Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Zunächst möchte ich Herrn Kollegen Wolfgang Mischnick, der gestern seinen 72. Geburtstag feierte, die herzlichsten Glückwünsche des Hauses aussprechen.
Ebenso herzlich gratuliere ich dem Kollegen Dr. Gerhard Stoltenberg, der gestern seinen 65. Geburtstag feierte.
Jetzt komme ich zu den anderen Verlautbarungen.Im Infrastrukturrat beim Bundesministerium für Post und Telekommunikation sind einige Änderungen vorzunehmen. Für den ausgeschiedenen Abgeordneten Pfeffermann schlägt die Fraktion der CDU/ CSU den Abgeordneten Herbert Lattmann als ordentliches Mitglied vor. Der Abgeordnete Elmar Müller , der bisher ordentliches Mitglied war, soll nunmehr stellvertretendes Mitglied und das bisher stellvertretende Mitglied, der Abgeordnete Wolfgang Schulhoff, ordentliches Mitglied im Infrastrukturrat werden. Die Fraktion der SPD teilt mit, daß der Abgeordnete Uwe Jens als ordentliches Mitglied aus dem Infrastrukturrat ausscheidet. Als Nachfolger benennt sie den Abgeordneten Christian Miller (Zittau). Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre dazu keinen Widerspruch. Damit sind die Kollegen Herbert Lattmann, Wolfgang Schulhoff und Christian Müller (Zittau) als ordentliche Mitglieder und der Kollege Elmar Müller (Kirchheim) als stellvertretendes Mitglied im Infrastrukturrat beim Bundesministerium für Post und Telekommunikation benannt.Für den Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank schlägt die Fraktion der SPD an Stelle des ausgeschiedenen Abgeordneten Wolfgang Roth nunmehr die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk vor.Sind Sie auch damit einverstanden? —
Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk in den Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank entsandt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung bei den laufenden Stahlverhandlungen in Brüssel
2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, Hartmut Büttner und der Fraktion der CDU/CSU, des Abgeordneten Gerd Wartenberg und der Fraktion der SPD sowie des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes — Drucksache 12/5775 —b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerd Poppe, Christina Schenk, Werner Schulz , weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzierung der Fraktionen (Fraktionsfinanzferungsgesetz) — Drucksache 12/5788 —3. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ande-rung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze — Drucksache 12/5774 —4. Beratung der Unterrichtung durch den Bundespräsidenten: Empfehlungen der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung — Drucksache 12/4425 —5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Gerd Poppe, Dr. Wolfgang Ullmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung der Selbstbeschränkung der Parteien durch eine transparente Neuregelung der staatlichen Parteienfinanzierung — Drucksache 12/5777 —Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 13e — Doppelbesteuerungsabkommen mit Mexiko — soll abgesetzt werden.Sind Sie auch damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.Sodann mache ich darauf aufmerksam, daß Ihnen zum Tagesordnungspunkt 5, Antrag der Fraktion der SPD zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, ein neuer Antrag auf Drucksache 12/5768 vorliegt, der den alten Antrag auf Drucksache 12/5634 ersetzt.Die Gruppe PDS/Linke Liste hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung
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15406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthihres Antrags zur Erstattung eines Berichts der Bundesregierung zur Lage der Nation zu erweitern. Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? —Herr Abgeordneter Gysi, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben beantragt, den Entwurf eines Beschlusses des Bundestages auf die Tagesordnung zu nehmen, die Bundesregierung aufzufordern, anläßlich des dritten Jahrestages der staatlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1993 einen Bericht zur Lage der Nation zu geben. Bisher ist es nicht auf der Tagesordnung. Ich denke aber, wir sollten diesen Punkt zusätzlich auf die Tagesordnung setzen, weil er natürlich irgendwann durch Fristablauf nicht mehr aktuell ist.
Es war früher durchaus üblich, daß die Bundesregierung, speziell der Bundeskanzler, jährlich wenigstens einmal, wenn nicht sogar öfter, im Bundestag einen Bericht zur Lage der Nation gegeben hat. Aus irgendeinem Grunde ist das unüblich geworden. Wie ich meine, war das durchaus eine vernünftige Tradition,
weil es nämlich die Bundesregierung und auch den Bundeskanzler zwang, ab und zu grundsätzlich über die Entwicklung dieses Landes, über die Entwicklungsrichtung und die Wege, wie man Veränderungen herbeiführen kann, nachzudenken. Wenn die Bundesregierung schon von sich aus nicht dazu bereit ist, weil ihr die Lage der Nation offensichtlich zu kompliziert ist, dann sollte der Bundestag wenigstens verlangen, daß sie einen solchen Bericht gibt.
Damit das aber geschehen kann, muß man über diesen Tagesordnungspunkt wenigstens diskutieren. Ich finde es schon ein bißchen beschämend, wenn nicht einmal die Bereitschaft besteht, diesen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen. Man kann ja meinetwegen auch nein sagen, wenn man gute Gründe dafür hat, daß es einen solchen Bericht nicht geben soll. Aber darüber gar nicht zu diskutieren, halte ich für bedenklich.
Wie wichtig ein Bericht zur Lage der Nation ist, sieht man, glaube ich, an den äußeren und inneren Entwicklungen. Die Lage unserer Nation ist doch mitbestimmt durch den furchtbaren Krieg im ehemaligen Jugoslawien; sie ist mitbestimmt durch die höchst gefährlichen Spannungen in Rußland; sie ist dadurch mitbestimmt, daß erstmals deutsche Soldaten in der Welt, speziell in Somalia in Afrika, eingesetzt sind. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen im NordSüd-Konflikt. Ich möchte wissen, wie die Bundesregierung darüber denkt und wie sie diesen Herausforderungen begegnen will, damit sich die Lage der Nation verbessert.
Aber auch im Innern haben wir es mit einer riesigen Problemflut zu tun. Die Spaltung zwischen Ost und West hat sich vertieft, ebenso die zwischen Arm und Reich. Die Zahl der Arbeitslosen steigt ständig an. Prognosen für 1994 sagen Zahlen von 6, manche sogar von 7 Millionen voraus. Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger steigt beachtlich an. Sie erreicht bald die 3-Millionen-Grenze. Das sagt etwas über die Armut in diesem Land aus, die es ebenfalls gibt.
Es gibt natürlich auch noch anderes: Die Wirtschaft befindet sich in einer ganz bedenklichen Krise. Es ist neben der Rezession, die wir zu verzeichnen haben, eine Strukturkrise. Wir erleben jetzt zum zweiten Mal, aber zum ersten Mal für Gesamtdeutschland, die Kündigung des Tarifvertrages durch die MetallArbeitgeber. Das hat es in dieser Form in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Das erklärte Ziel sind Lohnkürzungen entgegen einem bestehenden Vertragsverhältnis.
Wir haben einen Rückgang von Gewerbeanmeldungen um über 15 %. Wenn es so weitergeht, werden wir bald mehr Konkurse als Neugründungen haben. Es gibt einen dramatischen Rückgang bei der Geburtenrate, insbesondere im Osten. Dort hat sich die Geburtenrate halbiert. Die Selbstmordrate steigt.
Wir haben — nehmen Sie das bitte zur Kenntnis — einen ganz gefährlichen Kulturabbau. In den neuen Bundesländern sind 40 % der Jugendclubs, der Freizeiteinrichtungen für Jugendliche und der Kulturhäuser sowie 70 % der Gewerkschaftskulturhäuser geschlossen. Ich weiß, daß Sie das alles nicht interessiert. Aber ich sage Ihnen: Es bestimmt ganz wesentlich die Lage dieser Nation.
Ich betone noch etwas: Wir haben eine ganz gefährliche allgemeine Kriminalitätsentwicklung und speziell eine gefährliche Entwicklung des Rechtsextremismus. Allein die Gesamtzahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten hat sich 1992 im Verhältnis zu 1991 um 83 % erhöht und die Zahl der Gewalttaten um 74 %. Wir hatten im vergangenen Jahr 2 584 rechtsextremistische Gewalttaten.
Das alles sind bedenkliche Zahlen. Es mag ja auch positivere geben; es mag sein, daß die Bundesregierung sogar weiß, wie man die Lage dieser Nation zum Besseren hin verändern kann. Dann soll sie jedoch wenigstens darüber berichten und sich nicht vor der Rechenschaftspflicht gegenüber der eigenen Bevölkerung und diesem Bundestag drücken können. Deshalb beantragen wir, das auf die Tagesordnung zu setzen, damit wir es beschließen und die Bundesregierung dazu zwingen können, über die Lage der Nation hier in diesem Bundestag zu berichten.
Danke schön.
Als nächster spricht zur Geschäftsordnung der Kollege Dr. Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sollten zu diesem PDS-Antrag keine langen Worte machen. Die Sache ist es meiner Einschätzung nach nicht wert.
Nur ein verwirrtes Kurzzeitgedächtnis kann übersehen, daß wir vor wenigen Tagen in den Haushaltsbe-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15407
Dr. Jürgen Rüttgersratungen Gelegenheit hatten, über die Lage in Deutschland in aller Ausführlichkeit zu debattieren. Die PDS war allerdings selten im Saal.
Dieser Antrag kann entweder nur bedeuten, daß es um etwas anderes geht, oder es geht darum, erneute Nachhilfestunden für die PDS zu organisieren. Wer die Lage in Deutschland, verehrte Kolleginnen und Kollegen, verbessern will, der muß nicht reden, sondern er muß handeln. Dazu haben wir in dieser Woche genügend Gelegenheit.
In der Energiepolitik und beim Gentechnikgesetz können wir wichtige Beschlüsse für den Zukunftsstandort Deutschland fassen. Bei der Pflegeversicherung geht es um die soziale Lage Hunderttausender Menschen in diesem Land. Hier kann man die Lage in dieser Woche konkret verbessern.
Ich meine, das sollten wir tun.Ein Höhepunkt besonderer Art allerdings — das will ich noch sagen — ist es, daß die PDS versucht, den Tag der deutschen Einheit für ihre Zwecke zu mißbrauchen. Denn es war die PDS, die die Spaltung unseres Vaterlandes herbeigeführt hat und jetzt weiter versucht, davon zu profitieren.
Was hier versucht wird, ist, der Wiedervereinigung etwas in die Schuhe zu schieben, was allein die SED zu verantworten hat.
Weil dies so ist, sage ich Ihnen: Hören Sie mit diesem Spiel auf. Wir sind bereit, in dieser Woche zu handeln. Wir lehnen diesen Antrag ab.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da zu befürchten ist, daß der Bundeskanzler einen solchen Bericht zur Lage der Nation abgeben würde, da wir uns lebhaft vorstellen können, welche Qualität dieser Bericht haben würde,
und da wir uns auch vorstellen können, Frau Präsidentin, daß die Debattenbeiträge von Rednern der Union die Qualität haben würden, die der Kollege Rüttgers eben dokumentiert hat, lehnen wir diesen Antrag ab.
Herr Kollege Richter, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch Ihre Polemik, Herr Kollege Struck, wird dem nicht gerecht, worum es hier geht.
Der 3. Oktober, meine Damen und Herren, ist für uns kein Tag wie jeder andere. Er ist ein Feiertag und wird als solcher begangen. Wir alle sollten versuchen, unser Äußerstes zu tun, um ihn nicht in die parteipolitische Auseinandersetzung zu zerren.
Es ist kein Zufall, daß bei Rednern aller Fraktionen bei den Haushaltsberatungen, die in diesem Monat hier stattgefunden haben, das Thema des Tages im Mittelpunkt der Betrachtungen stand, nämlich die Folgen der deutschen Einheit, die Überwindung der Schwierigkeiten, die damit entstanden sind.
Auch am heutigen Tage — schauen Sie sich die Tagesordnung an —, stehen mehrere Punkte auf der Tagesordnung, die Teilaspekte dieses Problemkreises behandeln. Wenn man sich den Antrag der PDS genauer anschaut, z. B. den letzten Spiegelstrich, dann findet man heraus, daß in dem geforderten Bericht zur Lage der Nation u. a. auch die Haltung der Bundesregierung zur Geltendmachung von Rechten aus dem Einigungsvertrag durch die neuen Länder diskutiert werden soll.
Einen entsprechenden Antrag der PDS hat der Deutsche Bundestag bereits behandelt. Meine Damen und Herren von der PDS, so machen Sie eine Idee, über die man durchaus reden könnte und die auch von Berufeneren als Ihnen bereits erwogen worden ist, zunichte. Ich glaube, der Beitrag, den der Kollege Gysi hier heute morgen abgeliefert hat, hat ein letztes Mosaiksteinchen für diese Betrachtung geliefert.
Was wir nicht brauchen, ist das ständige Singen von Klageliedern; das nützt nichts. Es muß gehandelt werden,
und das tut die Bundesregierung, die zwar nicht die Verantwortung für 40 Jahre Mißwirtschaft zu tragen hat, die sich aber sehr wohl der Lasten annehmen muß und annimmt. Entscheidend für das Gelingen der inneren Einheit ist die Fähigkeit, Veränderungen in den alten und neuen Bundesländern als notwendig zu akzeptieren und nicht ständig zu lamentieren.
Ihren Aufsetzungsantrag lehnen wir deshalb ab.
Als letzter Redner zum Geschäftsordnungsantrag: der Abgeordnete Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht sollten wir künftig mehr danach gehen, ob solch ein Antrag sinnvoll und zweckmäßig ist, und nicht danach, von welcher Seite er gestellt wird. Denn
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15408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Werner Schulz
das sagt nichts über die Qualität und über die Aktualität dieses Problems aus.
In dieser Hinsicht unterstützen wir, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, das Anliegen, eine Gesamtdebatte zur Lage der Nation durchzuführen, weil wir der Auffassung sind, daß diese Nation sich tatsächlich in einer gefährlichen Schieflage befindet. Wir erleben es täglich, daß neue Probleme aufbrechen, auf die wir — da sollten wir ehrlich sein — im Moment kaum Antworten haben. Der alte Ideenfundus der Bundesrepublik ist erschöpft, und wir stehen vor neuen Herausforderungen.Dieses Haus hat jedes Jahr bis zur deutschen Einheit diese Debatte zur Lage der Nation geführt. Wir halten es für durchaus sinnvoll, eine Gesamtdebatte zu führen und eine Lagebeschreibung vorzunehmen. Was wir momentan erleben, ist eher das Abdriften in Detailprobleme. Es wird einmal zur inneren Sicherheit und dann zum Standort Deutschland gesprochen, vielleicht um zu verbergen, daß man sich einer Gesamteinschätzung verweigert, weil man ein Gesamtkonzept nicht hat. Insofern sollten wir uns schon die Mühe machen, über diese Fragen zu diskutieren; das wird von uns erwartet. Ich befürchte, der eine oder andere von Ihnen wird sich am Wochenende ohnehin in Kolumnen, Leitartikeln und diesmal sogar in Sonntagsreden äußern.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Aufsetzungsantrag ist mehrheitlich — bei Enthaltungen — abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Wahl der Präsidentin des Bundesrechnungshofs
Nach § 5 Abs. 1 des Bundesrechnungshofgesetzes wählen der Deutsche Bundestag und der Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der Bundesregierung den Präsidenten des Bundesrechnungshofes. Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom 22. September 1993 vor, Frau Dr. Hedda Meseke zur Präsidentin des Bundesrechnungshofes zu wählen.
Ich gebe einige Hinweise zum Wahlverfahren. Das Gesetz schreibt geheime Wahl vor. Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, d. h. mindestens 332 Stimmen, erforderlich. Sie benötigen einen Stimmzettel mit Wahlumschlag sowie Ihren gelben Wahlausweis. Stimmzettel mit Umschlag wurden im Eingangsbereich ausgegeben. Den gelben Wahlausweis entnehmen Sie bitte, soweit Sie das noch nicht getan haben, Ihrem Schließfach.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß die Wahl geheim ist. Sie dürfen Ihren Stimmzettel nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen und in den Wahlumschlag legen. Die Schriftführer sind verpflichtet, jeden zurückzuweisen, der seinen Stimmzettel außerhalb der Wahlkabine angekreuzt oder in den Umschlag gelegt hat. Die Wahl kann in diesem Falle jedoch vorschriftsmäßig wiederholt werden.
Bevor Sie den Stimmzettel in eine der aufgestellten Wahlurnen geben, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne. Ich weise darauf hin, daß der Nachweis der Teilnahme an der Wahl nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht wird.
Gültig sind nur Stimmzettel mit einem Kreuz bei „Ja", „Nein" oder „Enthalte mich". Ungültig sind Stimmen auf nichtamtlichen Stimmzetteln sowie Stimmzettel, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Ich bitte jetzt die Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Wahl eine namentliche Abstimmung durchführen werden.
Haben die Schriftführer ihre Plätze eingenommen? — Dann eröffne ich die Wahl. —
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in den Fächern befinden sich noch in ungewöhnlichem Umfang gelbe Karten, die die Voraussetzung für die Wahl sind. Ich bitte Sie, zunächst einmal die gelben Karten aus Ihren Fächern zu holen, damit Sie in der Lage sind zu wählen.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? Gibt es noch jemanden, der seine Stimmkarte abgeben muß? — Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich den Wahlvorgang. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekanntgegeben. ) Die Schriftführerinnen und Schriftführer werden jetzt auszählen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Gesetz zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten
— Drucksachen 12/5762, 12/5771 —
Nach Art. 77 Abs. 4 des Grundgesetzes ist für die Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich; das sind mindestens 332 Stimmen. Wer also den Einspruch zurückweisen will, muß mit Ja stimmen.Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die Abstimmung.*) Seite 15414D
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15409
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthHaben alle ihre Stimmkarte abgegeben? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. *)Wir setzen die Beratungen fort. Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen.Ich rufe Punkt 12 sowie Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:12. Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Wirtschaftsprüferordnung— Drucksache 12/5685 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft RechtsausschußFinanzausschußZP2 weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, Hartmut Büttner und der Fraktion der CDU/ CSU, des Abgeordneten Gerd Wartenberg und der Fraktion der SPD sowie des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUÄndG)— Drucksache 12/5775 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Rechtsausschußb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerd Poppe, Christina Schenk, Werner Schulz , weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzierung der Fraktionen (Fraktionsfinanzierungsgesetz)— Drucksache 12/5788 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung,Immunität und Geschäftsordnung InnenausschußRechtsausschußHaushaltsausschußInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.s) Seite 15415AIch rufe die Punkte 13a bis 13d sowie die Punkte 13 f bis 13 k der Tagesordnung auf:Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Mai 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen fiber die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft an den Grenzgewässern— Drucksache 12/4471 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/5371 —Berichterstattung:Abgeordnete Wolfgang Ehlers Susanne Kastnerb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über den Autobahnzusammenschluß und den Bau von Grenzabfertigungsanlagen für den neuen Grenzübergang im Raum Görlitz und Zgorzelec— Drucksache 12/5090 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/5611 —Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Klaus Röhlbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/5612 —Berichterstattung:Abgeordnete Ernst Waltemathe Wilfried BohlsenWerner Zywietzc) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ukraine fiber die Binnenschiffahrt— Drucksache 12/4081 —
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15410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthBeschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/5640 —Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blankd) — Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs im Berufsverkehr
— Drucksache 12/3573 —
— Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung der besoldungsund steuerrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitgeberzuschüssen zur Benutzung des ÖPNV
— Drucksache 12/4123 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/5541 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Reinhard Meyer zu BentrupLydia Westrichbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/5542 —Berichterstattung:Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg)f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.Unterrichtungen durch die Bundesregierung über die deutsche Humanitäre Hilfe im Ausland— Drucksachen 12/2776, 12/5430 —Berichterstattung:Abgeordnete Friedrich Vogel
Volker Neumann
Dr. Burkhard Hirschg) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Freimut Duve, Angelika Barbe, HansGottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEinrichtung eines Gedenkortes für Walter Benjamin in Port Bou— Drucksachen 12/3039, 12/5163 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Volkmar Köhler
Freimut DuveUlrich Irmerh) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapitel 10 02 Titel 656 54 —Zuschüsse zur Sicherung der späteren Altersversorgung als Arbeitnehmer bei Abgabe landwirtschaftlicher Unternehmen
— Drucksachen 12/5525, 12/5736 —Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid HothErnst Kastningi) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 30 — Beitrag an die Vereinten Nationen— Drucksachen 12/5539, 12/5737 —Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus RoseDr. Sigrid Hoth Ernst Waltemathej) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04
— Drucksachen 12/5538, 12/5738 —Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid HothErnst Kastningk) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 116 zu Petitionen— Drucksache 12/5733 —Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Punkt 13a. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/5371, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15411
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthzustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über Punkt 13b. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5611, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über Punkt 13 c. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5640, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über Punkt 13 d. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5541, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. —Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der SPD und der PDS/ Linke Liste abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Noch zum Tagesordnungspunkt 13d: Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Schaffung der besoldungs- und steuerrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitgeberzuschüssen zur Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs — Drucksache 12/4123. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5541, auch diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrates abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste bei einer Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 f. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5430, den Antrag unverändert anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS/ Linke Liste angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 g. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5163, den Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — G egen-probe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei drei Enthaltungen der PDS/Linke Liste angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 13h bis 13j: Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben auf Drucksachen 12/5736 bis 12/5738. Es handelt sich um Nachentrichtungszuschüsse im Bereich landwirtschaftlicher Unternehmen, um einen Beitrag an die Vereinten Nationen und um von der EG nicht übernommene Marktordnungsausgaben.Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — Das ist der Fall. Ich verfahre so.Wer stimmt für die drei Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 13k: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/5733 betreffend die Sammelübersicht 116. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltungen der PDS/ Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN angenommen.Ich höre gerade, daß die Auszählung noch nicht abgeschlossen ist. Somit kann ich das Ergebnis noch nicht bekanntgeben.Dann komme ich zum Tagesordnungspunkt 5:Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Adler, Robert Antretter, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEinsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 12/5768 —Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Gruppen PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Abgeordnete Wolfgang Thierse.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD beantragt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Arbeit der Treuhandanstalt und zur Wahrnehmung der Verantwortung der Bundesregierung für diese mächtigste und in ihrem Handeln folgenreichste Institution im Osten Deutschlands. Der Ausschuß soll untersuchen, so unser Antrag, ob und in welchem Ausmaß durch Handlungen oder Unterlassungen der Bundesregierung und der Treuhandanstalt überlebensfähige Treuhandbetriebe geschlossen und in Treuhandbetrieben Arbeitsplätze vernichtet wurden, die hätten erhalten werden können.Wir fragen, ob und inwieweit die Bundesregierung ihre Rechts- und Fachaufsicht wahrgenommen hat, ob sie oder einzelne ihrer Mitglieder über ihre Zuständigkeiten hinaus auf konkrete Entscheidungen Einfluß genommen haben und mit welchen Wirkungen. Wir wollen an konkreten Vorgängen überprüfen, inwieweit die Treuhandanstalt ihrer Funktion als Treuhänderin im Interesse derer nachgekommen ist, für die sie diese treuhänderische Aufgabe wahrzunehmen verpflichtet worden ist, nämlich für die Ostdeutschen.
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15412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Wolfgang ThierseEs geht nicht um eine generelle Verdächtigung. Wir unterstellen, daß die meisten Mitarbeiter der Treuhandanstalt ihre Arbeit nach bestem Wissen zu tun versucht haben. Es geht auch nicht um verzeihliche Fehler angesichts einer gigantischen und neuartigen Aufgabe. Läßliche Sünden sind leicht zu vergeben, zumal Auftrag und Zielsetzung der Arbeit von der Bundesregierung zu verantworten sind, nicht von der Treuhand.Nein, darum geht es nicht. Der Wunsch nach einem Untersuchungsausschuß hat seine Wurzeln in Ostdeutschland. Wir ostdeutschen sozialdemokratischen Abgeordneten haben ihn gewollt und durchgesetzt; denn auch wenn Sie von den Regierungsfraktionen, etwas weiter entfernt von den ostdeutschen Problemen, dies nicht zu sehen vermögen,
können wir nicht übersehen, welche Atmosphäre des Verdachts, der Enttäuschung, der Wut und der Verzweiflung die Arbeit der Treuhandanstalt bei vielen, vielen Menschen bei uns zu Hause erzeugt hat.
Wir können nicht übersehen, wie sehr sie als übermächtige Institution erscheint, der gegenüber allzuviele Menschen sich als ohnmächtig und wehrlos empfinden.
Sie erscheint als Ursache der eigenen Arbeitslosigkeit. Ihre Entscheidungen wirken wie Schicksalsschläge, unabwendbar und uneinsichtig. Sie machen die Ostdeutschen wieder zum Objekt der Verfügung einer als fremd empfundenen Macht, und dabei exekutiert die Treuhandanstalt nur die politischen Vorgaben der Bundesregierung.Dieses Grundgefühl vieler Menschen nährt sich aus zahllosen Geschichten, Gerüchten auch, gewiß, aber auch aus wirklichen Beobachtungen und Erfahrungen. Es sind Beobachtungen von Fehlverhalten, von Betrügereien, von Vorteilsnahmen, von nicht eingehaltenen Versprechungen, von Begünstigungen und Benachteiligungen, von bedrohlichen, weil uneinsichtigen Entscheidungen mit verheerenden Folgen, von mangelnder Kontrolle, von verschwendetem Geld, von Ausverkauf. Da mag viel Übertreibung am Werk sein, viel negative Legendenbildung.
Gewiß, wo Privatisierungen gut ausgegangen sind — das sind ja nicht wenige —, haben wir die Treuhandanstalt nicht zu kritisieren, im Gegenteil.
Aber die Mißerfolge — auch das sind nicht wenige — auf ihre Ursachen hin zu untersuchen, das ist notwendiger — ich sage: notwendiger — Dienst an der Reinigung der Atmosphäre von Verdächtigungen, von Mißtrauen, von Ohnmacht.
Indem wir plausiblen und nachvollziehbaren Vorwürfen nachgehen und nicht sagen, daß alles geheim ist, alles entschieden ist und alles keinen Zweck mehr hat, schaden wir nicht dem wirtschaftlichen Aufbau im Osten. Welch unsinniger Vorwurf!
Nein, wir schaffen vielmehr neues Vertrauen in die Demokratie, in eine Demokratie, die es im Osten Deutschlands so schwer hat angesichts der riesigen ökonomischen und sozialen Probleme, angesichts der Enttäuschungen, angesichts der dramatischen Arbeitslosigkeit und der Entindustrialisierung des Landes.Es ist schon erstaunlich, was alles gegen die Einsetzung eines Treuhand-Untersuchungsausschusses eingewandt wird. Danach erscheint das Mißtrauen gegen die Treuhandanstalt bei den Gegnern des Untersuchungsausschusses größer zu sein als bei dessen Befürwortern.
Schaden kann die Untersuchung doch nur, wenn sie Nachteiliges zutage fördert. Damit rechnen Sie off enbar, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, und auch die über praktische Erfahrungen verfügenden Ost-Ministerpräsidenten. Nur so jedenfalls lassen sich Ihre wenigen Argumente gegen diesen Ausschuß verstehen.Wir halten es dagegen durchaus für möglich, daß es — mit den Worten der Präsidentin der Anstalt, Frau Breuel — auch eine Chance der Treuhand sein könnte, ihre erfolgreiche Arbeit darzustellen; wir werden sehen.
Ich habe nicht den geringsten Anlaß, den Vorwurf zu akzeptieren, Schaden werde angerichtet, wenn der Deutsche Bundestag eines seiner legitimen und vornehmsten Rechte wahrzunehmen gedenkt: das Recht zur parlamentarischen Kontrolle der Tätigkeit der Bundesregierung.
Das ist der wichtigste Grund für unseren Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.Schließlich führt die Treuhandanstalt lediglich aus, was die Bundesregierung vorgibt; aber weder in einem Unterausschuß des Haushaltsausschusses noch in dem eigenständigen 25. Ausschuß des Bundestages war Kontrolle in einem wünschenswerten Ausmaß bisher möglich.Ich habe auch nicht den geringsten Anlaß, der SPD-Fraktion rückwärtsgewandte Interessen und einen Mangel an Wahlkampfmunition, wie ich das gelesen habe, nachsagen zu lassen. Dafür brauchen wir keinen solchen Ausschuß.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15413
Wolfgang ThierseDie Bundesregierung bietet täglich eine Fülle von guten Argumenten für einen Wechsel in der Regierungsverantwortung.
Wenn aber dieser Wechsel stattgefunden haben wird, müssen wir da weitermachen, wo Sie aufgehört haben. Dafür brauchen wir eine möglichst objektive Bilanz der Treuhandarbeit. Neben der Wahrnehmung originärer Rechte und Pflichten des Parlaments ist der Wille zur Verbesserung Ihrer Politik, die die Treuhandanstalt auszuführen hatte, das andere und ohne Zweifel in die Zukunft weisende Argument für diesen Ausschuß.
Noch am Dienstag ließ sich ein Kollege aus der CSU dahingehend vernehmen, ohne Treuhand gäbe es keine funktionierende Marktwirtschaft und keinen Ansatz für einen Aufschwung in Ostdeutschland.
Daß endlich Schluß damit gemacht wird, den Menschen in Deutschland Sand in die Augen zu streuen, als seien es Unmündige, ist ein weiterer Grund für diesen Ausschuß.Lassen Sie in Bayern sich von einem Ostdeutschen sagen: Eine funktionierende Marktwirtschaft und einen wirklichen Aufschwung gibt es auch mit der Treuhandanstalt in Ostdeutschland immer noch nicht.
Wir haben uns als Abgeordnete nun drei Jahre lang mit der Ratlosigkeit der Bundesregierung, mit unzureichenden Erfolgen der Privatisierungspolitik und mit viel Bitterkeit der Menschen auseinanderzusetzen gehabt, die von Treuhandentscheidungen betroffen sind. Das gilt auch, wie ich weiß, für die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen. Wir mußten oft genug den Kopf für etwas hinhalten, das selbst für Parlamentarier der Transparenz entzogen war. Manche Dramen hätten jedenfalls vermieden werden können, wenn mehr Transparenz, also auch mehr parlamentarische Kontrolle, möglich gewesen wäre. Ich will kein zweites Bischofferode erleben.
Deshalb müssen einige Fragen dringend — und ich hoffe auch: jenseits parteipolitischer Interessen — geklärt werden. War der Auftrag an die Treuhand richtig und der Lage angemessen? Wir haben das sehr früh angezweifelt, und diese Zweifel gelten immer noch. Wir haben andere Schwerpunkte verlangt.Jetzt belegen die ersten Erfahrungen zum Beispiel mit Management-KGs — dahinter verbirgt sich nichts anderes als eine Variation unseres Vorschlags vonIndustrieholdings, was nur dann erfreulich wäre, wenn nicht schon drei Viertel der Industriearbeitsplätze in Ostdeutschland vernichtet wären —, wie richtig unsere immer wieder von Ihrer Seite abgelehnten Vorschläge gewesen sind. Hier geht es um Ihre politische Verantwortung!
Ist der Auftrag — eine weitere Grundfrage — richtig ausgeführt worden? Und vor allem: Hat die Bundesregierung ihre Fachaufsicht angemesser wahrgenommen, oder ist der mißtrauische Verdacht berechtigt, daß hier auf Kosten der Menschen in Ostdeutschland gemauschelt und bevorteilt wurde?Ich sage es noch einmal: Würde der Ausschuß diesen Verdacht eindeutig widerlegen können, hätte er ein neues Vertrauen in die öffentlichen Institutionen geschaffen — ein hohes Gut in Zeiten des Wandels und der Unsicherheit.Erlauben Sie mir, da ich weiß, daß es in Ihren Reden eine Rolle spielen wird, eine Bemerkung zu der Äußerung von Manfred Stolpe.Erstens — das wird Sie hoffentlich nicht überraschen —: Es gibt keine Pflicht der Sozialdemokraten, gewissermaßen im Sinne einer unselig erinnerbaren Parteidisziplin immer derselben Meinung zu sein wie andere wichtige Sozialdemokraten.
Zweitens. Manfred Stolpe ist Ministerpräsident eines Landes, das, so wie die anderen ostdeutschen Länder auch, in seiner wirtschaftlichen Entwicklung nicht zuletzt von der Gunst oder Ungunst der Treuhandanstalt und ihrer allmächtigen, bisher kaum kontrollierbaren Manager abhängig ist.
Diese Gunst mag gelegentlich ungleich gewährt werden, auch nach durchaus sachfremden Kriterien: nach Sympathie und Wohlverhalten. Man hat damit zu rechnen, will man etwas für das eigene Land erreichen, wozu jedweder Ministerpräsident schließlich verpflichtet ist. Die Bundestagsfraktion der SPD muß und darf diese Rücksicht nicht nehmen. Ich will das ausdrücklich sagen.
Herr Kollege Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hörster?
Ja.
Herr Kollege Thierse, kann ich Ihre Ausführungen zu Herrn Ministerpräsidenten Stolpe so verstehen, daß Herr Ministerpräsident Stolpe gegen die Interessen der Bevölkerung von Brandenburg handelt, weil er möglicherweise von der Treuhand abhängig ist?
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15414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Das ist eine etwas eigentümliche Frage.
Ich habe ausdrücklich gesagt — und dies werden Sie nach diesen drei Jahren des Wirkens der Treuhandanstalt nicht bestreiten können —, daß sie die mächtigste und zugleich unkontrollierteste Institution ist, die es in Deutschland gibt.
Ihre Entscheidungen haben unmittelbare, gelegentlich und oft gute Wirkungen, aber gelegentlich und nicht weniger oft auch schlechte Wirkungen.
Der Einfluß der Landesregierungen und der Einfluß von Bundestagsabgeordneten und Landtagsabgeordneten auf die Entscheidungen der Treuhandanstalt ist relativ gering.
Aber umgekehrt sind die Länder und die Kommunen und die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt von den Entscheidungen dieser Treuhandanstalt sehr abhängig. Dies schafft ein ziemlich unerträgliches Grundverhältnis im Lande. Das gilt es aufzuklären.
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?
Bitte.
Wären Sie denn bereit, meine Frage hinsichtlich der Abhängigkeit des Herrn Stolpe gegenüber der Treuhand vor der Interessenvertretung der Bevölkerung von Brandenburg zu beantworten?
Ich habe, denke ich, die Frage mit dem Hinweis darauf beantwortet,
daß es eine generelle Abhängigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Ostdeutschland von den Entscheidungen der Treuhandanstalt und von den Entscheidungen vieler Manager gibt, die nicht recht kontrollierbar sind. Das gilt für Sachsen und Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, und es gilt für Brandenburg auch. Es gibt genügend Beispiele, daß die Entscheidungen der Treuhandanstalt nach durchaus unterschiedlichen
Kriterien erfolgt sind. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich damit sagen will.
Meine Damen und Herren, ich will das ausdrücklich sagen: Die Unschuldsvermutung gilt selbstverständlich auch vor jeder Untersuchung für die Treuhandanstalt und ihre Mitarbeiter. Es ist ja möglich, daß in vielen Fällen nachgewiesen werden kann, daß es korrekt gelaufen ist. Aber selbst dieser Beweis ist angesichts massenhaften und durchaus veranlaßten Mißtrauens in der Bevölkerung notwendig. Es geht uns also um sachliche, seriöse Untersuchung von massiven Verdachtsfällen.
Der Untersuchungsausschuß ist also eine Chance für die Wiedergewinnung von Vertrauen, das so sehr in Zweifel geraten ist. Der Bundestag übernimmt mit diesem Ausschuß etwas sehr Wichtiges und Notwendiges. Er vertritt die Interessen der Geschädigten und Beschädigten im Osten Deutschlands, die sich nicht wehren konnten. Er schadet den Interessen der Ostdeutschen nicht, nein, er nutzt ihnen.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, komme ich noch einmal zum Tagesordnungspunkt 3 — Wahl der Präsidentin des Bundesrechnungshofs — zurück, weil das Ergebnis der Wahl') jetzt vorliegt.Ich gebe das Ergebnis bekannt: abgegebene Stimmen 551. Mit Ja haben 463 Abgeordnete gestimmt.
Mit Nein haben 55 Abgeordnete gestimmt. Enthaltungen 33. Frau Dr. Hedda Meseke hat damit die erforderliche absolute Mehrheit von mindestens 332 Stimmen erreicht.Ich gratuliere ganz herzlich im Namen des Deutschen Bundestages und werde das Ergebnis der Wahl dem Bundeskanzler und dem Herrn Präsidenten des Bundesrates mitteilen. Der Bundesrat wird seine Wahl im Oktober 1993 vollziehen.Herzlichen Glückwunsch!
Auf der Ehrentribüne hat der bisherige Präsident des Bundesrechnungshofes, Herr Dr. Heinz Günter Zavelberg, Platz genommen. Ich grüße ihn herzlich und danke ihm für sein verdienstvolles jahrelanges Wirken im Namen des Deutschen Bundestages.
Ich gebe jetzt noch das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Zurückweisung des Ein*) Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15415
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthspruchs des Bundesrates gegen das Kündigungsfristengesetz bekannt: abgegebene Stimmen 547. Mit Ja haben gestimmt 348 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 199, Enthaltungen keine.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 542; davon:ja: 346nein: 196JaCDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-GünterDr. Bauer, WolfBaumeister, Brigitte Bayha, RichardBelle, MeinradDr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-DirkDr. Blank, Joseph-Theodor Blank, RenateDr. Blens, Heribert Bleser, PeterDr. Blüm, Norbert Dr. Böhmer, Maria Dr. Bötsch, Wolfgang Bohl, FriedrichBohlsen, Wilfried Breuer, PaulBrudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler , Klaus Büttner (Schönebeck),HartmutBuwitt, DankwardCarstens , Manfred Carstensen (Nordstrand),Peter HarryDehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deres, KarlDeli, AlbertDiemers, Renate Dörflinger, Werner Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, UdoEichhorn, MariaEngelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Erler ,WolfgangEymer, AnkeFalk, IlseDr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, JochenDr. Fell, Karl H.Fischer , Dirk Fockenberg, Winfried Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-JoachimGanz , Johannes Geiger, MichaelaDr. Geiger , SissyGeis, NorbertDr. von Geldern, Wolfgang Gibtner, HorstGlos, MichaelDr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Götz, PeterDr. Götzer, Wolfgang Gres, JoachimGrochtmann, Elisabeth Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-PeterDr. Grünewald, Joachim Günther , Horst Frhr. von Hammerstein,Carl-DetlevHarries, KlausHaschke , GottfriedHaschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, RainerHauser , Otto Hauser (Rednitzhembach), HansgeorgHedrich, Klaus-Jürgen Heise, ManfredDr. Hellwig, RenateDr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, ErnstHintze, PeterHörsken, Heinz-Adolf hörster, JoachimDr. Hoffacker, PaulDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, HubertJäger, ClausDr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Jüttner, EgonJung , Michael Dr. Kahl, HaraldKalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, VolkerKeller, PeterKittelmann, PeterKlein , Günter Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Köhler , VolkmarKors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Kraus, RudolfDr. Krause , GüntherKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, ArnulfKronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, KarlDr. Lammert, Norbert Lamp, HelmutLattmann, HerbertDr. Laufs, PaulLaumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Dr. Lehr, UrsulaLimbach, EdithaLink , Walter Lintner, EduardDr. Lippold , Klaus W.Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, SigrunLohmann , WolfgangLouven, JuliusLummer, Heinrich Männle, UrsulaMagin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Dr. Mayer ,MartinMeckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf Horst Dr. Merkel, Angela Dr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup,ReinhardMichalk, MariaMichels, Meinolf Dr. Möller, FranzMüller , Elmar Müller (Wadern),Hans-WernerMüller , Alfons Nelle, EngelbertDr. Neuling, Christian Neumann , Bernd Niedenthal, ErhardNitsch, Johannes Nolte, ClaudiaDr. Olderog, Rolf Ost, FriedhelmOswald, EduardOtto , Norbert Dr. Päselt, GerhardDr. Paziorek, Peter Paul Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeifer, AntonDr. Pfennig, Gero Dr. Pinger, Winfried Pofalla, RonaldDr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Protzner, BerndRahardt-Vahldieck, Susanne Dr. Ramsauer, PeterRau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, NorbertDr. Riedl , Erich Riegert, KlausDr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),HanneloreRomer, FranzDr. Rose, KlausRossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Rühe, VolkerDr. Rüttgers, Jürgen Sauer , HelmutSauer , Roland Schätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Scharrenbroich, Heribert Schartz , Günther Schell, ManfredSchemken, HeinzScheu, GerhardSchmalz, UlrichSchmidbauer, BerndSchmidt , Christian Dr. Schmidt (Halsbrücke), JoachimSchmidt , Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),Hans Petervon Schmude, Michael Dr. Schneider , OscarDr. Schockenhoff, Andreas Graf von Schönburg-Glauchau, JoachimDr. Scholz, RupertFrhr. von Schorlemer, ReinhardSchulhoff, WolfgangDr. Schulte , DieterSchulz , Gerhard Schwalbe, ClemensSchwarz, StefanDr. Schwörer, Hermann Seehofer, HorstSeesing, HeinrichSeibel, WilfriedSeiters, RudolfSikora, JürgenSkowron, Werner H. Sothmann, BärbelSpilker, Karl-HeinzSpranger, Carl-Dieter Dr. Sprung, RudolfSteinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, HansDr. Frhr. von Stetten, WolfgangStockhausen, KarlDr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-GerdStübgen, MichaelDr. Süssmuth, RitaSusset, EgonTillmann, FerdinandDr. Töpfer, KlausDr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, GunnarVerhülsdonk, Roswitha Vogel , Friedrich Vogt (Duren), WolfgangDr. Voigt ,Hans-PeterDr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, HorstGraf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wetzel, KerstenWiechatzek, GabrieleDr. Wieczorek , BertramDr. Wilms, DorotheeWimmer , Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, FritzWittmann , SimonWonneberger, Michael Wülfing, ElkeWürzbach, Peter Kurt
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15416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Yzer, CorneliaZeitlmann, WolfgangZierer, BennoZöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaDr. Babel, GiselaBaum, Gerhart Rudolf Beckmann, KlausDr. Blunk , Michaela Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),Dieter-JuliusEimer , Norbert Engelhard, Hans A.van Essen, JörgFriedhoff, Paul K.Friedrich, HorstFunke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGallus, GeorgGanschow, JörgGenscher, Hans-Dietrich Grünbeck, JosefGrüner, MartinGünther , Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hackel, Heinz-Dieter Hansen, DirkDr. Haussmann, Helmut Heinrich, UlrichDr. Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Homburger, BirgitDr. Hoth, SigridDr. Hoyer, WernerIrmer, UlrichDr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, JürgenDr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Lüder, WolfgangLühr, UweDr. Menzel, BrunoMischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, RainerOtto ,Hans-JoachimPeters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , ManfredRind, HermannDr. Röhl, KlausSchäfer , Helmut Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schnittler, Christoph Schüßler, GerhardSchuster, HansDr. Schwaetzer, Irmgard Sehn, MaritaSeiler-Albring, Ursula Dr. Semper, SigridDr. Solms, Hermann Otto Thiele, Carl-LudwigDr. Thomae, DieterTimm, JürgenTürk, JürgenWalz, IngridDr. Weng , WolfgangWolfgramm , TorstenWürfel, UtaZywietz, WernerFraktionslosDr. Krause , Rudolf KarlNeinSPDAdler, BrigitteAndres, GerdBartsch, HolgerBecker , Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bock, TheaDr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, AnniDr. Brecht, EberhardBüchner , Peter Büttner (Ingolstadt), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, UrsulaBury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter Daubertshäuser, KlausDr. Diederich , Nils Diller, KarlDr. Dobberthien, Marliese Dreßler, RudolfDove, FreimutEbert, EikeDr. Ehmke , Horst Eich, LudwigDr. Elmer, KonradEsters, HelmutEwen, CarlFerner, ElkeFischer , EvelinFischer , Lothar Formanski, NorbertFuchs , AnkeFuchs , KatrinGanseforth, MonikaDr. Gautier, FritzGilges, KonradGleicke, IrisGraf, GünterHaack , Karl-HermannHabermann, Frank-Michael Hämmerle, GerlindeHampel, Manfred Eugen Hanewinckel, ChristelDr. Hartenstein, Liesel Hasentratz, Klaus Heistermann, DieterHeyenn, GüntherHorn, ErwinIwersen, GabrieleJäger, RenateJanz, IlseDr. Jens, UweJung , Volker Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastning, ErnstKemper, Hans-Peter Kirschner, KlausKlappert, MarianneDr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, SiegrunDr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz RudolfKolbe, Regina Kolbow, Walter Koltzsch, Rolf Koschnick, Hans Kubatschka, Horst Kuessner, Hinrich Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigittevon Larcher, DetlevLennartz, KlausDr. Leonhard-Schmid, Elke Lörcher, ChristaLohmann , KlausDr. Lucyga, ChristineMaaß , Dieter Maschen, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, HeideMeckel, Markus Mehl, Ulrike Meißner, HerbertDr. Mertens ,Franz-JosefMosdorf, SiegmarMüller , Albrecht Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Neumann (Bramsche), Volker Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, EdithDr. Niese, Rolf Niggemeier, Horst Odendahl, Doris Oesinghaus, GünterOpel, Manfred Ostertag, Adolf Dr. Otto, Helga Palis, KurtPaterna, PeterDr. Penner, WillfriedDr. Pfaff, Martin Dr. Pick, Eckhart Purps, Rudolfvon Renesse, Margot Rennebach, RenateReschke, Otto Reuter, BerndSchaich-Walch, Gudrun Schanz, DieterScheffler, Siegfried Willy Schily, OttoSchloten, Dieter Schmidbauer , HorstSchmidt , Ursula Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schnell, EmilDr. Schöfberger, Rudolf Schüler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela Schröter, Karl-HeinzSchütz, DietmarSchulte , Brigitte Seidenthal, BodoSeuster, LisaSielaff, Horst Simm, ErikaSinger, JohannesDr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Sorge, WielandDr. Sperling, DietrichSteen, Antje-Marie Stiegler, Ludwig Dr. Struck, Peter Tappe, JoachimDr. Thalheim, Gerald Titze-Stecher, Uta Toetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, SiegfriedDr. Vogel, Hans-Jochen Wagner, Hans Georg Waltemathe, Ernst Walter , RalfWalther , RudiDr. Wegner, Konstanze Weiermann, WolfgangWeiler, BarbaraWeis , Reinhard Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Wernitz, AxelWester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, IngeDr. Wetzel, Margrit Weyel, GudrunDr. Wieczorek, Norbert Wieczorek , Helmut Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wimmer (Neuötting),HermannWittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, HannaZapf, UtaPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Enkelmann, DagmarDr. Fuchs, Ruth Dr. Gysi, Gregor Henn, BerndDr. Höll, Barbara Jelpke, UllaDr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Dr. Seifert, IljaStachowa, AngelaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, IngridPoppe, GerdSchenk, ChristinaSchulz , Werner Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, VeraFraktionslosDr. Briefs, Ulrich Lowack, OrtwinDamit ist der Einspruch zurückgewiesen.Ich komme zum Tagesordnungspunkt 5 zurück und erteile dem Abgeordneten Dr. Dieter Schulte das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15417
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben heute etwas Neues. Mit Ihrem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bricht die SPD die Vereinbarung zwischen den Fraktionen, die Arbeit der Treuhand mit einem normalen Bundestagsausschuß zu begleiten und auf einen Untersuchungsausschuß zu verzichten.
Es ist der SPD gleichgültig, daß die Leitung der Treuhand Kontrollinstrumente für ihre Gliederungen und Entscheidungen geschaffen hat, daß das Bundesfinanzministerium die Treuhand überprüft,
daß der Treuhandausschuß Sitzungswoche für Sitzungswoche die Arbeit der Treuhand kritisch begleitet, daß sich der Bundesrechnungshof geäußert hat, daß sich in extremen Fällen Staatsanwaltschaften und Gerichte bemühen.
Dies alles war bei der Vereinbarung der Fraktionen klar. Jetzt muß auch noch ein Votum gegen die erklärte Meinung der Ministerpräsidenten in den neuen Ländern kommen: Wir, die SPD, setzen gegen die Meinung von Herrn Stolpe halt doch einen Untersuchungsausschuß ein. Sehen die Ministerpräsidenten die Interessen ihrer Länder nicht? Oder sind hier gar die großen Vertuscher am Werk?
Die Antragsteller von der SPD sehen nicht, wie sie der weiteren Arbeit der Treuhand schaden.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, nehmen heute Ihr Minderheitenrecht wahr. Aber recht behalten werden Sie dabei nicht!
Wir wissen, wie die Menschen fühlen, die vorher in einem abgewickelten Betrieb gearbeitet haben. Wir wissen, daß die Arbeit der Treuhand oft unpopulär ist,
ja unpopulär sein muß. Wir wissen, daß nicht nur schlicht Fehler in der Anfangszeit der Treuhand gemacht wurden, sondern Staatsanwaltschaften, Gerichte, das Bundesfinanzministerium und der Bundesrechnungshof einschreiten mußten. Ich stelle trotzdem fest, daß es sich bei der Aufgabe der Treuhand um eine wahrhaft einmalige Aufgabe handelt und eine Alternative zur Treuhand nicht besteht.
Es ist selbstverständlich, daß die Treuhandanstalt als Teil der Exekutive der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Das ist nichts Neues. Dieser Bundestag hatte zum Zwecke der parlamentarischen Kontrolle ein eigenes Gremium, nämlich einen Unterausschuß des Haushaltsausschusses geschaffen. Es gab dann später den Wunsch der SPD, die parlamentarische Kontrolle zu verstärken. Die SPD sprach damals von einem Untersuchungsausschuß und hielt ihn schließlich selbst nicht für sinnvoll. Dies war und ist auch unsere Meinung.
Es wurde dann vereinbart, daß einerseits die Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle durch den Bundestag gestärkt werden sollten, dafür aber andererseits ein Untersuchungsausschuß nicht eingesetzt werden sollte. Wir haben uns in der Koalition an die Absprachen mit der SPD gehalten. Wir haben den bisherigen Unterausschuß Treuhandanstalt zum regulären Fachausschuß erhoben. Was, meine Damen und Herren von der SPD, hat sich denn seither qualitativ geändert?
Die Absicht mag es sein, mit einem Untersuchungsausschuß die Bundesregierung zu treffen. Dabei scheut die SPD aber nicht davor zurück, die gesamte Arbeit der Treuhand und damit einen wichtigen Teil im Einigungsprozeß in Mißkredit zu bringen.
Absichtlich wurde mit großer Übereinstimmung im Treuhandgesetz der unternehmerische Spielraum für die Schaffung neuer Wirtschaftsstrukturen geschaffen.
Wie aber soll erfolgversprechendes unternehmerisches Handeln möglich sein? Welche unternehmerische Perspektive ist es, wenn am Ende der Tätigkeit Otto Schily sitzt?
Wie soll, meine Damen und Herren, auf Seiten der potentiellen Käufer Interesse geweckt und wachgehalten werden, wenn am Schluß der Untersuchungsausschuß kommt?
Es liegt auf der Hand, daß nationale und vor allem internationale Investoren durch die Aussicht auf öffentliche Erörterung nicht ermutigt werden. Auf deren Engagement sind wir aber dringend angewiesen. Die Arbeit des Untersuchungsausschusses erschwert deswegen die verbleibende Arbeit der Treuhand und schadet dem wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern.
Herr Schulte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Diederich?
Nein, ich bin nicht der Zeuge von Herrn Schily.
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15418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Dieter Schulte
Ein Untersuchungsausschuß hat viele Kompetenzen, aber nicht die Kompetenz eines Unternehmers. Es geht überhaupt nicht darum, parlamentarische Kontrolle zu verweigern. Das Gegenteil wurde mit der Vereinbarung über den Treuhandausschuß bewiesen. Aber wie kurz ist das Gedächtnis der SPD, wenn sie nicht mehr weiß, warum die Treuhand aus dem Regierungsapparat ausgegliedert wurde,
warum es Vereinbarungen zwischen den Fraktionen gab. Nutzen und Kosten der Politik werden heute bei der SPD gespalten definiert. Der Nutzen soll der SPD gehören, die Kosten trägt die Allgemeinheit.
Meine Damen und Herren, die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer halten die Möglichkeiten der Kontrolle und der Ahndung von Verstößen für ausreichend, die SPD im Deutschen Bundestag bisher auch. Ich frage die SPD: Was hat sich erstens seit der Verständigung unter uns über den normalen Treuhandausschuß qualitativ verändert?
Zweitens. Gibt der neue Bericht des Bundesrechnungshofs Anlaß für einen Untersuchungsausschuß, oder stellt er nicht sehr sensibel die Argumente für das Gegenteil zusammen?
Drittens. Wie stellen Sie sich von der SPD die Rolle des normalen Treuhandausschusses in der Zukunft vor?
Viertens. Wollen Sie denn ein neues Treuhandgesetz? Das klang bei meinem Vorredner leise an.
Fünftens. Sehen Sie nicht, daß notwendiges unternehmerisches Handeln durch Ihren Einsetzungsantrag gefährdet wird?Sechstens. Ist Ihnen die Stellungnahme von betroffenen Ministerpräsidenten inzwischen gleichgültig?Sie von der SPD übernehmen heute aus einem Minderheitenrecht Verantwortung. Dies wird aber in concreto leider negative Verantwortung. Daran war von den Erfindern der Untersuchungsausschüsse nicht gedacht. Verantwortung für Deutschland ist etwas anderes. Statt seriöse Verhandlungspartner zu bleiben, richten Sie sich auf Minderheitenrechte ein.
Dort gehören Sie auch in der Zukunft hin.
Als nächster spricht der Kollege Paul Friedhoff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach langem Hin und Her ist es jetzt also soweit: Die SPD-Fraktion hat die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Arbeit der Treuhandanstalt beantragt. Dies ist ihr gutes Recht, was auch von niemandem bestritten wird,
und so wird es dann wohl kommen.Doch lassen Sie mich gleich vorweg sagen: Meine Fraktion, die F.D.P., hält die Einsetzung eines Treuhanduntersuchungsausschusses nicht nur für nicht notwendig, sondern vielmehr für kontraproduktiv.
Daß dies auch in Ihren eigenen Reihen so gesehen wird, zeigen die Äußerungen des SPD-Ministerpräsidenten Stolpe, über die hier schon gesprochen worden ist. Aber auch das, was gestern in der „FAZ" stand, daß Herr Rappe
aus Protest dagegen seine Arbeit im Treuhandausschuß einstellt, ist der Beweis dafür, daß eigentlich die, die wirkliche Verantwortung bei Ihnen tragen, einer anderen Meinung sind und dies auch deutlich artikulieren. Wir sehen das genauso.
Meine Damen und Herren, der Treuhanduntersuchungsausschuß ist in der Sache nicht notwendig. Rechtlich und politisch werden alle Aktivitäten der Treuhandanstalt durch die Justiz und das Parlament so gut wie durch die zuständigen Fachressorts kontrolliert. Die Justiz arbeitet zügig und gut. Die Arbeit des Parlaments wurde zunächst in einem Unterausschuß des Haushaltsausschusses und wird seit Anfang dieses Jahres in einem Vollausschuß geleistet. Dies war und ist richtig und wird gerade in der Zukunft, wo es um die Beendigung dieser Arbeit der Treuhandanstalt geht, besonders wichtig.Der Treuhanduntersuchungsausschuß ist aber auch kontraproduktiv. Er wird die Arbeit der Treuhand stören, wenn nicht gar in Teilbereichen unmöglich machen. Vorstände und Mitarbeiter der Treuhand werden sich zukünftig mehr und mehr mit der Anfertigung von Berichten, mit Zeugenaussagen und mit anderen Arbeiten zu beschäftigen haben und kaum noch die Zeit finden, ihre eigentliche Aufgabe zu bewältigen.
Darüber hinaus ist eine große Verunsicherung der Mitarbeiter der Treuhandanstalt und damit verbunden eine Entscheidungsblockade vorauszusehen.Die Rechtsform der Treuhandanstalt als Anstalt des öffentlichen Rechts ist leider schon viel politiknäher, als dies in der übrigen Wirtschaft bei den HoldingGesellschaften üblich ist.
Dies ist von der SPD immer wieder — zuletzt bei derDiskussion um die Erhaltung der industriellen Kerne
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15419
Paul K. Friedhoff— kritisiert worden. Hier sollten — und das ist richtig— die Entscheidungen möglichst weit weg von der Politik vor Ort gelegt werden. Darum haben wir gerungen. Jetzt gehen wir genau den entgegengesetzten Weg. Wenn Sie also nun den Untersuchungsausschuß eingesetzt haben, werden diese Entscheidungsprozesse in der Treuhandanstalt zwangsläufig noch viel komplizierter ablaufen als bisher. Aber dafür tragen Sie, die SPD, die Verantwortung.
Ferner — und dies ist das Schlimmste — werden potentielle Investoren weiter verunsichert und vor einem Engagement in den neuen Bundesländern zurückschrecken, dies zu einem Zeitpunkt, wo die Arbeit der Treuhandanstalt immer schwerer wird, da ja nicht die guten Unternehmen, die es zweifellos auch gegeben hat, noch vorhanden sind, sondern wo es um immer schwierigere Fälle geht. Dies wird das Engagement privater Investoren, das dringend notwendig ist, erheblich stören.Meine Damen und Herren, all dies ist Ihnen bekannt. Es wird auch von den Entscheidungsträgern vor Ort in der SPD so gesehen. Wer sich darüber hinwegsetzt, handelt unverantwortlich. Alle Ihre Beteuerungen, konstruktive Oppositionsarbeit leisten zu wollen und gemeinsam am Aufbau der Wirtschaft in den Ländern mitzuarbeiten, klingen daher wie Hohn.
Herr Thierse hat vorhin einiges gesagt, was ich nicht unterstreichen kann. Aber er hat recht, wenn er davon spricht, daß die SPD eine Westpartei ist. Das Mitgliederverhältnis von 850 000 zu 30 000, also 3,5 % im Osten, zeigt auf, welche Interessen wirklich vertreten werden.
Mit der Einsetzung dieses Ausschusses über die Mahnungen Ihrer eigenen Fachleute hinweg treten Sie erneut den Beweis an, daß es Ihnen nicht um die Sache, also um den schnellen Aufbau im Osten, geht, sondern daß Sie parteipolitischen Scharmützeln den Vorrang geben.
Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Die Menschen in den neuen Bundesländern werden Ihr Verhalten durchschauen. Leider allerdings kostet das Arbeitsplätze und trägt nicht zur Glaubwürdigkeit in der Politik bei.Herr Thierse, wenn Sie als Begründung anführen, daß Sie kein zweites Bischofferode wollen, dann gebe ich Ihnen recht. Das wollen wir auch nicht. Nur, wenn Sie mit einem Untersuchungsausschuß verhindern wollen, daß die Politik noch näher an Bischofferode herangeht, dann weiß ich nicht, welche Vorstellungen Sie davon haben, was in einem Untersuchungsausschuß ablaufen soll. Gerade bei Bischofferode sollten Sie sich einmal die Bandbreite der Meinungen Ihrer Fraktion und deren Verhalten in den Ausschüssen ansehen. Sie werden sich wundern.
Dann müssen wir die Frage stellen, warum Bischofferode so gekommen ist, wie es gekommen ist, und wen Sie da unterstützt haben.
Meine Damen und Herren, es ist unsere Aufgabe, den Prozeß der wirtschaftlichen und sozialverträglichen Umstrukturierung in den neuen Bundesländern voranzutreiben und, wenn möglich, zu beschleunigen. Hier sind wir auf dem richtigen Weg. Dazu gehört auch eine kritische Begleitung der Arbeit der Treuhandanstalt.Die Treuhandanstalt wurde von der letzten Regierung der DDR gegründet. Damals war man der Ansicht, daß das Vermögen, also die volkseigenen Betriebe, mehrere hundert Milliarden DM wert seien. Nicht nur diese Annahme hat sich als falsch erwiesen. Auch die zentrale Struktur der Treuhandanstalt, dieser Riesenanstalt des öffentlichen Rechts, die die Privatwirtschaft durch Privatisierung der Betriebe und Liegenschaften vorantreiben sollte, kann man heute in Frage stellen. Allerdings muß man sich dann fragen lassen, welche Alternative es gab. Wo konnte man Rat holen? Wer hatte Erfahrungen mit der Umstrukturierung einer sozialistischen Kommandowirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft? Alles, vor allem in der Anfangszeit, mußte nach dem Motto „trial and error" ablaufen.In vielen Bereichen hat die Treuhandanstalt eine beeindruckende Bilanz aufzuweisen. Es geht uns nicht darum, die Treuhandanstalt mit einem Heiligenschein zu versehen. Dennoch, die Privatisierungserfolge der Treuhandanstalt sind nicht von der Hand zu weisen. In vielen Bereichen sind sie beeindruckend. Die rasche Überführung des volkseigenen Eigentums in die Hände privater Investoren war die notwendige Voraussetzung für die Transformation der Staatswirtschaft der DDR in eine marktwirtschaftliche Ordnung.Es kann niemanden verwundern, wenn in einem so großen Unternehmen wie der Treuhandanstalt vor dem Hintergrund der Größe der Aufgabe und des enormen Zeitdrucks, den man ja immer wieder sehen muß, auch Fehler passiert sind. Diese Fehler sind mit der notwendigen Sensibilität korrigiert worden. Hierfür haben wir die Voraussetzungen geschaffen und diesen Prozeß als Gesetzgeber begleitet.Die Treuhandanstalt hat sich hier nicht verweigert. Wo immer Fehler begangen wurden oder offensichtliche Fehleinschätzungen erfolgten, hat sie rasch und unbürokratisch gehandelt. Dies muß auch zukünftig so bleiben. Und dies wird sicher nicht durch einen Untersuchungsausschuß gefördert.Meine Damen und Herren, Parlamentarier sollten nicht versuchen, als Chefermittler den Staatsanwaltschaften den Rang ablaufen zu wollen.
Dies wird offensichtlich von der SPD angestrebt.
Wir müssen uns vielmehr mit der zukünftigen Arbeit der Treuhandanstalt beschäftigen. Viele Unternehmen, die noch bei der Treuhandanstalt verblieben sind, lassen sich trotz Sanierungsfähigkeit nicht kurz-
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15420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Paul K. Friedhofffristig privatisieren. Auch hier hat die Treuhandanstalt bereits den Gesetzesauftrag, die Sanierung voranzutreiben. Dabei muß die Sanierungsaufgabe in den Unternehmen vor Ort geleistet werden. Die Treuhandanstalt hat sich auf ein Beteiligungscontrolling zu beschränken.Auch hierzu haben die Koalitionsfraktionen entsprechende Initiativen ergriffen, die wir intensiv beraten haben und die nun zügig umgesetzt werden müssen. Diese Initiativen zu ergreifen ist die Aufgabe des Parlaments. Dieser Aufgabe sind wir gerecht geworden und werden wir weiter gerecht werden.Meine Damen und Herren, mit den Stimmen der Opposition wird nun der Treuhanduntersuchungsausschuß eingesetzt. Dies ist, wie ich schon zu Beginn sagte, das parlamentarische Recht der Opposition. Ich habe allerdings die Befürchtung, daß die Arbeit des Untersuchungsausschusses von der Opposition zu einem inquisitorischen Schaulaufen benutzt werden wird und daß dadurch der Prozeß des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenwachsens beider Teile Deutschlands beschädigt wird.
Die Verantwortung hierfür liegt bei der Opposition. Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß am Beginn eine Frage stehen muß, die ich schon einmal in diesem Haus gestellt habe — man sollte sie nicht einfach wegwischen, sondern wirklich darüber nachdenken —: Wie kommt e s eigentlich, daß die Volkswirtschaften in Ungarn, in Polen, in der Tschechischen Republik eine so andere Entwicklung genommen haben als die Volkswirtschaft der früheren DDR nach der Vereinigung? Ich würde nie behaupten, daß die Wirtschaft der DDR im Vergleich zu der der Bundesrepublik nicht relativ schwach war. Aber daß sie mit den Volkswirtschaften, die ich eben genannt habe, vergleichbar war, werden Sie wiederum nicht leugnen können. Trotzdem gibt es in diesen Ländern keine derartigen Erscheinungen der Deindustrialisierung; es gibt keine derartigen Erscheinungen eines Abbaus der landwirtschaftlichen Produktion.
— Es ging ihnen vorher schlechter. Das ist nicht mein Punkt.Es gibt in den genannten Ländern auch nicht die Erscheinung der Massenarbeitslosigkeit. Sehen Sie, Sie wischen diese Frage sofort weg.
— Das stimmt nicht; prozentual ist die Massenarbeitslosigkeit in diesen Ländern zum Teil sogar wesentlichgeringer, weil sie nämlich gar keine andere Chancehatten, als ihre Volkswirtschaft schrittweise in eine Marktwirtschaft zu überführen, während bei der früheren DDR der meines Erachtens falsche Auftrag lautete, diese Wirtschaft so schnell wie möglich der westdeutschen anzupassen. Damit hatte sie natürlich real keine Chance.Die Treuhandanstalt hat darüber hinaus von Anfang an darauf geachtet, daß keine unliebsame Konkurrenz für westliche Produzenten entsteht. Bischofferode ist nur ein Beispiel dafür. Ich kann Ihnen viele andere nennen, von Batteriefirmen etc., wo sich Westfirmen die Unterlagen geholt und anschließend vom Kauf Abstand genommen haben, um denen die Kunden wegzunehmen. Es gibt dafür sehr viele Beispiele; das alles können Sie nicht leugnen.Deshalb meine ich, daß man sich die unterschiedliche Entwicklung der Wirtschaften einmal ansehen muß, weil sich nämlich daraus Schlußfolgerungen ergeben, wie die Treuhandanstalt eigentlich gewirkt hat. Es gab ja Alternativen. Die Fehler beginnen natürlich schon bei der Art und Weise der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion — soweit müßte man schon zurückgehen —, wie allerdings auch bei der Art und Weise, wie Sie die Zustimmung der SPD bekommen haben.
— Das können Sie gerne tun. Dann müssen wir bloß noch weiter zurückgehen und einmal darüber nachdenken, wie es gekommen ist, daß dieses Deutschland gespalten war, wer hier zwischen 1933 und 1945 regiert und wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, als dessen Ergebnis zwei deutsche Staaten entstanden sind.
Aber diese Geschichte ist Ihnen sehr unangenehm, weil Sie sie nicht aufgearbeitet haben. Deshalb brauchen Sie da Nachhilfeunterricht; das habe ich schon vorhin gemerkt.
Ich nenne Ihnen einen weiteren Punkt: Wir werden uns mit dem Verhältnis der Bundesregierung zur Treuhandanstalt beschäftigen müssen. Die Präsidentin der Treuhandanstalt hat ja eine entlarvende Aussage gemacht. Sie hat gesagt: Die Treuhandanstalt war schon deshalb erforderlich, weil sie solch unangenehme Entscheidungen zu treffen hatte, die die Bundesregierung wegen ihrer Stellung kaum zu treffen gewagt hätte. Das heißt, es ist ein Instrument geschaffen worden,
das der Fach- und Rechtsaufsicht der Bundesregierung untersteht und durch das gleichzeitig der Eindruck vermittelt werden soll, die Bundesregierung habe eigentlich nichts damit zu tun, obwohl sie die politische Verantwortung für alle Entscheidungen der Treuhandanstalt trägt.
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Dr. Gregor GysiLassen Sie das mit der Modrow-Regierung. Sie wissen, daß das albern ist, weil die Aufgabe der Treuhandanstalt damals völlig anders war als die, die sie nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion unter der De-Maizière-Regierung und unter Ihrer Bundesregierung bekommen hat.
— Wissen Sie, so viel Untreue, wie es in dieser Zeit gegeben hat, hat es vorher nicht gegeben. Alle bisherigen Maße sind da eindeutig überschritten worden.
— Das wird sich dabei herausstellen.Ich sage Ihnen noch etwas: Die parlamentarische Kontrolle hat eben nicht funktioniert. Nehmen Sie doch z. B. die Arbeit des Treuhandausschusses. Dabei sage ich nicht, daß die Mitglieder des Treuhandausschusses nicht zum Teil bemüht waren; das ist gar nicht die Frage. Aber was ist denn das für ein Parlament, dem die Verträge, die kontrolliert werden sollen, nicht vorgelegt werden? Wie wollen Sie denn die Exekutive überhaupt kontrollieren, wenn Sie nicht einmal wissen, was sie entscheidet? Daß der Treuhandausschuß das jedoch mitmacht, ist ein Vorwurf an das Parlament.Die Treuhandanstalt ist eine öffentlich-rechtliche Institution. Deshalb sind alle Argumente, daß es sich um privatwirtschaftliche Verträge handelt und daß man sie dem Parlament vorenthalten kann, völlig fehl am Platze. So werden z. B. nach dem Kali-Fusionsvertrag zunächst 1 Milliarde DM und später noch mehr Steuergelder in die Fusion gesteckt. Das kann ja richtig sein. Aber wenn so viele öffentliche Mittel dort hineingesteckt werden, dann muß das Parlament doch wohl das Recht haben, die Verwendung dieser Mittel zu kontrollieren. Wie soll das Parlament dies tun, wenn es nicht einmal die Verträge einsehen kann?Wenn also der Treuhandausschuß die Unterlagen nicht bekommt, um die Tätigkeit der Treuhandanstalt kontrollieren zu können, dann reicht er eben zweifellos nicht aus. Dann muß ein Untersuchungsausschuß her, der über ganz andere Rechte verfügt und deshalb seine Kontrollfunktion auch wesentlich besser wahrnehmen kann.Politikverdrossenheit o. ä. wird nicht entstehen — ganz im Gegenteil —, wenn — das weiß man natürlich heute noch nicht — dieser Untersuchungsausschuß so arbeitet, daß die Menschen den Eindruck haben: Hier wird eine tatsächliche Kontrolle ausgeübt. Dann wird, so glaube ich, ihr Vertrauen in das Parlament eher wachsen.Wir werden uns natürlich auch damit zu beschäftigen haben, ob möglicherweise die gesetzliche Anlage schon falsch war. Es gab damals auch andere Vorschläge. Sie wissen, wie frühzeitig wir eine Dezentralisierung vorgeschlagen haben, wie lange das abgelehnt worden ist und wie lange es gedauert hat, bis Ländervertretungen organisiert wurden. Wir haben immer gesagt, daß Sie nicht zentral in Berlin entscheiden können, was die Schließung in Bischofferode für das Eichsfeld bedeutet, daß also eine Dezentralisierung zwingend erforderlich ist.Alle diese Vorschläge sind zunächst häufig abgelehnt worden. Man war nicht einmal bereit, darüber zu diskutieren. Dadurch ist die Situation entstanden, daß wir die einzelnen Dinge jetzt in einem Untersuchungsausschuß zu prüfen haben werden.
Es geht auch — ich habe das gesagt — um die Verantwortung der Bundesregierung.Es geht auch darum, wie es geschehen konnte, daß eine derart massenhafte Deindustrialisierung stattgefunden hat, daß eine derartige Massenarbeitslosigkeit entstanden ist, daß es praktisch den — wie es neuerdings heißt — Wirtschaftsstandort Ostdeutschland eigentlich nicht mehr gibt. Daraus resultiert ein Sozialtransfer, der wiederum den Haushalt enorm belastet. Es hätte andere Möglichkeiten und andere Chancen gegeben!Sie wissen auch, daß die Ostdeutschen nicht an Arbeitslosigkeit gewöhnt waren. Sie wissen auch, was das für sie bedeutet, auch psychisch, welcher Bedeutungsverlust das für einen Menschen ist, der das Gefühl hat, nicht mehr gebraucht zu werden. Sie wissen, was daraus auch an Aggressionen und an Gewaltbereitschaft resultiert. Es gibt zahlreiche Folgen, die letztlich alle irgendwie die Gesellschaft zu bezahlen haben wird.Ich glaube, wir müssen uns mit diesen Fragen beschäftigen. Wir müssen uns auch mit den rein kriminellen Vorgängen beschäftigen. Das ist für mich jedoch nicht das Entscheidende. Das Entscheidende sind die Konstruktionsfehler, die fehlerhafte Deindustrialisierungspolitik, die fehlerhafte Politik bei der Privatisierung und das Gefühl, das man nicht los wird, daß es dort in erster Linie um den Verkauf von Immobilien ging und daß das einzige, was störte, die 16 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner waren.
Diesem Gefühl muß jetzt durch Kontrolle nachgegangen werden.Denn ein wirkliches Engagement zur Erhaltung von Industriestandorten war höchst selten. Es gab in Einzelfällen Ausnahmen, z. B. bei den Werften. Häufig war jedoch das gegenteilige Bestreben ganz deutlich festzustellen. Häufig wurde eben auch nicht die Wahrheit gesagt. Es gab zahlreiche Fälle, in denen die Äußerungen der Treuhandanstalt denen der Bundesregierung und umgekehrt so erheblich widersprochen haben, daß auch in diesen Fällen Klarheit hergestellt werden muß. Das gilt im großen und ganzen ebenso wie in Einzelfällen.Lassen Sie mich noch eines sagen: Es wird immer behauptet, Investoren würden abgeschreckt, und das Ganze behindere die Wirtschaftsentwicklung im Osten Deutschlands. Bedauerlicherweise sagen das auch die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder einschließlich Herrn Stolpe. Ich finde das nicht nachvollziehbar.
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Dr. Gregor GysiErstens. Welche Investoren werden abgeschreckt? Wo stehen Sie denn alle wahnsinnig an und warten nur darauf, eingelassen zu werden, und ziehen sich jetzt erschreckt zurück, weil wir einen Untersuchungsausschuß wollen? Das ist doch einfach albern. Es gibt doch kaum welche, die wir verschrecken könnten.
Zweitens. Es ist auch nicht wahr, daß wir Investoren abschrecken, ganz im Gegenteil. Wenn ausländische Investoren mitbekommen, daß wir die Tätigkeit dieser Treuhandanstalt kontrollieren, werden sie vielleicht sogar mehr Vertrauen bekommen und viel eher investieren, als wenn sie sagen: Wir werden dort möglicherweise über den Tisch gezogen, wir haben sowieso keine Chance, denn es kontrolliert keiner. Sie wissen, wie ungleich die Angebote der Treuhand häufig auch gegenüber ausländischen Investoren waren. Das kann man so ohne weiteres nicht durchgehen lassen. Deshalb glaube ich, daß der Untersuchungsausschuß erforderlich ist.Gestatten Sie mir noch einen Satz: Sie können Anwälten viel vorwerfen, das ihr Ihr gutes Recht. Man kann sich von ihnen politisch wahnsinnig unterscheiden, das ist auch legitim. Einas darf man nicht: den Anwälten vorwerfen, daß sie die falschen Mandanten hatten.
Das halte ich für unzulässig. Danke schön.
Ich erteile nunmehr dem Ministerpräsidenten des Landes Thüringen, Dr. Bernhard Vogel, das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der SPD-Fraktion auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses berührt die elementaren Interessen der jungen Lander so unmittelbar, daß Sie bitte Verständnis dafür haben, daß ich von meinem Recht Gebrauch machen möchte, hier dazu etwas zu sagen. Ich tue das für meine Person, aber ich betone ausdrücklich: Ich tue es in voller Übereinstimmung mit allen meinen Kollegen, ob Sie Biedenkopf, Stolpe, Seite, Diepgen oder Münch heißen.
Einen Untersuchungsausschuß zu diesem Thema zu diesem Zeitpunkt einzusetzen ist schädlich und kontraproduktiv.
Ein solcher Untersuchungsausschuß ist ein Schaden far den Fortgang der Privatisierung, ein Schaden für die Beschäftigten, eine Abschreckung für die Investoren, und ein solcher Untersuchungsausschuß blockiert in einer besonders sensiblen Phase unnötigerweise
die Arbeit der Treuhand. Er ist auch ein Schaden für bereits privatisierte Unternehmen, die sich gegenwärtig zum Teil in erheblichen Schwierigkeiten befinden.
Wir haben in den jungen Ländern in der Tat keinerlei Grund, der Treuhandanstalt gegenüber nur Wohlgefallen zu verbreiten. Der Thüringer Ministerpräsident hat dazu schon gar keinen Grund. Mehr Ärger mit einzelnen Entscheidungen der Treuhand kann man wohl kaum haben, als Thüringen hatte und hat. Dennoch, meine Damen und Herren, ich bin dafür, daß wir trotzdem Fairneß walten lassen und daß wir trotzdem die Fähigkeit, zu differenzieren, nicht verlieren.
Natürlich hat das Parlament — um das vorweg zu sagen — das Recht, die Arbeit der Treuhand zu überprüfen, und natürlich bekunde ich zunächst einmal Respekt vor dem legitimen parlamentarischen Verfahren. Das steht außer Frage.
Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thierse zu beantworten?
Bei Herrn Thierse ja.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Ich danke für die Gnade.
Herr Ministerpräsident, Sie haben mir die Antwort auf die Frage beinahe vorweggenommen. Sie sprachen eben von Unfairneß. Ich hoffe, ich habe Sie richtig verstanden, daß Sie die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses nicht für einen Akt der Unfairneß halten.
Und gleich eine zweite Frage, wenn ich darf: Ist Ihnen bekannt, daß gestern abend der Landtag in Brandenburg einen Untersuchungsausschuß in Sachen Treuhandanstalt eingerichtet hat, der gemeinsam von PDS und Abgeordneten der CDU beantragt worden ist?
