebenswerten Leben gehört eben auch die Ehrfurcht vor dem Leben, die Ehrfurcht vor dem ungeborenen Leben genauso wie die Ehrfurcht vor dem Alter. Das Beispiel Holland zeigt ja, daß es Zusammenhänge zwischen der Freigabe der Abtreibung und der Freigabe der Euthanasie gegenüber Alten gibt. Es sind Tausende, die in Holland gegen ihren Willen euthanasiert werden.Die „Bild-Zeitung" lügt, wenn sie von der „Märkischen Zeitung" abschreibt, ich würde in solchen Positionen andere Auffassungen vertreten als die katholische Kirche. Lassen Sie mich sagen: In der Frage des lebenswerten Lebens, sowohl was das Alter
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18312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Dr. Rudolf Karl Krause
als auch was das ungeborene Leben angeht, gibt es zwischen dem Programm der Republikaner und der Stellung von Bischof Dyba und anderen Bischöfen überhaupt keine Unterschiede.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen mitteilen, daß interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5897 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nunmehr kann ich den Tagesordnungspunkt 11 a und b aufrufen:
— Drucksache 12/6752 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Ausschuß für Wirtschaft
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland
Unfallverhütungsbericht 1992 — Drucksache 12/6429 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß eine gemeinsame Aussprache von einer halben Stunde stattfinden soll. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Darm ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu meinem Thema komme, möchte ich ganz kurz — sozusagen als Kurzintervention, Herr Präsident — die pauschalen Vorwürfe des Kollegen Krause zum Renten-Überleitungsgesetz seitens der Bundesregierung zurückweisen. So einfach, Herr Krause, können Sie es sich nicht machen. Sie wissen, wie kompliziert die Materie ist. Es ist unangemessen, mit drei Sätzen eine solche Abqualifizierung vorzunehmen. Ich weisesie noch einmal seitens der Bundesregierung zurück.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes verbessert die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit. Er ist der letzte und wichtigste Baustein der Gesamtkonzeption der Bundesregierung zur Neuordnung des Arbeitsschutzrechts und zur Umsetzung von EG-Richtlinien zum Arbeitsschutz.Die Bundesregierung hat immer wieder betont, daß der Binnenmarkt nicht nur Wirtschafts- und Währungsunion sein darf; er muß auch Sozialunion sein. Tatsächlich ist der Arbeitsschutz auch das Feld, auf dem die Sozialunion am weitesten vorangekommen ist.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die EG-Rahmenrichtlinie zum betrieblichen Arbeitsschutz in deutsches Recht um. Die drei wichtigsten Eckpunkte des Entwurfs sind:Erstens. Erstmalig werden die grundlegenden Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammenhängend gesetzlich geregelt. Der Arbeitgeber wird verpflichtet, die Gefahrensituation in seinem Betrieb zu ermitteln und zu bewerten. Auf Grund dieser Beurteilung muß er entsprechende Vorkehrungen treffen oder bereits bestehende Schutzmaßnahmen anpassen.Bei seinen Maßnahmen muß der Arbeitgeber die allgemeinen Grundsätze der Gefahrenverhütung beachten. Die Gefahren sollen an der Quelle bekämpft werden. Kollektiven Schutzmaßnahmen soll Vorrang vor individuellen eingeräumt werden, und die Erfordernisse der technischen Entwicklung und einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit sollen berücksichtigt werden.Damit folgt der Gesetzentwurf der EG-Rahmenrichtlinie — besser gesagt: der EU-Rahmenrichtlinie — und schreibt den Arbeitgebern die zu ergreifenden Arbeitsschutzmaßnahmen nicht im einzelnen haarklein vor. Er läßt den notwendigen Spielraum für kostengünstige und auf den jeweiligen Betrieb zugeschnittene Lösungen.Die Beschäftigten werden allerdings auch verpflichtet, die betrieblichen Arbeitsschutzmaßnahmen zu unterstützen, z. B. durch Benutzung der persönlichen Schutzausrüstungen. Wir wissen, daß gerade dann, wenn diese nicht angewandt wurden, viele Unfälle passiert sind.Zweitens. Der Gesetzentwurf schafft erstmals einen einheitlichen arbeitsschutzrechtlichen Rahmen für alle Wirtschaftsbereiche und die öffentliche Verwaltung.Drittens. Der Präventionsauftrag der Unfallversicherungsträger wird, über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten hinaus, auf die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren ausgeweitet. Die guten Erfahrungen mit dem dualen Arbeitsschutzsystem in der Vergangenheit bestätigen, daß dieser Schritt richtig ist.Der vorliegende Gesetzentwurf rechtfertigt sich aber nicht nur durch die notwendige Umsetzung von
