Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.Ich komme zunächst zu den amtlichen Verlautbarungen. Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53a des Grundgesetzes scheidet der frühere Kollege Franz Müntefering als stellvertretendes Mitglied aus. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger den Kollegen Günter Verheugen vor. Sind Sie damit einverstanden?
— Ich höre den Widerspruch aus der falschen Richtung. —
Damit ist der Abgeordnete Günter Verheugen als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß bestimmt.Aus dem Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt scheidet der Kollege Bernhard Jagoda als stellvertretendes Mitglied aus. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Erika Steinbach-Hermann vor. Sind Sie auch damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann als stellvertretendes Mitglied in den Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt gewählt.Gemäß § 2 a des Bundesarchivgesetzes ist eine „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR" beim Bundesarchiv einzurichten. Nach einem Erlaß des Bundesministers des Innern ist als Organ dieser Stiftung ein Kuratorium vorgesehen, dem fünf Vertreter des Deutschen Bundestages angehören. Die Fraktion der CDU/CSU benennt als ordentliche Mitglieder die Abgeordneten Reiner Krziskewitz und Dr. Oscar Schneider sowie als stellvertretende Mitglieder die Abgeordneten Udo Haschke und Hartmut Koschyk. Die Fraktion der SPD benennt als ordentliche Mitglieder die Abgeordneten Gerd Wartenberg und Markus Meckel sowie als stellvertretende Mitglieder Professor Dr. Hermann Weber und Dr. Bernd Faulenbach, die dem Deutschen Bundestag nicht angehören, deren Berufung aber nach den Richtlinien möglich ist. Die Fraktion der F.D.P. benennt als ordentliches Mitglied den Abgeordneten Dr. Jürgen Schmieder und als stellvertretendes Mitglied den Abgeordneten Wolfgang Mischnick. Ich gehe davon aus, daß Sie mit diesen Benennungen einverstanden sind.Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 5 abzusetzen. Des weiteren ist interfraktionell vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Arbeitsmarktlage und ihren Auswirkungen auf die Bundesanstalt für Arbeit2. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Egon Susset, Dr. Norbert Rieder, Peter Harry Carstensen , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. zum Walfangzu dem Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz, Michael Müller , Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbot des Walfangs international und in der EG absichern — Drucksachen 12/4761, 12/4510, 12/4823 —Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Rentenüberleitung (Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz — RÜ-ErgG) — Drucksache 12/4810 —Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Dionys Jobst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Höhere Attraktivität des Fahrradverkehrs — Drucksache 12/4816 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Bevor ich in der Tagesordnung weiter fortfahre, möchte ich zunächst auf der Ehrentribüne ganz herzlich den Präsidenten der Volksversammlung der Republik Ägypten, Herrn Professor Dr. Ahmad Fathi Sorour, mit seiner Delegation begrüßen.
Es ist mir eine besondere Freude, Sie hier heutemorgen begrüßen zu können. Wir möchten besondersIhre großen Anstrengungen für ökonomische Ref or-
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13174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthmen in Ihrem Land und Ihre Bemühungen um Frieden im Nahen Osten würdigen. Wir wünschen Ihnen für die Gespräche hier und nachfolgend in Rheinland-Pfalz einen guten Verlauf. Wir wünschen uns gefestigte und sich weiter entwickelnde parlamentarische Beziehungen mit Ihrer Volksversammlung.
Ich bin gerade darüber informiert worden, daß der Geschäftsordnungsantrag auf Drucksache 12/4818 zurückgenommen ist.Ich komme zum Antrag auf Drucksache 12/4529. Die Abgeordnete Ingrid Köppe von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat fristgemäß beantragt, die Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags zur Aufhebung des Verbots öffentlicher Versammlungen im Regierungsviertel während der Debatte über das Asylrecht zu erweitern. Der Antrag soll heute in verbundener Beratung mit Tagesordnungspunkt 14 behandelt werden. Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? — Frau Köppe, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die demnächst hier stattfindende Schlußabstimmung zur Änderung des Asylgrundrechts ist von so großer Bedeutung, daß sich sehr viele Menschen, auch aus sehr entlegenen Städten und Dörfern, vorgenommen haben, an diesem Tag hier bei uns sein zu wollen.