Herr Kollege Thierse, lesen Sie einmal das Protokoll nach. Von Unfairneß habe ich nicht gesprochen, ich habe von Fairneß gesprochen.
— Wenn Sie mir weiter zuhörten, würde es immerüberflüssiger, daß ich Ihnen die Gnade zu weiteren
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Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel Zwischenfragen einräume; denn dann würden Sie genau das hören, wonach Sie fragen.
— Zunächst einmal habe ich hier wiederzugeben, was der verantwortliche Mann von Brandenburg gesagt hat. Er hat dringend aufgefordert, keinen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Diese Erkenntnis ist richtig.
Ich habe den Interviewtext von Herrn Kollegen Stolpe vorliegen. Ich zitiere ihn wörtlich:Ich halte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß in dieser wirtschaftlich schwierigen Situation für falsch.
Herr Stolpe hat recht, und ich wiederhole: Das ist auch meine Meinung.Natürlich können Sie diesen Untersuchungsausschuß einrichten. Aber, meine Damen und Herren, ebenso natürlich kann ich doch die Bitte äußern, ein Instrument, das es gibt und das Sie benutzen können, nicht zum falschen Zeitpunkt in die Hand zu nehmen und mit schädlicher Wirkung zu gebrauchen. Es besteht doch eine bisher in der Geschichte nicht dagewesene Herausforderung, und Herr Gysi kann uns doch nicht weismachen, wir seien schuld daran, daß die Wirtschaft in Ostdeutschland marode ist. Das ist doch beim allerbesten Willen nicht möglich.
Wir stehen vor einer ungewöhnlich großen Herausforderung, und der muß vieles gerecht werden, der muß auch die Treuhand gerecht werden. Es muß unter Abwägung des Für und Wider gefragt werden, ob der Untersuchungsausschuß hilfreich ist oder nicht.
Herr Ministerpräsident, mir liegt der Wunsch des Abgeordneten Thiele vor, Ihnen eine Frage zu stellen.
Was Thierse recht ist, ist Thiele billig. Bitte.
Herzlichen Dank, Herr Vogel. Ich habe die Frage, wie Sie es denn bewerten würden, wenn einem Ministerpräsidenten, der sich gegen die Einsetzung eines solchen Untersuchungsausschusses ausspricht, seitens dieses Hauses vorgeworfen würde, daß er dies nur deshalb macht, um in Abhängigkeit von der Treuhandanstalt nicht die Interessen seiner Bevölkerung zu verletzen?
Ja, ich würde mich gegen die Vorstellung, daß wir Ministerpräsidenten, weil wir im Verwaltungsrat der Treuhand sind, uns in irgendeine Abhängigkeit von der Treuhand begeben würden, wehren und darauf hinweisen, daß ich mir deswegen auch gelegentlich erlaube, im Verwaltungsrat gegen Entscheidungen der Treuhand zu sprechen. Ich glaube, daß das, was hier von Herrn Stolpe und mir gesagt wird, nicht dem Druck der Treuhand folgt.Meine Damen und Herren, die Treuhand hat ganz ohne Frage eine gewaltige Aufgabe. Aber sie hat diese Aufgabe keineswegs so schlecht gelöst, wie ihr gerne unterstellt wird. Natürlich gehört zum unternehmerischen Handeln Risiko, und zum Risiko gehört auch Mißerfolg. Es ist gar keine Frage, daß es bei 40 000 abgeschlossenen Verträgen bedauerlicherweise auch Fehler gibt. Unbestritten ist — die Bilanz der Treuhand weist das aus —, daß fast jeder fünfte der von der Treuhand vertraglich gebundenen Investoren seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Um es ganz klar in Zahlen zu sagen: Bei knapp 5 100 überprüften Verträgen sind in mehr als 1 000 Fällen Arbeitsplatzzusagen kaum das Papier wert, auf dem sie stehen.
In 400 Fällen gibt es schwierige Nachverhandlungen. Aber es stimmt auch, daß per saldo mehr Arbeitsplätze erhalten und höhere Investitionen getätigt worden sind, als vertraglich zwischen der Treuhand und den Erwerbern vereinbart waren. Beides stimmt, meine Damen und Herren!
Die Treuhand hat rund 8 500 ehemals volkseigene Betriebe und Kombinate mit 4,1 Millionen Beschäftigten übernommen. Ihr war mit dem Privatisierungsauftrag nun wahrlich eine der schwierigsten Aufgaben des Einigungsprozesses übertragen. Das muß man bei aller Kritik vorweg anerkennen. Daß im August nur noch 1 390 Unternehmen zu privatisieren waren, daß ca. 90 % der Betriebe privatisiert, reprivatisiert oder kommunalisiert sind, ist ein Erfolg. Damit wir uns recht verstehen, meine Damen und Herren: Als Regierungschef eines jungen Landes sage ich das nicht mit dem Ausdruck der Zufriedenheit — für Zufriedenheit ist kein Anlaß —, aber ich sage es mit dem Ausdruck der Anerkennung dafür, daß eine von der ModrowRegierung eingerichtete Institution eine Arbeit geleistet hat, die sich sehen lassen kann.Unter Modrow war im März 1990 berechnet worden, der Wert des Staatsvermögens der DDR betrage 1,4 Billionen Mark.
Die Eröffnungsbilanz drei Monate später ergab in Wirklichkeit damals schon einen Fehlbetrag von 120 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, Bilanz Modrow 1,4 Billionen plus, Eröffnungsbilanz 120 Milliarden Minus — das ist ein Gegenstand, den man untersuchen sollte, aber nicht das, was heute hier gefordert wird!
Natürlich wünschen wir uns, daß es schneller geht. Aber wer jetzt neben dem bestehenden Treuhandausschuß einen neuen Treuhanduntersuchungsausschuß installieren will, wird erreichen, daß es nicht schneller, sondern langsamer geht. Es ist durchaus möglich, daß
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Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
der eine oder andere Fehler aufgedeckt wird. Das steht doch nicht in Frage, sondern in Frage steht, ob es zu verantworten ist, durch Einsetzung dieses Ausschusses jetzt neue Ungewißheit, neue Entscheidungsblockade, neue Behinderung von investivem Engagement zu fördern.
Wägen Sie doch bitte ab, ob die einzelnen bekannt gewordenen Fehlleistungen der Treuhandanstalt typisch für deren Arbeit sind oder ob diese Fehlleistungen tatsächlich immer auch Fehler sind.Mir fällt beim Stichwort Fehler und Fehlleistungen einiges ein. Ich brauche das Stichwort Bischofferode nicht auszubreiten. Natürlich war die Fusion der Kaliindustrie richtig, aber die Art und Weise der Fusion war falsch.
Natürlich ist der Vertrag falsch, weil er einseitig zu Lasten eines Landes geht, und zwar zu Lasten des Landes Thüringen. Deswegen ist man sehr überrascht, jetzt zu sehen, wer nachträglich die Entscheidung noch für gut hält, statt sie zu kritisieren.
— Ja, meine Damen und Herren, die beste Kollegenschaft hilft in diesem Fall nichts; Sie haben völlig Recht.Aber es geht jetzt doch nicht darum, falsche Entscheidungen zu kritisieren, sondern darum, ob man aufhält, ob man Schwierigkeiten macht, ob man verzögert oder ob man vorankommt. Vorschläge und konstruktive Beiträge für die bessere zukünftige Entwicklung und für die Verhinderung von Fehlentwicklungen sind gefragt. Sie können selbstverständlich im Treuhandausschuß zur Debatte gestellt werden, der in der Vergangenheit von vielen seiner Teilnehmer auffallend wenig besucht und genutzt worden ist.
Das ist dabei auch zu bedenken.Wenn die Regierungen der jungen Länder den Untersuchungsausschuß einmütig ablehnen, dann nicht, weil Fehler der Treuhand unter den Teppich gekehrt werden sollten; davon kann keine Rede sein. Wir wollen die Treuhand nicht aus der Verantwortung entlassen. Allerdings, meine Damen und Herren, meinen wir, daß ein Treuhandausschuß des Bundestages genügt und daß ein eigener Untersuchungsausschuß überflüssig ist. Alle fünf Länder — wenn Sie Berlin dazunehmen: alle sechs Länder — lehnen ihn einhellig ab. Es muß doch zu denken geben, wenn die politisch Betroffenen im Osten einstimmig gegen diesen Ausschuß votieren und einmütig vor den negativen Folgen dieses Ausschusses warnen.Wir haben, weil auch wir an der Treuhand Änderungen vornehmen möchten, in Schmalkalden ausdrücklich gesagt, daß wir von Anfang an am Treuhand-Strukturgesetz, das jetzt erarbeitet werden soll, beteiligt sein möchten und daß wir eine Menge von Änderungsvorschlägen einzubringen haben — selbstverständlich, aber darum geht es heute nicht. Heute geht es darum, der Treuhand kurz vor Beendigung ihres Auftrages nicht unnötige Steine in den Weg zu legen, sondern die Arbeit der Treuhand kritisch zu begleiten und ihr zum Erfolg zu verhelfen.
Ich möchte noch einmal diesen nachdrücklichen Wunsch aller Verantwortlichen der nahezu allein betroffenen Länder hier zugleich im Namen aller meiner Kollegen aussprechen. Ich kann Sie nicht hindern; aber ich habe das Recht, Sie vor einem Fehler, den Sie machen, zu warnen.Danke schön.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Vogel, ich möchte zunächst festhalten: Nicht die politisch Betroffenen lehnen diesen Untersuchungsausschuß ab, sondern die politisch Verantwortlichen.
Die Betroffenen verlangen von uns sogar, daß wir diesen Untersuchungsausschuß einsetzen und daß wir uns dafür stark machen. Da liegen, glaube ich, die gewichtigen Unterschiede, und da sollten wir Sie fragen, wen Sie hier eigentlich vertreten.
Spät, aber hoffentlich nicht zu spät hat sich die SPD-Fraktion jetzt zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses durchgerungen, der Licht in die „marktwirtschaftliche Dunkelkammer Treuhandanstalt" bringen soll. Wir unterstützen das ausdrücklich; denn aufzuklären gibt es genug: von undurchsichtigen Geschäften bis hin zu der Frage, wer die Verantwortung für den grandiosen Ausverkauf des Volksvermögens der DDR,
für die Abwicklung der ostdeutschen Industrie, für den Verlust erhaltenswerter Arbeitsplätze trägt.Der Treuhandausschuß hat es zu keiner Zeit vermocht, eine wirklich wirksame Kontrolle der Treuhandanstalt zu garantieren; sie konnte im Freistil bei zugedrückten Augen des Finanzministeriums agieren. Daran hat auch die Aufwertung des Unterausschusses zum Vollausschuß nichts geändert. Die Öffentlichkeit, vor allen Dingen die Menschen in Ostdeutschland, die Treugeber der Treuhandanstalt, haben einen Anspruch darauf zu erfahren, wie aus dem Volksvermögen der DDR ein Rekorddefizit und schließlich ein „Erblastfonds Theo Waigel" werden konnte.
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Werner Schulz
Meine Damen und Herren, so notwendig dieser Untersuchungsausschuß ist, was seine Erfolgsaussichten anbelangt, ist Skepsis angebracht. Da ist zunächst die Kürze der Zeit. Ehe der Ausschuß begonnen hat, richtig zu arbeiten, werden wir uns im Superwahljahr 1994 befinden. Mit der Sommerpause 1994 wird die Arbeit des 12. Bundestages praktisch beendet sein. Insofern ist es mehr als bedauerlich, daß sich die sozialdemokratische Fraktion doch recht lange Zeit damit gelassen hat, allgemeine Ankündigungen in konkrete Anträge umzusetzen.Skepsis ist auch angebracht, wenn man sieht, wie die Bundesregierung, die Koalitionsparteien und die Treuhandanstalt selbst mauern, wo sie können, und so tun, als sei alles sonnenklar und überhaupt nichts aufzuklären. Wir verlangen von der Bundesregierung und der Treuhandanstalt endlich eine vollständige Aufklärung über die Treuhandpraxis.Die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer haben sich — wie hier mehrfach betont wurde — gegen die Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses ausgesprochen. Dies ist bedenklich oder — besser gesagt — beschämend. Es kann nicht sein, daß sie mit dem Argument, eventuell könnten Investoren irritiert werden, alles unter den Teppich kehren wollen, was in der Treuhand schief und dubios läuft. Vielleicht werden Investoren gerade dadurch abgeschreckt, daß sie bei der Treuhandanstalt Intransparenz, Willkürentscheidungen und spätere öffentliche Auseinandersetzungen befürchten müssen. Der Verweis auf den jetzigen Treuhandausschuß und seine Möglichkeiten zieht nun wahrlich nicht.Meine Damen und Herren, wir brauchen diesen Untersuchungsausschuß, um wenigstens im nachhinein — wenn es schon begleitend nicht geht — die Sanierungspolitik, die Vertragsgestaltung, die Vergütung der Manager, die Verflechtungen zwischen Treuhandanstalt und alten SED-Genossen und vieles andere mehr zu überprüfen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf diese Bilanz.Bischofferode ist, Herr Friedhoff, nicht nur ein Beispiel dafür, wer alles auf einer Protestwelle mitschwimmen kann. Es ist auch ein Beispiel dafür, wie der ökologische Umbau verhindert wird. Denn Bischofferode könnte ein ökologischer Musterknabe im Kalibergbau sein.
Die SPD-Fraktion hat sich spät entschlossen, die Einsetzung dieses Ausschusses zu beantragen. Sie hat es wohl auch halbherzig getan. Damit meine ich weniger den Treuhandverwaltungsrat Rappe, der seinem Haus die Treue hält; auch nicht Manfred Stolpe, der ohnehin nicht viel von tiefgreifenden Untersuchungen hält. Er ist nicht von der Treuhand abhängig, sondern eher von seiner Neigung, sich der Macht anzupassen und Unangenehmem aus dem Wege zu gehen.Was ich meine, ist das schmerzhafte Kapitel der Verquickung der Treuhandanstalt mit dem alten Apparat, die Beschäftigung von ehemaligen Nomenklaturkadern bei der Treuhand, der Verkauf von Treuhandvermögen an alte Kader und Stasi-Leute.
Um diesen Punkt möchte die SPD-Fraktion offenbar einen großen Bogen machen. Ich muß aber sagen: Dafür gibt es in unserer Gruppe kein Verständnis. Ein Untersuchungsausschuß, der diese Frage ausklammert, hat von vornherein an Glaubwürdigkeit verloren.
Ich verstehe auch nicht, Herr Ministerpräsident Vogel, diese allergische Reaktion der ostdeutschen Ministerpräsidenten, die immerhin Sitz und Stimme im Verwaltungsrat der Treuhand haben. Es kann doch nur günstig sein, wenn wir erfahren, welchen Einfluß sie genommen haben, um eventuelle Fehlentscheidungen zu verhindern. Mir ist nichts bekannt. Der Ausschuß soll nichts behindern, sondern soll und kann etwas Neues fördern, daß wir uns nämlich erstmals mit den Folgen von Fehlentscheidungen in der Politik auseinandersetzen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hinrich Kuessner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Untersuchungsausschuß Treuhandanstalt wurde notwendig, weil die Bundesregierung den Treuhandausschuß des Bundestages nicht ernst nahm. Die Bundesregierung hat die Umstrukturierung der Wirtschaft in Ostdeutschland zu sehr auf leichte Schultern genommen. Das ganze Dilemma fing damit an, daß Kanzler Kohl von den blühenden Landschaften in Ostdeutschland sprach und damit die Hoffnung vermittelte, daß die Umstrukturierung schnell und schmerzlos erfolgen wird.
Die Bundesregierung war der Auffassung: Die westdeutsche Wirtschaft wird es schon machen; der Staat muß sich möglichst heraushalten; er bremst und stört nur die Kräfte des Marktes. Sie richtete darum kein Aufbauministerium für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau ein. Sie überließ der Treuhandanstalt die Aufgabe des Umbaus der Wirtschaft. Im Bundesfinanzministerium wurde zwar ein fähiger Staatssekretär mit der Aufgabe betraut, aber die Treuhandanstalt war für ihn eine Aufgabe neben anderen. Die kleine Abteilung war dieser großen Aufgabe in keiner Weise gewachsen. Der Treuhandanstalt mit ihren rund 4 000 Mitarbeitern standen in dieser Abteilung des Bundesfinanzministeriums im Jahre 1991 etwas über 20 Mitarbeiter gegenüber; jetzt sind es 80. Diese Zahlen sprechen für sich.Die Bundesregierung schraubte die Bedingungen, wann sich auch das Bundesfinanzministerium mit den Entscheidungen der Treuhand befassen muß, möglichst hoch. Das hatte zur Folge, daß die Treuhandanstalt ihre Sache selbst machen konnte und mußte.
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Hinrich KuessnerFür die Treuhandanstalt suchte man vor allem Wirtschaftsmanager, die die Strukturen in Westdeutschland und in Westeuropa kannten. Sie sollten schnell privatisieren; denn die politische Maxime der Bundesregierung war und ist: Die schnelle Privatisierung ist die beste Sanierung. Darauf wurde alles ausgerichtet, bis hin zur Bezahlung der Manager. Wer schnell privatisiert, steigert sein Einkommen durch das Bonussystem.Die Privatisierung war und ist das wichtigste Kriterium. Die vielgepriesenen Arbeitsplatz- und Investitionszusagen wurden in den Verkaufsverträgen vielfach moralisch, nicht aber rechtlich einklagbar vereinbart. Dem Treuhandausschuß wurde dies zum erstenmal in einem Bericht vor der Sommerpause mitgeteilt: Das grenzenlose Vertrauen der Bundesregierung in die Wirtschaft braucht keine vertragliche Absicherung.Parlamentarische Arbeit konnte bei dieser Form der Umstrukturierung nur stören. Die Regierungskoalition ließ darum am Anfang der Legislaturperiode nur einen Unterausschuß des Haushaltsausschusses als Kontrolle der Arbeit der Bundesregierung in Sachen Treuhandanstalt zu. Praktisch sah das so aus, daß sich 13 Mitglieder des Haushaltsausschusses neben ihrer zeitaufwendigen Arbeit im Haushaltsausschuß dieser Arbeit widmen mußten.1991 blieb dafür kaum Zeit; denn in jenem Jahr mußten zwei Haushalte verabschiedet werden: im Frühjahr der für 1991, im Herbst der für 1992. Die Zeit für Sitzungen des Unterausschusses war unzureichend.1992, als die Arbeit im Ausschuß intensiver wurde, wurden auch die Konflikte zwischen Bundesregierung und Ausschuß größer. Die öffentliche Auseinandersetzung über die Arbeit der Treuhandanstalt nahm ebenfalls zu.Anfang dieses Jahres endlich kam die Einigung zwischen SPD und Regierungskoalition, aus dem Untersuchungsausschuß einen Vollausschuß Treuhandanstalt zu machen. Die CDU/CSU verstand diese Einigung als das Versprechen der SPD, einen Untersuchungsausschuß nicht mehr zu fordern. So trat die Bundesregierung auch im Ausschuß auf; sie nahm diesen Ausschuß nicht ernst. Die Opposition wollte einen Vollausschuß, nun hatte sie ihn und sollte still und zufrieden sein.Die Berichte an den Ausschuß waren wenig informativ. Die Bundesregierung zeigte zu keinem Zeitpunkt Interesse, den Ausschuß an Überlegungen zu beteiligen.
Es kam nur das auf die Tagesordnung, was die Abgeordneten forderten. Die Informationen der Bundesregierung waren dann möglichst zurückhaltend.
— Wenn Sie Fragen haben, können Sie sie gerne stellen. Ich gehe gerne auf Ihre Fragen ein.Der Bundesrechnungshof stellt in seinen Bemerkungen 1993 fest, daß die Treuhandanstalt in der Vergangenheit vielfach gerade auch gegenüber politischen Gremien undifferenzierte Angaben gemacht hat. In der letzten Sitzung des Treuhandausschusses haben wir es wieder erlebt. Dem Ausschuß wurde ein Bericht über die Zukunft der Treuhandanstalt und ihrer Nachfolgeorganisation nach 1994 vorgelegt.Dieser Bericht war wenig informativ. Zum Beispiel schwieg man völlig zur Mitsprache des Parlamentes, der Länder, der Kommunen bzw. der Bauernverbände bei Entscheidungen der BVVG und der TLG. Inzwischen höre ich, daß man diese Mitsprache überhaupt nicht will und darum zu diesem Thema schweigt.
Auf diese Weise hat die Bundesregierung schon manche Probleme zu Lasten Betroffener in Ostdeutschland gelöst.Durch die Vergrößerung des Treuhandausschusses wurde die Sachkenntnis über die Probleme bei der Umstrukturierung in Ostdeutschland größer. Immer wieder erlebten wir in den Debatten, daß Abgeordnete besser informiert waren als Regierungsvertreter. Die Kritik an der Arbeit der Treuhandanstalt kam nicht nur von der Opposition.Aber die Desinformation durch die Regierung wurde nicht beendet. Das Faß floß über, als die Bundesregierung nach Ostern im Ausschuß Berichte über die Privatisierung von Unternehmen an die Greiner-Gruppe vorlegte, die die Probleme verharmlosten bzw. überhaupt nicht benannten. Ob hier der Ausschuß nur hinters Licht geführt werden sollte oder ob die Treuhandanstalt die Bundesregierung falsch informierte, ist noch zu klären.Im Ausschuß festigte sich für uns immer mehr der Eindruck: Die Bundesregierung kennt die Arbeit der Treuhandanstalt nur aus den Berichten der Treuhandanstalt. Sie macht sich kein eigenes Bild. Sie läßt es einfach laufen. Sie reagiert nicht, wenn deutlich wird, daß ihr Konzept der schnellen Privatisierung nicht zum Aufschwung Ost führt. Sie erkennt nicht, daß dies verheerende politische Folgen hat. Ihre Rechts- und Fachaufsicht nimmt sie völlig ungenügend wahr. Man kann dies sogar nachlesen in einer Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Juli 1993 auf Drucksache 12/5532 des Deutschen Bundestages in den Punkten 30 und 31.Wir haben vor der Sommerpause einige Dinge durchsetzen können. So wurden die ersten Betriebe von der Treuhandanstalt zurückgenommen, weil schon bei der Privatisierung schwerwiegende Fehler von Mitarbeitern der Treuhandanstalt gemacht wurden. Bei anderen Unternehmen übernahm die Treuhand wieder Verantwortung, damit ein Konkurs verhindert wird.Plötzlich gab es kriminelle Vorkommnisse bei der Privatisierung. Plötzlich wurde das Controlling aufgestockt. Plötzlich gab es Kompromisse bei der langfristigen Verpachtung von landwirtschaftlichen Nutzflächen, die auf die Erfolgschancen landwirtschaftlicher Unternehmen Rücksicht nahmen, die von Landwirten
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Hinrich Kuessnergeführt werden, die auch dort in den vergangenen Jahren gearbeitet haben.Aber, wie auch die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1993 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung zeigen, die Schlußfolgerungen sind bisher unzureichend. Die Arbeit der Treuhandanstalt betrifft Millionen Menschen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu wissen, was hier in den letzten Jahren gelaufen ist.
Einer unserer Hauptkritikpunkte über alle Jahre war, daß die Betroffenen in den Treuhandunternehmen über Beschlüsse gar nicht, zu spät oder ungenügend informiert wurden. Die Treuhandanstalt hat das Wissen vor Ort nur selten genutzt. Hochmütig hat sie den Betroffenen zu verstehen gegeben, daß sie besser weiß, was richtig ist. Darüber müsse sie nicht berichten, schon gar nicht mit den Betroffenen diskutieren.Damit hat sie nicht nur Verhaltensweisen des zentralistischen Staatswesens DDR weitergeführt, vielmehr hat sie Einheitsgewinnlern Tür und Tor geöffnet.
Viele Betriebsräte wissen bis heute nicht, was in den Verkaufsverhandlungen vereinbart wurde. Arbeitsplatz- und Investitionszusagen können so nicht kontrolliert werden. Betroffene müssen ohnmächtig zusehen. Das schadet dem Aufbau der jungen Demokratie in Deutschland.Die Bundesregierung deckt damit Fehler der Treuhandanstalt, die die Menschen in Ostdeutschland mit Arbeitslosigkeit bezahlen müssen. Diese Fehler sind z. B. unzureichende Bonitätsprüfung, keine ordnungsgemäße Bieterauswahl, keine nachvollziehbaren Preis- und Wertermittlungen, keine schriftlichen Unternehmenskonzepte von Bewerbern, fehlende Dokumentation der Verhandlungen und Insiderprobleme.Ein weiterer schwerwiegender Fehler ist die Bevorzugung von Alteigentümern bei der Verwertung landwirtschaftlicher Nutzflächen. Hier ist zu klären, welche Zusagen Alteigentümern trotz Einigungsvertrag und dem Urteil aus Karlsruhe gemacht wurden. Die Menschen in den Dörfern wollen wissen, ob Recht im Rechtsstaat ist.Sie haben hier vorhin Herrn Stolpe mit seinen Aussagen angeführt. Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, daß das Land Brandenburg eine Verfassungsklage wegen der Bevorzugung von Alteigentümern im landwirtschaftlichen Bereich eingereicht hat. Dies ist ein wichtiger Grund für uns, warum wir z. B. einen Untersuchungsausschuß fordern.Mit einem Untersuchungsausschuß kann die Umstrukturierung der Wirtschaft in Ostdeutschland nicht neu begonnen werden. Aber der Umstrukturierungsprozeß ist noch lange nicht beendet.
Durch die Vernichtung von vielen Arbeitsplätzen werden der Umbau und der Wiederaufbau der Gesellschaft noch länger dauern. Darum ist es wichtig, daß die vergangenen Jahre analysiert werden. Das Aufdecken von Fehlern dieser Bundesregierung kann uns helfen, die Weichen künftig richtig zu stellen.Nun wird uns der Vorwurf gemacht, daß wir durch den Untersuchungsausschuß die Arbeit der Treuhandanstalt bürokratisieren, daß wir unternehmerisches Handeln verhindern.
Dieser Vorwurf geht an der Sache vorbei. Unter unternehmerischem Handeln verstehe ich, daß Manager ihr Unternehmen auf dem Markt erfolgreich führen. Wenn Produkte hergestellt werden, die auf dem Markt nicht abgesetzt werden können, tue ich alles, dies zu ändern.Wo haben wir das bei Treuhandunternehmen erlebt? Es wurden Unternehmenskonzepte erstellt. Dabei wurden Investitionen vorgesehen, die aber sehr oft überhaupt nicht bewilligt wurden. In vielen Betrieben wurde weniger investiert als zu DDR-Zeiten. Oder: Der Leitungsausschuß empfahl der Treuhandanstalt einzelne Sanierungsmaßnahmen. Der Bundesrechnungshof muß dazu sogar feststellen, daß die von der Treuhandanstalt als notwendig erkannten Sanierungsmaßnahmen den Unternehmen nicht oder nicht schriftlich mitgeteilt wurden. Die Sanierung von Unternehmen wurde von der Treuhandanstalt nur halbherzig durchgeführt und immer wieder durch Privatisierungsverhandlungen gestört.
Bei den Privatisierungsgesprächen konnte die Konkurrenz Einblick in Betriebsgeheimnisse nehmen und sich dadurch Wettbewerbsvorteile auf dem Markt verschaffen. Brachen dann Privatisierungsgespräche erfolglos ab, mußte oft ein neues Unternehmenskonzept erarbeitet werden, weil gerade das alte wegen fehlender unternehmerischer Aktivitäten hinfällig geworden war. Neue Produkte wurden nicht genügend entwickelt, Forschungs- und Entwicklungskapazitäten wurden abgebaut.Wenn die Treuhandanstalt sich durch unternehmerisches Handeln ausgezeichnet hätte, wäre sicher ein Untersuchungsausschuß hinfällig gewesen.
Denn daß in diesem schwierigen Umstrukturierungsprozeß einzelne Fehler gemacht werden, ist auch uns klar. Nur: Aus diesen Fehlern müssen, wenn sie erkannt sind, Schlußfolgerungen gezogen werden.Wir werfen der Bundesregierung vor, daß sie die notwendige Rechts- und Fachaufsicht unterlassen und dadurch den Prozeß des Zusammenwachsens in Deutschland belastet hat. In den Monaten nach der Einheit hat es rechtsfreie Räume gegeben. Aber gerade darum war eine aktive politische Gestaltung des Einigungsprozesses durch Bundesregierung und Parlament notwendig.
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Hinrich KuessnerEin weiteres Argument der Bundesregierung und der Koalition gegen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist, daß er Investoren verschrekken würde. Hierzu möchte ich folgendes bemerken: Wir werden die schwierige Lage zu bewerten wissen, in der die Umstrukturierung von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft durchgeführt wird. Wir werden nicht in laufende Verhandlungen eingreifen. Im Untersuchungsausschuß können wir uns nur mit abgeschlossenen Privatisierungen befassen. Wenn dabei schwarze Schafe erkannt werden, tut das der deutschen Wirtschaft nur gut. Denn wir haben nie behauptet, daß die Manager in der Wirtschaft oder die Treuhandmitarbeiter verantwortungslos arbeiten. Gerade damit dieser Eindruck sich in Deutschland nicht festsetzt, müssen die schwarzen Schafe, die Einheitsgewinnler, herausgeschält werden.Aus den Gesprächen, die ich mit Investoren geführt habe, kann ich nicht erkennen, daß sie einen Untersuchungsausschuß fürchten. Wer mit ehrlichen Absichten nach Ostdeutschland gekommen ist, muß nichts befürchten; denn Betriebsgeheimnisse wollen wir nicht bekanntmachen.Fürchten muß allein die Bundesregierung diesen Untersuchungsausschuß; denn er kann ihre politische Unfähigkeit bei der Gestaltung der Einheit an den Tag bringen.
Die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1993 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung zeigen, daß hier parlamentarisch einiges aufzuarbeiten ist.Da die Bundesregierung den Bundestagsausschuß Treuhandanstalt an der Nase herumgeführt hat, darf sie sich nicht wundern, daß die Opposition zur Rute des Parlamentes, wie Max Weber es einmal nannte, dem Untersuchungsausschuß, greift.
Den Änderungsanträgen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste werden wir nicht zustimmen. Dies sind Erweiterungen, die sicher ebenfalls wert sind, untersucht zu werden. Wir haben darüber ausführlich beraten. Wir werden das nicht in diesem Untersuchungsausschuß machen. Wer das will, müßte einen zweiten Untersuchungsausschuß fordern; denn wir haben ein Jahr Zeit, und wir wollen zielgerichtet auf das, was ich hier gesagt habe, zusteuern und uns nicht zuviel vornehmen, so daß wir zu gar keinem Ergebnis kommen. Wir werden darum dieser Erweiterung des Untersuchungsauftrages nicht unsere Zustimmung geben.Es wurde von Herrn Schulte angesprochen, was dann der bisherige Ausschuß Treuhandanstalt machen soll. Wir wollen gerade erreichen, daß er effektiver wird und daß seine Arbeit einen größeren Wert bekommt. Denn bisher befassen wir uns dort mit den negativen einzelnen Privatisierungen. Das wollen wir endlich aus dem Ausschuß herausziehen. Wir wollen in diesem Ausschuß politisch arbeiten. Die Problematik der Nachfolgerorganisationen zeigt, daß es in diesem Ausschuß sehr viel Arbeit gibt. Wir wollen eine Analyse über die vergangenen Jahre anstellen, damit die Weichen richtig gestellt werden und wir, wenn wir dann an der Regierung sind, den richtigen Weg gehen können.Danke.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Hermann Pohler das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Treuhandanstalt ist keine Sphinx; sie ist nicht Sinnbild des Rätselhaften. Sie ist gegründet worden, um eine einmalige historische Aufgabe zu leisten, die marode Wirtschaft der DDR in eine funktionierende Marktwirtschaft zu transformieren. Hierbei hat die Treuhandanstalt mit ihren über 4 000 Mitarbeitern sehr viel geleistet und auf den Weg gebracht. Was sie tut und wie sie es tut, ist nicht ein Geheimnis und liegt nicht im Verborgenen.Die Arbeit der Treuhandanstalt orientiert sich am Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990, das von der Volkskammer beschlossen wurde und im Einigungsvertrag bestätigt worden ist. Sie steht unter der Fach- und Rechtsaufsicht des Bundesministers der Finanzen im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Wirtschaft.
Zahlreiche externe und interne Kontrollmechanismen sind installiert worden, um mögliche Fehlentscheidungen zu vermeiden oder zu korrigieren. Nicht immer ließen sich Fehler verhindern, und manches hätte besser gemacht werden können. Als Abgeordneter aus den jungen Bundesländern weiß auch ich urn die Betroffenheit vieler Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die Sorgen und die Nöte der Menschen sind mir bewußt und gehen mir nahe.Wir dürfen aber nicht verkennen, daß der Zustand der Wirtschaft nicht von der Treuhand verursacht wurde, sondern das Ergebnis der sozialistischen Planwirtschaft war. Sicher stand und steht die Treuhandanstalt gerade auch vor diesem Hintergrund mit der ihr obliegenden einmaligen Aufgabe im politischen Scheinwerferlicht. Dies allein rechtfertigt aber die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nicht. Zwar ist der Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses Recht der Opposition,
allerdings ist die Frage erlaubt, ob dieses Recht zugleich auch berechtigtes Anliegen ist und ob es verantwortbar ist. Denn auch die SPD darf sich nicht der Tatsache verschließen, daß die Treuhandanstalt mit fast 13 000 Privatisierungen, ca. 1,5 Millionen Arbeitsplatzzusagen und Investitionszusagen von über 180 Milliarden DM einen wichtigen Beitrag für den wirtschaftlichen Aufbau in den jungen Bundesländern geleistet hat. Der Anteil der gescheiterten und fehlgeschlagenen Privatisierungen an der Gesamtzahl der Privatisierungen ist gering. Wo gegen
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Dr. Hermann PohlerGesetze verstoßen worden ist, müssen die zuständigen Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaften tätig werden. Daß dies auch geschieht, zeigen die bereits laufenden ca. 450 Ermittlungen auf dieser Ebene.Auch die SPD sollte sich endlich ihrer Gesamtverantwortung für den Aufbau der jungen Bundesländer bewußt werden.
Aber offensichtlich hat sich die SPD in ihrem Herzen immer noch nicht so richtig mit der Wiedervereinigung Deutschlands anfreunden können.
— Das hat nichts mit Wiederkauen zu tun. Wer seit Anfang der Wiedervereinigung nur noch auf die Kosten verweist und nur noch rechnerische Exempel macht, der muß sich, glaube ich, diesen Vorwurf machen lassen.Jetzt steht erneut der Bundestagswahlkampf vor der Tür, und die SPD hat kein besseres Rezept, als mögliche Skandale und aufgetretene Fehler in der Treuhandanstalt für ihre Profilierungszwecke zu gebrauchen.
Ich frage mich, ob mit dem Untersuchungsausschuß auch nur ein Quentchen mehr Objektivität in der Beurteilung der Arbeit der Superbehörde Treuhandanstalt geschaffen wird.
Der Katalog der Aufgaben, den sich die SPD für diesen Untersuchungsausschuß vorgenommen hat, zeigt doch, warum es geht. So sollen Verfehlungen von Treuhandmitarbeitern, Billigverkäufe von Betrieben und Einflußnahmen westdeutscher Konkurrenz und vieles andere mehr untersucht werden. Verstöße gegen geltendes Recht — und das muß ich noch einmal unterstreichen — sind jedoch durch die Justiz zu ahnden, und dazu bedarf es keines Untersuchungsausschusses.
Der immens weit gefaßte Untersuchungsauftrag der SPD läßt vielmehr erahnen: Es geht um Polemik und nicht um sachliche Aufklärung.
Der Wahlkampf diktiert den Ablauf und damit auch das Ergebnis dieses Ausschusses.
Ich bin überzeugt davon, daß die Installation dieses Untersuchungsausschusses angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage in den neuen Bundesländern falsch ist. Immerhin haben dies alle Ministerpräsidenten der jungen Bundesländer — auch Herr Stolpe — so gesehen und den Verzicht auf den Untersuchungsausschuß gefordert. Wenn Herr Thierse den frei gewählten Ministerpräsidenten unterstellt, daß sie unter Zwang zu dieser Entscheidung gekommen sind, also praktisch erpreßbar sind, so finde ich das doch ein sehr starkes Stück.
Die Forderung auf Verzicht hat vielmehr etwas mit der Wirklichkeitsnähe zu tun, und ich kann die diesbezüglichen Ausführungen des Ministerpräsidenten Vogel nur unterstreichen.Die Investoren und insbesondere solche aus dem Ausland werden von dem Untersuchungsausschuß abgeschreckt.
Betriebsgeheimnisse werden nun offengelegt, und es fragt sich, wie im In- und Ausland Vertrauen in den Aufschwung Ost geschaffen werden soll, wenn jetzt erörtert wird, ob bei einer Einzelprivatisierung in der schwierigen Zeit des Umbruches falsche Entscheidungen getroffen worden sind.
Herr Abgeordneter, sind Sie so nett, eine Frage des Abgeordneten Kuessner zu beantworten?
Bitte schön.
Herr Kollege Pohler, ich wollte fragen, ob Sie bei der Debatte hier anwesend waren und meine Rede gehört haben.
Aber sicher war ich anwesend.
— Leider; aber ich glaube, es ist wohl trotzdem berechtigt, aus der Polemik wieder einmal zurückzukommen und wirklich sachlich zu sprechen, auch zu dem — ich komme noch dazu —, was Sie zum Treuhandausschuß gesagt haben.
Die Schaffung — —
Entschuldigung, der Abgeordnete Schily wollte gern eine Frage an Sie richten, Herr Dr. Pohler.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Schily.
Herr Kollege Pohler, ich glaube, daß alle hier im Hause Ihre Auffassung teilen, daß natürlich Investoren nicht abgeschreckt werden sollen.Meine Frage lautet: Werden denn Investoren durch Kontrolle durch staatliche Instanzen abgeschreckt, und gelten da unterschiedliche Maßstäbe abhängig
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15430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Otto Schilydavon, ob die Regierung oder das Parlament kontrolliert?
Nein, hier geht es doch darum, daß beim Untersuchungsausschuß wirklich auch Verträge und alle Dokumente offenzulegen sind und dort auch oft Betriebsgeheimnisse mit drinstehen. Die Investoren werden natürlich nicht ermutigt zu kommen, wenn sie Gefahr laufen, vor irgendein Gremium gezogen zu werden. Das ist doch der Fakt.
Der Untersuchungsausschuß wird den notwendigen wirtschaftlichen Aufschwung im Osten und die Schaffung von Arbeitsplätzen jedenfalls nicht herbeireden können. Detektivische Bemühungen von Politikern, das Stapeln von Akten zu ansehnlichen Bergen und zeitintensive Zeugenvernehmungen und Anhörungen werden niemanden, der Geld in den neuen Ländern investieren und Arbeitsplätze schaffen will, dazu motivieren.
Die Einsetzung des Ausschusses ist auch deshalb eine Fehlentscheidung, weil der jetzt bestehende Ausschuß Treuhandanstalt originäres und ausreichendes Instrument der parlamentarischen Kontrolle ist. Zudem wird mit diesem Gremium die Arbeit der Treuhandanstalt gestalterisch begleitet. Auch hier ist im Zuge der Arbeit vieles verbessert worden. Der Bundesfinanzminister und auch die Treuhandanstalt haben den Ausschuß Treuhandanstalt umfangreich informiert. Mehr als 230 Berichte sind bisher vorgelegt worden. Darüber hinaus wird kontinuierlich über aktuelle Vorgänge berichtet. Natürlich ist es, wenn gezielt auch im Ausschuß gefragt wird, oft nicht so, daß sofort—und darauf zielte ja auch Ihre Bemerkung hin — eine tiefgründige Antwort gegeben werden kann. Aber ich glaube, wir haben doch in vielen Fällen — ich denke nur an die Deutsche Seereederei — eine sehr intensive Diskussion bei der Treuhand gehabt und auch Entscheidungen beeinflussen können. Dies trifft auch bei anderen zu.
Ich erachte daher die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses auch als einen Mißtrauensantrag gegenüber dem bestehenden Treuhandausschuß.
Der Untersuchungsausschuß wird auch den Interessen der Menschen in den jungen Bundesländern nicht dienen; ganz im Gegenteil. Ich bin der Auffassung, er wird ihnen schaden. Es werden möglicherweise Hoffnungen geweckt, denen ein Untersuchungsausschuß nicht gerecht werden kann. Die Probleme der Menschen in den neuen Bundesländern lassen sich nicht dadurch lösen, daß über längst abgeschlossene Privatisierungsfälle Untersuchungen eingeleitet werden. Wie gesagt: Wo Sachaufklärung erforderlich ist, sollen sich damit die hierfür zuständigen Instanzen befassen.
Aufgabe der Politik ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Menschen Perspektiven geben, die soziale Sicherheit, gute Arbeitsbedingungen und Stabilität in der inneren und äußeren Sicherheit unseres
Landes gewährleisten. Darum haben wir uns zu kümmern.
Die SPD zeigt einmal mehr, daß sie nur eines kann. Das ist diskutieren, verhindern und in die Vergangenheit schauen. Ausgehend davon dürfen Zweifel an einer Regierungsfähigkeit dieser Partei angebracht sein.
Danke schön.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Gysi zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sowohl von Herrn Pohler als auch vom Ministerpräsidenten Vogel ist immer wieder auf die Einrichtung der Treuhandanstalt bereits durch die Modrow-Regierung hingewiesen worden und insbesondere durch den Ministerpräsidenten auf die Angabe des Volksvermögens der DDR durch den damaligen Ministerpräsidenten der DDR, den Kollegen Modrow, mit 1,2 Billionen Mark der DDR. Da er nicht anwesend ist, möchte ich dazu kurz eine Bemerkung machen.Zunächst einmal hat er sich diese Zahl ja nicht irgendwie ausgedacht, sondern sie entsprach den Angaben der volkseigenen Betriebe selbst. Zweitens war es eine Angabe in Mark der DDR. Drittens hat der zweite Präsident der Treuhandanstalt, Herr Dr. Rohwedder, dann selbst dieses Vermögen, das er als Leiter treuhänderisch mitzuverwalten hatte, mit 600 Milliarden DM angegeben, was nicht wesentlich von 1,2 Billionen Mark der DDR abweicht.In der Eröffnungsbilanz kommt dann buchhalterisch — nämlich durch die Betriebe — zunächst fast der gleiche Betrag zustande. Erst danach wird daraus durch entsprechende politische Vorgaben ein Minusbetrag. Das war keine buchhalterische, sondern eine politische Eröffnungsbilanz. Das muß man klar sagen. Deshalb ist die eigentlich entscheidende Frage: Wie ist aus diesem Vermögen ein reiner Minusbetrag geworden? Nicht daß damals etwa falsche Angaben gemacht worden sind! Das ist die Frage der Mitverantwortlichkeit der Politik und der Treuhandanstalt.Eine letzte Bemerkung noch zu dem, was Sie gesagt haben. Wissen Sie, ich fühle mich an etwas erinnert. Ich muß es Ihnen einfach sagen. Sie sagen, man solle nicht über vergangene Fehler diskutieren, weil das nur aufhalte und den Weg nach vorn versperre. Darf ich Sie daran erinnern, daß das klassische SED-Argument immer war: keine Fehlerdiskussion.
Und wenn die CDU nun der SED immer ähnlicher wird, halte ich das für eine gefährliche EntwicklungDanke schön.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Kriedner zu einer Kurzintervention das Wort. Dabei gehe ich davon aus, daß es keine Antwort auf die Kurzintervention ist; Sie hatten sich ja schon vorher gemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte nicht die Absicht, als Vorsitzender des Treuhandausschusses in der Debatte zu sprechen, jedoch können die Ausführungen des Kollegen Kuessner hier nicht unerwidert bleiben.
Wenn ich nicht wüßte, daß Herr Kuessner regelmäßig im Ausschuß gewesen ist, nach seiner Rede hätte man der Annahme sein müssen, er ist nie dort gewesen. Denn was er hier an Unwahrheiten verbreitet hat, das überschreitet schon das Maß des Normalen, was man einem Parlament zumuten sollte, Kollege Kuessner.
Ich muß also wirklich sagen: Es ist im Grunde unglaublich, wenn Sie das große Bemühen der Regierung, dem Ausschuß Rede und Antwort zu stehen, bei all den Schwierigkeiten, in dieser Art und Weise kommentieren, wie Sie das hier getan haben. Wenn Sie diesen Stil in den Untersuchungsausschuß tragen wollen, dann gnade uns Gott vor dem, was dort ablaufen wird. Denn dieser Stil ist — ich sage das noch einmal — unglaublich. Es ist im Grunde unglaublich,
wer regelmäßig an den Ausschußsitzungen beteiligt war, wer dort miterlebt hat, wie ernsthaft — übrigens auch von Ihnen persönlich — die Arbeit geführt worden ist, und wenn Sie dann diese Rede hier vortragen, dann weise ich das für den gesamten Ausschuß, auch für Ihre Mitglieder des Ausschusses zurück, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Ich finde es bemerkenswert, wirklich bemerkenswert, wenn dasjenige Mitglied, das die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses hier für die SPD-Seite begründet, sich noch nicht einmal die Zeit nimmt, solange hierzubleiben, bis die Debatte zu Ende ist.
Der Abgeordnete Hinrich Kuessner macht von seinem Recht, auf die Kurzintervention zu antworten, Gebrauch. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Kriedner, Sie wissen genauso wie ich, daß wir im Ausschuß heftige Debatten gehabt und die Bundesregierung sehr oft gefragt haben. Das haben nicht nur wir von der SPD gemacht.Ich habe in meiner Rede ausdrücklich darauf hingewiesen, was der Anlaß war. Ich bin selbst bis zum Frühjahr dieses Jahres nicht für einen Untersuchungsausschuß gewesen, weil ich die Hoffnung hatte, wir werden in diesem Vollausschuß endlich zu einer nach vorn ausgerichteten Arbeit kommen.Dann haben wir beim Fall Greiner erlebt, daß in drei Ausschußsitzungen die Tagesordnungspunkte angekündigt waren. Nicht nur vorgestern; beim Fall Greiner ist es so gewesen, daß mich der Kollege Hampel, der von den Vorkommnissen informiert worden war, angerufen hat. Das war vor Ostern. Wir haben verabredet, er gibt all sein Material der Treuhandanstalt, damit für den Betrieb nach vorn eine Lösung gefunden wird. Ich melde diesen Punkt im Treuhandausschuß an, es war die Osterpause. Nach drei Wochen fanden wir uns das erste Mal wieder zusammen und haben vom Bundesfinanzministerium einen Bericht vorgelegt bekommen, der völlig veraltet war und auf diese Vorkommnisse überhaupt nicht einging.Wir haben das dann erneut als ordentlichen Punkt auf die Tagesordnung gesetzt. Auch dies wurde einmütig — nicht nur von der SPD, sondern von allen Kollegen — abgebrochen, weil die Stellungnahme und die Antwort der Bundesregierung total unzureichend und an der Sache vorbei waren.Wir haben das dann zum dritten Mal gemeinsam auf die Tagesordnung gesetzt und dann erlebt, daß der Fall völlig runtergespielt wurde.Inzwischen wurde vor kurzem, also jetzt erst, der zuständige Treuhandstellenleiter fristlos entlassen. Ich habe es bisher in der Öffentlichkeit nicht gelesen, daß das so passiert ist.Wir haben in der letzten Sitzung des Treuhandausschusses wieder erlebt, daß uns etwas vorgelegt wird. Es wird so getan, als wenn das Parlament an der neuen Struktur, die für die ostdeutschen Länder für lange Zeit von großer Bedeutung sein wird, beteiligt werde. Es wurde uns gesagt, wir haben ja noch Zeit, wir werden darüber diskutieren. Dann komme ich aus dem Ausschuß und lese eine Presseerklärung der Treuhandanstalt, in der steht, daß wir das schon alles festzimmem. Ich kriege Signale von Ministerien, von der Treuhandanstalt, daß das Gesetz schon viel weiter ist, als wir denken, und daß man dieses und jenes, was wir angesprochen haben und das natürlich nicht in diesem Bericht steht, überhaupt nicht will. Im Ausschuß ist kein Wort dazu gesagt worden. Wir haben darum jetzt im Obleutegespräch vorgeschlagen, daß darüber eine öffentliche Anhörung stattfindet. Es wird sich zeigen, wie Sie dazu stehen, ob Sie diese öffentliche Anhörung endlich wollen. Sie können zu keiner Zeit sagen, daß in diesem Ausschuß eine wirklich produktive Arbeit für eine Schaffung von Strukturen für die Zukunft erfolgt ist. Das ist immer wieder verhindert worden — durch schlechte Berichte, durch Diskussionen, die in Einzelfällen abgebrochen wurden und die nichts gebracht haben.
Darum unsere Kritik und darum auch unsere jetzige Forderung.
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15432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Herr Abgeordneter Kriedner, ich kann Ihnen zu dieser Angelegenheit das Wort nicht mehr erteilen, weil die Möglichkeit besteht, daß der Redner auf eine Kurzintervention noch einmal antwortet. Sie müssen die Auseinandersetzung, befürchte ich, an anderer Stelle führen.
— Herr Abgeordneter Kriedner, ich hatte eben gesagt: „an anderer Stelle", also nicht im gleichen Raum, sondern im Ausschuß oder wo auch immer.
Nach Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes ist der Deutsche Bundestag verpflichtet, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, wenn die Einsetzung von einem Viertel seiner Mitglieder verlangt wird. Die Fraktion der SPD hat auf Drucksache 12/5768 diese Einsetzung verlangt. Damit ist das notwendige Quorum gegeben.
Kann ich davon ausgehen, daß damit der Untersuchungsausschuß eingesetzt ist?
— Bitte schön, Herr Abgeordneter Rüttgers.
Herr Präsident, ich will das Abstimmungsverhalten meiner Fraktion deutlich machen. Wir haben in den Redebeiträgen gesagt, daß wir gegen die Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses sind, weil dadurch Schaden entsteht, gerade für die Menschen in den jungen Bundesländern. Wir wollen jetzt allerdings keine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung. Wegen der Problematik, die in dem entsprechenden Artikel des Grundgesetzes enthalten ist, widersprechen wir formell nicht, haben aber inhaltlich deutlich gemacht, was wir von der Sache halten.
Nach dieser Feststellung darf ich meinerseits feststellen, daß die Einsetzung des Untersuchungsausschusses gemäß Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes damit beschlossen ist.
Mit den Änderungsanträgen in den Drucksachen 12/5776 und 12/5806 haben die Gruppen PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Erweiterung des Auftrags für den soeben beschlossenen Untersuchungsausschuß angeregt und gewünscht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine derartige Erweiterung nur mit Zustimmung des Antragstellers möglich, also in diesem Fall mit Zustimmung der SPD. Wenn ich dem Wortbeitrag des Abgeordneten Hinrich Kuessner eben richtig zugehört habe, hat er dies abgelehnt.
Will die SPD-Fraktion das noch gesondert begründen, oder ist das damit erledigt?
— Damit ist also klar, daß diese Änderungswünsche nicht in den Untersuchungsauftrag eingebaut werden. Es bleibt Ihnen natürlich vorbehalten, neue Untersuchungsausschüsse zu beantragen oder neue Aktivitäten zu entwickeln.
— Ich werde mit Ihnen von dieser Stelle nicht über die Frage, wie aussichtsreich ein solcher Antrag ist, philosophieren, Herr Abgeordneter Dr. Gysi, sondern jetzt nur noch feststellen, daß der Tagesordnungspunkt beendet ist.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern
— Drucksache 12/5468 —
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ilse Janz, Hanna Wolf, Dr. Marliese Dobberthien, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung von Frau und Mann
— Drucksache 12/5717 —
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Hanna Wolf, Dr. Marliese Dobberthien, Erika Simm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz — Drucksachen 12/2096, 12/4409 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Hubert Hüppe Hanna Wolf
Uta Würfel
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von eineinhalb Stunden vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann kann ich das als beschlossen feststellen, die Aussprache eröffnen und der Ministerin Frau Dr. Angela Merkel das Wort erteilen.
Frau Ministerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese erste Lesung des Gleichberechtigungsgesetzes ist für die Frauen in der Bundesrepublik Deutschland von großer Bedeutung. Es ist das bisher umfassendste Gesetzesvorhaben zur Überwindung der strukturellen Benachteiligung von Frauen in Beruf und Gesellschaft in der Geschichte der Bundesrepublik.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15433
Bundesministerin Dr. Angela MerkelMit diesem Gesetz erfüllt die Bundesregierung einen dreifachen politischen Auftrag, und zwar erstens aus Art. 31 des Einigungsvertrages, der den gesamtdeutschen Gesetzgeber zur Weiterentwicklung der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern und zur verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf verpflichtet, zweitens aus dem fast einstimmigen Votum der Verfassungskommission zur Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes, wonach der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirken soll, und schließlich drittens aus der Koalitionsvereinbarung für die 12. Legislaturperiode und der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 30. Januar 1991.Die Schwerpunkte dieses Gleichberechtigungsgesetzes sind einmal die Frauenförderung, zum zweiten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Bundesdienst, drittens die Durchsetzung der Gleichbehandlung von Frauen auch in der Wirtschaft, viertens die verstärkte Mitwirkung von Betriebs- und Personalrat bei der Durchsetzung der Gleichberechtigung, fünftens der umfassende Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sowie sechstens die gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen in öffentlichen Gremien.Inzwischen hat ja auch die SPD einen eigenen Entwurf vorgelegt. Grundsätzlich begrüße ich das; aber ich bitte, daß wir nicht in vordergründige Polemik verfallen und falsche Versprechungen machen. Ich glaube, für die Frauen in diesem Lande ist nichts gewonnen, wenn wir bei dem Vorhaben, die Gleichberechtigung zu fördern, verfassungsrechtliche und wirtschaftspolitische Grundsätze außer acht lassen oder zumindest nicht gründlich bedenken.
Nach über 40 Jahren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist es wirklich wichtig, daß wir für Frauen gesetzliche Maßnahmen verabschieden und nicht sozusagen nur vorläufige Entwürfe verbreiten. Die Gesetze über die Gleichberechtigung können sich nämlich nicht außerhalb eines funktionierenden Rechtssystems in dieser Republik entwickeln und dürfen das Rechtssystem auch nicht überfordern. Ich denke, es ist deshalb wichtig, daß dieses Gesetz auch möglichst einfach durchzuführen ist. Wer — wie die SPD — vor allem auf die Quote und Bürokratie setzt, der springt aus meiner Sicht zu kurz.Ich möchte an dieser Stelle, was die Einbeziehung der Wirtschaft anlangt, noch einmal Professor Benda zitieren, der ja ausdrücklich für eine leistungsbedingte Quote im öffentlichen Dienst ist und der bezüglich der Wirtschaft folgendes sagt:... starre Quoten oder Regelungen, die einem privaten Arbeitgeber die Einstellung eines bestimmten Frauenanteils oder einen bestimmten Anteil von Frauen in Führungspositionen vorschreiben, sind nach meiner Auffassung mit dem geltenden Verfassungsrecht nicht vereinbar.An derselben Stelle sagt Benda das noch einmal ganz deutlich:Eine Regelung, die ... positive Frauenförderungsmaßnahmen für den Bereich der Privatwirtschaft anordnete, wäre mit geltendem Verfassungsrecht unvereinbar.Wir können als Gesetzgeber deshalb dieses Recht nicht einfach ignorieren. Ich denke, daß sich der Entwurf der Bundesregierung durch Realitätsnähe und Praktikabilität auszeichnet.Ich möchte an dieser Stelle auf einige Schwerpunkte eingehen. Zum ersten: Die Frauenförderung in der Bundesverwaltung wird durch diesen Gesetzentwurf weitere Schubkraft bekommen. Heute ist der Frauenanteil in Leitungspositionen bei den obersten Bundesbehörden mit 6,7 % völlig unzureichend. Ich denke, so darf es nicht bleiben, das muß sich ändern.
Deshalb strebt das Gesetz eine wirksamere Durchsetzung der Frauenförderung in der Bundesverwaltung an. Das schließt natürlich auch die Beseitigung der weiblichen Unterrepräsentanz ein. Aus diesem Grund müssen alle Dienststellen jeweils dreijährige Frauenförderpläne mit verbindlichen Zielvorgaben aufstellen. Sie werden von mit klaren Rechten und Kompetenzen ausgestatteten Frauenbeauftragten überwacht; sie sind beauftragt, die Zielvorgaben zu überwachen.
— Das steht drin. Ab einer Mindestgröße der Dienststellen sind grundsätzlich Frauenbeauftragte zu bestellen. Ich weise noch einmal darauf hin, weil immer wieder gesagt wird, der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalte zu viele Soll-Vorschriften: Es handelt sich um gesetzliche Vorgaben, die dann auch verbindlich in dem Frauenförderplan einzuhalten sind.Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf möchte ich in einem zweiten Punkt besonders erwähnen. Sie wird für alle Beschäftigten, nicht nur für Frauen, in der Bundesverwaltung deutlich verbessert. Denn Gleichberechtigung bedeutet auch, daß sich ein solches Gesetz gerade bezüglich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie an Frauen und Männer gleichermaßen wendet.Diese Vereinbarkeit ist durch folgende Regelungen deutlich verbessert. Es werden Aussagen gemacht zur familienbedingten Teilzeitarbeit und Beurlaubung, zur Stellenausschreibung, zur familiengerechten Arbeitszeit und — was ich für ganz wichtig halte — auch zur Fortbildung sowie zum Benachteiligungsverbot.Der Gesetzentwurf verbessert die Rechtslage der betroffenen Beschäftigten durch ganz grundsätzliche Rechtsansprüche. Hier entsteht zum erstenmal eine neue Qualität für Frauen und Männer, die Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren wollen.Ein wichtiger Posten ist die Teilzeitarbeit. Sie wird in unserem Gesetz nunmehr auch für Leitungspositionen ausdrücklich erwähnt. Ich halte das für eine ganz wichtige Sache. Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Teilzeitarbeit ein zukunftsweisendes Thema in der Hinsicht ist, wie wir mehr Menschen mit mehr Flexibilität in den Arbeitsprozeß integrieren können und wie es möglich wird, daß Familie und Beruf sich nicht ausschließen, sondern gesellschaftliche Bereiche
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15434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Bundesministerin Dr. Angela Merkelsind, die nebeneinander und miteinander existieren können.
Familienbedingte Ausfallzeiten wegen Kinderbetreuung oder häuslicher Pflege werden bei Einstellung und beruflichem Aufstieg verstärkt berücksichtigt. Das heißt, daß das Engagement in der Familie nicht mehr gleichbedeutend mit einem teilweisen Abschied von Beruf und Karriere sein muß.Für mich ganz wichtig — das halte ich für einen neuen Ansatz in diesem Gesetz — ist die ausdrückliche gesetzliche Einbeziehung der aus der Familienarbeit und der ehrenamtlichen Sozialarbeit erworbenen Qualifikationen in den Leistungsbegriff. Dies ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt bei der Neubewertung von Arbeit in unserer Gesellschaft. Auch hier liegt ja vieles im argen, weil die verschiedenen Formen von Arbeit völlig unterschiedlich bewertet werden.Drittens. Für die Durchsetzung der Gleichbehandlung der Frau am Arbeitsplatz auch in der freien Wirtschaft sind die Änderungen der §§ 611 a ff. BGB entscheidend. Das Gleichberechtigungsgesetz enthält jetzt klare Entschädigungsregelungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung. Es beseitigt damit jahrelange Rechtsunsicherheiten. Wird eine Frau wegen ihres Geschlechts durch einen Arbeitgeber benachteiligt, so erhält sie einen Entschädigungsanspruch in Höhe von regelmäßig einem und höchstens drei Monatsverdiensten. Diese Schadenersatzsumme steht im angemessenen Verhältnis — auch das muß man bei dieser Frage natürlich berücksichtigen — zu den Beträgen, die als Abfindung im Falle einer rechtswidrigen Kündigung bezahlt werden. Wir können die Dinge ja nicht ohne jede Relation zueinander sehen.Bei der gleichzeitigen Diskriminierung mehrerer Frauen werden Obergrenzen von sechs bis zwölf Monatsverdiensten festgesetzt. Damit wird verhindert, daß kleine und mittelständische Unternehmen bei einer Vielzahl von Entschädigungsansprüchen unzumutbar belastet werden. Der Gesetzentwurf beschränkt die Regelung über die Obergrenze auf Unternehmen bis zu 400 Beschäftigten. Allerdings wird hier im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes erweiterter Diskussionsbedarf entstehen. Das wird die Ausschüsse noch beschäftigen.Es ist höchst bedauerlich, daß das Diskriminierungsverbot bei Stellenausschreibung in unserem Land, insbesondere für gehobene und Führungspositionen, noch immer täglich mißachtet wird.
Frau Ministerin, der Abgeordnete von Stetten möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe zu beantworten?
Ja, bitte.
Frau Ministerin, fürchten Sie nicht , daß es, wenn es bei der
Mehrfachdiskriminierungsentschädigung bleibt, zu einem Bewerbungstourimus kommt?
Eine andere Frage. Im Gesetzentwurf steht: Kosten — keine. Wenn man bei den Damen, die als Beauftragte festgestellt werden, die Freistellung rechnet, müßte man irgendwo eine Bestimmung einfügen, daß dies nicht zur Vermehrung von Personal führen darf; es wären sicherlich 2 000, 3 000 oder 4 000 Freistellungen notwendig, die dann mit 300 bis 400 Millionen DM zu Buche schlagen würden. Ist es vorstellbar, hier festzusetzen, daß dies zu keiner Stellenvermehrung führen darf?
Herr Kollege von Stetten, zur ersten Frage: Ich bin der Meinung, daß die Unterstellung, es werde einen Bewerbungstourismus geben, mit der Praxis nicht das Geringste zu tun hat. Ich glaube, jeder, der sich mit der Frauenpolitik beschäftigt, kann von außerordentlich unerfreulichen Einstellungsgesprächen berichten. Die Frage ist, welches Recht wir dann eigentlich den Frauen in die Hand geben, um sich gegen solche Dinge zu wehren.
Deshalb, glaube ich, betreiben wir schon eine Gratwanderung — wir haben sehr viele Gespräche mit anderen Arbeitsgruppen, Ministerien und Ressorts geführt — in bezug auf die wirtschaftlichen Belastungen, die entstehen können, aber auch auf das, was in unserer Verfassung steht, nämlich daß Frauen und Männer gleichberechtigt sind, und das im juristischen Sinne; das bedeutet, auch bei arbeitsrechtlichen Dingen, etwa bei der Einstellung.Wir müssen entsprechende Verstöße in einer angemessenen Weise ahnden. Ich glaube, mit unserem Entwurf sind wir an der Untergrenze dessen geblieben, was überhaupt noch machbar und denkbar ist. Die Rechtsprechung ist diesen Weg in den letzten Jahren längst gegangen. Nur wir als Gesetzgeber konnten uns nie dazu entschließen. Ich glaube, es ist kein gutes Zeichen, wenn wir gerade in bezug auf Frauen eine Rechtsprechung haben, die im Gegensatz zu anderen Bereichen letztendlich durch gesetzliche Regelungen nicht gedeckt wird.Zum zweiten, was die Kosten anbelangt: Wir haben es im Entwurf der Bundesregierung so festgelegt. Wir haben im Bereich der Bundesregierung heute schon Gleichstellungsbeauftragte, die zum großen Teil freigestellt sind. Man muß schauen, wie sich das in anderen Institutionen entwickelt. Wir sind erst einmal davon ausgegangen, daß dies im Rahmen der Stellen, die heute vorhanden sind, zu leisten ist. Ich glaube nicht, daß das einer gesetzlichen Festschreibung bedarf. Wir haben das hier nach bestem Wissen und Gewissen angegeben.
Ich war vor der Zwischenfrage bei der geschlechtsneutralen Formulierung von Stellenausschreibungen. Hier kommt es im übrigen, Herr Kollege von Stetten, trotz einer Soll-Bestimmung, daß Frauen und Männer gleichermaßen erwähnt werden sollen, in zig Stellenanzeigen in deutschen Zeitungen täglich zu
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15435
Bundesministerin Dr. Angela MerkelVerletzungen, interessanterweise gerade immer bei Ausschreibungen für Führungspositionen und gehobene Positionen. Deshalb werden wir die SollVorschrift endlich in eine Muß-Vorschrift umwandeln. Ich denke, dies ist das Mindeste, was uns das Grundgesetz vorschreibt.Viertens. Mit dem Gesetz zum Schutz aller Beschäftigten in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz erfüllt die Bundesregierung EG-rechtliche Empfehlungen. Bisher haben nur sieben andere Länder in der Welt ähnliche Gesetze. Ich denke, das ist ein wichtiger und richtiger Schritt.Das Gesetz bestimmt den Begriff der sexuellen Belästigung, und zwar auf Grund objektiver Kriterien. Es regelt die Handlungsverpflichtungen des Arbeitgebers bzw. Dienstvorgesetzten und die Rechte des Opfers der Belästigung sowie das Benachteiligungsverbot ihm gegenüber.Wir haben im Gegensatz zu dem Sanktionskatalog, den die SPD angegeben hat, ganz eindeutig gesagt: Ein arbeitsrechtliches bzw. dienstrechtliches Vergehen liegt vor, wenn eine sexuelle Belästigung getätigt wurde. Das heißt, wir brauchen den Katalog von Sanktionen nicht, weil dies in den arbeits- und dienstrechtlichen Vorschriften implizit enthalten ist.Fünftens. Mit dem Bundesgremiengesetz wollen wir die Teilhabe von Frauen in Gremien verbessern. Wir haben es oft gesagt: In den über 1 000 Gremien, die der Bundesregierung zuarbeiten, liegt der Anteil der Frauen bei 7 %. Niemand kann das als zufriedenstellend empfinden. Deshalb haben wir uns in unserem Gesetzentwurf an den Erfahrungen von Belgien und Dänemark orientiert und haben gesagt: Wir verpflichten jetzt im Bundesgremiengesetz dazu, daß grundsätzlich jede vorschlagsberechtigte Stelle im Wege der Doppelbenennung für jeden auf sie entfallenden Gremiensitz jeweils eine Frau und einen Mann gleicher Eignung zu benennen hat. Soweit sie dazu aus gesetzlich anerkennenswerten Gründen nicht in der Lage ist, muß sie das gegenüber der berufenden Stelle schriftlich erläutern. Ich denke, diese schriftliche Erläuterung ist unbedingt erforderlich, weil ansonsten der pauschale Hinweis darauf, daß nun wiederum leider keine Frau geeignet ist, im Gremium mitzuarbeiten, angebracht wird.Ich meine, dies ist eine deutliche Verbesserung. In Belgien und Dänemark hat sich eine ähnliche Regelung als außerordentlich praktikabel erwiesen und den Anteil von Frauen in den Gremien auf weit über 30 % gebracht.
Wenn wir einmal bei dieser Zahl wären, dann wäre es ein Schritt in die richtige Richtung; es wäre allerdings immer noch nicht ausreichend.
Deshalb müssen wir das Gremiengesetz jetzt einführen, um einen deutlichen Fortschritt zu erreichen.Meine Damen und Herren, als sechsten Punkt hätten wir in den vorliegenden Entwurf gerne eine verbesserte Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit insbesondere im sozialen Bereich durch rentenrechtliche Ansprüche aufgenommen. Die Haushaltslage des Bundes und auch der Rentenversicherungsträger hat es uns nicht gestattet, das diesmal durchzusetzen. Ich spreche darüber, weil mir das außerordentlich wichtig ist, weil es sich um ein Gleichberechtigungsgesetz für Frauen in unserer Gesellschaft handeln soll.Frauen gehen sehr verschiedenen Formen von Arbeit nach. Die Gesellschaft schätzt aus meiner Sicht längst nicht in ausreichender Weise, welche Leistungen im Ehrenamt in unserer Gesellschaft vor allem von Frauen vollbracht werden.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle nur sagen: Wir werden dieses Ziel nicht aufgeben. Wir werden weiter versuchen, in dieser Richtung zu arbeiten. Viele Dinge haben viele Jahre gedauert. Ich halte das für ein erstrebenswertes und wichtiges politisches Ziel, damit wir nicht alles durch staatliche Sicherungsmaßnahmen gesetzlich und professionell regeln müssen.
Meine Damen und Herren, das Gleichberechtigungsgesetz des Bundes ist in einer politisch schwierigen Zeit für die Weiterentwicklung der Frauenpolitik in Bund und Ländern und in der Wirtschaft und Gesellschaft ein wichtiger Schritt. Wir setzen ein ganz deutliches und bewußtes politisches Signal. Die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die keinen Aufschub duldet. Ich denke, das haben uns gerade die letzten drei Jahre in Zusammenhang mit der deutschen Einheit sehr deutlich gemacht.Ich bitte Sie alle in diesem Parlament dabei mitzuhelfen, daß das Gesetz zügig beraten und beschlossen wird. Ich hoffe auf die kooperative Zusammenarbeit des Ausschusses Frauen und Jugend mit allen anderen Ausschüssen dieses Parlaments.Herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ilse Janz das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Immer wieder wird der Begriff Gleichstellung von Frau und Mann strapaziert. Leider bleibt es immer bei dem Begriff, denn die Wirklichkeit sieht anders aus: Gleichstellung gibt es bis heute nicht.Ich finde, der Politik muß es nun endlich gelingen, gleiche Ausgangsbedingungen für Frauen und Männer zu schaffen. Die SPD-Bundestagsfraktion legt daher heute ein Gleichstellungsgesetz vor, das diesem Anspruch gerecht wird. Damit beweisen wir — ich trage das ganz selbstbewußt vor — einmal mehr unsere frauenpolitische Kompetenz.
Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Ministerin Merkel, wollen wir nämlich ein Gesetz, das den Frauen auch tatsächlich Rechte gibt. Die Situation der Frauen ist in den letzten Jahren immer problematischer geworden.
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15436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Ilse JanzDer Verdrängungsprozeß aus dem Arbeitsleben hat voll gegriffen. Dabei haben gerade Frauen gehofft, daß die Vereinigung einen Impuls bewirken und ein verändertes gesellschaftliches Bewußtsein zugunsten der Frauen mit sich bringen würde. Das Gegenteil ist eingetreten. Während früher in den alten Bundesländern nur ca. 50 % der Frauen erwerbstätig waren, davon der größte Teil in Teilzeit, waren in den jetzigen neuen Bundesländern ca. 90 % der Frauen vollerwerbstätig. Inzwischen liegt der Erwerbsanteil noch erheblich unter dem der alten Bundesländer.Die Frauenarbeitslosenquote ist dramatisch gestiegen. Im öffentlichen Dienst konnte die Richtlinie zur beruflichen Förderung von Frauen auch keine nennenswerten Erfolge aufweisen. Denn solange es bei unverbindlichen Vorschriften bleibt, wird sich das — so hat die Vergangenheit gezeigt — nicht ändern. 2,7 % Frauen in Spitzenpositionen, 14,8 % Frauen im höheren Dienst, das sind die Zahlen aus dem Bericht der Bundesregierung, die das belegen.Die SPD-Bundestagsfraktion ist daher der Auffassung, daß es gerade jetzt in der Zeit der Verdrängung von Frauen aus dem Erwerbsleben, in der Zeit, in der die Bundesregierung den Sozialabbau betreibt, in der Zeit, in der ABM-Stellen gestrichen werden, umso notwendiger ist, ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorzulegen.
Daß Ihnen dies, Frau Ministerin Merkel, mit Ihrem Entwurf nicht gelungen ist, ist für uns ein weiteres Versäumnis dieser Bundesregierung.„Wirksam" heißt für uns auch, daß es zukünftig in der Gleichstellungspolitik nicht Frauen in zwei Klassen gibt, nämlich Frauen im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft. Sie haben den gleichen Anspruch und das Recht auf Gleichstellung. Deshalb schlagen wir eine umfassende Frauenförderung im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft vor.
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden nach unserem Gesetz in allen Betrieben und Dienststellen unabhängig von der Größe zur Frauenförderung verpflichtet. Im öffentlichen Dienst und in allen Betrieben mit mindestens 100 Beschäftigten müssen Frauenförderpläne erstellt werden, die verbindliche Vorgaben zur Beseitigung der Unterrepräsentanz von Frauen auf allen Ebenen enthalten.Nach unserem Gesetzentwurf müssen Frauen bei Einstellung und Beförderung bei gleicher Qualifikation bevorzugt werden. Dabei bestimmt sich die Qualifikation ausschließlich nach den Anforderungen der zu besetzenden Stelle, den Ausbildungsvoraussetzungen und den beruflichen Erfahrungen. Wir setzen also im Gegensatz zur Regierung auf die qualifikationsbezogene Quote.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, allein diese Vorschläge wären es wert, daß unser Entwurf zum Tragen kommt; denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung bleibt in all diesen Punkten unverbindlich und vage. Bei Ihnen heißt es schlapp „Der Frauenanteil soll erhöht werden" oder „Es soll die Repräsentanz vonFrauen angemessen sein", was immer das heißen mag.Die Abqualifizierung der Quote, wie sie noch einmal in Ihrer Antwort an den Bundesrat deutlich wurde, und die fast völlig fehlenden Sanktionsmöglichkeiten machen Ihren Gesetzentwurf zur Farce. Um die alten Strukturen aufzubrechen, wollen wir eine Ausbildungsplatzquote in Betrieben ab 50 Beschäftigten und Behörden einführen. Selbst diese Vorschrift fehlt in Ihrem Regierungsentwurf.Was die Bundesregierung mit einer Frauenbeauftragten, die lediglich bestellt, aber nicht gewählt wird, die keine eigenen Durchsetzungsrechte besitzt und bei Beanstandungen ihre Dienstleitung entscheiden lassen muß, erreichen will, ist uns ein Rätsel. Eine Frauenbeauftragte als Alibi lehnt die SPD-Bundestagsfraktion ab.
Für unsere Frauenbeauftragte gelten zwingende Freistellungsregelungen. Sie hat Mitwirkungs- und Initiativrechte mit der Möglichkeit, bei Nichteinigung mit der Arbeitgeberseite eine Vermittlungsstelle anzurufen.Mit unserem Gesetzentwurf werden geschlechtsspezifische Benachteiligungen verboten, und sie werden als Ordnungswidrigkeit geahndet. Dabei haben wir Schadensersatzansprüche von mindestens drei Monatsgehältern vorgesehen. Mit dieser Regelung würden die erheblichen Mängel des § 611 a BGB, die bereits in 1984 vom Europäischen Gerichtshof kritisiert wurden, endlich beseitigt. Mit Ihren Vorstellungen, Frau Merkel, bleiben Sie hinter bisheriger Rechtsprechung zurück. Ich erinnere Sie daran, daß Arbeitsgerichte bereits bis zu sechs Monatsgehälter ausgeurteilt haben und sich das Bundesarbeitsgericht insbesondere auf Grund der jetzigen restriktiven Regelung des § 611 a BGB nicht in der Lage sah, über ein Monatsgehalt hinauszugehen. Außerdem schlagen wir vor, daß die Beweislastumkehr eingeführt wird.
Sie wollen wie wir, daß die Stellenausschreibung nicht mehr geschlechtsspezifisch erfolgt. Aber warum dann Ihre lammfromme Formulierung? Es muß einfach verboten werden, wie es unser Gesetz vorsieht, Stellen nach dem Geschlecht auszuschreiben. Völlig unerklärlich ist uns auch, wie Sie mit den Soll-Vorschriften zum Betriebsverfassungs- bzw. Bundespersonalvertretungsgesetz Änderungen herbeiführen wollen. Auch dadurch drängt sich mir die Frage auf, Frau Merkel: Wollen Sie tatsächlich eine Gleichstellung von Frau und Mann, wann wollen Sie dies eigentlich erreichen und wie?Nach unserem Gesetzesvorschlag müssen sich Betriebs- und Personalräte verstärkt für eine Frauenförderung einsetzen. Wir werden ihre Rechte erweitern. Betriebs- und Personalräte werden entsprechend dem Frauenanteil in der Belegschaft quotiert. In größeren Betrieben bzw. Behörden werden die Betriebs- und Personalräte verpflichtet, Gleichstel-
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Ilse Janzlungsausschüsse zu bilden. In Betrieben, die weniger als neun Betriebsratsmitglieder haben, wählt der Betriebsrat aus seiner Mitte zur besseren Vertretung der Frauen eine Frauenvertreterin.Mitbestimmungspflichtig werden im Rahmen der Personalplanung die Aufstellung, Vereinbarung und Durchführung von Frauenförderplänen. Ebenso erhalten sie ein Mitbestimmungs- und Initiativrecht bei Maßnahmen und Regelungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das geht weit über Ihr Gesetz hinaus.