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Parl. Staatssekretär Horst GüntherEU-Recht. Dauerhafter Fortschritt im Arbeitsschutz, die wirksame Verhütung von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Erkrankungen und Gesundheitsgefahren sind auch ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft, sowohl für die gesamte Volkswirtschaft als auch für den einzelnen Betrieb.Versäumnisse bei der Prävention führen zu Folgekosten in Milliardenhöhe in den sozialen Sicherungssystemen. Fehlzeiten, Krankheitskosten, Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten sowie Produktionsausfälle — das sind die Folgen mangelhaften Arbeitsschutzes.Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz beliefen sich die volkswirtschaftlichen Kosten von Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1991 auf 88,8 Milliarden DM. Auch die Zahl der Arbeitsunfälle ist zu hoch, trotz der Erfolge in der Vergangenheit, die ich hier auch gerne anführen möchte.Weitere Fortschritte im Interesse der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten sind allerdings notwendig. Jeder weitsichtige Unternehmer weiß: Sein wertvollstes Kapital — gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten — sind die Leistungsfähigkeit, die Motivation, die Kreativität und die Gesundheit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ein wirksamer Arbeitsschutz ist hierzu ein wichtiger Beitrag, und wir wollen ihn mit diesem Gesetz leisten.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Manfred Reimann.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Laut EG-Ratsbeschluß sollten die Mitglieder — damals EG, heute EU — die von der EG erlassene Arbeitsschutzrahmenrichtlinie, Herr Staatssekretär, bis zum 31. Dezember 1992 in nationales Recht umwandeln. Die Bundesregierung legt also mit fast eineinhalbjähriger Verspätung einen Gesetzentwurf vor. Selbst der — das zeigt sich hier — ist von der Bundesregierung im Hauruck-Verfahren entwickelt und vorgelegt worden. So sieht dieser Gesetzentwurf auch aus. Er erreichte die Parlamentarier total verspätet. Wieder einmal sollen wir im Eilverfahren begutachten, was in nationales Recht umgewandelt werden soll. Ich finde das schon beachtlich und meine, auch wenn man hier freitags mittags über den letzten Tagesordnungspunkt spricht, ist es kein Grund, so kurz zu sein.
Dieser Zeitdruck ist um so bedauerlicher, meine Damen und Herren, als es schon einen einstimmigen Beschluß des Bundestages —1981 unter der Koalition Helmut Schmidt — zur Schaffung eines umfassenden und einheitlichen Arbeitsschutzgesetzes gibt.Allein an diesen Daten wird deutlich, welchen Stellenwert die Bundesregierung der Sozialpolitik im allgemeinen und besonders dein Arbeitsschutz beimißt.Die Bundesregierung hätte Zeit genug gehabt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Bedürfnissen Rechnung trägt. Aber vorgelegt wurde ein Entwurf mit gravierenden inhaltlichen und konzeptionellen Mängeln, der in einigen Punkten sogar hinter das bestehende Arbeitsschutzrecht zurückgeht und punktuell sogar noch hinter die Vorgaben der EG-Rahmenrichtlinie. Ich nenne nur die Stichworte Gefährdungsanalyse und Mitarbeiterbeteiligung. Obwohl ohnehin nur ein Mindeststandard festgeschrieben wird, wird auch das noch zu unterlaufen versucht. Nicht einmal der in der EG-Richtlinie geforderte Grundsatz des gleichen Schutzniveaus für alle Arbeitnehmer wird eingehalten.Lassen Sie mich zum Inhalt einen groben Überblick geben. Das vorgelegte Arbeitsschutzrahmengesetz soll die grundlegenden Pflichten von Arbeitgebern und Beschäftigten im betrieblichen Arbeitsschutz einheitlich für alle Beschäftigungsgruppen und Tätigkeitsbereiche einschließlich des öffentlichen Dienstes regeln. Die veralteten Bestimmungen der Gewerbeordnung über den betrieblichen Arbeitsschutz sollen damit durch ein EG-konformes Grundgesetz des Arbeitsschutzes abgelöst werden. Der Entwurf umfaßt auch die bisher im Arbeitssicherheitsgesetz enthaltenen Bestimmungen über die Beratung der Arbeitgeber durch Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit. Damit kann das Arbeitssicherheitsgesetz im Grunde genommen aufgehoben werden.Generell stelle ich für mich und für meine Partei fest: Der Anspruch dieses Gesetzentwurfs steht im Gegensatz zu dem, was er in der Praxis tatsächlich leisten kann. Gemessen an den Vorstellungen der SPD — siehe Drucksache 12/2412, Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches — kann diese Gesetzesvorlage nur komplett als unzureichend bezeichnet werden.Auch der Forderung des Bundesverfassungsgerichts — siehe dessen Urteil zur Nachtarbeit, verfassungsrechtlicher Anspruch der Beschäftigten auf Schutz von Leben und Gesundheit — wird dieser Gesetzentwurf nicht gerecht. Von Fachleuten wird er als praxisfremd, schwerfällig und überbürokratisch eingestuft und abgelehnt. Sie befürchten darüber hinaus, daß bei der tatsächlichen Umsetzung reale Verschlechterungen im Arbeitsschutz eintreten.Kritikpunkte im einzelnen, die wir in die Ausschußberatungen einbringen werden — in der Hoffnung, daß sie von der Regierung gehört werden —, sind: Nach wie vor sollen an gleichen Arbeitsplätzen unterschiedliche Sicherheitsstandards gelten. Zum Beispiel kommen deutsche Arbeiter einer Baufirma auf den Baustellen in den Genuß anderer Sicherheitsbestimmungen als ausländische Werkvertragsarbeitnehmer.
