Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettsitzung mitgeteilt: erstens Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Unterstützung der Reformprozesse in den Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas sowie in den neuen unabhängigen Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion und zweitens Bericht der Bundesregierung über die Zusammenarbeit mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den mittel- und osteuropäischen Staaten in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr. Klaus Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat heute morgen die Antwort auf die Große Anfrage betreffend die „Unterstützung der Reformprozesse in den Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas sowie in den neuen unabhängigen Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion" behandelt.Die Antwort zeigt, daß nach den großen Veränderungen der letzten Jahre, dem Ende des Ost-West-Gegensatzes und dem Umbruch in Mittel- und Osteuropa die Zeit für eine Bestandsaufnahme gekommen ist. Wir begrüßen deshalb die Chance, die die Beantwortung der Anfrage gibt, zu diesem neuen Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik Stellung zu nehmen.Die Fülle der Detailfragen, die sehr dezidiert gestellt worden sind, erforderte ebenso eine Fülle von Detailantworten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß bisher keine abrufbaren Daten in breiterem Umfang für die Antwort zur Verfügung standen, so daß relativ viel Zeit aufgewendet werden mußte, um zu dieser umfangreichen Antwort zu kommen.Mit den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa ist der Bundesrepublik Deutschland eine große Aufgabe zugewachsen, nämlich unser Interesse an dauerhafter Stabilität und enger Zusammenarbeit in Europa in tatkräftige Hilfe bei der Bewältigung der zahlreichen praktischen Probleme, die im politischen und wirtschaftlichen Reformprozeß gelöst werden müssen, umzusetzen.Wir haben heute morgen bei der Debatte im Kabinett die Auffassung vertreten, daß es sehr begrüßenswert wäre, wenn das Parlament, wenn der Bundestag sich möglichst bald ausführlich mit dieser Gesamtthematik befaßte. Wenn Sie mir erlauben, würde ich diese Anregung geben wollen.Die Antwort auf die Große Anfrage gibt einen guten Überblick über die gesamte Thematik. Ich will kurz etwas zu den wichtigsten Bereichen sagen.Im ersten Teil der Antwort wird die aktuelle politische Entwicklung in den Ländern Mittel- und Osteuropas beschrieben, insbesondere der Fortgang der innerpolitischen Reformen, die wirtschaftliche Lage und der Stand der Entwicklung hin zur Marktwirtschaft, mögliche Spannungs- und Konfliktherde, die sicherheitspolitische Lage, Umweltschäden, die Situation nationaler Minderheiten — auch der deutschen — sowie aktuelle und potentielle Wanderungsbewegungen.Der zweite Teil der Antwort ist den Fragen der gesamteuropäischen Sicherheit und Zusammenarbeit gewidmet und stellt die Beiträge von NATO und KSZE sowie die möglichen Rollen der Europäischen Union, der WEU und des Europarates dar. Ein Kernpunkt auch für unsere künftige Politik ist die Heranführung unserer östlichen Partnerstaaten an die Europäische Union.Der dritte Teil geht auf die bilateralen Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik ein, während der letzte Teil die multilaterale Unterstützung der Reformen darstellt. Hierzu nur soviel: Über die detaillierte Beschreibung unserer bilateralen Hilfen und der bisherigen multilateralen Zusammenarbeit hinaus muß klar sein, daß wir uns weiter dringend bemühen müssen, unsere umfangreiche Hilfe im Sinne einer internationalen Lastenteilung stärker durch multilaterale Hilfe zu ergänzen.
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16192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Bundesminister Dr. Klaus KinkelInsgesamt gibt die Antwort auf die Große Anfrage einen guten Überblick über die bisherige Entwicklung in diesen Ländern und über die beachtlichen bilateralen und multilateralen Leistungen der Bundesrepublik zur Förderung der Reformen und zur Stabilisierung der Lage in Mittel- und Osteuropa.Vielleicht ist in diesem Zusammenhang der abschließende Hinweis interessant, daß wir rund 37 Milliarden DM in die mittel- und osteuropäischen Länder gegeben haben und daß allein über 80 Milliarden DM in die GUS-Staaten geflossen sind. Ich finde, daß wir damit unser Licht wahrhaftig nicht unter den Scheffel zu stellen brauchen, sondern daß wir in ganz besonderer Weise gezeigt haben, daß wir Verantwortung für die Umbruchländer übernehmen wollen.Vielen Dank.
Danke, Herr Minister. Als erster Klaus Francke.
Frau Präsidentin! Herr Minister, ich teile Ihre Auffassung, daß möglichst bald eine Debatte über die Anfrage und die Antwort hier im Hause stattfinden soll, zumal es, wie Sie richtig festgestellt haben, im zentralen Interesse nicht nur unseres Landes, sondern der Gemeinschaft liegt, daß wir die Anstrengungen fortsetzen, die wirtschaftliche und soziale Stabilisierung als Voraussetzung für die Fortsetzung des Demokratisierungsprozesses weiterhin zu unterstützen.
Ich würde Ihnen im Hinblick auf das, was Sie gesagt haben, zwei Fragen stellen wollen. Die erste: Teilt die Bundesregierung die in letzter Zeit wiederholt geäußerte Auffassung, daß die Gemeinschaft zunächst eine Antwort auf die von diesen Ländern gestellte Sicherheitsfrage geben sollte und daß erst danach die Integration in die Wirtschaftsunion erfolgen sollte?
Wenn die Frau Präsidentin gestattet, würde ich die zweite Frage gleich im Anschluß daran stellen wollen.
Ich glaube, es wäre einfacher, wir ließen zunächst die erste Frage beantworten.
Gut.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Nein, die Bundesregierung glaubt nicht, daß es da eine Reihenfolge geben sollte. Wir müssen vielmehr versuchen, die Umbruchländer in ihren politischen und wirtschaftlichen Bereichen möglichst schnell an die Europäische Gemeinschaft heranzuführen und sie dort, wo es möglich ist, in die Gemeinschaft hineinzuführen.
Daneben müssen wir versuchen, den Sicherheitsbedürfnissen dieser Länder zu entsprechen, indem wir versuchen, sie über den NATO-Kooperationsrat an die NATO heranzuführen oder in die NATO hineinzuführen. Das wird Aufgabe des Gipfels am 10. Januar 1994 sein. Ich gehe davon aus, daß dort ein grundsätzliches Zeichen gesetzt wird, was die mögliche sicherheitspolitische Eingliederung anbelangt. Im übrigen laufen ja die Assoziierungsverfahren für diese Länder mit dem Ziel der Heranführung an die Gemeinschaft.
Zweite Frage.
Herr Minister, welchen Stand haben die Ratifizierungsverfahren der Assoziierungsverträge mit den einzelnen Staaten in der angesprochenen Region, bzw. wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Stand der Verhandlungen mit den baltischen Staaten über den Abschluß der Freihandelsverträge?
Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen im Augenblick nicht den jeweiligen einzelnen Stand sagen. Ich verweise darauf, daß jedenfalls seitens der Gemeinschaft und bilateral durch uns alles dafür geschieht, daß die Assoziierungen bzw. die Heranführungen so schnell wie möglich geschehen. Die Stände sind zum Teil unterschiedlich, weil es natürlich auch unterschiedliche Probleme in den einzelnen Ländern gibt. Es gibt ein paar Länder — ich nenne sie bewußt nicht —, die sind relativ weit fortgeschritten, auch in den Voraussetzungen für die Assoziierung bzw. sogar für die noch nähere Heranführung an die Gemeinschaft. Es gibt ein paar andere Länder, die haben Probleme. Es gab in den letzten Tagen ein paar Schwierigkeiten beim Nennen einzelner Länder. Deshalb will ich das hier, wie Sie bitte verstehen mögen, nicht tun.
Kollege Karsten Voigt.
Ich habe eine Frage, die an einen Dialog anknüpft, den wir heute morgen in einem anderen Zusammenhang bereits hatten. Wir gehen davon aus, daß wir alle ein Interesse an einer engen Kooperation mit einem demokratischen Rußland haben. Aber auf Grund einiger Pressemeldungen heute morgen konnte der Eindruck entstehen, als ob die Bundesregierung bei einem Beitrittswunsch unserer unmittelbaren östlichen Nachbarn Rußland möglicherweise ein Vetorecht gegenüber diesem Wunsch nach Mitgliedschaft in der NATO einräumen würde.
Ich wollte fragen, ob dies zutrifft, und gleichzeitig wissen, ob das Ausmaß an sicherheitspolitischer und außenpolitischer Kooperation und Integration, das wir mit unseren unmittelbaren östlichen Nachbarn wie Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn usw. zu vereinbaren bereit sind, tiefer sein kann, mehr sein kann als das Ausmaß an Kooperation mit Rußland oder ob Rußland der Maßstab der Kooperation und Integration sein muß.
Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe gestern vor der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg eine Rede gehalten, in der ich versucht habe, aus der Sicht der Bundesregierung die notwendige Sicherheitsarchitektur, die wir nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung neu errichten müssen, zu skizzieren. Ich habe in dieser
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16193
Bundesminister Dr. Klaus KinkelRede zu der Frage Stellung genommen, wie man sich die Heranführung der Umbruchländer über den NATO-Kooperationsrat an die NATO bzw. die Hereinführung in die NATO vorstellen kann. Ich habe versucht darzustellen, wie ich mir vorstellen könnte, daß das geschieht.Die Rede gibt in gar keiner Weise her, was vielleicht irgend jemand in der Presse heute herausgelesen haben mag, nämlich daß ich Rußland da ein irgendwie geartetes Vetorecht einräumen möchte oder daß die Bundesregierung das vorhätte. Das kann natürlich nicht der Fall sein. Richtig ist, daß wir, wenn wir das Sicherheitsbedürfnis dieser Länder befriedigen wollen, darauf Rücksicht nehmen müssen, daß nicht neue Brüche entstehen, beispielsweise gegenüber Rußland, beispielsweise gegenüber der Ukraine. Das heißt, es ist hohe Sensibilität bei dem, was wir da vornehmen müssen und vornehmen wollen, angesagt.Es wird sicher so sein, daß wir uns bei den Ländern Mittel- und Osteuropas, an die wir denken, wenn es um ihre Sicherheitsbedürfnisse geht, und die wir heran- bzw. eventuell in die NATO hereinführen wollen, zunächst einmal an Vereinbarungen halten werden. Das sind jedenfalls die bisherigen Pläne. Das Endgültige wird der Gipfel festzulegen haben. Man wird sich dann überlegen müssen, wie man beispielsweise dem Sicherheitsbedürfnis Rußlands oder der Ukraine durch eine andere Vernetzung gerecht wird. Das sind aber Dinge, die im Augenblick endgültig noch nicht feststehen.
— Das muß nicht die gleiche sein und wird wahrscheinlich nicht die gleiche sein können.
Frau Abgeordnete Dr. Wilms.
Herr Bundesminister, Sie ließen in Ihrem Bericht über die Kabinettsitzung und über die Beantwortung durchblicken, daß auch das Thema der Minderheiten behandelt worden ist. Vielleicht können Sie uns schon heute sagen, wie die Bundesregierung die Fortsetzung der Bemühungen zur Schaffung einer europäischen Konvention über Minderheiten beurteilt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wird von uns positiv beurteilt. In der Antwort, die ich schon aus Zeitgründen jetzt natürlich nicht im einzelnen wiedergeben kann, ist auf die Minderheitenfrage in den einzelnen Ländern intensiv eingegangen worden. Dies trifft auch für den Fragenkreis zu, den Sie ansprechen. Im übrigen verweise ich auf den Balladur-Plan, der sich die Minderheitenproblematik zum besonderen Ziel gesetzt hat, den wir Deutsche unterstützen und der sicher auch in die Sicherheitsarchitektur, in das Gesamtkonzept dessen, was wir schaffen wollen, mit Eingang finden wird. Die Minderheitenfrage wird also von der Bundesregierung sehr ernst genommen. Sie spielt in einigen der betroffenen Länder eine große Rolle. Denken Sie an Ungarn, denken Sie an die Slowakei und an manche andere
Länder. Natürlich geht es dort vor allem auch um deutsche Minderheiten, um die wir uns in besonderer Weise weiterhin bemühen wollen.
Herr Weisskirchen.
Herr Minister, diese Vorgänge, die wir auf Grund der Großen Anfrage und der anderen begleitenden parlamentarischen Aktivitäten jetzt im Parlament behandeln, haben als einen ganz wesentlichen Punkt zum Gegenstand, wie die Umbruchsphasen innerhalb der neuen Staaten der ehemaligen Sowjetunion von uns begleitet werden können und inwiefern es gelingen kann, die Demokratien in diesen neuen Staaten von innen und von unten her zu stabilisieren. Das wird auch wohl einer der zentralen Punkte sein, wie die künftige Entwicklung in diesen Staaten ablaufen wird. Sehen Sie andere als bisherige Möglichkeiten, z. B. einen internen Ausgleich der neuen zivilen Bürgergesellschaften von uns aus stärker zu unterstützen? Was kann außenpolitisch geschehen, z. B. durch eine neue sicherheitspolitische Konstellation und Architektur, um diese wechselweisen Prozesse von innen und von außen zu unterstützen und zu fördern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir müssen ein Rieseninteresse daran haben, daß die Entwicklungen hin zu rechtsstaatlichen, demokratischen, marktwirtschaftlichen Strukturen in diesen Ländern möglichst schnell vorangehen und vor allem unumkehrbar werden. Ich erinnere an ein paar Ereignisse in der letzten Zeit, die nicht nur bei uns vielen den Atem stocken ließen. Der Fortschritt hin zu rechtsstaatlichen, demokratischen, marktwirtschaftlichen Strukturen ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Das ergibt sich sehr genau aus der Antwort auf die Große Anfrage. Die Art und Weise, wie man helfen kann, ist durchaus auch unterschiedlich. Das läßt sich nicht über einen Kamm scheren. In einigen Ländern ist es einfacher, in anderen Ländern, wo die Dimensionen anders sind, ist es schwieriger. Es ist ein Grundprinzip der Bundesregierung, daß wir versuchen, natürlich diese Prozesse zu unterstützen, weil ohne rechtsstaatliche Strukturen — das war heute morgen ausführlicher Gegenstand der Gespräche im Kabinett — natürlich alles andere sich nicht entwikkeln und auch nicht funktionieren kann. Marktwirtschaftliche Strukturen bauen nun einmal auf Privatisierung auf, die dazu zwingend notwendig ist. Das ist eines der ganz wesentlichen Grundelemente.Das, was Sie angesprochen haben, läßt sich pauschal und generell nicht beantworten. Wenn Sie mich pauschal fragen und ich pauschal antworten darf, dann sage ich: Ja, wir versuchen das, was Sie angeschnitten haben. Aber ich kann in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht auf Einzelmaßnahmen eingehen. Ich würde das sehr gerne tun, weil das eine Materie ist, die ich, solange ich Justizminister war, sehr stark betrieben habe, beispielsweise durch die Stiftung zur Hilfe beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in diesen Ländern, die wir eingerichtet haben. Das ist eine ganz wesentliche Einrichtung, für die ich im übrigen noch einmal die finanzielle Unterstützung des
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16194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Bundesminister Dr. Klaus KinkelParlaments über den Haushaltsausschuß sehr herzlich erbitte.
Herr Weisskirchen, Sie möchten eine weitere Frage stellen? Es sind noch eine Menge von Wortmeldungen vorhanden. Wenn es in diesen Bereich hineingeht, dann bitte ich, daß das an einem anderen Ort gemacht wird. Aber wenn es nur eine kurze Informationsfrage ist, dann können wir das hier noch erledigen.
In all diesen Ländern stehen in unterschiedlicher Form Wahlen an: Welche Chancen und Möglichkeiten sehen Sie über das, was bisher gemacht worden ist, hinaus, die demokratischen, jungen, neuen parlamentarischen Gruppierungen zu unterstützen und Parteien zu fördern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie wissen, Herr Abgeordneter, daß wir Parteien und Gruppierungen nicht direkt mit finanziellen Mitteln der Bundesregierung unterstützen können. Was dort geschehen kann, muß über die Stiftungen geschehen,und wenn ich die Lage richtig sehe, geschieht dies auch.
Im übrigen weise ich darauf hin, daß wir durch Wahlbeobachtungen und durch den Hinweis auf unser Interesse an demokratischen Abläufen der Wahlen alles, was möglich ist, tun. Wir haben beim Gipfel in Brüssel gerade beschlossen — dies wurde in der Ratssitzung am Montag noch einmal erneuert —, daß die Europäer eine Delegation nach Rußland zur Beobachtung der Wahl schicken werden. Das wird eine gemischt zusammengesetzte Delegation sein, und dies ist verbunden mit der herzlichen Bitte, daß sich auch der Deutsche Bundestag daran beteiligt. Das sind Einzelmaßnahmen, mit denen wir helfen können und helfen wollen.
Herr Schmidt.
Herr Bundesminister, welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung in der Perspektive der europäischen Integration, d. h. durch die Assoziierung insbesondere von Polen, der Tschechischen, aber auch der Slowakischen Republik mit der Europäischen Union, die in unseren bilateralen Vertragswerken als offen bezeichneten Fragen, insbesondere die Frage des Niederlassungsrechts, aber auch andere bilaterale Fragen in bezug auf Vermögensregelungen etc., einer Diskussion und möglicherweise einer Klärung zuzuführen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich muß ganz offen sagen, Herr Abgeordneter: Ich glaube nicht, daß es möglich ist, ungelöste Fragen, die sich aus dem bilateralen Verhältnis ergeben, in Assoziierungs- oder sonstige Verhandlungen mit diesen Ländern einzubringen. Ich glaube, das sollten wir nicht tun. Das würde die Situation belasten.
Im übrigen haben wir genügend zu tun mit den Erweiterungsverhandlungen der Gemeinschaft in bezug auf die vier EFTA-Länder.
Natürlich haben wir auch Probleme bei den Assoziierungsverhandlungen mit den anderen Ländern.
Ich finde, wir sollten sie nicht noch durch bilaterale Fragen, die zweifellos geklärt werden müssen — aber eben bilateral —, belasten.
Herr Erler.
Herr Außenminister, die Große Anfrage nimmt auch Bezug auf Tendenzen in Osteuropa und in den GUS-Staaten, sich zunehmend distanziert zu den Hilfsangeboten im Bereich der technischen Hilfe und der Beratungshilfe des Westens zu verhalten und immer stärker auf eine Öffnung des EG-Marktes und auf eine Verstärkung der Handelsbeziehungen zu drängen. Was können Sie dem Hohen Haus dazu sagen? Was ist die Bundesregierung zu tun bereit, z. B. auch angesichts der tragischen Verzögerung der Inkraftsetzung des Interimsabkommens mit Bulgarien? Damit ist ein besonders kleines und schwaches Land von diesen Möglichkeiten der Interimsabkommen abgekoppelt.
Ich beziehe mich auch darauf, daß Sie zusammen mit Ihren Kollegen am letzten Dienstag der EG-Kommission den Auftrag gegeben haben, das Partnerschaftsabkommen mit der Russischen Föderation möglichst noch vor dem 12. Dezember fertigzustellen, und dort auch von einer Erweiterung des Zutritts zu dem europäischen Markt gesprochen haben. Was wird das im einzelnen bedeuten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind grundsätzlich an einer Öffnung der Märkte interessiert. Wir möchten, daß Grenzen auf wirtschaftlichem Gebiet abgebaut werden. Was Sie angesprochen haben, hat am Montag in der Tat eine große Rolle gespielt. Es gab eine sehr lange Diskussion, was diesen Vertrag mit Rußland anbelangt.Natürlich hat da jedes einzelne Land der Gemeinschaft seine eigenen Interessen. Ich mußte, z. B. auch in bezug auf die Kohlepolitik, dem zuständigen Kommissar Sir Leon Brittan mit auf den Weg geben, daß wir nicht mit allem, was hinsichtlich der Öffnung seitens der EG vereinbart worden ist, einverstanden sind. Aber wir haben in bezug auf Rußland ein erweitertes Mandat erteilt. Der Grundsatz muß sein und bleiben -- das liegt auch in deutschem Interesse —, daß wir die Grenzen der Märkte öffnen, daß wir, soweit nur irgend möglich, freien Marktzugang sicherstellen. Das ist unsere PolitikAber ich muß noch einmal sagen: Es gibt bestimmte nationale Interessen, die wir wahrnehmen müssen. Dabei sind wir nicht allein; das tun andere Länder auch. Wenn Sie am Montag dabeigewesen wären, hätten Sie gesehen, daß einige Länder in ganz wichtigen Bereichen ihre nationalen Vorbehalte angemeldet haben, und zwar sehr massiv. Das kann wohl auch nicht anders sein. Beispielsweise müssen wir die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16195
Bundesminister Dr. Klaus KinkelBeschäftigungssituation an den Problemen der Arbeitslosigkeit und dem, was wir insgesamt hier im Augenblick national zu bewältigen haben, messen.Man muß das also austariert und vernünftig mit dem Grundansatz, den ich geschildert habe, angehen. Aber wir müssen auch unsere nationalen Interessen berücksichtigen.