Die bisherige Frauenförderung in der Privatwirtschaft kann von uns nicht ansatzweise als befriedigend bezeichnet werden. Frauenförderung in Großbetrieben wird in den überwiegenden Fällen sogar als sogenannte Eliteförderung angesehen. Eine breite Förderung von Frauen ist nicht entstanden. In kleineren Betrieben sind Frauen noch immer — ich will das einfach einmal so deutlich formulieren — auf die Gnade der Männer angewiesen. Aber daß sich diese langjährige, auch öffentliche Diskussion noch immer nicht bis zur Bundesregierung herumgesprochen hat, zeigt Ihr Entwurf. Es ist für uns schon überraschend, wie intensiv die Privatwirtschaft, aber auch diese Bundesregierung auf das ungeheuer gute Potential Frau verzichtet.Frauen haben im Durchschnitt bessere Schul- und Ausbildungsabschlüsse, aber dies wird überhaupt nicht genutzt. Heute gilt immer noch: Je höher es die Karriereleiter hinaufgeht, um so weniger Frauen können wir dort sehen. Die Statistik nennt ca. 2,5 % Frauen in Spitzenpositionen.Um unseren Willen, gerade auch in der Privatwirtschaft Frauenförderung zu betreiben, noch zu unterstreichen, weise ich darauf hin, daß wir in unserem Entwurf eine bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge an die Unternehmen vorgesehen haben, die nachweislich gezielte Frauenförderung betreiben.Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Arbeitsplatz ist der zweithäufigste Ort, an dem Frauen sexuellen Belästigungen bis hin zu körperlichen Übergriffen ausgesetzt sind. Wir begrüßen es daher sehr, daß der Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung nach Ihrem Vorschlag erstmalig Aufnahme in einem Bundesgesetz finden soll.Aber die in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung niedergelegten Definitionen sind für uns viel zu eng gegriffen. Die Belästiger haben weiterhin die Möglichkeit, ihre Taten als individuelle Wahrnehmung darzustellen, und deshalb ist für uns besonders die Sensibilisierung für das Problem der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz notwendig. Die sexuelle Belästigung darf nicht länger als erlaubte und gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise angesehen werden; denn in der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß Beschwerden von Frauen weder von Arbeitgebern noch von Betriebs- und Personalräten intensiv nachgegangen wurde. Die Vorfälle dürfen nach unserer Auffassung nicht verharmlost und müssen aus der Sicht der Betroffenen beurteilt werden; denn oft genug haben die Belästigungen insbesondere seelische, aber auch körperliche Folgen für die Frauen.Die in Auftrag gegebene Studie des früheren Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit macht deutlich, daß 72 % der befragten Frauen sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz erlebt haben. Hilfen konnten sie dabei selten erfahren, Sanktionen gab es so gut wie nie, der arbeitsrechtliche Schutz und das strafrechtliche Vorgehen versagten meistens.Die SPD-Bundestagsfraktion will mit ihrem Vorschlag im Gesetzentwurf dafür sorgen, daß Sanktionen erfolgen. Deshalb ist die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz für uns eine Verletzung des Arbeitsvertrages bzw. ein Dienstvergehen. Die Arbeitgeber bzw. die Dienstherren werden zu Schutzmaßnahmen verpflichtet. In Betrieben bzw. Dienststellen mit mehr als 50 Beschäftigten ist zur Durchführung von Beschwerdeverfahren eine Kommission einzurichten. Die Sanktionen gehen von der offiziellen Entschuldigung über den Vermerk in der Personalakte, die Androhung arbeitsrechtlicher und dienstrechtlicher Konsequenzen bis hin zur fristgerechten bzw. fristlosen Kündigung, und wir billigen den Betroffenen Schadensersatzansprüche zu und führen die Beweislastumkehr ein.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, die SPD-Bundestagsfraktion hat ein umfangreiches Reformwerk vorgelegt. Zu weiteren wichtigen Einzelpunkten unseres Gesetzes werden meine Kolleginnen noch Stellung nehmen.Ich stelle abschließend fest: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung scheint überwiegend von Männern gefertigt, die Angst haben, daß Frauen ihnen ebenbürtig sind. Partnerschaftliches Denken scheint ihnen fremd. Deshalb mein Rat an Sie, Frau Ministerin Merkel, auch wenn Sie nicht gerne Ratschläge der Opposition entgegennehmen möchten: Wenn Sie für die Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland wirklich etwas tun wollen, dann übernehmen Sie den Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion und stimmen Sie ihm zu.— Danke schön.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Frauenförderung beginnt im Kopf, und zwar im Kopf der fördernden Männer und der geförderten Frauen. Um es vorweg zu sagen: Es war ein langer Weg mit harten Auseinandersetzungen innerhalb der und zwischen den Koalitionsfraktionen und den Ministerien. Herausgekommen ist ein Kompromiß. Dem Entwurf fehlen an manchen Stellen die scharfen Zähne. Er ist oft unpräzise, da er noch zuwenig formulierte verbindliche Vorgaben hat.Ich sage es ganz deutlich: Die F.D.P. will das Gleichberechtigungsgesetz, doch muß man sich fragen, ob wirklich so viel Bürokratie nötig ist, damit die
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15438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Margret Funke-Schmitt-RinkInstrumente Frauenförderpläne und Frauenbeauftragte wirken können.
Aber dies nur am Rande.
Das Gleichberechtigungsgesetz besteht aus 14 Artikeln, die verschiedene Themen regeln. Auch der Adressatenkreis ist unterschiedlich: Zum Teil richtet sich das Gesetz nur an Beamtinnen und Beamte, hauptsächlich an den öffentlichen Dienst, hier vor allem an die obersten Bundesbehörden — Art. 1 bis 7 und 12 — und an die private Wirtschaft — Art. 8 und 11.Obwohl wir der Wirtschaft nichts vorschreiben können, meine Damen von der SPD, wünschen wir uns, daß diese noch mehr als bisher verbindlich Frauenförderung betreibt, um gerade jungen Frauen gleiche Chancen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt einzuräumen.
Nun zu den Schwerpunkten des Gesetzes.Erstens. Es ist kein reines Frauengesetz. Auch Männer werden als Zielgruppe ausdrücklich genannt. Ziel sind die Erhöhung des Anteils von Frauen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Manner.Zweitens. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer steht gleichwertig neben der Frauenförderung.Drittens. Es gibt keine Umkehr der Beweislast, § 611 a BGB. Es gilt im wesentlichen die jetzige Gesetzeslage der halben Umkehr, die einen bestimmten Schadensersatz für Diskriminierte vorsieht.Viertens. Es gibt einen Artikel zum Schutz sexuell Belästigter am Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft mit Angabe von arbeitsrechtlichen Sanktionen.Fünftens. Es enthält einen Artikel zur Besetzung der Gremien, auf die der Bund Einfluß hat, nach dem mehr Frauen in die Gremien gewählt werden sollen.Welche Instrumente bietet das Gesetz an? Als erstes Instrument bietet es den Frauenförderplan an, der alle drei Jahre aufgestellt, angepaßt und veröffentlicht werden muß.Hier wird von linker Seite kritisiert — wir haben es gerade gehört —, daß es keine Quotierung gibt. Ich sage an dieser Stelle ganz klar: Eine solche starre Quotierung, wie sie im SPD-Gesetzentwurf vorgeschrieben wird, wollen wir nicht.
Das Ziel Erhöhung des Frauenanteils in Bereichen, in denen die Frauen unterrepräsentiert sind, soll im Koalitionsentwurf durch die Aufstellung und Kontrolle von Frauenförderplänen in j eder Dienststelle mit flexiblen Zielvorgaben innerhalb einer bestimmten Zeit erreicht werden. Soweit der Frauenförderplan nicht umgesetzt wird, muß die Personalvertretung die Gründe dafür im Rahmen der jährlichen Anpassung darlegen.Ich werde mich zusammen mit unseren Innenpolitikern in der parlamentarischen Diskussion dafür einsetzen, verbindliche Zielvorgaben zu formulieren, die dann in jeder Dienststelle umgesetzt werden müssen, allerdings flexibel.
Eine solche verbindliche Zielvorgabe kann aber nicht nur die Beförderungsebene, d. h. die Ebene, auf die hin befördert werden soll, sondern sie muß auch die Bewerber- und Bewerberinnenebene berücksichtigen; das ist anders als bei dem SPD-Entwurf. Die grundlegende Schwäche einer Quotierung kann eigentlich auch die SPD nicht übersehen.Wenn die Weisung gilt, bei gleicher Leistung bevorzugt Frauen einzustellen und zu befördern, dann wird Leistung sehr schnell so definiert, daß sie auf die Person, die man haben will, zutrifft. Das heißt, Leistung, die nicht nur formal bestimmt werden kann, wird auf die gewünschte Person hin interpretiert. Wenn die gewünschte Person der Mann ist: Was nützt da die Quote? In einer Partei ist die Quotierung leichter durchzusetzen als bei der Besetzung von Arbeitsplätzen. Ich möchte gar nicht auf die Verfassungsmäßigkeit eingehen; dazu hat das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort.Das Problem bei der Quotierung, meine Damen von der SPD, wird sich auf die Beurteilungsebene verlagern. Das heißt, die Quote kann leicht unterlaufen werden.
Wenn das Kriterium „Leistung" in Ihrem Entwurf wirklich ernstgemeint ist, dann darf Quotierung eigentlich keine Rolle spielen.
Der öffentliche Dienst soll doch auch nur die Besten fördern.
— Hören Sie doch zu, vielleicht können Sie noch etwas lernen!Im übrigen: Das Geschlecht ist nur eines von mehreren Kriterien. Es gibt zulässige Hilfskriterien, z. B. Alter, soziale Sicherung. Ist dieser Schematismus, den die SPD will, politisch also wirklich sinnvoll? Würde er Akzeptanz finden?
Quotierung klingt für Frauen — vielleicht auch für die auf der Zuschauertribüne — zunächst wie ein Allheilmittel, die Lösung des vorliegenden Gesetzentwurfs der kleinen differenzierten Schritte konservativ.Wenn wir ehrlich Frauenpolitik machen wollen, meine Damen, dann können wir Männer und ihre Interessen nicht außer acht lassen.
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Dr. Margret Funke-Schmitt-RinkWir brauchen die Akzeptanz z. B. von Gesetzen nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern.
Schließlich sind wir im Parlament 80 % Männer und 20 % Frauen. Man mag dies beklagen. Aber Frauenpolitik, die nützen und nicht schaden soll, muß sich um den Ausgleich der Interessen beider Geschlechter bemühen.
Im übrigen hat die F.D.P. keine ideologischen Scheuklappen vor dem Thema Quotierung.
Für uns ist allein das pragmatische Vorgehen wichtig: Welche Instrumente müssen wie eingesetzt werden, um die wünschenswerten Ziele zu erreichen?
Damit möchte ich ein grundsätzliches Problem, das mit diesem Gesetz verbunden ist, ansprechen. Es besteht die Gefahr — das sage ich, weil ich das Gesetz möchte —, daß zukünftig Dienststellenleiter, Personalräte und Personalabteilungen in die Rolle der „Männerbeauftragten" gedrängt werden, weil viele Männer Frauenförderpläne und Frauenbeauftragte so, wie sie vorgesehen sind, als einseitige und ungerechte Bevorzugung von Frauen ansehen werden.
Die starre Konzeption des SPD-Entwurfs würde diese Gefahr erhöhen. Quotierung, meine Damen von der SPD, heißt letztlich Mißtrauen. Man kann dies wollen; aber wie hoch ist der Preis?
Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzes sind die Regelungen über die familiengerechte Arbeitszeit. Hier ist der Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung gemeint, ein fast gelungener Teil des Gesetzes. Danach sind auch Abteilungsleiter- und Staatssekretärsposten teilbar; so verstehe ich es. In den Ministerien können ab sofort teilzeitbeschäftigte Beamte Leitender Ministerialrat und Ministerialdirektor werden. Diese Personen sollen dabei keinen Karriereverlust erleiden müssen. Teilzeitbeschäftigung funktioniert in solchen Spitzenpositionen natürlich nur, wenn die Männer den Eindruck haben, sie sei kein Karrierehemmnis. Dieser Passus soll also auch die Gleichberechtigung der Männer fördern. Hier ist der F.D.P. der Gesetzentwurf allerdings nicht radikal genug, weil er zu viele Alibiformulierungen enthält und zuviel Rücksicht auf die Belange der Behörden und ihrer Organisation nimmt.
Hier muß das Gesetz bewirken, daß organisatorische Schwierigkeiten überwunden werden. Die Selbstverständlichkeit von Teilzeitarbeit ist noch nicht deutlich genug formuliert.Ein Bonner Beispiel: Auch die Abgeordneten eines Ausschusses müßten lernen, auf teilzeitarbeitende Ministerialbeamte Rücksicht zu nehmen.
Um es auf den Punkt zu bringen, wie sich die F.D.P. die zukünftige Teilzeitregelung vorstellt:
Wenn wir die Ministerien noch kleiner zuschneiden als in dieser Legislaturperiode, könnte man sich auch gut Teilzeitminister vorstellen.Ein dritter und wichtiger Teil des Gesetzentwurfs enthält die Regelungen über die Frauenbeauftragte. Sie wirkt bei allen Maßnahmen ihrer Dienststelle mit, ist grundsätzlich für vier Jahre bestellt und hat Mitwirkungs- und Beanstandungsrecht. Wir Liberalen setzen uns dafür ein, daß Frauenbeauftragte gewählt und nicht bestellt werden sollen, wie es im Gesetzentwurf steht. Schließlich wird auch der Personalrat gewählt.
Ebenso positiv ist die Ausgestaltung des Art. 11: Schutzvorschriften gegen sexuelle Belästigung. Sexuelle Belästigung — das muß ganz klar sein — muß gesellschaftlich geächtet und bestraft werden.
Noch unzureichend ist, daß im Gesetzentwurf keine Vertrauensperson im Betrieb bzw. in der Behörde angegeben wird. Dies könnte für uns die Frauenbeauftragte, der Personalrat oder der Dienststellenleiter sein. Aber die F.D.P. will auf keinen Fall eine neue Kommission wie die SPD. Die belästigte Person muß aber auf jeden Fall eine Anlaufstelle haben.Wir begrüßen auch die arbeitsrechtlichen Sanktionen. Art. 11 — Gesetz gegen sexuelle Belästigung — wie auch Art. 8 — Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches; § 611 a — gelten sowohl für den öffentlichen Dienst wie für die Privatwirtschaft. Die F.D.P. bleibt — das ist auch nicht erstaunlich — bezüglich des § 611 a BGB bei ihrer Auffassung, daß die jetzige Regelung ausreicht, wonach im Streitfall der Arbeitgeber die Beweislast für die Umstände trägt, die eine Benachteiligung wegen des Geschlechtes vermuten lassen. Sie sieht bei Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot eine Entschädigung in Höhe von regelmäßig einem Monatsverdienst und höchstens drei Monatsverdiensten vor. Es geht um den zu erwartenden Monatsverdienst.Inzwischen, meine Damen, meine Herren, gibt es ein neues Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das eine Höchstgrenze der Schadensersatzzahlung ausschließt. So wird man an dieser Stelle neu nachdenken müssen.
Mir persönlich gefällt die Formulierung des Bundesrats: mindestens zwei Monatsgehälter.Art. 12 betrifft die Besetzungsverfahren für Gremien, die im Einflußbereich des Bundes liegen. Hier-
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15440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rinknach soll bei jedem Besetzungsvorschlag eine Doppelbenennung — ein Mann, eine Frau — erfolgen. Das Gesetzesziel, daß Frauen tatsächlich nicht nur benannt, sondern auch gewählt werden, ist ebenso begrüßenswert, wie die Verpflichtung der Bundesregierung, in jeder Legislaturperiode einen Gremienbericht zu erstellen. Aber wir denken, daß das Gesetzesziel durch eine deutlichere Formulierung als „angemessene Repräsentanz" noch besser verwirklicht werden könnte.
Fazit: Dieser Gesetzentwurf kann trotz seiner umfassenden Konzeption nicht alle Probleme der strukturellen Benachteiligung von Frauen im Beruf und in der Gesellschaft lösen. Er ist aber ein guter Einstieg, uni gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern; denn nicht schon die Förderung von Frauen, sondern erst die wirkliche Veränderung der Verhältnisse löst die Probleme.Es handelt sich bei dem bestehenden Gleichheitsdefizit um ein prismatisches Phänomen, das neben der rechtlichen genauso soziologische, psychologische, kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen hat. Hieraus ergibt sich nun nicht, daß die Rechtsordnung unfähig wäre, Veränderung zu bewirken. Deswegen halten wir dieses Gesetz für genauso wichtig wie den Beschluß der Verfassungskommission, den hoffentlich der Bundestag bestätigen wird, Art. 3 Abs. 2, für den wir wahnsinnig gekämpft haben — „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. " —, zu ergänzen.Benachteiligung von Frauen aber, meine Damen, meine Herren, beginnt nicht erst, wenn diese in die obersten Bundesbehörden eintreten, sondern sie fängt schon viel früher an. Die Diskriminierung ist bereits in der Struktur des Berufsbildungssystems angelegt. Dieses produziert und reproduziert soziale Ungleichheit.Der Berufsbildungsbericht 1993 zeigt, daß 76 % der männlichen Schulentlassenen im Jahre 1992 einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhielten, aber nur 46 % der weiblichen Schulentlassenen. 65 % betrug der Anteil der Mädchen an einer außerbetrieblichen Berufsausbildung, die bekanntlich schlechter ist.Das Hauptproblem, das Berufswahlspektrum der jungen Frauen zu verbreitern, ist immer noch nicht gelöst. Nach wie vor konzentrieren sich mehr als die Hälfte aller weiblichen Auszubildenden auf zehn Ausbildungsberufe. Auch wenn in diesem Gesetzentwurf zum erstenmal Teilzeitarbeit ohne berufliche Nachteile normiert wird: Die traditionelle Rollenverteilung im familiären Alltag ist immer noch so, daß die Erziehung eines Kindes, unabhängig davon, ob die Mütter erwerbstätig sind oder nicht, vorrangig Aufgabe der Frauen bleibt.Angesichts der Schwierigkeiten, Zeitrhythmen und Ansprüche von Berufswelt und Kindern miteinander zu harmonisieren, verringern Frauen in der Regel ihre Erwerbstätigkeit, zumindest zeitweilig, haben also Stolpersteine in der Karriere. Väter hingegen, so neueste Studien, glauben sich an der Eltern-Kind-Beziehung gerecht zu beteiligen, indem sie Freizeitaktivitäten mit dem Kind ausüben, sich aber weitgehend aus den hauswirtschaftlichen und pflegerischen Routinearbeiten heraushalten.Für Frauen — ich komme zum Schluß — ist zwar die Tür zur Männerdomäne Arbeitswelt geöffnet, gleichzeitig aber haben sich die Frauen auf eine zusätzliche Verpflichtung eingelassen. Den Wettbewerb um qualifizierte Ausbildung und Arbeitsplätze treten viele junge Frauen weiterhin mit großer Sicherheit als Verliererinnen an.Die Segmentierung des Arbeitsmarktes ist heute ebenso vorhanden wie die Alleinverpflichtung der Frauen für die unbezahlte Familienarbeit. Daran wird auch das vorliegende Gleichberechtigungsgesetz wenig ändern können, übrigens auch nicht der Gesetzentwurf der SPD, der dem öffentlichen Dienst — wenn es nach der SPD ginge, auch der Privatwirtschaft — ihre Quotierungsideologie aufzwingen will.
Das ist aus der Opposition heraus ein leichtes Unterfangen. Wäre die SPD in der Regierung, müßte sie sich mit den Tarifpartnern ernsthaft auseinandersetzen.
Frau Kollegin Dr. Funke, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ein Minuszeichen vor den Zahlen steht?
Darf ich noch einen Satz sagen?
Der Hebel muß in Wirklichkeit ganz woanders ansetzen. Solange nicht die Arbeit in Beruf und Öffentlichkeit einerseits und die Arbeit in der Familie andererseits auf Männer und Frauen gleichberechtigt aufgeteilt ist, so lange bleibt die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben und von Männern im Familienleben bestehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eines vorausschicken: Sosehr ich mich freue, daß wir Frauen hier im Saal endlich einmal die absolute Mehrheit haben, um so mehr bedaure ich es, daß unsere männlichen Abgeordneten aus allen Fraktionen und Gruppen hier zum Großteil durch Abwesenheit glänzen.
Ich halte diesen Zustand für symptomatisch dafür, welchen Stellenwert der Gleichstellungsproblematik insgesamt beigemessen wird, und denke, wir alle, alle Fraktionen und alle Gruppen, sollten ein Zeichen vielleicht für die zweite und dritte Lesung setzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15441
Petra BlässWenn wir heute über verschiedene Ansätze für ein Gleichberechtigungs- bzw. Gleichstellungsgesetz sprechen, möchte ich zunächst einmal auf die Grundlage verweisen, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dafür ausschlaggebend ist, ob die vorliegenden Entwürfe ihr Ziel überhaupt erreichen können: die anstehende Neufassung des Art. 3 des Grundgesetzes.Ein Gesetz, das die Kompensation bestehender Nachteile für Frauen regelt, wird nur dann Bestand haben, wenn verfassungsrechtlich klargestellt ist, daß eine solche Kompensation nicht unter das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes fällt. Dies sollten wir im Hinterkopf haben, wenn wir heute über die unterschiedlichen Konzepte diskutieren, in denen die Instrumentarien der Kompensation geregelt werden sollen, und wenn uns demnächst ein Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Abstimmung vorgelegt wird.Nun zu meinen Kritikpunkten an den vorliegenden Gesetzentwürfen.Um die Benachteiligung von Frauen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auszugleichen, wäre ein Gesetz erforderlich, daß auf die Gesamtstruktur der systematischen Ungleichheit und Diskriminierung von Frauen zielt sowie auf deren Aufhebung im öffentlichen Leben, im Beruf und in der Familie gerichtet ist.Diesem Anspruch genügen beide vorliegenden Entwürfe nicht. Sie sind vielmehr ausdrücklich nur auf den Bereich der Erwerbsarbeit beschränkt worden. Dies halte ich für durchaus legitim und angesichts der Fülle des zu Regelnden auch für angebracht, wobei Maßnahmen zur Beseitigung der Ungleichbehandlung von Frauen in anderen Bereichen in nachfolgenden Gesetzen ebenfalls geregelt werden müßten.Der Entwurf der Bundesregierung geht auch unter Berücksichtigung dieser inhaltlichen Einschränkung die beabsichtigte Beseitigung der Frauendiskriminierung äußerst halbherzig an, allein schon deshalb, weil er den Bereich der privaten Wirtschaft ausspart, obwohl seine Einbeziehung noch nicht das Ende der Marktwirtschaft bedeuten würde, wie die Erfahrungen in den USA mit den Antidiskriminierungsgesetzen gezeigt haben.Für den Bereich des öffentlichen Dienstes, der Hauptgegenstand des Regierungsentwurfs ist, hinken die ins Auge gefaßten Maßnahmen den meisten Ländergesetzen hinterher und bleiben durch die vorherrschenden Soll- und Kann-Bestimmungen unverbindlich.Die Einführung von Quotierungsregelungen — im SPD-Entwurf meiner Meinung nach beispielgebend enthalten — wird von der Bundesregierung ebenso abgelehnt wie wirkliche Sanktionsregelungen bei Zuwiderhandlungen.Inakzeptabel ist für mich der Versuch der Bundesregierung, eine Frauenförderung zu installieren, die einem an der männlichen Existenz orientierten Leistungsbegriff und wirtschaftlichen Belangen untergeordnet ist. Dies ist eine Regelung, die niemandem weh tut und bei der männliche Positionsinhaber beruhigt davon ausgehen können, daß auf sie alle erdenklichen Rücksichten genommen werden.
Eine wirkliche Förderung von Frauen aber wird so nicht erreicht. Die Geschichte hat gezeigt, daß allein mit dem Vertrauen auf die Einsicht der Männer eine chancengleiche Entwicklung von Frauen nicht zu machen ist. Sonst würden wir wohl heute auch nicht ein entsprechendes Gesetz benötigen.Die Frauenförderung in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst muß erweitert werden durch die Stärkung der Position der im Gesetz vorgesehenen Frauenbeauftragten über die im Regierungsentwurf enthaltenen Rechte hinaus. So ist die Einsetzung der Frauenbeauftragten von oben durch eine Wahl zu ersetzen, bei der alle weiblichen Beschäftigten wahlberechtigt sind. Die Frauenbeauftragte ist mit einem Vetorecht auszustatten, und es ist eine Einigungsstelle zu schaffen, die über Verstöße gegen den Frauenförderplan entscheidet und Sanktionen verhängen kann.
Damit die Frauenbeauftragte ihre Aufgaben, zu denen auch präventive gehören, umfassend erfüllen kann, ist ihre Freistellung verbindlich vorzuschreiben. Leider sieht der Entwurf der Bundesregierung eine solche erweiterte Rolle der Frauenbeauftragten nicht vor.Die beschriebene Zaghaftigkeit der Bundesregierung setzt sich auch beim Problem der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes fort, die sich weitgehend in einer Vorschrift erschöpft, die bereits ohne dieses Gesetz im sachlichen Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes liegt.Eine echte Mitsprache der Betriebs- und Personalräte bei Frauenfördermaßnahmen ist auch nach dem Regierungsentwurf weiterhin ausgeschlossen. Durchsetzungsinstrumentarien des Betriebsrats läßt dieser Entwurf ebenfalls vermissen. Das sind vertane Chancen, denn gerade in diesem Bereich sollten die Interessenvertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Initiativrechte und Mitbestimmungsrechte, z. B. bei der Aufstellung von Frauenförderplänen und bei der Ausschreibung von Stellen, erhalten, und zwar unabhängig von der Größe des jeweiligen Betriebs.
Generell positiv bewerte ich, daß in beide vorliegenden Entwürfe ein Gesetz zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz aufgenommen wurde. Beim Gesetzentwurf der Bundesregierung scheint die Verfasserinnen und Verfasser allerdings der Mut gerade da verlassen zu haben, wo es um die konkrete Formulierung des Tatbestands der sexuellen Belästigung geht.Wie sonst ist zu erklären, daß nur der Vorsatz, nicht aber zumindest auch die grobe Fahrlässigkeit strafrechtliche Schuld begründet? Daß ein Mann zugibt, vorsätzlich eine Kollegin sexuell belästigt zu haben,
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15442 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Petra Blassdürfte die absolute Ausnahme sein, und das wissen die Verfasserin und Verfasser gewiß auch.Betroffen macht mich die im Gesetzentwurf der Bundesregierung enthaltene Forderung, die Betroffene müsse die sexuelle Handlung erkennbar ablehnen. Dies erinnert an die Debatten in den Vergewaltigungsprozessen, wo die Opfer stets die energische Gegenwehr glaubhaft machen müssen. Beide Forderungen unterstellen, daß Frauen per se sexuelle Gewalt eigentlich wollen. Dies ist ein Frauenbild, das in einem Gleichberechtigungsgesetz absolut nichts zu suchen hat.
Ein weiterer Mangel des Regierungsentwurfs besteht darin, daß die Probleme der praktischen Beweisschwierigkeiten der betroffenen Frauen nicht geregelt sind, obwohl hierzu dringender Handlungsbedarf besteht. Die im Entwurf der SPD enthaltenen Vorschläge zu dieser Thematik begrüße ich deshalb ausdrücklich und hoffe, daß wir uns in den Ausschüssen darüber verständigen werden, wie wir künftig verhindern, daß die belästigten Arbeitnehmerinnen die Leidtragenden der durchgeführten Verfahren sind. Es ist aus meiner Sicht ein dringendes Erfordernis, Beweiserleichterungen einzuführen und sich auch über das Ob und Wie einer Beweislastumkehr zu verständigen.Abschließend noch ein Aspekt, der wiederum in engem Zusammenhang mit der bevorstehenden Verfassungsdiskussion steht: das Bundesgremienbesetzungsgesetz.Wenn eine gleiche Teilhabe von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen das Ziel wirklicher Gleichstellungspolitik ist, dann ist eine Mindestquotierung in allen Gremien, in allen Ämtern und bei allen Mandaten und Kandidaturen dafür eine unverzichtbare Voraussetzung.Daß der Entwurf der Bundesregierung diese konkrete Form von Frauenförderung nicht enthält, ist nach dem Verlauf der Verfassungsdiskussion nicht mehr verwunderlich. Man will in Wirklichkeit j a keine Gleichstellung, sondern nur eine formale Gleichberechtigung. Die Gesetzesüberschrift spricht dies auch klar aus. Die vagen und nur eingeschränkt anwendbaren Regelungen des Bundesgremienbesetzungsgesetzes gaukeln vor, es gäbe nur „ein bißchen" Gleichstellung.Die PDS/Linke Liste wird sich in den bevorstehenden Debatten dafür einsetzen, daß Gleichstellung nicht weiter als Anpassungszwang an vorgegebene männliche Standards verstanden wird, sondern jenseits einer hierarchisch strukturierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung neue Inhalte dieses Begriffs gesucht werden, die Lebensformen, Inhalte, Arbeitsweisen, Wertvorstellungen und Politikansätze von Frauen als gleichwertig umfassen.Ein Gleichstellungsgesetz, das diesen Namen verdient, muß deshalb die Veränderung von Berufs- und Familienarbeit, von Öffentlichem und Privatem, vonFrauen- und Männerrollen mit folgenden Konsequenzen befördern:In der Berufswelt müssen alle Kosten für den Faktor Mensch mit einberechnet werden, die bisher unentgeltlich von Frauen getragen wurden. Es ist eine Neubestimmung und Neubewertung von Arbeit als Gesamtheit der Produktions- und Reproduktionsar-beit einer Gesellschaft vorzunehmen. Und es ist zu entscheiden, wieviel dieser Gesellschaft die bisher von Frauen unentgeltlich geleistete Pflege-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit im Verhältnis zur Produktion wert ist. Und schließlich: Jede Frau und jeder Mann muß die Chance haben, den Beruf mit einem Leben mit Kindern zu vereinbaren und nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten.Noch ein Wort zum heute zu beschließenden Bericht des Ausschusses für Frauen und Jugend zum Antrag der SPD „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ": Die PDS/Linke Liste lehnt die Beschlußempfehlung des Ausschusses ab, weil sie den Antrag der SPD für ein geeignetes Instrument hält, dieses Problem im Interesse der Frauen zu lösen.
Frau Bläss, Sie hatten dankenswerterweise angekündigt: ein Wort. Also nicht, daß es jetzt ein ganzes Kapitel gibt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja. Ich bin gleich fertig.
Wir bedauern deshalb, daß auf einem so wichtigen Gebiet die Parteiräson wieder einmal über die gemeinsame Sacharbeit gestellt und die eigentlich Betroffenen, die Frauen in der Bundesrepublik, völlig außen vorgelassen werden. Wir hoffen, daß sich dieses Verfahren bei der Erörterung des Gleichberechtigungsgesetzes nicht fortsetzt.
Ich danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hervorstechendes Merkmal des Arbeitsmarktes in der alten Bundesrepublik war und ist die deutliche Segregation nach Geschlecht, zum einen bezüglich der Branchen und zum anderen bezüglich so wesentlicher Kenndaten wie Einkommen, Stellung in der Betriebshierarchie, Aufstiegsmöglichkeiten, Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen, Besetzung von Leitungsfunktionen und, nicht zuletzt, Entlassungsrisiko.Das allein hätte, wenn Art. 3 GG jemals wirklich ernstgenommen worden wäre, Anlaß für ein entschiedenes und entscheidendes Eingreifen der Politik sein müssen. Und genau das ist bisher unterlassen worden. So ist die Bundesrepublik Deutschland für mich — ich muß das an dieser Stelle erneut so deutlich sagen — ein frauenpolitisches Entwicklungsland.In der DDR war die Situation zwar längst nicht so schlecht wie in der Alt-BRD, dennoch entsprach die Erwerbssituation von Frauen nicht ihrer Qualifikation,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15443
Christina Schenkihrer Leistungsfähigkeit und ihren Managementkompetenzen. Die Frauenbewegung in der DDR hat im Herbst 1989 entschiedene und wirkungsvolle Schritte in Sachen Gleichstellung von Frau und Mann gefordert. Ein wesentliches Instrument dabei sollte die Quotierung sein.Das Thema Frauen war jedoch für die Macher und Macherinnen des Einigungsvertrages nur ein marginales. Außer äußerst schwammigen Formulierungen, die sich zudem größtenteils darauf beschränkten, eine Verschärfung der Abtreibungsregelung anzukündigen, ist dort nichts Nennenswertes zu finden.Frauen in Ostdeutschland machen nun Erfahrungen ganz neuer Art. Sie werden systematisch aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt. Sie werden diskriminiert, weil sie Kinder haben oder weil sie Kinder bekommen könnten. Sie müssen eine Entwertung ihrer Qualifikationen hinnehmen. Sie werden aus Leitungspositionen verdrängt. Ihre Wiedereinstellung erfolgt, wenn überhaupt, häufig unter Wert. Frauen mit gewerblich-technischer Ausbildung werden zurück in die sogenannten frauentypischen Bereiche umgeschult. In zunehmendem Maße begreifen Frauen, daß im System der kapitalistischen Marktwirtschaft ein vitales Interesse seitens der Arbeitgeber an manövrierfähigem Humankapital besteht und daß folglich Frauenerwerbslosigkeit in diesem System funktional ist.Wenn solchen systemimmanenten Prozessen entgegengesteuert werden soll, bedarf es Instrumentarien mit zwingender Wirkung. Um es ganz klar zu sagen: Wer angesichts dieser Entwicklung in Ostdeutschland die Notwendigkeit der Quote noch immer nicht sieht oder begreift, kann frauenpolitisch nicht mehr ernstgenommen werden.
Die Quote — das sei gegen denunziatorische Versuche jeglicher Art gesagt — ist kein Allheilmittel gegen die vielfältigen Benachteiligungen und Diskriminierungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Die Quote kann nur einer der Bausteine auf dem Weg zur Gleichberechtigung sein. Sie ist ein Mittel, um zu einer gerechten Verteilung der Erwerbsarbeit zwischen Männern und Frauen und damit zu einem Zuwachs an Chancengleichheit bei der Gestaltung des persönlichen Lebens zu kommen.Die Quotierung dient dazu, Ausschlußmechanismen zu neutralisieren, die Frauen den Zugang zu bestimmten Bereichen bisher erschwert oder sogar versperrt haben. Sie zwingt Frauen nicht, wie es des öfteren, z. B. mit dem Hinweis auf die Müllabfuhr, behauptet wird, etwas zu tun, was sie nicht wollen. Gibt es keine Bewerberinnen, so können auch für die Bereiche, in denen Männer überrepräsentiert sind, Männer eingestellt werden.Andere Bausteine auf dem Weg zur Gleichberechtigung sind die Verkürzung der Arbeitszeit, die Abschaffung des Familienlohns und die Schaffung eines flächendeckenden Netzes von Kinderbetreuungseinrichtungen. Nichts davon ist in dem Gesetzentwurf aus dem Hause Merkel zu finden. Er ist deshalb, meine ich, das Papier nicht wert, auf dem er steht.
Eine Bundesfrauenministerin, noch dazu eine, die aus dem Osten kommt, die sich ausgerechnet in einer Zeit, in der Frauen durch die Einführung der Privatwirtschaft ihre Erwerbsarbeitsplätze massenhaft verlieren, bei der Durchsetzung von Frauenrechten auf die Bundesbehörden beschränkt, wird ihrem Amt nicht gerecht.
Frau Abgeordnete Schenk, der Abgeordnete Krause möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?
Ich möchte nicht in ein Gespräch mit Herrn Krause eintreten.
Das ist ihr gutes Recht.
Der beschränkte Geltungsbereich des vorliegenden Gesetzentwurfs ist von Frau Janz und anderen ja schon kritisiert worden. Von diesem Gesetz werden ganze 3,3 % aller erwerbstätigen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland tangiert werden. Insofern verhält sich Frau Merkel in meinen Augen in dieser Frage, als sei sie nicht die Bundesfrauenministerin, sondern die Frauenbeauftragte aller Bundesbehörden. Die Vorschläge allerdings, die aus ihrem Hause kommen, vermitteln eher den Eindruck, daß es sich bei ihr um eine nicht sehr kompetente Frauenbeauftragte handelt.
Wenn sie dann noch, sozusagen als Zugabe, Herrn Heftmann, der sich durch antiquierte Ansichten über die von Frauen wahrzunehmenden Aufgaben unrühmlich hervorgetan hat, für geeignet hält, das Amt des Bundespräsidenten zu übernehmen, dann ist es eher in sich konsistent als ein Anlaß zum Wundern.
Es hat in bezug auf die Instrumentarien, mit denen die Gleichberechtigung im Bereich der Bundesbehörden angeblich durchgesetzt werden soll, wenig Sinn, den Gesetzentwurf der Bundesregierung im Detail zu kritisieren. Schon der Grundgedanke, daß die Durchsetzung der Gleichberechtigung durch den Erlaß von Soll- und Kannvorschriften ohne Zwang, ohne Kontrolle und ohne Sanktionen erreicht werden könne, ist entweder weltfremd oder aber Ausdruck dafür, daß es mit der Chancengleichheit von Frauen und Männern doch nicht so ernst gemeint ist.
Ohne Quoten, ohne Einführung eines gesetzlichen Rechts der Frauen auf die Hälfte aller Erwerbsarbeit
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15444 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Christina Schenkwird es in absehbarer Zeit keine Gleichberechtigung geben; ohne Quoten wird Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz Makulatur und die Dominanz von Männern in den Machtpositionen der Bundesverwaltungen ungebrochen bleiben.Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der SPD ist in meinen Augen eher geeignet, die Sache der Frauen voranzubringen. Ich meine, daß es sich lohnt, über Detailfragen zu diskutieren. Er ist unbestritten in sämtlichen Punkten besser als das Papier von Frau Merkel; allerdings gehört dazu nicht allzuviel. Ich möchte ihn deshalb auch nicht im Vergleich mit dem Gesetzentwurf aus dem Hause Merkel beurteilen, sondern im Vergleich mit den Vorstellungen, die aus der feministischen Frauenbewegung kommen und im Vergleich mit früheren Entwürfen der GRÜNEN und mit meinen eigenen Vorstellungen. Auf Grund der Zeitknappheit kann ich allerdings hier nur einen Punkt herausgreifen.Augenfällig am SPD-Entwurf ist das Qualifikationskriterium, nach dem Frauen bevorzugt eingestellt werden müssen. Die SPD möchte Frauen bei gleichwertiger Eignung, Befähigung und Leistung bevorzugen. Das jedoch beendet meines Erachtens nicht die systematische Benachteiligung von Frauen, die gerade daraus erwächst, daß sie sich der Kinderbetreuung oder sonstigen sozialen Aufgaben zuwenden, die von den Männern fast ausnahmslos verweigert werden.Wie soll beispielsweise eine 36 Jahre alte Ingenieurin, wenn sie Kinder hat, bei der Bewerbung um eine Leitungsfunktion erfolgreich gegen Männer konkurrieren, die ja nur deswegen eine längere Berufserfahrung haben, weil sie die Betreuung ihrer Kinder ihren Ehefrauen überließen? Genau dieses Problem läßt der SPD-Entwurf außer acht.
Wir meinen, daß jeder Ausschreibung eine genaue Stellenbeschreibung zugrunde gelegt werden sollte, in der die für diese Arbeit erforderliche Qualifikation beschrieben und festgelegt wird, die dann für die Beurteilung der Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber maßgebend ist.
Damit soll ein Qualifikationsvergleich verhindert werden, der mit den Anforderungen der ausgeschriebenen Stelle nichts zu tun hat, also im Grunde genommen sachfremd ist, und der nur dazu führt, daß Frauen systematisch benachteiligt werden.Wenn z. B. für ein Krankenhaus ein Facharzt oder eine Fachärztin für Chirurgie mit vier Jahren Berufserfahrung gesucht wird, dann sollte die Stelle nicht deswegen an einen Mann vergeben werden, weil dieser acht Jahre Berufserfahrung hat.Wenn für eine Stelle ein bestimmter akademischer Abschluß als ausreichend definiert worden ist, darf sie nicht deshalb mit einem Mann besetzt werden, weil er, da er sich vor der Kinderbetreuung gedrückt hat, schon ein paar Jahre Berufserfahrung aufweisen kann.Zusammenfassend: Ich meine, es genügt nicht, Frauen formal scheinbar gleiche Rechte zu geben, sondern es sind Instrumente und Verfahren nötig, die geeignet sind, die permanente Rekonstruktion der strukturellen Benachteiligung von Frauen zu beenden oder wenigstens zu unterbrechen. Frauen müssen gerade, weil sie traditionsgemäß fast die gesamte notwendige unbezahlte Arbeit in dieser Gesellschaft leisten, endlich faire Chancen bekommen. Unter diesem Gesichtspunkt geht mir der SPD-Entwurf nicht weit genug.Wir werden in Kürze unseren eigenen Gesetzentwurf einbringen, mit dem wir für diese und für andere Fragen Regelungsvorschläge unterbreiten werden.Danke.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Claudia Nolte das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt wohl viele Bereiche im täglichen Leben, in denen eine gewisse Differenz zwischen Theorie und Praxis erfahrbar ist, so auch — ich denke, Sie stimmen mir da zu — in punkto Gleichberechtigung.Die öffentliche Meinung ist pro Gleichberechtigung, ist pro Partnerschaft zwischen den Geschlechtern. Wenn man Umfragen glauben darf, so sind sogar über 60 % der Bevölkerung der Meinung, daß bisher zuwenig für die Gleichberechtigung getan wurde. 65 % der Männer in West- und sogar 81 % der Männer in Ostdeutschland sprechen sich dafür aus, mehr für die Berufstätigkeit von Frauen zu tun.
Muß es da nicht verwundern, daß eben diese Männer — so die Umfrage — das Putzen und Kochen ihren Frauen überlassen? Das ist übrigens ein Umstand, liebe Kolleginnen und Kollegen, der in der ehemaligen DDR nicht anders war. Die Berufstätigkeit der Frauen hatte nicht automatisch zur Folge, daß die Hausarbeit redlich geteilt wurde, sondern sie stellte sich in den meisten Fällen für die Frauen als eine Doppelbelastung dar.Ganz ähnlich wie in der damaligen Bundesrepublik Deutschland waren den Frauen auch in der DDR die minderbezahlten Arbeitsplätze zugeteilt. An Plätzen, wo Entscheidungen gefällt wurden, saßen Männer.Das heißt doch: Althergebrachte Strukturen und Denkweisen sind so leicht nicht zu ändern, und eine Partnerschaft in der Ehe, die von Gleichberechtigung gekennzeichnet ist, läßt sich per Gesetz nicht verordnen. Hier geht es um ein Umdenken jedes einzelnen.
Im Bereich des öffentlichen Lebens ist es dagegen notwendig, staatliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein Mehr an Gleichberechtigung ermöglichen. Wir kennen den langen Weg, den es brauchte,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15445
Claudia Noltebis Frauen zumindest de jure den Männern gleichgestellt wurden, angefangen beim Kampf für die Universitätszulassung über das Wahlrecht für Frauen bis hin zu der Grundgesetzbestimmung: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt."Aber der geringe Anteil von Frauen in Leitungspositionen sowohl in der freien Wirtschaft als auch im öffentlichen Dienst und in der Politik sind ein Beleg dafür, daß die Gleichheit vor dem Gesetz nicht reicht. Es gibt eben eine Reihe von Hindernissen, die Frauen die gleichberechtigte Teilhabe auch in Entscheidungsgremien erschweren.Haupthindernis eins ist die Schwierigkeit für Frauen, Beruf und Familie miteinander zu verbinden. Daneben stellen sich fest eingefahrene Strukturen und Rollenzuteilung ebenso als Hindernis dar.Um diesen Hindernissen entgegenzuwirken, ist schon einiges auf den Weg gebracht worden. Ich möchte da vor allen Dingen an die Einführung des Erziehungsgelds und des Erziehungsurlaubs erinnern. Ebenso gehört dazu der Beschluß, ab dem 1. Januar 1996 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu schaffen, von dem ich hoffe, daß daran festgehalten wird.
Der vorliegende Entwurf des zweiten Gleichberechtigungsgesetzes der Bundesregierung ist ein weiterer wichtiger Schritt, um den genannten Hindernissen entgegenzuwirken. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt diesen Entwurf ausdrücklich.
Er enthält Maßnahmen, die Frauen und Männern helfen sollen, Familie und Beruf leichter miteinander zu verbinden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wohl kein Gesetzentwurf zum Thema Gleichberechtigung passiert ein Kabinett und ein Parlament ohne Widerspruch. Diese Erfahrung hat man erst vor einiger Zeit beim hessischen Gesetzentwurf gemacht. Liebe Kolleginnen der SPD, ich traue einer SPD-Regierung schon manche wirtschaftspolitische Unvernunft zu;
aber daß diese einen solchen Gesetzentwurf einbringen würde, wie Sie ihn hier vorschlagen, das glauben Sie selber nicht.
Wir müssen eine offene Diskussion darüber führen, was Gesetze vernünftigerweise leisten sollen und leisten können. So sind wir z. B. der Auffassung, daß es weder möglich noch sinnvoll ist, der Privatwirtschaft feste Reglements für Frauenförderung vorzuschreiben. Im ungünstigsten Fall wirken sie sich gegen die Frauen aus.Aber auch die Frauen in meiner Fraktion haben noch Wünsche zum Regierungsentwurf offen, und ich hoffe, daß wir im Laufe der Beratungen aus so manchem „Soll" ein „Muß" machen.Es ist zu erwarten — dies hat die bisherige Debatte schon gezeigt —, daß in der Auseinandersetzung dieFrage nach Quoten eine Rolle spielen wird. Deshalb lassen Sie mich dazu kurz etwas sagen.Wir lehnen eine starre 50-%-Quote grundsätzlich ab, da sie ungerecht ist.
Viele Frauen empfinden sie zu Recht als diskriminierend. Frauen wollen nicht Quotenfrauen sein, sondern auf Grund ihrer Leistung anerkannt werden. Mein Verständnis von Gleichberechtigung ist, daß Frauen und Männer gemäß ihrer Leistung und Fähigkeit gleiche Chancen bekommen. Die im Regierungsentwurf vorgesehenen Zielvorgaben werden dem gerecht. Sie orientieren sich an der konkreten Situation und berücksichtigen die zu erwartende Bewerberstruktur.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gleichberechtigung meint nicht nur, daß Frauen und Männer die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, Gleichberechtigung meint auch, die spezifischen Lebensläufe von Frauen anzuerkennen.
Es sind vor allem Frauen, die im sozial-karitativen Bereich ehrenamtlich tätig sind. Sie leisten damit einen unbezahlbaren Dienst an der Gesellschaft;
leider im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar. Ich habe nie verstanden, warum die ehrenamtliche Tätigkeit im sportlichen Bereich finanziell honoriert wird, die im sozial-karitativen Bereich dagegen nicht. Ich hätte mir gewünscht, daß ein Gleichberechtigungsgesetz auch dieser ehrenamtlichen Tätigkeit zu mehr Anerkennung verhilft. Daß die derzeitige Finanzlage dies nicht zuläßt, darf nicht heißen, daß das Ehrenamt vergessen wird. Es muß unser Bemühen sein, dies in absehbarer Zeit nachzuholen,
und ich danke der Ministerin, daß sie diese Auffassung teilt.Die uns vorliegenden Gesetzentwürfe lassen eine spannende Beratung erwarten. Ich wünsche mir dafür eine konstruktive Zusammenarbeit.Ich danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Hanna Wolf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor kurzem gab das bayerische Kultusministerium seine Auswertung der Abiturergebnisse von 1993 bekannt. Die Ergebnisse der letzten Jahre haben sich dabei bestätigt: Mädchen sind besser, auch in den naturwissenschaftlichen Fächern. Das wird ihnen im späteren Berufsleben nicht viel nützen, und daran ist dann auch ein Gesetzentwurf schuld, wie ihn heute die Bundesregierung einbringt. Dieser wird an der heutigen Situation nichts ändern.
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15446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Hanna Wolf1,8 Millionen Frauen sind in Deutschland erwerbslos. In Ostdeutschland sind doppelt so viele Frauen wie Männer ohne einen Arbeitsplatz. Frauen werden schlechter bezahlt; Frauen werden bei Einstellungen und Beförderungen benachteiligt; sogenannte Frauenberufe haben kein Prestige. Diese Reihe könnte ich unendlich lange fortsetzen.Warum wird der Gesetzentwurf der Bundesregierung daran nichts ändern? Ich werde es Ihnen sagen, Frau Merkel und liebe Kolleginnen von der Regierung: Er betrifft nur die Bundesverwaltung, d. h. 500 000 erwerbstätige Frauen von insgesamt 15 Millionen. Das sind ganze 3 %! Aber auch diese 3 % sind der Bundesregierung noch zuviel. Die wichtigste Bestimmung, die Bestellung einer Frauenbeauftragten, soll überhaupt nur für ca. 100 000 Frauen — ich wiederhole: 100 000 Frauen —, also für 0,7 % der erwerbstätigen Frauen, gelten; denn Sie nehmen da die Post, die Bahn und die Finanzverwaltung aus. Frau Merkel, das ist eine Verhöhnung aller anderen berufstätigen Frauen in allen anderen Bereichen.
Nur zwei Punkte Ihres Gesetzentwurfs betreffen auch die Frauen in der Privatwirtschaft. Und was bringen diese Punkte? Eine Verschlechterung bzw. nur eine Festschreibung von Rechtspraxis. Sie legen eine Obergrenze für Schadenersatzansprüche bei Diskriminierung, bei Einstellung oder Beförderung fest. Sie sehen drei Monatsgehälter vor,
wo die Rechtsprechung heute schon bis zu sechs Monatsgehältern geht.
Durch das Geräusch, das gerade entstand — ich weiß nicht, wie —, lassen Sie sich nicht stören, Frau Abgeordnete Wolf.
Wenn das zu mehr Aufmerksamkeit führt, habe ich nichts dagegen; da kann es voll läuten.Ich war stehengeblieben bei der Praxis des Regierungsentwurfs, mit Sanktionen umzugehen. Sie sagen, Sie haben drei Monatsgehälter vorgesehen, Frau Merkel. Ich wiederhole: Die Rechtsprechung läßt heute schon sechs zu.Und dann haben Sie etwas ganz Phantastisches gemacht. Wenn jetzt mehrere Frauen klagen, dann dürfen die sich diese sechs Monatsgehälter teilen. Grandios! Wen schützen Sie hier eigentlich?Des weiteren sehen Sie keine Beweislastumkehr vor, obwohl Sachverständige dies seit langem fordern. Auch dies schützt die Arbeitgeber.Sexuelle Belästigung wird in Ihrem Entwurf nicht aus der Sicht der Frau definiert. Was Sie objektiv nennen, läuft doch in der Praxis auf eine männliche Sichtweise hinaus. Es fehlt an einem innerbetrieblichen Beschwerdeverfahren, und es fehlt eine Beschwerdekommission. Und an diesem Punkt kommt immer die F.D.P. und sagt: Nur nicht zuviel Bürokratie.
Wissen Sie, mit dieser Masche kommen Sie bitte nicht in diesem Bereich! Bedenken Sie, was das für Frauen im Arbeitsleben bedeutet! Lieber ein bißchen mehr Bürokratie und mehr Hilfen für die Frauen! Welche Chancen auf Sanktionen gegen Belästiger geben Sie denn den Frauen noch?Wir haben das in unserem Gesetzentwurf geregelt; wir wollen hier tatsächliche Hilfe schaffen.Für erwerbstätige Frauen in der Privatwirtschaft fehlen Förderungsmaßnahmen und Maßnahmen gegen die Verdrängung aus dem Erwerbsleben völlig. Die Regierung trägt durch ihre ABM-Politik auch noch zur Verdrängung bei.Aber nicht einmal in dem Minibereich der Bundesverwaltung haben Sie sich von den bereits geltenden Gleichstellungsgesetzen der SPD-regierten Bundesländer inspirieren lassen. Sie gehören zum Einmaleins der Frauenförderung und sind heute Standard.Erstens. Es fehlen verbindliche Quoten, die einen Rechtsanspruch gewährleisten. Die Frauenbeauftragte wird nicht ab einer bestimmten Dienststellengröße zwingend freigestellt, und die Frauenbeauftragte wird nicht von denen gewählt, die sie vertreten soll, sondern von denen ernannt, die sie kontrollieren soll.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre so, als wenn die Regierung sich ihre eigene Opposition ernennen würde.Die Formulierungen in Ihrem Gesetzentwurf leisten der Willkür Vorschub. Sie sind vage, schwammig, unverbindlich, aber kein eigentliches Rechtsinstrument.Und, Frau Merkel, ich fand das sehr entlarvend, wie Sie das hier gesagt haben. Wenn es wirklich darangeht, Frauenförderung zu betreiben, dann bringen Sie die Verfassung oder die wirtschaftliche Situation als Riegel davor. Deshalb würde ich über Ihren Entwurf schreiben: Viel Lärm um fast nichts.Und in noch einem anderen Punkt haben Sie, Frau Merkel, mit diesem Gesetzentwurf die Frauen im Stich gelassen, so wie Sie die Frauen im Stich gelassen haben bei der Reform des § 218, bei der Reform der Verfassung, bei den Spargesetzen, bei der deutschen Einheit.
Und nun stützen Sie auch noch die Kandidatur eines Herrn Heitmann für das Amt des Bundespräsidenten,
nach dessen Auffassung Frausein nichts anderes ist als Mutterschaft.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15447
Hanna WolfDas hat sehr viel damit zu tun, was eigentlich diese Bundesministerin für Frauen und Jugend für ein Frauenbild hat, wenn sie einen solchen Bundespräsidenten hier mitwählen will,
der sozusagen noch im 19. Jahrhundert lebt und glaubt, er kann sein Weltbild hier einbringen.
Dies werden wir hoffentlich verhindern.
Frau Abgeordnete Wolf, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir es immer vermieden haben, im Haus über Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten zu diskutieren.
Gut, wenn Sie es immer vermieden haben; in diesem Fall konnte ich es nicht vermei-. den.
Frau Merkel, ich frage Sie zum Abschluß: Wieso nennen Sie sich eigentlich noch Frauenministerin?
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Böhmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muß zuerst ein Wort an Frau Wolf richten. Ich beglückwünsche Sie, daß Sie aus Bayern kommen; denn kämen Sie aus einem anderen Bundesland, aus Hessen, aus Nordrhein-Westfalen oder aus Hamburg, dann hätten Sie ganz andere Erfahrungen mit der Frauenförderung SPD-regierter Bundesländer gemacht.
— Frau Janz, schauen Sie doch mal nach Hessen: vier Gesetzentwürfe, bis endlich einer eingebracht werden konnte. In Rheinland-Pfalz spitzt die SPD-Kollegin heute noch den Bleistift, um den Gesetzentwurf zwei Jahre nach Regierungsantritt durchzubringen.
In Schleswig-Holstein liegt der Gesetzentwurf drei Jahre auf Eis, bevor er eingebracht wird, und in Nordrhein-Westfalen macht Else Ridder-Melchers das, was sonst immer nur die Männer machen: Sie spricht von der Erhöhung des Frauenanteils insgesamt, nämlich um ganze 5 %, in der Zeit der Frauenförderung. Das, worauf es eigentlich ankommt, nämlich die Erhöhung des Frauenanteils in Spitzenpositionen, beträgt ganze 1,9 %. Seien Sie doch ehrlich: Was hat eigentlich die Frauenförderung in den SPD-Ländern bisher wirklich bewirkt?
Ich begrüße ganz ausdrücklich den Gesetzentwurf der Bundesfrauenministerin. Denn sie bringt diesen Gesetzentwurf in einer Zeit ein, die wahrlich nicht einfach ist — sowohl aus wirtschaftlicher Sicht als auch aus frauenpolitischer Sicht. In einer solchen Zeit brauchen wir aus doppeltem Grund Frauenförderung und ein Gesetz für die Gleichberechtigung der Frauen in der gesamten Gesellschaft.
Zum einen: Frauen dürfen nicht die Manövriermasse am Arbeitsmarkt sein. Die Gefahr ist groß.
Zum zweiten: Die Wirtschaft kann ohne qualifizierte Frauen und ohne Frauen als Konsumentinnen überhaupt nicht existieren.
Dieser Gesetzentwurf knüpft an den Erfahrungen an, die bisher auf Bundesebene gemacht worden sind. Das sind immerhin seit 1986 die Existenz einer Frauenförderrichtlinie und eine Vielzahl von Modellversuchen und wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie knüpft aber auch an den Erfahrungen auf Länderebene und den Erfahrungen der Vielzahl von kommunalen Frauenbeauftragten an, immerhin mehr als 1 256 kommunalen Frauenbeauftragten in der Bundesrepublik, darunter 491 allein in den neuen Bundesländern. Ich denke, das sind Ergebnisse, über die wir sagen können: Hier hat sich Frauenpolitik zu einer institutionalisierten Frauenpolitik hin entwickelt.
Wir sollten an einer zentralen Erfahrung anknüpfen: Maßnahmen der beruflichen Förderung von Frauen reichen allein nicht aus. Wir brauchen unterstützende Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Wir brauchen damit auch einen neuen Weg der Gleichberechtigung. Mit Recht stellt der Gesetzentwurf der Bundesregierung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gleichwertig neben die Frauenförderung. Denn wenn Frauen erleben müssen, daß sie allein auf Grund der Tatsache, daß sie Familie haben, in ihrer beruflichen Leistung geringer bewertet werden und daß sie kaum Aufstiegschancen bekommen, dann ist das eine klare Ungerechtigkeit, die wir ändern müssen.
Frau Dr. Böhmer, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Weyel zu beantworten?
Ja; bitte.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Frau Böhmer, darf ich Ihre Ausführungen dahin gehend verstehen, daß die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch für Väter erwünscht ist?
Voll und ganz, Frau Weyel, denn nur wenn die Väter genauso Vereinbarkeit von Familie und Beruf praktizieren, werden auch
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Dr. Maria BöhmerFrauen wirkliche Chancen für die Gleichberechtigung haben.
Das ist ja auch das, was in dem Gesetzentwurf nicht übersehen werden darf: Die Regelungen gelten für Frauen und für Männer gleichermaßen. Es ist also kein Frauenförderungsgesetz im klassischen Sinne, das sich ausschließlich an Frauen richtet.Ich begrüße ausdrücklich, daß wir eine Verbesserung der Maßnahmen im Bereich der Teilzeitarbeit, der familiengerechten Arbeitszeiten und der Beurlaubung haben und daß wir von Kann-Bestimmungen wegkommen hin zu Rechtsanspruchsregelungen, so daß diejenigen, die Kinder erziehen, die Pflege leisten, ob Frau, ob Mann, in Zukunft hier bessergestellt sein werden. Es ist mir auch ganz wichtig, daß wir zu einem Benachteiligungsverbot im Bereich der Teilzeitarbeit und Beurlaubung kommen.
Lassen Sie mich ein Wort zur Frauenförderung sagen. Ich war, ehrlich gesagt, wirklich gespannt auf den Gesetzentwurf der SPD.
— Jetzt weiß ich es. Als ich ihn in die Hand genommen und durchgelesen habe, da war meine erste Reaktion: Der Entwurf ist Spitze, aber er ist die Spitze der Unverfrorenheit;
denn was Sie hier an Regelungen festschreiben wollen, haben Sie bisher in keinem einzigen SPD-regierten Bundesland zuwegegebracht.
— Sie können es ja mal probieren, wie die Männer in Ihrer Fraktion tatsächlich reagieren, wenn sie sich ernsthaft mit den Vorschlägen auseinandersetzen müssen.
Ich halte dafür, daß Oppositionsarbeit verantwortlich gestaltet wird, d. h. daß Vorschläge in der Fraktion auch diskutiert werden. Sie werden mir nicht weismachen wollen, daß diese Vorschläge mitgetragen würden, wenn Sie in der Regierungsverantwortung ständen.
Der SPD-Gesetzentwurf führt in der Tat in eine Sackgasse; denn Sie ignorieren die Weiterentwicklung der Frauenpolitik im Sinne eines integrierten Ansatzes. Nichts gegen Bürokratisierung dort, wo Sie den Frauen nützt, Frau Wolf; da kann man durchaus überlegen, ob sie am Platz ist. Aber dort, wo Überbürokratisierung zu einer Strangulierung von Eigenverantwortung führt, wo demjenigen kein Raum mehr gegeben wird, der Personalentscheidungen zu treffenhat, die Akzeptanz von Frauenförderung zu erhalten und vor diesem Hintergrund dann wirklich Maßnahmen und Regelungen für Frauen zu treffen, sind Sie, muß ich sagen, auf einem falschen Weg.Ich will einige Marksteine für die Beratungen über das Gleichberechtigungsgesetz der Bundesregierung nennen.Das erste: Wir müssen sehr darauf achten, daß wir verbindliche Regelungen haben;
denn nur verbindliche Regelungen werden den Frauen tatsächlich weiterhelfen, d. h. klare, verbindliche Zielvorgaben setzen und die jeweiligen Dienststellen verpflichten, daß sie eigenverantwortlich diese Zielvorgaben umsetzen.Ich lege großen Wert darauf, daß wir auch die Unterschiede beachten zwischen Dienststellen im Bereich der Post, im Bereich der Ministerien oder auch, wenn ich Beispiele nennen darf, dem Bundesgesundheitsamt und dem Umweltbundesamt. Da sind unterschiedliche Voraussetzungen; da müssen wir die Möglichkeit geben, daß Personalplanung frauenfördernd geschieht, aber an den jeweiligen Ausgangsbedingungen orientiert.
Dazu, Frau Niehuis, brauchen wir starke Frauenbeauftragte.
— Da sind wir uns einig.
Ich habe mit großer Freude gehört, was Frau Wolf gefordert hat. Sie sagte: Das gehört zum Einmaleins der Frauenförderung, und das ist heute Standard. Sie haben gefordert, daß die Frauenbeauftragten gewählt werden. Dazu kann ich Ihnen sagen: Auch wir sind in diesem Bereich dafür, daß es zu einer Wahl der Frauenbeauftragten kommt.
Wir werden das, hoffe ich, gemeinsam erreichen. Aber Sie sollten Ihren Kolleginnen und Kollegen in den SPD-regierten Ländern das ins Stammbuch schreiben, daß auch sie das praktizieren;
denn in Nordrhein-Westfalen, in Hessen und in Hamburg werden die Frauenbeauftragten nicht gewählt; da werden sie bestellt. Wenn Sie, wie ich lese, jetzt fragen, welche Vorstellungen von Demokratie dazu bei der Bundesregierung bestehen, dann müssen Sie diese Frage wohl in erster Linie an diejenigen richten, die ihre Gesetze verabschiedet haben, und das sind Ihre SPD-Kollegen.
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Dr. Maria Böhmer— Ich habe klar gesagt, daß ich für die Wahl bin. Ich vermisse sie nur in den SPD-Länderregelungen.
Denn die Frauenbeauftragte darf keine Alibifunktion haben. Sie muß über wirksame Kompetenzen verfügen. Sie muß klare Aufgabenbeschreibungen haben, und sie muß als Vertreterin von Fraueninteressen angenommen werden. Dafür bietet der Gesetzentwurf die richtigen Voraussetzungen, und wir werden in der Beratung ein Auge darauf haben, daß genau dieser Punkt stimmt.Jetzt muß ich Ihnen aber sagen, daß mich am Gesetzentwurf der SPD noch etwas irritiert. Sie programmieren einen Dauerkonflikt zwischen der Frauenbeauftragten und dem Personalrat oder dem Betriebsrat.
Ist Ihnen das bewußt? Sie lassen die Frauenbeauftragte dadurch im Regen stehen, daß ein Konflikt zwischen Betriebsrat und Personalrat auf der einen und der Frauenbeauftragten auf der anderen Seite entstehen wird. Viele von uns haben ja erlebt, wie heftig sich Personalräte und Betriebsräte gegen Frauenbeauftragte gewehrt haben. Und da wollen Sie das so institutionalisieren? Ich habe damit erhebliche Probleme. Ich las Pressemeldungen, daß man in Hamburg möglicherweise von der Frauenbeauftragten weg und zu quotierten Personalräten hin kommen will; dahinter setze ich mehr als ein Fragezeichen. Mit Recht hat unsere Kollegin in der Hamburger Bürgerschaft gesagt, das sei Unfug. Ich denke, damit hat sie recht.
Ich hoffe, daß Sie in dem Gesetz, das Sie vorhaben und das in die Diskussion kommt, nicht den gleichen Fehler machen. Ich kann Ihnen nur raten, davon Abstand zu nehmen.
Frauenförderung muß ein integrierter Ansatz sein, und so sehe ich ihn im Gesetzentwurf der Bundesregierung angelegt. Wir dürfen keine Sonderwege haben — hier Personalplanung und dort Frauenförderung —, sondern beides muß aufeinander bezogen sein. Ich bin mir sicher, daß wir dann mit diesem Gleichberechtigungsgesetz der Bundesregierung die Frauenförderung in der Tat ein großes Stück voranbringen.Danke.
Das Wort das nunmehr die Abgeordnete Frau Ulrike Mascher.
Sehr geehrte Damen! Liebe Kolleginnen und liebe vereinzelte Kollegen! Die beiden Gesetzentwürfe, die heute vorliegen, das Gleichberechtigungsgesetz der Bundesregierung und das Gleichstellungsgesetz der SPD, müssen sich daran messen lassen, was sie zur Beseitigung bestehender Nachteile für Frauen leisten.Frau Dr. Böhmer, ich kann Sie beruhigen. Wir haben in unserer Fraktion harte Auseinandersetzungen über dieses Gesetz gehabt. Wir haben es sehr wohl auch daran gemessen, daß wir es 1994 verwirklichen wollen.
Wir haben die Erfahrungen aus den verschiedenen Bundesländern aufgegriffen; und es gibt auch Unterschiede zu einzelnen Regelungen in den SPD-regierten Bundesländern, weil wir die dortigen Erfahrungen verwertet und bessere Formulierungen gefunden haben.Ich hätte mir gewünscht, daß die CDU/CSU-Fraktion einen auf ihren Erfahrungen beruhenden eigenen Gesetzentwurf eingebracht hätte. Er wäre vielleicht besser gewesen als der der Frauenministerin, die möglicherweise noch nicht so viele Erfahrungen in Frauenförderung und Frauenpolitik hat.
Es geht also darum, was die Gesetzentwürfe zur Beseitigung bestehender Nachteile leisten. Wir haben ja am 27. Mai in der Gemeinsamen Verfassungskommission beschlossen, daß der Staat verpflichtet sein soll, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen zu fördern und seinen Beitrag zur Beseitigung bestehender struktureller Nachteile zu leisten. Wir werden deswegen das Gesetz der Regierung daran messen, wie ernst sie es mit dieser tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung meint.
Wenn man sich das Gesetz ansieht, wird sofort deutlich, daß es, was die Beseitigung bestehender Nachteile im Erwerbsleben betrifft, leider nur für die Frauen im öffentlichen Dienst des Bundes gilt. Meine Kollegin Hanna Wolf hat schon deutlich gemacht, was für ein winziger Teil von Frauen in der Bundesrepublik das ist. Dabei nutzen in der Praxis bereits viele große Unternehmen der Privatwirtschaft Frauenförderung als wichtiges personalpolitisches Instrument. Viele große Unternehmen haben erkannt, daß es unwirtschaftlich ist, wenn gut ausgebildete und motivierte Frauen das Unternehmen wieder verlassen, weil sie keine Förderung erfahren, weil sie keine Unterstützung bei der Durchsetzung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie erhalten.Nun mag es ja in Zeiten, wo die eigentliche Bestimmung der Frauen wieder in der Familie gesucht werden soll, wo Frauen massenweise ihre Arbeitsplätze verlieren, utopisch erscheinen, von Gleichstellung oder — um den schwächeren Begriff der CDU zu wählen — von Gleichberechtigung zu sprechen und zu versuchen, die massive Benachteiligung von Frauen im Erwerbsleben abzubauen und statt dessen Frauenförderung auf die Tagesordnung zu setzen. Aber angesichts der großen Herausforderungen in der Zukunft können wir es uns nicht länger leisten, darauf zu verzichten, weitere Generationen von gut ausge-
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Ulrike Mascherbildeten Frauen, die in immer stärkerem Maße eine Erwerbstätigkeit wünschen — nach einer Untersuchung des Allensbacher Instituts sind es immerhin 74 % der Frauen in Ost und West —, in untergeordneten Positionen ohne die Chance einer beruflichen Entwicklung festzunageln. Deswegen schlägt die SPD in ihrem Gesetzentwurf vor, Frauenbeautragte und verbindliche Frauenförderpläne auch für die private Wirtschaft zu nutzen, um den sehr unterschiedlichen Versuchen in einzelnen Unternehmen einen gesetzlichen Rahmen zu geben.
Darüber hinaus wollen wir mit einer Reihe von Ergänzungen des Betriebsverfassungsgesetzes und durch die Nutzung des Betriebsrates als Instrument der Frauenförderung weitere Fortschritte erreichen. Auch da gibt es bereits positive Erfahrungen mit Frauenausschüssen, die versuchen, die vorhandenen Rechte des Betriebsrates bei der Personalplanung oder bei der betrieblichen Fort- und Weiterbildung zu nutzen. Unser Gesetzentwurf beruht auf Erfahrungen und Vorschlägen von Frauen in den Gewerkschaften, in Betriebsräten und Personalräten. Frau Dr. Böhmer, den von Ihnen befürchteten Konflikt sehe ich nicht. Ich habe hier als Betriebsratsvorsitzende positive Erfahrungen gemacht. Ich denke, die Betriebs- und Personalräte werden mit den Frauenbeauftragten gut und konstruktiv zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen.
Nun höre ich schon die uns Frauen ja bis zum Überdruß bekannten Argumente der Vertreter des entschiedenen „Weiter so wie bisher". Es gibt das Uraltargument: Frauen wollen ja gar nicht. Glauben Sie denn wirklich, daß Frauen, die gut ausgebildet und motiviert sind, freiwillig auf den schlechter bezahlten und weniger attraktiven Posten sitzenbleiben? Glauben die männlichen Traditionsvertreter, daß Frauen wirklich kein Interesse an beruflicher Fort- und Weiterbildung haben? Die Bildungsabschlüsse von Mädchen und Frauen sprechen dagegen. Aber nach wie vor gibt es den frauentypischen Karriereknick nach den guten Schul- und Ausbildungsabschlüssen mit den negativen Folgen für Berufschancen, Einkommen und Altersrente.Wir wollen mit gezielten Fördermaßnahmen, die auch die Familiensituation berücksichtigen, d. h. der Absicherung von Teilzeitarbeit und der Möglichkeit von Teilzeitarbeit in Führungspositionen, Frauen mehr Berufschancen eröffnen. Ich kenne als Betriebsratsvorsitzende das Dinosaurierargument: Führung ist unteilbar. Großes Ausrufezeichen dahinter! Aber auch dieses Argument hält der Wirklichkeit nicht stand. Führung in einem Unternehmen findet ja nicht durch pausenlose Präsenz oder gar persönliche Kontrolle statt, sondern durch das Setzen von Zielen, durch Motivation und durch intelligente Delegationsverfahren. Ich denke, Frauen können das sehr gut.
Nun höre ich ferner das Argument: Wirklich qualifizierte Frauen brauchen und wollen keine Quote.Frau Funke-Schmitt-Rink hat schon darauf hingewiesen.
Außerdem sei sie nicht verfassungskonform. Die Frage der Zulässigkeit hat der frühere Verfassungsrichter Ernst Benda mit seinem großen Gutachten hinreichend geklärt. Ich betone hier noch einmal ausdrücklich, daß es im Entwurf der SPD um leistungsbezogene Quoten geht. Auf solche leistungsbezogenen Quoten als Instrument verbindlicher Frauenfördermaßnahmen kann vorläufig nicht verzichtet werden. Nur mit Goodwill-Appellen, Frau Funke-Schmitt-Rink, an wohlgesonnene Männer werden wir nichts erreichen.
Die Politik der Samtpfoten ist, glaube ich, gescheitert. Die Situation der Frauen in Ostdeutschland zeigt es mit aller Brutalität.Das letzte Killerargument, wenn es um gezielte Frauenförderpläne geht, ist das Argument der schwierigen Zeiten: Jetzt können wir uns Frauenförderung doch nicht leisten; jetzt, wo die Arbeitsplätze im Osten für Frauen verlorengehen, haben Frauenfördermaßnahmen doch wirklich keinen Stellenwert.In unserem Gesetzentwurf werden Frauen bei Massenentlassungen und bei Sozialplänen wesentlich besser gestellt. Arbeitsförderungsmaßnahmen müssen endlich entsprechend dem leider viel zu hohen Anteil von Frauen unter den Arbeitslosen gefördert werden. Das nützt den Frauen in den neuen Bundesländern. Die Unternehmen und Betriebe brauchen die motivierten und qualifizierten Frauen. Frauenförderpläne schaffen dazu die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Frauenbeauftragte helfen Frauen und Betriebs- und Personalräten, Gleichstellung und Gleichberechtigung durchzusetzen. Ich denke, unser Gesetzentwurf ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich freue mich schon darauf, Frau Dr. Böhmer, wenn wir ab 1994 dieses Gesetz in der Praxis erproben können.Danke.
Meine Damen und Herren, ich erteile zu einer Zwischenbemerkung nach § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung unserem Kollegen Dr. Rudolf Karl Krause das Wort.
Erstens. Frauen in der DDR waren vor allem im produktiven Bereich beschäftigt.Zweitens. Zwei Drittel der Hochschul- und Fachschulabsolventen seit 1971 waren Frauen. Die Frauen in der DDR waren damit mindestens in ganz Europa die höchstqualifizierten Frauen vor allem im technischen und produktiven Bereich.
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Dr. Rudolf Karl Krause
Drittens. Der Dienstleistungsbereich in den neuen Bundesländern ist abgesichert: Umschulungen von Frauen in diesem Bereich führen nicht mehr zu Neueinstellungen.Viertens. Frauen haben vor allem in Branchen gearbeitet, die heute durch Billigimporte aus Billiglohnländern überschwemmt und mehr als abgedeckt werden.Fünftens. Wir müssen, wenn wir das Ziel der Vollbeschäftigung, besser: der Wiedervollbeschäftigung unserer Frauen in den neuen Bundesländern und darüber hinaus in ganz Deutschland ernsthaft ins Auge fassen, daran denken, wie sie wieder im produktiven Bereich tätig werden können. Das heißt, man kann die These aufstellen und darüber reden: Schutzzölle mit oder Freihandel ohne Vollbeschäftigung unserer Frauen. Eines von beiden ist nur möglich.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt unsere Kollegin Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! — —
Frau Kollegin Eichhorn, warten Sie einen Augenblick. Ich möchte noch einmal allgemein sagen: Es gibt hier hin und wieder Schwierigkeiten mit dem Pult. Sie können das Pult alle selbst bedienen. Vorn ist eine rote Taste, die Ihnen das Pult in die gewünschte Höhe stellt, wenn das nicht durch die Technik automatisch erfolgt ist.
Vielen Dank, Herr Präsident. Wir müssen uns erst an das neue Haus und seine Gepflogenheiten gewöhnen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern hat sich in den verschiedenen Lebensbereichen immer noch nicht durchgesetzt. Deswegen meinen über 60 % der Deutschen zu Recht, man müsse mehr für die Gleichberechtigung tun.Die Einbringung des Zweiten Gleichberechtigungsgesetzes ist ein weiterer Schritt zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern in der Gesellschaft. Es soll zur Beseitigung von Benachteiligungen beitragen.Trotz vielfacher Verbesserungen sind auch heute noch Familie und Berufstätigkeit schwer miteinander zu vereinbaren. Frauen sind vorwiegend auf den unteren Funktionsebenen beschäftigt und in Leitungsfunktionen unterrepräsentiert. In qualifizierten Bildungsgängen beträgt der Frauenanteil mittlerweile fast 50 %. Sie schneiden dort auch immer hervorragend ab, wie wir heute schon gehört haben.Diese Entwicklung setzt sich bisher bei den beruflichen Ein- und Aufstiegsmöglichkeiten von Frauen nicht in gleichem Maße fort. Ursache dafür sind die spezifischen Lebensumstände von Frauen. Bewußtseinsbildung ist wichtig, aber sie reicht allein nicht aus. Deswegen hat der Staat die Aufgabe, durch seine Rahmengesetzgebung darauf hinzuwirken, daß neben die rechtliche auch die tatsächliche Gleichberechtigung tritt.Das Zweite Gleichberechtigungsgesetz verzichtet auf dirigistische Maßnahmen wie die Quotenregelung. Es ist heute schon einiges dazu gesagt worden. Durch flexible Zielvorgaben wird der Anteil der Frauen bei der Einstellung und dem beruflichen Aufstieg erhöht, soweit sie in einzelnen Bereichen unterrepräsentiert sind, und zwar genau bezogen auf die jeweilige Situation des Berufes.Zur Erreichung dieses Ziels dienen auch die Vorschriften zur Fortbildung, wonach Beschäftigten mit Familienpflichten geeignete Fortbildungsmöglichkeiten angeboten werden sollen. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt für die Aufstiegschancen von Frauen.