Nicht nur, daß diese Arbeiter in Unkenntnis der Arbeitsschutzbestimmungen — abgesehen von ihrer eigenen Exponiertheit dadurch — ihre deutschen Kollegen laut Aussage der IG Bau-Steine-Erden oftmals gefährden; nein, darüber hinaus fördert diese Regelung auch das Sozialdumping und schafft weite-
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Manfred Reimannren Anreiz zur Beschäftigung ausländischer Werkvertragsarbeitnehmer.Auch die Ausgrenzung von Heimarbeiterinnen und Hausangestellten sowie des gesamten Gaststättenbereiches ist nicht zu begründen. Ferner ist das Mitwirkungsrecht der Beschäftigten in bezug auf die EG-Rahmenrichtlinie und Art. 8 der Bildschirmrichtlinie nur unzureichend umgesetzt.Als unzureichend einzustufen sind darüber hinaus die schriftliche Gefährdungsbeurteilung in § 11 — Punkt 19 der Stellungnahme des Bundesrates —, die vorgesehene Überwachung im öffentlichen Dienst sowie die nach wie vor mangelhaft geregelte Zusammenarbeit von Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsicht, die schon in der Vergangenheit nicht zufriedenstellend verlaufen konnte, weil die Unfallverhütungsvorschriften nur nach Branchen und nicht sinnvoll übergreifend und ineinandergreifend organisiert sind. Auch fehlt eine Reform des Berufskrankheitenrechts. Die von der SPD schon seit langem geforderte Umkehr der Beweislast läßt nach wie vor auf sich warten.Zu § 22 „Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen" muß angemerkt werden, daß sich hier ein Zündstoff ganz besonderer Art verbirgt. Dieser § 22 erlaubt die Anwendung genetischer Methoden,
juristisch formuliert:Untersuchungen, durch die bestimmte ererbte Veranlagungen für Erkrankungen, die durch die Beschäftigung an einem bestimmten Arbeitsplatz oder mit einer bestimmten Tätigkeit entstehen können, zu ermitteln sind .. .Sobald also DNA-Analysen durch ein noch zu schaffendes Gesetz sowie andere genetische Untersuchungen durch Rechtsverordnung zugelassen werden, wird die oben beschriebene Untersuchungserlaubnis wirksam. Es handelt sich hier um eine ausgesprochen zweischneidige Angelegenheit. Offiziell sollen Schädigungen durch krankmachende Substanzen am Arbeitsplatz ausgeschlossen werden; inoffiziell kann dieser Paragraph aber genausogut dazu benutzt werden, die soziale Selektion zwischen erbschwachen und erbstarken Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorzunehmen und so nicht Arbeitsplätze an die Beschäftigten anzupassen, sondern Beschäftigte an die Arbeitsplätze.
Die einzig mögliche Lösung kann und darf nur sein, Arbeitsplätze an die dort tätigen Menschen anzupassen und krankmachende Stoffe spätestens dann endgültig zu verbieten, sobald ungefährliche Ersatzstoffe zur Verfügung stehen.Aus all diesen und anderen hier wegen der Kürze der Zeit leider nicht zu nennenden Kritikpunkten läßt sich die Bilanz ziehen: Die Zielsetzung dieses Gesetzentwurfs ist einfach nicht umfassend genug. Zum Beispiel fehlt die Prävention in Art. 2 völlig. Dabei könnte gerade durch vorbeugenden Gesundheitsschutz sehr viel gespart werden. Reparaturen — in diesem Falle Reparaturen an der menschlichenGesundheit — kommen zwangsläufig teurer als Aufwendungen für Vorbeugung und Verhütung. Ebenfalls nicht außer acht lassen darf man in diesem Zusammenhang die Kosten, die in den Betrieben durch arbeitsbedingte Krankheiten entstehen.Wir wissen, daß Krankheiten einerseits durch die tägliche Belastung am Arbeitsplatz verursacht werden, andererseits aber auch durch Unfälle, die nicht zuletzt wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen geschehen.Hier wird der Kontext zum Unfallverhütungsbericht hergestellt — zu dem ich einige Gedanken äußern möchte —, den die Bundesregierung jährlich vorzulegen hat. Ich kann hier in aller Kürze nur einige Bemerkungen anbringen.