Zusatzfrage.
Herr Außenminister, befürwortet die Bundesregierung die von den Empfängerländern immer wieder geforderte beschleunigte Veränderung der Mengenbegrenzungen in den Assoziationsabkommen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das kann ich grundsätzlich so nicht bejahen. Ich kann nur sagen: Wir sind aufgeschlossen für diese Wünsche. Aber ich kann und will hier keine pauschale Antwort geben, und zwar einfach deshalb nicht, weil ich — ich sage es noch einmal — am vergangenen Montag gemerkt habe, wie schwierig das im einzelnen ist.
Ich lasse mir jetzt nicht eine pauschale Antwort zu diesem Fragenkreis abringen bitte verstehen Sie das —, aber ich sage Ihnen zu — damit nicht der Eindruck entsteht, ich würde kneifen —, daß ich Ihnen eine ins einzelne gehende schriftliche Antwort auf die Frage zukommen lasse, wenn Sie einverstanden sind.
Danke. Herr Abgeordneter Ulrich Irmer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Herr Minister, hat sich die Bundesregierung mit der Frage beschäftigt, wie man vor einer EG-Vollmitgliedschaft der assoziierten mittel- und osteuropäischen Länder schon politisch mehr tun kann, um diese Länder mit den EG-Institutionen zu verbinden? Ist z. B. daran gedacht, daß man im Ministerrat regelmäßig Vertreter dieser Länder zuzieht? Oder ist daran gedacht, daß vielleicht das Europäische Parlament Vertretern der Parlamente dieser Länder zumindest Beobachterstatus einräumt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Über diesen Fragenkreis ist nachgedacht worden, und es gibt ganz bestimmte Vorstellungen. Wir werden Vertreter dieser Länder in den Rat nicht hineinholen können -- das wird nicht gehen —, sondern es werden andere Formen der Beteiligung, der Heranziehung und der Information gesucht werden müssen. Es finden ja jetzt bereits, was den Rat anbelangt, Sonderbegegnungen statt.
Was das Parlament anbelangt, muß ich sagen, daß ich dazu nichts sagen kann. Sie sprachen ja vom Europäischen Parlament. Das ist nicht meine Sache; da möchte ich mich eigentlich nicht einmischen.
Herr Abgeordneter Volkmar Köhler.
Herr Minister, ich komme noch einmal auf den Problemkreis der Sicherheitsarchitektur zurück. Nach meinen Feststellungen sind verschiedene mittel- und osteuropäische Staaten vor allem an einer Annäherung an die NATO interessiert, um damit ein ausreichend kraftvolles politisches Netzwerk zu gewinnen, in dessen Rahmen die zahlreichen nationalen und ethnischen Spannungen besser beherrscht und geregelt werden können. Eine solche Tendenz würde also die Ausdehnung der NATO nicht zu so etwas wie einer feindseligen Vorverlegung der Ostgrenze der NATO in Richtung Rußland machen.
Halten Sie diese Perspektive gegenüber der russischen Regierung für vermittelbar?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich halte auch sie durchaus für vermittelbar. Ich möchte noch einmal sagen: Ich bin persönlich der Meinung, daß wir versuchen sollten, die Bedürfnisse dieser Länder auf wirtschaftlichem, politischem und sicherheitsmäßigem Gebiet — wenn es irgendwie geht — einigermaßen parallel und koordiniert zu befriedigen. Es war immer meine Meinung, daß, was beispielsweise die Sicherheitsbedürfnisse oder die Sonderinteressen, wie Sie sie geschildert haben, anbelangt, ein Heranführen an die NATO oder ein Eintritt in die NATO grundsätzlich und theoretisch möglich sein müßte, bevor beispielsweise ein Eintritt in die Europäische Gemeinschaft erfolgt. Dies müßte theoretisch und grundsätzlich möglich sein. Aber ich sage nicht, daß das der Normalfall sein wird. Der Normalfall wird anders sein, jedenfalls wenn es nach unseren Vorstellungen geht. Man wird versuchen müssen, das koordiniert und parallel zu betreiben. Ich könnte mir jedoch vorstellen — was Ihre Eingangsfrage anbelangt —, daß solche Interessen Rußland gegenüber durchaus vermittelbar sein müßten.
Kollege Freimut Duve.
Herr Außenminister, Sie erwähnten bei einer Antwort die Minderheitenfrage. Ich frage Sie: Gibt es jetzt mit den Partnern in Westeuropa eine gemeinsame, auch völkerrechtlich akzeptable und verbindliche Konzeption und einen verbindlichen Begriff der Minderheiten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt natürlich völkerrechtliche Grundvorstellungen in diesem Zusammenhang. Ich würde jedoch nicht sagen, daß es zwischen den Partnern eine irgendwie kodifizierte Abmachung zu diesem Fragenkreis gibt, aber es gibt ein gemeinsames Grundverständnis — ein gemeinsames Grundverständnis, bei dem einige Länder mehr, andere Länder keine Schwierigkeiten haben. Das muß man deutlich und klar sehen. Damit muß man in der Praxis fertigwerden.
Zusatzfrage.
Gab es bisher bei den Partnern im Osten, aber auch bei unseren Partnern im Westen Kritik an der Form der Koordination unserer bilateralen Hilfe für deutsche Minderheiten in Osteuropa?
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16196 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist mir jedenfalls nicht bekannt. Ich will das aber nicht ausschließen. Mir ist es im Augenblick nicht bekannt.
Die letzte Frage zu diesem Fragenkomplex hat der Kollege Herbert Werner.
Wir werden die Zeit noch ausfüllen, um die zwei freien Fragen auch noch zu beantworten.
Herr Bundesaußenminister, hat sich die Bundesregierung im Gesamtzusammenhang, insbesondere im Hinblick auf die Visegrad-Gruppe, die uns geopolitisch, aber auch was die Minderheiten anbelangt, besonders nahesteht, mit dem Problem der Intensivierung der kulturellen Zusammenarbeit befaßt, die wir auf den Weg gebracht haben? Das wäre Intensivierung auch und gerade zu finanziell schwierigen Zeiten, in denen wir uns bewegen müssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde so antworten: Wir waren und sind hoffentlich noch stolz darauf, daß wir nicht nur eine große Wirtschafts- und Industrienation sind, sondern auch eine große Kulturnation. Ich finde, wir sollten das bleiben wollen und dafür alle Anstrengungen unternehmen, die nur irgendwie möglich sind.
Ich bin unglücklich — ich nehme an, daß Sie es auch deshalb ansprechen —, daß ausgerechnet aus dem Kulturhaushalt des Auswärtigen Amtes bei den allgemeinen Sparmaßnahmen Mittel gestrichen werden mußten, die uns natürlich gerade in bezug auf den Fragenkreis, den Sie angesprochen haben, zusätzliche Probleme schaffen werden.
Wir erhalten durch die Umbrüche in diesen Ländern gewaltige Chancen für die deutsche Sprache und für die deutsche Kultur durch die Eröffnung von Goethe-Instituten und anderen Einrichtungen dieser Art. Diese müßten natürlich, wenn es finanziell möglich wäre, weit stärker vorangetrieben werden. Ich bin allerdings auf der anderen Seite nicht so lebensfremd, als daß ich nicht anerkennen würde, daß auch bei uns im Auswärtigen Amt im Kulturhaushalt, gespart werden muß.
Ich würde gern die Gelegenheit nutzen, Sie zu bitten, daß wir im nächsten Haushalt das, was wir diesmal wegstreichen mußten, wieder aufholen. Denn ich sehe, daß es ganz schlecht ankommt, wenn wir auf diesem Gebiet nicht versuchen, gerade den Ländern, die uns besonders nahestehen, unsere Kultur noch mehr zu vermitteln, vor allem aber auch unsere Sprache noch mehr zu verbreiten.
Danke, Herr Minister. Die erste freie Frage stellt Herr Dr. Penner.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Regelung über den Sockelbetrag bei der Parteienfinanzierung für verfassungswidrig erklärt. Ist die jetzt avisierte Degressionsregelung mit dieser Rechtsprechung vereinbar?
Darf ich fragen, wer für die Bundesregierung antwortet? Herr Staatssekretär Lintner!
Herr Kollege Dr. Penner, die abschließende Beratung darüber ist meines Wissens noch nicht erfolgt, so daß ich Ihnen kein fertiges Ergebnis mitteilen kann. Eine vorläufige Prüfung hat ergeben, daß die jetzt getroffene Regelung mit der Rechtsprechung vereinbar ist.
Zusatzfrage.
Darf ich das so verstehen, daß es dabei überhaupt keine Risiken gibt?
Risiken sind im Rechtsprechungsbereich nie auszuschließen.
Herr Koppelin.
Nachdem das Bundesverteidigungsministerium in Erklärungen mehrfach auf die große Bedeutung der Reise von Minister Rühe aufmerksam gemacht hat, darf ich fragen, ob Minister Rühe heute im Kabinett über seine Reise nach Thailand, Korea und Japan berichtet hat und ob das Kabinett die Meinung von Minister Rühe teilt, die er auf seiner Reise bekanntgemacht hat, nämlich zum einen, daß, wenn Deutschland einen Sitz im UN-Sicherheitsrat bekommt, wir uns mehr an UN-Aktionen beteiligen würden, und zweitens, daß der deutsche Waffenexport nach Südostasien erleichtert werden sollte. Ich hätte ganz gerne gewußt, ob die Bundesregierung diese Auffassung des Ministers teilt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Koppelin, über den ersten Teil Ihrer Frage ist im Kabinett heute nicht gesprochen worden. Es fehlt mir jetzt wirklich die Zeit, um auf die Fragen, die Sie gestellt haben, im einzelnen einzugehen. Unsere Rüstungsexportpolitik unterliegt ganz bestimmten Grundsätzen. Diese sind — ich sage es etwas pauschal — a) richtig, jedenfalls nach Meinung des Außenministers, und b) restriktiv.
Zusatzfrage, Herr Koppelin.
Herr Minister und gleichzeitig Herr Vizekanzler, darf ich Sie fragen, ob es üblich ist, daß das Kabinett über solche bedeutenden Reisen nichts erfährt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir hatten heute morgen sehr viele andere Fragenkreise zu besprechen. Es ist nicht üblich, daß über solche Reisen im Kabinett gesprochen wird,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16197
Bundesminister Dr. Klaus Kinkeles sei denn, es handelt sich um ganz außergewöhnliche Ereignisse.
Herr Gansel.
Herr Außenminister, meine Frage schließt an diesen Punkt an. Welche sicherheitspolitischen oder — wie man im Rahmen der neueren Reisetätigkeit von Herrn Rühe wohl fragen muß — außenpolitischen Interessen hat die Bundesrepublik Deutschland im Fernen Osten bei dieser Reise zu vertreten gehabt, und war das vor der Reise von Herrn Rühe mit Ihnen abgestimmt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich freue mich sehr, daß ich heute so gefragt bin. Die Fragen, die Sie jetzt an mich richten und die ich für die Bundesregierung beantworten muß, sollten Sie aber eher an den Kollegen Rühe richten. Er könnte sie im einzelnen wahrscheinlich besser beantworten.
Ich will jedenfalls sagen, daß wir in der asiatischen Region natürlich sicherheitspolitische Interessen haben. Denken Sie an Abrüstungs- oder an Rüstungsexportfragen. Wir haben dort natürlich Interessen. Ich gehe davon aus, daß Herr Rühe diese Interessen auch wahrgenommen hat.
— Doch, das paßt zusammen. Das ist leider Gottes der Spagat, den nicht nur die Bundesregierung, sondern jede Regierung machen muß, die für eine Wirtschafts-und Industrienation spricht. Wir müßten uns im einzelnen darüber unterhalten. Es ist so, daß Rüstungsexportpolitik für eine große Wirtschafts- und Industrienation notwendig ist. Das müßten Sie als jemand, der aus dem Norden kommt, in besonderer Weise verstehen. Auf der anderen Seite haben wir gewaltige Abrüstungsinteressen. Das läßt sich durchaus miteinander vereinbaren. Es ist manchmal allerdings ein nicht ganz einfacher Spagat, Herr Kollege Gansel. Das räume ich Ihnen ein.
Darf ich noch eine Zusatzfrage stellen? Das andere war ein Zwischenruf.
Wenn der Außenminister das zuläßt. Wir kommen zum Ende der Befragung der Bundesregierung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da ich so gefragt bin, möchte ich das auch gerne noch hören.
Herr Außenminister, kann ich Ihre Außerung so verstehen, daß sich die Bundesregierung im Rahmen ihrer abrüstungspolitischen Interessen im Fernen Osten damit beschäftigt, wie die Waffen, die im Rahmen des Rüstungsexports aus der Bundesrepublik dorthin geliefert worden sind, mit deutscher Hilfe abgerüstet werden können?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, so können und so dürfen Sie es nicht sehen.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesaußenminister. Ich beende die Befragung.
Wir kommen zum Punkt 3 der Tagesordnung:
Fragestunde
— Drucksache 12/6076 —
Ich beginne mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Forschung und Technologie. Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Hubert Hüppe werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich setze fort mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die Frage 5 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger.
Als erstes rufe ich die Frage 6 des Abgeordneten Hans Wallow auf:
Welche Nebentätigkeiten nach Art und Umfang haben Mitarbeiter des Ernst-Rodenwaldt-Instituts der Bundeswehr für die Firma UB-Plasma in Koblenz ausgeführt?
Herr Abgeordneter Wallow, die Erteilung von Nebentätigkeitsgenehmigungen für Angehörige der Bundeswehr ist in gesetzlichen und tarifrechtlichen Bestimmungen — z. B. im Soldatengesetz, im Bundesbeamtengesetz und im Bundes-Angestelltentarifvertrag — geregelt. Die Firma UB Plasma ist 1985 in das Handelsregister eingetragen worden. Seit dieser Zeit wurden nach derzeitigem Erkenntnisstand durch Dienststellen der Bundeswehr 14 Mitarbeitern des Zentralen Instituts des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Koblenz Genehmigungen zur Ausübung einer Nebentätigkeit bei der Firma UB Plasma erteilt. Von diesen Genehmigungen haben drei die Tätigkeit des Herstellungsleiters — in einem Fall — bzw. eines Kontrolleiters — in zwei Fällen — erlaubt. Die übrigen Genehmigungen wurden nach bisherigen Erkenntnissen für Labor- oder Laborhilfstätigkeiten ausgestellt.Im gleichen Zeitraum wurden nach den bisherigen Erkenntnissen sechsmal Laborproben der Firma UB Plasma im Ernst-Rodenwaldt-Institut untersucht. Für diese Untersuchungen zeichneten bis Februar 1991 die jeweiligen Leiter des Instituts und danach der Leiter des Fachbereichs Medizinische Mikrobiologie ebenfalls im Rahmen genehmigter Nebentätigkeiten verantwortlich.Ferner hat der Leiter des Fachbereichs Hygiene des Ernst-Rodenwaldt-Instituts Mitarbeiter der Firma UB Plasma in den Räumen der Firma betriebsärztlich untersucht. Diese ebenfalls genehmigte Nebentätigkeit erfolgte fallweise im Abstand von zwei bis drei Jahren und umfaßte sechs Personen.Im übrigen hat die Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung eine Kommission eingesetzt, die den Sachverhalt lückenlos aufklären soll. Erst danach kann entschieden werden, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen zu ziehen sind.
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16198 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Parl. Staatssekretärin Michaela GeigerVorerst ist dem auch in der Öffentlichkeit bereits erwähnten Regierungsdirektor, der bei der Firma UB Plasma seit 1. April 1986 die Tätigkeit des Kontrolleiters ausgeübt hat, die Ausübung des Dienstes untersagt worden.
Eine Zusatzfrage.
Wie viele Arbeitsstunden am Tag, in der Woche, im Monat haben die Mitarbeiter denn insgesamt für die Firma UB Plasma aufgewandt?
Herr Abgeordneter Wallow, ich bin gern bereit, Ihnen dies schriftlich mitzuteilen. Das kann ich Ihnen so nicht sagen.
Weitere Zusatzfrage.
Sind bei dieser Nebentätigkeit durch 13 oder 14 Mitarbeiter der Bundeswehr Einrichtungen des Instituts für Untersuchungen beispielsweise von Blut oder ähnlichem benutzt worden?
Ich bitte Sie, auf die Ergebnisse der Untersuchungskommission in unserem Hause zu warten. Wir teilen Ihnen das dann gern mit.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Frau Staatssekretärin, nachdem ich nun höre, daß 13 oder 14 Angehörige der Bundeswehr sozusagen in ihrer Freizeit —
Aber genehmigt!
— genehmigte Nebentätigkeiten bei dieser Firma ausgeübt haben, möchte ich Sie fragen: Wie ist der Anteil der in der Firma fest beschäftigten Mitarbeiter im Verhältnis zur Zahl derjenigen Mitarbeiter der Firma, die aus dem Bereich der Bundeswehr kommen und in der Firma Nebentätigkeiten ausüben? Ist Ihnen diese Relation bekannt? Wenn nicht, sind Sie bereit, uns das schriftlich mitzuteilen?
Herr Abgeordneter Gansel, ich teile Ihnen dies gern schriftlich mit.
Zusatzfrage, Frau Weyel.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten, Sie könnten keine genaue Auskunft über die Anzahl der Stunden geben. Aber es gibt doch wahrscheinlich eine Höchstgrenze für solche Nebentätigkeiten.
Ja, die gibt es sicherlich. Nach meinem derzeitigen Wissensstand wurde sie nicht überschritten. Aber ich bin gern bereit, das feststellen zu lassen.
Können Sie sagen, wo diese Grenze liegt?
Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.
Herr Fuhrmann.
Frau Staatssekretärin, können Sie uns sagen, wie viele Sanitätssoldaten insgesamt an dem erwähnten Ernst-Rodenwaldt-Institut in Koblenz, das von der Bundeswehr betrieben wird, tätig sind?
Das war schon Gegenstand einer vorhergehenden Frage; ich teile das schriftlich mit.
Nun rufe ich die Frage 7 des Abgeordneten Norbert Gansel auf:
Wird die Bundesregierung im Zusammenhang mit den Untersuchungen der Arbeitsgruppe „Aufwandsbegrenzung im Betrieb" noch in dieser Legislaturperiode Entscheidungen über die Zukunft der Marinearsenale in Kiel und in Wilhelmshaven treffen, und welche Sicherheits- und Interessenlagen im Ostseebzw. Nordseeraum werden dabei zugrunde gelegt?
Herr Abgeordneter Gansel, mit Einsetzungserlaß vom 19. März 1993 wurde die Arbeitsgruppe „Aufwandsbegrenzung im Betrieb" zur Untersuchung von Rationalisierungsmöglichkeiten im Betrieb der Bundeswehr eingesetzt. Dabei wird u. a. auch geprüft, ob sich durch die Verlegung von industrietypischen Instandsetzungsmaßnahmen in die gewerbliche Wirtschaft Rationalisierungseffekte in den Bereichen Heer, Luftwaffe und Marine ergeben können. Die Untersuchungen für das Marinearsenal haben am 7. Juni 1993 begonnen und sollen im Frühjahr 1994 abgeschlossen werden.Hinsichtlich des Marinearsenals untersucht die Arbeitsgruppe folgende vier Alternativen unter ausschließlich betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten:
erstens interne Betriebsoptimierung des Marinearsenals, zweitens Verlegung von Teilaufgaben der Arsenalbetriebe in die gewerbliche Wirtschaft, drittens vollständige Privatisierung der Arsenalbetriebe durch Betriebsgesellschaften und viertens Verlegung aller Aufgaben der Arsenalbetriebe in die gewerbliche Wirtschaft.Die Arbeitsgruppe „Aufwandsbegrenzung im Betrieb" hat in diesem Monat einen ersten Zwischenbericht fertiggestellt. Die Untersuchungen werden noch bis April 1994 weitergeführt. Derzeit ist daher keine abschließende Bewertung möglich, ob überhaupt oder ob noch in dieser Legislaturperiode grundsätzliche Entscheidungen über das Marinearsenal und seine Arsenalbetriebe Kiel und Wilhelmshaven erforderlich sind oder getroffen werden können.Sollten die Untersuchungen ergeben, daß eine Änderung der Aufgaben des Marinearsenals oder eine Privatisierung aus betriebswirtschaftlicher Sicht möglich ist, werden diese Ergebnisse in Verbindung mit Organisationsmaßnahmen der Marine und vor
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Parl. Staatssekretärin Michaela Geigerdem sicherheitspolitischen und dem allgemeinpolitischen Hintergrund geprüft und bewertet. Erst nach der organisatorischen, sicherheitspolitischen und allgemeinpolitischen Bewertung der betriebswirtschaftlichen Prüfungen kann über Folgemaßnahmen entschieden werden.
Herr Gansel.