Sie wollen hier vor dem Bundestag demonstrieren und protestieren.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will, daß diese Proteste nicht verbannt werden, sondern in unmittelbarer Nähe des Bundestages stattfinden können.
Der Trägerkreis für diese geplanten Aktionen hat beim Innenminister eine Ausnahmeregelung beantragt, welche leider abgelehnt wurde.
Unsere Gruppe hat bereits am 10. März einen Antrag eingebracht, mit dem wir das Innenministerium und die Präsidentin des Deutschen Bundestages auffordern wollen, für diesen Tag, an dem die Schlußabstimmung über die Änderung des Asylgrundrechts stattfindet, gemäß § 3 des Bannmeilengesetzes das Verbot von öffentlichen Versammlungen innerhalb des Bannkreises auszusetzen. Das ist möglich. Dazu können wir alle uns hier entschließen.
Heute abend wird als Tagesordnungspunkt 14 unser ebenfalls am 10. März eingebrachter Gesetzentwurf zur Abschaffung des Bannmeilengesetzes hier beraten und an die Ausschüsse überwiesen. Wir beantragen, daß gemeinsam mit unserem Gesetzentwurf, also in verbundener Debatte, auch unser Antrag zur Aufhebung des Versammlungsverbots an dem
Tag der Schlußabstimmung über die Änderung des Asylgrundrechts beraten und abgestimmt wird.
Wir haben die Erfahrung gemacht, daß die Mehrheit in diesem Hause in der Vergangenheit durchaus gewillt war, auch sehr kurzfristig ihre eigenen Anträge auf die Tagesordnung zu setzen. Ich erinnere Sie u. a. daran, daß ein Antrag zur Verlängerung der Kronzeugenregelung innerhalb von zwei Tagen auf die Tagesordnung kam.
Ich denke, daß die Dringlichkeit, sich mit unserem vorliegenden Antrag zu beschäftigen, gegeben ist und daß es wenig Sinn machen würde, daß wir uns lächerlich machen würden, wenn wir diesen Antrag in irgendwelchen Gremien schmoren lassen und uns nicht mit ihm beschäftigen würden, ihn vielleicht erst nach der Debatte über die Änderung des Asylgrundrechts beraten würden.
Ich bitte Sie um Zustimmung zur Aufsetzung unseres Antrages für heute abend.
Danke.
Als nächster spricht Herr Dr. Rüttgers.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben soeben mit etwas dürren Worten mitgeteilt, daß die SPD-Fraktion ihren groß angekündigten Antrag, die Tagesordnung um eine Debatte zur Tarifautonomie zu erweitern, zurückgezogen hat. Es ging ja bei dem Antrag darum, daß der Deutsche Bundestag eine Seite der Tarifparteien im augenblicklichen Streit unterstützen sollte. Ich will hier nur sagen: Angesichts von zehn Anwesenden aus der SPD-Fraktion kann ich verstehen, daß man diesen Versuch erst gar nicht unternommen hat. Es ist auch gut so.
Lassen Sie mich einige wenige Bemerkungen zu dem machen, was Frau Köppe gesagt und hier vorgelegt hat. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist, finde ich, schon ein tolles Stück: Da kündigen Autonome und Chaoten gewalttätige Angriffe auf die Volksvertretung an, da wird bekanntgegeben, man wolle an dem Tag, an dem die Volksvertretung über die Änderung des Asylrechts abstimmt, vor Gewalt gegen Menschen und Sachen nicht zurückschrecken, und da legt Frau Köppe einen Antrag vor, der zumindest im Ergebnis bewirken soll, daß ihnen auch noch geholfen wird.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand, der das Recht der Demokratie, der den Parlamentarismus ernst nimmt, einem solchen Antrag zustimmen kann, ja überhaupt zustimmen kann, einen solchen Antrag auf die Tagesordnung eines frei gewählten Parlaments zu setzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13175
Dr. Jürgen RüttgersWenn es eine Lehre aus der Geschichte gibt, dann ist es die: Wenn das Parlament vor der Gewalt der Straße zurückweicht, dann ist die Demokratie in Gefahr. Deshalb lehnen wir es ab, diesen Punkt hier im Deutschen Bundestag zu behandeln.