Berufsunfälle — plus 25,5 %, tödliche Berufsunfälle — plus 17,17 %, Verdacht auf Berufskrankheit — plus 48 %, Berufskrankheiten mit tödlichem Ausgang — plus 99%.Die Kosten — gerade weil man in diesem Hause oft stundenlang über Bagatellsummen diskutiert — she-gen in diesem Bereich von 15 auf über 20 Milliarden DM. Da wird so getan, als sei das überhaupt nichts. Die Zahl der Schülerunfälle steigt; die Zahl der tödlichen Schülerunfälle stieg um 83 %.Wenn man das differenziert — da die neuen Länder und die alten Länder nicht getrennt ausgewiesen werden, habe ich das zwischengerechnet; wir werden das im Ausschuß diskutieren —, dann gewinnt man daraus die Erkenntnis, daß im Vergleich zwischen den alten und neuen Ländern ein beachtlicher Unterschied festgestellt werden kann, nämlich daß die Unfälle in den neuen Ländern noch um wesentlich höhere Prozentsätze stiegen als in den alten Ländern, was für mich heißt, daß sie da drüben miserable Produktionsbedingungen haben, miserable Unfall- und Sicherheitsvorschriften, miserable Arbeitsbedingungen. Ich will Sie jetzt nicht mehr mit den Zahlen langweilen, die dort gelten; aber sie gehen weit über die der alten Bundesländer hinaus.Der Präsident wird auf die Uhr schauen. Ich möchte abschließend dazu sagen: Eine umfassende Gesetzgebung im Arbeitsschutz würde diese Unfallzahlen — deren kontinuierliche Steigerung von Jahr zu Jahr wir zu bedauern haben — sicherlich spürbar sinken lassen. Deshalb fordere ich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auf: Tun Sie Ihre Pflicht im Arbeitsschutz, bessern Sie nach.Der Überweisung an den Ausschuß werden wir heute zustimmen und in den Ausschußberatungen die Gelegenheit wahrnehmen, unsere Vorstellungen von einer angemessenen Arbeitsschutzpolitik zum Wohle der Betroffenen einzubringen, in der Hoffnung, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung auf die Ratschläge der Opposition hört.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18315
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Verpflichtung, die europäischen Arbeitsschutzrichtlinien in deutsches Recht umzusetzen, fällt zusammen mit dem Auftrag aus Art. 30 des Einigungsvertrages, den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutz zeitgemäß neu zu regeln. Diesem Auftrag kommt der vorgelegte Entwurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes zusammen mit den übrigen Bausteinen im Konzept der Bundesregierung nach.
Der erste Baustein war bereits 1992 die damals erlassene Novelle zum Gerätesicherheitsgesetz. Der Entwurf eines Arbeitszeitrechtsgesetzes als zweiter Baustein liegt derzeit ebenfalls diesem Parlament zur Beratung vor. Als dritten Baustein hat die Bundesregierung im Herbst 1993 die Gefahrstoffverordnung novelliert und sich dabei mit einem umfassenden Asbestverbot in Europa besonders rühmlich hervorgetan. Als vorläufig letzten und wichtigsten Baustein hat die Bundesregierung nunmehr den Entwuf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes vorgelegt.
Meine Damen und Herren, die Länder und die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition verlangen dagegen, wie es der Kollege Reimann soeben getan hat — u. a. unter Berufung auf den Einigungsvertrag —, daß dieser Entwurf zu einem Arbeitsschutzgesetzbuch umgestaltet wird.
Ich möchte zunächst betonen, daß sich eine rechtliche Verpflichtung zu einer Kodifizierung aller Sachbereiche des Arbeitsschutzes weder aus dem EG-Recht noch aus der Neuordnungspflicht des Einigungsvertrages ergibt. Die zu behebenden Mängel im deutschen Arbeitsschutzrecht sind nämlich nicht darin begründet, daß für verschiedene Sachgebiete auch besondere Arbeitsschutzvorschriften bestehen. Dies liegt in der Natur der Sache und ist im Arbeitsschutz nicht anders als beispielsweise auch im Umweltschutz.