Frau Präsidentin, vielleicht darf ich auch einmal sagen, daß ich mich dafür bedanke, daß die Antwort auf eine mündliche Frage sehr viel ausführlicher ist als die auf drei schriftliche Fragen, die ich in der vergangenen Woche eingereicht hatte.
Aber ich möchte an Ihre Bemerkung anschließen, daß dies eine Prüfung unter rein betriebswirtschaftlichen Aspekten ist. Wir haben im Rahmen der Regierungsbefragung soeben nach unseren Sicherheitsinteressen im Fernen Osten gefragt. Jetzt frage ich nach unseren Sicherheitsinteressen in der Ostsee. Denn die müssen doch geprüft, analysiert und bestimmt werden, bevor man über die Zukunft des Marinearsenals im Ostseeraum entscheidet, das Voraussetzung dafür ist, daß die Schiffseinheiten der Marine im Ostseeraum in jeder Situation voll einsatzfähig sind.
Herr Abgeordneter Gansel, selbstverständlich. Ich habe auch gesagt — wenn Sie genau zugehört haben, ist Ihnen das nicht entgangen —, daß es unter sicherheitspolitischen Erwägungen noch einmal überprüft wird. Aber Sie wissen ganz genau, daß unser Haushalt unter einem extremen Spardruck steht. Wir müssen also alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Einsparungen in unserem Haushalt vorzunehmen. Und wenn dies durch eine solche Maßnahme möglich wäre — wobei sicherheitspolitische Aspekte natürlich nicht zu kurz kommen dürften —, dann müssen wir diese Möglichkeit natürlich nutzen.
Zweite Zusatzfrage.
Da es im Marinearsenal unter den Beschäftigten viel Bereitschaft gibt, die Anpassungsprozesse mitzutragen, da es dort verständlicherweise aber auch ein Interesse gibt — das auch die Region teilt —, daß das Marinearsenal dort erhalten bleibt, frage ich Sie, ob Sie diese Bereitschaft und das Know-how der dort Beschäftigten in den Entscheidungsprozeß einführen wollen, so daß die dortigen Mitarbeiter an etwaigen Lösungen mehr beteiligt werden können, mehr mitarbeiten können, als das Personalvertretungsrecht dies zwingend vorschreibt.
Herr Abgeordneter Gansel, da die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind und die Gruppe mindestens noch bis April 1994 arbeitet, bin ich außerstande, Ihnen jetzt Details einer endgültigen Lösung zu nennen. Ich bitte Sie, noch ein wenig abzuwarten.
— Natürlich werden wir im Rahmen des Möglichen die Mitarbeiter beteiligen, und wir werden selbstverständlich versuchen, das Know-how zu erhalten. Das ist nicht nur beim Marinearsenal so. Das Problem ist bei anderen Rüstungsbetrieben ähnlich.
Herr Koppelin.
Frau Staatssekretärin, da Sie von einem Zwischenbericht sprachen, frage ich: Können wir erfahren, was in dem Zwischenbericht in bezug auf das Marinearsenal in Kiel steht?
Dieser Zwischenbericht ist nicht schriftlich festgelegt, sondern es hat einen Zwischenbericht an die Leitung des Hauses gegeben. In diesem Zwischenbericht sind meines Wissens noch keine Details über einzelne Betriebe enthalten, sondern mehr die allgemeinen Möglichkeiten dargestellt, die man untersucht, und wie man vorgehen kann.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin Geiger.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Frage 8 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Die Frage 9 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler wird schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 10 der Abgeordneten Ingrid Walz. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf:
Ist sich die Bundesregierung der ungeheuren persönlichen Leistungen der THW-Helfer in Bosnien-Herzegowina und Kroatien bewußt, mit denen die Bundesrepublik Deutschland in den Kriegsgebieten — im besten Sinne — identifiziert wird, und in welcher Form wird die Bundesregierung das weitere, von hoher Einsatzbereitschaft getragene Engagement fördern?
Herr Kollege Lowack, die Antwort lautet wie folgt:Die Bundesregierung hat bei verschiedenen Gelegenheiten den in Somalia, Bosnien-Herzegowina sowie in Kroatien eingesetzten freiwilligen Helfern der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk ihren Dank für den engagierten Einsatz und die unter schwierigen Bedingungen geleistete aufopferungsvolle Arbeit ausgesprochen.In Kroatien haben 43 Helfer des THW in der zweiten Jahreshälfte 1992 Unterkünfte für Flüchtlinge im Auftrag des UNHCR winterfest ausgestattet. Weitere 31 Helfer haben Anfang Januar 1993 in Mostar begonnen, die Wasser- und Elektroversorgung wiederherzustellen. Dieser Einsatz mußte auf Grund der
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16200 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Parl. Staatssekretär Eduard LintnerKriegsereignisse am 25. Juni 1993 abgebrochen werden.Herausragend war in diesem Jahr der Einsatz des THW in Somalia, wo im Rahmen der UN-Mission mehr als 300 Helfer auf Beschluß der Bundesregierung in Mogadischu und Bosaso vom März bis Ende Juli technische Soforthilfe leisteten und dabei vor allem die zerstörte Trinkwasser- und Stromversorgung wiederhergestellt haben und ein Flüchtlingslager errichteten.Von August bis Ende Oktober hat das THW in verschiedenen Einsatzorten im Nordosten des Landes im Auftrag des BMZ in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit Projekte der Trinkwasserversorgung durchgeführt.Die Helfer des THW, die sich freiwillig zu den Auslandseinsätzen gemeldet hatten und für jeweils vier Wochen eingesetzt wurden, waren während dieser Zeit besonderen Entbehrungen und auch der ständigen Gefahr von Übergriffen ausgesetzt. So mußten die in Mogadischu eingesetzten Helfer wegen erneut aufgeflammter Unruhen vorzeitig Anfang Juni 1993 zurückgerufen werden.Die Bundesregierung ist sich der besonderen Belastung und Gefahren bewußt, mit denen die Einsätze des THW in Krisen- und Kriegsgebieten verbunden sind, und hat dem durch Einbeziehung der THW-Angehörigen in das Auslandsverwendungsgesetz Rechnung getragen.Es ist beabsichtigt, den Helfern auf der Grundlage der entsprechenden Auslandsverwendungszuschlagsverordnung einen finanziellen Ausgleich zu gewähren. Die Einzelheiten hierzu werden derzeit zwischen den beteiligten Bundesressorts abgestimmt.
Herr Lowack.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, lieber Herr Kollege Lintner, warum korreliert diese absolut berechtigte und notwendige Anerkennung der großen Leistung des Technischen Hilfswerks nicht mit einer Verbesserung auch der personellen Situation? Gerade in diesem Bereich hat das Technische Hilfswerk besonders zu leiden, vor allem unter zahllosen Überstunden, die von dem Personal erbracht werden müssen, das dort hauptberuflich tätig ist.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, Sie wissen sicher, daß die Überlegungen der Bundesregierung dazu noch nicht abgeschlossen sind. Es sind Bemühungen im Gange, diesem personellen Engpaß Rechnung zu tragen. Daß das angesichts der Haushaltssituation schwierig ist, brauche ich nicht zu betonen. Eine völlige Neukonzeption des Bereichs Zivilschutz steht aber noch aus.
Zweite Zusatzfrage.
Auch in voller Würdigung dieser Antwort, Herr Parlamentarischer Staatssekretär: Wann kann denn ungefähr damit gerechnet werden, daß diese Überlegungen zu einem konkreten
Abschluß und zu konkreten Konsequenzen auch im Haushalt geführt haben?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Wir haben dem fachlich zuständigen Ausschuß, dem Innenausschuß, zugesagt, daß wir noch in diesem Jahr darüber berichten werden. Sie können also sehen, daß wir sehr an der Arbeit sind. Ich meine deshalb, daß die von Ihnen angeforderten Schritte demnächst sichtbar sein werden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Schmieder.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß neben der guten Arbeit, die das THW im ehemaligen Jugoslawien leistet, dort auch die Deutsche Humanitäre Hilfe sehr engagiert zutage tritt und sich unheimlich einbringt, wissen Sie, daß es inzwischen gelungen ist, in Split eine Außenstelle der Deutschen Humanitären Hilfe zu installieren, und ist Ihnen bekannt, daß die Dame, die dort im Konsulat sitzt, kein Telefon hat und praktisch gar nicht erreichbar ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nach Ihren Ausführungen ist mir das jetzt bekannt.
Ich rufe Frage 16 des Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum auf:
Wie ist der Sachstand bei der Anwendung des durch § 32a Ausländergesetz geschaffenen Sonderstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, zwischen Bund und Ländern ist erörtert worden, ob der Aufenthalt der bisher aufgenommenen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina auf die neugeschaffene Rechtsgrundlage des § 32 a des Ausländergesetzes umgestellt werden sollte. Bisher konnte darüber kein Einvernehmen erzielt werden. Dafür sind vor allem zwei Gründe maßgebend. Die Länder machen eine Regelung nach § 32a des Ausländergesetzes davon abhängig, daß der Bund die Hälfte der Kosten übernimmt. Abgesehen davon, daß der Bund keine weiteren finanziellen Lasten übernehmen kann, fehlt es für eine Zusage des Bundes schon an der dafür erforderlichen gesetzlichen Grundlage. Zum anderen wäre eine Umstellung des Status mit einer Verteilungsregelung mit einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand verbunden, denn die Bürgerkriegsflüchtlinge sind nicht als solche bei den Ausländerbehörden erfaßt. Zudem wäre eine Umverteilung in der Praxis kaum noch durchführbar. Der Aufenthalt der Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien ist auch ohne eine Regelung nach § 32 a des Ausländergesetzes ausreichend gesichert, weil sie entweder eine Aufenthaltsbefugnis nach §§ 30 und 32 des Ausländergesetzes oder auf Grund eines generellen Abschiebestopps nach § 54 des Ausländergesetzes eine Duldung erhalten.
Herr Kollege Baum.
Herr Kollege, können Sie mir sagen, wie viele Bürgerkriegsflüchtlinge es,
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Gerhart Rudolf Baumbezogen auf die Zahl der Asylbewerber insgesamt, gibt, d. h. über welchen Personenkreis wir hier eigentlich sprechen?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich kann es Ihnen für die Vergangenheit nicht präzise sagen. Ich kann Ihnen nur die Zahlen derjenigen sagen, die beispielsweise als Kontingentflüchtlinge bei uns Aufnahme gefunden haben, die für § 32 a des Ausländergesetzes in Betracht kämen. Dort ist die finanzielle Regelung auch erfolgt. Aber wie viele Personen sich darüber hinaus im Land befinden und möglicherweise unter diese Kategorie fallen, kann ich Ihnen nicht beziffern, weil dieses Kriterium früher nicht abgefragt worden ist.
Ist mein Eindruck richtig, daß sich die Bürgerkriegsflüchtlinge — es handelt sich sicher um einige Hunderttausend — heute im Asylverfahren befinden, d. h., daß die Aussage, die oft getroffen wird, wir würden von Aylbewerbern überflutet, insofern nicht richtig ist, als man die Bürgerkriegsflüchtlinge — über die es gar keinen innenpolitischen Streit gibt — davon nicht abzieht und wir daher immer über einen Gesamtkomplex reden, statt eine Trennung zu vollziehen, wie sie in der Gesetzgebung jetzt beabsichtigt war?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, wir zählen als Asylbewerber ohnehin nur diejenigen, die einen Asylantrag gestellt haben. Natürlich können Bürgerkriegsflüchtlinge zugleich einen Antrag auf Asyl stellen. Insoweit sind sie dann natürlich auch Asylbewerber. Wenn sie einen solchen Antrag nicht stellen, dann sind sie in der Zahl, die wir da ausweisen, auch nicht enthalten.
Danke. Zusatzfrage von Herrn Kollegen Hirsch.
Herr Staatssekretär, in dem berühmten Asylkompromiß ist doch die Einführung des Begriffes der Bürgerkriegsflüchtlinge als der große Durchbruch und Erfolg, um die Asylverfahren zu entlasten, gefeiert und dargestellt worden. Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie uns jetzt mit dürren Worten mitteilen, daß Sie das nicht praktizieren?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Wir können es zur Zeit nicht praktizieren, weil ja der § 32a, der das beinhaltet, eine Einigung zwischen Bund und Ländern voraussetzt, diese Einigung aber aus den bereits geschilderten Gründen zur Zeit nicht zustande kommt.
Herr Lowack.
Herr Kollege Lintner, ich habe die Frage vom Kollegen Baum so verstanden, daß er wissen wollte, ob eine Übersicht darüber besteht, wie viele von den Kriegsflüchtlingen auch einen Asylbewerberantrag gestellt haben, so daß sichtbar würde, wie die Aslybewerberstatistik bereinigt werden könnte.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, ich habe vorhin bereits ausgeführt, daß wir für die Vergangenheit keine verläßlichen Zahlen angeben können, weil dieses Kriterium des Bürgerkriegsflüchtlings im Sinne des § 32 a früher natürlich nicht abgefragt worden ist, weil es den § 32 a nicht gab. Wenn Sie das also verlangen, können Sie das legitimerweise nur bezogen auf künftige Fälle tun. Die Regelung ist aber praktisch im Moment noch nicht vollziehbar, weil eben die Einigung der Länder mit dem Bund über dieses Verfahren aus den bekannten Gründen fehlt.
Ich kann Ihnen deshalb im Moment nur folgende Angaben machen: Erstens. Wir haben etwa 350 000 Personen aus dem Gebiet, aus dem Bürgerkriegsflüchtlinge in dem Sinne kommen können, im Lande. Dieser Kreis setzt sich zusammen aus abgelehnten Asylbewerbern, die aber nicht zurückgeschickt werden und aus Leuten, die anläßlich touristischer Aufenthalte hiergeblieben sind. Es ist also keine sehr präzise Ziffer, sondern eine Schätzung auf Grund der vorliegenden Unterlagen. Zweitens kann ich Ihnen sagen, daß wir Kontingentflüchtlinge aufgenommen haben, letztmals 7 000. Das wären beispielsweise künftig Bürgerkriegsflüchtlinge im Sinne des § 32a. Drittens könnte ich Ihnen sagen — allerdings habe ich die Zahl jetzt nicht präsent, aber sie ließe sich ermitteln —, wie viele Personen aus diesem Bürgerkriegsgebiet einen Asylantrag gestellt haben. Das schließt aber nicht aus, daß trotzdem noch zusätzlich Bürgerkriegsflüchtlinge im Sinne des Gesetzes hier sind, deren Zahl ich Ihnen bekanntgeben könnte, wenn ich sie kennen würde.
Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen.
Herr Staatssekretär, liegen Ihnen Erkenntnisse vor, ob es bestimmte Schwerpunkte innerhalb der Bundesrepublik gibt, wo sich Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufhalten, und wie sich das verteilt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann das sozusagen aus eigenen Kenntnissen beantworten. Meines Wissens bestehen Schwerpunkte im Süden der Bundesrepublik, weil dort die verwandtschaftlichen Beziehungen offenbar am zahlreichsten sind.
Danke. Herr Kollege
Otto.
Herr Staatssekretär, nachdem wir mit allen Fraktionen dieses Hauses und den Bundesländern im Rahmen des Asylkompromisses eine überparteiliche Übereinstimmung erzielt haben, daß es wünschenswert sei, die Bürgerkriegsflüchtlinge nach Möglichkeit aus dem Asylverfahren herauszunehmen, frage ich Sie nunmehr: Welche konkreten Anstrengungen werden denn seitens des Bundes unternommen, um die erforderliche Einigung mit den Bundesländern herbeizuführen, und gibt es dort schon konkrete Maßnahmen und Schritte, und wenn ja, welche?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Es hat, Herr Kollege Otto, dazu intensive Gespräche, um nicht zu
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verhandlungen oder Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und den Ländern gegeben; aber es ist im entscheidenden Punkt, nämlich in der Frage der finanziellen Beteiligung des Bundes, bisher keine Einigung erzielt worden. Die Länder bestehen darauf, und wir sind -- berechtigterweise, glaube ich — der Auffassung, daß mit der abschließenden Regelung des Länderfinanzausgleiches ab 1995 auch diese Sache erledigt ist. Hinsichtlich der Kontingentflüchtlinge hat es ja seinerzeit die Vereinbarung gegeben: jeder 50 %, also die Finanzierung halbe-halbe.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Baum auf:
Wurde zwischenzeitlich eine Einigung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden über die Aufteilung der durch die Aufnahme dieser Kriegsflüchtlinge entstehenden Sozialhilfekosten erzielt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet nein. Der Bund hat für diejenigen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, die bisher im Rahmen der zwischen Bund und Ländern einvernehmlich festgelegten Kontingente aufgenommen worden sind, eine 50%ige Kostenbeteiligung zugesagt. Das betrifft insgesamt 17 000 Bürgerkriegsflüchtlinge. Der Forderung der Länder nach einer Kostenbeteiligung des Bundes für alle Bürgerkriegsflüchtlinge kann nicht entsprochen werden. Insoweit muß auf folgendes hingewiesen werden.
Im Asylkompromiß vom 6. Dezember 1992 war vereinbart worden, daß über die Frage der Kostentragung im Zusammenhang mit der Kriegs- und Bürgerkriegsregelung Einvernehmen im Zuge der Beratungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen angestrebt werden sollte. Die Beratung über das Föderale Konsolidierungsprogramm — und damit die BundLänder-Finanzbeziehungen — ist inzwischen einvernehmlich abgeschlossen worden. Dabei ist der Bund den Ländern in weiten Bereichen entgegengekommen.
Änderungswünsche bezüglich des Konsolidierungsprogramms sind von Länderseite nicht geltend gemacht worden. Der Bundesfinanzminister sieht nach Abschluß der Beratungen keinen Spielraum mehr für weitere Finanzausgleichsregelungen zugunsten der Länder.
Teilen Sie meine Einschätzung der Lage, daß nach diesem großen Kraftakt auch einer umstrittenen Verfassungsänderung ein wichtiger Teilbereich nicht geregelt ist und noch immer die Lage so ist, daß Bürgerkriegsflüchtlinge das Asylverfahren ohne Not belasten? Was werden Sie als Innenministerium dagegen tun?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, wenn sich die Position der Länder nicht ändert, dann sehe ich keine Möglichkeit seitens des Bundes, zu einer Regelung im Sinne des § 32 a des Ausländergesetzes zu kommen. Die Konsequenzen sind bekannt: Es bleibt hinsichtlich dieser Flüchtlinge, soweit sie Asylanträge stellen, bei der allgemeinen Regelung.
Darf ich noch einmal nachstoßen, Herr Staatssekretär? Stimmen Sie mir zu, daß es im Grunde unverantwortlich ist, wenn die Bundesregierung dieses Verfahren einfach hinnimmt? Was hat die Bundesregierung vor, um diesen nicht gelösten Konflikt nun zu lösen? Oder wollen Sie dieses Problem auf alle Zeiten so belassen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, ich habe schon in der Beantwortung der vorigen Frage darauf hingewiesen: Wir verhandeln intensiv mit den Ländern. Aber trotz dieser intensiven Bemühungen der Bundesregierung ist ein Fortschritt in diesem Punkt nicht erzielt worden. Der Bundesfinanzminister als in dieser Angelegenheit entscheidender Vertreter der Bundesregierung sieht sich nicht in der Lage, außerhalb der bereits geregelten BundLänder-Finanzbeziehungen nun weitere Kosten in diesem Zusammenhang für den Bund zu übernehmen. Das heißt, Bewegung in dem von Ihnen genannten Sinne wird es erst geben, wenn die Länder bereit sind, diese Forderung aufzugeben.
Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Staatssekretär, zu welchem Zeitpunkt erwarten Sie denn eine Bewegung der Länder? Gibt es eine einheitliche Länderfront? Oder würden Sie uns empfehlen, uns ehrlich zu machen und dieses Gesetz wieder zu ändern?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, ich kann Ihnen natürlich keine Empfehlungen geben; Sie sind Herr Ihrer eigenen Entschlüsse. Was die Länder nun in Erwägung ziehen oder zu tun gedenken, kann ich naturgemäß ebenfalls nicht sagen. Das sind Länderfragen. Wir stehen jedenfalls gerne zu weiteren Gesprächen in diesem Zusammenhang zur Verfügung.
— Ich war bei den Verhandlungen nicht dabei. Ich nehme an, daß die Front relativ einheitlich war.
Frau Schmalz-Jacobsen.
Herr Staatssekretär, Sie haben von der intensiven Beratung gesprochen. Könnten Sie uns Auskunft darüber geben, wann die Bundesregierung das letzte Mal mit den Ländern intensiv beraten hat?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Bis in die jüngste Zeit hinein. Ich kann Ihnen jetzt kein konkretes Datum nennen, aber ich nehme an, das liegt nur einige Tage oder Wochen zurück.