Besonders hervorzuheben ist die ausdrückliche Berücksichtigung von Erfahrungen und Fähigkeiten aus ehrenamtlicher Tätigkeit im Sozialbereich und der Familienarbeit als Qualifikationsmerkmal,
soweit diese Qualifikationen für die zu übertragenden Aufgaben von Bedeutung sind. Es ist auch nicht einzusehen, warum jemand, der jahrelang seine Mutter, seinen Vater gepflegt hat, in einem artverwandten Beruf diese Fähigkeiten nicht anerkannt bekommen sollte.
Gleichwertiges Gesetzesziel ist die Erweiterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer. Die verstärkte Förderung der Teilzeitarbeit gilt insbesondere auch für Stellen mit Leitungs- und Führungsaufgaben. Aus der bisherigen Kann-Bestimmung über die Bewilligung von Teilzeit und Beurlaubung aus familiären Gründen wird ein grundsätzlicher Rechtsanspruch der Betroffenen. Die häusliche Pflege wird in Zukunft in gleichem Umfang im Dienstrecht berücksichtigt wie bisher schon die Zeiten der Kinderbetreuung.In der Wirtschaft werden zunehmend Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten während der Beurlaubungszeit zur Erleichterung des Wiedereinstiegs angeboten, ebenso Urlaubsvertretungen. Eine Sparkasse aus meinem Heimatbereich praktiziert dieses Modell seit einigen Jahren mit sehr großem Erfolg.
Das vorliegende Gesetz greift diesen Gedanken auf und fordert von den Dienststellen eigene Initiativen, um den aus familiären Gründen beurlaubten Beschäftigten das Kontakthalten zum Beruf und die berufliche Wiedereingliederung zu erleichtern. Ich denke, wenn wir von dem Grundsatz der Wahlfreiheit, den wir ja nachhaltig vertreten, ausgehen, ist dieser Gesichtspunkt ein ganz, ganz wichtiger.
Dazu möchte ich noch eines anfügen: Vereinbarkeit von Familie und Beruf betrifft nicht nur Frauen, sondern ist eine Aufgabe, die nur von Männern und Frauen gemeinsam zu lösen ist.
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Maria EichhornViel versprechen wir uns von Art. 12 des neuen Gesetzes. Er regelt die Besetzung von Gremien im Einflußbereich des Bundes. Der zu Beginn der Legislaturperiode von Frauenministerin Angela Merkel vorgelegte Gremienbericht hatte festgestellt, daß der Anteil von Frauen in über tausend Gremien im Einflußbereich des Bundes lediglich 7,5 % beträgt. In mehr als der Hälfte dieser Gremien ist keine einzige Frau vertreten. Langjährige Appelle an die Verbände und staatlichen Stellen, bei der Besetzung von Gremien verstärkt Frauen zu berücksichtigen, blieben fast immer erfolglos. Die Mitwirkung in Beratungs- und Entscheidungsgremien ist aber Voraussetzung dafür, auf die Gestaltung der Gesellschaft Einfluß nehmen zu können. Solange Frauen dort kaum beteiligt sind, ist die gleichberechtigte Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben nicht verwirklicht. Zukünftig — das ist sehr zu begrüßen — müssen alle vorschlagsberechtigten Stellen — Verbände, Gruppen, Organisationen und Behörden —
für jede zu besetzende Position jeweils eine Frau und einen Mann mit entsprechender Eignung vorschlagen. Zwingende Abweichungen von diesem Verfahren sind schriftlich darzulegen.Vorbild für diese Regelung sind ähnliche Vorschriften in Dänemark und Belgien. In Dänemark wurde auf diesem Wege in nur eineinhalb Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes der Frauenanteil in öffentlichen Gremien auf über 30 % fast verdoppelt. Auch ohne starre Quote wurden hier erhebliche Verbesserungen erreicht.Das von der SPD gepriesene hessische Gleichberechtigungsgesetz ist in der Frage der Gremienbesetzung bedeutend unverbindlicher.
Es sieht weder eine Begriffsbestimmung noch Verfahrensregelungen mit verbindlichen Vorgaben für vorschlagsberechtigte Stellen vor und läßt damit seine gesetzgeberischen Möglichkeiten in diesem Punkt völlig ungenutzt.Die vorliegenden gesetzlichen Regelungen des Zweiten Gleichberechtigungsgesetzes betreffen die verschiedenen Bereiche der Bundesverwaltung. Sie werden jedoch mit Sicherheit auch Auswirkungen auf Länder und Kommunen haben. Zugleich wird dieses Gesetz Vorbild für die Wirtschaft sein.Manchen, meine Damen und Herren, geht diese Gesetzesvorlage nicht weit genug, andere befürchten genau das Gegenteil. Sicher werden sich bei der Beratung in den Ausschüssen noch Änderungen ergeben. Wir sehen den vorliegenden Gesetzentwurf als einen weiteren wichtigen Schritt für die tatsächliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Ich bitte Sie alle um Ihre Mithilfe, damit wir weiter vorankommen.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist unsere Frau Kollegin Dr. Marliese Dobberthien.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Altbekannt sind die Klagen: „Frauen sind unterrepräsentiert und werden nicht berücksichtigt! ", altbekannt die Ausflüchte, man wolle ja gerne Frauen für Ämter vorschlagen, aber leider gebe es gerade keine qualifizierte Frau, oder den einzigen Posten könne man nun wirklich nicht quotieren. Das Resultat dieser Denkweise ist auch altbekannt: Frauen in Gremien, in öffentlichen Ämtern und in Leitungsfunktionen sind Exotinnen zwischen Nadelstreifenherren, sind die bunte Blume unter den vielen graublauen Bedenkenträgern, sind die begehrte Tischpartnerin und Stichwortgeberin in Männergremien. Resultat: Kaum ein Gremium, sei es in Kunst oder Kultur, sei es in Medien oder Management, wird von Frauen geleitet.
Der Bericht der Bundesregierung über die Berufung von Frauen in Gremien, Ämter und Funktionen vom Mai 1991 mußte zugeben, daß Frauen nach wie vor unterrepräsentiert sind.
Frau Kollegin Dobberthien, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?
Ja, bitte schön.
Bitte sehr, Kollege Dr. Hitschler.
Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, ob Sie heute morgen die Präsidentin des Bundesrechnungshofes mit Ihrer Stimme mitgewählt haben?
Die Wahl war zwar geheim, aber ich will es Ihnen dennoch verraten: Ich habe sie mitgewählt. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Der durchschnittliche Frauenanteil in den Gremien lag nach dem Bericht der Bundesregierung bei 7,2 %. Auf 16 000 Gremienangehörige kamen dürftige 1 000 Frauen. In mehr als der Hälfte der untersuchten Gremien fand sich überhaupt keine Frau. Lediglich in acht Gremien waren Frauen paritätisch vertreten.Dabei wären Änderungen so einfach. Man hätte schlicht und simpel politisch an Frauen denken müssen, als die Vorschlagslisten entstanden; denn Frauen können und wollen mehr als den Haushalt führen und den müden Göttergatten trösten, aber darauf muß „Mann" erst kommen.Klagen, Bitten, Appelle, Argumente zugunsten einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen waren bisher nicht sonderlich erfolgreich. Auch wohlklingende Sonntagsreden haben keine Besserung ge-
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Dr. Marliese Dobberthienbracht. Ich wage zu prognostizieren: Das freundliche Flehen Ihres Gesetzes, Frau Merkel, wird auch nicht den Durchbruch bringen. So gestehe ich: Mein Vertrauen in das Einsichtsvermögen von vorschlagsberechtigten Männern für weibliche Gleichberechtigung nimmt proportional zu der Dauer meiner politischen Tätigkeit ab.
Frau Merkel, Ihre heutige Rede zeigt, daß Sie bereits vor der Verabschiedung Ihres Gesetzes eine Schere im Kopf haben. Sie wollen — so haben Sie gesagt — das Rechtssystem nicht überfordern. Wäre es nicht ehrlicher gewesen, zu sagen, Sie wollten die Männer Ihrer Fraktion nicht überfordern? Herr von Stetten hat uns hier ein eindrucksvolles Negativbeispiel geliefert.
Und Frau Funke-Schmitt-Rink, Sie drücken beredt aus, daß F.D.P.-Frauenpolitik niemandem wehtun will und Männer- und Wirtschaftsinteressen weiterhin über die Frauenförderung triumphieren. Ich erinnere: Schon vor 13 Jahren hat die F.D.P. die damals von uns gewünschte Umkehr der Beweislast bei Diskriminierung verhindert. An dieser Haltung hat sich bis heute nicht die Bohne geändert. Deswegen steht Frau Merkel hinsichtlich der Frauenförderung in der Privatwirtschaft heute doch mit fast leeren Händen da. Mehr Frauensolidarität wäre förderlich gewesen.
Meine Herren aus Regierung und Koalition, glauben Sie mir: Ich wäre froh, wir kämen ohne Quote aus.
Aber in Wahrheit existieren jede Menge Quoten, z. B. nach landsmannschaftlicher Herkunft, nach konfessioneller Zugehörigkeit oder nach ideologischer Ausgewogenheit.
Es gibt in dieser Republik eine extreme Männerquote: kein Gremium ohne männliche Dominanz. Damit wollen wir endlich Schluß machen.
Wir Frauen müssen darauf drängen, weniger Sprüche und dafür mehr gesetzliche Verbindlichkeit zu erhalten. Wir wollen uns nicht weitere 40 Jahre lang mit freundlichen Appellen begnügen. Die Ausgrenzungspolitik gegen Frauen muß aufhören.
Wenn man und frau der Auffassung ist, daß es kein Grundrecht auf ein Patriarchat gibt, wirkt Ihr unverbindliches Gesetz, Frau Merkel, eher rührend als überzeugend. Schon vor zehn Jahren haben wir so diskutiert wie Sie. Aber unsere Hoffnung auf Besserung wurde enttäuscht. Ein „bitte, bitte" ersetzt keine Gleichberechtigungspolitik.Für wen die Einbeziehung von Frauen in das öffentliche Leben nicht nur eine Frage der Gleichberechtigung, sondern auch der demokratischen Partizipation ist, der muß wirksame Gesetze schaffen.
Denn Demokratie kann nicht gedeihen, wenn die größere Hälfte der Bevölkerung ausgegrenzt wird.Geben Sie Frauen also eine Chance, per Quote und intelligenter Detailregelung wie im SPD-Entwurf. Ohne Quote gibt es keinen Fortschritt; ohne Gleichstellungsgesetz keine demokratische Kultur!Danke schön.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/5468 und 12/5717 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dafür anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend zum Antrag der Fraktion der SPD zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Das sind die Drucksachen 12/2096 und 12/4409. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wir stimmen über diese Beschlußempfehlung ab. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen das übrige Haus angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7 auf:a) — Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes— Drucksache 12/2505 —
— Zweite und Dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Conradi, Achim Großmann, Dr. Eckhart Pick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes— Drucksache 12/1856 —
Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
— Drucksache 12/5639 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Eckhart PickDr. Wolfgang Freiherr von Stetten Burkhard Zurheide
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Vizepräsident Helmuth Becker— Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMaßnahmen zur Begrenzung des Mietpreisanstiegs, zur Erweiterung des Kündigungsschutzes und zur Erhaltung des Bestands an Mietwohnungen— Drucksachen 12/3291, 12/5639 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Eckhart PickDr. Wolfgang Freiherr von Stetten Burkhard Zurheideb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dieter Maaß , Achim Großmann, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFörderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus— Drucksache 12/4301 —Oberweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Finanzausschußc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Iwersen, Achim Großmann, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWohnungslosigkeit — Obdachlosigkeit und Wohnungsnotfälle in der Bundesrepublik Deutschland und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung— Drucksache 12/5250 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Seniorend) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Otto Reschke, Peter Conradi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFür einen Wechsel in der Wohnungspolitik — Drucksache 12/5578 —Überweisungsvorschl ag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
FinanzausschußAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendHaushaltsausschuße) Erste Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Erhalt und zur Schaffung dauerhaft gebundener kommunaler Mietwohnungen in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/4932 — Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
RechtsausschußHaushaltsausschuß mitberatendund gemäß § 96 GONach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wenn wir Ruhe hergestellt haben, möchte ich gern die Aussprache eröffnen.
— Wir kehren zurück zur Männergesellschaft.Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat nunmehr der Kollege Dieter Maaß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist höchste Zeit für einen Wechsel in der Wohnungspolitik. Seit über zehn Jahren trägt diese Regierung, gestützt von den Koalitionsparteien, die Verantwortung für den Wohnungsbau. Das Ergebnis: Mehr als 2,5 Millionen Wohnungen fehlen, bezahlbarer Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung steht nicht mehr zur Verfügung. Ein Wohnungsmarkt besteht für diese Einkommensgruppe praktisch nicht mehr.Die von uns Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag eingebrachten Vorschläge zur Beseitigung der größten Wohnungsnot haben Sie, meine Damen und Herren, abgelehnt oder einfach ignoriert. Ich nenne Beispiele: Ankurbelung des sozialen Wohnungsbaus durch die Förderung von mindestens 200 000 Wohnungen pro Jahr in den kommenden zehn Jahren; eine einkommensunabhängige Eigenheimförderung, die auch Normalverdienern die Möglichkeit bietet, Wohnungseigentum zu schaffen — dazu gehört u. a. ein deutlich erhöhtes Baukindergeld; eine Überprüfung der steuerlichen Abschreibungspraxis mit dem Ziel, den Bau von Mietwohnungen statt Luxusbauten und Luxussanierungen zu fördern; eine Baulandgesetzgebung, die Spekulationsgewinne durch die Rückhaltung baureifer Grundstücke verhindert. Bundeseigene Liegenschaften müssen den Kommunen zudem preiswert für die Schaffung von Wohnraum zur Verfügung gestellt werden.
Die derzeitige steuerliche Förderung von selbstgenutzten Eigenheimen und Eigentumswohnungen ist sozial ungerecht und wenig wirksam. Sie belastet zudem den deutschen Steuerzahler mit ca. 7 Milliarden DM jährlich. Der Staat fördert den Hausbau eines Spitzenverdieners doppelt so hoch wie den Bau des gleichen Hauses eines Bauherrn mit einem mittleren Einkommen. Familien mit dem Einkommen eines Facharbeiters, eines Polizei- oder Postbeamten oder dem ähnlicher Berufe, können nicht bauen, weil die Förderung zu gering ist. An den Familien in Ost-
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Dieter Maaß
deutschland mit ihrem niedrigen Einkommen geht die derzeitige Förderung völlig vorbei.
Dies führt zu dem Ergebnis, daß die Schaffung von Wohneigentum in den alten Bundesländern zurückgeht und in den neuen Bundesländern nicht vorankommt. Wie können Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, eine solche Politik eigentlich mittragen? Die, die Sie gerne von der Vermögensbildung breiter Bevölkerungsschichten reden, sehen tatenlos zu, wie eine sozial gerechte Vermögensbildung im Wohnungsbau nicht mehr stattfindet.
Wir Sozialdemokraten — das möchte ich an dieser Stelle anmerken — haben unsere Regierungsverantwortung bis 1982 besser genutzt.
Unter unserer Regierungsverantwortung wurden im Durchschnitt pro Jahr 140 000 Sozialwohnungen fertiggestellt,
unter Kanzler Kohl nur noch 70 000, Herr Dr. Kansy. Bei uns war die Wohnungsnot praktisch beseitigt. Die Wohnungsversorgung war so gut gelöst, daß die nachfolgende konservativ-liberale Bundesregierung meinte, gar keine Wohnungsbaupolitik mehr machen zu müssen.Das Ergebnis kennt jeder in diesem Land: Sie waren nicht einmal willens und fähig, die Einkommensgrenzen zu erhöhen, damit normal verdienende Bürger in unserem Land einen Wohnberechtigungsschein bekommen, um in Sozialwohnungen einziehen zu können.
Sie haben die Einkommensgrenzen seit zehn Jahren unverändert gelassen mit der Folge, daß der Bauarbeiter, der das Haus baut, keine Möglichkeit hat, darin zu wohnen. Für den sozialen Wohnungsbau ist sein Einkommen zu hoch, für den freifinanzierten ist es zu gering. Die Anhörung von Experten zu dieser Frage am 20. September 1993 hat ergeben: Eine Mehrheit der Sachverständigen ist für eine Anhebung der Einkommensgrenzen.Uns Sozialdemokraten reicht es nicht, die Regierung nur zu kritisieren. Wir machen auch in allen Teilbereichen, die den Wohnungsbau betreffen, Vorschläge. Deshalb möchte ich zu unserem Antrag „Förderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus" — Drucksache 12/4301 — noch einige Anmerkungen machen. Wir bringen diesen Antrag heute ein, um den Wohnungsgenossenschaften die Möglichkeit zu eröffnen, für ihre Mitglieder Wohnungsbau zu betreiben, der dem selbstgenutzten Wohnungseigentum nahekommt. Während Sie finanzstarke Wohnungsunternehmen bzw. private Geldanleger hofieren und dafür vom Steuerzahler aufgebrachte Milliardenbeträge an Anreizen gewähren, machen wir Sozialdemokraten Vorschläge, Wohnungsbau über mittelbares Eigentum zu fördern.
Bürgerinnen und Bürger mit normalem Einkommen, die durch ihre Arbeitsleistung fast alles in diesem Land bezahlen, haben keine Möglichkeit, Sozialwohnungen zu beziehen. Der Grund dafür — ich sagte es eben schon — sind die nicht angepaßten Einkommensgrenzen. Selbst Löhne und Gehälter in den unteren Tarifgruppen liegen über den zulässigen Grenzen für die Wohnberechtigung. Darum schlagen wir vor, eine steuerliche Förderung für Mitglieder von Wohnungsbaugenossenschaften gesetzlich zu verankern. Es geht darum, mittelbares Eigentum gleichrangig mit der Bildung individuellen Wohneigentums zu fördern.
Darüber hinaus macht es die derzeitige Wohnungsnot dringend erforderlich, neue Anreize zu schaffen, damit privates Kapital in den Wohnungsbau fließt. Durch die Zeichnung von Sondergeschäftsanteilen oder die Gewährung von zinsgünstigen Darlehen des Mitglieds an seine Wohnungsbaugenossenschaft stehen dieser zusätzliche Mittel für den Wohnungsbau zur Verfügung. Die finanzielle Beteiligung des Mitglieds soll entweder durch Kürzung der Steuerschuld erfolgen oder als Abzug im Rahmen der Sonderausgaben gefördert werden.Mit unserem Antrag wollen wir auch erreichen, daß gerade junge Familien mit Kindern ausreichenden Wohnraum erhalten. Eine familienspezifische Komponente, vergleichbar mit dem Baukindergeld, sollte die Förderung ergänzen.
Allein die Tatsache, daß die meisten Familien erst Wohneigentum schaffen können, wenn die Kinder erwachsen sind, macht diese Überlegung notwendig.Nach dem Erwerb einer auf diese Weise finanzierten Wohnung wird ein Dauernutzungsvertrag abgeschlossen, der auch vererbbar ist.
Für sehr wichtig halten wir auch die Unterstützung der Wohnungsgenossenschaften in den neuen Bundesländern. Hier sollte die Bundesregierung Möglichkeiten schaffen und sie bei folgenden Aufgaben unterstützen: rechtliche und finanzielle Sicherung der bestehenden Wohnungsgenossenschaften durch eine schnelle Übertragung des Eigentums von Grund und Boden, Privatisierung der auf die Treuhandanstalt übergegangenen Werkswohnungen ehemaliger
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Dieter Maaß
Staatsbetriebe durch die Schaffung bzw. Gründung neuer Wohnungsgenossenschaften,
Privatisierung von Teilen kommunaler Wohnungsbestände durch genossenschaftliche Lösungen — sogenannte Bewohnergenossenschaften —, soweit die Mieter dies wünschen. Gerade in den neuen Bundesländern sollte der Genossenschaftsgedanke mit dazu beitragen, Wohneigentum einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen, um die Wohnungsmisere beseitigen zu helfen.
Auch die Lösung der Altschuldenfrage war eine Forderung in unserem Antrag. Sie ist mit der bereits gefundenen Regelung erledigt.Die vielfältigen Erfahrungen auf den Gebieten der Finanzierung neuer Wohnungen, bei der Verwaltung von Wohnraum sowie der Instandhaltung und Modernisierung des vorhandenen Wohnungsbestandes der Genossenschaften haben gezeigt, daß eine Förderung durch Programme der Bundesregierung dringend notwendig erscheint. Es gilt darüber hinaus, die Erfahrungen und Kenntnisse bestehender Genossenschaften zu nutzen.Förderung von genossenschaftlichem Wohneigenturn muß stets von der Erkenntnis getragen sein, daß der Mitbesitz an genossenschaftlichem Eigentum immer auch das Recht einschließt, demokratisch über die Geschäftspolitik der Genossenschaft mitzubestimmen. Es gilt dieses Recht im Sinne unserer demokratischen Grundordnung zu stärken. Deshalb, meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktionen: Stimmen Sie unserem Antrag „Förderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus" zu!Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Dietmar Kansy.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen fand in der Bremer Landesvertretung ein parlamentarischer Abend des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft statt. In seiner Begrüßungsansprache mahnte Bürgermeister Wedemeier alle politischen Kräfte in Deutschland, der Versuchung nicht nachzugeben, die Wohnungs- und Mietenpolitik in Wahlkampfatmosphäre zu betreiben.Herr Kollege Maaß, ich bedanke mich; Sie haben es nicht getan. Ich will es auch nicht tun.Denn, so sagte Wedemeier, nach dem Hamburger Debakel schadeten sich die Parteien nur selbst, wenn sie in ihren unterschiedlichen Verantwortungen in Bund, Ländern und Gemeinden jeweils die Schuld beim anderen suchten, statt offen die Probleme auf den Tisch zu legen und zu lösen.
Wahrheit ist: Bund, Länder und Gemeinden geben zur Zeit an der Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit jährlich eine zweistellige Milliardensumme für die Förderung des Wohnens in sehr unterschiedlicher Weise aus
und haben damit im übrigen ja auch beachtliche Erfolge erzielt.Bitte reden wir doch nicht immer nur schlecht. Wenn wir in diesem Jahr zum erstenmal in Westdeutschland wieder mehr als 400 000 neue Wohnungen fertigstellen werden und in Ostdeutschland nach der Konzentration der ersten drei Jahre zur Bestandssicherung und Modernisierung auch in diesem Jahr eine Verdoppelung der Zahl der Baugenehmigungen und eine wahrscheinliche Fertigstellung von 50 000 Wohnungen haben werden — ich weiß, daß das nach wie vor zu niedrig ist —, dann ist das doch auch ein Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen in Bund, Ländern und Gemeinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich sehe wirklich wenig Sinn, wenn wir die alten Rituale fortsetzen, daß die jeweiligen Oppositionsparteien in Bund, Ländern und Gemeinden die jeweiligen Regierungen grundsätzlich madig machen, obwohl Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam Verantwortung für die Wohnungspolitik tragen und sehr oft die Machtverhältnisse in Bund und Ländern umgekehrt sind.Notwendig ist — ich wiederhole, was ich im Ausschuß gesagt habe — wenigstens ein Mindestkonsens in der Wohnungspolitik und ein Ende der gegenseitigen Schuldzuweisungen, weil wir als demokratische Parteien sonst auch auf diesem Politikfeld gemeinsame Verlierer sein werden.
Ich bitte deswegen um Verständnis, daß sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zwar mit Ihren Anträgen auseinandersetzt, in der vorliegenden Form aber keinen annehmen kann, wenn wiederholt, ja fast ständig neben der Suche nach neuen Konzepten und zukunftsorientiertem Handeln dieses Schuldzuweisungsspiel weiterbetrieben wird.Ich sage das als jemand, der in Bonn, im Bund Verantwortung hat. Wir können keine Anträge von Ihnen unterstützen, in denen Ihnen nichts Besseres einfällt, als neue Milliardenbeträge vom Bund zu fordern.Alle Ministerpräsidenten der ost- und westdeutschen Länder waren sich bewußt, daß sich der Bund beim FKP, also bei dem finanziellen Programm des Solidarpakts, bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit verausgabt hat. Wenn man dem Bundesfinanzminister überhaupt einen Vorwurf machen kann — wir unterstützen ihn ja alle —, dann den, daß er insbesondere den Interessen der westdeutschen Länder zu weit
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Dr.-Ing. Dietmar Kansyentgegengekommen ist, die nur einen beschämend kleinen Anteil der Kosten und Verpflichtungen der deutschen Einheit übernommen haben.
Wenn ich dennoch Verständnis dafür habe, daß Landesregierungen oder Kommunen sagen, wegen der angespannten Haushaltslage könne man keine weitere Verstärkung der staatlichen Wohnungsbaumittel vornehmen, dann gilt das aber bitte schön auch für den Bund, wenn wir ehrlich sind.
Unsere Aufgabe, Herr Großmann — ich möchte sogar sagen: unsere gemeinsame Bringschuld als Wohnungspolitiker —, ist es deswegen, nach Möglichkeiten zu suchen — da haben Sie recht —, mit den begrenzten öffentlichen Mitteln sozial treffsicherer umzugehen, aber auch die Bereitschaft privater Investoren zu stärken, Geld in den Wohnungsbau zu stecken.
Herr Dr. Kansy, gesatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Maaß?
Da ich sicher bin, Herr Präsident, daß Sie die Uhr angehalten haben, sage ich ja.
Bitte sehr, Kollege Maaß.
Herr Dr. Kansy, sind Sie bereit, zuzugeben, daß auch die Länder und die Gemeinden Aufbauhilfe für die neuen Bundesländer leisten und nicht nur der Bund?
Ich bin bereit, das zuzugeben. Es ist aber so, daß wir als Bund dreiviertel aller staatlichen Vereinigungsleistungen aus dem Bundeshaushalt zahlen und daß der Bundeskanzler in dem Gespräch mit den Ministerpräsidenten — ohne daß dem widersprochen wurde — klargemacht hat, daß mit der Zustimmung des Bundes, dreiviertel der Kosten zu übernehmen, in vielen vernünftigen Bereichen — von der Städtebauförderung über den sozialen Wohnungsbau bis zum Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und vielen anderen Maßnahmen — unsere Tischdecke in Bonn zu Ende ist.
Dies bitte ich dann auch in Fachdebatten zu respektieren und nicht nach dem allgemeinen Konsens — bei dem sich die Ministerpräsidenten anschließend die Hände gerieben haben, wie billig sie in Bonn weggekommen sind — in den jeweiligen Fachbereichen neue Anträge zu stellen. Das ist keine seriöse Politik.
Zu den Wahrheiten, von denen ich sprach und die es nicht nur hinter verschlossenen Ausschußtüren und bei Wohnungsbaukongressen, wo Fachleute sitzen, auszusprechen gilt, sondern auch im Deutschen Bundestag, vor Fernsehkameras gehört, daß die Mehrheit der Deutschen mit Wohnraum gut versorgt ist — mit den bekannten Abstrichen in den neuen Bundesländern —, während aber eine zunehmende Minderheit trotz des milliardenschweren Einsatzes des Staates durch die Maschen unserer Förderungssysteme fällt.
Dazu gehören insbesondere alle, die aus unterschiedlichen Gründen eine Wohnung neu suchen müssen.
Wenn sie überhaupt auf Anhieb eine Wohnung finden, bezahlen sie sichtbar mehr Miete als der closed shop der Wohnungsinhaber, die ihre Privilegien auf Kosten der Steuerzahler lautstark verteidigen.
Dies, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist ein typisches Merkmal der sogenannten Zweidrittelgesellschaft. Und viele ihrer Vorschläge entpuppen sich bei näherer Betrachtung und fachlicher Prüfung als Vorschläge zur Zementierung dieser Zweidrittelgesellschaft und nicht zu deren Überwindung.
Denn was bedeuten z. B. die ständigen neuen Vorstöße zur Mietbegrenzung? Bei begrenzten staatlichen Mitteln verlieren private Investoren mehr und mehr die Lust, in den Wohnungsbau zu investieren. Es gibt weniger Neubauten.
— Zig Anträge haben Sie in diesem Jahr bereits zum Mietrecht eingebracht, Herr Kollege Großmann.
Herr Kollege Dr. Kansy, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja, aber erst, wenn ich diesen Gedanken zu Ende geführt habe.Geschützt und gestützt durch eine solche Politik, Ihrer gesamten diesjährigen Anträge zur Mietrechtsdeckelung, wo wir ja in mühseligen Verhandlungen einen Kompromiß gefunden haben, wird nicht nur die berühmte alte Oma mit der kleinen Rente, sondern auch das gut und doppelt verdienende Yuppie-Ehepaar in irgendeiner Großstadt, das sich sogar wegen der Mietbegrenzung noch eine Ausweitung seines Wohnungsbestandes leisten kann.Auf der Strecke bleiben junge Familien, die erstmalig eine Wohnung suchen, der umziehende Arbeitnehmer, der bei der Suche eines neuen Arbeitsplatzes für eine gleiche Wohnung erheblich mehr Miete zahlen muß, die kinderreiche Familie, die zuwenig Wohnraum hat und die viel zu große Wohnung einer alleinstehenden Frau nicht bekommt, weil diese den Umzug in einer kleinere Wohnung gar nicht bezahlen
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Dr.-Ing. Dietmar Kansykann; denn die kleinere Wohnung neu ist teurer als die große Wohnung alt.
Deswegen muß jetzt endlich Schluß sein mit dieser Mietendiskussion. Wir haben als Deutscher Bundestag unser Soll hier übererfüllt und helfen den Menschen nur, wenn wir jetzt im Bereich Mietrecht Ruhe haben und den Investoren überschaubare Rahmenbedingungen bieten.
Bitte schön, Herr Kollege Seifert.
Herr Dr. Kansy, ich würde gern auf den vorhergehenden Punkt, den Sie angesprochen haben, zurückkommen, obwohl mich das jetzt auch schon wieder reizt, eine Frage zu stellen.
Sie erwähnten, daß dann, wenn jemand eine neue Wohnung braucht, für ihn die neue Wohnung wesentlich teurer ist als die alte. Ist das nicht Ausdruck dessen, daß die Marktwirtschaft in diesem Punkt eben nicht das hervorstechende Kriterium sein kann, weil die Marktwirtschaft bei einer Mangelwirtschaft — auf dem Wohnungsgebiet handelt es sich ja um einen Mangel — nicht funktioniert, weil dann Preise genommen werden können, die mit dem sozialen Gut Wohnung nicht mehr vereinbar sind?
Zunächst haben wir keine Marktwirtschaft, sondern eine soziale Wohnungsmarktwirtschaft. Ich kenne keinen wirtschaftlichen Bereich, der bereits so gedeckelt und eingeengt ist wie der Wohnungsbau, vom Mietrecht angefangen bis hin zu Förderungsbestimmungen.
Aber das Problem ist ganz einfach, Kollege Seifert: Es nutzt nichts, uns in Bund, Ländern und Gemeinden zu beschimpfen. Ich sehe zur Zeit kein Bundesland, das seine Mittel wesentlich ausweiten kann. Ich sehe das beim Bund nicht. Andererseits sehe ich, daß gefordert wird, im Jahr wenigstens 500 000 Wohnungen neu zu bauen. Die einzigen, die das können, sind private Investoren, die Geld in den Wohnungsbau stecken. Deswegen helfen Sie den Leuten, die eine Wohnung suchen, nicht durch Mietrechtsdeckelung. Nach allem, was wir bisher geleistet haben, haben wir uns jetzt, glaube ich, bis an die Grenze dessen bewegt, was überhaupt noch Markt genannt werden kann. Deswegen habe ich gefordert: Schluß.
Herr Dr. Kansy, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Walter Schöler?
Aber selbstverständlich.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Dr. Kansy, halten Sie es für in Ordnung, von sozialem Wohnungsbau und Wohnungsmarkt zu reden? Denn von einem Markt kann man doch nur reden, wenn dort Ware erhältlich ist.
Wenn im Supermarkt die Regale leer sind, kann ich nicht mehr von Markt reden.
Zur Förderung von Privatinvestoren im steuerlichen Bereich möchte ich Sie fragen: Halten Sie es für in Ordnung, daß Privatinvestoren auch im westdeutschen Raum mit steuerlichen Vorteilen um jeden Preis Wohnungen für Singles und alleinstehende Ehepaare bauen — so lautet die offizielle Werbung — und diese Wohnungen dann zu Hunderten Leerstehen, weil niemand in der Lage ist, Mieten von 17 DM kalt zu bezahlen? Aber die steuerliche Förderung hat man abkassiert.
Sie haben zwei Fragen gestellt. Der Präsident erlaubt mir sicherlich, beide zu beantworten.
Erstens. Die Wohnung ist ein ambivalentes Gut; sie ist das denkbar langlebigste Investitionsgut, das es überhaupt gibt, und sie ist ein hohes Sozialgut. Sie ist der Mittelpunkt unseres Lebens. Alles, was wir in der Politik machen, ist der Versuch, einen Ausgleich zwischen diesen beiden Polen zu erzielen. Deswegen gibt es auch keinen reinen Markt, wie Sie richtig sagen.
Zweitens. Zur Frage der steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten: Ich bin mir nicht sicher, ob jede vernünftig ist, ob jede angemessen hoch oder vielleicht sogar zu hoch ist. Deswegen hat ja die von der Koalition beantragte und von der Regierung eingesetzte Regierungskommission u. a. die Aufgabe bekommen, dies zu überprüfen.
Nur eines sage ich Ihnen: Es nutzt uns ja nichts, wenn es Subventionen gibt, die nachweislich zu hoch sind und abgeschöpft werden. Wenn die Bereitschaft zu investieren, immer noch besteht, weil es sich lohnt, dann ist es okay. Wenn wir mit pauschalen Verdächtigungen arbeiten und die Leute daraufhin sagen, daß sie sich lieber ein paar Bundesschatzbriefe kaufen, statt sich dieser idiotischen Mühe auszusetzen, Wohnungen zu bauen, sie zu unterhalten, Mieter zu suchen, hin und her zu klagen, dann haben wir Pech gehabt. Insofern ist es auch hier eine Gratwanderung.
Herr Kollege Dr. Kansy, gestatten Sie die vierte Zwischenfrage, die vom Kollegen Dr. Walter Hitschler kommt?
Jawohl, Herr Präsident, ich gestatte sie. Ich würde sagen, ab der fünften wird es zuviel.
Nein, ich mache schon mit dieser Frage Schluß.— Bitte, Herr Kollege Hitschler.
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Wir geben Ihnen doch damit Gelegenheit, Ihre Ausführungen auszudehnen.
Herr Kollege Kansy, wie beurteilen Sie denn das von unserem Kollegen eben gewählte Beispiel, wonach jemand steuerliche Förderungen in Anspruch nehmen kann, obwohl er nachweislich keine Mieteinnahmen hat, wenn ich doch weiß, daß man steuerliche Abschreibungen eigentlich nur dann vornehmen kann, wenn es Einnahmen gibt? Wenn keine Einnahmen da sind, kann man auch eigentlich keine steuerlichen Absetzungen vornehmen.
Soweit es das Steuerrecht betrifft, haben Sie es korrekt dargestellt. Wenn ich den Kollegen richtig verstanden habe, war seine Frage, ob nicht Wohnungen nur noch wegen der Abschreibung gebaut werden und die Vermietung überhaupt keine Rolle mehr spielt.
Dies kann natürlich nicht der Sinn sein. Wir werden darüber reden; ich wiederhole mich.
Herr Präsident, bis auf die CDU/CSU-Fraktion haben jetzt alle Fraktionen ihre Zwischenfragen gestellt. Ich möchte meine Gedanken jetzt zu Ende führen.
Deswegen schalte ich die Uhr auch wieder ein.
Zunächst einmal möchte ich einige Worte zum Bereich des sozialen Wohnungsbaus machen. Der Bereich des sozialen Wohnungsbaus bedarf dringend tiefgreifender Reformen. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesbauministerin haben den andern Parteien und insbesondere auch den Bundesländern wiederholt angeboten — jetzt komme ich auf Ihren ersten Antrag —, hier unhaltbare Strukturen aufzugeben und für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen.Ihr Antrag, die Einkommensgrenzen, die zu einem Bezug der Sozialwohnungen berechtigen, zu erhöhen, ist für die Union diskutabel. Das haben wir Ihnen in den Ausschußsitzungen gesagt. Aber wir finden, wenn wir solche Sachen anpacken, im Grunde nur dann Verständnis, wenn endlich von Ihnen der Mut aufgebracht wird, den sozialen Wohnungsbau bei der Neubauförderung und im Bestand mit auf den Prüfstand zu stellen.
Denn die sogenannte Kostenmiete des sozialen Wohnungsbaus, die überflüssigerweise durch den Namen noch suggeriert, daß die Miete die Kosten tragen würde — eigentlich müßte eine Sozialwohnung zwischenzeitlich rund 40 DM pro Quadratmeter kosten;10 DM wirkt für den Bürger schon viel, und trotzdem zahlt drei Viertel der Steuerzahler —,
entpuppt sich in diesen Jahren steigender Baupreise und steigender Anfangsmieten auch im sozialen Wohnungsbau mehr und mehr als Instrument zum Schutze dieses closed shop, von dem ich vorhin gesprochen habe.Mit Milliardenbeträgen werden Newcomer auf dem Wohnungsmarkt, neu Dazugekommene, entweder im wahrsten Sinne des Wortes vor der Tür stehen, oder erheblich mehr Miete bei gleichen Einkommensverhältnissen zu zahlen haben. Sogar in deutschen Ballungsräumen gibt es noch Sozialwohnungen mit Nettokaltmieten von unter 5 DM pro Quadratmeter,
in denen oft trotz Fehlbelegungsabgabe die Falschen sitzen — kein Glück! —,
während für neue Sozialwohnungen zwischenzeitlich 10 DM pro Quadratmeter und Monat Miete verlangt werden muß.Also geben wir doch wenigstens zunächst einmal den Unternehmen, abhängig von der Qualität ihrer Wohnungen, die Chance, zwischen diesen Mieten im Bestand auszugleichen. Dann gehen Sie, bitte schön, auf unser Konzept einer einkommensorientierten Sozialmiete ein. Dabei sollen die Grenzen für die Berechtigung des sozialen Wohnungsbaus, wie von Ihnen gewünscht, ausgeweitet werden, aber die Höhe der Miete vom Einkommen des Mieters abhängig gemacht werden.
Da Sie, Herr Kollege Maaß, vorhin den berühmten Facharbeiter angesprochen haben: Dieser Facharbeiter ist tatsächlich heute bei seinem Einkommen nicht mehr Berechtigter im sozialen Wohnungsbau. Bei Verwirklichung unseres Vorschlags wird er wieder berechtigt, zahlt aber etwas mehr Miete entsprechend seinem Einkommen, um diese Sozialwohnung zu bekommen,
während — Herr Großmann, wir sind uns ja fast einig; machen wir doch diese Gesetze mit den Ländern — auf der anderen Seite die alleinerziehende Mutter mit geringem Einkommen für dieselbe Wohnung weniger Miete bezahlt. Das ist unsere Absicht.Wir fordern nochmals die Bundesländer auf, mit den sogenannten Planspielen und Ähnlichem zur Überprüfung der Vorschläge jetzt endlich abzuschließen und zu einer Vereinbarung mit dem Bund zu kommen, damit wir — wenn es nach uns geht, in wenigen Monaten noch in diesem Bundestag — im Bereich des sozialen Wohnungsbaus Zeichen setzen können: im Bestandsmietenbereich, im Neubaumietbereich, bei den Einkommensgrenzen, bei den Förderungswegen und auch bei vielen anderen Sachen mehr.
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15460 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr.-Ing. Dietmar KansyMeine Damen und Herren, die Vorschläge der SPD zur Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums sind, wie Sie wissen, nicht neu; sie sind für die Union diskutierbar. Nicht jeder einzelne ist diskutierbar. Wir akzeptieren nicht eine Argumentation, die lautet: Wenn man die steuerliche Förderung als Abzugsbetrag von der Steuerschuld statt vom zu versteuernden Einkommen konzipiert und damit alle Bürger gleichstellt, werden die Besserverdienenden nicht mehr ihr Häuschen bauen oder ihre Eigentumswohnung kaufen. Wir erwarten hier Vorschläge der eingesetzten Regierungskommission, die, so hoffen wir, alle überzeugen werden, daß auch in diesem Bereich Reformbedarf besteht und unser Ansatz richtig ist.Etwas erstaunlich finde ich Ihre Aussagen zur Bodenpolitik. Die Diskussion um das kürzlich verabschiedete Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz hat doch gezeigt — insbesondere, wenn Ihre Bundesländer hier aufkreuzen —, daß Sie immer noch nicht bereit sind, im Zielkonflikt zwischen Wohnungsbau und Landschaftsschutz Flagge zugunsten des Wohnungsbaus zu zeigen.
Wenn SPD-regierte Länder wie z. B. Niedersachsen auf Druck des grünen Koalitionspartners immer wieder Sand ins Getriebe streuen, nutzen uns Ihre wohlgemeinten Vorträge und Anträge im Bundestag nichts.
— Wir reden immer um die Hauptprobleme herum,
während die Menschen Lösungen hören wollen; sie wollen nicht die Paragraphen hören.Es gilt hier Mut zu zeigen. Die Situation ist doch schlicht und einfach so: Nachdem die zu große Zuwanderung zu spät und nach meiner Auffassung auch unzureichend gestoppt wurde und nachdem sich die durchschnittliche Wohnfläche in den letzten 20 Jahren in Deutschland um 50 % erhöht hat, müssen wir Konsequenzen ziehen und sagen, daß der großflächige Bau von Wohnungen auch Priorität gegenüber überzogenen Ansprüchen des Landschaftsschutzes hat.
Man kann nicht montags sagen: „Uns fehlen 5 Millionen Wohnungen" , dienstags sagen: „Wenn man Bauland ausweist, betoniert man die Landschaft zu", mittwochs die ganze Welt einladen, ihre Probleme auf deutschem Boden zu lösen, und dann, wenn wir es am Donnerstag nicht schaffen, am Freitag sagen: Die Politiker sind alle blöd und versagen.
— Nein, das ist die Wahrheit. Deswegen kommen wir nicht weiter.
Hinsichtlich Ihres Antrags zum genossenschaftlichen Wohnungsbau sind wir gesprächsbereit. Herr Kollege Götz bereitet federführend für unsere Arbeitsgruppe eigene Vorstellungen vor. Wir kommen mit Ihnen ins Gespräch.Beim Thema Obdachlosigkeit sind wir bereit, Ihrem Vorschlag nachzugehen, wenn Sie wenigstens im Sinne dieses Antrags arbeiten würden, in dem steht: „in Zusammenarbeit mit Ländern, kommunalen Spitzenverbänden, Interessenverbänden" usw. Aber da Ihr Antrag wiederum mit unsinnigen Schuldzuweisungen an den Bund gespickt ist, können Sie nicht ernsthaft erwarten, daß wir ihm zustimmen.Den Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen wir ab. Die Altschuldenfrage wurde gelöst. Nach unserer Auffassung haben die Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern trotz der Teilprivatisierung einen erheblichen Teil der Wohnungen in ihrer Verfügbarkeit behalten und können sie auch behalten.Zum ostdeutschen Mietrecht ist anzumerken — ich weiß, wie schmerzhaft es ist, aber ich spreche es dennoch aus —, daß die zum 1. Januar 1993 eingetretene Mietsteigerung von der großen Mehrheit der ostdeutschen Haushalte verkraftbar war und verkraftet wurde. Immer wieder aufgestellte Behauptungen, man hätte schon westdeutsches Niveau erreicht, gehen leider an den westdeutschen Mietrealitäten vorbei.
— Nein, jetzt ist Schluß, Herr Kollege Seifert; andere wollen ja auch noch zu Wort kommen.Reden können wir über den Sonderfall der Modernisierung, da nach den ersten Erfahrungen der dafür erforderliche Aufwand bisherige westdeutsche Verhältnisse sprengt und zu einer wesentlichen Verzerrung des Mietgefüges führen kann.Zum Wohnungseigentumsgesetz wird gleich der Kollege Mahlo sprechen.Abschließen möchte ich wie folgt. Meine Damen und Herren, wer viele neue Wohnungen bei gleichzeitig niedrigen Mieten verspricht, täuscht die Menschen. Wir müssen dem, der es leisten kann, mehr Eigenverantwortung für das Wohnen zumuten, damit wir den anderen, die überfordert sind, besser helfen können. Für uns in der Union ist dies nach einem Wort Heiner Geißlers die neue soziale Frage.
Herr Kollege Dr. Kansy, Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Wir haben nur eine Möglichkeit, die bei der Mehrheit keinen Beifall finden wird: auch in diesen Fragen Verantwortung statt Populismus zu zeigen. Das ist unsere erste Herausforderung.
Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Walter Hitschler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Trotz angespannter finanzpolitischer Situation hat die Bundesregie-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15461
Dr. Walter Hitschlerrung seit einigen Jahren in der Wohnungspolitik einen deutlichen Schwerpunkt gesetzt, der in den Wohnungsmärkten in Ost und West zu sichtbaren Erfolgen geführt hat. Der geballte Mitteleinsatz trägt dazu bei, daß die Modernisierung des großenteils verrotteten Wohnungsbestandes im Osten zügig voranschreitet und immer mehr Mieter in Kürze erwarten können, daß ihre Wohnhäuser nicht nur instandgesetzt, sondern auch besser ausgerüstet werden: mit modernen Heizanlagen, erneuerten Fenstern und Dächern, Wärmeisolierung, Installationsanlagen.
Mit Hilfe von Mitteln der Städtebauförderung und des Denkmalschutzes werden städtische Sanierungsmaßnahmen durchgeführt und Baudenkmale restauriert. Diese Maßnahmen haben die Stadtbilder innerhalb kurzer Zeit völlig verändert und verändern sie noch. Ich empfehle Ihnen ein Studium der draußen im Vorraum aufgebauten Ausstellung. Aus ihr werden Sie sich, falls Sie noch nicht vor Ort waren, selbst ein Bild machen können.In der Innenstadt von Leipzig bewegen sich gegenwärtig ca. 270 Baukräne. In Dresden gleicht das Zentrum einer einzigen Baustelle. Die Privatisierung von Wohnungen faßt allmählich Fuß. Die Wohneigentumsquote wird verbessert, und der Nachfrage zum Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern in den neuen Bundesländern wird manche Bauverwaltung nicht mehr Herr, weil sie nicht schnell genug entsprechendes Bauland bereitzustellen vermag.Wer Augen hat zu sehen, der kann den Aufschwung Ost mit Blicken fassen, wohin er schaut. Nur die künstlichen Augen unserer Medien scheinen dafür blind zu sein, was wohl darauf zurückzuführen ist, daß gute Botschaften keine Nachricht wert zu sein scheinen.
In den alten Bundesländern vollzieht sich eine ebenso gewaltige Aufbauleistung mit einer sich jährlich stark steigernden Zahl von Baugenehmigungen und -fertigstellungen, in diesem Jahr über 400 000 mit über 500 000 Baugenehmigungen.Die Politik, den aufgetretenen Wohnungsengpässen durch eine investitionsfreundliche Angebotsstimulierung zu begegnen, zahlt sich aus. Statt Mangelverwaltung, Mietendeckelung und überbordende Regulierungen vorzunehmen, wie sie uns zur Krisenbewältigung von der Opposition anempfohlen wurden und immer noch werden, haben wir stets — und meist mit Erfolg — versucht, dem Markt und seinen treibenden Kräften eine Chance zu geben.
Wir könnten in der Tat noch viel erfolgreicher sein und auch einige Probleme noch besser lösen, wenn die Länder mit uns hier Hand in Hand marschieren würden. Doch nur sehr zaghaft wagen sie sich beispielsweise an die teilweise skandalöse Fehlbelegung im Sozialwohnungsbestand heran. Und auch nur zögerlich haben sie sich darangemacht, die sozialen Bewilligungsmieten der Kostenentwicklung anzupassen, so daß sich die Spreizung zwischen Billigmieten im Bestand und außerordentlich hohen Neuvermietungsmieten zu einem Problem besonderer Art auswächst.Bestandsmieten von 5 DM pro Quadratmeter und Neubaumieten von 22 DM und teilweise mehr bringen unser Mietgefüge auf Dauer durcheinander und verhindern eine ausgewogene Belegung. Die Schwächsten haben die geringsten Chancen, solange Fehlbeleger vom Steuerzahler subventioniert werden.
Wir brauchen eine einkommensorientierte Förderung im sozialen Wohnungsbau, den Wegfall des nicht mehr finanzierbaren 1. Förderweges, und wir brauchen dazu die Aufgabe der Blockadehaltung der Ländermehrheit; denn die Chancen am Bau bleiben mittelfristig vorzüglich. Im Osten gibt es noch auf viele Jahre hinaus Arbeit am Bau und im Westen nicht viel weniger, worauf vorhandener Bedarf und auch die neuesten Bevölkerungsprognosen hindeuten. Auch die niedrigen Zinsen tragen das ihre dazu bei.Die Wohnungsbauförderung und ihre Instrumente müssen dieser Entwicklung angepaßt werden. Die Länder sollten sich daher endlich bereit finden, von ihrem starren Festhalten an der objektgebundenen Förderung abzurücken und eine Förderpolitik zu ermöglichen, die flexibel auf die unterschiedlichsten Bedürfnisse verschiedener Investoren und Mietergruppen zugeschnitten werden kann. Damit könnten noch erhebliche Investitionsreserven, beispielsweise im Werkswohnungsbau oder bei Immobilienanlagen von Versicherungsgesellschaften, erschlossen werden.Den Gemeinden wurden mit dem Wohnbaulandgesetz bauplanerische Möglichkeiten eingeräumt, welche sie nun endlich zu verstärkter Baulandausweisung anregen sollten, damit die knappheitsbedingten Baulandpreise in den Keller gehen.
Wir Freien Demokraten setzen darüber hinaus große Hoffnung auf die wissenschaftliche Deregulierungskommission Bau, der es hoffentlich gelingen wird, überflüssige Vorschriften, die bauhemmend und bauverteuernd wirken, möglichst zahlreich aufzuspüren, damit die überbordende Baubürokratie auf ein notwendiges Maß zurückgestutzt werden kann; denn baurechtliche Vorschriften sollten nicht dazu führen, daß sich Bauwillige grün und schwarz ärgern müssen. Bauen sollte eigentlich Freude machen.Freie Fahrt für Bauwillige, das ist die Devise, von der wir Freien Demokraten uns leiten lassen werden.
Herr Kollege Dr. Ilja Seifert, Sie sind der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir die Reden von Herrn Dr. Kansy und Herrn Dr. Hitschler vor
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15462 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Ilja SeifertAugen führe, bin ich ein bißchen betroffen, weil ich es schon kenne, daß sich die Herrschenden mit Fertigstellungszahlen usw. selbst loben.
— Ich erinnere nur an DDR-Zeiten, wo auch immer das Positive betont wurde und Fehlerdiskussionen vermieden wurden.
— Es wurde da auch gebaut. — Wir hatten ja heute früh eine Diskussion darüber, daß Fehler nicht angesprochen werden sollen.Vorschläge für eine Wende in der Wohnungspolitik gibt es viele — machbare, finanzierbare —, von Mieterorganisationen, von Bürgerinitiativen, von den Gewerkschaften, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, auch von der PDS, der SPD, vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Aber es ändert sich nichts. Die Bauministerin erzählt seit drei Jahren jede Woche, daß der Aufschwung da sei; aufwärts geht es bedauerlicherweise vor allem mit unseren Mieten. Das führt zu der doch bitteren Erkenntnis, daß mit dieser Regierung der Kampf gegen die zunehmende Wohnungsnot — Sie geben ja zu, daß es sie gibt — nicht zu gewinnen ist. Mehr noch: Diese Regierung scheint einfach nicht gewillt zu sein, die Interessen von Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen in ihrer Wohnungspolitik angemessen zu berücksichtigen.Ein paar Worte zum Gesetzentwurf der Kollegin Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Es handelt sich bei diesem Antrag zweifellos um eine umfangreiche und sehr gewissenhafte Arbeit, die darauf gerichtet ist, Fehlentwicklungen in der Förderung des sozialen Wohnungsbaus und in der individuellen Belastung der Miethaushalte von Grund auf zu korrigieren. Allerdings unterscheidet sich dieser Vorschlag von unserem dadurch, daß er quasi die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen voraussetzt, während wir immerhin versuchen, innerhalb des bestehenden Systems den Freiraum für die Menschen herauszuholen, der innerhalb des Systems machbar ist. Ich bin durchaus der Meinung, daß das System veränderbar ist und Veränderung notwendig ist, aber, wie gesagt, das ist der Unterschied zwischen Ihrem und unserem Herangehen.Es gibt sicherlich etliche Elemente des Gesetzentwurfs von Frau Schenk, über die eingehend diskutiert werden müßte, aber leider steht mir hierzu jetzt nicht die Zeit zur Verfügung. Das Wichtigste ist — das wurde in dem Entwurf von Frau Schenk zu Recht an erster Stelle genannt —, den kommunalen und — das möchte ich hinzufügen — den genossenschaftlichen Wohnungsbestand möglichst weitgehend — wenn es geht, vollständig — zu erhalten. Er ist die Grundvoraussetzung für wohnungspolitischen Handlungsspielraum in der Kommune überhaupt.Die drei Anträge der SPD finden ebenfalls meine Zustimmung, auch wenn hier über Details sicher noch diskutiert werden müßte. Leider haben Sie durch Ihre praktische Politik einen Teil der eigenen Vorschläge selbst zur Makulatur gemacht. Mit der Zustimmung der SPD zu dem im Einigungsvertrag formulierten Ziel, den kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbestand in Ostdeutschland weitgehend zu privatisieren und ins Vergleichsmietensystem zu überführen, mit der Zustimmung zur sozial und verträglichen Zweiten Grundmietenverordnung und zum schrittweisen Abbau des Wohngeldsondergesetzes und insbesondere mit Ihrem aktiven Beitrag für das inzwischen verabschiedete Altschuldenhilfegesetz haben Sie, meine Damen und Herren, hat sich zumindest Ihre Partei in ihrer Gänze mitschuldig an der sich entwickelnden wohnungspolitischen Katastrophe in Ostdeutschland gemacht.
— Aber Ihre eigene Anhörung bei der FriedrichEbert-Stiftung hat doch gezeigt, Herr Großmann, daß Sie nicht einmal Ihre eigenen Leute davon überzeugen können, daß das richtig ist.
— Aber am Ende haben Sie doch leider zugestimmt.Jawohl, auch die DDR hinterließ auf wohnungspolitischem Gebiet so manches Defizit. Aber anstatt das erkannte Manko Schritt für Schritt zu beseitigen, wird jetzt sozial Unverträgliches draufgesattelt. Mittels Beschaffenheitszuschlägen, Modernisierungsumlagen ohne Kappungsgrenze, Kapitaldienst für Altschulden und Zwangsprivatisierung sollen die Menschen im Osten nun zum zweiten Mal für die Wohnungen bezahlen. Schließlich ist der Wohnungsbau in der DDR und sind subventionierte Mieten nur durch niedrige Löhne und Renten bei entsprechender Umverteilung des Volkseigentums über den Staatshaushalt möglich gewesen.Nachdem der Versuch, die Privatisierung von Wohnungen durch Überredung zu erreichen, weitgehend erfolglos blieb, hat sich die Koalition mit dem sogenannten Altschuldenhilfegesetz eine wahrhaft erpresserische Methode ausgedacht. Die zwangsweise Privatisierung hilft weder den Unternehmen noch sozial verantwortlich denkenden Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern und erst recht nicht den derzeitigen Nutzerinnen und Nutzern der Wohnungen. Zu allem Überfluß entlastet dieses zweifelhafte Gesetz noch nicht einmal den Staatshaushalt. Die Entlassung der noch verbleibenden kommunalen Wohnungsbestände in das Vergleichsmietensystem ab Mitte 1995 ist dann der nächste Schlag gegen die Interessen der Mieterinnen und Mieter in den ostdeutschen Ländern.Nicht zufällig werden ja all diese Segnungen der Marktwirtschaft erst Mitte 1995 voll wirksam, also nach dem Wahlmarathon. Offensichtlich zielen diese Maßnahmen aber darauf ab, die in den westlichen Bundesländern noch verbliebenen Reste des Sozialstaates auf wohnungspolitischem Gebiet abzuwik-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15463
Dr. Ilja Seifertkein. Minimalkonsens aller Mitglieder des Bundestages sollte sein, den Privatisierungszwang aus dem Altschuldenhilfegesetz ersatzlos zu streichen und die Hilfe von Bund und Ländern in der Altschuldenfrage so zu definieren, daß die Mietpreis- und Belegungsbindung dieser Wohnungen erhalten wird. Besser wäre jedoch, unserem Antrag zur Ersetzung des Altschuldenhilfegesetzes durch ein Altschuldenübernahmegesetz zu folgen, damit der fürchterlichen sozialen Verunsicherung der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern in der sensiblen Frage sicheren Wohnens endlich ein Ende gesetzt wird, damit ihnen nämlich die Angst vor dem Verlust des eigenen Heims genommen wird.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, auch wenn es zwischendurch mal ein bißchen unruhig war.
Vizepräsident Helmuth Becker Herr Dr. Seifert, ich weise den Ausdruck, daß hier mit erpresserischen Methoden gearbeitet wird, zurück. Wir arbeiten zusammen mit unterschiedlichen Auffassungen, aber nicht mit erpresserischen Methoden.
Meine Damen und Herren, die nächste Wortmeldung kommt von Frau Christina Schenk. Bitte, Frau Kollegin Schenk, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem der von uns eingebrachte Gesetzentwurf zum Erhalt und zur Schaffung dauerhaft gebundener kommunaler Mietwohnungen in den ostdeutschen Bundesländern hier nun schon mehrfach erwähnt worden ist, möchte ich jetzt die Gelegenheit ergreifen, ihn hier im einzelnen vorzustellen.Mit diesem Gesetzentwurf verfolgen wir das Ziel, die ehemals volkseigenen Wohnungen in Ostdeutschland in kommunaler Hand zu belassen und sie für die Wohnungsversorgung derjenigen Teile der Bevölkerung zu reservieren, die im Wettbewerb um den immer teurer und immer knapper werdenden Wohnraum nicht mithalten können. Die Wohnungen sollen auf Dauer als gebundene kommunale Mietwohnungen erhalten bleiben. Die notwendigen Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen sollen spätestens bis zur Jahrhundertwende durchgeführt werden. Die finanziellen Mittel, die der Bund und die Länder den Kommunen dafür zur Verfügung stellen müssen, sind, wie unsere Berechnungen belegen und wie im Gesetzentwurf nachzulesen ist, nur wenig höher als die Mittel, die im Rahmen des Solidarpaktes ohnehin für den Wohnungsbau vorgesehen sind.Unser Konzept verlangt also vorrangig nicht höhere Finanzmittel, sondern eine sozial orientierte und langfristig sinnvolle Anwendung derjenigen Wohnungsbaumittel, die ohnehin ausgegeben werden. Wir schlagen vor, von den für den Zeitraum 1991 bis 1995 zur Verfügung stehenden Mitteln der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Höhe von 60 Milliarden DM 30 Milliarden DM für den gebundenen kommunalen Wohnungsbau zu reservieren. Der Zinssatz für diese Kredite wird um vier Prozentpunkte herabgesetzt, wofür die Kosten je zur Hälfte vom Bund und von demjenigen Land getragen werden, in dem die Wohnungsbaumaßnahme realisiert wird.Die Mehrkosten, die Bund und Ländern gegenüber dem föderalen Konsolidierungsprogramm durch diesen Vorschlag entstehen, belaufen sich, wenn alle kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen bis zum Jahre 2001 saniert werden, bis zum Jahre 2021 — also innerhalb von 29 Jahren — auf 7,3 Milliarden DM.Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Gesetzentwurf verhindern, daß die Fehler der Wohnungspolitik im Westen im Osten wiederholt werden. Mit dem kommunalen Wohnungsbau schlagen wir ein neues Instrumentarium vor, dessen Eckpunkte ich Ihnen hier vorstellen will.Erstens. Die kommunalen Mietwohnungen bleiben dauerhaft sozial gebunden; denn es ist ja gerade eine der Ursachen der Wohnungsnot im Westen, daß Millionen von Wohnungen bereits aus der Bindung gefallen sind.Zweitens. Die Verwaltung der Wohnungen soll von kleinen, mieter- und mieterinnennahen Gesellschaften übernommen werden. Wir wollen in diesem Bereich keine unüberschaubaren Mammutgebilde.Drittens. Das Vergaberecht für die Wohnungen steht ausschließlich den Kommunen zu. Die schlechten Erfahrungen, die mit der Vergabe von Wohnungen im sozialen Mietwohnungsbau im Westen gemacht wurden — Gerechtigkeit und Transparenz sind ja da, wo die Wohnungen nicht direkt von den Kommunen vergeben werden, absolute Fremdwörter —, machen die Konzipierung neuer Vergaberichtlinien notwendig.Unserem Entwurf zufolge werden die Kommunen zu einem Vergabeverfahren verpflichtet, bei dem allein die Dringlichkeit des Wohnungsbedarfs ausschlaggebend ist. Zur Feststellung dieser Dringlichkeit werden an Wohnungssuchende Dringlichkeitspunkte vergeben, wofür in unserem Entwurf bestimmte Kriterien aufgeführt sind.
Wir bevorzugen dieses System aus den Erfahrungen heraus, die im sozialen Mietwohnungsbau im Westen gemacht worden sind. Einer der größten Nachteile des dortigen Vergabesystems besteht schließlich darin, daß die Vermieter sich ihre Mieterinnen und Mieter aus einer großen Anzahl von Bewerberinnen und Bewerbern aussuchen können. Das führt in der Regel dazu, daß sozial angepaßte Haushalte und solche, deren Einkommen sich am oberen Ende der zulässigen Einkommensgrenze befinden, anderen gegenüber bevorzugt werden, während einkommensarme Haushalte nur eine geringe Chance haben.
Viertens. Es muß sichergestellt werden, daß die gebundenen Kommunalwohnungen für alle Bevölkerungsschichten bezahlbar sind und daß die Mieterinnen und Mieter entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit
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15464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Christina Schenkin angemessener Weise an ihrer Finanzierung beteiligt werden. Das Wohngeld und die Fehlbelegungsabgabe haben in dieser Beziehung versagt. Deswegen werden im gebundenen Kommunalwohnungsbau einkommensabhängige Wohnwertmieten eingeführt. Die Mieten werden beim Einzug und danach alle drei Jahre individuell neu festgelegt. Sie steigen, ähnlich wie die Einkommensteuer, progressiv mit dem Einkommen, so daß finanzschwache Haushalte einen kleineren Teil ihres Einkommens für die Miete aufbringen müssen als Haushalte mit höheren Einkommen. Bei einem entsprechend hohen Haushaltseinkommen kann die Miete bis auf die örtliche Vergleichsmiete angehoben werden.Allerdings — damit unterscheiden wir uns vermutlich von den einkommensabhängigen Mieten, von den Frau Schwaetzer in letzter Zeit des öfteren geredet hat — müssen die finanziellen Verluste, die den Kommunen auf Grund der Vermietung an Haushalte mit niedrigem Einkommen entstehen, durch Zahlungen von Bund und Ländern ausgeglichen werden. Sonst würde wiederum eine Situation entstehen, in der Haushalte mit hohem Einkommen bei der Vergabe bevorzugt werden. Unserem Vorschlag entsprechend können diese Verluste aus den Mitteln des eingesparten Wohngeldes finanziert werden; denn da, wo die Mieten einkommensabhängig festgelegt sind, erübrigt sich das Wohngeld.Das politische Konzept vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN basiert — da muß ich dem Kollegen Seifert doch widersprechen — nicht auf der Hoffnung, den Kapitalismus abzuschaffen, sondern zeigt auf, wie die Disparitäten, die er erzeugt — in diesem Fall im wohnungspolitischen Bereich —, durch eine soziale Politik aufgefangen werden können.
Herr Kollege Dr. Rudolf Karl Krause , Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wohnungspolitik ist mindestens Thema Nr. 3 in Mitteldeutschland — nach der Wirtschaftspolitik mit Arbeitslosigkeit, nach der dauerhaften sozialen Sicherung und noch vor der inneren Sicherheit und vor Zuwanderungsproblemen.
Erstens. Die Wohnungsbaubilanz in der ehemaligen DDR war durch drei Teilbereiche gekennzeichnet: durch den jährlichen Bau von über 100 000 Neubauwohnungen mit Niedrigstmieten bei zuletzt 30 Milliarden Mark Subventionen im letzten DDRjahr; durch den gleichzeitigen Verfall von einigen zehntausend bis am Schluß über 50 000 Mietwohnungen pro Jahr; durch den Neubau und die neubauähnliche Modernisierung ausschließlich von Einfamilienhäusern, und zwar — das sei hier noch einmal zum Ruhme dieser 10 % fleißigsten DDR-Bürger gesagt — durch jeden, der es wollte, unabhängig von Ersparnissen. Man konnte anfangen mit einem Wohnungsbaukredit, einem Trabi, Gesundheit und einer fleißigen Familie. Das war so, fragen Sie die Leute!
Zweitens. Die Wohnungsbilanz in Mitteldeutschland seit 1991 in diesen drei Bereichen ist: Neubau und Modernisierung von Einfamilienhäusern in einer von Ihnen angesprochenen Weise, aber nicht für eine Zweidrittelgesellschaft, sondern bei uns für eine Eindrittelgesellschaft.
Weiter: Jährlich nur 10 000 bis 30 000 Neubauten von Mietwohnungen, je nachdem, was man dazurechnet.
Schließlich der Verfall von alten Mietshäusern ist wesentlich höher als in der DDR-Zeit. In den letzten drei Jahren waren es mindestens 400 000 Wohnungen — man sieht das auch überall in den Innenstädten —, und zwar durch ungeklärte Eigentumsverhältnisse, für Modernisierung unzureichende Mieten, Spekulation und Fehlen von Anreizen für den Vermieter, zu investieren. Das ist die gegenwärtige Lage. Gesetzesänderungen und politische Zielvorstellungen müssen diese Probleme angehen. Viele empfinden es so, daß das seit 1991 noch nicht der Fall war. Bisher wurde mehr über Wohnungsneubau gesprochen als wirklich gebaut.
Heute wird — so steht es in der Drucksache 12/2505 — als Problem angesprochen: Erschwerung der Umwandlung bestehender Mietwohnungen in Wohnungseigentum. Das kann doch wohl nicht Ziel der Politik sein!
Wir müssen erstens ein einklagbares Recht für Mieter oder Mietergruppen auf Kauf ihrer bisherigen Wohnungen oder Tausch in gleichartige Tauschwohnungen schaffen, was bei den bisherigen Einheitstypen kein Problem sein wird, und zwar auch gegen den Willen der Verwaltungen dieser kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungseinrichtungen. Hier geht es nicht um den Erhalt der Arbeitsplätze in den Wohnungsverwaltungen, sondern um die Privatisierung, damit bei den niedrigen Einkommen in Mitteldeutschland nur das Baumaterial bezahlt werden muß und anderes, wie früher, selbst gemacht werden kann.
Zweitens zum Schluß eine Vision, wie es mit dem Wohnungsbau wieder aufwärts gehen kann: Wir brauchen wieder ein nationales Aufbauwerk, wie wir es schon einmal hatten, etwa in Richtung einer Arbeitspflicht für alle Leistungsempfänger. Daraus sollten Sozialwohnungen gebaut werden. Die Vollbeschäftigung ist von 93 % auf 40 % gesunken — Bericht der EG an die Bundesregierung. Diese Arbeitskräfte würden gerne Wohnungen bauen, wenn sie es könnten, wenn sie es dürften; sie wollen es.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, unserem Kollegen Joachim Günther, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich möchte am Anfang auf das eingehen, was Dr. Kansy zur Eröffnung dieser Debatte gesagt hat: Die Wohnungspolitik ist ein denkbar ungeeignetes Feld für wahltaktische Auseinandersetzungen und für Experimente.
Deshalb begrüße ich es auch, daß diese heutige Debatte ohne große Emotionen vonstatten geht. Es ist nämlich sehr leicht, auf diesem Gebiet Emotionen zu wecken, aber anschließend ist es um so schwieriger, das Engagement in sachgerechte Bewertungen von Möglichkeiten umzusetzen und vor allem den schnellen Abbau des Wohnungsdefizites voranzubringen.Wohnungspolitik ist auf die gemeinsamen Anstrengungen vieler Akteure angewiesen. Bund, Länder und Gemeinden müssen zusammenarbeiten, und es macht auch keinen Sinn, Mieter gegen Investoren und Investoren gegen Mieter auszuspielen. Es macht keinen Sinn, dem Wohnungsnutzer den Eindruck zu vermitteln, Wohnen sei billiger, als es wirklich ist, um ihm dann die erforderlichen Mittel über die Steuer abzunehmen.Das Scheitern einer solchen Strategie bekommen wir in den neuen Bundesländern leider noch immer vor Augen geführt. Es gibt keine Alternative zu dem marktwirtschaftlich ausgerichteten und sozial flankierten Umstrukturierungsprozeß, wie er im Einigungsvertrag angelegt und seitdem auch fortentwikkelt worden ist. Es gibt leider auch keine Alternative zur schrittweisen Mietenanpassung in den neuen Bundesländern. Es gibt für den Steuerzahler auch keine Alternative zum Sonderwohngeld als gezieltem Instrument der sozialen Absicherung. Es gibt auch keine vertretbare Alternative zur Altschuldenlösung im Rahmen des Solidarpaktes, die den Weg für riesige Investitionen und für eine breit angelegte Privatisierung freigemacht hat.Herr Dr. Seifert, es ist dies keine Zwangsprivatisierung. Sehr viele Bürger haben den echten Wunsch nach der Bildung von neuem Eigentum.
Helfen wir deshalb mit, daß jetzt Schluß ist mit den Diskussionen über Wenn und Aber und daß wir konkret planen und investieren. Das erwarten die Menschen in ihren Wohnungen. Das erwarten auch diejenigen, die auf Arbeitsplätze im Bauwesen hoff en.Immer neue Forderungen an die Politik in Bonn helfen uns in dieser Sache nicht weiter, weder im Osten noch im Westen. Die von der SPD geforderten 6 Milliarden DM an Bundesmitteln für den sozialen Wohnungsbau sind zur Zeit nicht realisierbar. Die Ministerpräsidenten der Länder — auch die der SPD — haben beim Solidarpakt schließlich akzeptiert, daß zusätzliche Bundesmittel für den sozialen Wohnungsbau West nicht zur Verfügung gestellt werden können, weil der Aufbau im Osten riesige Summen verlangt.Die Bewilligungen im sozialen Wohnungsbau sind in Westdeutschland in wenigen Jahren um 150 % erhöht und auf ein Niveau von ca. 100 000 Einheiten im Jahre 1992 hochgefahren worden.
Viel wäre gewonnen, wenn die Bundesländer ihre eigenen Mittel auch in gleichem Umfang erhöhen würden, wie das der Bund in den letzten Jahren getan hat. Dennoch sind wir uns völlig darüber im klaren, daß zusätzliches finanzielles Engagement allein nicht ausreicht. Wir brauchen für den sozialen Wohnungsbau eine breitere und eine neue Grundlage. Wir brauchen ein neues Förderkonzept, das sowohl soziale Treffsicherheit als auch die Effizienz des sozialen Wohnungsbaus erhöht. Das vom Bundesbauministerium propagierte Konzept einer einkommensorientierten Sozialmiete wird sich deshalb auch durchsetzen. Denn dann können wir mit gleichen Fördermitteln mehr Wohnungen fördern, und gleichzeitig können wir auch die gegenwärtig engen Einkommensgrenzen auflockern.Bei allen Bemühungen, den sozialen Wohnungsbau gerechter und effizienter zu gestalten, muß den wohnungspolitisch Verantwortlichen etwas klar sein: Eine Verdrängung des frei finanzierten Wohnungsbaus ist der Anfag vom Ende einer tragfähigen wohnungspolitischen Konzeption. Zu einer langfristig stabilen privaten Investitionstätigkeit im Wohnungsbau gehört ein langfristig stabiles Mietrecht und eine angemessene Rendite für das eingesetzte Kapital.Es reicht nicht aus, wenn von der Opposition festgestellt wird, daß privaten Investoren bei der Bereitstellung von Wohnraum eine zentrale Rolle zukommt. Solche Aussagen werden leider unglaubwürdig, wenn gleichzeitig Wohnungsinvestoren als hartherzige Menschen hingestellt oder klassifiziert werden und wenn im gleichen Zusammenhang immer wieder Eingriffe in das Mietrecht gefordert werden.Zur gegenwärtigen wohnungspolitischen Situation: 1993 werden doppelt so viele Wohnungen fertiggestellt wie 1988. Herr Kollege Maaß, ich glaube, das ist schon eine Erfolgsbilanz der Bundesregierung, wenn sich so etwas in einem solchen Zeitraum verdoppelt. Diese rasante Entwicklung hat bereits hohe Anforderungen an die Flexibilität in der Bauwirtschaft gestellt und die Anpassung der Produktionskapazitäten ebenfalls bis an die Grenzen gebracht.
Wohnungsbaugenehmigungen in einer Größenordnung von 500 000 im Jahre 1993 zeigen, daß diese Entwicklung noch nicht beendet ist. Auch in den neuen Ländern haben wir neben einer breiten Modernisierungswelle im Wohnungsneubau Fahrt bekommen. Im ersten Halbjahr 1993 sind in den neuen Ländern 27 500 neue Wohnungen genehmigt worden. Man muß das mit dem Vorjahr vergleichen. Ich weiß, daß diese Zahlen nicht ausreichend sind, aber sie haben sich gegenüber dem Vorjahr vervierfacht.
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15466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Parl. Staatssekretär Joachim GüntherDurch die Lösung der Altschuldenfrage haben sich die Investitionsmöglichkeiten der ostdeutschen Wohnungswirtschaft sprunghaft verbessert.
Das zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz, das Wohnungsgenossenschaftsvermögensgesetz und die Bürgschaftsregelung zur Überbrückung von noch nicht grundbuchlich gesicherten Eigentumsverhältnissen beginnen ebenfalls ihre Wirkung zu zeigen.Wenn wir dennoch Knappheit und Mangel registrieren, müssen wir uns auch klarmachen, daß die Aufnahme von mehr als 4 Millionen Zuwanderern in Westdeutschland seit Beginn des Jahres 1988 von keiner Wohnungspolitik kurzfristig kompensiert werden kann. Das ist auch der Unterschied zu dem, was Sie, Herr Maaß, für den Anfang der 80er Jahre nannten.Bei aller Notwendigkeit einer demokratischen Auseinandersetzung appelliere ich doch an alle demokratischen Parteien: Wir wollen die Schwierigkeiten nicht verschweigen. Wir wollen uns vordergründig keine Schuldzuweisungen zusprechen, aber wir dürfen eines auf keinen Fall unternehmen: unerfüllbare Wünsche wecken.Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, daß wir nicht in einem Regelwerk ersticken, das zwar in vielen Einzelpaketen mehr Gerechtigkeit und mehr Sicherheit anstrebt, aber die Bewältigung der ungewöhnlichen Herausforderung insgesamt meiner Meinung nach zunehmend behindert. Lassen Sie uns bereits im nächsten Jahr vor allem die Neuorganisation des sozialen Wohnungsbaus in die Tat umsetzen. Wir sind dazu bereit.
Meine Damen und Herren, eine kurze Bemerkung zur Geschäftslage. Wir haben jetzt noch zwei Redebeiträge etwa bis zu 20 Minuten. Danach gibt es die Fragestunde. Es liegen nur noch vier Fragen vor, so daß wir insgesamt davon ausgehen können, daß wir kurz nach 15 Uhr mit der energiepolitischen Debatte beginnen, die auf zwei Stunden festgesetzt ist.
Jetzt hat unsere Frau Kollegin Gabriele Iwersen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor dem Hintergrund der vielfältigen Sachprobleme, die in der heutigen Debatte diskutiert werden sollten, bedaure ich es sehr, daß uns für sieben Gesetzesänderungen und Anträge nur eine Stunde Debattenzeit zur Verfügung steht.
Das Wohnungsproblem brennt Millionen von Menschen auf den Nägeln, und es könnte sich bei den Betroffenen der Verdacht erhärten, daß die Politiker sich hier eher einer lästigen Pflicht entledigen, als daß sie wirklich um die Lösung der Probleme auf dem Wohnungsmarkt ringen. Ich halte diesen Umgang mit einem solchen Problemwerk für nicht akzeptabel und sehe darin einen Beweis dafür, welchen Stellenwert die lebenswichtige Forderung nach Wohnraum für alle für die Mehrheit der politisch Verantwortlichen hat. Daß es sich wirklich um eine Mehrheit handelt, sieht man auch an der Verfassungsdiskussion, in der weder ein Grundrecht auf Wohnen noch ein Staatsziel „Menschenwürdiger Wohnraum für alle" mehrheitsfähig ist.Erfreulich ist immerhin, daß Herr Dr. Kansy zumindest einen Reformbedarf bei der Wohnungspolitik für möglich hält, auch wenn seine Fraktion dabei weniger auf eigene Erkenntnisse als doch vielmehr auf die Erkenntnisse der Regierungskommission baut. Der ernsthafte Reformwille der Koalitionsparteien leidet allerdings ein klein wenig unter der taktischen Zeitplanung, Herr Dr. Kansy. Wenn der Bericht nicht ausgerechnet erst nach der Wahl kommen würde, würden wir das alles natürlich noch etwas ernster nehmen. Aber ich hoffe, es wird trotzdem etwas dabei herauskommen.