Vielmehr besteht das Manko im staatlichen Arbeitsschutzrecht bisher darin, daß die allgemeinen und grundlegenden Pflichten im betrieblichen Arbeitsschutz nicht vollständig und nicht für alle Beschäftigten und Tätigkeitsbereiche einheitlich geregelt sind. Genau diesen Mangel beseitigt der vorgelegte Entwurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes.
Meine Damen und Herren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anhaltenden deutschen Standortdebatte muß sich jedes neue Gesetz an zwei grundlegenden Fragen messen lassen. Frage Nummer eins: Welche zusätzlichen Belastungen bringt es für die Wirtschaft und für die Arbeitsplätze? Frage Nummer zwei: In welchem Ausmaß verursacht es zusätzliche öffentliche Bürokratie?
Zu diesen beiden Fragen an den Gesetzentwurf müssen im Laufe der Ausschußberatungen noch eine Reihe von Hausaufgaben erledigt werden. Insbesondere darf es zu keinen Überreglementierungen im Bereich des Arbeitsschutzes kommen, die in der Praxis dann kaum mehr umsetzbar sind. Ich glaube, da habe ich Sie, Herr Kollege Reimann, in etwa richtig verstanden. Hier sind wir uns sicher einig.
Der Unfallverhütungsbericht 1992, über den wir heute ebenfalls debattieren, weist für das Jahr 1992 insgesamt über 2,3 Millionen angezeigte Unfälle aus. Jeder dieser Unfälle ist natürlich einer zuviel. Aber man kann davon ausgehen, daß der überwiegende Teil dieser Unfälle nicht etwa deshalb passiert ist, weil es bisher zu wenig Arbeitsschutzvorschriften gegeben hätte, sondern vielmehr deshalb, weil bestehende Arbeitsschutzvorschriften schlicht und einfach mißachtet worden sind.
— Können Sie das Gegenteil beweisen, Herr Kollege Reimann? Wir werden uns über den Unfallverhütungsbericht nachher unterhalten, und über diesen Punkt müssen wir halt einmal ganz offen sprechen, ob unsere Bestimmungen nicht ohnehin schon zu kompliziert sind mit Regelungen, die von den Arbeitnehmern selbst nicht mehr angenommen werden, so daß, wenn der Kontrolleur der Berufsgenossenschaft hinausgeht, wieder irgendeine Schutzvorrichtung weggenommen wird. Darüber ist zu sprechen.
In all diesen Fällen hilft es daher nicht, wenn noch immer weitere Arbeitsschutzvorschriften aufgepfropft werden. Deshalb warne ich vor einem Überziehen von Regelungen, die dann in der Praxis leider Gottes nicht mehr eingehalten werden.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund, aber auch im Hinblick auf eine einigermaßen einheitliche europäische Basis beim Arbeitsschutz plädiere ich deshalb eindringlich dafür, bei der Schaffung dieses Arbeitsschutzrahmengesetzes nicht mehr zu tun, als die europäischen Richtlinien lediglich um bereits bestehendes deutsches Arbeitsschutzrecht zu ergänzen. Alles, was darüber hinaus aufgepfropft wird, wird auch die Wettbewerbsfähigkeit und damit den Standort Deutschland berühren.
Dies veranlaßt den Abgeordneten Hans Büttner, eine Frage zu stellen.
Das habe ich auch nicht anders erwartet, Herr Präsident.
Bitte sehr.
Herr Kollege Ramsauer, würden Sie es angesichts der Tatsache, daß die berufsbedingten Unfälle und Erkrankungen, wie es Herr Staatssekretär Günther vorhin schon erwähnt hat, im Jahr allein fast 90 Milliarden DM volkswirtschaftliche Kosten verursachen, nicht für dringend notwendig halten, mehr und mehr integriert im Gesundheitsschutz zu tun, weil diese Kosten mehr ausmachen als all das, was im Bereich der Selbstbeteiligung und bei anderen Fragen vorgesehen ist, etwa der Pflegeversicherung? Glauben Sie nicht, daß es lohnt, alles daranzusetzen, und zwar nicht nur im Interesse der Menschen, sondern vor allem auch im
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18316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Hans Büttner
Interesse der volkswirtschaftlichen Kosten, diese Belastungen zu verringern?