Herr Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, stimmen wir denn wenigstens in der Bewertung des Sachverhalts überein, daß der Bürgerkrieg nach deutschem Asylrecht kein Fluchtgrund und damit kein Asylgrund ist, daß die Bürgerkriegsflüchtlinge, die hier ankommen, einen Asylantrag stellen, von dem alle Seiten wissen, daß er abgelehnt wird, und daß die
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Dr. Burkhard HirschGemeinden den Flüchtlingen trotzdem empfehlen, einen Antrag zu stellen, damit die Länder die Kosten übernehmen? Wollen Sie uns hier sagen, daß eine vernünftige Lösung dieses Problems, das das ganze Haus übereinstimmend eben mit dem § 32a lösen wollte, daran scheitert, daß sich die Verwaltungen nicht über das Geld einigen können?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nicht die Verwaltungen. Ich fürchte, Herr Kollege Hirsch, es handelt sich um ausgewachsene politische Institutionen, nämlich um Regierungen. Zwischen diesen Regierungen ist eine Einigung in dem entscheidenden Punkt, der Finanzierung des Ganzen, bislang nicht möglich gewesen.
Ich komme zur Frage 18 der Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen:
Sind die Ende 1992 von Bund und Ländern beschlossenen 7 000 Kontingentplätze für ehemals Internierte und ihre Familienangehörigen sowie für vergewaltigte Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien inzwischen alle vergeben?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das von Bund und Ländern Ende des Jahres 1992 für bosnische Ex-Internierte bereitgestellte Kontingent von insgesamt 7 000 Aufnahmeplätzen ist zu Beginn des Jahres 1993 auch für Familienangehörige von Ex-Internierten und für traumatisierte Opfer und ihre Angehörigen geöffnet worden. Von diesem Kontingent sind etwa 3 000 Aufnahmeplätze noch nicht in Anspruch genommen worden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich bin überrascht, daß das Kontingent immer noch nicht erfüllt worden ist, und möchte gerne wissen, was die Bundesregierung angestellt hat, um diese Plätze zu besetzen, da die Lage in Jugoslawien ja kaum besser geworden ist.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Darf ich das in die Beantwortung Ihrer Frage 19 einbeziehen, weil sie nämlich genau in diese Richtung zielt?
Dann rufe ich noch die Frage 19 auf:
Wenn nein, was sind die Ursachen, wie kann Abhilfe geschaffen werden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Antwort auf die Frage 19 lautet: Den Aufnahmeersuchen des UNHCR für exinternierte und traumatisierte Opfer ist in vollem Umfang entsprochen worden. Beim Familiennachzug sind zeitliche Verzögerungen zu beobachten, die darauf zurückzuführen sind, daß nachzugsberechtigte Personen von den vor Ort tätigen internationalen Hilfsorganisationen erst ausfindig gemacht und aus Bosnien herausgeholt werden müssen.
Deutsche Behörden haben auf eine Beschleunigung der Ausreise keinen Einfluß. Nach Einschätzung der Bundesregierung werden die noch verfügbaren Aufnahmeplätze weiterhin benötigt.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, ob es spezielle Behandlungsangebote für ehemalige Internierte und für Vergewaltigungsopfer gibt oder ob diese Frage individuell geregelt werden muß?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich kann mit dem Ausdruck „spezielle Behandlungsangebote" relativ wenig anfangen. Wir suchen die einzelnen Leute im Grunde genommen vor Ort nicht aus, sondern überlassen das dem UNHCR oder den dort vorhandenen internationalen Organisationen. Möglicherweise haben auch wir selber einmal eigene Kenntnisse.
Wir nehmen, wer uns vorgeschlagen wird. So gesehen stellt die Bundesregierung bei der Ausfüllung des Kontingents keinerlei Hindernisse in den Weg.
Frau Schmalz-Jacobsen, Sie haben, weil die Frage 18 mit der Frage 19 verbunden worden ist, jetzt noch zwei Fragen.
Dann möchte ich folgende Zusatzfrage stellen: Herr Staatssekretär, haben Sie einen Überblick, wie viele der weiblichen Flüchtlinge sich ausgesprochen als Vergewaltigungsopfer melden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ad hoc habe ich jetzt keinen Überblick. Ich müßte erst klären, ob unserem Haus Zahlen darüber vorliegen. Wenn ja, stelle ich sie Ihnen gern zur Verfügung.
Kollege Freimut Duve.
Herr Staatssekretär, eines der Motive für die Ergänzung des Art. 16 war, eine klarere Lage, auch eine klare Entscheidungsgrundlage für den Umgang mit Kriegsflüchtlingen zu bekommen. Gibt es eine klare gemeinsame Linie der Bundesländer und der Bundesregierung für die Versorgung, für die Unterbringung und für die Öffnung für Bürgerkriegsflüchtlinge aus unmittelbaren Kriegsgebieten im ehemaligen Jugoslawien?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, es gibt eine Definition, wer vorrangig aufzunehmen ist, beispielsweise Verletzte, Traumatisierte, beispielsweise Familienangehörige und dergleichen. Darüber gibt es keinen Streit. Es gibt im Grunde genommen auch über den Begriff des Bürgerkriegsflüchtlings, soweit ich das einschätzen kann, keinen Streit.
Vielmehr konzentriert sich der Streit auf die Frage, wie die Kosten, die entstehen, aufgebracht werden. An diesem Streit sind im übrigen alle Länder beteiligt, nicht etwa nur eine bestimmte politische Richtung.
Herr Lowack.
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16204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung eine Übersicht darüber, wie viele Menschen, die für dieses Kontingent in Betracht kommen, sich noch in Internierungslagern befinden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, jetzt überfragen Sie mich, jedenfalls ad hoc. Ich schließe nicht aus, daß bei der Bundesregierung Zahlen vorhanden sind, aber ich kann sie Ihnen im Moment nicht nennen.
Kollege Lüder.
Frau Präsidentin, ich wollte zunächst jeweils eine Zusatzfrage zu Frage 18 und zu Frage 19 stellen.
Zu Frage 18: Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin gesagt, daß es sich bei den Verhandlungen zu § 32 a — eben haben Sie wieder auf die Verhandlungen der Regierung Bezug genommen — um Regierungs- und nicht Verwaltungsverhandlungen handelt. Auf welcher Ebene verhandelt das Bundesministerium, auf Staatssekretärs- oder Bundesministerebene?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß es sich um Verhandlungen auf Staatssekretärsebene handelt.
Da Sie das zweite Mal von etwas ausgehen — manchmal geht man auch ein, wenn man von zuviel ausgeht —, frage ich: Sind Sie bereit, uns die Auskünfte, die Sie Frau Schmalz-Jacobsen und mir heute nicht geben konnten, zu gegebener Zeit schriftlich zu geben? Oder müssen wir morgen in der Fragestunde weiterfragen?
Eduard Lintner, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, am einfachsten wäre es, wir machten morgen weiter, dann könnte ich Ihnen diese gleich mündlich erteilen.
Das aber ist, glaube ich, nicht der entscheidende Punkt. Der Punkt ist vielmehr, daß, selbst wenn es Beamte sein sollten, sie an die Vorgaben ihrer Regierung gebunden sind; diese Vorgaben sind politisch formuliert. Das heißt: Egal, wie Sie es jetzt betrachten — ob nun ein Staatssekretär, ein Minister oder ein Beamter für das Haus verhandelt hat —, in jedem Falle ist der Wille der Gegenseite, sich zu beteiligen, nicht vorhanden.
Da sich der Bundesfinanzminister im Grunde genommen — wir sind gar nicht der entscheidende Faktor — außerstande erklärt, kostenmäßig für den Bund einzusteigen, ist es bisher noch zu keiner Regelung gekommen.
Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, da Sie sagen, daß Sie sich bezüglich der Internierungsopfer auf Angaben des UNHCR stützen: Könnten Sie uns denn sagen, ob Sie in dieser Frage auch mit dem Roten Kreuz zusammenarbeiten? Könnten Sie uns die Zahlen, die Ihrem Hause vorliegen, dann wenigstens hinterher schriftlich mitteilen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, das habe ich bereits zugesagt.
Auch mit dem Roten Kreuz?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Wir sind gerne bereit, Ihnen alle Zahlen, die wir aus jedweder Quelle haben, zur Verfügung zu stellen.
Entschuldigen Sie, ich wollte nur wissen, ob Sie, als Sie sagten, daß Sie sich auf die Angaben des UNHCR beziehen, in der Frage der Benennung von Frauen, die darunter fallen, auch mit dem Roten Kreuz zusammenarbeiten oder nicht. Könnten Sie das bitte beantworten?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: In meinen Unterlagen heißt es: mit internationalen Organisationen. Das Rote Kreuz ist bekanntermaßen eine internationale Organisation, die vor Ort tätig ist. Deshalb gehe ich davon aus: auch mit dem Roten Kreuz.
Ich bin aber gerne bereit, dies zu verifizieren und es Ihnen dann mitzuteilen.
Kollege Baum.
Ich komme noch einmal auf die Zahlen zurück, Herr Kollege. Sie haben gesagt: Von den 7 000 Plätzen, die Ende 1992 zur Verfügung gestellt worden sind, sind 3 000 noch offen.
Teilen Sie nicht meine Meinung, daß das ein ganz unbefriedigender Zustand ist angesichts der Situation, die wir alle kennen? Müßte die Bundesregierung hier nicht aktiver tätig werden — auch mit eigenen Hilfsorganisationen —, um die Leute aufzuspüren, die in dieses Kontingent gehören?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, ich glaube, es ist in der Tat bisher sachgerecht gewesen, daß die vor Ort seit langem tätigen Organisationen, teilweise abgestützt auf einheimische Behörden und dergleichen, diese Aufgabe wahrnehmen. Es hat von der Sache her wenig Sinn, wenn nun zusätzlich neue Organisationen von uns da unten aufgebaut werden, die naturgemäß zunächst einmal überhaupt keine detaillierte Kenntnis haben können, die erforderlich ist.
Beispielsweise die Frage, welche Kinder bei uns aufgenommen werden können, muß sorgfältig geprüft werden; denn es ist möglicherweise das Elternrecht der vor Ort lebenden Eltern tangiert. Wir brauchen also eine behördliche Bescheinigung, daß dieses Kind beispielsweise zum Onkel nach Deutschland gebracht werden darf. Oder es müssen Bestätigungen anderer Art von den örtlich zuständigen Behörden oder sonstigen Organisationen erlangt werden.
Ich fürchte, da ist es der Bundesregierung aus sachlichen Gesichtspunkten gar nicht möglich, mit eigenen Kräften zur Beschleunigung beizutragen.
Noch zu diesem Komplex der Fragen 18 und 19, Frau Schmalz-Jacobsen? — Bitte.
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Zu diesem Komplex sei angesichts der offenen Plätze noch die Frage nachgeschoben: Findet in dem Rahmen des Kontingents auch eine Familienzusammenführung statt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Eine Familienzusammenführung ist ebenfalls vorgesehen, weil das Kontingent eigens für Familienangehörige von Ex-Internierten geöffnet worden ist. In dem Rahmen findet das auch statt.
Ich komme zu den Fragen 20 und 21 des Kollegen Otto. Sollen Sie im Verbund oder getrennt beantwortet werden?
Ich bin mit gemeinsamer Beantwortung einverstanden.
Dann rufe ich die Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Otto auf:
Wie ist derzeit das Aufnahmeverfahren für Personen aus Bosnien-Herzegowina geregelt, für die die VN im vorgesehenen Klärungsverfahren die Notwendigkeit einer Evakuierung aus medizinischen Gründen festgestellt haben ?
Wie viele dieser Patienten aus Bosnien-Herzegowina wurden zur medizinischen Notfallversorgung bisher durch Deutschland aufgenommen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich antworte auf beide. Die lese ich mit Ihrer Genehmigung hintereinander vor.
Zur Frage 20: Grundlage für die vorübergehende Aufnahme von Personen in der Bundesrepublik Deutschland, die nach Einschätzung der VN aus medizinischen Gründen aus Bosnien-Herzegowina evakuiert werden müssen, sind § 32 des Ausländergesetzes und der IMK-Beschluß vom 22. Mai 1992. Nach diesem Beschluß sollen vorrangig Verletzte und Kranke aufgenommen werden. Die Zustimmung zur Einreise erteilt die für den vorgesehenen Aufenthaltsort, an dem die medizinische Versorgung erfolgen soll, zuständige Ausländerbehörde oder die oberste Landesbehörde.
Soweit die erforderlichen Visa nicht bei einer deutschen Auslandsvertretung eingeholt werden können, werden an der Grenze Ausnahmevisa erteilt. Für Personen, die keine Pässe besitzen, hat der Bundesminister des Innern generell die Ausnahme vom Paßzwang zugelassen.
Zur Frage 21: Auf Initiative privater Hilfsorganisationen sind bisher 185 Patienten in deutsche Kliniken vermittelt und in die kontingentierte Aufnahme einbezogen worden. Wie viele Patienten darüber hinaus auf der Grundlage des IMK-Beschlusses vom 22. Mai 1992 vorübergehend Aufnahme zur medizinischen Behandlung in Deutschland gefunden haben, ist der Bundesregierung mangels entsprechender Statistiken nicht bekannt.
Herr Otto.
Herr Staatssekretär, ich habe Ihre Antwort auf die Frage 20 eher verstanden als Darstellung der Regelung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit für die Aufnahme dieses Personenkreises. Ich frage aber: Was ist bisher konkret erfolgt, um auch eine Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens, also z. B. eine beschleunigte Visumbeschaffung, zu erreichen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Dann darf ich Ihnen Teile der Antwort auf die Frage 20 noch einmal wiederholen: Soweit die erforderlichen Visa nicht bei einer deutschen Auslandsvertretung eingeholt werden können, werden an der Grenze — ich füge hinzu: unbürokratisch — Ausnahmevisa erteilt. Für Personen, die keine Pässe besitzen —was ja auch ein häufiger Fall ist —, hat der Bundesminister des Innern generell die Ausnahme vom Paßzwang zugelassen.
Ich glaube also, das Fazit ziehen zu können, daß alles getan worden ist, um nicht an solchen Bestimmungen die Einreise scheitern zu lassen oder sie unnötig zu erschweren.
Herr Otto.
Herr Staatssekretär, ist das, was Sie eben an erleichterter Visumbeschaffung geschildert haben, eine spezifische Regelung für den in der Frage 20 angesprochenen Personenkreis, oder gilt das für alle Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Meines Wissens handelt es sich um eine spezifische Regelung für diesen Personenkreis. Die übrigen müssen natürlich bemüht sein, sich bei den jeweiligen Auslandsvertretungen ein Visum zu besorgen.
Herr Müller.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen Fälle bekannt, wo Kliniken in unserem Lande die Behandlung der hier erwähnten Flüchtlinge verweigert haben, weil die Kostenfrage nicht eindeutig geklärt ist? Und wenn das so ist, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit sich solche Ärgernisse nicht wiederholen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich darf, um Mißverständnisse zu vermeiden, darauf hinweisen, daß die Kostentragung für diese Kontingentflüchtlinge geklärt ist: halbe-halbe zwischen Ländern und Bund. Diese Fälle können also eigentlich nicht in die Problematik der übrigen diskutierten Fälle geraten. Mir ist darüber hinaus auch kein Fall bekannt, daß bei diesen Kontingentflüchtlingen irgendwelche medizinischen Versorgungen an Kostenproblemen gescheitert wären.
Herr Kollege Lüder.
Herr Staatssekretär, Bezug nehmend auf Ihre Antwort: Soweit Visa nicht erteilt werden können, können an der Grenze die erleichterten Maßnahmen zutreffen, frage ich: Wie lautet die Anweisung an den Grenzkontrollbeamten, damit er feststellt: Jemand darf herein, jemand darf nicht herein?
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16206 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, ich darf es Ihnen vorlesen. Die Antwort hat gelautet: „ ... werden an der Grenze Ausnahmevisa erteilt." Von „können" ist hier nicht die Rede.
In welchen Fällen? Darauf bezog sich meine Frage. Wie heißt die Anweisung, in welchen Fällen die Visa erteilt werden? Sie haben konditional gesagt: wenn — dann.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: In Fällen von Flüchtlingen, die in dieses Kontingent fallen, also die Kriterien erfüllen — die haben wir vorhin schon aufgezählt —, werden Visa erteilt, wenn Visa auf dem üblichen Weg nicht eingeholt werden können.
Wer entscheidet, ob sie nicht können? Das ist meine Frage. Der Grenzkontrollbeamte?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Hier gibt es nicht viel zu entscheiden. Wenn er an der Grenze ohne Visum erscheint, möglicherweise sogar ohne Paß, dann werden ihm keine Hindernisse in den Weg gelegt. Er erhält ein Ausnahmevisum, und er wird vom Paßzwang befreit.
Frau Schmalz-Jacobsen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, eine Evakuierung aus medizinischen Gründen kann sowohl eine Evakuierung aus somatischen Gründen als auch aus gravierenden psychischen Gründen bedeuten. Haben Sie einen Überblick darüber, ob es solche Fälle gegeben hat und ob diese Fälle einer Behandlung zugeführt werden konnten?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, über die medizinische Einschätzung vor Ort entscheiden Repräsentanten oder Beauftragte der Vereinten Nationen. Das ist deshalb erforderlich — das würde ich gerne nachholen —, weil unsere Kontingentierung und die Aufnahme von einem bestimmten Kontingent im internationalen Bereich im Rahmen der EG und auch im Rahmen der UNO abgesprochen ist. Ob hier dann die erforderliche Behandlung den Personen zuteil geworden ist, kann ich Ihnen nicht beantworten. Darüber habe ich keinen Überblick.
Herr Koppelin.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen im Ministerium doch Fälle bekanntgeworden, daß trotz der Regelung Personen an der Grenze zurückgewiesen worden sind?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Solche Fälle von Personen, die eindeutig unter diese Regelung fallen, sind mir nicht bekannt. Es mag Streitfälle geben, aber ein Fall, bei dem bislang nachgewiesen worden ist, daß der Betreffende eigentlich unter diese Regelung zu subsumieren ist und trotzdem entgegen der Verwaltungsanordnung und dergleichen nicht eingelassen worden ist, ist mir gegenwärtig nicht bekannt.
Damit sind die Fragen 20 und 21 beantwortet.
Ich komme zur Frage 22 des Abgeordneten Wolfgang Lüder:
Wird die Bundesregierung neben den bosnischen Flüchtlingen und den Kroaten, die vor dem 22. Mai 1992 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, auch andere, potentiell gefährdete Gruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien in eine Abschiebestoppregelung einbeziehen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, über die Frage, ob auch andere Ausländergruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien in die von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder für bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und bis zum 22. Mai 1992 eingereiste Kroaten beschlossene Abschiebestoppregelung einbezogen werden sollten, hat die Bundesregierung nicht zu entscheiden. Nach § 54 Ausländergesetz setzt die generelle Aussetzung der Abschiebung in bestimmte Staaten oder bestimmter Ausländergruppen vielmehr eine Anordnung der obersten Landesbehörde voraus. Das Bundesministerium des Innern ist erst beteiligt, wenn ein solcher Abschiebestopp über die Dauer von sechs Monaten hinaus angeordnet werden soll. In diesem Fall bedarf nach § 54 Satz 2 Ausländergesetz die Anordnung zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit seines Einvernehmens.
Die Innenministerkonferenz hat bereits am 13. Mai dieses Jahres in Potsdam eine etwaige Ausdehnung der Abschiebestoppregelung auf weitere Ausländergruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien erörtert. Die Länder konnten sich hierüber nicht einigen. Ein Bundesland hat im März 1993 eine zunächst auf sechs Monate befristete Aussetzung der Abschiebung von Kosovo-Albanern angeordnet und das Bundesministerium des Innern um das erforderliche Einvernehmen zur Verlängerung des Abschiebestopps gebeten. Dem konnte nicht entsprochen werden, weil sich ein Teil der Länder gegen einen generellen Abschiebe-stopp für diesen Personenkreis ausgesprochen hat und somit die für die Erteilung des Einvernehmens erforderliche Bundeseinheitlichkeit nicht gewahrt war.
Herr Lüder.
Hat sich die Bundesregierung in der Innenministerkonferenz — sofern Sie dies sagen können — und in den nachfolgenden Verhandlungen dafür eingesetzt, den Abschiebestopp, so wie in der Frage angedeutet, auszudehnen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Meines Wissens haben wir uns neutral verhalten.
Kollege Freimut Duve.
Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um auf der europäischen Ebene zu einer gemeinsamen Grundlage des Umgangs mit Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu kommen, und inwieweit gibt es eine solche Grundlage jetzt?
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Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16207
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, es würde den Rahmen dieser Fragestunde sprengen, wenn ich alles darlegen sollte, was die Bundesregierung in dieser Richtung unternommen hat. Ich verweise auf Diskussionen hier im Hause, auf Unterrichtungen im Innenausschuß, aber auch auf deutliche öffentliche Äußerungen der Bundesregierung, in denen sie beklagt hat, daß trotz massiver Anstrengungen bei den übrigen EG-Partnern keine Bereitschaft vorhanden war, sich im Hinblick auf Jugoslawien zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik zu bekennen.Wir hatten allerdings — rückerinnern Sie sich — gewisse Teilerfolge: Es sind Kontingente vereinbart worden. Wir selber sind mit der Aufnahme von 17 000 Personen beteiligt. Ich habe die Größenordnungen der Kontingente der anderen Länder nicht im Kopf. Ich glaube, Frankreich oder Großbritannien hat 2 000 übernommen. Jedenfalls haben die anderen Länder nur deutlich geringere Kontingente akzeptiert. Eine weitergehende gemeinsame Anstrengung war trotz der nachhaltigen Bemühungen der Bundesregierung nicht zu erreichen.