Im Moment wird fast mehr Zeit investiert, um den schrittweisen Abbau des Schlechtwettergeldes und damit den langsamen Ruin der Bauwirtschaft durchzusetzen, als über Themen der Wohnungsnot, der Obdachlosigkeit und der gerechteren Förderung des Wohnungsbaus oder des Mieterschutzes zu beraten.
So bleibt auch mir kaum Zeit, auf die Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes einzugehen, mit dem sowohl der Bundesrat wie auch die SPD-Bundestagsfraktion und die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in jeweils eigenen Gesetzentwürfen und Anträgen zum dringend notwendigen Erhalt von Mietwohnungen vorschlagen, daß diejenigen, die kein Wohneigentum erwerben können, als Mieter in der Altbausubstanz wenigstens Schutz finden. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf Rechtssicherheit schaffen und dafür Sorge tragen, daß keine zweifelhaften Abgeschlossenheitsbescheide für Wohnungen ausgestellt werden, die mit bestem Willen nicht als Eigentumswohnungen bezeichnet werden können, aber dafür jeweils eine Mietwohnung vernichten.Obwohl fast täglich neue Meldungen über die Verschärfung der Wohnungssituation in Ost und West durch die Medien laufen, die nicht selten mit den eben kritisierten Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen zu tun haben, ruht sich die Regierung auf den Zahlen von Baugenehmigungen und hochgerechneten Fertigstellungszahlen aus, die aber keineswegs den Bedarf decken.
Das wissen Sie sehr genau. So werden in den neuen Bundesländern 34 000 Fertigstellungen für 1993 erwartet. Zur Deckung des Bedarfs allerdings müßten 100 000 Wohneinheiten pro Jahr gebaut werden.
— Ich z. B. sage das, und mir können Sie ruhig glauben.Die „Bild"-Zeitung, der Sie sicherlich am meisten trauen werden, hat am 15. September gemeldet, daß
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Gabriele Iwersenim ersten Halbjahr 1993 in den neuen Ländern 27 505 neue Wohnungen genehmigt worden seien. Und jetzt kommt das tolle Ergebnis: eine Steigerung um 282 %. Das hört sich phantastisch an, aber wie wird der Saldo am Jahresende aussehen? Wie viele Wohneinheiten gehen im gleichen Zeitraum durch Abbruch, durch Zusammenlegung, durch Zweckentfremdung verloren, und wie viele stehen leer? Und eines sollte nicht vergessen werden: Die enormen prozentualen Zuwachsraten resultieren in erster Linie aus der wohnungspolitischen Tatenlosigkeit der vergangenen Jahre.
Diese Rechnung sollte Frau Schwaetzer oder Herr Günther ruhig einmal aufmachen. Eine solche Gesamtbetrachtung hat den Vorteil, Herr Staatssekretär, daß man auf die rosarote Brille verzichten kann. Sie hilft in der Wohnungspolitik nämlich niemandem weiter.Dann ist da noch das Problem der dramatisch zurückgehenden Zahl der Sozialwohnungen. Um dem Auftrag des Wohnungsbaugesetzes gerecht zu werden, nämlich breite Schichten der Bevölkerung mit für sie bezahlbarem Wohnraum zu versorgen, müßten jährlich 200 000 Sozialwohnungen gebaut werden, davon 50 000 in den neuen Ländern. Das bedeutet Jahr für Jahr 6 Milliarden DM als Bundesfinanzhilfe gezielt nur für den sozialen Wohnungsbau, finanzierbar u. a. durch Abbau überhöhter Verlustzuweisungen, konsequente Mobilisierung von Bauland einschließlich der nicht mehr genutzten militärischen Liegenschaften, Verhinderung von Bodenspekulationen, auch durch den Bund, denn der wirkt kräftig dabei mit.Bodenvorratspolitik, meine Damen und Herren, ist eine Aufgabe der Kommunen und nicht der Bundesvermögensämter.
Nur wenn den Kommunen endlich schnell und kostengünstig die ehemaligen Militärgelände zur Verfügung gestellt werden, können die Gemeinden eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung vorantreiben. Um dies zu erreichen, haben wir den Antrag für einen Wechsel in der Wohnungspolitik eingebracht, und selbstverständlich erwarten wir Ihre Zustimmung.Nun aber zu einem weiteren Brennpunkt dieser Debatte, der mir besonders wichtig ist: Auch wenn die Regierung es nur selten zugibt, daß Obdachlosigkeit und Wohnungsnotfälle in der Bundesrepublik Deutschland zum traurigen Alltag von mehr als 1 Million Menschen geworden sind, kann sich dieses Parlament nicht der Verantwortung für die Wohnungslosigkeit und die sozialen Brennpunkte in den Städten entziehen. In großen Städten wird das Problem der Obdachlosigkeit sichtbar, aber die Ursache entsteht bundesweit. Die Quellen des Übels, die Arbeitslosigkeit und der Wohnraummangel, herrschen auch in der Provinz, aber in ihrer Hilflosigkeit strömen die Betroffenen in den Zentren der Anonymität, also in den Großstädten, zusammen. Hier verzichten sie darauf, sich zu verbergen, sind inzwischen bereit, in der Gesellschaft vieler anderer Ausgestoßener — man spricht allerdings heutzutage vorsorglich nur noch von „Betroffenen" — ihr Leben auf der Straße zu führen, dem einzigen Lebensraum, der ihnen tagsüber zur Verfügung steht, denn Obdachlosenunterkünfte sind tagsüber bekanntlich nicht geöffnet.Aber schon lange ist die Wohnungsnot keine Erscheinung mehr, die nur Problemgruppen trifft, die angeblich ihrer Reintegration selbst im Wege stehen. Um das Problem in seinem vollen Ausmaß nicht wahrnehmen zu müssen, wird der Begriff „Obdachlosigkeit" vielfach auf alleinstehende Wohnungslose, die schon an ihren Habseligkeiten zu erkennen sind, eingeengt. Diese Gruppe gilt auch als „nicht seßhaft", was den Eindruck von freiwilliger Mobilität erzeugt, obwohl die wenigsten von ihnen freiwillig ohne festen Wohnsitz sind.Aber immer stärker sind sogar ganze Familien aus unteren und mittleren Einkommensschichten, also die Normalbevölkerung, unverschuldet betroffen. Räumungsklagen wegen Eigenbedarf, Mietrückstände wegen Arbeitslosigkeit und Krankheit, Zwangsversteigerung nach Zahlungsunfähigkeit wegen falscher Baufinanzierungsberatung sind Gründe, die ganze Familien in die Obdachlosigkeit treiben.Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaftenhilfe gibt die Zahl der von Obdachlosigkeit und Wohnungsnot Bedrohten inzwischen sogar mit 2 Millionen an. Da häufig weder preiswerter noch teurer Wohnraum zur Verfügung steht, beginnt das Elend, das mit sozialem Abstieg und allzu häufig mit irreparablen psychischen Schäden verbunden ist.Besonders gefährdet sind dabei die Kinder, die häufig alle sozialen Kontakte verlieren und deren persönliche Entwicklung in einem so starken Maß Schaden nehmen kann, daß sie für ihr ganzes Leben aus der Bahn geworfen werden. Schon jetzt liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen in den Obdachlosenunterkünften bei 35 bis 40 %. Das kann wohl niemand von Ihnen hinnehmen wollen.Was geschieht mit diesen Familien? In vielen Fällen sammeln sich diese Wohnungsnotfälle in Wohnquartieren, die vom Zerfall und von sozialen Abstieg geprägt sind und wo längst abgängige Bausubstanz die einzige Möglichkeit bietet, ein Dach über dem Kopf zu finden. Die so entstehenden sozialen Brennpunkte sind von den Gemeinden nur mit extrem hohen Kosten zu sanieren, die weit höher liegen als jede präventive soziale Wohnungspolitik.Bei Städtebaufördermitteln von 80 Millionen DM für alle alten Bundesländer zusammen, wie für 1994 vorgesehen, ist mit einer Entschärfung dieser städtebaulichen und wohnungspolitischen Mißstände auch nicht zu rechnen. Zum Vergleich: Allein die Baustelle hier neben dem Langen Eugen verbraucht im nächsten Jahr 170 Millionen DM — und da sollen 80 Millionen DM für alle alten Bundesländer ausreichen. So kann es sich natürlich nicht rechnen.Zu Recht wies der Deutsche Städtetag schon 1987 darauf hin, daß der öffentlichen und der freien Wohlfahrtspflege mit der Lösung des Obdachlosenproblems und der Verbesserung der Lebensbedingungen
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Gabriele Iwersenin den sozialen Brennpunkten Aufgaben aufgebürdet werden, deren Ursachen nur zu einem kleinen Teil in den Kommunen selbst liegen. Auch liegen weder alle Zuständigkeiten bei den Trägern der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege, noch verfügen sie über ausreichend finanzielle Mittel. Daher wollen wir mit unserem Antrag endlich eine gesetzgeberische und finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder auf den Weg bringen.
Unser Antrag hat dazu eine ganze Reihe von Verfahrensschritten vorgelegt. Ich hoffe, daß sie in der Beratung entsprechende Berücksichtigung finden werden.Wir müssen uns jedenfalls alle darüber im klaren sein, daß Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf Chancengleichheit haben, damit sie ihren Weg ins Leben ohne unüberwindbare Hindernisse gehen können.Städte und Gemeinden müssen eingreifen können, sowie ihnen der drohende Wohnungsverlust einer Familie oder eines alleinlebenden Bürger bekannt wird.Soziale Hilfe oder auch Betreuung muß jedem geboten werden, der seine schwierige Situation nicht allein bewältigen kann.Menschen, die aus Krankenhäusern, Haftanstalten oder psychiatrischen Kliniken entlassen werden, dürfen von der Gesellschaft nicht verstoßen werden. Sie stellen zur Zeit eine große Gruppe derjenigen dar, die ohne festen Wohnsitz leben, obwohl sie in besonderem Maße unserer Hilfe bedürfen. Psychisch Kranke dürfen einfach nicht auf der Straße leben; sie gehören in betreute Wohngemeinschaften, um ein eigenes Zuhause zu finden.
Auch ein Staat kann sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Das wiegt besonders schwer, wenn er den Anspruch auf Sozial- und Rechtsstaatlichkeit erhebt. Wir alle sorgen uns um den sozialen Frieden in unserem Land. Der wird ohne soziale Gerechtigkeit aber nicht zu haben sein.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Dr. Dietrich Mahlo.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist eine heterogene Diskussion. Wenn man acht Themen zu einer Diskussion zusammenschnürt, dann führt jeder seine Diskussion am anderen vorbei. Ich sehe hier zwischen den einzelnen Themen zum großen Teil keinen Zusammenhang mehr.
— Herr Kollege, es ist natürlich auch ein Problem, wenn man Mietrechtsänderungsanträge am Fließband produziert; dann führt das natürlich dazu, daß man den einzelnen Antrag entwertet. Sie sollten vielleicht überlegen, ob Sie der Sache damit dienen.
Ich bin auch der Ansicht, daß das Problem, auf dem das Schwergewicht des Beitrags der Kollegin, die vor mir gesprochen hat, lag, nicht durch Baupolitik, Mietenpolitik oder auch Rechtspolitik, die ich hier vertrete, zu lösen ist, sondern in einen anderen Kasten gehört, so gewichtig das Thema ist.
Meine Aufgabe ist, über die Anträge der Fraktion der SPD und des Bundesrates zum Wohnungseigentumsgesetz zu sprechen. Aus diesem Thema ist die Musik an und für sich raus, nachdem im Vermittlungsausschuß zwischen allen ein sehr tragfähiger und produktiver Kompromiß gelungen ist. Da Sie aber diese Gesetzentwürfe nicht zurückziehen, nehme ich Gelegenheit, noch einmal darauf einzugehen. Meiner Ansicht nach sind diese Gesetzentwürfe in der Tat ein Anschlag auf die Idee der Eigentumswohnung überhaupt gewesen.
Die Annahme, daß durch Umwandlung Wohnungen vom Markt verschwinden, ist unrichtig. Durch die Umwandlung wird nicht eine einzige Wohnung vernichtet. Sie bleibt weiterhin vorhanden.
— Herr Kollege, das Problem ist, daß Wohnungen politisch — Herr Kansy hat es schon gesagt — zwei Gesichter haben, ein soziales, das Sie ausschließlich sehen, und ein wirtschaftliches, das Sie immer unterschlagen.
Das Problem besteht darin, in diesem Spannungsfeld einen Ausgleich zu schaffen. Ich bin der Ansicht, daß Ihre Vorschläge, so wichtig sie in einzelnen Punkten sind, deshalb so windschief sind, weil Sie nur eine Seite dieser Medaille kennen.
Herr Kollege Dr. Mahlo, gestatten Sie zwei Zwischenfragen? — Herr Kollege Dr. Seifert.
Herr Dr. Mahlo, Sie sagten, daß durch die Privatisierung keine Wohnungen wegfallen. Wollen Sie bitte zugeben oder bestätigen, daß es eine Tatsache ist, daß sehr häufig nach dem Verkauf von Wohnungen z. B. drei Wohnungen zu zweien zusammengelegt werden und dadurch praktisch eine Wohnung wegfällt, daß es also sehr häufig ist, daß Wohnungen nach der Privatisierung vergrößert werden?
Herr Kollege Seifert, ist gebe natürlich zu, daß das vorkommt. Ebenso häufig kommt es vor, daß große Wohnungen vor der Privatisierung geteilt werden. Aber grundsätzlich
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Dr. Dietrich Mahlobleibt die Summe der Wohnungen, die zur Verfügung stehen, etwa gleich.
Selbst wenn der Eigentümer dort einzieht, steht sie natürlich weiterhin für Wohnzwecke zur Verfügung. Auch zieht der Eigentümer in der Regel selbst aus einer Wohnung aus.
Herr Kollege Dr. Mahlo, gestatten Sie noch die zweite Zwischenfrage? — Herr Kollege Schöler!
Herr Kollege, wie beurteilen Sie die Situation von Menschen mit mittlerem oder unterem Einkommen, die seit den 50er Jahren zwanzig oder dreißig Jahre lang zu Recht in Sozialwohnungen gewohnt haben, deren Wohnungen aber jetzt nach Ablauf der Zweckbindung verkauft werden, in Eigentum umgewandelt werden? Diese Menschen müssen jetzt ausziehen und auf dem freien Markt Wohnungen suchen. Sie finden aber keine oder nur noch Wohnungen zu Mieten, die nicht mehr bezahlbar sind. Können Sie sich in die Situation solcher Menschen versetzen?
Selbstverständlich kann ich mich in diesen Zustand versetzen. Ich weiß auch, daß in den Ballungsgebieten eine große Angst herrscht, die als solche schon ein soziales Problem ist. Aber Sie sagen, daß sie schon dreißig Jahre in der Wohnung leben. Wenn ich davon ausgehe, daß sie dort mit 20 Jahren eingezogen sind, sind sie jetzt 50. Nach der gegenwärtigen Rechtslage haben sie jetzt noch elf Jahre; dann sind sie 61. Dann können sie irgendwann nicht mehr aus der Wohnung herausgeklagt werden. Es ist ja nicht so, daß diese Menschen bisher schutzlos waren. Sie sind jetzt noch viel weniger schutzlos.
— Der Druck ist allein nur dann wirksam, wenn er rechtlich umzusetzen ist. Das ist in der Tat in der großen Mehrzahl der Fälle nicht möglich.Grundsätzlich gehört daher die Bildung von Wohnungseigentum nicht verboten, sondern gefördert.
Sie dient gerade dazu, breiteren Schichten zu Immobilienbesitz zu verhelfen. Sie dient dazu, Geld aus dem Konsum in gesellschaftlich sinnvollere Investitionen zu leiten. Sie dient der Erhaltung und der Modernisierung des Bestandes, führt zur Identifikation der Eigentümer mit dem städtischen Quartier und führt zu Interesse an Stadtentwicklung. Insbesondere aber wirkt sie — das sollten Sie vielleicht bei Ihrem sozialen Anliegen auch beachten — der Tendenz entgegen, daß eine immer kleinere Anzahl von immer wohlhabenderen Personen einen immer größeren Vorrat an Grund und Boden bei sich ansammelt. Nach Ihren Vorschlägen kann Grundeigentum nämlich nur noch erwerben, wer ein ganzes Mietshaus kauft. Sie werden zugeben, daß deren Zahl dann in der Tat verschwindend gering ist.
— Ich weiß, daß Sie, um sich gegen dieses Argument abzusichern, irgendwo eine Ausnahme von Ihrer Regel untergebracht haben. Diese hat dann alle möglichen Sondervoraussetzungen; das ist natürlich nicht sehr sinnvoll. Ich dachte, daß die Einführung von Wohnungseigentum damals auch von Ihnen als eine soziale Tat empfunden worden wäre. Das ist offenbar heute nicht mehr der Fall.
Zweitens. Die Vermischung der Frage des technischen Standards einer Wohnung mit der Frage des Schutzes von Mietern ist in keiner Weise einsichtig und sachlich nachvollziehbar. Warum soll denn z. B. ein Mieter, nur weil er dickere Wände hat, weniger schützenswert sein als ein Mieter mit dünnen Wänden?
— Das ist doch das Ergebnis Ihres eigenen Vorschlags.
Der sozialdemokratische Gesetzentwurf führt zu einem weitgehenden Verbot von Umwandlungen auch dort, wo Mieterinteressen gar nicht betroffen sind, etwa weil das Haus ausschließlich gewerblich genutzt wird oder weil nur die Veräußerung von dem Teil des Hauses, der Gewerberaum betrifft, beabsichtigt ist oder weil mehrere Investoren die Wohnung untereinander teilen wollen oder schließlich weil das Haus leer ist und Mieter gar nicht vorhanden sind.Es gibt noch eine Reihe weiterer Bedenken, die ich hier übergehe. Insgesamt ist es eben eine falsche, unbelegte Behauptung, daß eine Wohnung durch die bloße Umwandlung von Wohnraum — das sagte ich schon — dem Markt immer entzogen wird.
Drittens. Die Lösung, die man nun im Vermittlungsausschuß gefunden hat, ist in der Tat zu begrüßen, weil sie das soziale Problem löst, ohne neue wirtschaftliche Probleme zu schaffen. Die lange Kündigungssperrfrist ist angemessen, weil der Wohnungskäufer — —Meine Redezeit ist abgelaufen; ich hoffe, daß die Zwischenfragen von der Zeit abgezogen wurden.
Die gefundene Regelung bietet Rechtssicherheit, nimmt den Mietern die Angst — in den Ballungsgebieten haben ganze Städte vor der Umwandlung gezittert — und behindert die Spekulation.Ich muß meinen Redebeitrag abbrechen, darf aber vielleicht abschließend noch sagen: Die Aufgabe der Politik und ihr Problem in der Nußschale lautet hier: Wie stellen wir sicher, daß die unteren 25 % der Einkommensbezieher eine vielleicht bescheidene, aber jedenfalls menschenwürdigere Wohnung bezahlen können? Die Wahrheit ist, daß wir dieses Ziel nur erreichen werden, wenn man die übrigen Einkom-
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Dr. Dietrich Mahlomensbezieher entsprechend ihrer Belastbarkeit an den Kosten des Wohnens beteiligt.Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes auf Drucksache 12/2505. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5639 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gibt es Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Nein, dann ist das einstimmig so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes auf Drucksache 12/1856. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5639 unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Maßnahmen zur Begrenzung des Mietpreisanstiegs, zur Erweiterung des Kündigungsschutzes und zur Erhaltung des Bestands an Mietwohnungen auf Drucksache 12/3291. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5639 unter Buchstabe C, den Antrag abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltungen der SPD-Fraktion und Gegenstimmen aus der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zu den Überweisungen. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4301, 12/5250, 12/5578 und 12/4932 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 12/5754 —
Es liegen nur noch vier Fragen vor. Danach kommen wir zu den Beratungen über die Energiepolitik.
Wir kommen zur Frage 6 des Kollegen Michael Habermann:
Wann hat die Bundesregierung die Aktualisierung des Gutachtens hinsichtlich des Abstandsgebots zwischen unteren Lohngruppen und Sozialhilfeempfängern in Auftrag gegeben, und welches Institut wurde mit der Aktualisierung beauftragt?
Für die Beantwortung dieser Frage steht uns Frau Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk zur Verfügung.
Nach dem Beschluß des Ausschusses für Familie und Senioren des Deutschen Bundestages vom 22. Januar 1992 zur Überprüfung der Einhaltung des Lohnabstandsgebots im Sozialhilferecht wurde auf das Otto-Blume-Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln zurückgegriffen, da dieses Institut umfassende Erfahrungen im Bereich des Sozialhilferechts aufweist. Nach vorbereiteten Verhandlungen erfolgte die formelle Auftragserteilung im Juni 1992.
Herr Präsident, darf ich gleich die zweite Frage des Kollegen Habermann beantworten, oder gibt es zur ersten Frage des Kollegen Habermann eine Zusatzfrage?
Herr Kollege Habermann möchte erst eine Zusatzfrage stellen. — Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, wenn Sie zu diesem Zeitpunkt, den Sie soeben genannt haben, dieses Institut mit dieser Untersuchung beauftragt haben, so frage ich Sie: Auf Grund welcher Untersuchungsergebnisse haben Sie denn seit Herbst vergangenen Jahres den mangelnden Lohnabstand zwischen Sozialhilfe und dem Einkommen unterer Lohngruppen festgestellt?
Herr Kollege Habermann, ich weiß nicht, auf was Sie sich beziehen. Ich weiß nicht, wo wir als Ministerium diesen Lohnabstand begründet haben. Wir haben uns immer wieder darauf berufen, daß wir das Ergebnis dieser Untersuchung durch das Institut abwarten, ehe wir uns differenziert zu dieser Frage äußern. Ich kann Ihnen also Ihre Frage nur beantworten, wenn Sie mir konkret eine Fundstelle nennen können.
Noch eine Frage, bitte.
Frau Staatssekretärin, können Sie sich denn dann erklären, warum die Bundesregierung, u. a. der Minister für Wirtschaft und der Minister für Finanzen, mit solchen Thesen operiert hat und des weiteren auch das Föderale Konsolidierungsprogramm und die dort vorgesehenen Kürzungen auch in den Gesetzestexten mit dem fehlenden Lohnabstand durch die Bundesregierung begründet wurden?
Ich kann nicht beurteilen, ob sich der Herr Wirtschaftsminister zu dieser Frage geäußert hat. Mir ist das nicht bekannt. Gegegebenenfalls müßten Sie ihn dann selber fragen.
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Wir kommen jetzt zur Frage 7 des Kollegen Michael Habermann:
Seit wann liegen der Bundesregierung die Ergebnisse des aktualisierten Gutachtens vor, und zu welchem Zeitpunkt plant die Bundesregierung diese Ergebnisse zu veröffentlichen?
Die endgültige Fassung der Studie liegt der Bundesregierung seit Ende Juli 1993 vor, also praktisch seit der Sommerpause. Die Ergebnisse des Gutachtens sind dann im Rahmen eines Berichtsentwurfs der Bundesregierung zur Frage, ob das in § 22 Abs. 3 BSHG verankerte Lohnabstandspostulat noch gewahrt ist, ausgewertet worden. Dieser Bericht, den die Bundesregierung zum Gutachten zu erstellen hat, wird derzeit innerhalb der Bundesregierung abgestimmt. Das ist das übliche Verfahren. Bei jeder Stellungnahme der Bundesregierung zu einem von ihr erteilten Auftrag zur Gutachtenserstellung ist eine vorherige Abstimmung erforderlich. Sobald das Gutachten dem Bundestagsausschuß für Familie und Senioren zugeleitet worden ist, d. h. nach der erfolgten Abstimmung, sollen die Ergebnisse auch allgemein veröffentlicht werden. Die Reihenfolge ist also, daß der auftraggebende Ausschuß das Ergebnis zuerst vorgelegt bekommt und dann ungefähr zeitgleich oder direkt danach auch die Öffentlichkeit informiert wird.
Den Zeitpunkt für diese öffentliche Mitteilung über das Gutachten kann ich Ihnen nicht nennen, weil ich nicht sagen kann, wann die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung beendet ist. Es gibt mehrere Ressorts, die sich noch Prüfungszeit vorbehalten haben.
Herr Kollege Habermann, eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Ihnen dürfte als Mitglied dieser Regierung nicht entgangen sein, daß es innerhalb von Abstimmungsgesprächen Terminsetzungen gibt. Welche Terminsetzung haben Sie denn mit Ihren Kollegen in den betroffenen Ressorts vereinbart, um zu einem Ergebnis zu kommen?
Es sind die üblichen Termine, die es immer in diesem Falle gibt. Sie sind bisher nicht überschritten worden, Herr Kollege.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Habermann? — Bitte, die letzte.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir bestätigen, daß das Ergebnis der Untersuchungen das ist, was die Caritas in ihrer Stellungnahme vom 12. August mit der Feststellung umschrieben hat, daß eine Verletzung des Abstandsgebots nur bei Haushalten mit vier und mehr Personen vorliegt und folglich fast 90 % der Sozialhilfeempfänger von diesem Problem überhaupt nicht berührt sind, obwohl die Kürzungsvorschläge bzw. die gesetzlichen Initiativen, die Sie dazu ergriffen haben, letztlich alle Sozialhilfeempfänger betrifft?
Ich kann mich für die Bundesregierung erst zum Ergebnis dieser Studie äußern, wenn wir sie dem Parlament zuleiten und damit die Abstimmung innerhalb der Ressorts erfolgt ist. Das, was der Caritas-Verband in seiner Veröffentlichung vorgelegt hat, deckt sich ja mit der Meinung vieler Fachleute, daß das Lohnabstandsgebot insbesondere bei großen Haushalten, vor allem bei Haushalten mit mehreren älteren Kindern, nicht gewahrt ist. Aber dies ist eine Binsenweisheit. Die Untersuchung, die wir vorlegen werden, ist differenzierter.
Meine Damen und Herren, dies war die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie und Senioren. Wir danken der Parlamentarischen Staatssekretärin, Frau Roswitha Verhülsdonk.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Es liegen zwei Fragen der Frau Kollegin Renate Jäger vor, die schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen dann zum letzten Geschäftsbereich. Das ist der Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht uns Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.
Die Frage 48 des Abgeordneten Ortwin Lowack soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Bleiben die Fragen 49 und 50 unseres Kollegen Gernot Erler. Zunächst rufe ich die Frage 49 auf:
Mit welchen Vorschlägen für die gesamte Mission und Angeboten für eine deutsche Beteiligung geht die Bundesregierung in die NATO-Beratungen über die Entsendung eines Kontingents von bis zu 50 000 Soldaten zur Absicherung einer Friedenslösung in Bosnien-Herzegowina?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Herr Kollege Erler, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:Im Hinblick auf die möglicherweise bevorstehende Unterzeichnung eines Friedensplans für Bosnien-Herzegowina im Rahmen der Genfer Konferenz hat der NATO-Rat die NATO-Militärbehörden beauftragt, vorläufige Planungen zur Umsetzung der militärischen Teile eines solchen Friedensplans auf der Grundlage eines zu erwartenden Beschlusses des UN-Sicherheitsrates zu erarbeiten.Dieser Auftrag wird von der Bundesregierung in dem Bestreben unterstützt, die NATO und ihre Mitgliedstaaten auf eventuelle Übernahme einer entsprechenden Aufgabe vorzubereiten, um damit einen wesentlichen Beitrag zum Ende des Blutvergießens und zu einer politischen Lösung des Konfliktes in Bosnien-Herzegowina zu leisten.Da die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland zur Mitwirkung an militärischen Aktivitäten im früheren Jugoslawien aus den bekannten Gründen eingeschränkt sind, hält sich die Bundesregierung auch mit Ratschlägen an die Bündnispartner zur Ausgestaltung der Mission zurück.
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15472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Herr Kollege Erler, eine Zusatzfrage? — Bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatsministerin, können Sie bestätigen, daß in diesem Zusammenhang die Zahl von 50 000 zu entsendenden Soldaten korrekt ist? Wird sich die Bundesregierung über die Erteilung von klugen Ratschlägen hinaus gegebenenfalls mit anderen Aktivitäten an einer solchen Mission beteiligen?
Herr Kollege Erler, ich kann die Zahl 50 000 bestätigen. Mir ist auf Grund der Beschlußlage keine andere geläufig. Wie ich eben sagte, prüft die Bundesregierung im Vorfeld eines Friedensschlusses in Bosnien-Herzegowina Möglichkeiten des Einsatzes; aber da dieses wirklich ein allererstes Stadium ist, kann ich Ihnen, Herr Kollege, genauere Einzelheiten hierzu heute leider noch nicht mitteilen.
Herr Kollege Erler, eine weitere Zusatzfrage? — Bitte.
Frau Staatsministerin, wie können Sie dem Hohen Haus erklären, daß vor kurzem, als die Vereinten Nationen beschlossen haben, einzelne bosnische Städte zu Sicherheitsstädten zu erklären und sie durch Blauhelme zu schützen, kein NATO-Land in der Lage war, weitere Blauhelme zur Verfügung zu stellen, daß aber die NATO sich offenbar jetzt darauf vorbereitet, 50 000 Mann zur Verfügung zu stellen, um, nachdem diese Städte in der Regel erobert worden sind, einem Friedensplan in Bosnien-Herzegowina zur Durchsetzung zu verhelfen?
Herr Erler, ich müßte jetzt spekulieren, aber sicherlich ist der Beschluß, 50 000 Soldaten aus dem NATO-Gebiet nach Bosnien-Herzegowina zu schicken, damit verbunden, daß es sich dabei um die Zeit nach einem erfolgten Friedensschluß handeln soll. Über den ersten Teil Ihrer Frage will ich gerne nachdenken, und werde Sie dann gegebenenfalls von meinen Erkenntnissen unterrichten.
Wir kommen nunmehr zur Frage 50 unseres Kollegen Gernot Erler:
Hält die Bundesregierung die mögliche Entsendung von 50 000 Mann NATO-Truppen nach Bosnien-Herzegowina, die dort einem entsprechenden UNO-Mandat folgend einen Friedensplan auch durch Kampfeinsätze durchsetzen müßten, mit den vertraglich vereinbarten Aufgaben der NATO vereinbar, und auf welche Vertragsregelungen und Bündnis-Dokumente beruft sich die Bundesregierung gegebenenfalls hierbei?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Die Bundesregierung hält die Unterstützung der Vereinten Nationen bei der Umsetzung des militärischen Teils eines von den Konfliktparteien akzeptierten Friedensplans für Bosnien-Herzegowina durch die NATO und ihre Mitgliedstaaten für mit dem Auftrag des Bündnisses nach dem Washingtoner Vertrag vom 4. April 1949 vereinbar. Sie verweist hierzu auf dessen Präambel sowie auf die Art. 1, 2, 4, 5 und 7. Zu berücksichtigen ist auch Art. 48 der Charta der Vereinten Nationen. Der Nordatlantikrat hat auf Außenministerebene am 17. Dezember 1992 in Brüssel die Bereitschaft festgestellt, von Fall zu Fall und in Übereinstimmung mit unseren eigenen Verfahren friedenserhaltende Operationen unter der Autorität des UN-Sicherheitsrates zu unterstützen sowie positiv auf Initiativen zu reagieren, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen ergreifen könnte, die Allianz um Unterstützung bei der Umsetzung von Resolutionen des VN-Sicherheitsrates zu ersuchen.
Das ist nachzulesen im „Bulletin" der Bundesregierung Nr. 141 vom 29. Dezember 1992.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Erler? — Bitte.
Frau Staatsministerin, würden Sie mir zustimmen, daß das das erste Mal wäre, daß die NATO und ihre Mitgliedstaaten den Washingtoner Vertrag in diesem erweiterten Sinne auslegen, daß dies also eine qualitative Erweiterung dessen wäre, was die NATO bisher praktisch gemacht hat? In welcher Weise plant denn die Bundesregierung darüber einen politischen oder gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen? Wollen Sie das allen Ernstes einfach in den NATO-Gremien so beschließen und sagen: Wir interpretieren das mal so? Dann wären wir auf einmal an einer solchen Aktion beteiligt, die bisher keineswegs zu den Aufgaben der NATO gehörte.
Herr Kollege Erler, ich kann Ihnen beipflichten, wenn Sie sagen, daß es Vergleichbares bis jetzt noch nicht gegeben hat.
Aber Sie wissen — um zum weiteren Teil Ihrer Frage zu kommen —, daß sich die Bundesregierung seit einiger Zeit intensiv um ihr Anliegen bemüht, sich an friedenserhaltenden und friedensschaffenden Maßnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen zu beteiligen, und daß dieses mit Sicherheit auch in diesem Rahmen zu sehen sein wird.
Noch eine Zusatzfrage? — Kollege Erler, bitte.
Frau Staatsministerin, Sie haben ja praktisch eben deutlich gemacht, daß es ein gewisses Wagnis ist, die Interpretation der Grundlagen der NATO so vorzunehmen. Welche Planungen hat die Bundesregierung, um das Ganze einmal auf eine wirklich belastbare Grundlage zu stellen, zum Beispiel im Rahmen des bevorstehenen NATO-Gipfels im Januar nächsten Jahres? Gibt es Konzepte und welche, um dieses einmal etwas verbindlicher als durch eine Uminterpretation der Grundlagen der NATO zu regeln?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15473
Herr Kollege Erler, es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihre Bewertung, daß dieses ein Wagnis sei, nicht teile. Ich bitte Sie, meine Äußerungen nicht so zu interpretieren. Ich habe dieses auch so nicht gesagt.
Selbstverständlich wird die Bundesregierung mit einem zwischen den beteiligten Häusern abgestimmten Konzept im Januar zu dieser wichtigen NATO-Tagung fahren. Ich bin ganz sicher und verbürge mich dafür, daß in den einschlägigen Ausschüssen hier gut vorbereitet und informiert werden wird.
Es gibt eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Claus Jäger.
Frau Staatsministerin, die Bundesregierung hat ja mehrfach in diesem Hause, aber auch in der Öffentlichkeit erklärt, daß sie einer Friedensregelung für Bosnien nicht zustimmen werde, bei der die gewaltsam eroberten Gebiete endgültig im Besitz der Aggressoren verbleiben. Wird die Bundesregierung diesen Aspekt ihrer ständigen politischen Haltung auch bei der Frage berücksichtigen, ob sie irgendwelchen NATO-Aktionen zur Durchsetzung von Friedensplänen zustimmen wird?
Ursula Seiler-Albring, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, ich glaube, der erste wichtige Schritt ist der, daß es nun gelingt, einen Friedensvertrag zwischen den Konfliktparteien auf den Tisch in Genf zu bekommen. Was die Bundesrepublik bzw. die Bundesregierung danach tun wird, werden wir im Lichte dieses Vertrages betrachten und beurteilen.
Ich habe keinen Anlaß, davon abzugehen, daß die Londoner Kriterien ein Maßstab für uns sein müssen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde. Frau Staatsministerin, herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 8:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesErsten Gesetzes zur Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes
— Drucksache 12/1305 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/4966 —Berichterstattung:Abgeordneter Heinrich Seesing Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung , Robert Antretter, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSicherung der Zukunft der ostdeutschen Braunkohle— Drucksache 12/5251 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit FinanzausschußHaushaltsausschußh) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung , Angelika Barbe, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDProgramm Energiesparen/erneuerbare Energien— Drucksache 12/5252 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
FinanzausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschußi) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung , Holger Bartsch, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDJetzige Sicherung der langfristigen umweltgerechten Nutzung der heimischen Steinkohle— Drucksache 1112/5253 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
FinanzausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung , Holger Bartsch, Wolfgang Roth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDÜberfällige Einführung einer europäischen allgemeinen Energiesteuer aus Gründen des Klimaschutzes, der Verbesserung der Energieeffizienz und zur Ressourcenschonung— Drucksache 12/5254 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußk) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
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15474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Vizepräsident Helmuth Beckeraa) zum Bericht der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung: Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987Bedingungen und Folgen von Aufbaustrategien für eine solare Wasserstoffwirtschaftbb) gemäß § 56a der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur Technikfolgenabschätzung
hier: Risiken bei einem verstärkten Wasserstoffeinsatz— Drucksachen 11/7993, 12/4669 —Berichterstattung:Abgeordnete Heinrich Seesing Holger BartschDr. Christoph Schnittlerg) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Vosen, Volker Jung (Düsseldorf), Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDRevidiertes Energieforschungsprogramm der Bundesregierung— Drucksachen 12/2216, 12/4670 —Berichterstattung:Abgeordnete Heinrich Seesing Holger Bartschh) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEnergiewende — Grundstein für eine dauerhafte Entwicklung— Drucksachen 12/1794, 12/4967 —Berichterstattung:Abgeordneter Heinrich Seesingi) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
— zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/ Linke ListeSofortiger Ausstieg der Bundesrepublik Deutschland aus dem europäischen schnellen Brüterprojekt EFR— zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Vosen, Holger Bartsch, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDKündigung des Regierungsabkommens zum European Fast Reactor— Drucksachen 12/3807, 12/4256, 12/5238 —Berichterstattung:Abgeordnete Christian Lenzer Horst KubatschkaDr.-Ing. Karl-Hans Laermannj) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
— zu der Unterrichtung durch die BundesregierungDie Forschung nach Maastricht: Bilanz und Strategie— zu der Unterrichtung durch die BundesregierungArbeitsdokument der Kommission für das vierte gemeinschaftliche Rahmenprogramm im Bereich der Forschung und technologischen Entwicklung
— Drucksachen 12/3240 Nr. 3.30, 12/3989 Nr. 2.10, 12/5356 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Martin Mayer
Bodo SeidenthalDr.-Ing. Karl-Hans Laermannk) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Jung (Düsseldorf), Harald B. Schäfer (Offenburg), Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDProgramm Energieeinsparung in Gebäuden — Wiedereinführung und Umgestaltung des § 82a EStDV— Drucksachen 12/2495, 12/5540 —Berichterstattung:Abgeordnete Ludwig EichDr. Reinhard Meyer zu Bentrup1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Braband, Bernd Henn und der Gruppe der PDS/Linke ListeRekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft sowie Novellierung des Energierechts: Grundvoraussetzung eines energiewirtschaftlichen Gesamtkonzepts für die Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 12/1294, 12/5055 —Berichterstattung:Abgeordneter Volker Jung
Zu Tagesordnungspunkt 8j liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15475
Vizepräsident Helmuth BeckerNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Volker Jung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der letzten Kohlerunde im November 1991 ist verbindlich vereinbart worden, daß die Steinkohleförderung bis zum Jahre 2005 auf 50 Millionen Tonnen zurückgeführt, aber politisch gestützt, das heißt mit öffentlichen Mitteln subventioniert wird.
Allen Beteiligten war damals bewußt, daß dies die Stillegung einer Förderkapazität von rund 20 Millionen Tonnen und den Abbau von 40 000 Arbeitsplätzen allein im Bergbau bedeuten würde.Die Bergleute und ihre Gewerkschaft sind diesen Kompromiß nur deswegen eingegangen, weil sie auf die Zusage der Bundesregierung vertraut haben, rechtzeitig eine tragfähige Finanzierungsregelung für das vereinbarte Förderkonzept vorzuschlagen. Man muß heute zur Klarstellung hinzufügen: Das war zu einem Zeitpunkt, als noch kein Mensch an Gespräche über einen neuen energiepolitischen Konsens gedacht hat,
und die haben auch nicht Sie, sondern die haben wir initiiert.Wir haben den Kohlekompromiß seinerzeit mitgetragen, nicht gerade begeistert — uns ging der Kapazitätsabbau zu weit —, aber doch sehr bewußt. Wir wollten Planungssicherheit für den Bergbau.Der Bergbau hat seine Verpflichtungen erfüllt, ja, er hat sie übererfüllt. Bis heute sind, nicht zuletzt bedingt durch die Krise in der Stahlindustrie, über 30 000 Arbeitsplätze abgebaut worden; weitere Zechenstillegungen sind angekündigt. Aber Sie, die Bundesregierung, tun nichts, um ihren Verpflichtungen gerecht zu werden.
Sie haben fast zwei Jahre Zeit gehabt, um eine tragfähige Finanzierungsregelung vorzulegen. Aber Sie sind bis auf den heutigen Tag heillos zerstritten, nicht nur was den Kohlepfennig für die nächsten zwei Jahre, die Restlaufzeit des Jahrhundertvertrags, betrifft, sondern vor allem was die Anschlußfinanzierung angeht. Bundeswirtschaftsminister Rexrodt hat eine Kohlefinanzierungssteuer vorgeschlagen, konnte sich aber damit in der Regierungskoalition nicht durchsetzen. Bundesfinanzminister Waigel will einen modifizierten Kohlepfennig. Und einige von Ihnen wollen die Entscheidung sogar bis nach der nächsten Bundestagswahl verschieben.In einem Punkt scheinen Sie sich aber offensichtlich alle einig zu sein: Sie wollen das Schicksal der Bergleute an Ruhr und Saar so lange im unklaren lassen, bis Sie die Sozialdemokraten beim Einsatz neuer Kernkraftwerke in die Knie gezwungen haben.
Wenn Sie glauben, meine Damen und Herren, uns in dieser Frage erpressen zu können, dann sage ich in aller Deutlichkeit: Wir lassen uns nicht erpressen,
aus Prinzip nicht und auch in der Sache nicht. Wir weisen diesen unverschämten Erpressungsversuch zurück.
Diese Politik wird nicht aufgehen, meine Damen und Herren. Die Bergleute werden sich nicht länger in Geiselhaft nehmen lassen. Sie sind auf die Straße gegangen, weil sie dieses zynische Spiel durchschaut haben. Die Bergleute wollen Klarheit über ihr Schicksal haben. Wir haben deshalb volles Verständnis für die Sorgen der Bergleute um ihre Arbeitsplätze und ihre wachsende Wut über die Tatenlosigkeit der Politik,
und wir versichern sie unserer uneingeschränkten Solidarität.
Wir fordern die Bundesregierung mit allem Nachdruck auf, die eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten, und zwar ohne Wenn und Aber. Nicht wir, die Opposition, sondern Sie, die Bundesregierung, sind diese Verpflichtung eingegangen, und es ist Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diese Verpflichtung einzulösen.
Wir fordern Sie auf, meine Damen und Herren, endlich einzusehen, daß es in der Energiepolitik unterschiedliche zeitliche Entscheidungszwänge gibt. In der Frage der Steinkohleförderung drängt die Zeit am meisten. Wenn nicht noch in diesem Herbst die Finanzierung der Anschlußregelung sichergestellt wird, werden wir kaum noch eine Chance haben, das Beihilfesystem der Europäischen Gemeinschaft, das am Ende dieses Jahres ausläuft, durch ein neues System zu ersetzen. Sie wissen doch, daß es dazu eines einstimmigen Beschlusses des Ministerrates bedarf. Wie wollen Sie denn in Brüssel ein neues Beihilfesystem durchsetzen, das mit unserem Steinkohlesystem konform ist, wenn Sie bis auf den heutigen Tag nicht wissen, wie ein solches Finanzierungssystem aussehen soll?
Und Sie wissen doch auch, daß die Energieversorgungsunternehmen, die Strom auf Steinkohlebasis erzeugen, damit beginnen, langfristige Verträge zum Bezug von Importkohle abzuschließen.Wenn Sie die Entscheidung über die Finanzierungsregelung bis über die nächste Bundestagswahl hinausschieben wollen, dann riskieren Sie in der Tat, daß das vereinbarte Mengengerüst für die deutsche Stein-
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15476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Volker Jung
kohle einstürzt. Aber vielleicht wollen Sie das ja auch.
Bei einigen von Ihnen, vor allem in den revierfernen Ländern, scheint mir das sicher zu sein. Wir haben doch registriert, daß einige von Ihnen eine erneute Anpassung der Kohleförderung fordern und andere, die das nicht ganz so offensichtlich machen wollen, von einer degressiven Gestaltung des Finanzierungssystems sprechen. Das wäre offener Wortbruch, meine Damen und Herren.
So fördern Sie die Politikverdrossenheit in unserem Land, in dieser Frage wie in vielen anderen Fragen, und dazu werden wir nicht beitragen.Meine Damen und Herren, die sichere Versorgung mit Energie ist eine notwendige Voraussetzung für ein ökologisch verträgliches Wirtschaftswachstum. Deshalb setzt sich die SPD für die Beibehaltung des bisherigen Anteils der heimischen Steinkohle und auch der Braunkohle an unserer Energieversorgung ein.Wir verlangen, daß die Finanzierung der im Kohlekompromiß 1991 vereinbarten 50-Millionen-Jahrestonnen-Steinkohleförderung sichergestellt wird. Wir verlangen ferner, daß der Absatz von mindestens 100 Millionen Tonnen ostdeutscher Braunkohle im Jahr langfristig gefördert wird.Dazu müssen die ökologische Sanierung mit einem Jahresansatz von wenigstens 2 Milliarden DM für mindestens 20 Jahre gefördert, die Privatisierung vorangetrieben und der Kraftwerkspark modernisiert oder erneuert werden.
Nachdem der Verfassungsstreit um die Stromverträge nun endlich beigelegt ist, sollte dies auch möglich sein.Wir verlangen außerdem eine umfassene Energiesparpolitik.Diese Eckpunkte sind für uns die Voraussetzung für einen neuen energiepolitischen Konsens. Dazu haben wir den Vorschlag, ein Programm für Energiesparen und erneuerbare Energien mit einem jährlichen Fördervolumen von fünf Milliarden DM aufzulegen, nicht nur in die Konsensverhandlungen, sondern auch in den Bundestag eingebracht.Mit diesem Programm sollen die Energieeinsparung in Gebäuden und in der Industrie, der Ausbau der Kraft-Wärme-Koppelung, die Sanierung und der Ausbau der Nah- und Fernwärme in Ost- und Westdeutschland, die Energieberatung und die Markteinführung erneuerbarer Energiequellen durch Investitionszulagen und Sonderabschreibungen gefördert werden.Alle diese Ziele werden aber nicht zu erreichen sein, wenn wir nicht neue Finanzierungsquellen erschließen. Wir haben deshalb vorgeschlagen, uns gemeinsam für die Einführung einer allgemeinen Energiesteuer in der Europäischen Gemeinschaft einzusetzen. Dabei sind wir in Übereinstimmung mit der Wirtschaftsministerkonferenz der Länder, vielen Wirtschaftsverbänden und auch den Gewerkschaften gegen eine CO2-Komponente, die nicht nur die heimische Braun- und Steinkohle, sondern den Wirtschaftsstandort Deutschland übermäßig belasten würde. Dafür sollte aber das Aufkommen von Anfang an höher angesetzt sein.Wenn der Vorschlag der Europäischen Kommission endgültig auf Eis gelegt wird, wie sich das heute abzeichnet, dann müssen wir einen nationalen Alleingang machen. Wir brauchen ohnehin eine ökologische Steuerreform, um zusätzliche wirtschaftliche Anreize zum Energiesparen und zur rationellen Energienutzung zu schaffen.Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die internationalen Ölpreise, die eine Leitfunktion haben, auf ein immer tieferes Niveau fallen. Wenn wir nicht entschieden gegensteuern, sind alle Anstrengungen, unsere Umwelt und unser Klima zu schützen, zum Scheitern verurteilt. Das Aufkommen aus dieser Energiesteuer sollte aber auch gezielt zur Energieeinsparung und Markteinführung erneuerbarer Energiequellen, zur Sicherung der heimischen Steinkohle und zur Sanierung der ostdeutschen Braunkohle eingesetzt werden.Mit diesem Konzept könnten nach unseren Berechnungen etwa 250 000 Arbeitsplätze gesichert bzw. neu geschaffen werden. Eine ökologische Modernisierung unserer Energieversorgung würde daher auch die Exportchancen umweltgerechter Verfahrenstechnologien und Produkte nachhaltig fördern.Wir sind davon überzeugt: Unser Vorschlag kommt zum richtigen Zeitpunkt, um auch konjunkturelle Impulse auszusenden. Darum ist die Weigerung der Bundesregierung, unsere Vorschläge mitzutragen, nicht nur energiepolitisch unsinnig, sondern auch konjunkturpolitisch verfehlt.Meine Damen und Herren, wir halten an dem Ziel, auf die Kernenergie zu verzichten, fest. Dieses Ziel stand nie zur Disposition. Wir halten das Restrisiko bei der Nutzung der derzeit am Netz befindlichen Kernkraftwerke, das trotz des unbestritten hohen Sicherheitstandards in Deutschland von niemandem ernsthaft bestritten wird, für nicht verantwortbar, weil eine Reaktorkatastrophe unser Land ruinieren würde.Außerdem blockiert der hohe staatliche und auch der private Aufwand notwendige Finanzierungsmittel zur Erforschung, Entwicklung und Markteinführung von erneuerbaren Energien, den Energiequellen der Zukunft.Aber, meine Damen und Herren, wir haben unsere Bereitschaft erklärt, über den Zeitraum des Ausstiegs aus der Kernenergie zu verhandeln. Dabei setzen wir das Interesse der Elektrizitätswirtschaft an einem geordneten Ausstieg voraus. Ich habe es an anderer Stelle gesagt und wiederhole es hier — die Vertreter der Energiewirtschaft in den Konsensgesprächen haben uns das bestätigt —: Ein Jahr Laufzeitverlängerung bringt mehr als 10 Milliarden DM. Dafür erwarten wir allerdings auch ein erhebliches finanzielles Engagement der Wirtschaft bei der ökologischen Modernisierung unserer Energieversorgung. Bei ei-
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Volker Jung
ner Vereinbarung der Restlaufzeit für die bestehenden Kernkraftwerke scheint die Frage der Entsorgung lösbar. Das haben sogar die GRÜNEN in den Konsensgesprächen erklärt.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, Herrn Dr. Lammert eine Frage zu beantworten?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Jung, Sie haben aus guten Gründen auf die Bemühungen um einen energiepolitischen Konsens abgestellt, von dessen Zustandekommen für jeden erkennbar auch die Sicherung der Zukunftsperspektiven des Bergbaus abhängt.
Halten Sie es ernsthaft für realitätsnah, daß ein energiepolitischer Konsens in der Weise zustande kommen könnte, daß man sich auf den verbindlichen Ausstieg aus der Kernkraft und gleichzeitig auf die unbefristete Verlängerung der Steinkohleförderung verständigt?
Die Verlängerung der Steinkohleförderung ist bereits vereinbart worden, Herr Lammert. Sie wissen doch, welche Verpflichtung Sie eingegangen sind. Ich denke, das gehört gar nicht in den Zusammenhang mit den Konsensgesprächen.
Wir haben immer wieder deutlich gemacht — ich meine, Sie sollten das heute zur Kenntnis nehmen —: Wenn wir bereit sind, über die Laufzeit von Kernkraftwerken zu reden, dann erwarten wir, daß Sie bereit sind, wesentliche Fortschritte bei der Energieeinsparung mitzutragen. Das ist der Zusammenhang.
Ich habe darüber gesprochen, daß die Verpflichtung, die Sie beim Steinkohlebergbau eingegangen sind, heute erfüllt werden muß. Dazu ist keine Zeit mehr übrig.
Eine andere Frage ist es, meine Damen und Herren, ob Regierungskoalition und Energiewirtschaft darauf bestehen, daß der bei Siemens und Framatome in der Entwicklung befindliche Druckwasserreaktor noch in diesem Jahrzehnt als Referenzanlage in Deutschland gebaut wird. Ich sage Ihnen: Dann würde ich einem neuen Energiekonsens keine Chance mehr geben.
Man kann nicht verhindern, daß die Kraftwerksbauer auf eigene Rechnung und mit vollem wirtschaftlichen Risiko einen noch sichereren Reaktor entwikkeln, aber die Entscheidung darüber, ob die Sicherheitskriterien dazu genügen, jedes Risiko auszuschalten, kann man nicht übers Knie brechen. Dazu muß eine breite politische und gesellschaftliche Grundlage geschaffen werden. Dazu sind verschiedene Kommissionen vorgeschlagen worden, in denen sich Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften, Umweltverbände und der notwendige wissenschaftliche Sachverstand zusammenfinden.
Dabei sollten Sie aber nicht aus den Augen verlieren, was die Vertreter der Energiewirtschaft in den Konsensgesprächen in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht haben: Der Neubau von Kernkraftwerken steht, auch wenn er gesellschaftlich durchsetzbar wäre, in diesem Jahrhundert nicht mehr an. Wir haben also Zeit, und die Entsorgung könnte durch eine Erhöhung der Zwischenlagerkapazitäten zeitlich gestreckt werden. Damit könnten wir Spielraum gewinnen, um neue Möglichkeiten der Konsensfindung zu suchen.
Diese Chancen sollten wir nutzen, meine Damen und Herren, ebenso wie die Chance, eine Energiewende zu schaffen. Je schneller die ökologische Modernisierung in Angriff genommen wird, desto eher wird eine Energiesparwirtschaft an Bedeutung gewinnen und desto größer wird unser technologischer Fortschritt und damit unser Anteil am Weltmarkt sein.
Aber alle diese Chancen werden verspielt, wenn Sie nicht als Voraussetzung das machen, wozu Sie sich selbst verpflichtet haben: unverzüglich einen Vorschlag zur Kohlefinanzierung vorzulegen. Aus dieser Verpflichtung werden wir Sie nicht entlassen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Heinz Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Energiepolitik soll den Menschen dienen. Dabei reden wir viel vom Standort Deutschland. Man kann diesen Standort zu Tode reden.
Wenn man das Gegenteil will, muß man handeln.
Die Vielzahl der Vorlagen, die heute zur Beratung anstehen, lassen den Wunsch aufkommen, den Versuch einer Gesamtdarstellung unserer Vorstellungen von einer zukunftsträchtigen Energiepolitik zu machen, einer Energiepolitik, die hilft, wirtschaftliches Leben in unserem Lande wieder attraktiv zu machen. Wenn ich vom Handeln spreche, meine ich nicht nur Steinkohle; denn die Energielandschaft scheint mir doch etwas umfangreicher zu sein, als daß sie nur die Frage Steinkohle umfaßt.Gesamtdarstellungen sind schwierig und in den Redezeiten des Deutschen Bundestages nicht zu bewältigen. Es muß also auch heute bei einigen Schlaglichtern bleiben.Energiepolitik muß langfristig angelegt sein. Die Entscheidungen von heute berühren unsere Enkel. Wir müssen uns von Vorstellungen lösen, daß Politik beliebig in die doch sehr komplizierten Strukturen eingreifen könne, ohne daß man sich Gedanken über
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15478 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Heinrich Seesingdie langfristigen Auswirkungen machen müsse. Einwirkungen mit gewaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen können nicht mehr von momentanen Zufallsmehrheiten abhängig gemacht werden.Dabei meine ich nicht einmal die Beschlüsse, die wir in diesem Hause kraft unseres Amtes zu treffen haben, das uns die Wählerinnen und Wähler übertragen haben. Ich sehe vielmehr mit Sorge, daß z. B. Entscheidungen von Stadt- und Gemeinderäten in der Lage sind, die energiewirtschaftliche Zukunft von Regionen und sogar des ganzen Landes zu beeinträchtigen. Deswegen ist es richtig, daß wir uns in Deutschland bemühen, für den gesamten Bereich der Energieversorgung einen weitgehenden Konsens zu erzielen.Ich will im weiteren darstellen, was wir in diesen Gesprächen erreichen möchten. Dabei wissen wir natürlich auch, daß der Konsens nicht die Durchsetzung des Willens einer Seite sein kann. Konsens ist wie fast alles in der Politik nur als Kompromiß zu erreichen. Energiekonsens darf aber nicht nur um des Konsenses willen erreicht werden; er muß für unser Land, seine Wirtschaft und für die Menschen von Nutzen sein.Die Formulierung der Ziele der deutschen Energiepolitik ist verhältnismäßig leicht zu vollziehen — ich glaube, daß wir darüber weitgehend einig sind —: Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit und Ressourcenschonung. Wenn man aber in die Beschreibung dieser Ziele eintritt, wird man Unterschiede in manchen Punkten feststellen. Deswegen möchte ich dazu einige Bemerkungen machen.Erstens. Die verläßliche Versorgung mit Energie bleibt eine nationale Aufgabe. Deswegen darf es nicht zu Versorgungs- und Lieferschwierigkeiten kommen, die durch politische Vorgaben und Eingriffe bedingt sind. Ich befürchte, daß zu viele in unserem Land — auch in diesem Hause — ganz überzogene Einsparmöglichkeiten im Energiebereich erhoffen. Das gilt ähnlich auch für unrealistische Annahmen über Steigerungsraten bei den regenerativen Energien, wobei ich beides für dringend notwendig halte. Deswegen werden wir auf lange Sicht auch unsere bisherigen Energieträger nutzen müssen. Es kommt nur darauf an, wie wir dieses System langfristig entwickeln. Ohne Klarheit und Verläßlichkeit in der Energiepolitik werden wir aus Deutschland keinen Standort für Investitionen machen.Zweitens. Im Interesse der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft muß Energie unter Berücksichtigung der Sicherheits- und Umweltschutzziele und der Ressourcenschonung zu den günstigsten gesamtwirtschaftlichen Kosten bereitgestellt werden. Zwei Drittel der Energiekosten der Industrie sind Stromkosten. Deshalb müssen die deutschen Strompreise international wieder wettbewerbsfähig werden.
Dabei ist es Aufgabe der nationalen Politik, das Verzerrungen und Wettbewerbsbenachteiligungen zwischen den einzelnen Bundesländern vermieden werden.Meine Damen und Herren, in Deutschland haben wir einen weitgehend funktionierenden Energieträgermix: Braunkohle, Steinkohle, Mineralöl, Erdgas, Kernenergie und erneuerbare Energien haben ihren Platz gefunden. Sie alle sichern gemeinsam unsere Energieversorgung. Von verschiedenen Seiten wird an diesem System genagt. Ich kann nur warnen. Bricht man einen Bestandteil heraus, wird das gesamte System zusammenbrechen. Das dient mit Sicherheit nicht den Interessen der deutschen Wirtschaft und damit auch nicht den Interessen der Arbeitnehmer in den Betrieben, die auf eine verläßliche Energieversorgung angewiesen sind.Hinzu kommt, daß die Preise vor allem für elektrischen Strom so gestaltet werden müssen, daß eine Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Deutschland in andere Staaten nicht mehr mit den Energiepreisen begründet werden kann.Es gibt viele Menschen in unserem Lande, die die Stromerzeugung in Kernkraftwerken am liebsten sofort beenden würden. Andere glauben, mit einem sofortigen Stopp von Zahlungen an die deutsche Steinkohle Milliarden im Haushalt einsparen zu können. Wieder andere meinen, die Braunkohleförderung und Braunkohleverbrennung sofort einstellen zu müssen, um die CO2-Belastung der Erdatmosphäre beträchtlich zu verringern.
Wenn man solche Forderungen durchdenkt, wird man zu dem Ergebnis kommen müssen, daß jeder Schritt dieser Art den Standort Deutschland weiter schwächt. Ich bleibe bei meiner Aussage, daß der bewährte Einergieträgermix jetzt nicht verändert werden darf. Wenn man einen Bestandteil herausbricht, zerstört man, so meine ich, das ganze System.
— Hören Sie doch erst einmal zu!Das bedeutet aber nicht, daß man das System nicht behutsam ändern kann oder sogar muß. Dafür brauchen wir Zeit, Geld und neue Ideen.Die Nutzung der Kernenergie und ihre Weiterentwicklung ist angesichts der Klimaproblematik auch bei Verstärkung von Energieeinsparmaßnahmen und verstärkter Verwendung regenerativer Energieträger in Deutschland nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus ökologischen Gründen unverzichtbar.
Im Grunde weiß das jeder, der ehrlich nachdenkt. Die Hauptfrage in der ausstiegsorientierten Praxis in verschiedenen Bundesländern ist doch: Wie schnell kann ich was an die Stelle deutscher Kernkraftwerke setzen? Die einfachste Form wäre natürlich, alle Kernkraftwerke stillzulegen und Strom irgendwo zu kaufen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15479
Heinrich SeesingIch weiß zwar nicht, ob das zu noch vertretbaren Preisen möglich wäre. Aber — etwas Polemik — Frankreich und die Ukraine könnten auf jeden Fall noch Strom aus Kernkraftwerken liefern. Warum dieser Strom dann moralischer sein soll als der Strom aus deutschen Kernkraftwerken, weiß ich nicht.Auch der Ersatz von Atomstrom durch Strom aus die Umwelt belastenden Altanlagen mit Braun- oder Steinkohlenbefeuerung dürfte keineswegs die geplagten Gewissen beruhigen. Deswegen tun wir gut daran, die deutschen Kernkraftwerke langfristig zu sichern. Erst Langfristigkeit ermöglicht Wirtschaftslichkeit. Selbst das von manchen vorgeschlagene Abschalten von Kernkraftwerken nach einer Laufzeit von 20 Jahren ist nichts anderes als eine gewaltige Kapitalvernichtung, die sich Deutschland nicht leisten kann und darf.
Gleiches, meine Damen und Herren, gilt auch für die deutsche Braunkohle. Mit großer Kraftanstrengung versuchen wir in den jungen Bundesländern, die Braunkohleförderung im mitteldeutschen Revier und in der Lausitz langfristig wirtschaftlich zu machen. CDU und CSU haben sich dafür ausgesprochen, die jährliche Braunkohleförderung auf etwa 100 Millionen t festzulegen, weil dadurch die Wirtschaftlichkeit der Anlagen gesichert werden kann. Sollte der Stromabsatz in den östlichen Bundesländern für diese Menge noch nicht ausreichend sein, muß man nach vorübergehenden Alternativen im Westen suchen.Bayernwerk, Energieversorgung Schwaben und Badenwerk geben mit dem Bau eines Braunkohlekraftwerkes in Lippendorf ein gutes Beispiel. Der dort gewonnene Strom soll in Süddeutschland verbraucht werden. Braunkohleförderung und -verstromung können auf lange Sicht subventionsfrei mit marktgerechten Preisen existieren, wenn nicht die Politik diese Grundlagen zerschlägt.CO2-Steuer und Umweltabgaben, aber auch Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Verfügungen und Auflagen sind durchaus in der Lage, auch diesen Energieträger zu teuer für die Wirtschaft zu machen. Was soll die Rederei über eine Auflage zum Wirkungsgrad von Braunkohlekraftwerken, der auf 46 % festgelegt werden soll, wenn die Technik dafür nicht zur Verfügung steht? Nur Dummköpfe können doch jetzt noch ein Kraftwerk mit dem Spitzenwirkungsgrad von 42,5 % bauen, wenn sie nach der Fertigstellung für ihre Investition mit einer Strafsteuer belegt werden. Bei unserer so nervösen Wirtschaftslandschaft führt jedes laute Nachdenken dieser Art sofort zu Reaktionen. Oft verlegt man eine Investition in ein Land, das noch an Arbeitsplätzen interessiert ist.
Bei uns muß man doch zu oft den Gedanken haben, daß wirtschaftliche Betätigung eigentlich vom Bösen ist und nur soeben geduldet werden kann, weil es gar nicht anders geht. Wir verplempern viel Kraft in den Erhalt überkommener Strukturen, ohne daß daraus eine neue, zukunftsträchtige Energielandschaft entsteht.
Jetzt kann man mir natürlich die Frage stellen: Warum dann noch Steinkohle aus deutscher Förderung? Halten wir fest: Die Stromerzeugung mit Hilfe der Steinkohle ist Teil des Energieträgermixes in Deutschland. Nun kann man Steinkohle preislich sehr viel günstiger auf dem Weltmarkt kaufen als in Deutschland fördern.
Dennoch gibt es manche Gründe, auch längerfristig noch deutsche Steinkohle zu verwenden:Erstens. Deutsche Steinkohle ist Bestandteil des Energieträgermixes. Zerbricht das jetzige System, ist auch die deutsche Steinkohle nicht mehr zu halten. Aber wir wollen das System erhalten und vorsichtig längerfristig entwickeln.Zweitens. Der schnelle Verzicht auf die Steinkohleförderung führt zum Zusammenbruch ganzer lang gewachsener Strukturen. Das führt wieder zu gewaltigen Ausgaben, ohne dafür noch eine Wertschöpfung zu erhalten.Steinkohletechnik ist bei uns hochentwickelt. Weltweit besteht in der Zukunft ein großer Bedarf. Wer aber kauft Spitzentechnik in einem Land, das diese Technik selbst nicht mehr einsetzt? Das gilt natürlich auch für ein Kernkraftwerk mit modernsten Sicherheitsvorkehrungen. Weltweit werden in den nächsten Jahren noch zahlreiche Kernkraftwerke gebaut, und auch da werden wir uns nur am Geschäft beteiligen können, wenn es diese Technik auch in unserem Lande gibt.
Steinkohlenförderung also ja; aber sie kostet uns sehr viel Geld. Ich sage nur einen Satz: Die Finanzierung wird geregelt. Es muß deutlich werden, daß der gewaltige Abbau der Fördermengen schon jetzt den Bergbau äußerst belastet. Aus vertraglichen Regelungen ergibt sich für die Verstromung noch ein Mengenabbau von jetzt rund 41 auf 35 Millionen t bis 1997.Für die Kokskohle war vorgesehen, die durch den Bundeshaushalt und den Landesetat Nordrhein-Westfalens geförderte Menge bis 1998 auf 18, bis zum Jahre 2000 auf 15 Millionen t abzubauen. Der dramatische Einbruch in der Stahlproduktion hat das Reduktionsziel für 2000 praktisch jetzt schon erreicht. Für je 5 Millionen t Kohle werden rund 1 Milliarde DM benötigt, bei verminderter Förderung erspart. Der Abbau von rund 10 Millionen Förderkapazität innerhalb weniger Jahre erfordert die Schließung von drei bis fünf Zechenanlagen mit 12 000 bis 20 000 Beschäftigten. Wenn das verkraftet ist, dann könnte man sich mit dem Gedanken befassen, eine Subventionshöchstgrenze festzulegen, die dann in vorgegebenen Zeiträumen reduziert wird.Es ist denkbar, daß ein solches Zuwendungssystem die Steinkohle auf lange Sicht festigt. Aber auch hier gilt: Wir können es nicht gestatten, daß Investitionen zu Kapitalvernichtungsanlagen werden. Energiepolitik muß langfristig angelegt sein.
Wer in der Politik noch nicht so denken kann, muß es jetzt lernen.
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15480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Heinrich SeesingIch danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte, zu der eine breite Palette von Anträgen vorliegt, dient der Klarstellung. Sie gibt uns Gelegenheit, zu drängenden aktuellen energiepolitischen Fragen Stellung zu nehmen. Sie dient auch dazu, die unterschiedlichen Facetten der Energiepolitik deutlich zu machen. Also kommt eine isolierte Betrachtung einzelner Themen nicht in Betracht. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die laufenden Energiekonsensgespräche, die nach unserem Willen in diesem Jahr noch abgeschlossen werden sollen. Dies gilt aber auch für die laufenden Verhandlungen zur Kohlepolitik und die Lösung der anstehenden Finanzierungsfragen.Meine Damen und Herren, Energiepolitik ist schon seit langem nicht nur eine ausschließlich nationale Aufgabe. Sie ist eingebettet in die internationale Politik und fest verbunden mit der Politik der Europäischen Gemeinschaft. Der politische Rahmen und die Grundlagen der weltweiten Energiepolitik haben sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Der Golfkrieg, der Umbruch im Osten, die Fortschritte und auch die Rückschläge der europäischen Integration und die auf der UNCED-Konferenz in Rio eingeleitete weltweite Politik einer Stabilisierung unseres Klimas haben in der Energiepolitik ihre Spuren hinterlassen. Sie erfordern globale Entscheidungen, die von allen Beteiligten mitgetragen werden müssen und sich an einem verantwortungsbewußten Energieumgang orientieren.Dabei spielen energiewirtschaftliche und technische Fragestellungen immer weniger eine Rolle. Drängender werden auch weltweit die umwelt-, sozial- und regionalpolitischen Fragen. Sie geben heute vielfach den Ausschlag für die energiepolitischen Weichenstellungen.Meine Damen und Herren, wir kennen dieses Phänomen seit langem bei uns in Deutschland. Uns ist bewußt, daß die Kohlepolitik, die in der Vergangenheit für und in unseren traditionsreichen Revieren an Rhein, Ruhr und Saar gemacht worden ist, nie ausschließlich energiepolitisch begründet war. Das Ziel einer sicheren, preisgünstigen und umweltverträglichen Energieversorgung steht auch heute für uns im Vordergrund. Es geht jedoch nicht nur um die Bergung des schwarzen Goldes. Es geht um die Zukunft der Reviere, um die Bergleute und die Menschen, die von Kohle und Stahl abhängig sind.Wir haben uns in der Vergangenheit den regionalen, den sozialen und den strukturbedingten Aufgaben in den Revieren gestellt und sie gemeinsam einer guten Lösung zugeführt. Die Bergleute — das will ich angesichts dessen, was die Opposition heute gesagt hat, noch einmal klarstellen — haben sich auf die Vereinbarungen mit Bonn bisher verlassen können.Herr Kollege Jung, bis jetzt hat die Kohle jeden Pfennig erhalten, der ihr zusteht. Alles andere ist pure Demagogie.
Dazu gehört auch der Vorwurf eines Erpressungsversuchs. Sie werfen in einer Pressemitteilung des Parlamentarisch-Politischen Pressedienstes vom 24. September der Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsparteien, insbesondere dem Bundeswirtschaftsminister, einen Wortbruch vor und gehen damit weiter als die IG Bergbau und Energie, die nur behauptet, er bereite den Wortbruch vor. Sie sind in Ihren Vorstellungen Ihrer Zeit offensichtlich voraus. Wer hat denn hier Wort gebrochen? Wer hat 1986 auf dem SPD-Bundesparteitag dem Jahrhundertvertrag die Geschäftsgrundlage entzogen? Das ist doch die SPD gewesen,
nicht diese Bundesregierung. Wenn die Bezeichnung Wortbruch angebracht ist, dann sicherlich im Hinblick auf das, was sich an energiepolitischen Vorstellungen in der SPD mit den Parteitagen von Nürnberg und Bochum entwickelt hat. Jetzt sind Sie dabei, der Zeit hinterherzurennen.Sie haben soeben das Wort Solidarität in den Mund genommen. Da habe ich ganz genau hingehört. Ich denke, daß Sie sich mit dem Parteitag von 1986 auch aus der Solidarität mit der nächsten Generation verabschiedet haben, die nämlich auf Entwicklung im Hochtechnologiebereich angewiesen sein wird. Sie haben dem Generationenvertrag in dieser Hinsicht keinen Gefallen getan.Aber auch bei uns in Deutschland haben sich die ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen nachhaltig verändert. Die Vereinigung hat erhebliche Verschiebungen der Energiestrukturen mit sich gebracht. Braunkohle und Kernenergie sind mit einem Anteil von jeweils einem Drittel die wichtigsten Energieträger für den gesamten deutschen Strom geworden.Stellt die Braunkohle bei der öffentlichen Versorgung im Westen nur 20 %, werden in den neuen Bundesländern 90 % des Stroms aus Braunkohle erzeugt. Damit hat, ob einem das recht ist oder nicht, die Steinkohle ihre Stelle als wichtigster heimischer Energieträger verloren. Zudem gewinnt auch die Importkohle immer mehr an Bedeutung.Auf dem Klageweg hat Klöckner, wie Sie wissen, kürzlich durchgesetzt, daß die um ein Vielfaches kostengünstigere Importkohle zur Verhüttung eingesetzt werden kann. Andere Stahlunternehmen haben die aus ihrer Sicht ökonomisch richtige Entscheidung, den Einsatz von Importkohle für ihre Unternehmen, nachvollzogen. Damit hat sich der Druck auf die westdeutsche Steinkohle weiter erhöht, ein Druck, den nicht diese Bundesregierung zu verantworten hat, sondern die ökonomischen Umstände im weltwirtschaftlichen und energiepolitschen Geschehen. Dies dem Wirtschaftsminister und der Bundesregierung anzulasten ist wahrlich demagogisch.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15481
Klaus BeckmannDie einseitig auf Braunkohle ausgerichtete Energiewirtschaft der ehemaligen DDR hat gesamtwirtschaftlich betrachtet eine Menge Probleme mit sich gebracht. Die Monostruktur der ostdeutschen Energiewirtschaft hat zu einer einseitigen Abhängigkeit geführt, die unwirtschaftlich und sowohl betriebs- als auch volkswirtschaftlich nicht länger vertretbar war.Es sind Umweltschutzmaßnahmen sträflich vernachlässigt worden.Die hohe Schwefelbelastung der Luft hat zu sichtbaren, zu verheerenden Schäden in einer zerstörten Landschaft geführt, in der Rekultivierungsmaßnahmen wie bei uns im Braunkohlerevier allenfalls in der Theorie bekannt waren, jedoch keine Chance auf Verwirklichung hatten. Noch hat die Bundesregierung ausreichende Mittel zur Altlastensanierung der Braunkohlereviere im Osten zur Verfügung gestellt. Sie alle sind zeitlich befristet. Es ist schon heute klar, daß die vorgegebene Zeitspanne bis 1998 und das Finanzvolumen nicht ausreichen werden, nur annähernd die Umweltprobleme in den Braunkohlerevieren Sachsen, Sachsen-Anhalts und Brandenburgs zu lösen.Ich denke, daß die Politik die Pflicht hat, sich den veränderten Rahmenbedingungen zu stellen und Antworten auf die aktuellen grundlegenden Fragen einer gesamtdeutschen Energiepolitik zu geben. Sich ausschließlich, meine Damen und Herren, von Partikular-interessen lenken zu lassen — sei es auch nur, um sein ureigenes Revier zu verteidigen — reicht weiß Gott nicht mehr aus.
Dies gilt für uns alle: für uns Politiker, aber auch für die Revierländer, die Unternehmen und die Gewerkschaften. Wir alle haben auch eine Fürsorgepflicht für die Menschen in den Braunkohleländern, in den Revieren der neuen Bundesländer.Ich wünschte mir ein ebenso hartnäckiges Eintreten für die Kumpel in ostdeutschen Revieren wie in Westdeutschland; denn sie befinden sich in einem schmerzhaften Erosionsprozeß, der nur mit Einsatz und Kraft aller Beteiligten gemeinsam bewältigt werden kann.Das energiepolitische Haus in Deutschland braucht eine breitere Basis, die von allen getragen werden muß. Deshalb brauchen wir einen parteiübergreifenden Energiekonsens mit folgenden Bausteinen:Erstens. Wir brauchen ein umweltschonendes Energiekonzept, das der Verbesserung der Umwelt und dem Schutz der Erdatmosphäre dient.Zweitens. Wir benötigen einen tragfähigen Kompromiß für den Einsatz der Kernenergie einschließlich der Entsorgungsfragen.Drittens. Wir brauchen ein energiepolitisches Konzept, das über den nationalen Tellerrand weist und die Entscheidungen der EG-Kommission einbezieht.Meine Damen und Herren, ich denke, die künftige gesamtdeutsche Energiepolitik braucht gemeinsame Lösungen in Sachen Kohle, Kernenergie und Umweltschutz. Nur in einem offenen Dialog, z. B. im Rahmen der Energiekonsensgespräche, können wir Lösungen finden und eine Neuakzentuierung der Energiepolitik festlegen.Wir hoffen — ich komme zum Schluß, Herr Präsident —, daß alle Beteiligten auch weiterhin konstruktive und kooperative Partner sind, um den notwendigen strukturellen Anpassungsprozeß sozialverträglich und gesamtwirtschaftlich verantwortbar zu bewerkstelligen.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Offenkundig hat man bei diesem Tagesordnungspunkt einmal wieder in die parlamentarische Kramkiste gegriffen und alles, was nur im entferntesten nach Energie aussieht, zu einem Tagesordnungspunkt zusammengefaßt. Das handeln wir nun in zwei Stunden ab. Das alles hängt aber möglicherweise damit zusammen, daß die Regierung hierzu zu wenig zu bieten hat.