Herr Abgeordneter Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß zunächst einmal für meine Fraktion zu dem Punkt „Zurückziehung des Antrags, den Antrag zur Tarifautonomie auf die Tagesordnung zu setzen" erklären: Ich als Geschäftsführer übernehme die Verantwortung dafür, daß es bei meiner Fraktion offenbar nicht gelungen ist zu vermitteln — das kann jedem passieren —, daß heute morgen eine solche Geschäftsordnungsdebatte stattfindet.
Ich bleibe aber eindeutig dabei, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, daß dieses Thema „Sicherung der Tarifautonomie" schon auf die Tagesordnung des Bundestages gehört hätte angesichts der Situation, die wir jetzt in Ostdeutschland haben. Wie wir inhaltlich dazu stehen, hätten wir diskutieren können; die Gelegenheit dazu werden wir mit Sicherheit noch haben.
Nun zu dem Antrag der Kollegin Köppe:
Ich habe überhaupt keine Probleme und auch die SPD-Bundestagsfraktion hat keine Probleme damit, diesen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen und zu debattieren. Es ist das Recht eines jeden Abgeordneten, finde ich, welches Thema auch immer hier im Plenum diskutieren zu wollen; dann müssen eben die Mehrheiten dafür dasein.
Ich sage allerdings: Wenn wir diesen Antrag diskutierten, Frau Kollegin Köppe, würde die SPD-Fraktion ihm entschieden widersprechen — entschieden widersprechen!
Auch ich möchte hier meiner Besorgnis darüber Ausdruck geben, wie im Vorfeld der geplanten Asylentscheidung dieses Hauses am 13. Mai versucht wird, auf die Entscheidungsfindung von Abgeordneten Einfluß zu nehmen. Es ist das Recht eines jeden Bürgers, sich an uns zu wenden, uns seine persönliche Auffassung zu diesem Thema mitzuteilen und an uns zu appellieren, doch seine Argumente zu überlegen. Dies ist ein gutes Recht, und wir freuen uns auch darüber, wenn sich jemand an uns wendet. Es ist aber nicht das Recht eines Bürgers oder welcher Gruppe auch immer in diesem Land, Abgeordneten für ein bestimmtes Verhalten eine Strafe anzudrohen. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen, und das werden wir uns auch nicht gefallen lassen.
Ich appelliere an alle diejenigen, die am 13. Mai hier in Bonn friedlich demonstrieren wollen und auch friedlich demonstrieren werden, die friedlich für die Ablehnung der hier voraussichtlich kommenden Entscheidung zum Asyl demonstrieren wollen — ich betone noch einmal ausdrücklich: ich habe überhaupt nichts dagegen, daß oben an der B 9 ein Gottesdienst stattfindet —, auf diejenigen einzuwirken, die mit Gewalt gegen Abgeordnete oder gegen deren Familien vorgehen wollen, und sich davon eindeutig zu distanzieren, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter Lüder.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion lehnt es ab, den Antrag heute hier auf die Tagesordnung setzen zu lassen, und zwar aus folgenden Gründen:Erstens. Wir werden heute nachmittag die Generaldebatte darüber beginnen, wie wir es überhaupt mit der Bannmeile halten wollen. Es ist das gute Recht, darüber zu diskutieren, auch in den Ausschüssen weiterzudiskutieren. Wir werden dem Antrag in der Sache aber nicht folgen können, weil für uns die Bannmeile auch zur Demokratie gehört. Es ist ein Stück parlamentarischer Kultur, daß wir hier reden dürfen.