Herr Hirsch.
Herr Staatssekretär, angesichts der Tatsache, daß Ihre Auslegung des Ausländergesetzes, wie Sie wissen, schon deswegen nicht richtig sein kann — Sie sagen, bundeseinheitliche Regelungen könne es nur geben, wenn alle einverstanden sind —, weil dann jedes einzelne Bundesland, jeder Stadtstaat oder wer auch immer ein Vetorecht gegen einen Abschiebestopp hätte, möchte ich Sie fragen: Kann ich es wirklich glauben, daß der Innenminister, der sonst ja nicht so zurückhaltend mit Aktivitäten ist, in der Frage eines Abschiebestopps eine, wie Sie sagen, „neutrale" Haltung eingenommen hat? Wollen Sie uns das wirklich sagen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, Sie wissen, daß es im Hinblick auf den Inhalt des § 54 des Ausländergesetzes zwischen Ihnen und uns Interpretationsunterschiede gibt. Nach Auffassung der Bundesregierung soll der § 54 sicherstellen, daß in solchen Situationen bundeseinheitlich verfahren wird. Das hat übrigens seinen Grund auch darin, daß innerhalb des Bundesgebiets die Flüchtlinge nach Kontingenten auf die einzelnen Länder verteilt würden. Wenn ein einzelnes Land mit dem Einvernehmen des Bundesministers so verfahren könnte, dann könnte es Flüchtlinge zu Lasten aller übrigen Länder aufnehmen,
weil Sie nicht verhindern können, daß sich die Flüchtlinge von einem Land in das andere bewegen.
Ich kann deshalb nur sagen: Bei dem § 54 des Ausländergesetzes handelt es sich unserer Auffassung nach um eine Vorschrift, die die bundeseinheitliche Verwaltungspraxis sicherstellen soll. Deshalb kann das Bundesministerium Ihrer Auslegung nicht folgen, nach der wir auch dann das Einvernehmen erteilen könnten, wenn nur einzelne Länder den Antrag stellen würden.
Wir kommen zur Frage 23 des Abgeordneten Wolfgang Lüder:
Wie ist die gegenwärtige Praxis gegenüber Kosovo-Albanern und gegenüber serbischen Männern, die desertiert sind, um sich nicht an den kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligen zu müssen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, da die ausländerrechtlichen Bestimmungen im Bundesgebiet nach Art. 83 GG von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt werden, vermag die Bundesregierung keine verbindlichen Aussagen zur gegenwärtigen Abschiebepraxis gegenüber Kosovo-Albanern und jugoslawischen Deserteuren zu machen.
Allgemein kann gesagt werden, daß derzeit für keine der beiden genannten Ausländergruppen ein bundesweiter genereller Abschiebestopp nach § 54 des Ausländergesetzes besteht.
Herr Lüder.
Herr Staatssekretär — oder sollte ich den Herrn Minister persönlich fragen, er ist ja dankenswerterweise persönlich anwesend , heißt das, daß die Bundesregierung in Zukunft in bundesweit vertriebenen Broschüren und Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit auf Angaben hinsichtlich der Länder verzichten wird, weil sie sich in sensiblen Bereichen um Länderdaten nicht zuverlässig bemühen konnte?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, das kann generell nicht mit Ja beantwortet werden. Denn Sie wissen: Die Kooperationsbereitschaft der Länder ist von Fall zu Fall durchaus unterschiedlich. Dort, wo wir ausreichendes Zahlenmaterial erhalten, werden wir natürlich weiterhin auf diese Zahlen zur Unterrichtung der Öffentlichkeit zurückgreifen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Lüder.
Welche Anstrengungen hat die Bundesregierung unternommen oder wird die Bundesregierung unternehmen, um auch in diesen Bereichen aussagekräftiges Zahlenmaterial von den Ländern zu erhalten?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Da ja keine Zwangsmittel zur Verfügung stehen, müssen sich unsere Anstrengungen zwangsläufig auf Anfragen und die Bitte um Antwort beschränken. Wir können gegebenenfalls noch eine Erinnerung verschicken. Aber wenn wir dann immer noch nichts hören, sind wir natürlich irgendwo am Ende unserer Möglichkeiten.
Unzulässigerweise sage ich: Ich habe mir Regierungsarbeit anders vorgestellt.
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16208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Bezieht sich Ihre Frage auf diesen Komplex, Herr Kollege Hirsch?
— Herr Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, ehe Sie am Ende Ihrer Möglichkeiten sind — was wir verhindern möchten —, frage ich Sie: Können Sie uns denn mitteilen, welche Länder nicht, wie Sie sagen, „kooperationsbereit" sind, damit wir in den Landtagen nachhelfen können, so daß Sie die erforderlichen Erklärungen bekommen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, da mir die erforderlichen Detailunterlagen jetzt nicht zur Verfügung stehen, kann ich Ihnen gerne zusagen, daß ich sie Ihnen mitteilen werde.
Frau Präsidentin, wenn ich das außerhalb der Geschäftsordnung sagen darf: Diese Antwort reicht mir nicht. Es wird eine Frage an die Bundesregierung gestellt, und ich erwarte, daß die Bundesregierung eine solche Frage beantworten kann, bei der damit gerechnet werden kann, daß sie gestellt werden könnte. Wenn sich der Staatssekretär selber darauf beruft, daß Länder nicht auskunftsbereit und kooperationsbereit sind, dann muß er doch in seinen Unterlagen Informationen darüber haben, welche Länder das sind.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, ich habe es jedenfalls nicht in den hier vorliegenden Unterlagen. Deshalb kann ich die Frage im Moment nicht beantworten. Ich muß Sie deshalb zwangsläufig, wenn ich mit Ihrer Frage seriös umgehen will, darauf verweisen, daß ich Ihnen die Angaben, wenn sie vorhanden sein sollten, zukommen lassen werde.
Herr Kollege Hirsch, da sie hier nun nicht verfügbar sind, bleibt zur Beantwortung der Frage gar kein anderer Weg übrig.
Ich lasse noch eine Zusatzfrage der Kollegin Schmalz-Jacobsen zu; dann schließe ich die Fragestunde.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen: Sind dem Innenministerium und der Bundesregierung keine Anfragen von Ländern bekannt, in denen danach gefragt wird, wie man mit diesem Personenkreis umzugehen hat? So ist jedenfalls — das sage ich in Klammern und außerhalb der Geschäftsordnung — mein Kenntnisstand, nämlich daß hier auf ein Votum der Bundesregierung gewartet wird. Sind Ihnen solche Anfragen bekannt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, ich habe darauf hingewiesen, daß ein Bundesland im März 1993 eine auf 6 Monate befristete Aussetzung der Abschiebung von Kosovo-
Albanern angeordnet hat und von uns das erforderliche Einvernehmen erbeten hat. Wir konnten dem nicht entsprechen — wie ich bereits ausgeführt habe —, weil eben die erforderliche Zustimmung der übrigen Länder nicht vorlag und damit die Bundeseinheitlichkeit nicht gewährleistet war.
Vielen Dank, Herr Lintner. Ich schließe mit der Frage 23 die Fragestunde für heute. Wir werden in der nächsten Fragestunde mit der Frage 24 fortfahren.
Bevor ich den Zusatzpunkt aufrufe, möchte ich auf der Ehrentribüne den Präsidenten der Türkischen Großen Nationalversammlung, Herrn Cindoruk, mit seiner Delegation ganz herzlich begrüßen.
Herr Cindoruk, wir heißen Sie und Ihre Kollegen in unserem Haus ganz herzlich willkommen. Sie haben aus Anlaß der Aktuellen Stunde auf der Tribüne Platz genommen. Dies ist ein sehr ernster Anlaß. Aber daraus entnehmen Sie zugleich, daß uns die Klärung dieser Vorgänge gerade auch wegen der deutschtürkischen Beziehungen besonders wichtig ist.
Wir hoffen, daß der Besuch und die Gespräche, die Sie in München, Bonn und Berlin führen, unsere engen, freundschaftlichen Beziehungen weiter fördern, und wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatzpunkt auf:
Aktuelle Stunde
Die Anschläge terroristischer Kurdenorganisationen auf türkische Einrichtungen in Deutschland und die deutsch-türkischen Beziehungen
Die Fraktion der CDU/CSU hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Kollege Hartmut Büttner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das kurdische Volk durchlebt und durchleidet ein schweres Schicksal. Die staatliche Gliederung des Nahen Ostens ließ ihm keine Chance auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat.Gerade wir Deutschen können auf Grund unserer eigenen Geschichte ermessen, was es bedeutet, geteilt zu sein. Kurdistan ist sogar fünfmal geteilt. Die fünf Staaten mit kurdischen Minderheiten haben fast alle große Schwierigkeiten, dieses Problem zu bewältigen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16209
Hartmut Büttner
Es würde meinen Zeitfonds sprengen, wenn ich an dieser Stelle die Leidensgeschichte der 25 Millionen Kurden in ihren Heimatstaaten darstellen würde. Ich möchte jedoch daran erinnern, daß es z. B. ohne den Einsatz der Amerikaner im Irak keine Zufluchtsmöglichkeit für die Kurden im Nordirak gegeben hätte.
Das Menschenrecht auf Selbstbestimmung rechtfertigt aber in keiner Weise die Wahl von Gewalt und Terror als Mittel der politischen Auseinandersetzung.
Das gilt für die Reaktion von Polizei und Militär in der Türkei genauso wie für die terroristischen Akte der PKK hier bei uns und überall in der Welt.Anscheinend waren den kurdischen Linksextremisten die Anschläge und Entführungen von Touristen in der Türkei nicht ausreichend. Der Export der inneren Probleme der Herkunftsländer unserer ausländischen Mitbürger ist wohl nicht gänzlich zu verhindern. Wir müssen allerdings mit aller Kraft verhindern, daß Deutschland zum Ersatzschlachtfeld für die Minderheitenprobleme der Türkei und der anderen Heimatländer wird.Hier denke ich, meine Damen und Herren, wird das Gastrecht mißbraucht. Wir dürfen nicht zulassen, daß auf deutschem Boden vor allem den ausländischen Mitbürgern Leid zugefügt wird. Die Mittel und Methoden der PKK, wie wir sie kennen — Schutzgelderpressung, Brandanschläge, Geiselnahme, Überfall und auch Mord —, sind kriminell und müssen mit den Mitteln des Rechtsstaates bekämpft werden.
Die überwältigende Mehrheit der ausländischen Bürger in Deutschland ist über die Anschläge dieser extremistischen Minderheit genauso betroffen wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen bei den Anschlägen extremistischer Inländer. Um so wichtiger ist es, daß wir diese Taten mit gleichen Maßstäben verfolgen. Staatsanwaltschaften und Gerichte müssen jetzt schnell und wirkungsvoll handeln.Allerdings sollte auch die Politik ein Zeichen setzen. Ich denke, das Maß an Toleranz gegenüber der Intoleranz der PKK ist nunmehr voll. Ein Verbot der PKK wäre eine angemessene und wahrscheinlich auch wirkungsvolle Maßnahme.
Die Argumente des Hamburger Verfassungsschutzpräsidenten Ernst Uhrlau, damit würde eine Bekämpfung der PKK noch schwieriger, können nicht gelten. Bei einem Vorhandensein von genügend Beobachtungsmöglichkeiten einer extremistischen, aber nicht verbotenen Partei hätte es zu der Flut von Anschlägen dann gar nicht erst kommen dürfen. Die PKK ist bereits eine perfekt abgeschirmte terroristische Bewegung.Ich spreche mich für ein Verbot der PKK aus, weil damit ein deutliches politisches Signal gesetzt wird.Es wäre auch hilfreich, wenn wir überführte und abgeurteilte ausländische Straftäter wirklich ausweisen könnten. Es muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die Genfer Konvention nicht zum Täterschutz verkommen darf. Wir müssen überlegen, was wir mit Mördern machen können und ob wir in der Tat nicht Lösungen finden müssen.Neben den notwendigen juristischen und politischen Maßnahmen in Deutschland ist allerdings auch die EG-Außenpolitik gefragt. Die Wurzel des kurdischen Terrorismus ist nur zu bekämpfen, wenn man den Millionen friedliebender Kurden in der Türkei verbesserte Lebenschancen und auch ein Stück Identität gibt. Hierfür sollten wir uns ebenfalls deutlich einsetzen.Herzlichen Dank.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Hans Koschnick das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Was viele befürchtet haben, ist eingetreten: Innenpolitische Auseinandersetzungen in Staaten, aus denen Gastarbeiter und Asylanten gekommen sind, werden in unsere Gesellschaft übertragen. Wir stehen vor einer Frage, die wir ganz leicht beantworten können, indem wir sagen: Wir verbieten die PKK. Aber jemand, der einige Jahre Verantwortung für die innere Sicherheit in einem kleinen Land hatte, weiß, daß ein Verbot allein noch nichts bewirkt. Es kann ein Signal sein. Es muß sogar ein Signal geben.Aber unsere große Schwierigkeit, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist: Die Sprache unserer türkischen Freunde und unserer kurdischen Nachbarn ist so kompliziert für arme Polizisten und Mitarbeiter in unseren Ämtern, daß wir in der Regel zu wenig erfahren, und wenn wir es erfahren haben, ist die Sache vorbei.
— Ich akzeptiere Ihren Vorschlag. Sie werden ganz sicher in München damit anfangen, Herr Irmer. Denn da haben Sie Einfluß. Daß wir türkische Kollegen in unserer Polizei haben, ist bekannt.Zweiter Punkt. Die wirkliche Frage, um die es geht, ist, daß wir hier innenpolitisch nicht lösen können, was international und national nicht lösbar ist: die große Katastrophe einer völkischen Gemeinschaft, wie sie die Kurden sind, die nach 1917/18/19 von westlichen Kriegsgegnern des osmanischen Systems belogen und um einen eigenen Staat betrogen wurden.
Ihre Aufteilung auf vier, fünf verschiedene Länder und ihre Versuche, eigene Wege zu gehen, aber zur gleichen Zeit auch Loyalität zum eigenen Staat zu beweisen, haben nicht nur uns über 40 Jahre bewegt, sondern gerade die Völker, die mit ihnen gemeinsam oder gegen sie ihre Staatlichkeit begründet haben.
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16210 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Hans KoschnickEtwas sage ich Ihnen in allem Freimut: Jeder, der mir heute erklärt, es wäre ganz einfach, zu sagen: schaffen wir einen neuen Staat Kurdistan, und alle Fragen sind gelöst!, kennt die Welt nicht.
In der Türkei leben mehr Kurden in Istanbul und in anderen Bereichen des Mittelmeeres als in Ostanatolien. Es gibt keine Möglichkeit, zu sagen: Wir teilen diesen Staat auf. Abgesehen davon, daß wir das gar nicht könnten: Es ist auch unsinnig, in der heutigen Zeit Diskussionen in den Bundestag zu tragen und so zu führen, wie sie draußen zum Teil von unzureichend informierten Gutmeinenden mitgetragen werden.Was wir brauchen, ist vielmehr eine vernünftige Position, wie wir sie im KSZE-Bereich, wie wir sie im Pariser Manifest haben: Wie gehe ich mit Minderheiten um, wie gehe ich mit Menschen in meinem Staat um, welche Chancen gebe ich diesen Staatsbürgern in meinem Staat, und wie öffne ich mich für ihre Beziehungen zu Familienmitgliedern jenseits der Grenze? Es geht um eine prinzipielle Antwort auf diese Politik. An dieser Stelle appelliere ich immer an meine Kollegen in der türkischen Großen Nationalversammlung: Öffnet diesen Weg, gebt den Kurden ihre Möglichkeit, ihre Muttersprache zu sprechen und in ihren regionalen Siedlungsbereichen einen eigenen Weg zu gehen! Jedoch müssen sie dabei die Integrität des türkischen Staates akzeptieren. Das ist die entscheidende Frage.
Dann haben wir die Aufgabe, mit den vielen Staatsangehörigen kurdischer Abstammung aus der Türkei, dem Irak oder dem Iran zu versuchen, einen Weg zu finden, der es ihnen ermöglicht, hier in Deutschland Konflikte alter Art nicht weiter auszutragen. Ich will mit ihnen nicht über Kurdisch streiten. Ich will nicht über Kultur streiten. Ich will nicht über ihre nationalen Gefühle streiten. Aber ich möchte mit ihnen darüber streiten, daß jemand, der hier ein Gastrecht hat, dieses nicht mißbrauchen darf.Ich selbst gehöre zu denen, die gegen die Veränderung des Art. 16 gestimmt haben. Aber die Diskussion auch bei mir zu Hause läuft in die Richtung, ob nicht eine Verwirkung angezeigt ist, wenn jemand mit Gewalt die Ordnung des Landes, das Gastrecht gewährt hat, nicht mehr achtet.
Ich finde es auch schlimm, wenn türkische Bürger hier einmal von deutschen Rechtsradikalen angegriffen und geschlagen werden und einmal von anderen Gruppierungen.
Sie haben einen Anspruch, bei uns friedlich und normal mit uns zusammenzuleben. Wir müssen hierzu einen gemeinsamen Weg des Schutzes finden.Ich hoffe, daß dieses Parlament in der Lage ist, nicht nur über schärfere Rechtsordnungen zu sprechen, sondern auch im Bewußtsein der Bevölkerung gemeinsam neue Positionen zu setzen. Das wäre ein guter Schritt in die Zukunft.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie auch immer wir es drehen und wenden, Herr Kollege Koschnick: Wir kommen an zwei Punkten nicht vorbei. Zum einen wollen wir weder einen Bürgerkrieg anderer Länder auf unserem Boden haben noch extremistische Aufhetzungen zur Gewalt, auch nicht durch religiöse Eiferer.Man muß so deutlich sagen, wie Sie das eben auch getan haben, daß die Ursache der massiven Rechtsverletzungen durch Kurden türkischer Staatsangehörigkeit in einer erfolglosen Innenpolitik der Türkei liegt, den Problemen dieser ethnischen Minderheit gerecht zu werden.Was die PKK angeht: Es wäre falsch, wenn wir die Interessen der Kurden mit den politischen Zielen der PKK gleichsetzten. Es geht nicht, daß wir zusehen, daß gemeinsame Aktionen in ganz Europa von dieser Gruppierung ausgelöst werden, ohne daß es spürbare Sanktionen gibt. Wir sind der Überzeugung, daß nun die Entscheidung der Innenminister des Bundes und der Länder getroffen werden muß, ob die PKK verboten werden soll oder nicht. Wenn der Augenschein nicht trügt, daß sie tatsächlich der Urheber dieser organisierten Krawalle ist, dann muß die PKK verboten werden. Es wird Zeit.
Ferner müssen wir die Frage nach der Haftung und der Verantwortung derer stellen, die auf deutschem Boden Gastrecht in Anspruch nehmen und sich hier trotzdem zu Gewalttaten hinreißen lassen. Dazu gehören auch diejenigen, die wie Herr Caplan in Köln — aus religiösem Fanatismus zu Gewalt auffordern, ohne daß sie das Verbot einer politischen Tätigkeit beachten.