Herr Kollege Büttner, ich habe ja vorhin schon gesagt, daß viele Arbeitsschutzvorschriften bereits heute überzogen sind. Sie wissen genausogut wie ich, daß die sechs oder sieben EU-Mitgliedsländer, die die Rahmenrichtlinie bereits umgesetzt haben, nichts anderes getan haben, als die Richtlinie in ihre eigene Sprache zu übersetzen. Wir müssen, wenn wir uns mit der Umsetzung in deutsches Recht auseinandersetzen, schon berücksichtigen, was die anderen Länder tun, nicht zuletzt im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Die Kosten, die Sie angesprochen haben, sind natürlich zu hoch. Das ist ganz klar; das gestehe ich ein. Aber ich sage noch einmal und unterstreiche: Ich gehe auch auf Grund meiner eigenen beruflichen Erfahrung — wenn Sie mit Leuten, die in Betrieben tätig sind, und auch mit Arbeitsschutzbeauftragten in den Betrieben reden, wird das deutlich — davon aus, daß die allermeisten Unfälle in den Betrieben nicht zu passieren bräuchten, wenn die bestehenden Arbeitsschutzvorschriften korrekt eingehalten würden.
Ich betrachte die Frage damit als beantwortet. Die Uhr kann weiterlaufen.
Ich hoffe, daß der Fragesteller das ähnlich sieht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auch einige Beispiele dafür geben, wo am Gesetzentwurf gehobelt werden muß.
Beispielsweise können die in § 11 vorgesehenen Dokumentationspflichten in unnötige zusätzliche Bürokratie ausarten, die letztlich in keiner Weise sachdienlich ist. Daneben nimmt der Gesetzentwurf an mehreren Stellen nicht auf die besonderen Belange kleiner und mittlerer Unternehmen Rücksicht. Demgegenüber enthält die europäische Rahmenrichtlinie an mehreren Stellen ausdrücklich Klauseln für mittelständische Unternehmen. Daran sollten wir uns halten.
Meine Damen und Herren, es geht mir gegen meinen politischen Strich, daß für die Durchführung des Gesetzes Mehraufwendungen beim Bund durch diverse Ausführungsbehörden entstehen. Eine weitere personelle Aufstockung der Ausführungsbehörden wird vom BMA für unumgänglich gehalten. Ich sage dagegen: Weitere Aufstockungen im öffentlichen Dienst können wir uns nicht leisten, wenn nicht nachgewiesenermaßen an anderer Stelle des öffentlichen Dienstes entsprechend abgebaut wird.
Meine Damen und Herren, für mich ist es in diesem Zusammenhang nicht begreiflich, daß den beiden Bundesanstalten, der für Arbeitsschutz einerseits und der für Arbeitsmedizin andererseits, noch zusätzliche Aufgaben aufgebürdet werden sollen. Das Gegenteil sollte meines Erachtens der Fall sein, und es sollte sogar — dies betone ich — intensiv geprüft werden, ob
nicht diese beiden Bundesanstalten gänzlich abgeschafft werden können.
— Herr Kollege Reimann, hören Sie mir doch zu; wir können ja im Ausschuß dann darüber sprechen.
Möglicherweise werden sehr viele Aufgaben im Bereich des Arbeitsschutzes heute schon von den vielen am Arbeitsschutz beteiligten Behörden, Organisationen, Unfallversicherungsträgern usw. doppelt und dreifach erledigt, so daß eine Straffung ohne weiteres möglich wäre. Manche Aufgaben dieser Bundesbehörden könnten vielleicht zusätzlich auf die Träger der Unfallversicherung übertragen, manche Aufgaben vielleicht auch gänzlich privatisiert werden. Auch in diesem Bereich gibt es für mich keine Tabus, und entsprechende Fragen muß man stellen dürfen.
Meine Damen und Herren, soweit die Wirtschaft betroffen ist, erwartet die Begründung des Gesetzentwurfs zwar keine nennenswerten zusätzlichen Kostenbelastungen. Angesichts der erheblichen, bürokratisch bedingten Kosten in den Unternehmen können wir jedoch auch geringfügige zusätzliche Kostenbelastungen nicht hinnehmen. All dies muß im Ausschuß noch einmal grundsätzlich beleuchtet werden.
Meine Damen und Herren, auch die Arbeitsschutzrahmenrichtlinie und die auf ihrer Basis erlassenen Einzelrichtlinien, die nun auch in deutsches Recht als Verordnungen der Bundesregierung umgesetzt werden sollen, müssen wir uns sehr genau ansehen, denn sie enthalten eine Reihe von vollkommen überzogenen Vorschriften, die in der Praxis nicht umgesetzt werden können, beispielsweise die sogenannte Lastenhandhabungsverordnung, die es nicht zuläßt, daß öfter als nur gelegentlich Lasten von zehn Kilo gehoben werden. Dies würde eine ganze Reihe von Tätigkeiten, beispielsweise im Baugewerbe oder in der Mühlenwirtschaft, aus der ich komme, vollkommen zum Erliegen bringen. Dies ist praxisferner Unfug; das sollten wir uns nicht leisten.