Keiner Branche dieser Republik geht es trotz Rezession so blendend wie der Energiewirtschaft, und keine andere Branche kann Kosten und Preisbildungsstruktur so gut verschleiern. Nirgendwo wird die Industrie so unverschämt auf Kosten der Allgemeinheit, sprich: der Tarifkunden und -kundinnen, indirekt subventioniert wie bei den leitungsgebundenen Energieträgern, dem Gas und allem voran den elektrischen Energien.Wir sind keine Sozialeinrichtung, begründete RWEVorstandsmitglied Dietmar Kuhnt vor ein paar Tagen die geplante Strompreiserhöhung für Tarifkunden und Kleinverbraucher — und das trotz der auf über 1 Milliarde DM gestiegenen Gewinne. Als Ausgleich sollen die Industriestrompreise sinken.Meine Damen und Herren, stellen Sie sich die volle Tragik dieses Skandals vor! Die Oma mit kleiner Rente, die in einer Gartenlaube wohnt und Strom spart, zahlt 60 Pf für die Kilowattstunde. Der stromfressende Industriebetrieb nebenan zahlt 7 Pf und weniger — teilweise unter den Herstellungskosten. Das Elektrizitätswerk, das nur an möglichst hohem Stromverbrauch interessiert ist, macht eine Mischkalkulation und holt sich bei den Tarifkunden und Kleinverbrauchern das wieder herein, was es der stromintensiven Großindustrie schenkt. „Wer den Armen nichts nimmt, kann den Reichen nichts geben" ist das Geschäftsmotto der RWE. Sie liegt damit voll im Trend der Bonner Rotstiftpolitik.Grundlage eines solchen asozialen Geschäftsgebarens ist das Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre — man höre und staune — 1935. Es wurde einst von den Nazis zur Wehrhaftmachung der deutschen Industrie erlassen. Praktisch unverändert dient es heute der gnadenlosen Kapitalakkumulation der Energiewirtschaft auf Kosten der Bevölkerung und der
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15482 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Dagmar EnkelmannUmwelt. Es ist also höchste Zeit, dieses Gesetz auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.Die PDS/Linke Liste hat bereits im Jahre 1991 einen umfangreichen Antrag zur Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft sowie zur Novellierung des Energierechts eingebracht, der heute hier zur Beratung steht. Das ist unser Angebot. Und wo bleibt Ihres, also das der Koalition? Sie haben hier nichts eingebracht!Wir fordern die Bundesregierung mit unserem Antrag auf, einen Gesetzentwurf für ein Energiespar- und -strukturgesetz vorzulegen, das unter dem Leitgedanken „Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft" eine Reform der Ordnung insbesondere der leitungsgebundenen Energiewirtschaft einleitet.Dieses Gesetz soll die Bereitstellung von Energiedienstleistungen möglichst gefährdungsfrei, sozialverträglich, preisgünstig sowie unter Schonung der natürlichen Umwelt und der Ressourcen sichern. Die weitere Nutzung der Atomenergie ist unseres Erachtens hiermit unvereinbar.Wegen der inakzeptablen gesellschaftlichen Folgen verschwenderischen Energieverbrauchs muß das Geschäft mit der Ware Energie prinzipiell in Frage gestellt werden. Energieversorgung ist als gemeinschaftlich zu organisierende Daseinsvorsorge anzusehen. Dies gilt heute auch für kommunale Unternehmen, die dieses Geschäft als „öffentlichen Zweck" betreiben. Energie- und Umsatzexpansion auf Grund des Erwerbsprinzips, z. B. auch zum „fiskalischen" Zweck der Gewinn- und Konzessionsabgabenmaximierung für die Kommunalhaushalte, ist heute ökologisch und sozial weder vertretbar noch zur Substanzerhaltung und -stärkung kommunaler Energiedienstleistungsunternehmen notwendig.Meine Damen und Herren, das Ergebnis der „Kohlerunde '91" wackelt; eine Anschlußregelung an den „Jahrhundertvertrag" steht aus; der Rückgang der Förderung auf 35 Millionen Tonnen Steinkohle wird hinter vorgehaltener Hand prophezeit. Elektrizitätswirtschaft und Industrie, allen voran RWE-Chef Gieske und BDI-Präsident Tyll Necker, fordern die Abwälzung der Kohlefinanzierung auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.Die Empörung der Bergarbeiter in Bergkamen und anderswo ist berechtigt. Schon wieder sollen vereinbarte Fördermengen nicht eingehalten werden, soll das Ergebnis der Kohlerunde von 1991 gekippt werden.
Es erweist sich wieder einmal, daß gerade die Ruhrkohle AG, die mehrheitlich der VEBA und der VEW gehört, zu einem Spielball der Elektrizitätswirtschaft verkommen ist. Die VEBA ist selber im Importkohlehandel tätig. Historisch gewachsene Strukturen in den Bergbauregionen mit ihren Monostrukturen werden bedenkenlos den höheren Profiten im Importgeschäft geopfert. Die folgende Massenarbeitslosigkeit soll von der Allgemeinheit finanziert werden.Die Salamitaktik, nach der der Steinkohlebergbau „abgewickelt" wird, hat System. Die Ruhrkohle AG ist mittlerweile zur Treuhandanstalt des Steinkohlebergbaus verkommen. Abwickeln und Dichtmachen ist ihre Aufgabe. Die großen Energiekonzerne achten peinlich darauf, daß es in der Bundesrepublik keine eigenständige Steinkohlepolitik gibt.Natürlich ist die heimische Steinkohle teuer. Der hohe Preis spiegelt allerdings noch am ehesten die realen gesamtgesellschaftlichen Kosten von Energienutzung wider. Bekanntlich ist Energie viel zu billig. Wer aber zur billigen Drittlandskohle ja sagt, sollte auch ganz klar sagen, warum diese zur Zeit so billig ist, Herr Kollege Beckmann. Sie wird auf Kosten von Menschen und Umwelt, mit über 10 000 Toten pro Jahr durch Arbeitsunfälle weltweit und mit weiträumigen Landschaftszerstörungen gefördert.
Kinderarbeit in Kolumbien, Hunderte von Toten im südafrikanischen Bergbau und gnadenlose Umweltzerstörung in Australien, der ehemaligen Sowjetunion und den USA ermöglichen Preise, bei denen Marktwirtschaftsfetischisten die Augen leuchten. Der Welthandelspreis für Steinkohle wird außerdem durch Dumping künstlich niedrig gehalten, hauptsächlich von Südafrika und den vier großen im Weltsteinkohlehandel tätigen Mineralölmultis.Dabei ist abzusehen, daß eine weitgehende Stillegung des EG-Steinkohlebergbaus die Preise auf dem von Energiemultis beherrschten Weltkohlemarkt anziehen lassen würde, wie die britische Bergarbeitergewerkschaft vorhersagt. Ich frage die Bundesregierung: Was wollen Sie machen, wenn der EG-Steinkohlebergbau dichtgemacht und die Importkohle drastisch verteuert wird? Zahlen muß auch dann wieder der kleine Verbraucher.Der Hauptvorstand der IG BE — ich meine hier ausdrücklich den Hauptvorstand und nicht die Gewerkschaftsbasis — hat die Entwicklung wieder einmal verschlafen. Statt sich für den Einsatz heimischer Steinkohle in den östlichen Bundesländern zu engagieren, hat er es z. B. zugelassen, daß ein durch den Jahrhundertvertragspartner Preussenelektra in Rostock errichtetes Heizkraftwerk mit Importkohle betrieben wird. Die großen westdeutschen Elektrizitätsunternehmen, die im Osten tätig sind, müssen ihren Verpflichtungen aus der Verstromung heimischer Steinkohle auch im Osten nachkommen. Dies einzufordern wäre Aufgabe der IG BE. Nun sind die Betriebsräte und Belegschaften, ist die Bevölkerung der Bergbauregionen gefordert.Die PDS/Linke Liste im Bundestag fordert, das Ergebnis der Kohlerunde 1991 nicht anzutasten.
Keine Zeche darf geschlossen, kein Arbeitsplatz vernichtet werden. Nach Auslaufen des Jahrhundertvertrages muß eine Anschlußregelung her, die den sinnvollen Einsatz heimischer Steinkohle insbesondere in umweltfreundlichen Heizkraftwerken bundesweit sichert. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich dieser Forderung anschließen würden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15483
Dr. Dagmar EnkelmannWenn Regierung und Wirtschaft nun versuchen, Anschlußregelungen für die Steinkohle mit Zustimmung für neue Reaktoren zu erpressen, ist dies in der Tat ein starkes Stück und grenzt an kriminelle Machenschaften. Die SPD muß sich allerdings fragen lassen, ob sie mit ihrer unklaren Position — einige sind gegen Atomkraftwerke, andere dafür — diese Flanke selber geöffnet hat. Nichts wäre für die Steinkohle fataler als weitere Atomkraftwerke. Da hilft auch keine Beschwörung der Formel von Kohle und Atom. Die Formel hieß von Anfang an „Atom verdrängt Kohle"; die Bergleute wissen das längst.Die PDS/Linke Liste im Bundestag fordert, nun endlich die Weichen für eine umweltfreundliche, sozialverträgliche und ressourcenschonende Energieversorgung ohne Atomenergie zu stellen. Wir fordern eine Energieabgabe auf alle Primärenergieträger. Hieraus können Maßnahmen zur effizienten Energienutzung, Energieeinsparung, Nutzung regenerativer Energien und zum gesamtgesellschaftlich sinnvollen Einsatz heimischer Steinkohle finanziert werden. Die SPD und die Gewerkschaften sollten sich nicht zur Zustimmung für neue Atomkraftwerke erpressen lassen, um halbseidene Kompromisse in der Steinkohlefinanzierung zu erreichen. Herr Kollege Jung, ich kann Sie in Ihrer Auffassung nur bestärken.Die Regierung muß sich fragen lassen, ob sie das, was sie den Kalikumpeln von Bischofferode zumutet, auch den Kumpeln im Ruhrgebiet zumuten will.Warum versetzen Sie sich nicht in die Lage derer, die von Ihren politischen Entscheidungen abhängig sind? Herr Beckmann, das betrifft die Steinkohlekumpel im Westen im übrigen genauso wie die Braunkohlekumpel im Osten.
Warum gehen Sie so eiskalt mit den Sorgen und Befürchtungen der Menschen um? Wissen Sie denn eigentlich noch, was in diesem Land passiert?
Am vergangenen Freitag waren lediglich zwei Abgeordnete der SPD und der PDS/Linken Liste bereit, in Berlin im Reichstag mit den Kalikumpeln zu sprechen. Ich jedenfalls konnte die Verzweiflung und die Mutlosigkeit der Kumpel sehr gut verstehen. Ihre Entscheidung, im Reichstag sitzen zu bleiben, war mit der leisen Hoffnung verbunden, daß der eine oder andere Abgeordnete doch noch zu ihnen findet und mit ihnen redet.
Diese Hoffnung wurde vor allem von den Kolleginnen und Kollegen der Koalition bitter enttäuscht. Den Kumpeln wurde sogar verwehrt, friedlich im Reichstag sitzen zu bleiben.
Wieviel Protest hält diese Bundesregierung eigentlich aus? Warum haben Sie schon vor 15 Kumpeln Angst, die friedlich in einem Raum des Reichstages sitzen und deren einzige Waffen Verzweiflung und ein winziges Stück Hoffnung sind?Wie gehen Sie mit Menschen um, die 1990 voll Vertrauen zu über 80 % CDU gewählt haben und deren Vertrauen Sie so schmählich mit Füßen treten?Bischofferode ist nicht überall? Daß Sie sich da mal nicht täuschen. Die Kohlekumpel an Saar und Ruhr, die Stahlarbeiter, die Automobilbauer, die Bauarbeiter werden sich mit einer Sitzung im Reichstag jedenfalls nicht begnügen. Wie werden Sie dann reagieren?Ich danke.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, habe ich das große Vergnügen, den Präsidenten der Republik Malta, Herrn Dr. Dr. Vincent Tabone, und seine Ehefrau, die mit ihrer Begleitung auf der Ehrentribüne Platz genommen haben, herzlich zu begrüßen.
Herr Präsident, ich freue mich, diese Begrüßung im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages hier persönlich vornehmen zu können. Ich mache das mit besonders großer Freude, weil ich das Vergnügen hatte, 1988 mit meiner Frau Malta zu besuchen, und weil ich ein Bewunderer der schönen Insel Gozo bin und dies hier auch zum Ausdruck bringen möchte.
Wir gehen davon aus, Herr Präsident, daß Ihr Besuch in Deutschland, das Zusammentreffen mit dem Bundespräsidenten und der Bundestagspräsidentin zur Festigung der guten Beziehungen zwischen unseren Ländern beiträgt. Wir wünschen Ihnen weiterhin einen fruchtbaren und angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik. Ich bedanke mich.
Wir fahren nun in der Debatte fort. Ich erteile dem Abgeordneten Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute eine Reihe von Vorlagen, die im Zusammenhang gesehen mindestens zweierlei deutlich machen: erstens, welch dringlicher Handlungsbedarf in der Energiepolitik besteht; und zweitens, wie wenig die Bundesregierung auf diesem Feld in den vergangenen Jahren geleistet hat, vor allem wenn man sie an ihren eigenen Zielen mißt, eine umwelt- und klimaverträgliche Energieversorgung zu schaffen.Schon seit diesem Frühjahr laufen die sogenannten Energiekonsensgespräche. Aber mit einer ehrlichen Konsensfindung haben diese Gespräche soviel zu tun wie McDonald's mit der Vollwertkost oder Steffen Heitmann mit der Frauenbewegung.
Bei diesen Gesprächen geht es der Koalition vor allem darum, die Parteien, die heute noch in der Opposition stehen, in die Verantwortung für die völlig verfehlte Energiepolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte einzubinden.Daß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN prinzipiell an einem Energiekonsens interessiert sind, konnten Sie
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15484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Klaus-Dieter Feigedaran erkennen, daß wir auf das Gesprächsangebot eingegangen sind. Aber es hat sich wieder einmal gezeigt, daß diese Regierungskoalition, die zu den Konsensgesprächen eingeladen hat, ihrerseits nicht konsensfähig ist. Das hat sich auch in der Debatte heute gezeigt.Wenn Sie weiter nach der Methode „Wer einlädt, der bestimmt, wie es gemacht wird" fortfahren, wird Ihnen sicher auch noch der letzte wichtige Gesprächspartner auf der politischen Bühne, die SPD, abhanden kommen.In Sachen Atomenergieausstieg wünsche ich mir jedoch gerade von der SPD eine etwas eindeutigere Haltung. Es wirkt einfach nicht gerade überzeugend, wenn Kollegen wie Herr Jung klar für den Ausstieg sind und Herr Müller das in seinen Presseerklärungen formuliert, aber in den SPD-geführten Ländern dieses löbliche Bemühen zum Teil unterlaufen wird.Daß ein Konsens, bei dem sich alle Seiten etwas bewegen müssen, von der Bundesregierung wider andere Aussagen gar nicht gewollt ist, zeigen die Beschlüsse der Koalitionsrunde vom vergangenen Mittwoch und nicht zuletzt die bei den Konsensgesprächen vorgelegten Papiere wie die Debatte heute wieder. Ich halte es für unerträglich, daß in dieser Hinsicht gerade das Wirtschaftsministerium mehr mit dem Mittel der Erpressung als mit Überzeugungskraft frei nach Goethes Erlkönig „Und bist Du nicht willig, so brauch' ich Gewalt" agiert.Die SPD, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, darf sich aus Sorge, daß es keine Steinkohlesubventionierung mehr gibt, nicht zum Ja zur Atomenergie und zur Restlaufzeit von vierzig Jahren nötigen lassen. Sie dürfen sich nicht in das zynische Spiel der Bundesregierung mit den Kohlekumpeln einbinden lassen, deren Existenzängste die Regierung hier eiskalt für sich auszunutzen gedenkt.Das gleiche Spiel treibt die Bundesregierung übrigens auch mit den erneuerbaren Energien. Das Windenergie- und das Photovoltaik-Forschungsprogramm laufen im nächsten Jahr aus; steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten sind schon lange gestrichen. Trotzdem gibt es immer noch nicht das seit Jahren versprochene Investitionszuschußprogramm.Dessen Notwendigkeit bestätigt auch eine im Januar dieses Jahres abgeschlossene Fichtner-Studie im Auftrag des BMWi, die zu dem Ergebnis kommt, daß für Anlagen zur Nutzung der Wind- und Wasserkraft, der Solarenergie sowie der Biomasse ein fünfjähriger Investitionszuschuß von 30 % erforderlich ist, um die Schwelle zur Wirtschaftlichkeit zu erreichen. Nach der jahrzehntelangen Förderung fossiler und nuklearer Energiequellen in Höhe von 70 bis 80 Milliarden DM wäre dies fair und als Beitrag zum Klimaschutz meines Erachtens völlig unverzichtbar.Dies oder eine deutlich verbesserte Einspeisevergütung nach dem Stromeinspeisegesetz erscheinen mir das mindeste, um den wirklich nachhaltigen Energiequellen endlich Chancengleichheit zu verschaffen. Was aber macht das Wirtschaftsministerium? Es will auch daraus einen schmutzigen Deal machen.Originalton Rexrodt in der Messezeitung der Husumer Windenergietage:Eine Erhöhung der Einspeisevergütung gefährdet die Wirtschaft. Auch eine Energiepreiserhöhung gefährdet die Wirtschaft. Ich schließe aber nicht aus, daß es das im Rahmen des Energiekonsens geben kann, aber das heißt Einigung, insbesondere zu Fragen der Kernenergie.Unter Einigung verstehen Sie, daß wir Ihnen nachlaufen. Ein solches Verhalten ist einfach unverantwortlich. Sie zeigen so doch schon selber, daß man auf die unzähligen Unterstützungserklärungen der Regierungskoalition für erneuerbare Energien nichts, aber auch gar nichts geben darf.Dasselbe gilt auch für die europäische Energie/ CO2-Steuer, die endlich einen — wenn auch sehr zaghaften — Schritt in Richtung einer Internalisierung externer Kosten brächte. Um ihr schlechtes klimapolitisches Gewissen zu beruhigen, unterstützt die Bundesregierung zwar verbal immer noch die Vorlage der EG-Kommission, aber sie tut nichts Ernsthaftes für deren Durchsetzung. Das war aber leider so zu erwarten.Die traurige Wahrheit ist: Die Bundesregierung verfügt über keinerlei vorwärtsweisende Konzepte in der Energiepolitik, die auch nur annähernd den Kriterien der Umwelt- und Klimaverträglichkeit gerecht würden.
Sie ist, was unsere heutige hochzentralisierte, extrem ressourcenverschwendende und umweltbelastende Energiestrukturen angeht, vor allem besitzstandsorientiert — deshalb habe ich diesen Zwischenruf von Ihrer Seite natürlich erwartet — und ist gleichzeitig, was neue Konzepte wie Least-CostPlanning, nachfrageorientierte Versorgungskonzepte — nicht meistbietendes Herausschleudern — und die breite Markteinführung erneuerbarer Energiequellen angeht, nicht nur konservativ, sondern extrem rückwärtsgewandt. Dabei erweist sich die Bundesregierung mehr und mehr als Gefahr für unsere natürlichen Lebensgrundlagen und das Klima.Es ist deprimierend, zu sehen, wie wenig die drohende Erwärmung der Erdatmosphäre, die schleichende radioaktive Verseuchung unseres Landes und die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen in die tatsächliche Politik der Bundesregierung Eingang gefunden haben.Aus dieser Situation hilft uns nun das von uns auf Drucksache 12/1794 dargelegte Konzept der Energiewende heraus, das klima- und konjunkturpolitische Notwendigkeiten und Chancen miteinander verbindet. Der Umwelt- und klimapolitisch gebotene Ausstieg aus der Atomenergie setzt dabei die notwendige Dynamik für den ökologischen Umbau der Energiewirtschaft frei.
Zu dessen tragenden Säulen gehören eine vermeidungs- und effizienzorientierte Energiewirtschaft mitdrastischen Energieeinsparungen — dieses Wort habe
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15485
Dr. Klaus-Dieter Feigeich von Ihnen heute eindeutig nicht gehört —, der tiefgreifende Wandel der Energieerzeugungs- und -verbrauchsstrukturen sowie der wachsende Einsatz regenerativer Energieträger.Dieser Weg wird von den vorherrschenden Großkraftwerk- und Verbundstrukturen, die vor allem für die Nutzung der Atomenergie notwendig sind, weitgehend blockiert.In Japan hat man offenbar die Zeichen der Zeit erkannt. Mit dem Projekt „Earth 21" wird das Ziel verfolgt, die japanische Energieversorgung binnen weniger Jahrzehnte auf regenerative Energien umzustellen; wie ich die kenne, machen sie das. Mit diesen regenerativen Technologien — nichts weiter als das sagt dieses Programm — wird Japan dann auf dem Weltmarkt eine weitere Schlüsselstellung einnehmen. Und die Bundesrepublik? Wir werden bereits in fünf Jahren die Rücklichter dieses Zuges sehen. Wir werden nicht mehr die Chance haben, aufzuspringen.Deshalb an dieser Stelle die Empfehlung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN an die Koalitionsfraktionen für die Schlußphase ihrer Regierungszeit:
Wer wie Sie für sich in Anspruch nimmt, Deutschlands Zukunft sichern zu wollen, macht sich völlig unglaubwürdig,
wenn er die verschiedenen Nutzungsformen der Sonnenenergie jetzt nicht unterstützt; denn es droht, daß ein technologischer Fadenriß entsteht, der verheerende Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt hätte.Wenn Sie auch behaupten, daß die Japaner auf Atomenergie setzen, so werden sie uns den Ausstieg ganz bequem mit alternativen Energien vorführen.Für die Phase des Übergangs in ein Energiezeitalter — auch hier wird mit irgendwelchen Phrasen unterstellt, daß wir das negieren —, das auf ein breites Anwendungsspektrum der Solarenergie und extrem effizienter Nutzungstechnologien basiert, müssen auch fossile Brennstoffe so effizient wie möglich genutzt werden. Dies geht nur bei einer dezentralen Verwertung von Kohle und Gas in Kraft-WärmeKopplungsanlagen, in denen bis zu 90 % der Primärenergie in Strom und Wärme umgewandelt werden.Zum Vergleich: In herkömmlichen Großkraftwerken werden auf sehr verschwenderische Weise rund zwei Drittel der Primärenergie als Abwärme vergeudet.Die heute wirtschaftlichen Anwendungspotentiale in Industrie, Gewerbe, Gemeinden und Haushalten liegen mindestens in der Größenordnung von 17 Atomkraftwerken. Dieser überaus zukunftsträchtige Markt, von größeren Gas- und Dampfturbinenkraftwerken bis zu kleinen Blockheizkraftwerken, wird aber von unseren regionalen Strommonopolen verhindert. Schlichte Rentabilitätsgründe zwingen diese Großkraftwerkbetreiber, allen Einfluß geltend zu machen, um eine Ausdehnung der dezentralen Konkurrenz zu unterbieten; daß sie bei Ihnen Erfolg haben, habe ich schon gehört. Damit wird nicht nur ein Weg aus der ökologischen Krise blockiert; es werden vielmehr weltweite Marktchancen torpediert.Gegen die Absatzinteressen der Stromkonzerne hilft in erster Linie das von uns vorgeschlagene Stromeinspeisungsgesetz. Wenn Strom aus KraftWärme-Kopplung mit mindestens 75 % des Durchschnittserlöses pro Kilowattstunde von den Energieversorgungsunternehmen abgenommen und vergütet werden muß, wäre das der Durchbruch für die schnelle Ausweitung dieses Marktes. Warum Sie dagegen sind, kann ich einfach nicht begreifen. In Ihren Wahlkreisen setzen Sie sich lokal- und kommunalpolitisch vehement für solche Alternativen ein, nur um darzustellen, wie wunderbar CDU und F.D.P. ökologisch gewendet sind.Dies wissen die Energieerzeuger. Deswegen leisten sie nämlich heftigen Widerstand gegen diese Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes; denn welches Monopol hat bisher schon freiwillig von seinen fetten Pfründen gelassen?Erlauben Sie einen letzten Satz, Herr Präsident. Es wäre mit etwas politischem Gestaltungswillen sehr einfach, die ja schon seit langem marktreifen regenerativen Energieträger zu unterstützen. Doch wie der Volksmund sagt: Am schlechtesten können die hören, die nicht hören wollen. So wird sicher das Notwendige erst in der nächsten Legislaturperiode des Bundestages durch uns in Angriff genommen werden können.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Wirtschaft, Günter Rexrodt das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Energiepolitik ist Standortpolitik. Ohne wirtschaftliche Energieversorgung gibt es keine wettbewerbsfähigen Unternehmen. Ohne sinnvolle Energiepolitik gibt es weniger Arbeitsplätze.Die Bundesregierung hat dies in ihrem Programm zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland zum Ausdruck gebracht. Aber nicht nur das: Die Bundesregierung, die Koalition, die SPD, zeitweise auch die GRÜNEN, Experten aus der Wissenschaft, gesellschaftliche Gruppen, Unternehmen und Gewerkschaften haben sich zusammengesetzt, um ein Konzept über Energieversorgung in der Zukunft zu diskutieren. Wir haben den Versuch gemacht und sind noch immer dabei, einen Konsens über einen Energiemix für die künftige Energieversorgung in Deutschland zu finden.Energiemix, das sollte und soll heißen, eine Rolle für die Kohle, eine Rolle für Öl und Gas, für regenerative Energien, für die Energieeinsparung und nicht zuletzt für die Atomenergie, meine Damen und Herren. Dabei ging es der Koalition bei der Atomenergie darum, eine Option für eine neue Generation noch
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15486 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtsichererer Kraftwerke im nächsten Jahrzehnt offenzuhalten — nicht mehr und nicht weniger.Es soll in diesen Konsensgesprächen auch über Kohle, die Bedeutung der Kohle und das Volumen der Kohle im künftigen Energiemix gesprochen werden, und es soll über die Einsparung, die Förderung der Einsparung und regenerative Energien und deren Förderung befunden werden. Alles das soll und wird dort gemacht werden.Wir waren uns, meine Damen und Herren, im klaren, daß diese Probleme im Zusammenhang behandelt werden sollen und daß darüber zusammen entschieden werden sollte.
Nun haben wir aber eine Situation, in der auf einmal Druck von außen, Druck bei der Kohle entsteht; nicht etwa, weil die Bundesregierung ihre Schularbeiten nicht gemacht hätte,
— das ist überhaupt nicht richtig; das wissen Sie ganz genau — sondern weil der Markt über die Stahlflaute raschere Anpassungen bei der Kohleförderung erfordert, als das ursprünglich vorausgesehen war. Das Faktum ist, daß Zechen eher stillgelegt werden sollen, als ursprünglich vorausgesehen. Das hängt mit der Stahlflaute zusammen. Wer etwas anderes sagt, sagt die Unwahrheit, sagt wissentlich die Unwahrheit.
Da ist nun auf einmal Druck da, vom Wähler und von der Klientel. Da wird nun auf einmal eine Kohleregelung gefordert, obwohl man im Energiekonsens immer gesagt hat: Wir machen alles zusammen. Die Kohleregelung muß her, sofort und im Vorgriff. Da wird so getan, als hätten die aktuellen Schließungen etwas mit der fehlenden Anschlußregelung zu tun. Das ist schlicht falsch.
Das ist im übrigen billiger Populismus, wo Punkte von selbsternannten Fachleuten und anderen gemacht werden sollen.Da wird so getan, als ob die Bundesregierung erpresse, wenn sie darauf bestehe, daß das, was wir gemeinsam im Zusammenhang erörtert haben, nun auch gemeinsam im Energiemix zu Ende gebracht werden soll, also einem Zusammenwirken verschiedener Energieträger in der künftigen Energieversorgung in Deutschland.Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind diejenigen, die Kontinuität wollen. Wir sind diejenigen, die wollen, daß bei Ihnen eine Meinungsbildung zu allen Energieträgern stattfindet, so wie das besprochen war und Grundlage in den Energiekonsensgesprächen ist.
Die Bundesregierung hat gesagt: Wir werden selbstverständlich eine Regelung für die Kohlefinanzierung in 1994 und auch für 1995 vorlegen. Hier geht es um den Kohlepfennig. Dazu sind wir im übrigen nach Recht und Gesetz verpflichtet, und das wird sowieso geschehen.Wir neigen dazu, von 7,5 % des Rechnungsbetrages auf 8,5 % zu erhöhen, weil wir das Defizit im Fonds nicht weiter anwachsen lassen wollen. Wer soll denn den Fonds irgendwann einmal tilgen? Die neuen Bundesländer können das im übrigen nach dem Einigungsvertrag nicht. Deshalb halte ich es für die ehrlichere Lösung, daß wir auf 8,5 % gehen.Im Gesamtzusammenhang ist die Festlegung für 1994 und 1995 — ich sage das mal salopp — die leichtere Übung. Worauf es ankommt, ist die Anschlußregelung.Die Bundesregierung hat gesagt: Wir wollen die Anschlußregelung für die Zeit nach 1995 für den dann auslaufenden Kohleverstromungsvertrag noch in diesem Jahr. Wir halten das für zweckmäßig. Wir halten das für notwendig, um Sicherheit zu schaffen für die Menschen, die im Bergbau arbeiten, aber auch für die EVUs, die beginnen, sich umzuorientieren, die Planungssicherheit haben wollen und müssen. Deshalb soll das nach Möglichkeit noch in diesem Jahr geschehen.Wir wollen aber auch, meine Damen und Herren, daß Sie in der Opposition dabei bleiben — ich sage es ein drittes Mal —, daß das gilt, was Grundlage der Konsensgespräche ist, daß wir die Dinge im Zusammenhang sehen. Wir wollen, daß bei Ihnen eine Urteilsbildung zur Kernenergie stattfindet, und zwar schnell und im Zusammenhang.Wenn es um die Anschlußregelung geht, sollen Basis unserer Überlegungen die Ergebnisse der Kohlerunde von 1991 sein, die auf einer Verstromung von 35 Millionen t ab 1997 beruhen. Zur Zeit sind es noch über 40 Millionen t.Aber die Bundesregierung hat sich mit dem Standortbericht vom 2. September 1993 auch selbst verpflichtet, die Subventionen des Bergbaus zu überprüfen und dabei zu berücksichtigen, ob und gegebenenfalls wie Wirtschaft und die Verbraucher entlastet werden können. Da steht „überprüfen". Daß wir Subventionen überprüfen, ist das Selbstverständlichste der Welt. Das wird auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, immer wieder gefordert.
Unser Fahrplan steht. Wir werden jetzt Gespräche führen: mit den Gewerkschaften, mit den Stromerzeugern, mit den Stromverbrauchern und anderen. Wir werden das systematisch tun, sachorientiert und ohne Druck von der Straße.
Und wir werden prüfen, ob in Zukunft — —
— Meine Damen und Herren, wir haben gesagt: Wir machen das in 1993. Und ich habe auch soeben gesagt: Wir machen das in 1993. Wir möchten, daß Sie sich bewegen. Sie halten sich doch nicht an das, was
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15487
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtvereinbart ist, was Grundlage des Energiekonsenses ist.
Sie springen. Sie erpressen und sagen uns, daß wir erpressen. Sie seilen sich ab. Sie wollen Vorleistungen.
Das ist ein Faktum.
Meine Damen und Herren, wir werden prüfen, ob in Zukunft ein modifizierter Kohlepfennig oder eine Energieabgabe den jetzigen Kohlepfennig ablösen sollen. Wir wollen keine neuen Belastungen. Wenn es zu dieser Energieabgabe käme, wollen wir diese so auslegen, daß sie den Kohlepfennig einschließlich des Selbstbehalts ersetzt und möglicherweise auch noch einen Beitrag bringt, um das aufgelaufene Defizit im Kohlefonds auszugleichen. Wir wollen jetzt keine zusätzlichen Steuern. Wir wollen aber eine sinnvolle Finanzierung, die eine Finanzierung, die mit Fragezeichen zu versehen ist, gegebenenfalls ablöst. Das ist zu diskutieren: mit den Fachleuten, mit den gesellschaftlichen Gruppen und anderen.Meine Damen und Herren, wir werden — ich habe das schon angedeutet — auch die Auslegung des Subventionsvolumens prüfen. Dazu haben wir uns selbst verpflichtet; dazu sind wir gehalten. Das wird in allen Parlamenten, den Länderparlamenten und hier im Bundestag, immer wieder gefordert. Wir müssen uns die Subventionen angucken. Wir wären eine schlechte Regierung,
wenn wir diesen parlamentarischen Willen nicht aufnähmen. Wir sind aber eine gute Regierung; deshalb machen wir das.
Wir erwarten, daß wir nicht ohne Not in eine Situation gebracht werden, in der wir aus der Technologie der Kernenergie aussteigen müßten. Ich habe vorhin gesagt, wir wollen die Option offenhalten, und zwar echt offenhalten. Wir wollen, daß eine Industrie, die forscht, entwickelt und erhebliche Mittel investiert, eine Chance hat, auf einer neuen technologischen Basis ihre Investitionen auch zu amortisieren.
Vorhin ist gesagt worden, das ist keine Frage der Investition von heute und morgen, sondern eine Frage des nächsten Jahrzehnts. Aber der Faden darf nicht reißen. Wer da „Blabla" ruft, verkennt, daß das nämlich Fakten sind, die von Ihren Vertretern und von Ihren Teilnehmern an der Energiekonsensrunde, meine Damen und Herrn von der SPD, immer wieder vorgetragen werden. Das ist das Blabla, das von dieser Seite vorgetragen wird.
Wir möchten, daß der Faden nicht reißt und daß die Option offengehalten wird. Wir sind eigentlich ganz zufrieden darüber, daß sich die Stimmen aus der großen Oppositionspartei mehren, die das ähnlich sehen. Wir können uns nicht leisten, daß wir aus einer Technologie ohne Not aussteigen, in der wir führend in der Welt sind, bei allen Problemen, die es dabei gibt. Es gibt schon genug Versäumnisse in der Gentechnologie, auch bedingt durch politische Ideologie; es gibt Probleme in einigen Bereichen der Mikroelektronik. Wir wollen nicht ohne Not aus einer weiteren Spitzentechnologie, an der viel hängt, auch Arbeitsplätze — da sollte eigentlich die Opposition hellwach werden —, aussteigen.In diesem Zusammenhang — das sage ich, um das aufzugreifen, was von Ihnen kommt — wollen wir uns auch die regenerativen Energien sehr genau anschauen; wir wollen sie nicht vergessen. Sie sollen einen Beitrag im Energiemix leisten, obwohl sie überwiegend noch sehr viel teurer sind als die konventionelle Energieerzeugung. Aber dort stecken Potentiale; dort stecken — das ist vorhin von Herrn Feige gesagt worden — technologische Impulse, die es zu wecken gilt. Das alles kann mitberücksichtigt werden, indem wir Mittel für Forschung und Technologie geben. Das Geld, das dort investiert wird, kann sich möglicherweise amortisieren.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Larcher zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Minister, in diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie: Wie beurteilen Sie politisch die Tatsache, daß ein mittelständisches Unternehmen, wenn es sich eine KraftWärme-Kopplungsanlage anschafft und sie betreibt, einen höheren Jahresstrompreis an das EVU zu zahlen hat als vorher, bevor es diese Kraft-WärmeKopplungsanlagen angeschafft hat, und was gedenken Sie da zu tun?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das muß man sich im Einzelfall ansehen.
— Ich bestreite das nicht. Ich selbst kenne solche Beispiele. Die Situation ist meist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Es gibt da Verträge; es gibt da gewachsene Beziehungen und gewachsene Positionen der großen Unternehmen, die über die Netze verfügen. Sie müssen überprüft werden. Das haben wir gesagt. Wir haben vor, das zu tun, auch im
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15488 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Bundesminister Dr. Günter RexrodtZuge der Umsetzung unseres Standortberichtes, wenn es darum geht, Privatisierung voranzutreiben und Monopole aufzulösen, auch im Energiebereich. Daran liegt uns viel, und ich bin überzeugt: Wenn wir für mehr private Elemente in der Energiewirtschaft sorgen — ich hoffe doch, mit Ihnen zusammen —, dann wird sich das ändern, dann wird es nämlich Wettbewerb geben, und dann werden diese Fragen gar nicht mehr in Erscheinung treten.
Sie sollten auf unsere Politik in der Energie aufspringen; dann ist sichergestellt, daß das kommt, was Sie wollen.
— Das kommt auf Sie an; das habe ich Ihnen doch eben gesagt.
Meine Damen und Herren, wir wollen eine Energiepolitik aus einem Guß. Wir erpressen niemanden, aber wir wollen auch nicht erpreßt werden. Wir möchten nicht, daß Sie die Geschäftsgrundlage der Gespräche verlassen, die wir jetzt führen. Wir fordern Sie auf: Lassen Sie uns einen Energiemix finden, der zuträglich ist, nützlich und hilfereich für den Standort Deutschland!Schönen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Hans-Ulrich Klose das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein bemerkenswerter und ein bedrückender Vorgang, den wir hier erleben.
Da machen sich Zehntausende von Menschen im Revier Sorgen um ihren Arbeitsplatz — und sie wissen, es hängen Zehntausende von Arbeitsplätzen daran —, und dem Bundeswirtschaftsminister fällt nichts anderes ein, als von „Wählern", „Klientel" und „populistischem Druck von der Straße" zu sprechen.
Ihre Kälte im Umgang mit Arbeitslosigkeit sind wir ja gewöhnt. Daß Sie das nicht wirklich interessiert, ist nicht neu.
Aber neu ist folgender Punkt: daß der Bundeswirtschaftsminister, ein Minister dieser Bundesregierung, der weiß, daß 1991, nach der Einheit, eine Kohlevereinbarung getroffen worden ist —mit einem Mengengerüst, mit der übernommenen Verpflichtung der Bundesregierung, die Finanzierung auch über 1995 hinaus sicherzustellen —, heute hier nicht mehr bereit ist, eingegangene Verpflichtungen zu erfüllen, sondern sie konditioniert.
Das ist in der Tat neu; denn das ist ein Abweichen von einem fundamentalen Rechtsgrundsatz, der da lautet: pacta sunt Servanda. Selbst für die Bundesregierung sind Verträge einzuhalten.
Ich frage Sie, Herr Minister: Welchen Sinn machen eingentlich Konsensgespräche, bei denen dann möglicherweise Verpflichtungen übernommen werden — Sie übernehmen welche —, da wir doch gar nicht wissen, ob Sie sich hinterher an solche Verpflichtungen, die Sie heute übernehmen, auch noch halten wollen?
Um es einmal im Klartext mit beiden Punkten, die ich Ihnen hier vorhalte, zu sagen: Sie reden, wenn Sie so weitermachen, die Konsensgespräche sehenden Auges kaputt. Ich füge hinzu: Sie reden dieses Land weiter in den sozialen Unfrieden hinein. Ich habe allmählich den Glauben, daß Sie genau das wollen.
Herr Minister, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. Das steht Ihnen geschäftsordnungsmäßig zu. Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte zunächst einmal, Herr Abgeordneter Klose, sagen, daß ich sehr bedauere, daß Sie meiner Ansprache hier nicht zugehört haben.
— Wissen Sie, welche Worte hier vorkommen oder nicht, das spielt doch keine Rolle.
Wir lassen uns nicht davon tragen, wie Erbsen oder Worte gezählt werden, sondern von den Fakten, und uns geht es darum, eine wettbewerbsfähige Wirtschaft zu erhalten.
Wenn wir eine wettbewerbsfähige Wirtschaft haben,dann schaffen wir Arbeitsplätze, nicht, wenn wir uns
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15489
Bundesminister Dr. Günter Rexrodthinstellen und populistisch irgendwelchen Interessen nachgeben, wo auch immer das sein mag.
Sie haben nicht zugehört; ich habe gesagt: Grundlage unserer Überlegungen sind die Vereinbarungen aus der Kohlerunde vom November 1991. Wir haben uns selbst die Verpflichtung auferlegt, auch zu prüfen, ob die Subventionierung im Bergbau vor dem Hintergrund einer Entlastung der Haushalte und der Wirtschaft reduziert werden kann. Das ist Kabinettsbeschluß, das müssen wir machen, Subventionen reduzieren, ist auch Ihre Forderung.
— Hören Sie mir doch zu; ich habe Ihnen auch zugehört.Wir sind daran interessiert, daß im Energiebereich etwas geschieht, was den Standort Deutschland sichert, damit wettbewerbsfähige Unternehmen erhält und so Arbeitsplätze sichert und neue schafft. Das sind unsere Überlegungen. Damit ich nicht wieder falsch interpretiert werde: Ich sage jetzt nicht, daß wir von irgend etwas abrückten, an das wir gehalten sein müßten.
Ich sage Ihnen mit allem Nachdruck: Es kann nicht angehen, daß wir in einem Land wie dem unseren, wo auf Grund der besonderen Situation eine ganz besondere Belastung im finanziellen Bereich erkennbar ist, ohne Überprüfung ein Subventionsvolumen von 10 Milliarden DM auf einen unüberschaubar langen Zeitraum festschreiben. Wer das fordert, verlangt von einer Regierung etwas, was nicht korrekt ist.Die Basis unserer Überlegungen bleiben die Abmachungen von 1991, nicht mehr und nicht weniger.
Da gibt es vieles hinzuzufügen. Das wissen Sie, und darüber ist mit Ihnen in den Energiekonsensgesprächen gesprochen worden. Diese Gespräche wollen wir zu Ende führen.Ich wehre mich dagegen, daß Sie uns Erpressung vorwerfen. Faktum ist, daß Sie die Geschäftsgrundlage, daß wir alle Energieträger im Kontext sehen und im Kontext über sie befinden wollen, verlassen. Herr Abgeordneter Klose, diejenigen, die so vorgehen, verlassen die Basis und Grundlage dieser Gespräche und damit auch einer sinnvollen Energiepolitik.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Norbert Formanski das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bergleute waren in der Vergangenheit immer bereit, mit friedlichen Mitteln für ihre Interessen zu streiten. Jetzt aber haben sie zu Recht den Eindruck, daß mit ihrer beruflichen Zukunft und mit dem Schicksal ihrer Familien Schindluder getrieben wird.
Der Unmut wird von Tag zu Tag größer. Als Betriebsratsvorsitzender einer Schachtanlage weiß ich, daß die Stimmung unter den Bergleuten bedrohlich explosiv und gereizt ist.Seit Gründung der Ruhrkohle AG wurden im Bergbau permanent Arbeitsplätze abgebaut. Von den 186 000 Bergleuten werden Ende 1993 nur noch knapp 75 000 übrigbleiben. Entlassungen in den Arbeitsmarkt konnten aber in den zurückliegenden Jahren verhindert werden. Das war der entscheidende Grund, warum diese Maßnahmen ohne soziale Unruhen bewältigt werden konnten.Es gibt einen zweiten Grund: Einmal geschlossene Verträge wurden auch eingehalten. Im November 1991 wurde in der letzten Kohlerunde unter Federführung der Bundesregierung nochmals beschlossen, daß der deutsche Steinkohlenbergbau langfristig zur Sicherheit der Energieversorgung beitragen muß. Demnach sollen 35 Millionen Tonnen Steinkohle verstromt und 15 Millionen Tonnen Kokskohle zur Stahlerzeugung eingesetzt werden.Den Vorrang der Steinkohle zur Sicherung der deutschen Energieversorgung hat Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung 1992 noch einmal ausdrücklich bestätigt. Doch dann geschah — wie immer bei dieser Regierung — wieder einmal gar nichts.Aus allen Revieren haben am 29. April in Bochum 100 000 Bergleute, Herr Rexrodt, für die Zukunft der Steinkohle demonstriert. Sie verlangten zu Recht, daß auch die Bundesregierung ihre Verpflichtungen aus der Kohlerunde 1991 einhält. Der Bergbau hatte nämlich sofort seine Lasten geschultert und unter schmerzlichen Einschnitten weitere Kapazitäten abgebaut. 100 000 Bergleute waren froh, als Bundesminister Rexrodt in seiner Rede erneut die Ergebnisse der Kohlerunde 1991 bestätigte und ankündigte, nach der Sommerpause ein Finanzierungskonzept für die Verstromung heimischer Steinkohle nach 1995 vorzulegen.
Seit April sind schon wieder fünf Monate vergangen.
Aus dem Bundeswirtschaftsministerium wurde zwar mitgeteilt, daß man an geeigneten Konzepten arbeitet und in Brüssel hartnäckig verhandelt. Aber es fehlt nach wie vor die belastbare politische Entscheidung.Ohne die versprochenen und angekündigten Umsetzungsbeschlüsse können Bergbau und Bergleute keine Entscheidungen treffen, erst recht keine weiteren Stillegungsentscheidungen. Auf Grund der Stahlkrise hat die Ruhrkohle AG einen zusätzlichen
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Norbert FormanskiKapazitätsüberhang von 3 Millionen Tonnen. Der Ruhrkohlevorstand hat den Aufsichtsratsmitgliedern in der vergangenen Woche einen Vorschlag zum Abbau der Überkapazitäten unterbreitet. Ein Beschluß wurde nicht gefaßt, da sich die Arbeitnehmerseite nicht in der Lage sah, weiteren Maßnahmen zuzustimmen, solange die Anschlußfinanzierung zum Jahrhundertvertrag nicht gesichert ist. Die Unsicherheit muß jetzt ein Ende haben, sonst ist der Bergbau nicht handlungsfähig.
Die Bergleute wissen sehr wohl, daß es Überkapazitäten gibt. Doch ohne verläßliche Grundlagen für die Zukunft werden weitere Stillegungsentscheidungen zum unkalkulierbaren Risiko, ja, zum russischen Roulett für das Schicksal Tausender Bergleute. Niemand darf sich wundern, daß die Menschen in den Steinkohlerevieren an Ruhr und Saar mißtrauisch werden. Es wächst der Verdacht, daß bewußt verzögert und verschleppt wird, um sich aus der Verantwortung des 11. November 1991 zu stehlen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Ja, gern.
Bitte sehr.
Herr Kollege Formanski, wir kommen von derselben Kante, aus dem Ruhrgebiet. Sind Sie bereit, dem Hohen Haus einmal mitzuteilen, welchen Beitrag Sie als Betriebsratsvorsitzender und als SPD-Abgeordneter leisten, um die Konsensgespräche — die ja offensichtlich auch an einer Stelle vereinbart sind — weiterzubringen, statt immer nur darüber zu reden, was die Bundesregierung für die Kohle einzubringen hat? Wie Sie wissen, sind Konsensgespräche notwendig, um im Energiekonsens gemeinsam weiterzukommen. Welchen Beitrag leisten Sie dazu?
Das will ich gerne tun. Aber wenn Sie richtig zugehört hätten, hätten Sie gemerkt: Der Kollege Volker Jung hat diese Frage schon beantwortet. Das sind zwei paar Schuhe. Wir haben die Kohlerunde 1991. Da standen weder die Energiekonsensgespräche noch die Atomkraft, noch sonstige Energiearten zur Diskussion, sondern es ging um die Sicherung der Steinkohle.
Erst danach wurde von der Bundesregierung über die Konsensgespräche die Kohle in Haft genommen, wurden die Bergleute in Haft genommen; für die
Fortsetzung der Atomenergie. Das lassen weder die Bergleute noch wir zu.
Beantworten Sie eine Zusatzfrage?
Bitte.
Herr Abgeordneter Weiermann, vielleicht darf der Herr Abgeordnete Formanski das entscheiden. — Bitte, Herr Abgeordneter.
Ist es nicht alte Tradition gerade der IG Bergbau und Energie, daß eben diese Gewerkschaft im Energiemix immer den Zusammenhang zwischen Kernenergie und Kohle gesehen hat und einfach auch gesehen hat, daß der Bergbau nur dann zu sichern ist, wenn wir zu diesem Energiemix kommen? Weichen nicht Sie davon ab, wenn Sie etwas anderes behaupten?
Ich weiche überhaupt nicht davon ab. Ich fühle mich da sogar in bester Gesellschaft. Wenn ich gestern meinen Vorsitzenden Hans Berger richtig verstanden habe, sagte auch er, daß die Kohlerunde 1991 nicht in Zusammenhang mit der Atomenergie gebracht werden darf. Von daher gesehen weiche ich nicht ab.
Nach der Großkundgebung in Bochum spielten Sie, Herr Bundesminister Rexrodt, mit den Gefühlen aller Bergleute, ja, tun es selbst heute noch. Spätestens seit der vergangenen Woche spüren die Bergleute, daß Sie nichts anderes tim, als den Wortbruch vorzubereiten. Seit April dieses Jahres — ich füge hinzu, auch seit November 1991 — hat sich nichts verändert, was ein Abrücken von den Ergebnissen der Kohlerunde rechtfertigen könnte. Trotzdem wollen Sie die Gemeinsamkeit aufkündigen.Wenn ich Sie heute richtig verstanden habe, wollen Sie eine zweite Kohlerunde. Ich sage Ihnen: Ohne die Beteiligung der Bergleute! Die Bergleute werden sich nicht an einem Wortbruch beteiligen.
Deshalb hat die IG Bergbau auch deutlich signalisiert, daß es mit ihr eine zweite Kohlerunde nicht geben wird. Deshalb kam es in der vergangenen Woche auch spontan zu den Arbeitsniederlegungen, zu Straßenblockaden und der Besetzung von Bahnübergängen.Die Bergleute wurden bei ihren Aktionen von Delegationen aus Betrieben und sogar Schulklassen unterstützt. 80 000 Menschen waren auf den Straßen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15491
Norbert FormanskiWer jetzt immer noch tatenlos zusieht, der legt die Lunte an das Pulverfaß.
Die Bergleute und ihre Familien verlangen kein Gnadenbrot wegen vergangener Verdienste, sondern sie fordern — das liegt im Interesse aller Bundesbürger — eine verläßliche, zukunftsorientierte Energiepolitik, in der die deutsche Stein- und Braunkohle einen festen Platz haben müssen. Planungsklarheit und Planungssicherheit sind heute notwendiger denn je. Ein politisches Verwirrspiel, das zu Brüchen und zum sozialen Chaos führt, können die Kumpel und die Menschen in den Revieren nicht tatenlos hinnehmen.Glückauf!
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Rainer Haungs.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte versuchen, die Diskussion im Zusammenhang vorzutragen, weise allerdings die unsinnigen Behauptungen zurück, hier würden Bergleute von irgend jemandem in Haft genommen. Meine Damen und Herren, die Bergleute wissen zum Großteil wesentlich besser als die Kollegen von der SPD-Opposition, daß eine wirtschaftliche Steinkohleförderung in der Bundesrepublik Deutschland nur im Energiekonsens mit der Kernenergie durchzuführen ist.
Deshalb waren das alles — sowohl von Ihnen, Herr Kollege Klose, als von Ihnen, Herr Kollege Jung — gigantische Ablenkungsmanöver. Die SPD — so Worte von Kollegen aus der Gewerkschaft — ist noch nicht so weit. Sie kann derzeit noch nicht zum Energiekonsens kommen. Aber bei dieser Frage, bei der es um Arbeitsplätze und Existenzen von Menschen geht, wie Sie richtig sagen, können wir die Entscheidung nicht von Zufälligkeiten von SPD-Parteitagen abhängig machen.
Die Energiepolitik in Deutschland muß sich — darüber sind wir uns einig — an den Zielen Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit und Ressourcenschonung orientieren. Die Umsetzung dieser Ziele findet sich in dem Energieträgermix. Dazu gehören die beiden Themen, die wir heute mit Schwerpunkt erörtert haben, nämlich die Nutzung der Kernenergie und die Zukunft der deutschen Steinkohle.Wir wollen uns — das wäre ein Fortschritt — frei von ideologischen Verstellungen und Vorstellungen über die Zukunft der Kernenergie in Deutschland und über die Zukunft der Steinkohle neben den anderen Energieträgern hier unterhalten. Der Bundeswirtschaftsminister hat im Standortbericht vorgetragen — das ist eine schonungslose und ehrliche Analyse unserer Standortnachteile —, für jedermann verständlich, daß wir uns in einer Kostenkrise befinden, was dazu führt, daß wir derzeit einen Rekord an Arbeitslosigkeit haben. Aber, meine Damen und Herren, die Opposition kann doch nicht bestreiten, daß zu den Kosten auch die Energiekosten gehören, und Deutschland nimmt bei den industriellen Strompreisen eine für unsere Wirtschaft traurige Spitzenstellung ein. Auch das gehört zu den Punkten, die wir ändern müssen, wenn wir den Standortbericht ernst nehmen.
Die Bereitstellung kostengünstiger Energie gehört dazu. Es gehört auch mehr Wettbewerb auf dem Energiesektor dazu. Wir dürfen unsere Energie allerdings auch nicht künstlich verteuern. Alle Vorstellungen, die hier genannt wurden, gehen in den Bereich des Illusorischen. Natürlich können wir unser Steuersystem — das steht in einem der Anträge — aufkommensneutral umbauen. Wir können natürlich den Faktor Arbeit und das unternehmerische Risiko entlasten und bei der Energie belasten. Aber in der derzeitigen Konjunktursituation einen nationalen deutschen Alleingang zu unternehmen, das wäre Gift für den Aufschwung, und es wäre Gift für die Zukunft der Arbeitsplätze in der gesamten Wirtschaft.Die heutige Krise verdeutlicht: Um den Wirtschaftsstandort Deutschland wettbewerbsfähig gestalten zu können, müssen wir Politik im Einklang mit den wirtschaftlichen Erfordernissen betreiben. Einiges, was ich heute gehört habe — eine Politik gegen die wirtschaftliche Vernunft und gegen den Markt — ist langfristig zum Scheitern verurteilt.Deshalb noch einmal, meine Damen und Herren: Es hat doch überhaupt keinen Sinn, uns vorzuwerfen, wir seien heillos zerstritten, wenn es um die Energiepolitik geht, während Sie selbst die öffentlich ausgetragenen unbestrittenen Diskussionen darüber haben, wie wir bei dem dringend notwendigen energiepolitischen Konsens — das will ich in aller gebotenen Ruhe sagen — zu einem vernünftigen, erfolgreichen Abschluß kommen und das dann zu zuverlässigen Rahmenbedingungen für die Zukunft, auch für die Zukunft der Steinkohle, gestalten.Die Konsensgespräche erfolgreich abzuschließen wäre eine Verbesserung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Hier darf sich keine Partei versagen. Verläßliche Rahmenbedingungen für unsere Energiepolitik bedeuten aber — darüber werden wir uns unterhalten müssen — nicht zwangsläufig eine Mengenfestlegung bei der Steinkohle über einen längeren Zeitraum,
was in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten keine besonders intelligente Lösung bedeutet.Eine Plafondierung des Subventionsbetrages, eine direkte Auszahlung an die Kohleförderung der Industrie, ermöglicht dem Bergbau durchaus, selbständig die wirtschaftlich notwendigen Anpassungen vorzu-
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Rainer Haungsnehmen. Sie kennen die Subventionsbeträge. Bei einem Subventionsbetrag von 7 Milliarden DM, der degressiv ausgestaltet wird, erfüllen wir durchaus die Verpflichtungen der Kohlerunde, und wir erfüllen vor allem — auch das ist wichtig — die Forderungen der EG-Kommission, die Kohlehilfen in Zukunft degressiv und transparent auszugestalten, da der Kohlepfennig in seiner heutigen Form keine Zukunft hat.Eine Politik für die Wirtschaft bedeutet eine Politik für die Arbeitnehmer. Quer durch alle Branchen passen sich die Unternehmen dem härter gewordenen Wettbewerb an. Man kann deshalb nicht mit Subventionen auf lange Sicht künstlich Arbeitsplätze erhalten.
Ich erkenne an, welch große Anstrengungen der Bergbau in der jetzigen schwierigen Zeit unternimmt, um die Ergebnisse der Kohlerunde 1991 notwendigerweise noch schneller umzusetzen. Sie haben die Stahlkrise erwähnt, die wir alle kennen. Aber, meine Damen und Herren, seit dem Ergebnis des Jahres 1991 haben sich unsere Rahmenbedingungen weiter dramatisch verändert — ich füge hinzu: leider dramatisch verschlechtert. Der Absatzeinbruch bei der stahlverarbeitenden Industrie wird auch für den deutschen Bergbau zu weiteren Kürzungen führen. Die Notwendigkeit von Abbaureduktionen kann von niemandem bestritten werden, so schmerzhaft sie auch sind.
Herr Abgeordneter Haungs, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Klose zu beantworten?
Ja, gern.
Es tut mir leid, Herr Kollege Haungs, aber ich möchte es nun wirklich einmal wissen: Gilt nun der Vertrag von 1991, oder gilt er nicht mehr? Das ist eine ganz einfache Frage: Gilt er, oder gilt er nicht?
Herr Kollege Klose, ich kann Ihnen die Frage nicht juristisch beantworten. Ich kann Ihnen nur sagen, daß dieser Vertrag, so wie es Ihnen und mir bekannt ist, aus zwei Mengenkomponenten besteht. Die Menge der Kokskohle ist durch die Krise der Stahlindustrie zurückgegangen. Es gibt den Vorschlag der Ruhrkohle, Zechen stillzulegen. Dem werden und müssen auch die Arbeitnehmer zustimmen, weil die Entwicklung bei der Kokskohle jenseits unserer politischen Entscheidung liegt.
Jetzt komme ich zum Kern Ihrer Frage: Ausgehend von 35 Millionen Tonnen — das war die Verstromungsmenge —, mit einem geschätzten Subventionsbetrag von derzeit 200 DM pro Tonne, erreichen wir Subventionen in Höhe von 7 Milliarden DM. Das entspricht der vereinbarten Menge, und dazu stehen wir. Wir stellen also einen Subventionsbetrag zur Verfügung, der der vereinbarten Menge entspricht.
Gleichzeitig ist die Mehrzahl derjenigen, mit denen ich mich über die Lösung dieses Problemes unterhalten habe, bisher der Meinung gewesen, daß eine starre Festlegung einer Menge auf weite Zukunft hinaus, ausgehend von den Veränderungen in der Zwischenzeit — ich wiederhole meine Worte —, keine intelligente Lösung ist. Es können mehr, es können weniger Tonnen werden. Es gibt weitaus bessere Möglichkeiten, um in dieser schwierigen Lage die Zustimmung der Wirtschaft, die Zustimmung der Bevölkerung jenseits des Kohlereviers dafür zu bekommen, daß wir einen solch hohen Subventionsbetrag einstellen, der höher ist als die Summe, die wir an anderen Stellen für die Entwicklung neuer Technologien einstellen.
— Klarer kann ich Ihnen die Frage nicht beantworten. Wir stellen im Vollzug dieser Vereinbarungen, an denen der jetzige Wirtschaftsminister und der jetzige wirtschaftspolitische Sprecher der CDU nicht beteiligt waren, einen Betrag ein, der exakt dieser Menge entspricht. Wir müssen jetzt eine Anschlußregelung finden — das ist der weitaus schwierigere Teil der Veranstaltung —, die diesen Bereich finanziert. Sie haben gesagt, Sie erwarten möglichst bald Klarheit in dieser Anschlußregelung. Der Wirtschaftsminister hat erklärt, er werde noch in diesem Jahr, möglichst bald, die Anschlußregelung finden. Sie muß von der EG genehmigt werden. Deshalb der Hinweis, daß eine Umstellung der Regelung von Tonne auf D-Mark, transparent gestaltet, direkt an die Kohlewirtschaft gezahlt, der intelligentere Vorschlag ist. Eine bessere Antwort haben Sie heute noch nicht bekommen und werden Sie auch nicht bekommen.
Trotzdem möchte der Abgeordnete Klose noch einmal nachfragen. Sind Sie bereit, das zu beantworten? — Bitte schön.
Legen wir einmal den Teil Stahl beiseite. Gilt der Vertrag von 1991 — jedenfalls für die Verstromung — auch nach 1995 mit dem Mengengerüst von 35 Millionen Tonnen? Ist die Bundesregierung bereit, die Finanzierungszusage in diesem Vertrag einzuhalten?
Also, lieber Herr Kollege Klose — —
— Darf ich jetzt die Frage beantworten?
Geben Sie bitte dem Abgeordneten die Chance zu antworten.
Wenn ich Ihnen schon die Möglichkeit gebe, mich zu fragen, werden Sie mir doch die Möglichkeit geben zu antworten.Sie fragen nach der Haltung der Bundesregierung. Ich bin nicht die Bundesregierung. Ich bin der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion,
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Rainer Haungsund ich stelle fest, daß wir intelligentere Lösungen unter Einhaltung des Vertrages von 1991 finden können. Wissen Sie, die Bergleute interessieren die juristischen Feinheiten überhaupt nicht; so habe ich zumindest die politischen Einlassungen Ihrer Vorredner verstanden.
— Doch, doch. Für wie dumm halten Sie mich denn, daß Sie glauben, ich kapiere das nicht!Es geht — wenn ich es Ihnen noch einmal ganz langsam erklären darf — um die 35 Millionen Tonnen Verstromungsmenge. Ich sage Ihnen, daß ein Betrag von sieben Milliarden DM, eingestellt als Subvention, den 35 Millionen Tonnen Verstromungsmenge in etwa entspricht — ist das so verstanden? —, daß das aber angesichts unserer heutigen Probleme und auch angesichts der Tatsache, daß der Bundeswirtschaftsminister laut Kabinettsbeschluß verpflichtet ist, im Standortbericht alte Subventionen nicht nur der Höhe, sondern auch der Zweckmäßigkeit ihrer formalen Gestaltung nach zu untersuchen, keine intelligente Lösung ist.So sage ich in Wiederholung der Beantwortung der ersten Frage noch einmal: Ich kann mir vorstellen, daß wir für die Kohleindustrie, für die Menschen an der Ruhr und an der Saar, für die deutsche Wirtschaft mit diesem Milliardenbetrag intelligentere Lösungen finden können, um nicht nur die Menschen zu beschäftigen und die Tonnen Kohle zu fördern, sondern zusammen mit den Ländern die Zukunft zu gestalten. Das wäre der Anteil der Regionalpolitik.Jetzt darf ich mit Ihrem Einverständnis meine Ausführungen fortsetzen. Das Ausmaß des Transfervolumens in die neuen Länder, eine weltwirtschaftliche Schwächephase und ein rezessiver Konjunkturverlauf in Deutschland, der unsere strukturellen Schwächen offengelegt hat, führen im Standortbericht — ich habe darauf hingewiesen — zu der Konsequenz, daß wir alle Subventionen auf ihren ökonomischen Nutzen und für die Zukunft überprüfen müssen. Wenn der Wirtschaftsminister dies nicht tun würde, hätten Sie Grund, ihn zu kritisieren — nicht wegen der Tatsache, daß er dies pflichtgemäß tut.Zu lange haben wir in Deutschland an den alten Strukturen festgehalten. Der von der Bundesregierung vorgelegte Standortbericht ist ein guter Ansatz. Wir werden ihn ja demnächst ausführlich diskutieren.Die im Zusammenhang mit dem Haushalt vorgelegten Spargesetze werden von uns unterstützt. Allerdings habe ich den Eindruck, daß bei der SPD unsere Ziele leider noch nicht angekommen sind, sonst wäre Ihr heutiger Antrag auf Einführung einer allgemeinen Energiesteuer mit einem Aufkommen von 20 Milliarden DM zur Finanzierung der Steinkohle, zur Energieeinsparung, für regenerative Energien und zur Altlastensanierung nicht gekommen. Es ist zum heutigen Zeitpunkt ein untauglicher Antrag zur Kostenentlastung der deutschen Wirtschaft und zur Belebung der Konjunktur, und das fordern wir doch im Interesse der Arbeitnehmer. Eine Diskussion über dieEinführung einer solchen Steuer zum jetzigen Zeitpunkt halte ich für konjunkturpolitisch gefährlich.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich in ihren energiepolitischen Leitlinien dafür ausgesprochen, den Kohlepfennig durch ein modifiziertes Finanzierungssystem abzulösen, das auch die kohlefördernden Länder mit einbezieht. Ich fordere alle diejenigen, die im Land Nordrhein-Westfalen und an der Saar Verantwortung tragen, auf, dafür zu sorgen, daß auch unter Mitwirkung der Regionalpolitik die entsprechenden Geldbeträge, die Sie so lautstark von der Bundesregierung fordern, aufgebracht werden.Eine tragfähige und zukunftsgerichtete Lösung muß gefunden werden, und wir werden sie finden. Ich weiß — das gebe ich zu —, daß es bei der konkreten Ausgestaltung der Finanzierung keinen Königsweg gibt. Jedoch müssen folgende zwei Elemente unbedingt enthalten sein: Erstens die Degression des Subventionsbetrages entsprechend der Forderung des Standortberichtes und zweitens die Senkung des industriellen Strompreises zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen unserer Wirtschaft. Nur so werden wir das Hauptziel der Wirtschaftspolitik erreichen, für die Zukunft neue wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Karl-Hans Laermann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe eine Abneigung gegen vorausgenommene Belobigungen. Ich habe aber auch ein Vorurteil gegen Lautstärke und gegen Unterstellungen. Diese haben uns bei der Lösung von Problemen noch nie weitergeholfen. Ich denke, die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, die wir alle so sehen — ich glaube, ausnahmslos —, sind so groß, daß wir sie nur vernünftig lösen können, wenn wir alle zusammenstehen und uns nicht gegenseitig mit Vorwürfen bedenken, wenn wir unsere Vorstellungen gemeinsam einbringen und dann gemeinsam versuchen, sie umzusetzen.
Lassen Sie uns doch um Gottes willen unterschiedliche parteipolitische Auffassungen überwinden, um zu einer Lösung zu kommen.Herr Jung und andere, erwarten Sie von mir, daß ich den Vorwurf hinnehme, wir wollten Sie erpressen? Was hat es mit Erpressung zu tun, wenn wir die Dinge in einen vernünftigen und in sich logischen Zusammenhang stellen, wenn wir den Zusammenhang zwischen dem Beschluß von Rio zur CO2-Reduktion und unserem Beschluß zur mittel- bis längerfristigen Finanzierung der Erhaltungssubventionen für die Steinkohle und zur Notwendigkeit eines Einschwenkens, der Herstellung eines Ernergiekonsenses mit
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Dr.-Ing. Karl-Hans Laermannder SPD herstellen? Das sind doch Zusammenhänge, die wir berücksichtigen müssen.Dabei, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sollten Sie nicht nur auf unseren Kurs, sondern gelegentlich auch auf die Vorstellungen kluger Gewerkschaftsführer in Ihren eigenen Reihen achten und vielleicht auch Gewerkschafter solcher Industriezweige, die mit Energie zu tun haben und die große Energieverbraucher sind, einbeziehen. Herr Kollege Klose, bei den aktuellen Schwierigkeiten mit der Kohle — es geht aktuell nicht um die Kohlerunde, ja oder nein; denn wir sind darüber einig, daß das einer Lösung zugeführt werden muß —, die durch den Einbruch im Hüttenvertrag entstanden sind, muß ich doch einmal fragen: Wer sitzt denn eigentlich in den Aufsichtsgremien der Unternehmen, auch der Stahlunternehmen?
Das war alles vorhersehbar; der Zusammenhang mußte doch gesehen werden. Ich frage mich auch, wenn hier Konzepte gefordert werden, ob das nicht realistische Konzepte sein müssen. Müßte man nicht, wenn Vorwürfe an die Energiekonzerne, an die Energieversorgungsunternehmen gerichtet werden, nachfragen, wer in den Aufsichtsgremien sitzt? Welche Interessen werden denn in den Aufsichtsgremien vertreten? Ich glaube, ich muß Ihnen das hier nicht im einzelnen vorstellen und darstellen, wie diese Zusammenhänge sind.In der energiepolitischen Debatte von heute stehen eine Reihe von Punkten, die sich auf die Forschung beziehen, nicht unmittelbar in einer Beziehung zur Energieforschung. Ich weiß nicht, ob es besonders glücklich war, dies hineinzunehmen, aber ich denke, da der Zusammenhang jetzt hergestellt ist, müssen wir auch darüber sprechen. Eine energiepolitische Debatte ist offenbar nicht ohne ein Eingehen auf Forschung und forschungspolitische Ansätze möglich; denn allein Forschung und technologische Entwicklung sind es, die uns Antworten auf die Fragen geben können, wie wir Risiken überwinden, wie wir Auswege aus dieser Situation finden.Wir wissen genau, daß es nicht um Erhaltungsaufwendungen geht, sondern daß es um neue Strukturen, um neue Technologien geht, um die wir uns kümmern müssen. Dazu zählen natürlich auch alle Techniken, die mit Energieumwandlung, mit Energiegewinnung, mit Energieverbrauch zu tun haben. Dazu zählen die erneuerbaren Energien genausogut wie die Kernenergie. Wer will denn über die Weitsicht und über die Einsicht verfügen, wie eine Welt in 10 oder 20 Jahren aussieht, wenn wir heute die Optionen aufgeben?Ich bin der Überzeugung, daß wir die Optionen erhalten und an dieser Stelle nachdrücklich unsere Energie auf die Frage fokussieren müssen, wie wir die Zukunft gestalten.Umweltschutz und effizientere Nutzung der Primärenergieträger sind die Prioritäten, auf die wir uns verständigt haben, Herr Kollege Kubatschka, auch im Forschungsausschuß.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Kollege Laermann, Sie haben das Problem Forschung angesprochen. Wieso ist dann das Problem der Kernenergie nicht bis zum Ende gelöst? Denn weltweit gibt es noch keine Endablagerungsmöglichkeiten für hochradioaktive Abfälle. Wie können Sie davon sprechen, daß das ein Mittel für die Zukunft wäre, obwohl das Problem noch nicht bis zum Ende gelöst ist?
Das Wesen der Forschung besteht darin, daß man das Ergebnis nicht vorhersagen kann. Denn Forschung wird betrieben, damit man zu einem Ergebnis kommt.
Auf Ihre konkrete Frage muß ich antworten: Warum werden denn die Bemühungen, auf diesem Gebiet zu forschen, in der Bundesrepublik so nachdrücklich und so intensiv behindert? Hier wird ja gerade verhindert, daß man zu einem Ergebnis kommt. Denn man fürchtet, daß es eine Lösung gibt, die man nicht will.
Das ist meine Interpretation.Herr Kollege Kubatschka, Sie haben gefragt: Wieso ist die Entsorgungsfrage noch nicht gelöst? Wir waren uns immer darüber im klaren, daß es eine Reihe von Fragen gibt, die noch der Lösung bedürfen. Sie bedürfen einer Lösung, die uns ein höheres Maß an Sicherheit und Sicherung garantiert. Deswegen bin ich nachdrücklich dafür, daß wir uns im Bereich der öffentlichen, der staatlichen Förderung nicht aus der Reaktorsicherheitsforschung ausklinken und ausblenden. Wir sind schließlich nicht allein auf der Welt, und wir müssen den Rest der Welt davon überzeugen, daß sie auch keine Kernenergie benutzen. Ich halte das für eine Illusion.
Es ist unser genuines eigenes Interesse, dafür zu sorgen, daß wir vernünftige und international realisierbare Sicherheitsstandards haben.
Diese können wir nicht der Industrie und der Industrieforschung allein überlassen; das muß in der Verantwortung des Staates bleiben. Dafür kämpfe ich nachdrücklich. Ich setze mich nachdrücklich dafür ein, damit die Probleme, die noch nicht zufriedenstellend gelöst worden sind, gelöst werden können.Ich bin nicht der Befürworter, der sagt: Wir bauen jetzt hier Kernkraftwerke auf Deubel komm raus. Das können Sie über meine politische Geschichte verfolgen; ich will Ihnen das gern belegen. Ich war diesbezüglich immer sehr zurückhaltend. Ich bin aber überzeugt, daß wir zur Zeit nicht über die nötige Einsicht verfügen, um sagen zu können: Wir können auf die Kernenergie, in welcher Form auch immer, verzich-
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Dr.-Ing. Karl-Hans Laermannten. Ich möchte, daß wir das als Zukunftssicherung betrachten. Demzufolge müssen wir, wie Herr Minister Rexrodt gesagt hat, den Fadenriß verhindern.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka? Ich verbinde damit die Bitte, die Antwort genauso kurz zu fassen, wie die Frage sein wird.
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben auf meine Frage nicht vollständig geantwortet, obwohl Ihre Antwort wortreich war. Trifft das, was Sie für die Bundesrepublik geschildert haben, auch für die USA, für Großbritannien, für Japan, für Frankreich und die UdSSR zu? Meine Frage war weltweit gemeint.
Nein, es trifft in dieser Form, wie es für die Bundesrepublik gilt, für diese Länder nicht zu. Sie wissen auch, daß es in anderen Ländern, z. B. in Frankreich, ganz konkrete Vorstellungen und Realisierungen von Endlagerungen gibt — falls sich Ihre Frage nur auf die Endlagerungen bezogen hat.
— Gehen Sie mal nach Marcoule, da werden Sie feststellen — —
— Ich habe im Zusammenhang mit der Verhinderung von der Bundesrepublik gesprochen. Ich habe das auch nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie hingehört haben, auf die SPD bezogen. Das war eine generelle Feststellung. So möchte ich Sie nicht im Kollektiv einvernehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte eigentlich einiges zur Forschung und zu den relevanten Anträgen und Beschlußempfehlungen des Forschungsausschusses, die auf dem Tisch liegen, sagen. Aber meine Redezeit läuft nun ab. Ich möchte nur noch wenige Worte dazu sagen.
Wir haben eine Beschlußempfehlung zur Frage der Wasserstoffwirtschaft auf Solarbasis vorgelegt. Wir sind mit Nachdruck dafür, daß wir hier weiter fördern. Untersuchungen haben gezeigt, daß es hierzu noch erheblichen Forschungsbedarf gibt. Ich denke auch, daß es notwendig und richtig ist, die Forschung über den nationalen Rahmen hinaus mindestens innerhalb der EG, aber auch gemeinsam mit anderen Ländern der Welt, in denen die Strahlungsintensität verstetigt und höher ist, in enger Kooperation und Koordinierung dieser Ansätze zu betreiben. Denn ich glaube, daß gerade in bestimmten Teilen der Welt ein großer Anteil des dort entstehenden Energiebedarfs über solche neuen Techniken und Technologien gedeckt werden kann.
Aus Erfahrung klug geworden — das hat nichts mit einer bestimmten Marke zu tun —, hatte der Ausschuß sozusagen in weiser Voraussicht eine zusätzliche TA-Untersuchung über mögliche Risiken, die eine solche Technologie mit sich bringen könnte, in Auftrag gegeben. Ich denke, das entspricht der Pflicht des Parlaments zur Vorsorge.
— Ich habe gesagt, Forschung und Technologie weisen auf die Zukunft hin. Es kommt darauf an, was wir machen. Wir wissen doch ganz genau — davon müssen wir ausgehen —, daß die relativ jungen Menschen, die jetzt im Kohlebergbau tätig sind, möglicherweise nicht mehr — und zwar nicht nur durch Entwicklungen, die Sie oder wir steuern könnten — ihren Beruf und ihr Auskommen im deutschen Steinkohlebergbau finden können. Wir sind verpflichtet, für diese Menschen Alternativen zu schaffen. Alternativen schaffen müssen wir über Forschung und Technologie, und wir brauchen die notwendigen Mittel, um das umzusetzen.
— Nein, wir haben sie nicht gekürzt.
Darf ich jetzt einmal darauf hinweisen, daß der Kollege Professor Laermann nun das dritte Mal Schluß gemacht hat, und darum bitten, daß wir dieses Zwiegespräch vielleicht im Ausschuß fortsetzen. Wäre das eine Idee zur Güte?
— Wunderbar. Nun hat der Kollege Holger Bartsch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß sich mit der Deutschen Einheit die energiepolitische Landschaft in Deutschland verändert hat, wird hier sicher niemand bestreiten. Ich will deshalb im Rahmen dieser Debatte ein paar Worte zur ostdeutschen Braunkohle sagen, zu der meine Fraktion den Antrag „Sicherung der Zukunft der ostdeutschen Braunkohle" eingebracht hat.Mit der Braunkohle steht uns ein heimischer Energieträger zur Verfügung, der bei entsprechenden Rahmenbedingungen auch langfristig konkurrenzfähig ist. Für Ostdeutschland ist dieser Energieträger ein unverzichtbarer Wirtschaftsfaktor, sichert er doch zur Zeit noch für über 40 000 Menschen Lohn und Brot.
— Zur Zeit noch.Meine Fraktion spricht sich in ihrem Antrag für ein Mengenziel von 100 Millionen t Jahresförderung aus, und dies aus gutem Grund. Nur mit einer Fördermenge in dieser Höhe sichern wir den Erhalt der Braunkohlereviere und damit langfristig ca. 30 000 Arbeitsplätze in der Kohle und mindestens die gleiche Anzahl davon direkt oder indirekt betroffener Arbeitsplätze. Für die Regionen sind das industrielle
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15496 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Holger BartschKerne im besten Sinne des Wortes. Ihr Wegbrechen hätte katastrophale Folgen.
— Danke schön.