Da gibt es eine Geldbuße von 6 000 DM, die er aus der Tasche bezahlen kann, und alles geht so weiter wie bisher.Sie bewirken damit eine massive Belastung nicht nur des außenpolitischen Ansehens der Bundesrepublik, sondern auch des Zusammenlebens von Ausländern untereinander und des Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern in der Bundesrepublik. Wir sind der Überzeugung, daß es in diesem Fall nicht bei einer Geldstrafe bleiben darf, sondern daß wir die Ausweisung auch bei denjenigen durchsetzen müssen, die ein verfestigtes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik erworben haben. So geht es nicht mehr; wir können es nicht mehr hinnehmen. Wir sind bereit, daran mitzuwirken.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16211
Dr. Burkhard HirschAber nun zu der anderen Abteilung: Wir können nicht so tun, als ginge uns in dieser Frage die türkische Innenpolitik nichts an. Die Türkei ist ein wichtiger Partner. Sie ist ein mit uns befreundeter Staat. Wir haben eine Mitverantwortung auch dafür, ob sich die politischen, wirtschaftlichen und ethischen Grundstrukturen unserer Welt und unserer Gegenwart in der Türkei behaupten. Darum geht es uns auch an, welche Minderheitenpolitik in der Türkei betrieben wird. Die Kurden sind ein Volk von 15 Millionen, mit einer belegbaren Geschichte über zweieinhalbtausend Jahre, das eine iranische Sprache spricht, das einen hervorragenden Anteil an der türkischen Innenpolitik hatte. Saladin war ein Kurde. Die Kurden haben nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeitlang eine autonome Republik gehabt und sind merkwürdigerweise im Vertrag von Lausanne als Minderheit nicht mehr anerkannt worden, sondern nur Juden, Christen und Armenier. Sie fallen durch den Rost der Politik auch der europäischen Länder in diesem Bereich.Das ist die Ursache, die zu diesen äußersten Auseinandersetzungen führt und mit denen die Türkei nicht fertiggeworden ist. Es ist meine feste Überzeugung, daß die Vorstellung der türkischen Regierung, man könne dort zu einer militärischen Lösung kommen, nichts bewirkt,
sondern sie stärkt im Gegenteil die PKK dadurch in den Kurdengebieten, obwohl sie dies gar nicht will.Die Türkei ist Mitglied vieler europäischer Organisationen. Sie ist Mitglied des Europarats, sie ist assoziiertes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft, sie ist Mitglied der NATO. Ich glaube, daß diese internationalen Organisationen eine weit größere Verantwortung als bisher wahrnehmen müssen, der europäischen Öffentlichkeit Klarheit darüber zu verschaffen, wie sich die politische Lage und die Entwicklung in der Türkei tatsächlich darstellt. Man muß hoffen, daß die türkische Regierung zu einer solchen Zusammenarbeit bereit ist.Wir müssen weit deutlicher als bisher der Türkei klarmachen, daß der Weg, den sie beschreitet, uns alle berührt und daß dieser Weg sie von Europa fortführt und nicht zu Europa hin.
Meine Damen und Herren, das Wort erhält jetzt unsere Frau Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anschläge auf Menschen — egal, von wem sie ausgehen — treffen auf unsere uneingeschränkte Ablehnung. Ich denke, daß es in diesem Punkt keine Differenzen gibt.Die PDS/Linke Liste unterstützt mit voller Überzeugung das kurdische Volk in seinem Kampf um demokratische Rechte, ja, um Menschenrechte, die ihm von der türkischen Zentralregierung nicht nur vorenthalten, sondern sogar mit militärischer Gewalt ausgetrieben werden. Wir sind aber ebenso der Überzeugung, daß sich dieser Kampf Mittel bedienen muß, die sichtbar lassen, worum er geführt wird: eben um Demokratie, um Unabhängigkeit, um kulturelle Integrität und Menschenrechte.Anschläge, wie sie in der vergangenen Woche in der Bundesrepublik und in anderen europäischen Ländern verübt wurden, gehören nicht dazu, dürfen nicht dazu gehören; sie verdunkeln diese Ziele. Wer um Demokratie und Menschenrechte kämpft und dafür Solidarität braucht, muß bedenken, daß diese Solidarität durch solche Aktionen beeinträchtigt wird, ja, sogar unmöglich werden kann. Die PKK hat in einer Erklärung bestritten, daß sie als Organisation Verantwortung dafür trage. Aber sie hat gleichzeitig erklärt, daß es sich bei diesen Anschlägen um „natürliche und verständliche Reaktionen gegen die Massakrierung und Vernichtung einer Nation" handeln würde. Dieser Haltung können wir nicht zustimmen, auch wenn — oder besser: obwohl — sie etwas Wahres enthält.Gegen das kurdische Volk in der Türkei wird ein grausamer Krieg geführt, bei dem die türkische Regierung offenbar keinerlei Zurückhaltung mehr kennt.Vielleicht haben einige von Ihnen vor dieser Debatte in der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Rundschau" gelesen: 800 Kurdendörfer sind inzwischen zerstört worden. Die türkische Armee hat nach Angaben eines ZDF-Teams den 950 Einwohnern des kurdischen Dorfes Kursunlu das Ultimatum gestellt, ihr Dorf bis heute zu verlassen; anderenfalls würde sie das Dorf beschießen. — Die Waffen, die dort eingesetzt werden, sind grausam. Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, wissen das sicher, denn Sie haben diese Waffen geliefert. Es handelt sich um BTR-60-Panzer aus NVA-Beständen. Es gibt diesen Zusammenhang, der nicht geleugnet werden kann und der die Empörung von gewisser Seite zu einer „Haltet den Dieb"-Heuchelei macht.Was uns bedrückt — und das geht jetzt weit über die Anschläge der letzten Woche hinaus, weil sich jeder beschämt fühlen müßte, wenn er hier einen Vergleich zu den Vorgängen in Kurdistan selbst zuließe —, ist die Tatsache, daß Organisationen, die lange und zu Recht gegen Unterdrückung und Repression, gegen Folter und militärischen Terror kämpfen, häufig irgendwann beginnen, der Logik eines solchen Kampfes zu folgen; daß sie beginnen, von den Methoden ihrer Unterdrücker zu „lernen"; daß die Opfer ihren Tätern aufs Handwerk schauen und sich entscheiden, einiges von diesem Handwerk selbst anzuwenden, und sich dann auch durch Grenzen nicht beirren lassen, weil es für die Täter auch eine grenzenlose Mittäterschaft gibt.„Der Krieg ist ein Meister aus Deutschland" — dieses Wort von Celan paßt heute auf kaum eine andere Region so gut wie auf Kurdistan. Sie alle wissen das. Aber was tun Sie dagegen? Haben Sie nach dem Rücktritt des früheren Verteidigungsministers Stoltenberg irgend etwas getan, um die Waffenlieferungen zu stoppen? — Sie sind meines Erachtens in diesem Krieg, was die Massaker am kurdischen Volk angeht, Mittäter geblieben.Dies aber sind die Umstände der Anschläge in der letzten Woche. Auch wenn wir die Anschläge verur-
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16212 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Ulla Jelpketeilen, können wir nicht so stumpfsinnig sein und übersehen, daß in diesen Anschlägen ein Aufschrei liegt.Ich komme zum Schluß:
Nicht ein Verbot der PKK wird solche Anschläge in Zukunft verhindern können, sondern nur ein Verbot jeglicher Waffenlieferungen für den Krieg gegen das kurdische Volk. Wenn die Bundesrepublik ihre Mittäterschaft an diesem Krieg beendet, wenn sie — im Gegenteil — alles daransetzt, die türkische Regierung zu einem Weg zu drängen, wie er von der heutigen israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern und der südafrikanischen Regierung gegenüber der schwarzen Mehrheit gegangen wurde, dann haben Sie die Schlußfolgerung gezogen, die nötig ist.Danke.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zweifellos gibt es für den sinnlosen Terror, für die Serie von kurdischen Anschlägen auf türkische Reisebüros, Gaststätten und andere Einrichtungen keinerlei Rechtfertigung. Ungeachtet der von Terrorkommandos behaupteten Absicht, mit solchen Aktionen die Augen der deutschen Öffentlichkeit auf die verzweifelte Lage der kurdischen Bevölkerungsmehrheit im Südosten der Türkei lenken zu wollen, wird das Gegenteil bewirkt: Die letzten Sympathien für den Selbstbehauptungswillen des kurdischen Volkes weiden verspielt. Nur wenige machen sich die Mühe, die komplizierten Zusammenhänge zwischen staatlich legitimiertem Terror des türkischen Militärs und dem pseudorevolutionären Terror der PKK zu analysieren.
Opfer des totalitären Machtanspruches beider Seiten sind in jedem Falle das kurdische Volk selbst und sein nur allzu berechtigter Anspruch auf kulturelle Identität, Selbstbestimmung und Freiheit. Dessen Ansprüche wurden in diesem Jahrhundert noch nie berücksichtigt, weder nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs noch in den Zeiten des Ost-West-Gegensatzes, als die Türkei dem Westen als stabiler Eckpfeiler der NATO allemal wichtiger war als eine lebendige, multikulturelle türkische Gesellschaft.
Nutznießer des fortdauernden westlichen Interesses an der strategischen Bedeutung der Türkei ist bis heute der türkische Militärapparat als Staat im Staate und selbsternannter Garant der kemalistischen Staatsdoktrin. Nutznießer ist aber auch zunehmend die PKK mit ihrem maßlosen Anspruch, allein und unter Anwendung stalinistischen Terrors die Interessen des kurdischen Volkes zu vertreten.
Das Ergebnis ist der permanente Kriegszustand im Südosten der Türkei. Die durchaus begrüßenswerten Bemühungen der letzten Jahre um eine Demokratisie rung der türkischen Gesellschaft scheitern immer wieder an der ungelösten kurdischen Frage. Diese mündet seit ihrer militanten Radikalisierung durch die PKK immer häufiger in die Forderung nach einer Lösung für alle Zeiten, eine Forderung, der die schwachen demokratischen Kräfte in der Türkei offensichtlich wenig entgegenzusetzen haben.
Das aber bedeutet die Auslöschung der Kurden als wahrnehmbare eigenständige Ethnie. Die Vernichtung der Stadt Lice vor wenigen Wochen bietet einen Vorgeschmack darauf, wozu türkische Sicherheitskräfte inzwischen entschlossen scheinen. Nach aktuellen Meldungen droht eine weitere Eskalation und steht die Vernichtung weiterer Dörfer und Ortschaften bevor.
Dennoch darf ein Export dieses Krieges nach Mitteleuropa, wo Kurden immer wieder Schutz vor Verfolgung und Willkür gefunden haben, nicht hingenommen werden. Die Verhinderung terroristischer Anschläge liegt auch im Interesse Hunderttausender bei uns lebender kurdischer Arbeitsmigranten und Flüchtlinge, die sich immer schwerer der Pressionen der PKK und ihrer Vorfeldorganisationen erwehren können.
Nichts wäre jedoch kurzschlüssiger und kontraproduktiver, als nun alle kurdischen Organisationen und Kulturvereine mit der PKK und ihrem Umfeld gleichzusetzen. Wir würden die bei uns lebenden Kurden der PKK geradezu in die Arme treiben.
Ebenso kurzschlüssig wäre es, zu glauben, ein Verbot der PKK könnte die existente kurdische Tragödie aus unserer Realität verbannen.
Erstens gibt es in Deutschland die PKK als registrierte, zugelassene Organisation überhaupt nicht. Ein auch nur dem Ansatz nach wirkungsvolles Verbot müßte sehr sorgfältig differenzieren, welche kurdischen Komitees und Organisationen zweifelsfrei das Geschäft der PKK besorgen und welche die legitimen Interessen der bei uns lebenden Kurden vertreten. Das wäre aber angesichts des von PKK-nahen Organisationen ausgeübten Drucks und der Desinformation offizieller türkischer Stellen ein außerordentlich kompliziertes Unterfangen mit der Gefahr nicht zu verantwortender Ungerechtigkeit und der Gefahr, den Rechtsstaat zu beschädigen.
Zweitens ist eine Mitverantwortung der Bundesrepublik für den Zustand der türkisch-kurdischen Beziehungen nicht von der Hand zu weisen. Sie ist durch unsere nicht hinterfragte Allianz mit dem türkischen NATO-Partner in Gestalt fortgesetzter Waffenlieferungen — auch zur sogenannten Terroristenbekämpfung — mit verursacht.
Die Verfolgung der Täter im Einzelfall ist nachdrücklich zu fordern. Langfristig aber wäre es zweifellos erfolgversprechender und zur Lösung der türkischkurdischen Konflikte in Deutschland und in der Türkei hilfreicher, wenn die Bundesregierung ihre kritiklose Waffenbrüderschaft mit den türkischen Militärs aufgeben und sich mit allen Mitteln für einen politischen Dialog der türkischen Gesellschaft mit ihrer kurdischen Minderheit einsetzen würde. Die Kurden-
Gerd Poppe
frage wird in der Türkei entschieden und nicht in Deutschland.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister des Innern, Herrn Manfred Kanther, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Mit den Anschlägen am 4. November sind 25 Banken, 17 Reisebüros, 5 Konsulate und 12 weitere türkische Objekte getroffen worden. An den überfallartigen Angriffen von kurdischen Kommandos waren vielfältig bewaffnete Personen beteiligt. Büroeinrichtungen sind demoliert, Brandsätze geworfen, Gebäude beschädigt worden. Viele Menschen sind zu Schaden gekommen, und ein Mensch ist getötet worden. Dies steht in einer Reihe mit Anschlägen, die in München im Juni schon einmal einen schlimmen und bis dahin ungewohnten Gipfel erreicht haben. Es ist kein Zweifel, daß die Auseinandersetzung, die Kurden, geführt von der PKK, gegen Türken in unserem Lande betreiben, an Brutalität und Gewalttätigkeit zugenommen hat.
Diese Überfälle können von uns nicht hingenommen werden. Wir prüfen intensiv, welche Maßnahmen geeignet und notwendig sind, um dem in Zukunft entgegenzutreten. Dies betrifft zum einen beim Generalbundesanwalt die Frage nach der Anwendbarkeit des § 129a StGB, Terrorismus, zum anderen vereinsund ausländerrechtliche Maßnahmen von Bund und Ländern, die sich gegen die PKK und ihre Suborganisationen richten können.
Vor allem müssen wir in dieser Frage auch unsere westeuropäischen Partner an unserer Seite wissen. Jetzt ist Deutschland der Schwerpunkt solcher Aktionen. Das kann sich aber durchaus ändern. Es gibt, wie wir auch aus anderen Bereichen wissen, gegen solchen politisch motivierten gewalttätigen Extremismus jedoch nur einen gemeinsamen Schutz der westeuropäischen Länder.
Aber auch in diesem Stadium ist für die Bundesregierung schon klar: Es werden keine ausländischen Bandenkriege in Deutschland geduldet, gleich welcher Begründung.
Mit dem 4. November hat die PKK den liberalen Rechtsstaat unerträglich herausgefordert.
Er ist eine langmütige Einrichtung; manchem gelegentlich zu sehr. Aber man kann es übertreiben. Jetzt ist das Maß voll.
Ich sage das nachhaltig, damit die Entschlossenheit der deutschen Politik in Bund und Ländern, gegen dieses Unwesen vorzugehen, nicht unterschätzt wird.
Ein Organisationsverbot ist durchaus ein taugliches Mittel, die Entschiedenheit der deutschen Politik und der Sicherheitsbehörden klarzumachen. Es stört die Logistik, es fordert europäische Solidarität in solchen Fragen heraus, es erlaubt verschärfte vereins- und ausländerrechtliche Maßnahmen, z. B. Aufenthaltsbeschränkung, Paßentzug, Verbot der politischen Betätigung.
Wir sind in Deutschland großzügig gegenüber Ausländern und ausländischen Gruppen, was die politische Betätigung angeht. Das ist nicht in allen Demokratien so. Es gibt aber eine absolute Grenze, nämlich daß jeder, der sich hier politisch betätigt, auf Gewalt verzichtet. An dieser Grenze wird nicht herumgedeutelt.
Ein Organisationsverbot löst nicht das Problem von Gewaltbereitschaft konspirativ arbeitender Gruppen, noch dazu von sehr engem Zusammenschluß. Wir wollen deshalb auch unseren Mitbürgern nichts vormachen. Niemand kann ausschließen, daß diese Gruppe oder andere wieder zu Mitteln der Gewalt greifen, um in unserem Land ihre Auseinandersetzungen auszutragen. Aber wir werden nicht zögern, alles zu tun, was rechtlich möglich ist, um diesem Unwesen ein Ende zu bereiten. Jede Verschärfung dieses Kurses — dies muß auch denen klar sein, die in der PKK ein politisches Mandat für sich beanspruchen —erhöht die Schwelle, über die wir in der Antwort gehen müssen. Das muß klar sein.
Ich wende mich an dieser Stelle an die 400 000 Menschen kurdischer Volkszugehörigkeit, die in Deutschland leben. Sie sind in weit überwiegender Zahl rechtstreu und werden von ihrer eigenen Minderheit genauso drangsaliert und herausgefordert wie wir als Deutsche oder Türken.
Ich rufe diese türkische Bevölkerungsgruppe dazu auf, die Extremisten zu isolieren,
damit das Verhältnis von Deutschen, Türken und Kurden in Deutschland nicht an dem Unverstand und der Gewaltausübung durch einige wenige Schaden leidet.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Freimut Duve.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Anschläge am 4. November waren weit mehr Anschläge auf den inneren Frieden in Deutschland als Anschläge auf die Gemeinten woanders. Es ist ein Angriff auf unser Land, ein Angriff auf unseren inneren Frieden und ein Angriff auf unsere Bemühungen, Toleranz für viele Millionen von Menschen, die bei uns leben und bei uns Heimat
Freimut Duve
gefunden haben, zu üben und zu stabilisieren und, wenn es geht, zu vermehren.
Das ist der zentrale Punkt: Der Angriff hat uns vielleicht vom Motiv her nicht gegolten, aber wir sagen: Dies ist ein Angriff auf unseren inneren Frieden, und so werden wir auch alle gemeinsam reagieren. Wenn es einen Punkt gibt, in dem die pluralistische Demokratie fundamental ist, dann in der Frage des Angriffs auf ihren Pluralismus. Wer mit Gewalt agiert, will diesen Pluralismus nicht.
Es ist auch ein Angriff — das hat der Innenminister eben schon gesagt — auf die vielen bei uns lebenden Türken und Kurden, auf die moderaten unter ihnen, deren Chance zum Gespräch immer geringer wird, wenn mit Gewalt gedroht wird. Ich weiß persönlich, wie viele Türken kurdischer Herkunft und kurdischer Kultur physische Angst haben vor der brutalen Bedrohung durch die PKK und der Kommerzialisierung ihres Drucks mit Drogen und anderen Dingen, wobei sie junge Menschen, Kinder, unter Druck setzen und auch bereit sind, Kinder umzubringen. Dies ist eine tödliche Bedrohung für unsere großen Städte.
Es geht nicht nur um das Verhältnis zur Türkei. Niemand kann es wegdenken. Wir sind zusammen. Ich freue mich, daß eine so hochrangige Delegation des türkischen Parlaments bei uns ist. 2 Millionen türkische Bürger leben bei uns. Sie leben häufig in beiden Kulturen. Wir sind miteinander „verheiratet". Es wird keine Scheidung geben. Deshalb ist es auch nicht gut — ich darf Ihnen das vielleicht mit auf den Weg geben —, wenn Ihre Ministerpräsidentin die Kritiker von militärischen Formen der Problemlösung in Ostanatolien in Freund und Feind der Türkei sehr radikal unterscheidet, wie sie es vor einigen Tagen in einem Gespräch wieder gemacht hat.
Wir sind Freunde der Türkei. Wir werden die Idee, die Probleme nur militärisch lösen zu können, auch weiterhin kritisieren; denn es gibt eine militärische Lösung auf Dauer nicht. Aber hier bei uns — das ist das Signal an alle: an Türken, an Kurden, an Serben, an Kroaten und an viele Iraner unterschiedlicher politischer Überzeugung — wird es keinen Krieg geben, solange wir in diesem Parlament sind. Ich hoffe, das ist noch ewig.
Solange wir in diesem Parlament sind, wird es die Zerstörung unserer Demokratie dadurch, daß man internationale Bürgerkriege bei uns führt, nicht geben.
Das ist eine zentrale Frage, die nicht nur uns betrifft. Sie betrifft inzwischen die Amerikaner, und sie betrifft inzwischen die Franzosen. Gestern wurden in Frankreich sehr viele Fundamentalisten verhaftet, wie Sie wissen.
Sie gehen in dieser Frage härter vor. Wir dagegen gehen in dieser Frage nach wie vor sehr liberal vor.
Ich bin Ihnen dankbar, Herr Bundesinnenminister, daß Sie diese Liberalität eben noch einmal deutlich gemacht haben. Nur, es wird für Sozialdemokraten, für Liberale und für andere eine Grenze geben, wenn diese Gewalt bei uns nicht aufhört.
Auf eine Anfrage von mir an die Bundesregierung hat sie mir bestätigt, daß es 300 erkannte HisbollahAngehörige in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Wir werden weiter forschen und weiter fragen. Man muß diesen 300 Menschen — möglicherweise haben sie Familie hier; möglicherweise wollen sie sich hier integrieren — sehr deutlich machen: Auf deutschem Boden, in dieser Demokratie gibt es keine Gewalt. Der Angriff gilt immer uns. Ich freue mich, daß wir in dieser Frage jetzt zu einem weitgehenden Konsens gekommen sind.