Insgesamt, meine Damen und Herren, stellt dieser Gesetzentwurf jedoch eine sehr gute Grundlage dar, um die europäischen Richtlinien in deutsches Recht umzusetzen. Wir sollten uns, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, zusammensetzen und gemeinschaftlich versuchen, ein gutes, neues Gesetzeswerk zustande zu bringen.
Ich bedanke mich.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Zeit wird im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung das neue Arbeitszeitrechtsgesetz beraten. Es ist zu befürchten, daß es trotz enormer Proteste gegen diesen neuen Akt der Dere-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18317
Petra Blässgulierung per Koalitionsmehrheit durchgepeitscht wird.Eigentlich wird damit die Arbeit an einem Arbeitsschutzrahmengesetz fast überflüssig. Denn was dort bereits an weiterer Flexibilisierung von Arbeit und an Abbau von Schutzrechten vorgesehen ist, wird teilweise zu unverantwortlichen Belastungen der abhängig Beschäftigten führen. — In meinem Büro stapeln sich jedenfalls Protestbriefe von Betroffenen. — Ich erinnere nur an die Möglichkeit, den Beschäftigten über Monate die 60-Stunden-Woche zu verordnen, Ausnahmen von Sonn- und Feiertagsruhe allein aus wirtschaftlichen Erwägungen festzulegen, ganz zu schweigen von Verschärfungen der Nachtarbeit.Zum vorgelegten Gesetzentwurf, zum Arbeitsschutzrahmengesetz: Zunächst finde ich es begrüßenswert, daß damit der Versuch gemacht wird, Arbeitsschutzvorschriften, die teilweise dem vergangenen Jahrhundert entlehnt und fortschrittshemmend sind, zu reformieren und in einem Regelwerk zusammenzufassen. Dies erleichtert die Mitwirkungsmöglichkeit der Betroffenen und die Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften, wobei genau auf dieser Ebene meine Hauptkritik liegt. Ich finde es notwendig, daß Beschäftigte und ihre Vertretungen im Betrieb ein wirkliches Mitbestimmungsrecht auf diesem Gebiet haben müssen. Die diesbezüglichen Regelungen sind mir zu unverbindlich. Ich halte es auch für erforderlich, daß die Beschäftigten bei Fragen des Arbeitsschutzes nicht nur unterrichtet werden müssen, sondern ihnen ein Initiativrecht eingeräumt wird, denn es geht vor allem um ihre Gesundheit.Besonders wichtig ist, daß die Verantwortung der Arbeitgeber für Arbeitsschutzmaßnahmen überhaupt aufgenommen wird. Doch genau diese Verantwortung wurde gegenüber dem ersten Referentenentwurf wieder aufgeweicht. Das Gesetz schließt jetzt wichtige Beschäftigtengruppen in den Arbeitsschutz ein, schließt allerdings — auch im Gegensatz zum ersten Entwurf — Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen und ihnen Gleichgestellte aus, was gerade auch deshalb besonders fatal ist, weil hier vorzugsweise Frauen betroffen sind, die ja bekanntermaßen deshalb Heimarbeit machen, weil sie Mehrfachverpflichtungen haben. Gerade sie zu schützen scheint mir eine wichtige Aufgabe zu sein.Zu begrüßen ist, daß die Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter die allgemeine Forderung nach „menschengerechter Gestaltung der Arbeit" gestellt werden. Doch dazu gehört meiner Auffassung nach auch die Berücksichtigung psychosozialer Faktoren im Arbeitsprozeß, die bisher gar nicht vorkommt.Ich denke abschließend, daß als Zwecksetzung des Gesetzes deutlicher noch Fragen der Prävention in den Vordergrund gestellt werden müssen. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sind durch die Verpflichtung des Arbeitgebers, Gefährdungsanalysen vorzunehmen, besser als jemals zuvor. Es kommt nur darauf an, sie zu nutzen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Paul Friedhoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der heutigen ersten Lesung zum Regierungsentwurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes greifen wir ein Thema auf, mit dem sich der Ausschuß für Arbeit und Soziales schon seit längerem beschäftigt.Auf Antrag der SPD-Fraktion haben wir bereits Ende 1992 eine Anhörung zum Thema Arbeitsschutz durchgeführt. Im Ergebnis hat sich gezeigt, daß der Arbeitsschutzstandard in der Bundesrepublik Deutschland sicherlich nicht niedrig ist. Er ist jedenfalls um einiges höher, als uns die SPD dies immer glauben machen wollte.Die Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes in Form des Arbeitsschutzrahmengesetzes steht nun auf der Tagesordnung. Zum einen erteilt der Einigungsvertrag den Auftrag, das öffentlich-rechtliche Arbeitsschutzrecht zu überarbeiten, vor allem aber müssen wir wieder einmal eine europäische