Man kann auch nicht oft genug wiederholen: Eine Fördermenge von mindestens 100 Millionen t ist auch aus ökologischer Sicht zur Sicherung der Rekultivierung und Altlastensanierung erforderlich. Damit ist klargestellt, daß für die SPD Kohle Ost und Kohle West den gleichen Stellenwert haben.Ob die Braunkohle in Ostdeutschland mit solchen Mengenzielen auch langfristig eine Perspektive hat, hängt meines Erachtens von drei Faktoren ab:Erstens hängt es von der Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen ab. Ich nenne hier nur das Stichwort CO2-/Energie-Steuer, die nun hoffentlich vom Tisch ist.Zweitens hängt es davon ab, ob die Braunkohle im Osten Deutschlands ihre Akzeptanz erhält bzw. wieder erreicht. Dies wird um so sicherer der Fall sein, je zügiger die in den Jahren des sozialistischen Raubbaus an der Braunkohle entstandenen Altlasten beseitigt werden. Dazu ist neben der Schaffung von technisch-organisatorischen Bedingungen vor allem auch eine Anschlußfinanzierung zu sichern — eine Forderung, die in unserem Antrag explizit gestellt wird —,
um für die betroffenen Regionen Planungssicherheit zu schaffen. Hier ist die Bundesregierung in der Pflicht.Drittens hängt es davon ab, wie die Braunkohle langfristig unter dem Klimaaspekt ihre Konkurrenzfähigkeit bewahren kann. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird die Braunkohle zu mehr als 90 % zur Verstromung in Großkraftwerken eingesetzt. Dies kann auf Dauer nicht die alleinige Perspektive sein. Die Braunkohle kann und muß sich nach unserer Auffassung auch im Wärmemarkt stärker durchsetzen. Gerade im Osten Deutschlands mit seinen noch 25 % Fernwärme ist dies ein nicht zu unterschätzender Bereich.Ich plädiere leidenschaftlich dafür, daß Bund und Länder dies auch entsprechend fördern, und ich gestehe unumwunden, daß ich hier von den ostdeutschen Kommunen, auch von meiner Landeshauptstadt Potsdam, ein deutliches Zeichen erwarte. Ganz am Rande sei vermerkt, daß auch Berlin sich hier in die Pflicht nehmen lassen muß.Es kann nicht sein, daß die Braunkohle im Wärmemarkt nahezu vollständig durch die Importenergie Erdgas ersetzt wird. Das kann aus beschäftigungs- und energiepolitischer Sicht niemand wollen.
Es ist deshalb zur Sicherung einer längerfristigen Perspektive für die Braunkohle unumgänglich, daß neue Technologien der Braunkohlenutzung gefördert werden, und ich appelliere auch angesichts derlaufenden Haushaltsdebatte an die Bundesregierung, die entsprechenden Titel im BMFT-Haushalt nicht weiter zurückzufahren, sondern im Gegenteil aufzustocken.Wenn es, was sicherlich unbestritten ist, energie- und beschäftigungspolitisch sinnvoll und unter dem Aspekt der ökologischen Sanierung der Altlasten auch notwendig ist, eine stabile Braunkohleförderung von rund 100 Millionen Jahrestonnen im Osten Deutschlands anzustreben, dann ist die Politik gefordert, dazu die Rahmenbedingungen zu setzen. Dazu gehört die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, dazu gehört die langfristige Sicherstellung der Finanzierung der Altlasten und der ökologischen Sanierung, und dazu gehört auch die gezielte Förderung neuer, effizienter Technologien.Im Interesse der Menschen in den betroffenen Regionen sollte in der Energiepolitik darüber Konsens bestehen, meine Damen und Herren, und meine Fraktion wird sich einem solchen Konsens mit Sicherheit nicht entziehen.Gestatten Sie mir zum Schluß, weil diese Debatte angesichts der aktuellen Ereignisse vornehmlich eine Steinkohledebatte geworden ist, noch eine Bemerkung: Es gibt durchaus Kreise, die die Diskussion um die deutsche Steinkohle als „Ost-West-Kiste" nach dem Motto führen: ostdeutsche Braunkohle kontra westdeutsche Steinkohle. Ich halte dies für eine unehrliche Ersatzdebatte, jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt, und dies aus folgenden drei Gründen:Erstens ist es energiepolitisch unehrlich, da Braunkohle und Steinkohle keine konkurrierenden Energieträger sind.Zweitens ist es auch verteilungspolitisch unehrlich, da der Wegfall oder die Reduzierung des Kohlepfennigs keine müde Mark für Ostdeutschland bzw. die ostdeutsche Braunkohle erbringen würde.Drittens ist es auch sozialpolitisch unehrlich, weil ich nicht einsehen kann, welchen Nutzen Ostdeutschland und die ostdeutsche Braunkohle davon haben könnten, wenn an Ruhr und Saar Zehntausende von Arbeitsplätzen verlorengehen, mit all den sozialen Folgekosten, ohne daß dafür auch nur ein einziger Arbeitsplatz im Osten entsteht.
Nicht nur deshalb, sondern natürlich auch als Sozialdemokrat sage ich hier: Unsere Solidarität gehört den Kumpeln an der Saar und im Ruhrgebiet, und deshalb muß die Bundesregierung ihre Verpflichtungen aus der Kohlerunde 1991 einlösen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Nun hat der Kollege Julius Cronenberg das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist hier mehrmals der Vorwurf erhoben worden, daß diejenigen, die sich gegen zusätzliche Subventionen
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Dieter-Julius Cronenberg
aussprechen, gefühlskalt mit Arbeitslosen umgingen. Ich möchte mich gegen solche Vorwürfe in aller Deutlichkeit wehren; denn der Versuch, Subventionen in möglichst geringem Umfang oder, wenn möglich, gar nicht einzusetzen, ist ja der Versuch, die Wettbewerbsfähigkeit unserer exportorientierten Industrie zu fördern. Das schafft Arbeitsplätze und ist wichtiger, als Arbeitsplätze zu subventionieren, von denen man weiß, daß sie dauerhaft nicht zu erhalten sind.
Wer Subventionen und Absatzgarantien in dem Umfang fordert, wie das in den letzten Tagen in diesem Haus geschehen ist — Stahl, Werften, Kohle; demnächst stehen die Betriebsratsvorsitzenden der Automobilindustrie hier —, vernichtet Arbeitsplätze, schafft keine neuen. Er schafft zwei Sorten von arbeitenden Menschen. Diejenigen in den Klein- und Mittelbetrieben haben die Steuern aufzubringen, mit denen dann die Subventionen für unrentable Arbeitsplätze bezahlt werden.
Meine Freunde, so können wir dieses Land nicht in Ordnung bringen.Wer hat denn der Textilindustrie, der Werkzeugindustrie in Remscheid zu helfen versucht? Denen hat man gesagt: Bringt eure Läden in Ordnung, laßt euch etwas Neues einfallen. Da ist keiner hingegangen und hat gesagt, er wolle mit Subventionen helfen.Denjenigen, die sich bemühen, unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig zu gestalten und in unserer exportorientierten Industrie neue Arbeitsplätze zu schaffen, sollte man keine Gefühlskälte vorwerfen, sondern man sollte sie unterstützen, damit dort neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist sinnvoll, das ist notwendig. Wenn wir da ein bißchen zusammenarbeiten, dann tun wir uns allen und den Arbeitslosen einen großen Gefallen.
Nun hat der Kollege Ulrich Klinkert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bartsch, ich bin Ihnen für Ihre Rede, die Sie hier eben gehalten haben, sehr dankbar. Ich kann fast jedes Wort, das Sie gesagt haben, unterstreichen. Mich wundert allerdings, daß Sie aus unserer Fraktion mehr Beifall bekommen haben als aus Ihrer eigenen Fraktion. Dies soll aber keine Wertung sein.
In der Tat, die neuen Bundesländer sind in der Lage, mit Braunkohlenförderung und Braunkohlenverstromung einen Beitrag für die gesamtdeutsche Energiebereitstellung zu leisten. Mehr noch: Sie können und wollen auch einen Beitrag zur Stabilisierung des Wirschaftsstandortes Deutschland insgesamt leisten — und dies im Gegensatz zu den alten Bundesländern, das sage ich völlig wertfrei, wo Energieerzeugung subventioniert ist.Herr Klose, wenn Sie in Anbetracht der Tatsache, daß der Wirtschaftsminister das Wort „Subventionsabbau" in den Mund nimmt, hier vor Aufregung fast auf den Tisch springen, dann frage ich mich: Wo ist Ihr Engagement für die ostdeutschen Arbeitslosen?
Ich merke, daß Sie sich dort wesentlich kühler zurückziehen und daß es Sie wesentlich weniger vom Sessel reißt. Dies zeigt mir einmal mehr das gespaltene Verhältnis der SPD-Führung zur deutschen Einheit.
Wenn es schon so ist, meine Damen und Herren, daß die Energieerzeugung im Osten Deutschlands subventionsfrei erfolgen kann, dann frage ich mich natürlich, warum unbedingt ins Ausland geschaut werden muß, um vielleicht noch billigere Energieträger zu bekommen — und das sowohl von Energieerzeugungsunternehmen als auch von den Ländern. Diese müssen sich dann die Frage stellen lassen, wo sie die Energiegroschen der Verbraucher investieren und in Arbeitsplätze umwandeln wollen: in Deutschland oder im Ausland — und das in Anbetracht von steigenden Arbeitslosenzahlen in Ost wie in West.
Meine Damen und Herren, nicht zuletzt durch ökologische Auflagen werden im Osten Deutschlands Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe für den Neubau von Kraftwerken losgetreten. Voraussetzung dafür ist, daß die historisch gewachsenen Strukturen der Energieerzeugung in den neuen Bundesländern beibehalten werden; das ist nun einmal die großtechnische Verstromung von Braunkohle. Dies ist nur bei Durchsetzung des Stromvertrages möglich, den Sie, meine Damen und Herren von der SPD, noch immer bekämpfen.
— Meine Damen und Herren, ich darf Sie an Einzelheiten erinnern, als Sie auch in diesem Haus den Stromvertrag als das große Unglück Deutschlands hingestellt haben. Das haben Sie offensichtlich vergessen. Seit vor dem Bundesverfassungsgericht eine Einheit hergestellt wurde, sind Sie auf einmal zumindest global und offiziell dafür. Insofern ist natürlich Ihr Papier „Sicherung der Zukunft der ostdeutschen Braunkohle" in sich ein bißchen heuchlerisch.Der Stromvertrag berücksichtigt diese traditionellen Strukturen. Er hat im Vorgriff auf die Privatisierung dazu geführt, daß Milliardeninvestitionen bereits jetzt getätigt werden.Einige kurze Beispiele: Bei dem Unternehmen „Schwarze Pumpe" wird in wenigen Tagen die Grundsteinlegung für ein 4 Milliarden DM teures Kraftwerk erfolgen. Dies schafft allein auf der Baustelle für fünf Jahre 2 500 Arbeitsplätze. Der Bundeskanzler hat im vergangenen Oktober in Jünschwalde den Grundstein für ein ebenfalls 4 Milliarden DM teures Objekt zur Nachrüstung dieses Kraftwerkes gelegt. In Boxberg läuft bereits die Nachrüstung um
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Ulrich Klinkert1 000 MW in einer Größenordnung von 1,5 Milliarden DM. Dort auf der Baustelle befinden sich 1 000 Arbeitskräfte. Hoffentlich wird im Frühjahr der Neubau des Kraftwerkes Boxberg mit zweimal 800 MW beginnen. Aber die Frage, ob der Umfang einmal oder zweimal 800 MW beträgt, ist noch offen.In Ihrem Positionspapier vermisse ich eine Aussage zu etwas, das sehr wohl von uns gefordert wird, nämlich die Stromlieferung von Ost- nach Westdeutschland. Herr Klose, ich wünsche mir auch hier von Ihnen einen Appell an die westdeutschen Lander dahin gehend, daß sie Strom aus Ostdeutschland importieren. Das vermisse ich bei Ihnen.
Außer Bayern sind die westdeutschen Länder bisher nicht bereit, dies zu tun. Ich möchte mich im Namen Tausender von Arbeitnehmern, die im Rahmen des 800-MW-Blocks in Lippendorf, der für Bayern Strom liefert, beschäftigt sind, dafür bei der Bayerischen Staatsregierung bedanken.
Statt dessen gibt es Überlegungen, Stromleitungen nach Norwegen zu legen. Es gibt Überlegungen, ein Steinkohlekraftwerk an der Nordsee zu errichten.Meine Damen und Herren, ostdeutsche Braunkohle will nicht die westdeutsche Steinkohle ausspielen. Es wird eine Nachfolgeabgabe zum Kohlepfennig geben müssen. Diese Nachfolgeabgabe wird in ganz Deutschland erhoben werden müssen.
Ich glaube aber, daß daran zwei Bedingungen zu knüpfen sind. Damit nicht die arbeitslosen Bergleute der Lausitz die Zeche der Zechen Westdeutschlands bezahlen müssen, ist die erste Bedingung eine Kostenminderung bei der Steinkohle. Es kann nicht mehr nach dem Motto weitergehen „Koste es, was es wolle, wir zahlen alles". Der Steinkohlebergbau muß sich von sich aus zu einer drastischen Reduzierung seiner Kosten bereit erklären. Vielleicht muß er auch ein wenig von der SPD dazu mit aufgefordert werden. Im übrigen schlagen wir nicht vor, den Steinkohlebergbau der Treuhand zu unterstellen. Wir haben da so einige Erfahrungen.
Zweitens muß in dieser Nachfolgeabgabe zum Kohlepfennig ein Anteil für die Altlasten des stillgelegten Braunkohlebergbaus Ostdeutschlands enthalten sein.
— Ich habe nicht gesagt, daß der Antrag in allen Punkten falsch ist. Ich habe auch gesagt, daß ich jedes Wort von Herrn Bartsch unterstreichen kann. —15 000 Menschen haben im Moment einen Arbeitsplatz in der Braunkohlesanierung in den neuen Bundesländern. Diese Arbeitsplätze sind allerdings nur bis 1997 garantiert. Hier muß es eine Folgeregelung geben.Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle — was Sie vielleicht wundern wird — ein Wort der Anerkennung sagen, und zwar gegenüber der IGBE, die bekannterweise sehr stark sozialdemokratisch besetzt ist. Aber das, was die IGBE in den neuen Bundesländern macht, ist eine konstruktive und sachliche Politik. Sie erhebt zwar deutliche Forderungen — das ist ja Sache einer Gewerkschaft —, aber verfällt nicht in eine billige Polemik unter Ausnutzung der sozialen Lage.Ich glaube, daß die Vorleistungen getätigt sind, die für den Aufbau der Energiewirtschaft Ostdeutschlands notwendig waren. Der Stromstreit ist beigelegt. Wir wollen jetzt Investitionen sehen.Vielen Dank.
Nun spricht Frau Kollegin Jutta Müller.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schade, daß Herr Cronenberg schon weg ist. Er hat gerade die Angst und die Befürchtung geäußert, daß hierher außer den Betriebsräten der Bergwerke auch noch andere Betriebsräte kommen könnten. Diese Befürchtung habe ich allerdings auch, weil wir im Moment nicht nur im Bergbau, sondern in sehr vielen Branchen vor einem Fiasko stehen. Das hat man eben davon, wenn man seit 20 Jahren liberale Wirtschaftsminister hat. Dabei kommt so etwas heraus.
Herr Rexrodt, Sie sagen hier: Das ist alles nicht unsere Schuld, die Stahlindustrie ist weggebrochen; deshalb brauchen wir auch weniger Koks in der Stahlindustrie. Daran waren Sie doch schuld. Sie sehen doch die ganze Zeit zu, wie diese Industrie vor die Wand fährt. Gestern haben wir noch von Herrn Vondran gehört, daß Sie die Verhandlungen in Brüssel wohl auch schon ziemlich vergeigt haben.Wir diskutieren heute über ein ganzes Paket von Anträgen, die sich mit zukünftiger Energiepolitik in diesem Land befassen. Es wurde schon zu vielen Punkten etwas gesagt, auch zu den Konsensgesprächen und zu der, wie ich meine, völlig unsinnigen und unzulässigen Verknüpfung zwischen Kohle und Kernenergie.Wir haben im Moment nur in einem Gebiet direkten Handlungsbedarf, das ist die Umsetzung der Kohlerunde von 1991. Am 11. November 1991 haben Sie eine Vereinbarung getroffen. Wenn das als Karnevalsscherz gedacht war, hätten Sie Pappnasen aufziehen sollen. Dann hätten das die Beteiligten auch nicht so ernst genommen.
Mit dieser Politik, verbindlich getroffene Vereinbarungen in Frage zu stellen, richten Sie einen enormen politischen Flurschaden an.Die Menschen in den Revieren haben Ihnen damals noch geglaubt. Als lange Zeit nichts passierte, gab es Unruhen. Dann hatten wir die Großdemonstration in
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Jutta Müller
Bochum, bei der Herr Rexrodt wieder den Treueschwur zur Kohle von sich gegeben hat. Das hat sich heute als Meineid herausgestellt. Vielleicht hat die Regierung auch darauf gehofft, daß ihre Wirtschaftsminister nie lange genug im Amt bleiben, um getroffene Vereinbarungen auch umsetzen zu müssen.
Die Aktionen und Streiks der vergangenen Woche im Saarland und im Ruhrgebiet haben gezeigt, daß die Geduld der Menschen dort am Ende ist. Sie haben das Vertrauen verspielt und haben — das ist das Schlimme — nicht nur Ihrem Ansehen geschadet — das wäre mir ziemlich egal —, sondern dem Ansehen unserer Demokratie ganz massiv geschadet.Politikverdrossenheit kann man nicht nur den Medien in die Schuhe schieben und sie dafür verantwortlich machen. Man muß auch überlegen, wo Politik Mitverantwortung hat. Es geht doch nicht nur um den Bergbau allein, es geht nicht nur um Mengen, um Tonnen. Es geht um Menschen, um Familien, um die Jugendlichen in den Regionen, die sowieso durch Strukturkrisen und Arbeitslosigkeit geplagt sind.
Durch den von Ihnen beschlossenen sozialpolitischen Kahlschlag verschärfen Sie diese Situation jetzt noch extrem.Da beruft der Bundeskanzler eine große Runde ein, die sich mit dem Thema „Gewalt und politischer Extremismus" beschäftigt. Frau Merkel findet sofort einen Sündenbock, nämlich irgendeinen Spielfilm, der dazu beiträgt, daß Leute gewalttätig sind. Ist Ihnen eigentlich schon einmal in den Sinn gekommen, daß Sie mit Ihrer Politik, die die Arbeitslosigkeit ständig in die Höhe treibt, die die Menschen durch Ihre Kürzungen in soziales Elend, in die Obdachlosigkeit treibt, auch Mitverantwortung für Gewalt und politischen Extremismus tragen?
Hinter Gewalt steht oft auch Angst und Frustration, und das lösen Sie aus.Ich komme aus einer Kohle- und Stahlregion; ich lebe in Völklingen. Ich kann Ihnen sagen: Dort ist die Stimmung auf dem Siedepunkt.
— Ja, dazu kommen wir gleich.Nun könnte man meinen: Die Saarländer haben es in dieser Beziehung noch ganz gut; denn der CDULandesvorsitzende des Saarlands ist ja Bundesminister, sitzt mit am Kabinettstisch und wird dort natürlich auch die Interessen der saarländischen Bergleute verteidigen.In der letzten Woche hat Herr Töpfer dann auch auf einer Pressekonferenz im Saarland gesagt, die Ergebnisse der Kohlerunde dürften nicht gefährdet werden.
Gut, Herr Töpfer, prima, dann kämpfen Sie aber auch dafür! Bringen Sie doch einmal Ihre Finanzierungsvorschläge, die Sie ständig in der „Saarbrücker Zeitung" machen, in das Kabinett ein. Dann wäre uns schon sehr viel geholfen.
Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie meinen, Sie könnten Ihre eigene Unfähigkeit damit vertuschen, daß Sie jetzt diese idiotische Verbindung zur Kernenergie herstellen, um die ganze Geschichte der SPD an die Jacke zu kleben, dann haben Sie sich verrechnet.
Die Leute im Saarland wissen, daß das nicht wahr ist. So dumm sind die Menschen nicht, daß sie Ihnen damit noch auf den Leim gehen.Es geht nämlich überhaupt nicht um die Kernenergie, es geht darum, daß diese Regierung eine Vereinbarung getroffen hat. Wir erwarten, daß sie sich daran auch hält. Wir erwarten auch, daß die Bundesregierung die Interessen des deutschen Bergbaus in Brüssel besser vertritt als bisher, obwohl ich bei dem Fiasko hinsichtlich des Stahls an der Fähigkeit dieser Regierung meine Zweifel habe, überhaupt irgendwelche Interessen zu vertreten.Der Kohlekompromiß muß umgesetzt werden. Es geht um die Menschen in den Revieren. Es geht auch um unseren sozialen Frieden.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat Herr Bundesminister Töpfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als unser Kollege Cronenberg gerade seine Intervention vortrug, habe ich mich an ein Zitat von Robert Jungk, dem bekannten Kritiker des „Atomstaates", erinnert. Er hat gesagt: „Ich will nicht sachlich sein, ich bin besorgt. "Herr Kollege Klose, nach dem, was Sie hier vorgetragen haben, muß ich den Satz dringend umdrehen: Gerade weil ich besorgt bin, muß ich ganz sachlich sein. Wer Sachlichkeit mit Gefühlskälte verwechselt, der muß sich wirklich fragen, ob er am Ende die Geister, die er rief, auch wirklich noch beherrschen kann.
Dies ist eine ganz wichtige Tatsache.Ich bin besorgt. Das ist gar keine Frage. Wer muß das in Deutschland, in Europa und in dieser Welt gegenwärtig nicht sein? Es gibt in allen Branchen Menschen, die sich um ihren Arbeitsplatz sorgen. Es gibt die Besorgnis, daß sich dies aus den Instabilitäten Mittel- und Osteuropas noch verstärkt. Dann suchen wir nach Rezepten, wie wir dies bewältigen können.
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferDa können wir ganz sicher immer nur sagen: Entscheidend ist, daß wir Wachstumskräfte wieder beleben können. Auch darin sind wir uns einig, Wenn wir Wachstumskräfte beleben wollen, dann müssen wir uns fragen, welches die Kostenfaktoren dieses Standorts sind. Dann kommen wir u. a. auch auf die Energiekosten zu sprechen.Wenn ich über die Energiekosten spreche, dann kann ich doch sinnvollerweise nur so vorgehen, daß ich mich mit dem gesamten in Deutschland angebotenen Energiemix beschäftige. Die allererste Frage, Herr Kollege Klose, die wir bei den Energiekonsensgesprächen gestellt haben, war folgende: Wollen wir, daß auf Dauer in Deutschland Strom erzeugt wird?Das ist eine wichtige Frage, denn natürlich können Sie ganz schnell in die Situation kommen — wir sind im vereinten Europa, und Strom ist eine Ware; diese Diskussionen laufen doch in Europa —, daß Sie auf der Insel der Glückseligkeit in Deutschland argumentieren, während andere die Kraftwerke bauen, die den Strom liefern, den wir dann hinterher bei uns nutzen. Das sind doch die Zusammenhänge.Deshalb geht es nicht um ein Ablenken, sondern deswegen brauchen wir einen Energiekonsens. Den haben wir nicht erfunden, damit wir es uns jetzt bei der Kohle etwas leichter machen können.Würde ich mich wirklich mit dem Niveau der Frau Kollegin Müller beschäftigen, so würde ich meine Zeit vertun.
Deswegen, Frau Müller, machen wir das dann wieder einmal in Völklingen. Da haben wir bessere Gelegenheit dazu. Mir ist die Sache zu ernst, urn diese Frage jetzt wieder zu einem parteipolitischen Grabenkrieg zu machen.
— Das gebe ich Ihnen doch gerne zu. Das ist doch wunderbar.
Ich führe doch gar keine Diskussion darüber, wer Anregungen gab, sondern ich will sagen: Wir haben diese Diskussion ernsthaft aufgenommen, weil wir wissen, wir müssen gemeinsam den Standort Deutschland sichern. Dazu gehört, in der Frage der Energie eine langfristige Sicherheit zu haben. Dies gilt für alle Energieträger. Das ist doch die Situation.
Natürlich habe ich erwartet, Herr Kollege Klose, daß Sie mir noch einmal die Frage stellen, die Sie dem Kollegen Haungs gestellt haben. Die Frage lautete: Stehen Sie dazu? Ich bin enttäuscht. Sie haben mir diese Frage nicht gestellt. Also stelle ich sie mir selber.
— Nein. — Stehen wir dazu? Die Antwort hat der Kollege Rexrodt gegeben. Er hat gesagt: Für uns ist dieBasis der Konsens, die Übereinkunft vom November 1991.
Aber, Herr Kollege Klose, ist es denn dann nicht richtig — wie der Kollege Rexrodt gesagt hat —, daß ich jetzt hingehe und mit allen Beteiligten spreche, um zu erfahren, wie ich diese Übereinkunft am besten in die Praxis umsetze?Mir geht es nämlich — das sage ich Ihnen ganz deutlich, und das möchte ich mit allen Beteiligten erörtern — darum, daß wir auf Dauer vernünftige, zukunftsträchtige Arbeitsplätze erhalten. Das steht — bei Ihnen doch wahrscheinlich auch — an erster Stelle. Sie wollen doch nicht Kohle der Kohle wegen fördern, sondern Kohle fördern, damit Arbeitsplätze gesichert sind.
Also muß ich doch, wenn ich nur ein bißchen intelligent weiterdenke, mit Leuten, denen ich Subventionen geben will, einmal sprechen und sie fragen: Ist es euch denn nicht vielleicht — —
— Wenn wir uns nur darüber unterhalten, Herr Kollege, was wir in der Vergangenheit aus Ihrer Sicht nicht gemacht haben, was man vielleicht aber hätte tun können, lösen wir die Probleme besorgter Menschen nicht.Ich kann doch zu den Menschen gehen und sagen: Paß auf, das Geld gebe ich dir, und nun entscheide doch einmal selber.Könnte es nicht wirklich sein, Frau Kollegin Müller, daß viele Menschen in Völklingen froh wären, wenn im Westfeld nicht abgebaut würde und statt dessen subventioniertes Geld für Kohle eingesetzt würde, um andere Arbeitsplätze von den Saarbergwerken entwickeln zu lassen?
— Wo sollen sie denn herkommen? Wir fragen die ganze Zeit schon die saarländische Landesregierung, was sie diesbezüglich tut.Ist das so unintelligent, Herr Kollege Klose? Sollen wir auf einmal, weil wir im Jahre 1991 eine Entscheidung getroffen haben, mit dem Nachdenken aufhören?
Also lassen Sie uns doch aus diesen Fronten herauskommen, gerade weil uns das Schicksal von Menschen am Herzen liegt. Gerade deswegen! Und uns liegt nicht nur das Schicksal von Menschen in der Kohleindustrie am Herzen, sondern genauso in der Stahlindustrie, beim Fahrzeugbau und in allen anderen Bereichen. Es ist doch nicht nur die Frage, ob ich das bei den Kohlekumpeln erreiche, sondern die Frage stellt sich auch bei Zulieferern usw.Deswegen sage ich noch einmal ganz nachhaltig: Das ist kein Ablenkungsmanöver.
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferHerr Kollege Jung, wir haben über Stunden in den Konsensgesprächen zusammengesessen. War ich da nicht anwesend oder geistig nicht da, als wir darüber gesprochen haben, daß wir die Optionen erhalten müssen? Kein Mensch bestreitet doch, daß wir Kernkraftwerke wirklich erst in der Mitte des nächsten Jahrzehnts brauchen. Aber wenn wir denen eine Option geben wollen, die im nächsten Jahrzehnt Kernkraftwerke bauen — oder nicht bauen —, dann müssen wir dafür doch jetzt sicherstellen, daß diese Technologie erhalten werden kann. Sonst ist doch alles andere nicht mehr real. Wir wollen von Ihnen doch gar nicht mehr, als daß Sie ja sagen zu einer Technologieentwicklung oder -erhaltung in Deutschland, über deren Nutzung man dann weiter zu entscheiden hat.
Meine Damen und Herren, was ist daran Erpressung? Das ist Rationalität, das ist ein bißchen Nachdenken in Deutschland, wo wir weiß Gott genug Emotionen haben und uns nicht hinstellen sollten, um Emotionen zu schüren, sondern alles daransetzen sollten, um sie ein Stück zu kanalisieren und mit vernünftigen Argumenten abzubauen.
Das ist in der Tat unsere Position.
Ich weiß nicht, ob wir uns nicht wirklich schuldig machen würden, wenn wir diese Argumentation nicht weiterführten. Ich will sie weiterführen. Ich will sie auch weiterführen, damit wir, wie Uli Klinkert und Herr Bartsch gesagt haben, aus dieser Arbeitsteilung Ost/West herauskommen. Ich weiß nicht, wie vielen es aufgefallen ist. Man konnte direkt schon sagen: Wer aus dem Westen kam, sprach an diesem Pult über Steinkohle; kam er aus dem Osten, sprach er über Braunkohle. Das sollten wir lassen.Es ist ganz wichtig, daß wir dies als gemeinsame Aufgabe sehen und daß wir einmal darauf hinweisen, daß gegenwärtig über 14 000 Menschen damit beschäftigt werden, die Altlasten der Braunkohle in der ehemaligen DDR aufzuräumen.
—Ja, da sind Sie dafür. Dann lassen Sie uns das einmal gemeinsam sagen.Die Mittel, die wir dort hineinstecken, sind genauso sinnvoll angelegte Mittel wie für vieles andere, was wir in der Diskussion über die Erhaltung der Steinkohle nannten.
Meine Damen und Herren, wofür ich werbe, ist nicht die kleine Münze der Frau Jutta Müller, sondern wofür ich werbe — hier und in meinem Wahlkreis und in meinem Landesverband an der Saar, in Völklingen, wohin Sie mich schicken —, ist, daß wir den Kumpeln sagen können: Wir wollen euch eine Zukunft erarbeiten, in der es neue und weiterführende Arbeitsplätze für euch und eure Kinder gibt. Dafür wollen wir auch investieren. Es kann nicht richtig sein, daß wir nur fragen: Werden Mengen erhalten? Vielmehr müssen wir fragen: Werden Chancen geschaffen, damit Arbeitsplätze gesichert werden?Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Nun hat der Kollege Bodo Seidenthal das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist immer sehr schwierig, in einer verbundenen Debatte einen vernünftigen Übergang zu Tagesordnungspunkten zu finden, die in dieser Debatte eine untergeordnete Rolle spielen.
Die Tagesordnungspunkte „Die Forschung nach Maastricht: Bilanz und Strategie" und „Arbeitsdokument der Kommission für das vierte gemeinschaftliche Rahmenprogramm im Bereich der Forschung und technologischen Entwicklung" hätten eine eigene Debatte wie diese Kohledebatte verdient. Denn die Probleme der Zukunft können nur mit einer klaren, überzeugenden und vernünftigen Forschungspolitik bewältigt werden, die wir aber bei der jetzigen Bundesregierung nicht feststellen können.
Wie wichtig diese Bundesregierung die Debatte „Die Forschungspolitik in Europa" nimmt, Herr Kollege Laermann, dokumentiert die Anwesenheit von Vertretern des Ministeriums bei dieser Debatte. Ich freue mich, daß der ehemalige Minister, Herr Riesenhuber, der Debatte lauschen wollte. Ich formuliere es vorsichtig.
Wir Sozialdemokraten haben einen Änderungsantrag eingebracht, auf den ich hiermit hinweisen möchte. Da Sie alle davon überzeugt sind, daß wir eine vernünftige Europapolitik auf dem Gebiet der Forschung brauchen, gehe ich davon aus, daß Sie diesem Anderungsantrag zustimmen werden. Ich gebe deshalb meine Rede zu Protokoll.*)
Nun hat das Wort Herr Abgeordneter Krause .
Frau Präsidentin! Meine Herren Minister! Meine Damen und Herren!
Kohle und Stahl sind neben der Landwirtschaft ein wichtiger Gradmesser für Nationalökonomie. Ihre Stellung in der Volkswirtschaft beantwortet die Fragen nach den Prioritäten einer Regierung.Erstens. Arbeit in Deutschland oder Gewinne in Deutschland durch den Kauf billiger Arbeit im Ausland — das ist die Grundfrage. Arbeit für viele oder*) Anlage 3
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15502 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Rudolf Karl Krause
Gewinne für wenige, d. h. Schutzzölle oder Freihandel. Im klassischen Land des Freihandels hatte das im 19. Jahrhundert zur Folge, daß es ein reiches England, aber arme Engländer gab.Bei Schutzzöllen verdienen Staat und Gesellschaft an den Preisunterschieden und an der unterschiedlichen Produktivität. Beim Freihandel verdienen Importeure; die eigene Industrie geht bankrott. Die Gesellschaft zahlt für Arbeitslosigkeit oder für Subventionen oder für beides. Billigimporte sind legalisierte Schmugglerware und schaden der Volkswirtschaft. Das ist eine These; man muß zumindest darüber nachdenken.Zweitens. Es liegen fünf Drucksachen zur Behandlung auf dem Tisch. Zur Ablehnung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/1305 muß ich Ihnen, Herr Kollege Feige, sagen: Es ist mir unverständlich, daß die Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses vorsieht, Ihren Gesetzentwurf ohne Beratung abzulehnen, zumal im Antrag der SPD auf Drucksache 12/5253 in Ziffer 1 und 2 die ökologisch-technische Begründung für Ihren Entwurf gegeben ist. Ich sage das über alle Parteigrenzen hinweg. Es wäre gut, wenn man nach dem Inhalt urteilen würde und nicht nach dem Absender oder Adressaten.Drittens. Der Kohlepfennig — ich spreche jetzt zum Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 12/5253 — berührt zwei Grundfragen der Nationalökonomie. Die erste betrifft die Subventionen. Das Ziel von Subventionen ist der Ausgleich der zu hohen eigenen Herstellungskosten gegenüber Billigimporten. Er hat das Festhalten am Freihandel zur Voraussetzung, also den Verzicht auf Schutzzölle. Die Bilanz ist, daß der Steuerzahler die Subventionen bezahlt.Was ist die Alternative? Die Alternative ist Protektionismus mit Schutzzöllen. Andere Länder tun dies, und sie haben nicht die Arbeitslosenbilanz, wie sie Deutschland hat.Nationalökonomie muß dem eigenen Volk dienen, nicht transnationalen Handelshäusern. Wenn die nationale Arbeitsbilanz — sie ist etwas anderes als die Handelsbilanz und die Leistungsbilanz — negativ wird, dann sollte man sich vom Freihandel trennen, wenn man weiter Politik für die eigenen Bürger und für die eigene Wirtschaft betreiben will. Gesetze werden von Menschen gemacht, und diese Gesetze können geändert werden, wenn das Interesse des eigenen Volkes dieses erfordert.Viertens. Der Handel will aus Billiglohnländern billig kaufen. Er will da teuer verkaufen, wo das Lebensniveau hoch ist, wo teuer produziert und auch teuer bezahlt werden kann. Er will also auf einem begrenzten Markt höchste Handelsspannen erzielen.Merkantilismus dagegen, für den ich eintrete, bedeutet in dieser Situation — sie ist eine andere als vor 30 Jahren —: Was im Lande produziert werden kann, darf nicht billig importiert werden; Schutzzölle statt Subventionen. Die Frage ist hier: Geld für wenige oder Arbeit für alle in Deutschland, gewinnen an Deutschland oder arbeiten in Deutschland? Das ist die Frage der politischen Priorität.Fünftens. Zwei weitere Drucksachen sind noch offen. Darin steht: Zu niedrige Weltmarktpreise sind nicht die wirklichen Kosten, nicht die verursachten Umweltkosten. Ich stimme dem zu. Deswegen sollten wir überlegen, ob wir Umweltzölle als global-ökologische Schutzzölle einführen und nicht einseitig für Umweltbelastungen in Deutschland zur Kasse bitten sollten.Umweltabgaben im Inland müssen in einer ökologischen Größenordnung zur Höhe der Umweltzölle für Importe aus Umweltsünderländem stehen. Energiepreise müssen die ökologische Wahrheit sagen; SPD-Antrag auf Drucksache 12/5252. Ja, und deswegen sage ich: Altlastensanierung aus Umweltzöllen ist die beste und gerechteste Lösung für die Nachwelt.Zum Schluß:
Herr Kollege, würden Sie bitte daran denken, daß Ihre Redezeit beendet ist?
Einen Satz noch; eben war noch eine Minute. Verzeihung.
Ein Vorangehen im Wege einer nationalen Lösung schädigt die deutsche Wirtschaft. Dem kann nicht zugestimmt werden. Einfuhrzölle in Form von Umweltzöllen sind die beste Form der Bezahlung für Altlastensanierung. Wer die Welt zerstört, soll nicht in Deutschland verdienen.
Danke.
Als nächster hat der Kollege Peter Reuschenbach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß offen gestehen, daß mich der pastorale Auftritt des Ministers Töpfer nicht nur irritiert, sondern mich auch innerlich in gewisser Weise erregt hat,
weil sich das, was er mit dem Blick auf die sozialdemokratische Fraktion vorgetragen hat, nahe an Scheinheiligkeit bewegte.
Wer zur SPD schaut und mahnt, man möge doch ernsthaft über Energiepolitik in Deutschland nachdenken und beraten, möge doch mit gutem Willen an Konsensgesprächen teilnehmen, obwohl gleichzeitig jeder weiß, daß diese Bemühungen, daß diese Gespräche nicht auf seinem Mist, sondern auf dem Mist der SPD gewachsen sind, dem hat man doch wohl zu Recht vorzuhalten, daß er hier nach dem Motto auftritt: Wollen wir schauen, ob wir nicht dem Falschen das falsche Etikett anhängen können.Das zweite: Der Ratschlag — wieder in diese Richtung geschaut —, man möge doch bitte davon absehen, Emotionen zu schüren, klingt erstaunlich in einer Diskussion, in der der Wirtschaftsminister von diesem
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15503
Peter W. ReuschenbachPlatz vor ein paar Minuten erklärt hat, das verfassungsmäßige Recht der deutschen Arbeitnehmer zu demonstrieren sei Druck der Straße.
Solche Sprache, verehrter Herr Rexrodt, hat man auch schon zu anderen Zeiten in Deutschland gehört.
Solche Sprache ist geeignet, Emotionen zu schüren.Es ist eine ganz schlechte Grundlage, den Gewerkschaften zunächst zu sagen, sie seien die Kräfte der Straße, um dann zu äußern, Sie wollten mit ihnen über Politik reden, Sie wollten mit ihnen in Deutschland jetzt in einen neuen Dialog über die Energiepolitik eintreten.
Das gleiche gilt für den Ratschlag von Minister Töpfer, man möge — und wieder zur SPD geschaut — nicht Ost gegen West ausspielen, und das angesichts der Tatsache, daß nicht nur einer aus der Koalition — aber Graf Lambsdorff fällt mir dabei besonders ein — im Zusammenhang mit dem Thema, über das wir heute reden, durch die Lande gezogen ist — nicht zuletzt in Ostdeutschland — und agitiert hat, daß in Westdeutschland die Arbeitsplätze der Bergarbeiter mit 60 000 oder 70 000 oder 80 000 DM pro Arbeitsplatz subventioniert werden sollten, während die Arbeitnehmer in Ostdeutschland reihenweise entlassen würden.
— Das ist in der Tat die Tatsache der Politik der Treuhandanstalt, die zu solchen Konsequenzen geführt hat. Aber daß Herr Lambsdorff Ost gegen West aufhetzte, ist auch die Wahrheit.
Das letzte, was mich schon sehr nachdenklich gemacht hat bei einem Herrn, der so auftritt, als ob er ein vornehmer sei: Wer sich so wie er mit meiner Kollegin Jutta Müller auseinandersetzte bzw. sagte, es lohne sich nicht, sich mit ihr zu unterhalten, der legt eine geistige Arroganz an den Tag, die ihn diskreditiert und nicht diejenige, die er angesprochen hat.
Am Ende will ich noch einmal auf den Kern, der uns hier zusammengeführt hat, zurückkommen, und das ist die Frage, ob, wann und wie die Bundesregierung den Vertrag realisiert. Nicht Betriebsräte, nicht Mitglieder in Aufsichtsräten, nicht die Opposition steht hier zur Rede und im Handlungszwang, sondern die Regierung.Da will ich erstens etwas zu einem Termin sagen. Sie haben moniert, daß diese Debatte am heutigen Tage stattfindet, und haben den Eindruck erweckt, es sei böswillige Taktik oder unsachliche Propaganda, die zu diesem Termin geführt hat. Ich sage Ihnen: Das ist nicht zu früh, das ist beinahe schon zu spät. Denn wir waren uns über die ganze erste Hälfte dieses Jahres einig: National und in Brüssel muß das vor 1994 erledigt sein. Wir waren uns miteinander darüber klar: Wenn das in dieses Vielwahlkampfjahr 1994 hineinkommt, kann daraus überhaupt nichts Gutes mehr werden. Wenn Sie nun sagen, unser Drängen komme jetzt zu früh, dann muß ich schon fragen: Wieviel Zeit glauben Sie denn noch zu haben, um zu einer vernünftigen Regelung zu kommen?Zur Sache: Bis zur Sommerpause schien es so, als ob die Anschlußregelung nach Ihrer Auffassung und nach Auffassung anderer aus der Koalition ohne Wenn und Aber realisiert würde. Jedem, der da Zweifel anmeldete, wurde mit Empörung entgegengehalten, er diffamiere. Auf Gewerkschaftskundgebungen und -kongressen wurde ohne Wenn und Aber zugesichert, das mache man.Ich habe in den letzten Tagen doch nicht Märchenbücher gelesen,
sondern Pressemeldungen aus den Reihen der CDU, der CSU und der F.D.P.,
in denen dargelegt worden ist, daß verschoben werden solle, daß das so nicht gehe, daß man diese Lösung nicht wolle und daß das Ganze jetzt schon gar nicht ginge. Und ich habe Herrn Vogel, den Pressesprecher der Bundesregierung, persönlich gehört, als er den Beschluß der Bundesregierung verkündet hat: Die Anschlußregelung kommt nur dann, wenn die Sozialdemokraten ohne Wenn und Aber ja zur Kernenergie über das Jahr 2000 hinaus und zu einer neuen Generation von Kraftwerken sagen. Das ist eine Kondition, die hier Erpressung genannt wird, und wenn das so aufrechterhalten bleibt, wäre das der Wortbruch gegenüber dem Vertrag, der die Unterschrift der Bundesregierung trägt.
Der Wirtschaftsminister möge doch an diesen Tisch gehen und sagen, daß das, was der Regierungssprecher Vogel in der Pressekonferenz erklärt hat, daß es nämlich nur dann und erst dann eine Anschlußregelung gebe, wenn die Sozialdemokraten ohne Wenn und Aber ja zur Kernenergie bis ins nächste Jahrtausend sagen, nicht seine Position ist, daß das ein Mißverständnis war oder daß er dort geschlafen hat. Wenn Sie dies zurücknehmen, nehmen wir auch die Worte „Erpressung" und „Wortbruch" zurück.
Herr Kollege, würden Sie bitte auf die Zeit achten? Sie ist nämlich schon über eine Minute überschritten.
Jawohl.Weil Herr Töpfer sich so gegenüber meiner Kollegin Müller benommen hat, schließe ich auch mit ihrem Gedanken: Der Bundeskanzler veranstaltet Runde
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15504 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Peter W. ReuschenbachTische, um zu prüfen, darüber nachzudenken und zu reden, wie man Radikalismus und Gewalt begegnen kann. Aber würde dieser Wortbruch Wirklichkeit — und das wird sich ja im Laufe der nächsten zwei, drei Monate herausstellen — und würden auf diese Art und Weise Arbeitsplatzvernichtung, Ausbildungsplatzverluste und Verödung von Regionen stattfinden, würde das mehr Glaubwürdigkeit und Vertrauen zerstören, als viele andere Runde Tische wiedergutmachen könnten.
Keine Sorge, diese Minuten bekommt der nächste Kollege zusätzlich. Er hat jetzt das Wort: Bitte, Herr Kollege Dr. Peter Ramsauer.
Frau Vizepräsidentin, ich hoffe, Sie sind bei meiner Redezeit genauso kulant, wie Sie es eben bei dem Kollegen Reuschenbach waren. Sie haben hier einmal die einzigartige Gelegenheit, sich in bayerischer Solidarität zu üben. Wir werden das sehr genau beobachten.
Ich habe Ihnen bereits angekündigt, Herr Kollege, daß Sie zwei Minuten mehr haben.
Ja, sieben Minuten plus den Reuschenbach-Aufschlag.
Herr Kollege, fünf Minuten waren angekündigt, und zwei haben Sie zusätzlich.
Gut.Meine Damen und Herren! Ich möchte die knapp bemessene Redezeit nicht — wie die Kollegen von der Opposition — für relativ inhaltsleere Retourkutschen verwenden,
sondern noch eine Reihe von Aspekten ansprechen, die in dieser Debatte etwas zu kurz gekommen sind, nämlich Fragen rund um die erneuerbaren Ener-gien.Ich glaube, daß sich — was die erneuerbaren Energien anlangt — eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Koalitionsfraktionen und den Fraktionen und Gruppierungen der Opposition ergeben. Sonne, Wind, Wasser, Biogas, Biomasse, Geothermie und andere erneuerbare Energien stehen uns nahezu unerschöpflich zur Verfügung. Deshalb ist jede Kilowattstunde Elektrizität, jede Wärmeeinheit, jeder Brennstoff, der zusätzlich aus regenerativen Energien gewonnen wird, ein Schritt in die richtige Richtung, ein Schritt zu mehr Umweltschutz.
Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, wenn wir den Anteil der Stromerzeugung aus regenerativen Energiequellen von 4 auf 7 % steigern können, wenn wir von 20 Milliarden Kilowattstunden auf Grund erneuerbarer Energien heute auf 35 Milliarden Kilowattstunden kommen, ja, dann können wir 15 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich pro Jahr einsparen, oder wenn wir — was jährlich aus den Wäldern Deutschlands zu erwirtschaften ist — 15 Millionen Tonnen Holz als Biomasse einsetzen, können wir weitere 20 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Deswegen sage ich, die Nutzung regenerativer Energien ist echter Umweltschutz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist deshalb manchmal geradezu pervers, wie gerade Naturschützer und Naturschutzbehörden in nicht zu übertreffender Weise die Installation und den Bau von Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energie torpedieren, indem sie behaupten,
daß Windanlagen, daß Sonnenanlagen, daß Wasserkraftanlagen die Landschaft verschandeln und daß, wie Ornithologen sagen, Vögel in die Rotoren von Windrädern kommen. Die Kanufahrer befürchten, sie könnten auf den Flüssen nicht mehr fahren, wenn Wasserkraft genutzt wird, und anderes mehr. Deshalb braucht es einen nicht zu wundern, daß beispielsweise bei kleinen und mittleren Wasserkraftwerken Genehmigungszeiten von zehn bis 15 Jahren Dauer hinzunehmen sind.
Da muß man wirklich sagen: Es bedarf einer gewaltigen Leidenschaft für die regenerativen Energien, wenn dann noch jemand in dem Bereich tätig wird.Ich habe mich deshalb gefreut, daß Umweltminister Töpfer in der Fraktionssitzung der CDU/CSU vor wenigen Tagen gefordert hat, man müsse vor diesem Hintergrund geradezu zu einem Anwendungsgebot, zu einem Einsatzgebot für regenerative Energien kommen. Herr Minister Töpfer, ich möchte diese Ihre Forderung, diesen Vorschlag nachhaltigst unterstützen und einen weiteren Vorschlag hinzufügen, nämlich den, daß in den ganzen langatmigen Genehmigungsverfahren für Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energie eine Privilegierung eingeführt wird, so wie dies der Kollege Dörflinger in einer schriftlichen Anfrage an die Bundesregierung kürzlich auch wissen wollte.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung, der Bundestag und auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben ein Bündel von Maßnahmen beschlossen bzw. angekündigt, die regenerativen Energien stärker zu fördern.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Beschluß des Bundestages in der 11. Legislaturperiode, im Juni 1990, im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Stromeinspeisungsgesetzes — das mittlerweile übrigens hervorragende Wirkungen entfaltet —, noch in der damaligen Wahlperiode, also bis Ende 1990, zusätzliche Markteinführungshilfen für regenerative Energiequellen vorzusehen. Im
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Dr. Peter RamsauerEnergieprogramm der Bundesregierung werden ähnliche Forderungen aufgestellt, und auch die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion hat beschlossen, sich für stärkere Förderungen nicht nur von Forschung und Entwicklung regenerativer Energieträger einzusetzen, sondern auch für deren Markteinführung.
Herr Kollege Ramsauer, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Feige gestatten?
Gerne. Ich weiß schon, was er fragen will, aber ich gebe ihm gern die Gelegenheit, die Frage zu stellen.
Herr Kollege Ramsauer, ich finde ganz toll, was Sie sagen, aber können Sie mir bitte sagen, in welchem der gerade behandelten Anträge die Koalitionsfraktionen diese Vorstellungen eingebracht haben?
Herr Kollege, Sie müssen einmal weiter zurückgreifen. Ich weiß nicht, ob Sie in der letzten Legislaturperiode dem Bundestag bereits angehört haben. Wenn Sie die Geschichte der regenerativen Energien im Bundestag in den vergangenen zehn Jahren genauer verfolgen, werden Sie sehen, mit welcher Sympathie die Regierungskoalition den regenerativen Energien immer gegenüberstand.
Ich hoffe und gehe davon aus, daß die Frage damit hinreichend beantwortet ist.
Ich möchte aber noch einmal beleuchten, warum es auch der Markteinführungshilfen bedarf. Die regenerativen Energien, meine Damen und Herren, sind so lange nicht hinreichend konkurrenzfähig, solange andere Energieträger wie beispielsweise die Kernenergie oder die Kohle nicht in ihrem gesamten ökologischen Kostenwert betrachtet werden. Nur diese Gegenüberstellung kann zu den richtigen Schlüssen führen.
Meine Damen und Herren, ich kann daher am Ende dieser Energiedebatte eigentlich nur sagen: Machen wir nun endlich Ernst mit einer noch besseren Förderung der regenerativen Energien. Die Haushaltsdebatten, die wir zur Zeit für den Bundeshaushalt 1994 führen, bieten dafür eine ganz hervorragende Chance.
Bevor ich nun dem Kollegen Peter Struck das Wort zu einer Kurzintervention gebe, möchte ich noch Ihre Zustimmung dazu einholen, daß vorhin ein Kollege seine Rede zu Protokoll geben wollte. — Die Zustimmung wird erteilt.
Dann hat der Kollege Dr. Peter Struck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stelle fest, daß der Bundesminister für Umwelt, Herr Töpfer, nach seiner unsäglichen Rede sofort den Plenarsaal verlassen hat.
Ich stelle fest, daß es offenbar den vielen Hilfsgeistern nicht gelungen ist, den Mann irgendwo aufzutreiben. Ich stelle weiter fest, daß ich das für eine Unverschämtheit halte.
Was ich jetzt mache, ist in unserer Geschäftsordnung nicht vorgesehen, aber wahrscheinlich sinnvoll. Der Kollege Hörster bekommt ebenfalls das Wort zu einer Kurzintervention.
Ich möchte nur festhalten, daß ich die Vorwürfe des Kollegen Dr. Struck zurückweise. Herr Bundesminister Töpfer ist bis vor wenigen Minuten hier im Raum gewesen.
Auch Minister haben gelegentlich das Bedürfnis, Angelegenheiten zu erledigen, die jeden von uns erreichen.
Ich halte es für ausgesprochen kleinkariert, hieraus eine solche Aktion zu machen, zumal der zuständige Ressortminister anwesend ist.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes auf Drucksache 12/1305. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/4966, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit abgelehnt, und es entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 8 b bis e. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5251 bis 12/5254 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8f und stimmen nun über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Bericht der Enquete-Kommission und zu Risiken bei einem verstärkten Wasserstoffeinsatz auf der Drucksache 12/4669 ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimm-
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15506 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Vizepräsidentin Renate Schmidtenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit bei zwei Gegenstimmen angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 8 g und stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD über ein revidiertes Energieforschungsprogramm auf Drucksache 12/4670 ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei Gegenstimmen von SPD und PDS/Linke Liste angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8h und stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer Energiewende auf Drucksache 12/4967 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 8i und stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zu einem sofortigen Ausstieg aus dem europäischen schnellen Brüterprojekt auf Drucksache 12/5238 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 8i und stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Kündigung des Regierungsabkommens zum European Fast Reactor auf Drucksache 12/5238 ab. Der Ausschuß empfiehlt, auch diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nun zu dem Tagesordnungspunkt 8j. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zur Forschung nach Maastricht und einem Rahmenprogramm der EG auf der Drucksache 12/5356.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5779 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wer stimmt dann für die unveränderte Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nun zu dem Tagesordnungspunkt 8 k. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu dem Programm Energieeinsparung in Gebäuden auf Drucksache 12/5540. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 81 und stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft auf Drucksache 12/5055 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 9:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beruf der Diätassistentin und des Diätassistenten und zur Änderung verschiedener Gesetze über den Zugang zu anderen Heilberufen.
— Drucksache 12/5619 —
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GONach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu einen irgendwie gearteten Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; dann ist das so beschlossen.Ich bitte um Ruhe und darum, den Saal, wenn es notwendig ist, leise zu verlassen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Parlamentarischen Staatssekretärin Bergmann-Pohl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit nunmehr 19 Jahren wird die Forderung nach einer Neuordnung des Berufes des Diätassistenten erhoben. Ich denke, wir sind uns einig, daß es nun höchste Zeit ist, eine Anpassung der gesetzlichen Regelungen an die moderne Entwicklung im Ernährungs- und Diättherapiebereich sowie an die Regelungen neuerer Gesetze für die nichtärztlichen Heilberufe vorzunehmen. Dies wird auch vom Verband Deutscher Diätassistenten, von der Bundesärztekammer, von entsprechenden Fachorganisationen und von der Mehrheit der Länder für dringend erforderlich gehalten.Die nun vorgesehenen inhaltlichen Verbesserungen und die Verlängerung der Ausbildung von zwei auf drei Jahre tragen den steigenden beruflichen Anforderungen an Diätassistenten Rechnung. Ich nenne nur die Ernährungsaufklärung und -beratung sowie die diätetische Versorgung der Kranken.Gerade die moderne, d. h. wissenschaftlich begründete Ernährungsmedizin und Diätetik haben einen wesentlichen Stellenwert bei der Prävention und Behandlung zahlreicher Erkrankungen. Sie sind ein
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohlfester Bestandteil des medizinischen Therapiekonzepts.Die Tätigkeit der Diätassistenten ist dementsprechend umfassender und verantwortungsvoller geworden, und zwar sowohl bei der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf dem Gebiet des Stoffwechsels, der allgemeinen Ernährung und der speziellen Diätetik als auch bei der Planung und Bereitstellung der Diät unter Berücksichtigung ökonomischer Vorgaben sowie bei der diätetischen, therapeutischen und präventionsorientierten Ernährungsberatung.Angesichts der umfangreichen und vielseitigen Anforderungen, die heute an Diätassistenten gestellt werden, ist es dringend erforderlich, daß die in ausreichendem Umfang vermittelten theoretischen Kenntnisse sowohl im praktischen Unterricht als auch in praktischen Übungen vertieft werden. Es geht darum, fundierte Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl in der Herstellung von Diätformen als auch in der Praxis von Ernährungs- und Diätberatungen sowie Gesprächsführungen zu erwerben.Deshalb sollen der theoretische Unterricht und die praktische Unterweisung entsprechend dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand substantiell erweitert und aktualisiert werden, insbesondere um die Grundlagen der Gesprächsführung, Ernährungs- und Diätberatung bzw. auch -schulung.Meine Damen und Herren, die Verlängerung der Ausbildung berücksichtigt auch die Situation in den neuen Ländern. Durch die Angleichung der Ausbildung an die bereits seit 1974 dreijährige Ausbildung der Diätassistenten in den neuen Ländern wird, wie vom Einigungsvertrag gefordert, die Rechtseinheit in ganz Deutschland hergestellt. Zugleich wird damit den Anforderungen der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags von Porto vom 2. Mai 1992 entsprochen, die die uneingeschränkte Anerkennung der Diplome und Prüfungszeugnisse der medizinischen Fachberufe innerhalb der EG und der EFTA-Staaten von dem mindestens mittleren Bildungsabschluß und einer mindestens dreijährigen fachschulischen Ausbildung abhängig machen. Damit steht den deutschen Diätassistentinnen und Diätassistenten künftig der gesamte EG- und EFTA-Raum offen.Das Gesetz folgt der Systematik anderer Gesetze zur Regelung der Zulassung zu den Heilberufen. Es gewährleistet den Schutz der Berufsbezeichnung und regelt die Voraussetzungen für die Erlaubnis, die Berufsbezeichnung zu führen. Neu aufgenommen haben wir die Bestimmung des Ausbildungsziels. Ferner werden erstmals die Anrechnung von Fehlzeiten sowie die verkürzte Umschulung geregelt. Gerade die verkürzte Umschulung trägt der angespannten Situation am Arbeitsmarkt Rechnung. Im Hinblick auf die Anforderungen an die Qualität der Ausbildung auf dem Gebiet der Heilhilfsberufe sind einer Verkürzung insgesamt allerdings enge Grenzen gesetzt.Wie Sie wissen, werden das Verfahren der staatlichen Prüfung, die Ausbildungsinhalte sowie die Muster für die amtlichen Bescheinigungen vom Bundesministerium für Gesundheit in einer Ausbildungs- und Prüfungsverordnung auf der Grundlage dieses Gesetzes geregelt. Einen entsprechenden Verordnungsentwurf, der an die Länder und Berufsverbände bereits zur Stellungnahme versandt wurde, wird das Bundesgesundheitsministerium dem federführenden Ausschuß noch zur Verfügung stellen.Ein Wort möchte ich noch zu der vom Verband Deutscher Diätassistenten erhobenen Forderung sagen, das Abitur oder Fachabitur als Zugangsvoraussetzung vorzusehen. Dies wäre meiner Meinung nach eine viel zu hohe Eingangshürde für diesen Beruf. Zum einen ist eine solche Anhebung des Eingangsniveaus fachlich nicht erforderlich. Zum anderen würde dies auch dem Charakter der medizinischen Fachberufe als vorwiegend praktisch orientierter Berufe zuwiderlaufen.Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich noch ganz kurz auf die Kritik des Bundesrates an der Kostenaussage zu diesem Gesetzentwurf eingehen. Die vom Bundesrat vorgelegte Kritik ist, wie wir in der Gegenäußerung dargelegt haben, in sich nicht schlüssig. Der Kostenschätzung der Bundesregierung sind schließlich die Kostenangaben der Länder zugrunde gelegt. Andere zuverlässige Grundlagen sind nicht vorhanden. Außerdem entspricht die zusammenfassende Kostenschätzung der Bundesregierung allen bisherigen Erfahrungen mit der Verlängerung von Ausbildungen alteingeführter Heilhilfsberufe.Meine Damen und Herren, soweit die Bundesregierung Änderungsanträge des Bundesrates unter fachlichen Aspekten ablehnen mußte, berühren diese jedoch nicht die dargestellten Grundintentionen des Gesetzentwurfs. Diese sind von den Ländern akzeptiert worden. Der vorliegende Gesetzentwurf trägt dazu bei, daß der hohe fachliche Qualifikationsstand der deutschen medizinischen Assistenzberufe auch in die nächsten Jahrzehnte hinein gewährleistet bleibt.
Nun hat Frau Antje-Marie Steen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, soweit Sie überhaupt im Saale zu erreichen sind! Ich hoffe, es hören uns auch viele an den Fernsehgeräten zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dieser Ruf wird schon seit 19 Jahren laut.Zu begrüßen ist auch, daß eine Verlängerung der Ausbildungszeit von derzeit zwei auf drei Jahre
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15508 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Antje-Marie Steenerfolgen soll. Das war auch schon lange fällig. In der ehemaligen DDR wurde dies seit Jahren praktiziert. Aber muß eine Verlängerung der Ausbildungszeit nicht eine Farce bleiben, solange versäumt wird, das Profil des Berufes des Diätassistenten bzw. der Diätassistentin neu zu definieren?Unsere Forderung ist, die in § 3 genannten Ausbildungsziele um den Bereich der Rehabilitation zu erweitern. Bliebe es, wie vorgesehen, bei der Beschränkung, würde ein wesentlicher Faktor für eine umfassende Gesundheitsberatung fehlen. Gerade im außerklinischen Bereich hat sich das Berufsbild verändert, kann durch fachliche diätetische Beratung ein Beitrag zur Rehabilitation geleistet werden. Zu einer kompetenten Gesundheitsberatung, wie sie auch das GSG fordert, gehört eben auch eine fachlich fundierte Ausbildung.Meine Damen und Herren, der vorgelegte Gesetzentwurf formuliert keinerlei qualitative Mindestanforderungen, weder an Ausbildungsinhalte noch an die Qualität der Ausbilder und Ausbilderinnen noch an die Ausbildungsstätten. Diese Mindestanforderungen, die im öffentlichen Dienst und auch bei anderen Berufen schon lange Standard sind, sollen vielmehr in nachfolgende Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen gestopft werden. Ich frage Sie: Wie macht das Sinn? Wie kann hier mitgewirkt werden, z. B. durch uns, wenn es sich um eine Rechtsverordnung handelt?
Wir müssen doch die Chance nutzen, mit der gesetzlichen Verlängerung der Ausbildung auch eine qualitative Verbesserung einzuführen.Schreiben wir doch in diesem Gesetz fest, daß die Ausbildung im gesamten Bundesgebiet einheitlich und damit vergleichbar sein muß, unabhängig davon, ob der Abschluß in Bayern oder Bremen, an einer privaten oder an einer öffentlichen Schule erworben wird! Das erhöht Bildungschancen.Schreiben wir weiterhin fest, daß die Ausbildung nicht nur praxisnah sein soll, sondern legen wir auch fest, wie diese Praxisnähe aussehen soll! Das heißt konkret: Der Anteil von theoretischem und von praktischem Unterricht muß im Gesetz detailliert formuliert werden. Die praktische Ausbildung an Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichsten Krankheitsbildern darf nicht untergehen. Auch das gehört ins Gesetz.Auf diesem Wege könnten auch die naturwissenschaftlichen Lehrinhalte intensiviert und evaluiert werden, die eine moderne Ernährungsmedizin erfordert. Gerade Ausbildungseinrichtungen sollten über genaue Qualitätsmerkmale verfügen, die über vergleichbare Standards auch eine qualifizierte Ausbildung sicherstellen. Eine unzureichende Ausbildung, die auf Grund fehlender Bildungsinhalte und unzureichender Ausbildungsstätten erfolgt, kann sich bei der späteren Berufsausübung für den Patienten und die Patientin als sehr nachteilig erweisen. Vergessen wir nicht, meine Damen und Herren, wie wichtig die Qualität der Ausbilder für die Qualität der Ausbildung ist. Der hier vorliegende Gesetzentwurf würdigt dieses Argument mit keinem Wort. Die Ausbildungsstätten müssen also an Hand eines Kriterienkataloges den Nachweis zur Sicherstellung der Ausbildung erbringen.Wieder einmal — wie eben schon beschrieben — legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Änderung eines Berufsbildes vor ohne die wichtige Frage nach der Befähigung der Ausbilder und Ausbilderinnen zu beantworten. Das Ergebnis, die Qualität einer Ausbildung, hängt doch ganz entscheidend von dem „Wie" der Wissensvermittlung ab. Dazu bedarf es qualifizierter Ausbilder und Ausbilderinnen. Hier sollte bei der geplanten Anhörung besonders die Meinung der Betroffenen eingeholt und nachgefragt werden, ob nicht mehr Professionalität der Lehrkräfte zu fordern ist.Wo, frage ich Sie, bleiben die Aufstiegsmöglichkeiten, die Durchlässigkeit zu anderen Qualifikationen im Berufsbild des Diätassistenten und der Diätassistentin? Nach der Erstausbildung ist bereits das Ende der Fahnenstange erreicht. Hier ist es anscheinend wieder so wie in vielen Berufen, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden: Der Weg führt von der Ausbildung direkt auf das Abstellgleis. Wir müssen zumindest die Option des Auftstiegs eröffnen, ansonsten wird die Anziehungskraft eines an sich hochattraktiven und expandierenden Berufs auf der Strecke bleiben.Eine kontinuierliche Fortbildung muß erfolgen, die eine Umsetzung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse auf dem Gebiet der Ernährung und der Diätetik im Sinne einer gesundheitspolitisch wichtigen Ernährungsberatung für Patienten und Patientinnen möglich macht. Das ist also eine Aufforderung an die Arbeitgeber, sich dieser Verpflichtung zu stellen.Es ist ein Beruf, zu dem das vorliegende Gesetz besonders Umschülern einen erleichterten Zugang verschaffen will: Je nach Vorbildung sollen sie ihre Ausbildung auf bis zu zwei Jahre verkürzen dürfen. Ein Drittel weniger Ausbildung: Können sie trotzdem am Ende das gleiche Wissen mitbringen wie ihre in drei Jahren ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen? Wer überprüft denn die Qualität der Erstausbildung von Umschülern? Wer garantiert denn, wieviel Wissen sie in die Zweitausbildung mit einbringen? Erleichterte Zugangsbedingungen zu der Berufsbezeichnung „Diätassistent/Diätassistentin" und nicht überprüfbares Fachwissen dürfen nicht das Ansehen des gesamten Berufsstandes aufweichen und verwässern.Es ist schon beinahe abenteuerlich — Sie, Frau Staatssekretärin, haben es soeben bestätigt —, wie die Bundesregierung die Verkürzung begründet: reduziert allein auf Arbeitsmarkt und arbeitsmarktpolitische Argumente. Das kann nicht Sinn eines neuen Gesetzes sein. Hier ist Qualität gefordert und nicht die Aushöhlung der Qualität.Ich sehe auch die Gefährdung der Anerkennung des Berufes durch die EG, da eine qualitativ gleichwertige Ausbildung dafür Voraussetzung ist. Wir sollten auch das Ergebnis der Anhörung ganz genau betrachten und versuchen, diesem dann Rechnung zu tragen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993 15509
Antje-Marie SteenGestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum Thema Schulgeld. Verlängerte Ausbildungszeiten bedeuten logischerweise auch eine Erhöhung der Ausbildungskosten. Die Mehrkosten werden — allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz — auf die Auszubildenden umgeschichtet. Das darf nicht sein. Ferner tritt schon durch die Verlängerung der Ausbildungszeit eine zusätzliche finanzielle Belastung ein. Heutzutage muß man schon zwischen 500 DM und 750 DM monatlich für seine eigene Ausbildung mitbringen.Die BAföG-Regelung trifft nur auf relativ wenige Ausbildungswillige zu, außerdem beruht sie auf Darlehensbasis. Insgesamt bekommen zur Zeit nach Aussagen der Bundesregierung nur 35 % der Auszubildenden in dieser Sparte BAföG. Das bedeutet, ein großer Teil bleibt davon ausgeschlossen.Insgesamt ist es sehr unbefriedigend, daß die Ausbildungslasten ausschließlich durch die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu tragen sind. Eine Regelung wie bei der Ausbildung in der Altenpflege wäre auch in diesem Fall zu begrüßen und sollte bei der Anhörung besonders berücksichtigt werden.Es gibt gute Gründe, das Inkrafttreten des Gesetzes wie geplant zum 1. Juni 1994 vorzunehmen. Aber auch die aus der Stellungnahme des Bundesrates zu entnehmenden Gründe, das Gesetz erst ab dem 1. Dezember 1994 wirksam werden zu lassen, sind nachzuvollziehen. Hier setzen wir auf das Beratungsergebnis aus der Anhörung.Ich darf für die SPD-Fraktion hier erklären, daß wir die weitere Ausgestaltung dieses Gesetzes kritisch begleiten werden, um zu erreichen, daß ein positives Ergebnis zum Wohle der Auszubildenden erreicht wird.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Dr. Bruno Menzel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir sind uns einig, daß dem Beruf des Diätassistenten in unserem Gesundheitssystem eine ständig wachsende Bedeutung zukommt. Vor dem Hintergrund einer verstärkt präventiv orientierten Medizin werden Kenntnisse über den Zusammenhang von Ernährung und Krankheit immer wichtiger und bedeutsamer. Wenn solchen Krankheitsgruppen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen oder gastroenterologischen Beschwerden bereits durch diätetische Maßnahmen, also gesunde Ernährung, präventiv begegnet werden kann, bedeutet dies nicht nur Reduzierung der medikamentösen Therapie, sondern vor allem auch eine Verbesserung der Lebensqualität für viele potentielle Patienten.Unter diesen Gesichtspunkten ist die Tätigkeit der Diätassistenten im Laufe der letzten Jahre immer umfassender und verantwortungsvoller geworden. Sehr viel detailliertere wissenschaftliche Erkenntnisse sind zu verarbeiten, und die Koordination undPlanung von Diätmaßnahmen gestalten sich komplexer.Vor diesem Hintergrund — da sind wir uns sicherlich einig — ist die Neuordnung des Berufsbildes für den Diätassistenten dringend notwendig. Der nunmehr vorliegende Gesetzesentwurf soll das Berufsgesetz der Diätassistenten aus dem Jahre 1973 ablösen, das bereits unmittelbar nach seiner Einführung Forderungen nach einer Neuordnung des Berufes laut werden ließ. Wir befürworten, daß es nun endlich gelingt, diesen Weg zu beschreiten.Die vorgesehene Verlängerung der Ausbildungszeit von zwei auf drei Jahre trägt den gestiegenen Ansprüchen Rechnung und eröffnet den Diätassistenten die Möglichkeit, ihren Beruf auch in EG-Mitgliedstaaten auszuüben. Ich begrüße das auch ganz besonders deshalb, weil durch dieses Gesetz die Angleichung der Ausbildung in ganz Deutschland vollzogen wird. In den östlichen Bundesländern haben wir ja bereits die dreijährige Ausbildung.Liebe Frau Steen, Sie haben einige Kritik an diesem Gesetz geübt. Ich habe dafür volles Verständnis. Ich bin sicher, wir werden konstruktive Beratungen in den Ausschüssen haben. Aber eines muß ich dazu sagen: Sie haben die falsche Adresse gewählt, es sei denn, Sie haben schon Rückäußerungen von den Ländern, die ja gerade erst die Ausbildungsinhalte von der Bundesregierung zugesandt bekommen haben. Natürlich ist es nicht möglich, für ein Diätassistentengesetz den Föderalismus außer Kraft zu setzen. Es ist nun einmal so, daß wir ein föderales System haben — darauf sind wir auch sehr stolz —, so soll es auch bleiben. Dabei ist auf die Mitwirkung der Länder nicht zu verzichten. Auch, die Ausbildungskräfte, Frau Steen, sind nicht eine Sache der Bundesregierung, sondern der Länderregierungen. Wenn Sie daran interessiert sind, dann möchten Sie bitte hier Ihre Möglichkeiten ergreifen und in diesem Rahmen dafür Sorge tragen, daß das, was Sie beanstandet haben, in der Zukunft noch besser gemacht werden kann.Ich denke jedenfalls, daß dieses Gesetz nicht nur für die Diätassistenten selber einen großen Fortschritt bedeutet, sondern daß damit auch für die Patienten die Sicherheit verbunden ist, daß eine fundierte Ausbildung der Diätassistenten gewährleistet ist. Die hohen Anforderungen an diesen Beruf sollen dennoch nicht dazu führen — das ist meine Überzeugung —, daß das Abitur oder Fachabitur zur Zwangsvoraussetzung wird. Dieses Begehren des Verbandes Deutscher Diätassistenten halten wir nicht für sinnvoll, weil unserer Auffassung nach dadurch die Qualität der diätassistentischen Betreuung sicherlich nicht besser würde und darüber hinaus zu hohe Zugangsvoraussetzungen den Kreis der Auszubildenden deutlich schmälern würden.Was nun, Frau Steen, Ihre Forderung nach entsprechender berufsbegleitender Weiterbildung betrifft, so denke ich, daß wir auch hier den jeweiligen Verbänden Verantwortung übergeben müssen und sollen. Sie haben sie ja. Sie müssen sicherlich auch berufsbegleitende Weiter- und Fortbildung organisieren. So, wie ich das in unserem Lande kennengelernt habe, bin ich eigentlich ganz sicher, daß dies zum Tragen kommen wird. Sie wissen ja, es ist ohnehin
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15510 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Dr. Bruno Menzelunser Credo: So wenig Regulierung durch den Staat wie möglich, so viel Eigenverantwortung der eigenständigen berufsständischen Organe, wie es überhaupt geht. Damit sind wir bisher, glaube ich, ganz gut gefahren.Wenn wir uns in diesem Sinne bemühen, dem Gesetzesvorhaben gut auf den Weg zu helfen, dann denke ich, haben wir etwas für jene getan, die diesen verantwortungsvollen Beruf ausüben, und für jene, die darauf angewiesen sind, daß qualifiziertes Personal ihnen dabei behilflich sein kann, daß ihre Diätplanung sinnvoll und zu ihrem gesundheitlichen Nutzen gestaltet wird.Ich danke Ihnen.
Nun spricht Frau Kollegin Barbara Höll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Gesetz verlängert die Ausbildungszeit für den Beruf Diätassistentin/Diätassistent von bisher zwei auf drei Jahre. Damit wird insofern Rechtseinheit hergestellt, als in den neuen Bundesländern eine dreijährige Ausbildung bereits existierte. Zugleich wird zweifellos den heutigen Anforderungen an den Beruf besser Rechnung getragen und die Freizügigkeit im europäischen Wirtschaftsraum gewährleistet. Letzterem Ziel dienen auch Änderungen, die in den Ausbildungsgesetzen für Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten, Logopäden, Orthoptisten und Rettungsassistenten vorgenommen werden.
So weit, so gut. Was aber angesichts eines solchen Gesetzes kritisch angesprochen werden muß, ist, daß notwendige Änderungen in der medizinisch-beruflichen Bildung immer nur am Einzelproblem und auch dort nur unvollständig erfolgen. Es wäre die eigentliche Aufgabe der Bundesregierung, sich diesem Gebiet im Zusammenwirken mit den Ländern endlich einmal richtig zuzuwenden und die bestehenden grundsätzlichen Mängel und Strukturfehler anzugehen.
So ist es ein grundlegender Fehler, daß die medizinisch-berufliche Bildung in der Bundesrepublik nicht, wie international üblich und auch im EG-Rahmen empfohlen, in das normale berufliche Bildungssystem integriert ist und nicht allein aus Mitteln der öffentlichen Hand getragen wird. Die finanzielle und administrative Abhängigkeit der Ausbildungsstätten von ihren Trägereinrichtungen ist ein Hemmnis für die Qualität der Ausbildung. Notwendig sind unabhängige Schulen, die sich bei engster Zusammenarbeit mit Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen einzig und allein der Erreichung ihrer Ausbildungsziele verpflichtet fühlen können. Die Tatsache, daß heute für eine berufliche Ausbildung in der Medizin noch Schulgeld gezahlt werden muß, ist übrigens, gelinde gesagt, ein Anachronismus und wohl eher eine Schande für dieses Land.
Eminent wichtig, aber keineswegs grundsätzlich geregelt ist die uneingeschränkte Verantwortlichkeit der Schulen auch far die berufspraktische Ausbildung. Es darf nicht sein, daß Auszubildende in den Praxiseinrichtungen immer noch als Lückenbüßer und billige Arbeitskräfte mißbraucht werden.
Ebenfalls ungelöst ist die Frage nach der Qualifikation des Lehrkörpers. In allen Bereichen gibt es in dieser Hinsicht definierte Mindestqualifikationsanforderungen, nicht aber im Gesundheitswesen, wo doch gerade Vorbildliches erwartet werden müßte. Übrigens hatten in der DDR die Lehrenden an den medizinischen Fachschulen den universitären Ausbildungsgang zum Medizinpädagogen durchlaufen. Man kann nur hoffen, daß die entsprechenden Ausbildungsstätten in Berlin und Halle von der üblichen Abwicklungswut verschont werden.
Schließlich geht es auch nicht weiter an, daß sich die medizinischen Berufe nach der Beendigung ihrer Ausbildung in einer Sackgasse wiederfinden, weil keine klar geregelten und anerkannten Aufstiegsqualifikationen bestehen. Hier drängt sich mir der Verdacht auf, daß dieser Rückstand nicht zuletzt damit zusammenhängt, daß es sich vorwiegend um Frauenberufe handelt. Bekanntlich haben Frauen heute aber andere Lebens- und Berufsvorstellungen.
Abschließend lassen Sie mich folgendes sagen: Es ist doch paradox, wenn heute über Nachwuchssorgen oder mangelnde Attraktivität bei diesen Berufen geklagt wird. Sie sind, wie jeder weiß, anspruchsvoll und schön. Dringend bedarf es aber einer Veränderung der Rahmenbedingungen, unter denen sie gegenwärtig erworben und ausgeübt werden.
Ich danke Ihnen.