Wir lassen uns aber auch durch die PKK nicht in eine Frontstellung bringen, die es uns unmöglich machen würde, die Türkei und die türkischen Militärs da zu kritisieren, wo sie zu kritisieren sind, nämlich in ihrem Glauben, es gäbe nur eine militärische Lösung. Ich glaube nicht und habe nie geglaubt, daß es nur eine militärische Lösung geben kann. Die guten und zarten Schritte, die zur Anerkennung der eigenen Kultur, zur Anerkennung der eigenen Schulen und zur Anerkennung der eigenen Verwaltung gemacht worden sind, dürfen nicht weiter zerschossen werden. Zerschossene Dörfer und zerschossene Städte in Ostanatolien sind nicht die Antwort, bei der wir mit der Türkei gehen werden. Dagegen werden wir immer kritisch bleiben.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Heinrich Lummer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden über dieses Thema nicht zum erstenmal. Weil das so ist, ist es allzu verständlich und naheliegend, daß wir einerseits feststellen: Dieser demokratische Rechtsstaat ist langmütig, andererseits aber auch sagen: Nun ist das Maß voll. Denn sonst würden wir bei den Bürgern in unserem Lande kein Verständnis mehr finden, ganz gleich welcher ethnischen Herkunft sie sind.Wir stehen in einer schwierigen Situation. Die Regierung der Türkei hat oftmals den Vorwurf erhoben, daß wir die türkischen Objekte in Deutschland nicht genug schützen. Sie hat die Forderung erhoben, wir hätten längst die PKK verbieten sollen -- und anderes mehr. Ein Teil der politischen Linken und selbstredend die Kurden hingegen erheben den Vorwurf, daß wir nicht genug für die Kurden tun, für ihre Autonomie oder sogar für einen eigenen kurdischen Staat. Daneben kritisieren uns unsere eigenen Bürger, daß der innere Frieden in unserem Lande gefährdet ist, indem fremde Konflikte in unser Land hineingetragen werden. Kollege Duve hat ja in sehr beredter Weise darauf hingewiesen — das kann man nur unterstreichen —: Das trifft uns. Dagegen müssen wir uns in angemessener Weise wehren.
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Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16215
Heinrich LummerMeine Damen und Herren, wir können uns in dieser Situation natürlich nicht gleichgültig verhalten. Eine Lage, wie Goethe sie beschrieben hat — wir schauen zu, „wenn hinten weit, in der Türkei, die Heere aufeinanderschlagen" —, ist Vergangenheit. Das gibt es nicht.
Wer aber in unserem Lande Gewalt anwendet, der ist ein Verbrecher und muß entsprechend verfolgt werden.Wir können Menschen, die in Not sind, Schutz vor Verfolgung gewähren, aber wir können nicht unser Land zu einem Ort werden lassen, wo man die Basis für Konflikte auch in der Türkei selbst schafft, indem hier durch Drogenhandel das Geld verdient wird, um die Waffen für die Kurden zu kaufen. Die Medaille hat ja nicht nur die Seite, daß wir der türkischen Regierung Waffen geliefert haben. Vielmehr haben die Drogenhändler kurdischer Provenienz Deutschland benutzt, um das Geld für ihre Waffen hier zu beschaffen.Die Lösung, meine ich, kann nur darin bestehen — das ist ein Appell an alle Seiten —, daß bei der Erhaltung eines integralen türkischen Staates der kurdischen Minderheit ein gerüttelt Maß Autonomie gewährleistet wird. Dafür müssen wir uns im Namen der Menschenrechte einsetzen, wann immer und wo immer.Wenn man sieht, wie die Gewalt angewendet wird, stellt man fest, daß man offenbar an den meisten Stellen heute immer erst warten muß, bis die Helden müde geworden sind, bis sie einsehen, nachdem viel, allzuviel Blut geflossen ist: Militärisch ist das Problem nicht lösbar. Ich meine, das können wir hier sehr wohl vermitteln, wenn man diesen Prozeß objektiv vor Augen hat. Eine militärische Lösung ist nach meinem Dafürhalten nicht möglich.Wenn das so ist, dann, finde ich, muß es den Dialog geben, einen ehrlichen Dialog, bei dem wir allenfalls Makler sein können. Aber die Betroffenen müssen diesen Dialog führen. Wir haben schon manchen, den wir vormals für einen Verbrecher gehalten haben, wie Arafat, heute als dialogfähig bezeichnet.
Eine solche Frage muß auch hier geprüft werden.Das Verbot kann sinnvoll sein; Herr Bundesinnenminister, Sie haben das gesagt. Mich überrascht allerdings ein bißchen, daß im Innenministerium erst jetzt diese Fragen geprüft werden. Das hätte man schon längst beim vorvorletzten Mal tun können, als es diese Anschläge gegeben hat, und man müßte nicht erst heute mit den Prüfungen beginnen, was nun wirklich möglich ist. Aber wer sich von einem Verbot die Lösung in unserem Lande verspricht, der ist wirklich auf dem Holzwege. Nichtsdestoweniger kann dies ein gutes Signal sein.Es sind hier eine Reihe von Maßnahmen genannt worden. Ich will auf einen Punkt noch hinweisen: Es gibt Länder, die den militanten terroristischen Kurden türkischer Staatsangehörigkeit Basis geboten haben, etwa Syrien. Die Türkei hat mit Syrien verhandelt.Auch wir sollten unseren Einfluß da geltend machen, wo diesen terroristischen Gruppierungen Basen geboten werden, damit so etwas unterbleibt und damit eine Chance für die Konfliktlösung zustande kommt. Wir sollten also bei auswärtigen Regierungen in diesem Sinne tätig sein, wann immer wir das können.Ich habe mit großem Vergnügen und mit innerer Zustimmung den Kollegen Hirsch gehört. Man muß sich das noch einmal vor Augen führen: Auch dort, wo ein verfestigter Aufenthaltsstatus vorhanden ist, sollten wir bereit sein abzuschieben. Das höre ich wirklich gerne.Ich kann nur sagen: Für den, der hier verbrecherisch tätig wird, scheint die schlimmste Strafe nicht der Knast zu sein. Vielmehr ist die schlimmste Strafe für ihn: Ab in die Heimat! Das, finde ich, sollten wir auch machen.
Wenn es dafür im ganzen Hause Unterstützung gibt, sollte sich der Innenminister ermuntert fühlen, auf diesem Wege voranzugehen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Ulrich Irmer das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident.Meine Damen und Herren! Die außenpolitische Bedeutung der Türkei ist in den letzten Jahren noch gestiegen. Die Türkei war ein außerordentlich wichtiger Bündnispartner zu den Zeiten des Ost-West-Konfliktes. Heute übt sie eine Brückenfunktion an der Schnittstelle zwischen Europa, dem Nahen Osten und den Republiken im Süden der ehemaligen Sowjetunion aus.Weil dies so ist, müssen wir unsere Beziehungen zur Türkei auch unter außenpolitischen Gesichtspunkten pflegen. Wer soll denn sonst, wenn nicht die Türkei, dafür sorgen, daß die Vernunft des Laizismus Platz greift, auch da, wo sich das Haupt des fanatischen Islamismus erhebt? Hier müssen wir auf die Türkei bauen.
Ich weise deshalb mit großer Entschiedenheit zurück, daß dieses Bündnis mit der Türkei hier diffamiert wird, wie es vorher in zwei Reden geschah. Das lassen wir uns nicht gefallen. Die Türkei ist und bleibt unser wichtiger Bündnispartner.
Gerade weil dies so ist und weil die Türkei uns als Mitglied in NATO und Europarat eng verbunden ist, müssen wir aber auch die unter Freunden angebrachten offenen Worte finden. Das Problem der Kurden
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16216 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Ulrich Irmerkann so, wie es bisher betrieben wurde, nicht gelöst werden.
Ich freue mich, daß ich dieses in Gegenwart des Präsidenten der türkischen Großen Nationalversammlung und seiner Delegation noch einmal ganz deutlich sagen kann: Die PKK, meine Damen und Herren, ist nur deshalb so stark und findet nur deshalb Zuspruch und auch Unterstützung in weiten Teilen der kurdischen Bevölkerung, weil das Problem mit den falschen Mitteln angegangen wird. Gäbe es nicht den Staatsterrorismus — ich habe hier ein führendes Mitglied einer der Regierungsparteien in der Türkei zitiert — bei der durchaus legitimen Verfolgung der Terroristen, würde hier nicht weit über das Ziel hinausgeschossen, würden hier nicht Zivilpersonen in Mitleidenschaft gezogen, dann könnte die PKK auf keine Unterstützung mehr hoffen.
Wenn Autonomierechte gewährt würden, kulturelle Identitätsfindung in der Türkei möglich wäre, dann könnte man die PKK vergessen. Es gäbe sie möglicherweise gar nicht mehr.
Das kann der einzige Weg sein, auf dem wir dieses Problem lösen.Meine Damen und Herren, die Türkei als Mitglied von NATO und Europarat hat einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft gestellt. Wir sollten uns mit diesem Antrag sehr sorgfältig beschäftigen. Es gibt ein im Augenblick nicht lösbares Problem; das ist die in der Europäischen Union gewährte Freizügigkeit von Personen. Das können wir im Augenblick nicht darstellen. Unterhalb dieser Schwelle aber kann man über alle anderen Fragen ohne weiteres verhandeln.Ich bin der Meinung, daß wir unsere Verbindungen zur Türkei auch dadurch stärken sollten, daß wir wirtschaftlich neue Wege der Zusammenarbeit öffnen.In diesem Zusammenhang noch ein Wort zu den bei uns lebenden Türken, die in diesem Lande sehr viel Leid erfahren haben nicht nur von seiten der Kurden oder der PKK-Terroristen, sondern auch von seiten mancher unserer deutschen Landsleute: Wir müssen mehr für die Integration der hier lebenden türkischen Bürger tun. Dazu gehört auch, daß wir die Einbürgerung erleichtern.
Ich bin ganz entschieden dafür — und sage dies auch dem Bundesinnenminister —, daß wir hier deutliche Schritte tun müssen, von uns aus Sperren und Barrieren abzubauen.
Ich möchte etwas hinzufügen: Manchmal wird bei uns gesagt, die Probleme, die durch eine Einbürgerung für Türken entstehen, könnten nur dadurch gelöst werden, daß wir doppelte Staatsangehörigkeit in großem Umfang zulassen. Ich meine, man sollte hier über einen anderen Weg nachdenken. Es liegt in der Hand der Türkei, des türkischen Gesetzgebers, einige der Barrieren zu beseitigen, die heute bestehen, wenn Türken zögern, dieses Angebot der erleichterten Einbürgerung wahrzunehmen.
Hier müßten bestimmte Fragen des Erbrechtes gelöst werden. Es müßte auf jeden Fall garantiert sein, daß jeder Türke, der Deutscher geworden ist, aber zurückwill, auch wieder zurückkann. Dies kann die Türkei regeln. Wir sollten hierüber in einen Dialog miteinander eintreten.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort erhält jetzt der Bundesminister des Äußeren, Dr. Klaus Kinkel.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich im Juni dieses Jahres an den Trauerfeierlichkeiten für die Opfer von Solingen in der Türkei teilnahm, wurde mir bewußt, wie sehr die Türken Freunde von uns sein wollen und daß wir nicht zulassen dürfen, daß die Menschen in unserem Land in Einheimische und Ausländer auseinanderdividiert werden.
Die Gewalt deutscher Mitbürger gegen Ausländer erfüllt uns mit Scham, aber der durch ausländische Mitbürger verübte Terror in unserem Land erfüllt uns mit nicht weniger Abscheu.So war es auch mit den jüngsten Anschlägen auf türkische Einrichtungen in zahlreichen Städten Deutschlands und anderen Städten Europas am Donnerstag letzter Woche durch militante kurdische Gruppen. Wir können und wir werden — das hat der Innenminister zu Recht betont — Gewalt, von wem immer sie auch kommen mag und wie immer sie motiviert sein mag, in Deutschland nicht hinnehmen.
So wie ich damals sagte, Deutschland ist kein ausländerfeindliches Land, so sage ich heute: Deutschland muß ein sicheres Land bleiben, und dafür muß Politik sorgen, müssen wir sorgen. Das schulden wir unseren Bürgern, die ein Recht auf Sicherheit und Ordnung haben. Diese Sicherheit muß für alle gelten, unabhängig von Staatsangehörigkeit, Herkunft oder Hautfarbe.Ich appelliere deshalb von hier aus an alle in Deutschland lebenden Kurden: Tragen Sie Ihre Konflikte nicht in Deutschland aus, und glauben Sie auch nicht daran, daß Gewalt der Weg zu legitimen politischen Zielen, etwa des Minderheitenschutzes in Ihrer Heimat, sein könnte!Hier ist ein fundamentales Prinzip unserer Innenwie Außenpolitik berührt. So wie wir uns den Virus
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16217
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelvon Intoleranz, Ausgrenzung und Nationalismus von niemandem aufzwingen lassen, so dürfen und werden wir uns auch den Virus des Terrors, die Logik der Gewalt als angeblich einzigem wirksamen Mittel der Politik von niemandem aufzwingen lassen. So sehr wir uns weltweit für den Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten einsetzen, so entschieden lehnen wir die gewalttätige Auseinandersetzung hierüber in unserem Lande ab. Unsere Politik bleibt den Menschen verpflichtet. Gewalt werden wir nicht zulassen.
Die Aktivitäten der PKK sind inzwischen zu einem zentralen und — leider — belastenden Thema der deutsch-türkischen Beziehungen geworden. Ich habe mit meinem geschätzten Kollegen, dem Außenminister Cetin, der selbst kurdischer Herkunft ist, über diese Fragen oft, zuletzt beim Besuch der türkischen Ministerpräsidentin Cillar in Bonn im September, offen und freimütig diskutiert. Der Außenminister hat die zum Ausdruck gebrachten Sorgen der Bundesregierung mit Verständnis aufgenommen.Meine Damen und Herren, die PKK ist eine marxistisch-leninistische und separatistische Kaderorganisation. Sie führt in der Südosttürkei einen Guerillakampf, dem täglich viele unbeteiligte Menschen zum Opfer fallen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die PKK mit ihren Terrorangriffen zur Zeit das Gesetz des Handelns in Südostanatolien bestimmt und daß sie eine Bedrohung für den türkischen Staat darstellt. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sie damit diejenigen Kräfte in der Türkei stärkt, die bei diesem Konflikt ganz und allein auf die militärische Karte setzen.Wer bereit ist, andere Länder zu verstehen, muß verstehen können, daß die türkische Regierung nicht bereit ist, mit dieser Organisation zu verhandeln. Die Türkei ihrerseits aber muß wissen und verstehen, daß es bei allen Schwierigkeiten, die sie mit der PKK in der Türkei hat, ihre Pflicht ist, die Auseinandersetzung mit dieser Organisation nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu führen.
So sehr wir den Terror der PKK verurteilen, so sehr verstehen wir, daß die zwischen allen Stühlen sitzende, leider leidgeprüfte kurdische Bevölkerung berechtigte Anliegen hat, die bei gutem Willen — das kam vorher schon zum Ausdruck — auf allen Seiten auch einer gewaltfreien Lösung eigentlich zugeführt werden können müßte.
Die Türkei dabei — ja, ich sage es so — zu ermahnen, aber auch zu ermutigen, gehört zu dem Dialog mit einem guten Freund.Wir beobachten mit großer Besorgnis eine Ausweitung des Konfliktherdes über die Grenzen der ursprünglichen zehn Notstandsprovinzen hinaus. Die Entwicklung zeigt, daß die türkischen Sicherheitskräfte offensichtlich nur begrenzt in der Lage sind, den Konflikt wirksam und dauerhaft einzudämmen.Hieraus ergeben sich Gefahren, übrigens nicht nur für die Stabilität der Türkei, sondern für ganz Europa. Die Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte und eine politische Lösung der Kurdenfrage auf der Grundlage der KSZE-Prinzipien werden deshalb immer dringender. Dabei hat die Türkei Anspruch auf unsere kritische, aber partnerschaftliche Unterstützung. Sie ist für uns ein nicht nur seit langer Zeit eng verbundener Partner, sie hat auch — Kollege Irmer hat es bereits erläutert — in einem neuen internationalen Umfeld eine gesteigerte, regional strategische Bedeutung gewonnen. Das betrifft auch unsere eigenen deutschen Interessen unmittelbar.Im übrigen: Von kritikloser Waffenbrüderschaft kann nun wahrhaftig keine Rede sein.
Es bleibt unser Ziel, mit dem Partner Türkei die Gemeinsamkeiten im Rahmen eines offenen politischen Dialogs zu bewahren und fortzuentwickeln. Ich sage das auch ganz bewußt und mit Freude in Anwesenheit des Präsidenten der türkischen Nationalversammlung, den wir mit seiner Delegation besonders herzlich begrüßen.
Ich freue mich, daß ich anschließend mit ihm ein Gespräch zu denselben Themen — davon gehe ich aus — führen werde.
Auch dein Anliegen der Menschenrechte, die uns sehr wichtig sind, wird hierdurch am besten gedient.Innere Sicherheit und Außenpolitik greifen nun einmal eng ineinander. Deshalb fordere ich seit geraumer Zeit ein Verbot der militanten PICK in Deutschland. Wir dürfen nicht länger hinnehmen, daß militante kurdische Gruppen in Deutschland versuchen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Toleranz und unser liberales Ausländerrecht — Herr Kanther hat darauf hingewiesen — dürfen eben nicht mißbraucht werden. Es darf nicht sein, daß die PKK in Deutschland mit periodisch wiederkehrenden Gewaltaktionen die Auslandsvertretungen eines befreundeten Staates und andere Einrichtungen überfällt. Es darf nicht sein, daß die PKK von hier aus zur Gewalt aufruft und Spendengelder zur Finanzierung ihres Kampfes eintreibt, daß sie sich auf deutschem Boden Hoheitsrechte anmaßt und daß sie Deutsche, die in der Türkei Urlaub machen wollen, bedroht.Millionen von ausländischen Mitbürgern verschiedener Herkunft, Religionen und Sprache leben in Deutschland seit Jahren einträchtig zusammen. Darunter sind — fleißig, engagiert und integriert — in unserem Land über 1,8 Millionen Türken. Wir müssen alles tun, damit es auch in Zukunft so bleibt. Wir müssen aber auch alles tun, damit Deutschland nicht zum Ruhe- und Abstützraum von Gewalt wird. Das können und werden wir nicht zulassen.
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16218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist Uta Zapf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es zeichnet sich ab, daß es in der Frage der Verurteilung der terroristischen Anschläge der PKK eine große Einigkeit in diesem Hause gibt. Ich glaube, es ist gut so, daß dies immer wieder betont wird.
Zweimal in diesem Jahr sind solche Anschläge schon verübt worden. Es hat Tote gegeben. Es hat viel Schaden gegeben. Aber der größte Schaden, meine Damen und Herren, ist mit diesen Anschlägen der gerechten Sache des kurdischen Volkes getan worden. Wir setzen uns alle gemeinsam — ich habe das auch aus Herrn Kinkels vorsichtigen Andeutungen gehört — dafür ein, daß wir der Türkei gegenüber in aller Deutlichkeit sagen: Wir verurteilen die militärische Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung zur Bekämpfung des Terrors in der Türkei. Ich denke, genau an diesem Punkt läßt sich das gesamte Dilemma dieses Problems aufzeigen, Herr Kinkel. Ich denke, da muß auch deutsche Politik einsetzen.
Auf der Tagesordnung, die für diese Woche vorliegt, ist ein Antrag der SPD-Fraktion zur Beerdigung erster Klasse, zur Ablehnung ohne Aussprache aufgeführt, nämlich das, was wir beantragt hatten: keine Waffenlieferung in die Türkei, sondern statt dessen Wirtschaftshilfe.
Ich denke, wir müssen etwas, was die SPD wiederholt vorgeschlagen hat, aufgreifen, nämlich daß man so etwas wie eine internationale Kurdenkonferenz einberuft. Ich denke, ich habe Herrn Hirsch richtig verstanden, daß er in diese Richtung gezielt hat. Wir sollten dies genauso ernsthaft durchdenken, wie wir die Maßnahmen zur Eingrenzung des Terrors durch die PKK in der Bundesrepublik bedenken sollten, die Frage des Verbotes oder anderer Mittel, mit denen man dieser Gewalttaten Herr werden kann.
Es kann doch nicht angehen, meine Damen und Herren, daß wir einfach nicht zur Kenntnis nehmen, daß in Südostanatolien ein Bürgerkrieg stattfindet, und sozusagen aus Freundschaft zur Türkei den Kopf in den Sand stecken. Ich möchte dazu einen unverdächtigen Zeugen zitieren, den ehemaligen französischen Botschafter in der Türkei, der in der Zeitschrift „Foreign Affairs" von einem Vernichtungskrieg gegen die kurdische Bevölkerung gesprochen hat und der davor warnt, daß in der Türkei ein Bürgerkrieg wie in Jugoslawien ausbrechen könne.
Heute war in der „Frankfurter Rundschau" ein hochinteressanter Artikel, der sehr genau beschrieben hat, wie die kurdische Bevölkerung, die nichts anderes will als das Recht auf ihre Kultur, das Recht auf ihre eigene Sprache, das Recht auf Bildung in eigener Sprache und das Recht, respektiert zu werden — wie es laut Menschenrechtscharta allen Menschen zusteht —, zerrieben wird zwischen dem Terror der PKK und den Militäraktionen der türkischen Regierung.
Es gibt das, was vorhin als Staatsterror bezeichnet wurde. Das Resultat ist, daß diese Menschen in die Arme einer terroristischen Organisation getrieben werden, nämlich in die Arme der PKK, weil sie in dieser Organisation die einzigen sehen, die ihre Belange noch einigermaßen vertreten.