Rahmenrichtlinie in verbindliches nationales Recht umsetzen.Meine Damen und Herren, ich will nicht verhehlen, daß wir Liberalen uns mit dem Gesetzentwurf ausgesprochen schwer tun. Dies hat vor allem folgende Gründe: Die Regelungsdichte des Entwurfs läuft den Bestrebungen der F.D.P. nach Entbürokratisierung und Deregulierung mit dem Ziel der Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland entschieden zuwider. Allein die umfangreichen Dokumentationspflichten, die der Gesetzentwurf dem Arbeitgeber auferlegt, dürften nicht nur für kleine und mittlere Unternehmen einige schier unlösbare Probleme mit sich bringen.Das ist noch nicht einmal alles. Der Gesetzentwurf ermächtigt auch noch zum Erlaß einer Vielzahl von Rechtsverordnungen, an denen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung schon fleißig strickt. Was da alles drin stehen wird, mit immensen Auswirkungen auf die Praxis, ist dem Parlament noch nicht bekannt.Meine Damen und Herren, insgesamt wird das Arbeitsschutzrahmengesetz eine Flut von Vorschriften nach sich ziehen, die den Arbeitsschutz von vorne bis hinten bürokratisch durchnormieren. Das ist sicher nicht das, was wir Liberalen uns unter Deregulierung vorstellen. Und wenn der Bundesarbeitsminister uns sagt, das alles sei in der Richtlinie der Europäischen Union bereits vorgegeben, beginnen wir, uns allmählich zu fragen, was vom Arbeitsminister in Brüssel eigentlich so alles verhandelt wird.Ein weiteres Problem ist die Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes. Was die SPD in das ohnehin stark befrachtete Arbeitsschutzrahmengesetz noch alles hineinpacken will, wissen wir schon aus der vorangegangenen Anhörung. Sie fordert, wie die Länder, die Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches, in dem der Arbeitsschutz umfassend geregelt wird.
Die Forderung nach dem Arbeitsschutzgesetzbuch wird mit dem zersplitterten Arbeitsschutzrecht in der Bundesrepublik Deutschland gerechtfertigt.
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18318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994
Paul K. FriedhoffNatürlich ist das Arbeitsschutzrecht kompliziert und zersplittert. Es muß ja auch eine unendliche Vielfalt sehr unterschiedlicher Arbeitsplätze abdecken, die naturgemäß auch mit sehr unterschiedlichen Gefahren verbunden sind.Meine Damen und Herren, Folge der Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches wäre die grundsätzliche Zustimmungsbedürftigkeit maßgeblicher Regelungen zum Arbeitsschutzrecht im Bundesrat. Eine eventuelle spätere Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes wäre beispielsweise nur noch mit Zustimmung der Länder zu machen. Bei der gegenwärtigen politischen Konstellation kann man sich gut vorstellen, was das hieße. Die Schaffung des Arbeitsschutzgesetzbuches führt damit zu einer nicht unerheblichen Schmälerung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Bereich Arbeitsschutz.Meine Damen und Herren, in die gleiche Richtung geht der Wunsch der Bundesländer und auch der SPD
nach vorrangiger Gesetzgebungskompetenz vor der Rechtsetzungsbefugnis der Berufsgenossenschaften.
Im Gesetzentwurf des Arbeitsschutzrahmengesetzes sind vorgesehene Verordnungsermächtigungen mit einer Subsidiaritätsklausel zugunsten von Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften verbunden. Das wollen die Länder genau andersherum. Sie reklamieren für sich selbst zuerst die Verordnungskompetenz vor den Berufsgenossenschaften. Auch dies wird mit der F.D.P., die immer für die Stärkung des dualen Arbeitsschutzsystems eingetreten ist, weil es sich bewährt hat, nicht zu machen sein.Meine Damen und Herren, unsere Bedenken gegen den vorliegenden Gesetzentwurf wiegen besonders im Hinblick auf die weitere Behandlung im Bundesrat schwer. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren darauf besonders achten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6752 und 12/6429 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, daß das Arbeitsschutzrahmengesetz auf Drucksache 12/6752 zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? — Widerspruch erhebt sich nicht. Damit ist die Überweisung beschlossen, meine Damen und Herren.
Damit sind wir am Ende unserer Tagesordnung. Ich möchte es nicht versäumen, mich bei denjenigen zu bedanken, die bis zum Schluß hiergeblieben sind, und Ihnen ein erholsames und ärgerfreies Wochenende wünschen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 2. März 1994, 13 Uhr
ein..
Die Sitzung ist geschlossen.