Nun spricht Frau Kollegin Sigrun Löwisch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer da oben, die Sie in der Mehrzahl sind! Im Gegensatz zu Ihren Ausführungen, Frau Kollegin Steen, sehen wir in unserem Gesetzentwurf eine Verbesserung des Berufsbildes der Diätassistenten. Wir denken, daß nach 20 Jahren aus verschiedenen Gründen eine Überarbeitung notwendig geworden ist. Einer dieser Gründe ist, daß die Diätassistenten heute komplexer als vor 20 Jahren arbeiten müssen. Es ist ein schöner, ein befriedigender, aber kein einfacher Beruf, der die ganze Frau oder — in seltenen Fällen — den ganzen Mann fordert.Zwei Beispiele: Die Diätassistenten müssen den Patienten schmackhaft machen, was nicht schmackhaft ist. Das ist schwierig. Sie müssen den einen zum Essen bringen, und den anderen müssen sie vom Essen abhalten. Das ist auch nicht einfach.Die Gewichtungen von Krankheiten verändern sich. Es kommen immer neue Krankheitsbilder hinzu. Ich denke da ganz besonders an die Zunahme von Allergien. Sie berühren die Arbeit der Diätassistenten ganz besonders. Auch sind Patienten mit Mehrfacherkrankungen keine Ausnahme mehr, und deswegen müssen z. B. Magenschonkost, Diabetikerdiät und eine Allergie — Sie wissen das, Herr Dr. Menzel — in
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Sigrun Löwischeinem Ernährungsplan berücksichtigt werden. Dazu braucht man eben fundierte Fähigkeiten bei der Herstellung von Diätformen, und es müssen nun wirklich die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse z. B. auf dem Gebiet des Stoffwechsels oder der allgemeinen Ernährungsmedizin umgesetzt werden. Dies soll dann noch mit wirtschaftlichen Erkenntnissen abgestimmt werden, denn auch der Kostenfaktor muß stimmen.Außerdem, das ist im Zusammenhang positiv zu sehen: Der Stellenwert einer gesunden Ernährung ist bei weiten Kreisen unserer Bevölkerung gewachsen, denn auch sie erkennen immer mehr die Zusammenhänge zwischen Wohlergehen und diszipliniertem Einhalten der Gebote und Verbote, z. B. bei Diäten.Die Diätassistenten sollten und müssen dies nutzen; daraus erfolgt aber ein erhöhter Bedarf an Beratung und Aufklärung. Deswegen muß die Ausbildung auch in diesem Sektor verstärkt werden. Denn es ist eine einfache Erkenntnis: Eine gut ausgebildete Diätassistentin ist auch eine sichere Diätassistentin, die sich gegenüber Ärzten, Patienten, Pflegepersonal genauso gut behaupten kann wie z. B. gegenüber der Krankenhausverwaltung und der Küche. Nur so kann sie eine effektive Ernährungs- und Diättherapie überhaupt umsetzen. Die umfassende Ausbildung ist der Schlüssel hierzu. Deswegen ist es überfällig, daß die jetzt zweijährige Ausbildung für die Diätassistenten durch eine dreijährige Ausbildung abgelöst wird. Diese Erweiterung ist bei uns das Kernstück dieses Gesetzes.In der früheren DDR — Frau Staatssekretärin, Sie haben das schon gesagt — hat man das auch so gemacht. Es sind positive Erfahrungen, die da gemacht wurden. Wir können ja auch einmal aus den neuen Bundesländern lernen.
Durch die Angleichung der Ausbildungsregelungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und der EFTA-Staaten werden unsere Diätassistenten in Zukunft auch dort Anerkennung finden. Außerdem wird ihnen der Zugang zur Europäischen Gemeinschaft offenstehen, denn die dreijährige Ausbildung ist auch dort Voraussetzung für die Anerkennung.Aus dem gleichen Grunde — der Umsetzung der Richtlinie über die Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise — enthält der Entwurf Anpassungsregelungen auch für die Berufe der Logopäden, der Orthoptisten, Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten sowie der Rettungsassistenten. Sie haben mit den Diätassistenten allerdings nichts zu tun; wir schlagen hier praktisch mit einer Klappe mehrere Fliegen. Es wird umgesetzt, daß sie nun in den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft und in der EFTA anerkannt werden.Ich glaube, man sollte bei der Anerkennung und bei der Ausbildung der Diätassistenten sehen, daß sie insbesondere praktisch ausgebildet werden müssen. Ich meine, es muß mindestens die Hälfte der Stunden sein, die wir da zur Verfügung stellen. Frau Bläss und Frau Steen, wir werden natürlich sehr sorgfältig die uns noch vorzulegende Ausbildungsverordnung betrachten und auch darüber diskutieren. Wir haben am 20. Oktober eine Anhörung; dort können wir die offenen Fragen erörtern und vertiefen. Wir reden hier in diesem Haus nicht zum letzten Mal über dieses Gesetz, sondern dann ausführlicher, wenn wir es verabschieden.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/5619 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Gerd Poppe, Ingrid Köppe, weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Grundsicherung im Alter
— Drucksache 12/5285 —
Überweisungsvorschla g:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste — Vorlage eines Gesetzes über eine soziale Grundsicherung in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/5044 —
Überweisung svorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die beiden Gruppen jeweils zehn Minuten Redezeit haben. Gibt es dazu irgendwelchen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie steht es um die Lage der Senioren und Seniorinnen der Nation? Vorige Woche war ich mit anderen Mitgliedern des Bundestages vom Bundessenioren-verband zu einer Aussprache eingeladen. Alle seine anwesenden Vertreter beklagten sich über die Nichtachtung ihrer Aktivitäten auf kommunaler Ebene und Länderebene von seiten des Bundes. Sie fühlten sich
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Dr. Wolfgang Ullmannignoriert und marginalisiert, vielleicht so ähnlich wie das wichtige Thema, über das wir jetzt sprechen.Vergegenwärtigen wir uns, was die Regierung zu diesem immer zahlreicher und wichtiger werdenden Teil der Bevölkerung zu sagen hat, so verdüstert sich das Bild nachhaltig. Wer auch nur oberflächlich und gelegentlich am sozialpolitischen Diskurs teilnimmt, weiß, welche Rolle das Problem der Alltagsarmut in ihm spielt. Familienministerin Rönsch weiß dazu nur mit der Behauptung beizutragen, diese Armut existiere gar nicht. Es existiere vielmehr nur die durch die Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes bekämpfte Armut; ein müßiges und nicht einmal gelungenes Wortspiel.Schlimmer noch treibt es der Wirtschaftsminister, der öffentlich so über die künftigen Renten philosophiert, als seien sie die Dispositionsmasse eines von allen guten Geistern verlassenen Privatunternehmers. Die Regierung im Ganzen aber will uns glauben machen, der immer wieder von ihr geforderte Armutsbericht liege bereits in Gestalt der Sozialhilfestatistik vor.Ich möchte das nicht weiter kommentieren, sondern stattdessen nur auf den Armutsbericht der Caritas verweisen. Für ältere Frauen sagt dieser Bericht aus, daß die Quote der Nichtinanspruchnahme der Sozialhilfe in diesem Bevölkerungsteil bei 50 % liege. Die Abweichung der Sozialhilfestatistik von den reellen Werten kann also bis auf 100 % ansteigen. Um eine analoge Zahl aus dem Pflegebereich anzuführen: Nach dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wird die Zahl der Pflegefälle, die bei Inkrafttreten des von der Regierung vorgelegten Pflegeversicherungsmodells in den Sozialhilfebereich fallen, in Ostdeutschland bei 70 bis 80 % und in Westdeutschland zwischen 40 und 50 % liegen. Meint die Regierung wirklich, sich dazu weiterhin ausschweigen zu dürfen?Der vorliegende Gesetzentwurf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ist ein Vorschlag dazu, wie diese Alarmrufe von Parlament und Regierung aufgenommen und die signalisierten Probleme wenigstens einer Teillösung zugeführt werden können. Ich sage ausdrücklich Teillösung, und zwar gerade deswegen, weil ich mir bewußt bin, daß mit diesem Gesetz ein entscheidender Schritt von einer notfallorientierten zu einer menschenrechtsbegründeten Sozialpolitik gemacht werden könnte. Nicht die Versorgung der sozialen Wunden kann ihr Ziel sein, sondern bereits der Ausschluß und das Verhindern einer Verletzung von Menschenrechten und Menschenwürde. Frauen, Ausländern, Kindern, Behinderten: ihnen allen muß sich eine menschenrechtsbegründete Sozialpolitik zuwenden.Die zitierten Alarmrufe aber zwingen uns zu Prioritäten. Darum will unser Gesetzentwurf zu allererst die Altersarmut bekämpfen. Er will eine Möglichkeit schaffen, selbstbestimmtes Leben im Alltag zu sichern und zu unterstützen. Das Gesetz schlägt darum vor, eine bedarfsorientierte, existenzsichernde und steuerfinanzierte Grundsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger im Rentenalter zu schaffen.Das ausdrücklich in § 1 formulierte Ziel ist es, dem genannten Bevölkerungskreis ein so weit existenzsicherndes Einkommen zur Verfügung zu stellen, daß Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht in Anspruch genommen werden müssen. Im einzelnen soll das so geschehen, daß ein Anspruch auf diese Grundsicherung allen Personen zuerkannt wird, die das 65. oder im Fall von Schwerbehinderung das 60. Lebensjahr vollendet haben, die sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, anrechenbare sonstige Einkünfte den Grundsicherungsbetrag nicht erreichen und auch kein im entsprechenden Ausmaß vorhandenes Vermögen an seine Stelle treten kann.Das Mindesteinkommen dieser Grundsicherung soll 1 300 DM pro Monat betragen, 1 200 DM für diejenigen, die mit einer anderen volljährigen Person einen gemeinsamen Haushalt führen. Sonstiges Einkommen und auch Vermögen sind bei der Berechnung der Grundsicherung zu berücksichtigen. Dasselbe gilt für das Einkommen des nicht getrenntlebenden Ehepartners bzw. der Ehepartnerin. Zu den Modalitäten dieser Anrechnung darf ich auf §§ 4 bis 6 des Entwurfes verweisen.Der Anspruch besteht für jeden Monat, in dem der Bedarf nicht erreicht wird, die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen aber bestehen.Die Verfahrenszuständigkeit soll bei den Trägern der Rentenversicherung liegen, die Kostenträgerschaft beim Bund, der den Rentenversicherungsträgern die entstehenden Verwaltungsausgaben erstattet. Vorsichtige, aber leider mit vielen statistischen Unsicherheiten belastete Schätzungen für unser Modell ergaben ein Kostenvolumen von bis zu 4 Milliarden DM.Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß schon jetzt deutlich ist, wie sehr der Entwurf bemüht ist, systemkonform und geltendem Recht angepaßt vorzugehen. Er knüpft an das im Rentenüberleitungsgesetz praktizierte Verfahren des Sozialzuschlages für Niedrigrenten an, stützt sich auf das im Sozialgesetzbuch I § 30 Abs. 3 festgelegte Wohnsitzprinzip und tut dasselbe hinsichtlich der auf die Vollendung des 60. Lebensjahres vorgezogenen Altersrente für Schwerbehinderte, wie es im Sozialgesetzbuch VI vorgesehen ist.Auch die Inanspruchnahme von Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz bleibt möglich — auch wenn sie die Grundsicherung auf den Ausnahmefall bestimmter Heimkosten reduziert, was die Dringlichkeit der Einführung einer Pflegeversicherung unterstreicht.Wie auch immer man zu dem Modell der Grundsicherung stehen mag: Seine Vorlage allein unterstreicht die Dringlichkeit, mit der die Forderung nach einem Armutsbericht an die Bundesregierung heranzutragen ist.
Oder will die Bundesregierung beim Thema „Armut" dieselbe Vogel-Strauß-Politik betreiben, mit der sie sich gegenüber dem Faktum der Einwanderung jahrelang blind und taub gestellt hat und sich immer noch
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Dr. Wolfgang Ullmannstellt — dies mit schrecklichen Folgen für den inneren Frieden dieses Landes.Zu den neuerdings gerne beschworenen neuen internationalen Verpflichtungen gehören auch und vor allem sozialpolitische. Wir sollten uns für eine wissenschaftlich fundierte und europaweit wirksame Armutsdefinition einsetzen, damit die durch EWG-Verordnung 1408/71 gesetzten Grenzen im Sinne einer gleichzeitigen Erweiterung und Intensivierung von Europäischer Gemeinschaft allmählich auch in der Sozialpolitik verwirklicht werden können.Das wäre ein besserer Beitrag zur Überwindung unserer sozialen und ökonomischen Krisen als der Versuch, die Schuld an industrieller und technologischer Stagnation den Arbeitnehmern in die Schuhe zu schieben, das Klassenkampfvokabular „Neiddebatte" aus der Schublade zu ziehen und durch Wagenburg-Mentalitäten fällige Innovationen zum Schaden des Industriestandortes Deutschland noch weiter zu verzögern.Zu den wichtigsten Innovationen würde ich einen Konsens zählen in der Einsicht, daß individuelle, soziale und kulturelle Menschenrechte nicht zu trennen sind.„Ihr habt allezeit Arme bei euch", sagt Jesus. Er meinte damit gewiß nicht, man könne gegen Armut nichts tun. Er meinte vielmehr: Ihr habt allezeit damit zu tun, eine Sozialpolitik zu betreiben, die individuelle und soziale Menschenrechte zusammenführt, damit auch die Armen den ihnen zukommenden Anteil an der Freiheit selbstbestimmten Lebens erhalten.Ich danke Ihnen.
Nun spricht Frau Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste bringt ihr Konzept zur sozialen Grundsicherung zu einem Zeitpunkt ein, wo sich die täglichen Meldungen über den Generalangriff auf den Sozialstaat Deutschland überstürzen. Was im Frühjahr leise und gemächlich als Diskussion unter dem Motto „Umbau des Sozialsystems" begann, ist inzwischen zu einer Lawine konkreter Schritte geworden.Minister Seehofers Nachdenken über neue Grenzen zwischen Solidar- und Eigenverantwortung bei der Gesundheitsversorgung klangen ja noch ganz moderat. Härter wird schon zugepackt bei der Debatte um die angeblich notwendige Lohnnebenkostensenkung für die Sicherung des Standortes Deutschland.Herr Rexrodt schwingt zusätzlich die Keule der demographischen Entwicklung, um mit dem Gefasel über Grundrenten das Rentensystem für das Jahr 2010 und später in Frage zu stellen.
Mit den Kompensationsbestrebungen der Arbeitgeberanteile bei der Pflegeversicherung soll nun dieser Tage an einer hochsensiblen Problematik das Exempel statuiert werden: Der Einstieg in den Ausstieg aus dem Sozialstaat.Denn die Kompensation der Arbeitgeberanteile heißt doch nichts anderes, als daß staatlich organisiert eine nur noch von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern getragene Versicherung installiert werden soll. Damit wird das seit über 100 Jahren in Deutschland heiß erstrittene Sozialversicherungsprinzip verlassen und das Sozialsystem insgesamt zur Disposition gestellt.Der sogenannte Umbau des Sozialsystems erfolgt demnach unter dem generellen Strickmuster: Minimale staatliche Sicherung bei maximaler privater Vorsorge. Die Tarifkündigung in der Metallindustrie komplettiert die konzertierte Aktion von Politik und Wirtschaft.Diesem Ansinnen stellt die PDS/Linke Liste ein Konzept für den Ausbau des bestehenden Sozialversicherungssystems entgegen. Wir meinen, daß sich zum einen die soziale Lage von Millionen Menschen in der Bundesrepublik so zugespitzt hat, daß sie einer grundlegenden Verbesserung bedarf. Zum zweiten sehen wir in einem Ausbau des Sozialsystems eine zukunftsträchtige Lösung, den notwendigen Neuansatz, um die Attraktivität eines Wirtschaftsstandorts zu erhöhen.
Das Sozialsystem der Bundesrepublik ist als Versicherungssystem konzipiert, wonach Leistungen nur die- und derjenige erhält, die bzw. der Beiträge gezahlt, Anwartschaften erworben, also Vorleistungen erbracht hat.
In der Praxis bedeutet das, daß am ehesten im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter gesichert ist, wer ein kontinuierliches Erwerbsleben mit möglichst hohem Einkommen vorweisen kann. Bestimmten Bevölkerungsgruppen bleibt diese Möglichkeit vorenthalten. Hier entstehen die Armut verursachenden Lücken des Sozialsystems.Das Konzept der PDS/Linke Liste, das wir heute als Antrag mit einer Grundsatz-Charta auf den parlamentarischen Weg bringen möchten, ist ein Konzept von Arbeit und sozialer Sicherung für alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Familienstand, Nationalität und Weltanschauung.Wir gehen davon aus, daß jeder in der Bundesrepublik lebende Mensch das Recht auf ein Einkommen haben muß, das ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und Armut abwendet. Das Konzept gestaltet das Sozialversicherungssystem aus und ergänzt es mit steuerfinanzierten Elementen.Unsere Lösungsvorschläge sind teuer. Insgesamt 155 Milliarden DM ergeben die Berechnungen.
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15514 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Petra BlässDoch unser Finanzierungsvorschlag steht außerhalb der aktuellen Knackpunkte von Beitragsbelastung und Staatsverschuldung. Wir schlagen vor, mit der Unterbindung von Steuerhinterziehung und Wirtschaftskriminalität auf die erschreckende Wirklichkeit in der Bundesrepublik zu reagieren.Über 6 Millionen Menschen sind arbeitslos oder haben kein reguläres Arbeitsverhältnis. Zehntausende Jugendliche im Osten suchen vergeblich Ausbildungsmöglichkeiten. Etwa ein Drittel der Arbeitslosen bekommen keine Leistungen vom Arbeitsamt mehr. Von schätzungsweise 6 bis 8 Millionen Sozialhilfeberechtigten überwinden sich 4 Millionen zum entwürdigenden Gang auf das Sozialamt.Westdeutsche Frauen sind in der großen Mehrheit nur vermittels ihrer Ehemänner abhängig versichert. Immer mehr ostdeutsche Frauen geraten in die gleiche Lage. Mindestens eine Million Kinder sind direkt von Armut betroffen. Viele Studierende sichern ihre Existenz nur durch Nebenerwerb. Pflegebedürftig zu sein bedeutet fast automatisch, sozialhilfeabhängig zu werden. Asylbewerberinnen und Asylbewerbern wird die ohnehin karge Sozialhilfe noch gekürzt und überwiegend in Sachleistungen verabreicht. Und schließlich: Altersarmut — Herr Ullmann hat bereits darauf hingewiesen — ist hunderttausendfach vorhanden und vor allem weiblich.Die Lösungsvorschläge der PDS/Linke Liste gehen davon aus, daß alle Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik das Recht haben müssen, ihren Lebensunterhalt durch frei gewählte Arbeit zu menschenwürdigen und gerechten Bedingungen zu verdienen.Zugleich soll die Grundsicherung ein Ausgleich für die derzeitige Unfähigkeit der Gesellschaft sein, allen ihren Mitgliedern in ausreichendem Maße bezahlte Arbeit zur Verfügung zu stellen. Das Konzept bewahrt ältere Bürgerinnen und Bürger vor Altersarmut und sichert Menschen mit Behinderungen. Es schließt ein, Kinder und Jugendliche als selbständige Persönlichkeiten anzuerkennen und elternunabhängig zu sichern.Das Recht auf Arbeit zu verwirklichen, setzt eine Umgestaltung des Arbeitssystems, eine Um- und Neubewertung von Arbeit voraus. Das bedeutet, über herkömmliche Erwerbsarbeit hinauszugehen und Tätigkeiten anzuerkennen, zu bewerten und zu bezahlen, die für die Reproduktion der Gesellschaft und die Lösung globaler Probleme unerläßlich sind.Mit unserem Entwurf für ein Pflege-AssistenzGesetz, das dieser Tage zur parlamentarischen Diskussion steht, haben wir unsere Vorstellungen von der Umwandlung bisher unbezahlter Tätigkeiten in bezahlte Arbeit exemplarisch angewandt.Uns ist klar, daß damit nicht ad hoc unregelmäßige Erwerbsbiographien aus der Welt geschafft werden. Deshalb muß es existenzsichernde Aufstockungen geben. Das Recht zur Arbeit zu verwirklichen bedeutet für uns aber nicht, daß Arbeit Zwang ist. Unseren Vorstellungen von einer allgemeinen Versicherungspflicht entspricht, daß diejenigen, die vom Einkommen des Ehepartners oder von Vermögen leben, Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten haben.Die Höhe unserer Grundsicherung orientiert sich nach einer Empfehlung des EG-Ministerrates an der Hälfte des aktuellen durchschnittlichen Einkommens aller Beschäftigten. Das wären derzeit netto etwa 1 250 DM, die für die gesamte Dauer von Arbeitslosigkeit sowie für Rentnerinnen und Rentner mindestens zu zahlen wären. Studierende sollen mit dieser Summe über ein Stipendium gesichert werden, Schülerinnen und Schüler höherer Klassen abgestuft mit 40 % des Durchschnitts, derzeit 1 000 DM. Ebenso sollte eine Mindestausbildungsvergütung in dieser Höhe fixiert werden. Als Kindergeld stellen wir uns nach dem Alter gestaffelte Beträge zwischen 20 und 30 % des Durchschnittseinkommens vor, also Beträge von derzeit 500, 625 und 750 DM.Uns ist natürlich klar, daß die von seriösen Schätzungen ausgewiesenen 120 bis 150 Milliarden DM, die durch Steuerhinterziehung und Wirtschaftskriminalität der Allgemeinheit vorenthalten werden, nicht von heute auf morgen lockergemacht werden können. Es bedarf vor allem des politischen Willens, diesen tatsächlichen Mißbrauch in der Gesellschaft zu bekämpfen.
Es ist doch wohl ein Unding, daß seit Jahren nur rund ein Viertel des Geldvermögens beim Fiskus versteuert wird.Angesichts der Brisanz des Problems reicht es unseres Erachtens auch nicht aus, immer nur auf die Länderverantwortung für die Ausstattung der Finanzämter zu verweisen. Bei der Finanzknappheit in den Länder- und Kommunalhaushalten ist das ein Circulus vitiosus. Ihn zu durchbrechen, bedarf es eines Anstoßes durch den Bund. Wir sind uns darüber im klaren, daß ein schrittweises Herangehen erforderlich ist.Unter schrittweiser Umsetzung der Grundsicherung verstehen wir jedoch nicht, bestimmte Personengruppen herauszugreifen. Das widerspräche dem Anliegen des Konzeptes, bestimmte Prinzipien durchgängig zu verfolgen. Dazu zählen die vorleistungsunabhängige Gewährung der Grundsicherung, die Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung und die allgemeine Versicherungspflicht. Wir schlagen vor, mit allen Personen gleichzeitig zu beginnen, also mit Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentnern, Studentinnen und Studenten, Lehrlingen, Kindern und Asylbewerberinnen und Asylbewerbern.Wir könnten uns vorstellen, die Beträge beim Kindergeld vorerst auf 250 DM zu beschränken. Mit dieser vorläufigen Kindergeldregelung schließen wir uns dem Vorschlag aus dem SPD-Antrag „Für einen verfassungsgemäßen und gerechten Familienlastenausgleich" an.
Hinsichtlich der Rente können wir uns den heute auch zur Debatte stehenden Gesetzentwurf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit kleineren Änderungen als Umsetzungsgrundlage für eine Übergangszeit vorstellen. Damit würde sich der Einstiegsbedarf an Mitteln auf rund 75 Milliarden DM reduzieren.
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Petra BlässWenn der Bundesfinanzminister auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität und der Steuerhinterziehung nur einen annähernd gleichen Jagdtrieb entwickeln würde, wie er das bei der Jagd nach den Groschen der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, der Arbeitslosen und Asylbewerberinnen und Asylbewerber tut, dann wäre binnen kürzester Zeit das Geld dafür da. Dieser Staat würde zugleich die Länder und Kommunen von über 16 Milliarden DM Einkommensleistungen aus der Sozialhilfe entlasten.Die Einschränkung von Kontroll- und Aufsichtsfunktionen gegenüber den Leistungsberechtigten würde erhebliche Minderungen der Bürokratie bringen und somit die Verwaltungsapparate des bestehenden Sozialsystems entlasten. Personelle und finanzielle Kapazitäten für das Finanzsystem entstünden also bei der Einführung der Grundsicherung aus sich selbst heraus. Man muß es halt nur wollen.Das Grundsicherungskonzept der PDS/Linken Liste greift die Ideen vieler Betroffeneninitiativen, Verbände und Gewerkschaften im Osten und Westen Deutschlands auf.Es gilt, die konservative Gangart der Bundesregierung zu entlarven, die darin besteht, das Sozialsystem künftig auf die Gewährung eines unzureichenden Existenzminimums zu beschränken und alles andere der individuellen Vorsorge zu überlassen. Dagegen muß ein Konzept für Arbeit und soziale Sicherung, gegen Ausgrenzung und Verarmung, für soziale Gerechtigkeit gesetzt werden.
Frau Kollegin, ich weiß, daß zehn Minuten für Sie eine lange Zeit sind. Sie ist aber nicht ganz so lang, wie Sie denken.
Jetzt kommt mein letzter Satz.
Wunderbar!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die PDS/Linke Liste hat dies mit dem vorliegenden Antrag getan, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Gesetzentwurf über eine soziale Grundsicherung vorzulegen.
Ich danke Ihnen. — Sie sehen, ich bin es nicht gewöhnt, so lange reden zu können.
Bevor ich nun dem Kollegen Wolfgang Meckelburg das Wort gebe, möchte ich ganz herzlich hier bei uns zwanzig Schüler und Schülerinnen aus Israel, die zu einem Jugendaustausch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland sind, begrüßen. Ich wünsche Ihnen allen in der Bundesrepublik Deutschland schöne Eindrücke, einen guten Aufenthalt und noch viele angenehme Gespräche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das hat uns gerade noch gefehlt, so muß man die beiden vorgelegten Gesetzentwürfe zur Grundsicherung im Alter vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bzw. zu einer allgemeinen sozialen Grundsicherung der PDS/Linke Liste kommentieren, und das nicht, weil die CDU/CSU-Fraktion etwas gegen soziale Sicherheit hat. Ganz im Gegenteil!
Wir dürfen den vordergründigen Verlockungen von sozialen Grundsicherungsmodellen nicht auf den Leim gehen, egal, wie sie sich nennen, und egal, von wem sie kommen.Solche Vorschläge und eben auch die heute vorliegenden Gesetzentwürfe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste haben viele Haken, nicht zuletzt den, daß sie mit unserem bewährten Sozialsystem Schlichtweg nicht vereinbar sind.
— Hören Sie gut zu, es kommt sofort.Sie hemmen die Leistungsbereitschaft und Selbstvorsorge der Bürger, weil man ja auch ohne Eigenleistung eine recht hohe Grundversorgung erhalten würde. Sie führen zu niedrigeren Renten für diejenigen, die ein Leben lang arbeiten und Beiträge und Steuern zahlen, weil deren Beiträge und Steuern übermäßig zur Finanzierung der Grundsicherung derjenigen aufgezehrt würden, die keine Steuern und Beiträge bezahlen, aber eben eine Grundsicherung erhalten. Solche Modelle, meine Damen und Herren, sind letztlich unbezahlbar. Soziale Sicherheit ist aber nur dann gegeben, wenn sie bezahlbar bleibt.Ich möchte auf ein paar Einzelpunkte aus den beiden Anträgen eingehen.Der Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht ein Problem an, dessen Lösung auch uns am Herzen liegt, nämlich die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe aus falschem Schamgefühl.
— Aus echtem, einverstanden.Nur, die Lösung, die Sie, Herr Ullmann, dafür vorschlagen, bewirkt genau das Gegenteil dessen, was Sie beabsichtigen. Sie wollen nämlich bei Armut im Alter, bei Invalidität und bei Arbeitslosigkeit eine pauschale verbesserte Grundversorgung gewähren, aber in sonstigen Fällen zusätzlichen Bedarfs — das ist ja dann der Regelfall — wollen Sie nur eine schlechtere Sozialhilfe zugestehen.Einmal abgesehen von der Tatsache, daß das vehement gegen den verfassungsmäßig garantierten Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt: Dies steigert auch die Tendenz, Sozialhilfe als entwürdigend und diskriminierend zu empfinden. Das wollen wir eben nicht.
Die Sozialhilfe hat eine gesetzliche Grundlage. Unsere Bürger haben ein Recht auf sie. Wir wollen deutlich machen, daß sie eben kein Almosen ist.
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15516 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Wolfgang MeckelburgEs gilt, das Problem der verschämten Altersarmut innerhalb der bestehenden Sozialsysteme zu lösen, wobei die unterschiedliche Finanzierung der Systeme nicht durchbrochen werden darf. Die Rente ist beitragsfinanziert; die Sozialhilfe ist steuerfinanziert. Ansonsten würde man zu Mischsystemen kommen, bei denen der Bürger nicht mehr weiß, wieviel er wirklich selbst für seine soziale Sicherheit erbracht hat und wieviel die Steuerzahler aus dem allgemeinen Topf erbracht haben. Ich glaube, wenn dieses Gefühl verlorengeht, dann haben wir dem Sozialsystem einen schlechten Dienst erwiesen.Durch eine bessere organisatorische und verwaltungsmäßige Verzahnung von Rentenversicherung und Sozialhilfe müssen wir das Problem der verschämten Altersarmut angehen. Hierzu hat der Bundesarbeitsminister bereits vor einem Jahr Vorschläge gemacht.Meine Damen und Herren, unser Sozialsystem hat sich bewährt. Es wird von der breiten Bevölkerung überhaupt nicht in Frage gestellt.
Welches Durcheinander Sie aber, meine Damen und Herren von PDS/Linke Liste und BündnisGrünen, mit Ihren Versorgungsideen produzieren wollen, zeigen die folgenden Beispiele. — Wie Sie einen Postboten oder eine Floristin Ihre Idee der Grundversorgung näherbringen wollen, ist mir ein Rätsel. Deren Einkommen als Vollberufstätige liegt nämlich nur knapp über dem, was Ihnen als Grundsicherung vorschwebt. Ich zitiere aus dem Antrag der Bündnis-Grünen:
In der überwiegenden Zahl der Fälle soll ein Gesamteinkommen von 1 400 bis 1 600 DM als Grundversorgung erreicht werden. Wohngeld kann noch zusätzlich bezogen werden.Meine Damen und Herren, Sie werden bei den Angehörigen der unteren Lohngruppen nicht viel Verständnis für Ihre Grundsicherungsidee finden, weil diejenigen sich dann in der Tat fragen: Wofür gehe ich arbeiten? Wofür zahle ich Rentenbeiträge?Stellen wir uns auch einmal ein Ehepaar vor, das allein mit der Grundsicherung soviel an Einkommen erhält wie ein Durchschnittsverdiener, der davon Ehefrau und vielleicht auch Kinder ernähren muß! Nur: Der Durchschnittsverdiener arbeitet und zahlt damit Beiträge und Steuern, die zur Finanzierung eines Bleichhohen Einkommens, Grundsicherung genannt, ohne Arbeit für das Ehepaar dient. Auch dies müssen Sie den Bürgern draußen erklären, daß der eine dafür Beiträge und Steuern zahlt und der andere es als Grundsicherung bekommt.Wenn Sie sich dann noch vorstellen, einem Arbeiter, der sein ganzes Berufsleben in die Rentenkasse eingezahlt hat, erklären zu wollen, daß er künftig weniger Rente bekommen wird — denn wie soll das letztlich finanziert werden? — und andere, die gar nichts oder nur wenig eingezahlt haben, ähnlich hohe Leistungen bekommen sollen — spätestens dann müßte Ihnen klarwerden, daß Grundsicherung nicht Eigenverantwortung ersetzen darf.
Meine Damen und Herren! An dieser Stelle wird auch einer der wenigen wirklichen Unterschiede des Entwurfes von BÜNDNIS 90 zu der PDS-Gesetzesvorlage deutlich. Die PDS kommt erst gar nicht auf die Idee der Eigenverantwortung.
Statt dessen fordern Sie ganz offen den totalen Versorgungsstaat, und es ist ja auch nur konsequent,wenn Sie, meine Damen und Herren von der PDS— ich muß sagen: meine Damen; es sind nur noch zwei Damen da — als Nachfolgeorganisation der SED das Zwangssystem der DDR durch die Hintertür wieder einführen wollen.
— Ja, natürlich; schauen Sie mal den Antrag wirklich an, was da drinsteht.
Wenn man die Begründung Ihrer Gesetzesvorlage liest, bleiben vor allem zwei Eindrücke haften: Die Bundesrepublik ist ein sozialpolitisches Entwicklungsland; in der DDR war doch alles besser. Es sind aber genau die Punkte der totalen Versorgung, woran die DDR zumindest in einem wichtigen Punkt kaputtgegangen ist, und das haben Sie vergessen.Um Ihrer Wirklichkeitswahrnehmung ein wenig auf die Sprünge zu helfen, will ich Ihnen folgendes sagen. Unsere Gesellschaft heute hat das Problem, daß Sie mit einem ungehemmten „Immer weiter" und einem Draufsatteln bei den Sozialleistungen Gefahr laufen, die wirklich notwendigen Aufwendungen für die Sozialpolitik nicht mehr aufbringen zu können. Verantwortungsvolle Sozialpolitik heißt deshalb heute vor allem, die Voraussetzungen dafür zu schaffen — —
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann gestatten?
Ja, bitte! Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wunderbar.
Herr Kollege, Sie haben ja vorhin gerade an meine Vorstellungskraft appelliert; ich nehme an, freilich nach nur oberflächlicher Lektüre des Gesetzentwurfs. Darf ich Sie mal fragen, ob Sie sich jemanden vorstellen können, der mit der noch nicht einmal parlamentarisch durchgesetzten Pflegeversicherung zum Sozialfall wird?
Diese Fälle kann ich mir sehr gut vorstellen, Herr Kollege Ullmann, und gerade deswegen sind wir ja heiß und innig bemüht, in diesem Jahr endlich die Pflegeversicherung hier durchzubringen. Ich würde Sie herzlich
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Wolfgang Meckelburgbitten, in allen Fraktionen des Hauses Ihren Beitrag dazu zu leisten,
damit das in Zukunft nicht mehr stattfindet.
Verantwortungsvolle Sozialpolitik heißt deshalb heute vor allem, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Sozialpolitik auch in Zukunft in ausreichendem Maße möglich sein wird. Dazu brauchen wir vor allem eine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik, die es erlaubt, erst einmal das zu erwirtschaften, was wir verteilen wollen.Wenn ich eines verstanden habe, auch schon in der Kommunalpolitik, in der ich 16 Jahre als Sozialpolitiker im Rat tätig war, so das, daß es den Zusammenhang zwischen Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik gibt. Wenn wir kein Geld erwirtschaften, die Finanzpolitik nicht stimmt, dann können wir auch keine Sozialausgaben vornehmen. Wir müssen unsere sozialen Systeme sichern.Ich muß der PDS anerkennend zubilligen, daß sie sich bei der Berechnung der Mehrkosten, die bei Einführung einer Grundsicherung auf die Steuer- bzw. Beitragszahler zukämen, mehr Mühe gemacht hat als die Damen und Herren vom BÜNDNIS 90. Sie haben zwar angedeutet, was das kostet, aber im Grunde sind die Zahlen nicht ganz klar. Es ist in der Tat auch schwierig, und ich will das auch nicht zur Provozierung machen, Herr Ullmann.Die PDS kommt zu dem Ergebnis, daß 155 Milliarden DM mehr aufgebracht werden müßten. Diese Zahl spricht eigentlich schon für sich. Sie zeigt, daß sich Ihr Realitätssinn seit der DDR-Zeit nicht gerade geschärft hat, meine Damen und Herren von der PDS. Wenn Sie meinen, daß Sie das mit der Verhinderung von Steuerhinterziehungen und so üblichen Schlagwörtern finanzieren können,
dann ersparen Sie sich die Zwischenfrage. Sie müssen das auf den Weg bringen. Sie können hier nicht einfach Programme auf den Tisch legen und darunter eine Zahl schreiben. Es ist gigantisch, was Sie sagen. Wenn sich Frau Bläss hier gerade fürchterlich darüber aufgeregt hat, daß wir zur Zeit dabei sind, 20 Milliarden DM einzusparen, wie können Sie dann hier ernsthaft ein Konzept auf den Tisch legen und sagen: Das ist alles machbar, wir brauchen dafür nur 155 Milliarden DM mehr? Das ist doch völliger Verlust der Realität.
Darf ich fragen, ob Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Ja bitte.
Würden Sie, da Sie an den Realitätssinn appellieren, bitte zur Kenntnis nehmen, daß in der vergangenen Woche vielleicht nicht ganz zufällig im Finanzausschuß eine Anhörung stattgefunden hat, die genau die Fragen Steuerhinterziehung und Wirtschaftskriminalität zum Thema hatte und in der klar und deutlich nicht nur von einem Sachverständigen, sondern von der Mehrzahl der Sachverständigen gesagt wurde, daß dadurch dem Staat und somit dem Gemeinwesen auf alle Fälle jährlich 120 bis 150 Milliarden DM — und das noch gering angesetzt — entgehen? Würden Sie das zur Kenntnis nehmen?
Ich war nicht bei dieser Anhörung und kann die Zahlen zunächst nicht bestätigen. Ich werde mich da gern informieren. Mir ist auch völlig egal, wie hoch die Zahl angesetzt wird. Sie müssen einen Weg finden, das, was an Steuern hinterzogen wird, auch wirklich in die Finanzkassen zu bringen. Da darf ich daran erinnern, daß wir als Bundestagsfraktion der CDU/CSU darum bemüht sind, die soziale Gerechtigkeit auch dadurch hinzubekommen, daß wir die Verhinderung des sozialen Mißbrauchs mit der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und der Steuerhinterziehung koppeln wollen.
— Nicht kompensieren, sondern beides ist notwendig. Darüber müßten wir doch wirklich Einverständnis herstellen können, Herr Heyenn: Weder Mißbrauch durch die Wirtschaft noch sozialen Mißbrauch dürfen wir als Gesetzgeber zulassen. Ich möchte Sie auch darauf hinweisen, daß für die Einziehung der Gelder die Länder zuständig sind. Da sind in der Mehrheit die SPD-Länder gefragt. Insofern die Bitte an die SPD: Geben Sie das Ihren Länderchefs weiter! Das hilft uns allen sicherlich.
Auch wenn Sie sich mit den Berechnungen viel Mühe gemacht haben, so haben Sie, meine Damen und Herren von der PDS, doch vergessen, daß wir in der Europäischen Gemeinschaft leben. Die Grundabsicherung müßte nämlich nach EG-Recht auch an alle ehemaligen Gastarbeiter mit niedrigen Rentenansprüchen ins Ausland gezahlt werden. Dies müßten Sie noch oben draufsatteln.Deutschland und Schweden — so sagte Ralf Dahrendorf kürzlich — sind die beiden Länder der OECD, die in ihrer Wohlstandsnische am längsten ausgeharrt haben. Beide Länder haben in den letzten Jahrzehnten für sich in Anspruch genommen, eine vorbildliche Sozialpolitik zu machen. Ich füge hinzu: Ich stehe auch zu den Errungenschaften des deutschen Sozialsystems.Aber wir müssen uns endlich darüber klarwerden, daß das bequeme Nischendasein ein Ende hat, wir müssen begreifen, daß es jetzt darum geht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir uns auch in Zukunft eine erfolgreiche Sozialpolitik leisten können. Dafür brauchen wir auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Produkte zu konkurrenzfähigen Preisen, dafür brauchen wir ein wirtschaftspolitisches Klima, das die Risikobereitschaft von Unternehmen fördert und zu Investitionen in Deutschland motiviert. Wir
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Wolfgang Meckelburgbrauchen in der Wirtschaft Voraussetzungen. Ich wiederhole noch einmal: Wenn es in der Wirtschaft nicht funktioniert, brauchen wir als Sozialpolitiker gar nicht groß anzutreten, weil das Geld zum Verteilen nicht da ist.
Wir können dabei auf einem bewährten Steuersystem aufbauen, Herr Heyenn, das Leistungsanreize beläßt, und auf einem ebenso bewährten Sozialsystem, das da, wo möglich — und das ist wichtig —, Eigenverantwortung auch im Sozialbereich fördert.Meine Damen und Herren von der PDS und vom BÜNDNIS 90, ich glaube, daß Sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben. Ich glaube, daß Sie beim kleinen Mann auf der Straße, den zu vertreten Sie ja immer vorgeben, kaum mit Verständnis für Ihre Forderungen rechnen können.Die Menschen in Deutschland haben sehr wohl begriffen, daß wir zur Zeit über unsere Verhältnisse leben. Sie beobachten uns Politiker sehr genau, ob wir in der Lage sind, notwendige Einsparungen vorzunehmen und unser Wirtschafts- und Sozialsystem auf Dauer leistungsfähig zu halten.Alle Grundsicherungsmodelle, aus welcher Ecke sie auch immer vorgeschlagen werden, gehen diesen Weg nicht. Sie überfordern den Staat, die Gesellschaft, sie überfordern die Bürger. Deswegen sind das nicht die Modelle, die wir als CDU/CSU-Fraktion vertreten.Schönen Dank.
Nun spricht Frau Kollegin Barbara Weiler.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Einführung einer sozialen Grundsicherung im Alter ist nach Auffassung der SPD zweifellos erforderlich. Sie ist sogar so dringend erforderlich, daß wir bereits im Mai 1992 einen entsprechenden Antrag vorgelegt haben. Dort werden die Forderungen nach einer Grundsicherung im Alter und bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gestellt. Dadurch würde ein notwendiger Grundbedarf abgedeckt und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe überflüssig gemacht.Folglich ist es nicht verwunderlich, daß wir in dem Gesetzentwurf, den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jetzt vorlegt, gute Ansätze und Vorschläge finden.
Die Ähnlichkeit mit unserem Antrag ist also sicher beabsichtigt und politisch ja auch vernünftig.
Herr Dr. Ullmann, noch eine Ergänzung zu dem, was Sie gerade gesagt haben. Es ist zwar richtig, daß wir eine einheitliche Definition von Armut im Rahmen der EG brauchen, aber noch wichtiger und dringender wäre es, denke ich, daß wir für Deutschland, und zwar für ganz Deutschland, eine detaillierte sachgemäße Armutsberichterstattung bekommen.
Bei der Analyse der Probleme stimmen wir mit beiden Gruppen, die heute ihre Anträge vorlegen, überein, nicht jedoch mit allen Lösungsvorschlägen. So ist nicht zu übersehen, daß der Entwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in manchen Punkten unrealistisch ist.Außerdem erstaunt uns, daß Sie die soziale Grundsicherung auf Personen ab 60 Jahren beschränken wollen. Damit wären alle Frühinvaliden ausgeschlossen, vor allem auch die von Jugend an Schwerstbehinderten, die niemals erwerbstätig sein können. Sie sind eigentlich besonders auf eine Grundsicherung angewiesen, weil sie keinen Zugang zur Rentenversicherung haben. Im übrigen ist Ihr Entwurf in Einzelheiten technisch noch nicht ganz ausgereift, so etwa bei dem Problem, wie die regional höchst unterschiedlichen Wohnkosten beim Grundsicherungsbedarf zu berücksichtigen sind.Im PDS-Antrag dagegen gibt es darüber hinaus eine Reihe von Ungereimtheiten, die aber vielleicht gar nicht so gemeint sind. Wollen Sie, liebe Kollegin Bläss, wirklich neben der Erziehungs- und Pflegearbeit auch die Hausarbeit bei Anwartschaften für Sozialleistungen berücksichtigen? Das kann ich mir nicht vorstellen.Bei aller Sympathie für das gemeinsame Grundanliegen, das wir haben: Die Finanzierungsvorschläge Ihrer Gruppe gehen, das muß ich leider gestehen, völlig an der Realität vorbei. 155 Milliarden kostet Ihr Modell, wo wir um jede Milliarde kämpfen, die diese Regierung im Sozialsystem abbaut.
155 Milliarden sind, denke ich, eine Summe, die man auch nicht mit dem Einkassieren von Mißbrauch im Rahmen der Steuergesetze heranziehen kann.Nun ja, diese Kritikpunkte ändern aber nichts daran, daß unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Situation von Menschen mit niedrigen Renten zu verbessern.
Solange z. B. Frauen niedrigere Löhne und Gehälter bekommen als Männer, schlechtere Zugangsbedingungen zu zukunftssicheren Berufen haben, nur zeitweise tätig sein können und nicht versicherungspflichtig arbeiten dürfen, häufiger arbeitslos werden, erhalten sie zwangsläufig eine geringe Rente, so gering, daß ein Lebensabend in Armut vorprogrammiert ist.Wenn all das, die guten und die schlechten Lebensrisiken, bezahlte und unbezahlte Arbeit in unserer Gesellschaft anders, also partnerschaftlich, aufgeteilt wären, dann brauchten wir keine Grundsicherung. Ich habe den Eindruck, daß diese gesellschaftlichen Rollenzuweisungen und Rollenaufgaben aber in der Praxis noch lange nicht überwunden sind. Darum sind
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Barbara Weilerwir auch dafür, daß möglichst bald eine soziale Grundsicherung eingeführt wird.Das Gleichstellungsgesetz von Frau Merkel ist zumindest ein zu zaghafter Versuch, etwas zu ändern. Es wird dazu noch konterkariert von den massiven Kürzungen des SKWP, also des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms, Kürzungen, die vor allem zu Lasten der Frauen gehen, weil die Frauen überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen und auch überproportional auf Sozialhilfe angewiesen sind.Die Debatte zum Renten-Überleitungsgesetz hat die Notwendigkeit einer Reform bestätigt. Wichtig für uns war dabei, zu erfahren, daß durch die kontinuierliche Rentenbiographie die Frauen in Ostdeutschland eine relativ akzeptable Rente bekommen, was auch sehr vernünftig und wünschenswert ist.
Hinzu kamen viele ergänzende Anrechnungselemente, die ganz speziell die Frauen betrafen, und nicht zuletzt der Sozialzuschlag, den wir gemeinsam bis 1995 verlängert haben. Dieser Sozialzuschlag verhindert natürlich auch das Abrutschen in die Armut, aber — das müssen wir bedenken — nur heute und ganz aktuell. Wir Politikerinnen müssen auch die Zukunft mit bedenken.
— Ihr seid diesmal mitgemeint.Die Arbeitslosigkeit der Frauen im Osten — immerhin zwei Drittel — programmiert die Altersarmut in der Zukunft vor.Ich will noch einmal einige Eckpunkte erläutern, die nach Auffassung der Sozialdemokraten in ein umfassendes Modell einzubeziehen sind.Diese Grundsicherung soll für ein Einkommen sorgen, das den notwendigen Bedarf für menschenwürdiges Leben abdeckt, ohne daß dafür die Sozialhilfe in Anspruch genommen wird. Der Unterschied zur Sozialhilfe liegt nicht im Leistungsniveau, sondern in der stärkeren Pauschalierung der Leistungen der sozialen Grundsicherung. Insbesondere sollen alle Einmalhilfen, die in der Sozialhilfe neben den Regelsätzen gezahlt werden, in die Leistungssätze mit aufgenommen werden. Die Sozialhilfe soll durch diese Einführung von der Funktion eines Lückenbüßers für Mängel im sozialen Sicherungssystem entlastet werden. Sie sollte sich nämlich so weit wie möglich auf eine optimale Einzelfall- und personenbezogene Hilfe in besonderen Lebenslagen konzentrieren. Dafür ist sie gedacht gewesen.Ziel soll daher sein, daß die soziale Grundsicherung auch eine Voraussetzung für eine längst überfällige Reform und eine qualitative Verbesserung der Sozialhilfepraxis ist.Ich möchte ausdrücklich betonen, daß die soziale Grundsicherung das System einer lohn- und beitragsbezogenen Rente nicht beeinträchtigen, sondern lediglich ergänzen soll. Wir beabsichtigen eben nicht, Herr Kollege von der CDU, Arbeit und Einkommen oder Arbeit und Rente zu entkoppeln. Auch in Zukunft — wir halten das auch für richtig — wird das soziale Sicherungssystem den im Berufsleben erarbeiteten Lebensstandard gewährleisten und sich die Höhe der Sozialversicherungsleistungen an der Beitragszahlung orientieren.Ihr Vorwurf der Leistungsnivellierung trifft also nicht zu. Ganz im Gegenteil: Wir wollen selbstverständlich durch Verbesserungen der Rahmenbedingungen, im übrigen auch durch eine Weiterentwicklung des Arbeitsförderungsgesetzes, Männern und Frauen den Nachweis ihrer Leistungsfähigkeit erst einmal ermöglichen. Das haben sie durch die Arbeitslosigkeit nämlich verloren.Damit unterscheidet sich die sozialdemokratische Position zur Grundsicherung auch von Konzepten, die unter den Namen „garantiertes Mindesteinkommen" oder „Bürgerlohn" zur Zeit diskutiert werden. Diese Konzepte zielen darauf ab, daß der Staat allen Bürgerinnen und Bürgern ohne weitere Voraussetzungen ein Grundeinkommen zur Verfügung stellt und es im übrigen ihrer freien Wahl überläßt, ob sie erwerbstätig sein wollen oder nicht. Demgegenüber will die SPD an der Norm der sogenannten Arbeitsgesellschaft festhalten. Jeder Mensch, der dazu in der Lage ist, steht für seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit ein.Eine soziale Grundsicherung ist in Europa übrigens gar kein Novum. In Italien, Belgien, Portugal, Dänemark und Spanien ist der Widerstand der Konservativen gegenüber diesem Grundgedanken nicht annähernd so groß wie bei uns.Wir müssen allerdings auch — das hängt eng damit zusammen — für eine eigenständige und kontinuierliche Rentenbiographie der Frauen sorgen. Dabei besteht Konsens zwischen allen verantwortungsvollen Politikerinnen, daß nicht sämtliche Zeiten von Erwerbslosigkeit angerechnet werden sollen, sondern nur die, deren Ursachen in gesellschaftlich relevanten Bereichen zu finden sind. Das sind Kindererziehung und Pflegetätigkeit.Wir haben einen Entschließungsantrag verabschiedet, in dem sich alle Fraktionen in diesem Bundestag verpflichtet haben, bis Ende 1996 einen Entwurf einer Reform vorzulegen, die eigenständige Anwartschaften der Frauen ausbauen und einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Problems der Altersarmut leisten soll. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Absichten sollten bis Ende 1996 umgesetzt werden. Die traurige Wahrheit aber ist, daß sich seit diesem Beschluß des Parlaments vom 21. Juni 1991 die Rahmenbedingungen für Frauen zur Erlangung einer kontinuierlichen Rentenbiographie in erschreckender Weise verschlechtert haben.Ich will nur einige Punkte davon nennen. Einer der entscheidenden Gründe dafür, daß die Frauen nicht erwerbstätig sein können, ist, wie wir alle wissen, daß die Zahl der Kinderbetreuungsstätten unzureichend ist. Es ist unser aller Wille gewesen, im Rahmen der Debatte um § 218, daß eine flächendeckende Kinderbetreuung bis 1995 eingerichtet wird. Ich habe den
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Barbara WeilerEindruck, daß der Bund in diesem Fall mit dieser Aufgabe — und das war politisch nicht beabsichtigt — die Länder und Kommunen jetzt alleinlassen will. Das kann einfach nicht sein. Die Länder und Kommunen sind alleine mit dieser Aufgabe überfordert. Auch der Bund muß hier seiner Verpflichtung gerecht werden.
Der zweite Punkt ist der Abbau der Frauenförderungsmöglichkeiten nach dem Arbeitsförderungsgesetz, die durch die zehnte Novelle eingeschränkt worden sind und jetzt durch die sogenannte elfte Novelle weiter erheblich verschlechtert werden.Ein spezifisches Übel, auf das alle Politikerinnen — auch die Kolleginnen der CDU — schon oft hingewiesen haben, sind die sogenannten sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse, im Volksmund 530-DM-Jobs genannt. Es ist natürlich klar, daß eine Sozialversicherungspflicht bei dieser Summe keine ausreichende Rente bewirken kann. Dennoch wäre sie nützlich, um gerade bei einer Gruppe von Frauen Lücken in der Rentenbiographie zu schließen und damit eventuell auch andere, längerdauernde und besser bezahlte Beschäftigungsverhältnisse aufzubauen. Eine Gesamtreform ist längst überfällig.Ein weiterer Punkt ist — er wurde eben schon genannt — die dringende Notwendigkeit der schnellen Einführung einer solidarischen Pflegeversicherung. So wie sie jetzt vorliegt — das werden Sie morgen hören —, können wir ihr leider nicht zustimmen. Durch die solidarische Pflegeversicherung — und das möchte ich noch einmal betonen — werden viele Frauen mit dem Angebot an Teilzeiteinrichtungen, an ambulanten Einrichtungen eher in die Lage versetzt, neben der Pflegetätigkeit noch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Wir erwarten außerdem, daß durch die Einführung der Pflegeversicherung neue qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen werden, was auch für Frauen enorm wichtig ist, Wenn es tatsächlich zutrifft, daß das Arbeitsvolumen von 1982 fast identisch ist mit dem von 1991, d. h. daß die geleistete Arbeit über einen Zeitraum von fast zehn Jahren kaum zugenommen hat, dann sollte jedem einleuchten, daß eine radikale Umverteilung der Arbeit notwendig ist.Ein weiterer Punkt, der, denke ich, im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung zu diskutieren ist, ist der, daß die Kürzung der Feiertagsvergütung zugunsten der Arbeitgeber fatale Konsequenzen haben wird, die die Rentenversicherung betreffen und die Sie vielleicht noch gar nicht bedacht haben. Sie würden damit ja nicht nur die individuellen Renten schmälern, sondern die Mindereinnahmen der Rentenversicherung in Höhe von ca. 2,5 Milliarden DM, die Sie damit verursachen, destabilisieren auch noch in erheblichem Ausmaß die Versicherungsträger.Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang betrifft natürlich das niedrige Einkommen. Das niedrige tarifliche Einkommen von Frauen ist einer der Hauptgründe für die Altersarmut. Und da stellen Sie sich hin und ermuntern die Arbeitgeber, die Tarifverträge zu kündigen und untertarifliche Bezahlungen zu fordern.
— Aber Sie haben mit Ihrer Diskussion ein politisches Signal gegeben. Die F.D.P. hat da den Vorreiter gespielt; das wissen Sie ganz genau.
Der Deutsche Städtetag hat ausgerechnet, daß durch die geplanten Kürzungen im Sparpaket zusätzlich 300 000 Menschen zu Sozialhilfeempfängern werden. Die Auswirkungen für diese Menschen im Alter brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern.Zusammenfassend möchte ich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Eine soziale Grundsicherung, aber auch eine vernünftige Rentenausgestaltung, ganz speziell für Frauen, sind dringend erforderlich. Was auch noch unbedingt erforderlich ist, sind Rahmenbedingungen, mit denen die Frauen dann diese Rentenbiographie erlangen können, Rahmenbedingungen, die nicht — wie es jetzt scheint — 30 bis 40 % unserer Bevölkerung in eine soziale Ungewissheit stürzen und den Anfang vom Abbau des Sozialstaates bedeuten.
Nun hat die Kollegin Dr. Eva Pohl das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dem Motto „Alle Jahre wieder" tauchen in diesem Hause in schöner Regelmäßigkeit Gesetzesvorschläge zu einer wie auch immer gearteten Grundsicherung auf.
Heute setzen wir uns mit einem Antrag der PDS/ Linke Liste zur sozialen Grundsicherung in der Bundesrepublik sowie einem Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Einführung einer Grundsicherung im Alter auseinander. Beide Entwürfe — das muß vorweg konstatiert werden — widersprechen dem gegliederten System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik.
Sie würden z. B. im Bereich der Rente die Grundlage des bestehenden Systems der lohn- und beitragsbezogenen Rente zerstören,
wohlgemerkt, jenes System, das seit über hundert Jahren besteht und sich als größtes soziales Sicherungssystem in der Bundesrepublik Deutschland bewährt hat.Es gäbe an dieser Stelle vieles zu den Entwürfen anzumerken. Insbesonere die Vorstellungen der PDS,
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Dr. Eva Pohldie ein Katalog von populistischen Fragmenten aus sozialistischer Zeit sind,
zeichnen sich durch Realitätsfeme und fehlende Stringenz aus.Ich möchte hier jedoch nicht nur über die völlig abwegigen bzw. nicht konkreten Finanzierungsvorstellungen in diesen Entwürfen oder über solche auf die Wiedereinführung des Sozialismus zielende sogenannte Prämissen sprechen, wie den Rechtsanspruch auf Arbeit bei Ihnen, meine Damen von der PDS. Sie wollen hier den Eindruck erwecken, als würde in Deutschland das soziale Netz nur aus Löchern bestehen.
Aber nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß in Deutschland allein im Jahre 1992 mehr als eine Billion DM für soziale Sicherheit aufgewendet wurde. Davon wurden allein 24 Milliarden DM im Rahmen des West-Ost-Transfers in die neuen Bundesländer zum Aufbau des sozialen Netzes überwiesen.
Seit 1984 sind die Ausgaben des Bundes für die soziale Sicherung überproportional gestiegen. Sie machen inzwischen 36,5 % der Gesamtausgaben des Bundes aus.Lassen Sie mich nun aber zu dem, wie mir scheint, zentralen Kritikpunkt gegenüber der sozialen Grundsicherung kommen, zur Vollkaskomentalität, wie es unser F.D.P.-Bundesvorsitzender, Außenminister Klaus Kinkel, dieser Tage formuliert hat.
Unser Grundgesetz verlangt den freiheitlichen Sozialstaat. Ziel des Sozialstaates kann aber nicht der allumfassend versorgte und betreute Mensch sein. Im Gegenteil, für uns Liberale muß jeder einzelne die Verantwortung für sich selbst und seine Freiheit zur eigenen Lebensentscheidung behalten.Unser Sozialstaat ist kein gigantischer Fonds, in den jeder nach seinen Fähigkeiten alle Anstrengungen einzubringen hat und der dann jedem nach vordefinierten Bedürfnissen Leistungen zuteilt. Was wäre nämlich das Resultat dieser in Ihren Entwürfen propagierten Politik? Entmündigung des einzelnen und ein gefährlicher, den sozialen Zusammenhalt zerstörender Egoismus!Warum sollten, so frage sich Sie von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — niemand ist mehr anwesend — und PDS, Arbeitnehmer überhaupt noch Sozialbeiträge zahlen? Der Staat wird alles irgendwie finanzieren. Der Schwarzarbeit nur als eine Folgeerscheinung wäre Tür und Tor geöffnet. Warum sollte sich ein arbeitsloser Arbeitnehmer um eine Arbeitsstelle bemühen, wenn ihm, wie das im PDS-Entwurf verzeichnet ist, 85 % des letzten Nettoentgeltes garantiert ist? Es geht hier nicht — das möchte ich noch einmal betonen — um den Fragenkomplex der Unbezahlbarkeit. Es geht mir hier allein um die durch solche Entwürfe geförderte Versorgungsmentalität.
Wer Sicherheit und Wohlstand in allen Lebenslagen für vom Staat lieferbar erklärt, ohne daß die Menschen dafür selber Verantwortung mit übernehmen müssen, gefährdet mit diesen unlauteren Formulierungen unseren Sozialstaat. Sie, meine Damen und Herren von der PDS, erwecken mit Ihren Entwürfen gerade diese Vorstellungen.Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Worte zur sozialen Grundsicherung im Alter sagen. Wir alle wissen, daß große gesellschaftliche Veränderungen, gerade auch im Bereich der Alterssicherung, durchschlagen können, ja, müssen. Die demographische Entwicklung in Deutschland ist sicher jedem von uns bekannt. Lange Ausbildungszeiten und die Tatsache, daß das Renteneintrittsalter immer niedriger geworden ist, kennzeichnen die heutige Situation. Deshalb war für die F.D.P. die Rentenreform '92 ein Schritt zur Stabilisierung der Rentenversicherung und eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft.
Es kann keinen Sinn machen, daß wir — darauf würden Ihre Entwürfe letztendlich hinauslaufen — in 20 Jahren 40 % Rentenversicherung zu zahlen hätten, ohne die Sicherheit zu haben, eines Tages selbst eine angemessene Rente zu beziehen. Ist denn schon vergessen worden, welche Leistungen in Ostdeutschland im Rahmen der Rentenanpassung erst letztes Jahr verfügt wurden? Rund 900 000 Witwen, die bis dato nur eine gekürzte Witwen- oder Versichertenrente als zweite Leistung bezogen, erhielten 1992 erstmals mit Einkommensanrechnung eine volle Rente. An etwa 150 000 erwerbsfähige Witwen in den neuen Bundesländern wurde überhaupt zum ersten Mal eine Witwenrente gezahlt.Nein, eine Grundrente muß abgelehnt werden. Nicht nur die schlechten Erfahrungen aus der DDR, als die Rente quasi als staatliches Almosen verteilt wurde, lehren uns dies. Die Maxime muß weiter heißen: Alterslohn für Lebensbeitragsleistung.
Die Leistungen der Rentenversicherung sowie ergänzende Leistungen der Sozialhilfe in Bedarfssituationen haben in der Vergangenheit und Gegenwart allen Stürmen getrotzt und sich bewährt. Dieses erfolgreiche System verdient auch in der Zukunft unser Vertrauen. Wir von der F.D.P. werden weiterhin daran festhalten.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Krause .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bekämpfung der Armut im eigenen Land, vor allem der Altersarmut, ist sicher ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Die soziale Sicherung im Alter wird in den
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Dr. Rudolf Karl Krause
nächsten 20 Jahren das zweitwichtigste Gesellschaftsproblem sein. Wenn alles schiefläuft, wird es für uns, wenn wir Rentner sind, das größte Problem sein.Im Dorf Dörsberg ist eine Bauernfamilie, die wenige hundert Mark Beiträge für die Altersversicherung zahlt. Aber die Bauernehepaare, die dort sind, bekommen monatlich mehrere zehntausend Mark Altersversorgung. Das ist ein Verhältnis, eine Horrorvision der Zukunft. In den neuen Ländern gibt es heute mehr Sozialleistungsempfänger aller Formen als Beitragszahler. Und warum? Weil die in dem eigenen Land produzierten Waren nicht mehr gekauft wurden, entweder durch Handelsboykott — das gab es — oder aber weil sie nicht konkurrenzfähig sind.Das heißt, wenn wir eine Sicherung der sozialen Sicherung im Alter wie auch der anderen sozialen Aufgaben haben wollen, müßten wir uns entscheiden, ob wir Billigprodukte weiterhin ungehemmt ins Land lassen. Zum Recht auf Arbeit gehört doch die Möglichkeit, daß doch die Produkte dieser Arbeit auch gekauft, auch bezahlt werden. Es ist sehr schön, wenn genügend Geld da ist, um es auszugeben. Es muß jedoch Aufgabe verantwortlicher Politik sein, dafür zu sorgen, daß dieses Geld auch hereinkommt.Gute Elemente dieser Vorschläge sind, daß wir Sozialsteuern auf allen Verbrauch in Deutschland für die Zukunft haben statt Sozialabgaben auf die Arbeit in Deutschland. Jeder, der ißt, trinkt, sich kleidet und wohnt, würde dann zur Alterssicherung durch den eigenen Verbrauch beitragen.Wenn es jedoch möglich ist, sich in immer stärkerem Maße durch Produkte aus dem Ausland zu ernähren, zu kleiden, Autos zu fahren, im Ausland Urlaub zu machen, und immer weniger Geld im eigenen Land bleibt, wo soll dann das Geld für die Alterssicherung, für die soziale Absicherung herkommen?Wir müssen darüber nachdenken: Schutzzölle statt Freihandel, Sozialsteuer statt Sozialabgaben, die durch Selbstdiskriminierung nur die deutsche Arbeit belasten.Lassen Sie mich noch zwei Dinge sagen, Frau Bläss. Keine Arbeitspflicht würde heißen, wir hätten ein Schlaraffenland Deutschland jetzt auch für Deutsche. Der einzig wirkliche Weg, Armut zu vermeiden und aus Armut herauszukommen, ist der Weg durch eigene Arbeit.Die Politik hat dafür zu sorgen, daß jeder, der arbeiten will, auch arbeiten kann und daß jeder, der anderen als Schmarotzer auf der Tasche liegen will, obwohl er gesund ist, auch arbeiten muß.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster hat der Kollege Volker Kauder das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute die Debatte an uns vorüberziehen lassen, müssen wir alle miteinander aufpassen, daß aus dieser Stunde, in der wir heute im Deutschen Bundestag diskutieren, keine falschen Signale in unsere Öffentlichkeit hinausgehen.
Wenn ich mir die Forderungen vergegenwärtige, die heute auch in den Anträgen gestellt werden, und an Ihren Beitrag, Frau Weiler, denke, den ich mir sehr aufmerksam angehört habe, dann bekomme ich den Eindruck, als ob wir in einer Situation lebten, in der wir enorme Zuwächse zu verteilen hätten, und nicht in einer Situation, in der wir alle miteinander darauf achten müssen, das Erreichte zu sichern.Deswegen kommt es ganz entscheidend darauf an, daß wir uns genau überlegen, in welcher Situation wir stehen. Forderungen nach der Grundsicherung wie sie auch heute wieder gestellt worden sind, sind nicht neu.Frau Kollegin Pohl hat darauf hingewiesen, daß sie uns in ständiger Regelmäßigkeit immer wieder beschäftigen. Vor fast einem Jahr haben wir über dieses Thema diskutiert, dies, Frau Kollegin Weiler, obwohl wir uns miteinander darauf verständigt haben, daß wir bis zum Jahr 1996 gemeinsam nach einem System suchen, das vor allem Frauen eine bessere Möglichkeit geben soll, eine eigenständige Rentenanwartschaft aufzubauen.Es macht deshalb wenig Sinn, wenn immer wieder solche Positionen aufgebaut werden, schon gar nicht in der Situation und mit der Intention, wie die PDS und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgelegt haben.Die Argumente, die wir damals gegen eine Grundsicherung gesagt haben, gelten auch noch heute. In beiden Anträgen wird versucht, den Eindruck zu erwecken, als ob wir keine ausreichende soziale Absicherung in unserem Land hätten. Wir haben eine abgestufte Sicherung in unserem Land mit Versicherungssystemen, der Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Bedarfssystemen, die Sozialleistungen in großem Umfang zur Verfügung stellen. Dieses System hat sich bewährt.Die Behauptung der PDS in ihrem Antrag, die Krise des bundesdeutschen Sozialleistungssystems sei schon lange vor dem Wegfall der Systemkonkurrenz entstanden, ist in zweierlei Hinsicht enorm bemerkenswert.Erstens. Diese Argumentation der PDS verdeutlicht, daß sie überhaupt nicht gewillt ist, einzusehen, daß es sich bei dem früheren System der DDR nicht um Systemkonkurrenz gehandelt hat, sondern um eine menschenverachtende Diktatur, die den Menschen die Freiheit genommen hat. Das ist eine ganz bemerkenswerte Formulierung, die verschleiern soll, was in 40 Jahren in der DDR passiert ist.
Zweitens ist dieser Satz in dem Antrag deswegen bemerkenswert, weil er grundfalsch ist. In diesem Satz zur Systemkonkurrenz kommt Zynismus zum Ausdruck, und er ist inhaltlich falsch. Dieses System hat den Rentnern in der ehemaligen DDR nur Almosen gegeben. Zum erstenmal haben die Rentner in den neuen Bundesländern nennenswerte Renten erhalten, als das bundesdeutsche Sozialversicherungssystem übergeleitet wurde. Und da wird von der PDS
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Volker Kauderdavon gesprochen, daß dies ein schlechtes System sei!
— Ja, ja, Frau Höll, die Wahrheit ist schwer zu ertragen. Da hilft aber alles nichts.Ein Blick in die osteuropäischen Nachbarstaaten zeigt, wie es in den neuen Bundesländern aussehen würde, wenn nach dem Zusammenbruch der Diktatur nicht unser bundesdeutsches Sozialsystem übergeleitet, sondern das sozialistische System von Ihnen fortgeführt worden wäre. Armut für alle wäre das Ergebnis gewesen. Wir sehen das in allen anderen Systemen, wo der Sozialismus zusammengebrochen ist und kein Sozialversicherungssystem, wie wir es haben, sofort übergeleitet werden konnte.
Meine Damen und Herren, wenn wir in den neuen Bundesländern unterwegs sind, dann hören wir natürlich auch Kritik. Aber ich habe in vielen Diskussionen noch von niemandem gehört, daß er das frühere Sozialversicherungssystem der DDR wiederhaben will und die Rentner das Sozialversicherungssystem, das es jetzt gibt, ablehnen. Von niemanden habe ich das bisher gehört.
Dieses bewährte System will die PDS mit einer Grundsicherung aus den Angeln heben.
Das System, das Sie einführen wollen, riecht auffällig nach altem Sozialismus. Alle, die sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, heißt es in Ihrem Antrag, erhalten Grundsicherung. Eine Überprüfung, ob sie aber tatsächlich arbeiten wollen, findet nicht statt. Dies hängt damit zusammen, daß man von Arbeit in einer Form spricht, wie man sie sich eigentlich gar nicht vorstellen kann. Die Arbeit wird vor allem als ein unter kapitalistischen Bedingungen stattfindendes Zwangsverhältnis dargestellt, das inbesondere Mühsal und nicht persönliche Befriedigung bedeutet. Weil man dies so einschätzt, will man die Menschen natürlich möglichst von der Arbeit befreien. Sie schreiben:Für die Entscheidungsfreiheit, zeitweilig nicht oder überhaupt nicht für Geld zu arbeiten, brauchen die Menschen die soziale Grundsicherung als Rechtsanspruch. Damit Arbeit wirklich ein Recht wird, darf sie weder Pflicht noch Zwang sein.Wunderbare Sätze, die in diesem Antrag stehen.Wer soll dieses ganze System bezahlen? Eine Grundsicherung von 1 200, 1 300 DM wird von der PDS gefordert. Ich sage Ihnen, wer dieses System bezahlen soll: Diejenigen, die Mühsal auf sich laden, sollen jene finanzieren, die keine Mühsal auf sich laden wollen. Dies ist ein grundverkehrtes System.
Mit genau diesem System haben Sie den Sozialismus an die Wand gefahren, nur leider 40 Jahre zu spät, weil 40 Jahre lang die Menschen unter diesem System leiden mußten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesen Aussagen zur Arbeit zeigt die PDS ihr wahres Gesicht. Sie haben mit falschen Parolen und mit Gewalt die Menschen schon einmal in die Irre geführt und beherrscht. Ein zweites Mal wird Ihnen dies nicht gelingen.Sozialer Wohlstand, meine Damen und Herren von der PDS — dies werden Sie noch lernen müssen —, muß erarbeitet werden. Er fällt nicht vom Himmel. Sozialistische Zauberversprechungen waren nichts anderes als großangelegte Täuschungsmanöver. Nein, was wir nicht erarbeiten, können wir auch nicht verteilen. Deshalb ist es so wichtig, daß wir jetzt alle miteinander dieses großangelegte Programm zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Bundesrepublik Deutschland durchhalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich muß Ihnen sagen: Es ist nicht besonders verantwortungsbewußt — ich formuliere dies sehr vorsichtig —, auf der einen Seite ständig neue Leistungen zu verlangen und nicht zu sagen, wie sie finanziert werden können, und auf der anderen Seite zu beklagen, daß Arbeit immer teurer wird und wir deswegen immer mehr Arbeitsplätze exportieren. Wir wollen Produkte exportieren und keine Arbeitsplätze. Deswegen müssen wir den Wirtschaftsstandort Deutschland sichern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die zur Zeit wichtigste Frage ist deshalb: Wie sichern wir die Arbeitsplätze in unserer Bundesrepublik Deutschland? Darüber sollten wir gemeinsam reden.
— Lieber Kollege Andres, Sie wissen ganz genau, welche Diskussionen wir miteinander auch im Vorfeld von Landtagswahlen geführt haben. Die Menschen haben die Konfrontation in einer existentiellen Frage satt; sie wollen, daß wir miteinander zu Ergebnissen kommen.
Da nützt es gar nichts, wenn Sie immer dann, wenn wir darauf verweisen, daß die Produktion zu teuer ist, sagen, wir sollten nicht in die Tarifhoheit eingreifen, und dann, wenn wir bei den politischen Dingen etwas lösen wollen, nämlich die Pflegeversicherung so zu finanzieren, daß Sie unsere Wirtschaft nicht belastet, sagen, das sei Sache der Tarifpartner. Mit einer solchen gespaltenen Politik können wir unsere Wirtschaft nicht voranbringen. Ich fordere Sie dringend auf: Unterlassen Sie in diesen Fragen der Sicherung
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15524 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. September 1993
Volker Kauderder Arbeitsplätze unserer Bevölkerung die Konfrontation;
denn dieser Schuß geht für Sie nicht gut aus, aber auch für unsere Demokratie geht dieser Schuß nicht gut aus.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Aber selbstverständlich.
Wunderbar. Bitte, Frau Kollegin Weiler.
Verehrter Kollege, ist Ihnen in Erinnerung, daß ich in meinen Ausführungen nicht nur Maßnahmen gefordert habe, die finanzielle Relevanz haben, sondern auch eine Reihe von Rahmenbedingungen, die erst einmal keine finanziellen Auswirkungen haben, wie eine andere Verteilung der Arbeit, wie eine soziale Absicherung von Beschäftigungsverhältnissen und ähnliches?
Frau Kollegin Weiler, das, was Sie heute gesagt haben, ist zum Teil durchaus ein Schritt auf dem richtigen Weg. Aber das, was die Kollegen da eingewandt haben, zeigt, daß sie noch gar nicht soweit sind. Ich denke z. B. an den Wirtschaftsminister in Baden-Württemberg, den Dieter Spöri.
Seitdem der Dieter Spöri, SPD-Mitglied, Wirtschaftsminister ist und unmittelbar in der Verantwortung steht, weiß er auf einmal, worauf es ankommt.
Er hat nur das eine Pech — Frau Hämmerle, das wissen Sie auch —: Er hat noch die SPD Baden-Württembergs am Hals, und die hat ihn auf dem letzten Landesparteitag mit dem schlechtesten Wahlergebnis abgestraft. Ein paar in der SPD wissen, wo es langgeht; aber die Partei folgt ihnen nicht. Das ist sowohl in BadenWürttemberg als auch hier in Bonn ein Grundproblem.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der Frage der Arbeitsplatzsicherung spielt die wahrscheinlich zweitwichtigste Frage in unserem Land eine große Rolle: Geht es sozial gerecht zu?
Diese Frage hat uns zu einer ganz schwierigen Diskussion im Zusammenhang mit der Asyldebatte geführt. Wenn wir heute sehen, daß die Asylbewerberzahlen halbiert wurden, dann erkennen wir, was wir an Geld hinausgeworfen haben für Leute, die keinen Anspruch hatten, hier zu bleiben, und wie hier in großem Umfang Mißbrauch getrieben wurde.
Weil das so ist, frage ich mich: Ist das gerecht, was hier von der Grundsicherung verlangt wird, nämlich 1 200 DM ohne Beitrag? Für eine Rente von 1 000 DM im Monat muß jemand 17 Jahre lang einen Durchschnittsverdienst erarbeiten. Wer da eine Grundsicherung von 1 200 DM ohne Beitrag verlangt, verhöhnt diejenigen, die arbeiten und die versuchen, eigenverantwortlich durchs Leben zu kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir von der Union, wir von der Koalition sehen das Problem, daß es noch immer Altersarmut, und verschämte Armut gibt. Deswegen haben wir darauf hingewiesen, daß Rente und Sozialhilfe besser zusammenarbeiten müssen. Dazu werden wir auch Vorschläge erarbeiten.
— Ich will Ihnen eines sagen, Frau Kollegin: Ihre Vorgängerpartei und Sie, die Sie in dieser Partei arbeiten, haben so viel Unglück über die Menschen gebracht, daß es höchste Zeit wird, daß Sie einmal ruhig sein und darüber nachdenken sollten!
Wir wollen — das haben wir gesagt — den Aufbau einer eigenständigen Altersanwartschaft für Frauen weiter ausbauen, ebenso, vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befürwortet, die Kindererziehungszeiten und die Pflegezeiten. Aber wir wollen eines nicht, was die Grundsicherung nach dem System vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bringen würde: Unterhaltsverpflichtungen sollen nicht mehr gelten; auch reiche Kinder sollen ihre armen Eltern nicht mehr unterstützen. Dies ist ein Anschlag auf den Familienverband. Das lassen wir nicht zu. Deswegen sagen wir: Diejenigen, die Geld haben, sollen ihre Eltern unterstützen. Deswegen ist das bedarfsorientierte, einkommensabhängige System der Sozialhilfe genau das Richtige.Ich habe noch ein wenig Zeit und möchte deshalb auf einen weiteren Punkt eingehen. Alles das, was heute für die Grundsicherung gefordert worden ist, geht von dem Motto aus: Wir haben eine Kuh, die einfach soundso viel Milch geben muß; wie sie gefüttert wird und was sie fressen soll, ist uns egal.Aber es geht noch viel weiter. Da wird nach dem Motto gearbeitet: 155 Milliarden DM kostet dieses System. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in der nächsten Legislaturperiode eine ganz andere zentrale Frage miteinander diskutieren müssen: Leisten wir uns, die aktive Generation und auch die ältere Generalion, zuviel auf Kosten der nachwachsenden
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Volker KauderGeneration? Wie soll die nachwachsende Generation all das, was wir ihr aufbürden, finanzieren?
Deshalb wehre ich mich dagegen, daß wir immer nur darüber reden, wie es uns noch besser gehen kann. Wir müssen darüber reden, wie wir Zukunftschancen für unsere junge Generation erhalten.Herzlichen Dank.
— Ich empfehle, das an anderer Stelle weiterzudiskutieren.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5285 und 12/5044 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dies scheint der Fall zu sein. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Oktober 1993, 9 Uhr ein.
Ich wünsche einen guten Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.