Ich möchte Ihnen zwei Beispiele dafür geben, die ich selber erlebt habe, eines in Deutschland und eines in der Türkei. Ich war 1991 nach der Ermordung von Vedat Aydin in Diyarbakir und habe mit einer Familie gesprochen, deren Sohn bei der Beerdigung von türkischen Militärkräften erschossen worden war. Die Familie mußte fünf Tage lang nach dem Sohn suchen, bis ihr bekanntgegeben wurde, daß er tot ist. Das war eine gutbürgerliche, offensichtlich reiche kurdische Familie — Kaufleute — in Diyarbakir. Der Onkel des Erschossenen sagte voll Bitterkeit zur mir: „Einen Staat, der uns nicht will, den können wir auch nicht wollen. " — Ich denke, es muß einen ins Herz treffen,
wie verletzt diese Leute durch eine solche Behandlung sind. Es ist natürlich, daß sie sich einer solchen Organisation nähern. Ich denke, diesen Vorgang können wir auch im Augenblick dort beobachten.
Das zweite Beispiel passierte hier in Deutschland. Ein Taxifahrer, der mich zum Bundestag gefahren hat und mit dem ich ins Gespräch kam, stellte sich als Kurde heraus. Als er sagte, er komme aus Kurdistan, fragte ich ihn, aus welchem Teil er stamme. Darauf wollte er mir keine Auskunft geben. Wir kamen auf die PKK zu sprechen, und er sagte mir: „Wissen Sie, ich habe mit der PKK eigentlich gar nichts am Hut. Aber das sind die einzigen, die die Belange der Kurden vertreten. Deshalb bezahle ich ihnen jeden Monat freiwillig eine gewisse Summe Geldes für den Kampf der Kurden" . Dies, meine Damen und Herren, sollte uns doch zu denken geben.
Ich fordere die Bundesregierung ausdrücklich auf, Herr Kinkel, ihre schönen Worte über Menschenrechte und über den Dialog mit den türkischen Freunden tatsächlich wahrzumachen und nicht wieder alles unter den Tisch fallen zu lassen und in keiner Weise zu reagieren, wie es einem Staat gut ansteht, der die Menschenrechte überall verteidigt, auch gegenüber Verbündeten, die die Menschenrechte verletzen. Ich fordere Sie auf, das wahrzumachen. Ich fordere Sie auch auf, eine internationale Konferenz anzustoßen, sei es über den Europarat, sei es über die KSZE oder über die UNO. Denn wir müssen verhindern —
Frau Kollegin!
— ich bin sofort fertig; ich bin beim letzten Satz —, daß dies ein Flächenbrand wird. Wir alle haben die Verantwortung, sowohl für den inneren als auch für den äußeren Frieden, in diesem Fall im Inneren der Türkei, zu sorgen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. November 1993 16219
Meine Damen und Herren! Das Wort erhält jetzt unser Kollege Dr. Günther Müller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Probleme, die wir heute auf dem Gebiet der Türkei und in diesem Raum haben, sind, ähnlich wie die Probleme auf dem Balkan, indirekt Folgen des Ersten Weltkriegs, des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches und der Internationalisierung von ethnischen Fragen. Wir wissen, daß Kurden in der Türkei, im Irak, im Iran, in Syrien, in Armenien leben und daß der Terror, mit dem wir uns heute in dieser Aktuellen Stunde beschäftigen, nicht nur in Deutschland stattfindet. Am selben Tag gab es ja Anschläge in der Schweiz, in Frankreich und in anderen europäischen Ländern. Wir sehen: Es handelt sich um ein internationales Problem, das große Schwierigkeiten mit sich bringt, bei dem wir uns aber alle einig sein müssen, daß es nur im Gespräch gelöst werden kann und nicht durch Terror und Repression.Ich glaube, gerade dem Europarat würde hier eine besondere Funktion zukommen als dem Hüter der Menschenrechte und weil die Türkei ja auch ein Mitglied der Organisation des Europarates ist.Als vor zwei Jahren die türkische Regierung versuchte, offener gegenüber den Kurden zu sein, die kurdische Sprache zu erlauben und Presseerzeugnisse in kurdischer Sprache zuzulassen, passierte das, was eigentlich zu erwarten gewesen war, wenn man die radikalen Gegner der türkischen Regierung kannte. Die PKK mußte reagieren, denn jeder Versöhnungsprozeß, der hier vielleicht hätte eingeleitet werden können, hätte ihr die Basis für den terroristischen Kampf entzogen.
Insofern ist es tragisch, daß gerade das Entgegenkommen der türkischen Regierung den Konflikt verschärft hat.Frau Kollegin Jelpke, es ist natürlich Geschichtsklitterung, wenn Sie sagen, daß die PKK jetzt mit den Mitteln zurückschlägt, mit denen die türkische Regierung vorher die Kurden bekämpft hat. Das ist falsch; es ist genau umgekehrt. Das müßte Ihre Partei aus der Zeit, als sie noch SED hieß und mit der PKK als marxistischer Bruderpartei enge Kontakte unterhielt, viel besser wissen.Vor allem dürfen wir die PKK nicht mit den Kurden gleichsetzen. Die PKK ist eine marxistisch-leninistische Organisation. Sie tritt dafür ein, daß alle anderen Parteien verboten werden — sie hat das gerade in den Gebieten angeordnet, in denen sie Macht ausübt —; auch ein Verbot der freien Presse hat sie angeordnet. Was besonders interessant ist: Der Terror in der PKK selbst gegen Leute, die vom offiziellen Kurs abweichen, wird in der Form der Todesstrafe durchgeführt, und es werden diejenigen liquidiert, die die Beschlüsse des Zentralkomitees nicht ausführen.Bereits vor zehn Jahren, 1984, wurden mit Enver Ata in Schweden und Zülfü Gök in Rüsselsheim zwei führende Mitglieder der PKK liquidiert, weil sie mehr Demokratie innerhalb der PKK wollten. Das zeigt uns, daß wir es nicht nur mit einem ethnischen Problem zu tun haben, sondern mit Klassenkämpfern marxistisch-leninistischer Provenienz, die versuchen, auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland diesen Kampf auszutragen. Wir können kein rückwärtiges Operationsgebiet für terroristische Aktivitäten sein; wir können ebenfalls nicht das Gebiet sein, aus dem die PKK hauptsächlich ihre Finanzen bekommt. Denn es ist nicht nur so, Frau Kollegin Zapf, daß manche Kurden freiwillig ihre Beiträge an die PKK leisten, sondern man spricht ja schon von einer kurdischen Mafia, die mit Schutzgelderpressungen Gelder eintreibt. Wir wissen — das wird sicher der frühere Bürgermeister von Bremen aufgrund seiner Erfahrungen vor Ort sehr gut beurteilen können —, daß es eine türkische Drogenmafia gibt, die von Kurden beherrscht wird und die auf diese Art und Weise Waffenkäufe finanziert.Das bedeutet für uns: Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus ist auch eine Frage — das ist vom Herrn Bundesinnenminister und eigentlich von allen Kollegen betont worden — unseres eigenen Selbstverständnisses als wehrhafter Demokratie. Wenn wir hier nicht entschieden den Anfängen wehren, werden wir mit den Folgen noch schwer zu tun bekommen.Lassen Sie auch mich mit einem kurdischen Taxifahrer schließen, mit dem ich gestern gefahren bin. Es war offensichtlich ein anderer.
— Nein, es war nicht der gleiche. Es war zu später Stunde eine Fahrt von hier zu meiner Wohnung.
— Sehr spät, lieber Kollege Struck. Wir arbeiten gelegentlich bis halb zwei.Dieser kurdische Taxifahrer, den ich gefragt habe, woher er komme, sagte zu mir, er sei Kurde, er komme eigentlich aus dem irakischen Teil Kurdistans. Anschließend kamen wir in eine politische Diskussion, und er sagte: „Wissen Sie, früher waren wir Kurden arm, waren aber als Opfer der Verhältnisse angesehen. Die Bilder von Naturkatastrophen, von Erdbeben u. ä. gingen auch durch Deutschland; deshalb haben mich die Menschen in Deutschland bedauert und gemocht. Das Schlimmste, was zur Zeit passiert, ist, daß wir jetzt, wegen des Terrors der PKK, als Freunde von Terroristen betrachtet werden. " Manches an Sympathie gerade für diese Menschen auch bei uns in der Bundesrepublik ist verlorengegangen.Deswegen sollten wir alles tun, um die Verhältnisse zu unseren Mitbürgern, die aus der Türkei oder aus anderen Ländern kommen und kurdischer Abstammung sind, gut zu gestalten. Wir müssen alles tun, um den Terror zu bekämpfen. Ich sage noch einmal: Das, was die französische Regierung vorgestern und gestern in ihrem Lande gegen Terroristen aus Algerien getan hat, sollte vielleicht ein gutes Beispiel und Anregung dafür sein, was bei uns in der Bundesrepu-
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Dr. Günther Müllerblik auch nötig ist, um dem Terror von Anfang an eine klare Front entgegenzusetzen.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unsere Frau Kollegin Monika Ganseforth das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unbestritten ist — das hat auch Frau Zapf gesagt —, daß die Anschläge den Kurden und der Sache der Kurden am meisten schaden. Die Saat des Terrors und der Gewalt geht auf und schwappt auf unser Land über. Spätestens an dieser Stelle müssen wir feststellen, daß es auch uns angeht.
Das Kurdenproblem ist zum Krebsgeschwür der Türkei geworden. Jede Gewalttat dient der anderen Seite jeweils wieder als Rechtfertigung für weitere Eskalation. Es ist eine Tragik, daß ausgerechnet die Regierung, die nach dem Militärputsch angetreten ist, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einzuführen und die Menschenrechte zu achten, sich immer mehr und weiter in die Spirale der Gewalt verstrickt.
Ich glaube auch nicht, Herr Müller, daß diese Regierung, gerade weil sie liberaler gewesen ist, dieses hervorgerufen hat, sondern die Schritte waren halbherzig. Sie waren nicht mutig und weit genug, denn sonst wäre dieser Anfang zu einem besseren Ende gekommen.
Ich will ein schlimmes Beispiel der letzten Tage erwähnen: Die 25jährige Studentin Nulifer Koc aus Bremen, eine gebürtige Kurdin, die als Dolmetscherin eine Gruppe in die Türkei begleitet hat, ist festgenommen worden und war einige Tage verschwunden. Sie ist schlimm gefoltert worden. Jetzt kommt die Parallele zu uns: Sie hat dort einen Soldaten getroffen, der in Rothenburg ob der Tauber durch die GSG 9 zur Terrorbekämpfung ausgebildet worden ist.
Das ist genau unser Teil der Verantwortung an dieser Spirale der Gewalt. Wir müssen alles tun, daß dieses unterbrochen wird. Ich weiß nicht, was aus Nulifer Koc geworden wäre, wenn es keinen internationalen Protest gegeben hätte. Wir haben solche Fälle erlebt. Dieser ist noch einmal gut ausgegangen. Aber das geht nicht.
Ich meine, dahinter steckt ein tiefes Mißtrauen der Türkei gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern und gegenüber all denjenigen, die Fragen an die Regierung stellen. Mißtrauen ist kein guter Ratgeber. Dem scheint ein nicht überwundenes Trauma der Bedrohung von innen und außen seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs zugrunde zu liegen.
Wie soll es jemals zu einer Lösung eines so schwierigen Problems wie der Kurdenfrage kommen, wenn ein Denkverbot besteht? Separatismus ist sicher nicht die Lösung der Kurdenfrage. Aber es muß gedacht werden können, es muß darüber diskutiert werden können, und es muß sich mit dieser Frage auseinandergesetzt werden, ohne daß man sich sofort strafbar macht, wenn man überhaupt einen solchen Gedanken hegt. Tabuisierung und Kriminalisierung verhindern mögliche Lösungen. Das ist das Grundproblem, warum die Türkei in dieser Frage nicht weiterkommt.
Die Sehnsucht des türkischen Staates nach Homogenität und nach gehorsamen Untertanen läßt sich nicht stillen. Die Türkei ist nicht homogen. Sie ist ein plurales Land. Die türkischen Bürgerinnen und Bürger wollen und müssen mitreden. Das muß die türkische Regierung begreifen. Eine sinnvolle konstruktive Minderheitenpolitik ist nur möglich, wenn die Verdrängungen und Tabuisierungen aufgegeben werden.
Was ist unsere Aufgabe an dieser Stelle?
Erstens. Wir müssen den türkischen Terrorismus im eigenen Land entschlossen und konsequent bekämpfen, egal, von welcher Seite er kommt, ob von religiösen Eiferern wie Herrn Kaplan oder durch die PKK und ihre Anhänger. Das wird keine einfache Lösung sein, weil viele Drahtzieher der terroristischen Gruppen Stützpunkte im benachbarten Ausland haben. Wir dürfen aber auch nicht überreagieren. Das ist meine Sorge. Es ist schon angesprochen worden, daß kurdische Arbeitervereine und Solidaritätskomitees pauschal kriminalisiert werden. Wir müssen sehr vorsichtig sein, daß wir nicht zu einer Solidarisierung in eine falsche Richtung im eigenen Land beitragen.
Als zweites müssen wir den Staatsterrorismus der Türkei beim Namen nennen. Wir müssen die Waffenlieferungen in die Türkei beenden, solange nicht sicher ist, daß sie nicht gegen die Zivilbevölkerung im Lande verwendet wird.
Als letztes müssen wir unseren türkischen Freunden sagen — und auch uns selber —: Mit Gewalt ist das Kurdenproblem nicht zu lösen. Mißtrauen verhindert friedliche Lösungen. Vertrauensbildende Maßnahmen sind nötig. Wir in Deutschland haben in unserer eigenen Geschichte gelernt, daß der Weg des Vertrauens eher weiterführt als der der Abgrenzung und des Mißtrauens. Es wird nur eine friedliche Lösung des Kurdenproblems geben, oder es wird keine Lösung geben.
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist unser Kollege Thomas Kossendey.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde heißt PKK-Terror und deutsch-türkische Beziehungen im allgemeinen. Ich glaube, nach allem, was wir heute gehört haben, sind wir uns darüber einig, daß die PKK bekämpft werden muß. Wenn wir zu einer gemeinsamen Haltung kommen, wird das besser gelingen.Jedoch sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, in welch schwieriger Lage sich unsere türkischen Mitbürger seit anderthalb Jahren befinden. Sie werden zum einen von den Terroristen der PKK bedrängt, die von ihnen Schutzgeld erpressen und dieses oder jenes
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Thomas Kossendeymit ihnen anstellen, um damit ihre eigenen politischen Ziele durchzusetzen. Zum anderen leben sie zunehmend in Sorge wegen der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit in unserem Lande. Beides bedrückt sie gleichermaßen. Beides müssen wir entschieden bekämpfen. Verbote alleine, Herr Innenminister, werden nicht reichen, so sehr sie einen Symbolwert haben, den die Türken dringend brauchen.Wir sollten uns hüten — in dieser Debatte ist das einige Male angeklungen —, den PKK-Terror und die staatlichen Ordnungsmaßnahmen auf eine Stufe zu stellen. Wir dürfen nicht vergessen, was Ursache und was Wirkung ist. Solange deutsche Landesregierungen öffentlich Sympathie für die Aktionen in Deutschland äußern, so lange werden wir das Mißtrauen der Türken, der türkischen Regierung und des türkischen Parlaments uns gegenüber nicht entkräften können.Ich habe ein Beispiel aus Niedersachsen, das gerade ein Jahr alt ist. Auf das türkische Generalkonsulat in Hannover ist ein Anschlag der PKK verübt worden. Die Türkei hat den laschen deutschen Polizeieinsatz kritisiert. Darauf antwortet der Ministeriumssprecher auf ddp-Anfrage, es sei den Polizisten nicht zu verdenken, wenn sie keine große Motivation hätten, ein „postfaschistisches Regime" gegen Kurden zu schützen. Innenminister Glogowski habe seit längerem Bedenken gegen die Machenschaften der türkischen Regierung in der Osttürkei. Es könne deutschen Polizisten nicht zugemutet werden, daß sie stellvertretend gegen die Kurden Krieg führten. Die Landesregierung sei nicht ohne Verständnis für die Kurden, die um ihre Freiheit kämpften.
Solange solche Dinge von deutschen Landesregierungen in Presseerklärungen verteilt werden, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß in der Türkei das Mißtrauen gegenüber unserer Bekämpfung der PKK wächst.
Ich will als Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe Ihr Interesse auf einige Dinge lenken, die jenseits der Bekämpfung des PKK-Terrors liegen und die unsere Beziehungen zur Türkei verbessern könnten. Freundschaft und Partnerschaft zwischen Völkern und Nationen erlahmen, wenn sie nicht täglich gepflegt werden. Das wissen wir aus dem privaten Bereich. Wir müssen das im Politischen genauso sehen. Deswegen schlage ich Ihnen vor, gemeinsam mit der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe die Initiative, die die Bundesregierung zur Intensivierung des deutsch-türkischen Jugendaustauschs jetzt gottlob ergriffen hat, zu unterstützen.Wenn wir uns die Struktur der rechtsradikalen Gewalttäter anschauen, die wir in den letzten Jahren zunehmend bei uns haben, stellen wir fest, daß über 80 % von ihnen unter 20 Jahre alt sind. Hier müssen wir ansetzen; denn die Jugendlichen von heute sind diejenigen, die in der Zukunft die Freundschaft zwischen den Völkern bekräftigen müssen. Wer andere Völker nicht kennt, wer andere Kulturen nicht kennt, wer andere Religionen nicht kennt, wird das in derZukunft um so schwerer tun können, als es in der heutigen Zeit möglich ist. Wir müssen also die Bundesregierung in ihrem Bemühen unterstützen, diesen Austausch verstärkt zu fördern.
Ich möchte im Zusammenhang mit der Kultur einen zweiten Punkt ansprechen. Wir sollten die Initiative zur Gründung einer deutschsprachigen Universität in Istanbul unterstützen. Ich sage das deswegen, weil ich davon überzeugt bin, daß die Kultur wesentlich völkerverbindender ist, als wir gemeinhin glauben. Dort, wo Jugendliche gemeinsam ausgebildet werden, wo Jugendliche Seite an Seite lernen, beispielsweise Grundwerte der Demokratie, Grundwerte der Wirtschaft oder Fragen der Religion zu diskutieren, wird es schwieriger, Ausländerhaß zu säen. Dann werden die Jugendlichen weniger auf Rattenfänger in diesem Bereich hereinfallen.
Ich will einen dritten Punkt nennen. Ich denke, wir müssen das, was wir in den letzten Jahren gegenüber der Türkei an Wirtschaftshilfe geleistet haben, kritisch überprüfen. Das, was wir seit Mitte der 60er Jahre an Wirtschaftshilfe geleistet haben, macht weniger aus als das, was wir an militärischer Unterstützung gegeben haben.
Dieses Verhältnis muß im Interesse der Türken und auch im Interesse der Deutschen umgekehrt werden. ich glaube, daß es da genügend Ansatzpunkte gibt.Was ist also zu tun? Wir müssen uns zunächst einmal über die Rahmendaten der türkischen Politik Gewißheit verschaffen. Dann werden wir sehr schnell feststellen, daß gerade die dortigen Regierungen der letzten zwei, drei Wahlperioden mit der Verwirklichung von mehr Menschenrechten Ernst gemacht haben. Sie haben Ernst gemacht mit der Ankündigung, die Türkei an Europa heranzuführen. Die türkischen Regierungen haben natürlich Schwierigkeiten, weil in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Konflikte ausgetragen werden. Sie haben auch deswegen Probleme, weil sie der von anderen Staaten unterstützte militärische Terror der PKK stört. Die türkischen Regierungen hatten natürlich auch Schwierigkeiten, weil sie bei der Bekämpfung dieser Probleme ein allzu selbständiges Militär hatten. Die türkischen Regierungen haben auch mit dem aufkeimenden Fundamentalismus zu kämpfen.Ich glaube, wir müssen uns vor einer Pose hüten, die sozusagen wilhelminisch-oberlehrerhaft unseren Nachbarn zeigen will, wo es langgeht. Wenn wir das tun, werden wir in der Türkei genau diejenigen Kräfte stärken, die den Weg zu mehr Demokratie, zu mehr Menschenrechten nicht beschreiten wollen. Dann werden wir die Fundamentalisten stärken, die die Türkei von Europa und den Werten Europas abschotten wollen. Deswegen ist eine besondere und kluge Auseinandersetzung notwendig. Ich fordere Sie alle auf, daran mitzuwirken.Schönen Dank.
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Meine Damen und Herren, unsere Frau Kollegin Monika Brudlewsky ist ganz kurzfristig erkrankt. Sie wollte hier einen Redebeitrag halten. Nun hat sie ihn aufgeschrieben und möchte ihn zu Protokoll geben. Das ist eine Abweichung von der Geschäftsordnung. Ich bitte um Zustimmung, daß wir so verfahren. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 11. November 1993, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.