Wenn wir die Generaldebatte heute erst eröffnen, dann wollen wir nicht in einem solchen aktuellen Fall vorweg schon einmal praktizieren, was einige in der Generaldebatte erst erreichen wollen.
— Wir sind doch in der Geschäftsordnungsdebatte, Herr Kollege Conradi!
Zweiter Punkt. Wir werden diesem Antrag auch aus folgendem Grund nicht zustimmen: Sprache, liebe Frau Köppe, kann ja so verräterisch sein. Wenn Sie hier die Worte wählen „Einige wollen hier bei uns sein. ",
so ist dieses eine für mich nicht mehr akzeptable Verniedlichung dessen, was bereits an Androhungen gekommen ist.
Hier geht es nicht darum, hier bei uns zu sein, sondern hier geht es darum, daß wir in diesem Hause
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13176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Wolfgang Lüderdie Meinung finden können, wozu wir gewählt sind. Ich sage dies ganz bewußt als einer, der — Frau Köppe, Sie wissen das — nach der bisherigen Gesetzesberatung gegen die Verfassungsänderung stimmen wird. Aber ich kämpfe dafür, daß jeder, auch der, der anderer Meinung ist, gerade der, der anderer Meinung ist, ohne Druck von außen, nur unter dem Druck des Sacharguments hier entscheiden kann.
Frau Abgeordnete Lederer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gruppe PDS/ Linke Liste unterstützt natürlich den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Ich muß sagen, Herr Kollege Rüttgers und Herr Kollege Struck: Es ist wirklich ein starkes Stück,
sich einer Debatte zu verweigern — wohlgemerkt: einer Debatte zu verweigern! Warum sind Sie, wenn wir hier grundsätzlich über das Bannmeilengesetz reden, nicht einmal bereit, mit über diesen Antrag zu diskutieren? Das empfinde ich als ein demokratisches Armutszeugnis.
Worum geht es? Es geht darum, daß an diesem Tag, an dem hier eine gravierende Zäsur in der demokratischen Ordnung dieses Landes stattfinden soll, in der praktisch das Asylrecht abgeschafft werden soll, massenhaft Menschen ihren Protest gegen diese Entwicklung zum Ausdruck bringen wollen und daß sie das auch denen gegenüber zum Ausdruck bringen wollen, die diese Entscheidung hier zu verantworten haben.
Es geht exakt darum, an diesem Tag die Regelungen des Bannmeilengesetzes außer Kraft zu setzen, d. h. die Bannmeile aufzuheben.
Wenn Sie hier nicht einmal bereit sind, darüber zu diskutieren, wenn Sie sich der Diskussion darüber verweigern, dann kann ich nur sagen: Offenkundig ist Ihnen selbst mulmig angesichts dessen, was Sie da an diesem Tag entscheiden wollen. Sie wollen die Gegenstimmen, die es hierzu gibt — das sind nicht nur einige wenige, sondern das zieht sich durch das ganze Land —, einfach nicht zur Kenntnis nehmen; Sie wollen sich den Argumenten derer, die nach Bonn kommen wollen, schlicht verschließen. Exakt das ist der Fakt.
Die Differenz zwischen CDU und SPD ist hier minimal. Sie besteht darin, daß die SPD angeblich gern darüber diskutiert oder zumindest bereit wäre, darüber zu diskutieren. Dafür eingesetzt, daß dieser Antrag heute abend mitdebattiert wird, hat sie sich aber an keiner Stelle. Insofern ist das auch in dieser Frage im Grunde genommen wieder einmal eine Art große Koalition.
Wir sind dafür, daß dieser Antrag mitdebattiert wird. Sie können ja dann Ihre Argumente hier gern zum Ausdruck bringen.
Ich finde es wirklich katastrophal, daß Sie nicht einmal bereit sind, über diesen Antrag zu debattieren
und sich die Argumente auszutauschen.
Wir unterstützen den Antrag.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der. Aufsetzungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei einer Enthaltung abgelehnt.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. März 1981 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko über Kindergeld— Drucksache 12/4691 —Überweisungsvorschlag :Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Auswärtiger AusschußAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und Jugendb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. September 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tunesischen Republik über Kindergeld— Drucksache 12/4692 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Auswärtiger AusschußAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Juli 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Litauen über die Seeschiffahrt — Drucksache 12/4690 —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13177
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr Auswärtiger Ausschußd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeEine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik — Alternativen zum „Solidarpakt" der Bundesregierung— Drucksache 12/4671 —Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und Wissenschaft EG-AusschußAusschuß Treuhandanstalte) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft „Ehemaliges Stasi- und Ausbildungsgelände in Kallinchen/Schöneiche "— Drucksache 12/4543 —Überwei sungsvorschlag: Haushaltsausschußf) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung einer Teilfläche der ehemaligen WGTKaserne Herrenkrug in Magdeburg— Drucksache 12/4642 —Überweisungsvorschl ag: Haushaltsausschußg) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen WGT-Kaserne Turmschanzenstraße Nord und Süd in Magdeburg— Drucksache 12/4654 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschußh) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen bebauten Liegenschaft Hegelstraße 42 in Magdeburg— Drucksache 12/4715 —Überweisung: Haushaltsausschußi) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenZustimmung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Erfurt-Melchendorf
— Drucksache 12/4714 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschußj) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der ehemaligen Rumbeke-Kaserne in Soest, Lübecker Ring— Drucksache 12/4731 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschußk) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Grundstücke in Frankfurt/ Main— Drucksache 12/4760 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß1) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEinwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 12/4753 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschußm) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der FinanzenEntlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1991 — Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes — Drucksache 12/4764 —Überweisung svorschlag: HaushaltsausschußEine Debatte ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 4 a:Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes— Drucksache 12/4616 —
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13178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthBeschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/4822 —Berichterstattung:Abgeordnete Wolfgang ZeitlmannFranz Heinrich Krey Günter GrafDr. Burkhard HirschIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei wenigen Enthaltungen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei vier Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 b:Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Präsidenten des BundesrechnungshofesRechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 1991 — Einzelplan 20 —— Drucksachen 12/3097, 12/4633 — Berichterstattung:Abgeordnete Rudolf Purps Hans-Gerd StrubeIna AlbowitzWer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 c:Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungEinwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 12 Titel 616 31 — Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit— Drucksachen 12/4490, 12/4634 — Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Dr. Gero PfennigIna AlbowitzWer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei zwei Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 d:Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses
Übersicht 9über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht— Drucksache 12/4637 —Berichterstattung: Abgeordneter Horst EylmannWer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4 e:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Kommission mit dem Titel: „Europa 2000: Ausblick auf die Entwicklung des Gemeinschaftsraumes"— Drucksachen 12/3182 Nr. 69, 12/4640 —Berichterstattung:Abgeordnete Georg BrunnhuberDr. Ulrich JanzenWer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei vier Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkte 4 f bis 4 i:f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 96 zu Petitionen— Drucksache 12/4770 —g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 97 zu Petitionen— Drucksache 12/4771 —h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 98 zu Petitionen — Drucksache 12/4772 —i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 99 zu Petitionen — Drucksache 12/4773 —Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei zwei Enthaltungen angenommen.Bevor ich zum Tagesordnungspunkt 6 komme, lassen Sie mich ganz kurz auf der Tribüne die Mitarbeiter des amerikanischen Kongresses begrüßen. Denn hier wird heute in der Bundesrepublik beim Bundestag das zehnjährige Bestehen dieses Erfahrungsaustausches auf der Verwaltungsebene begangen.
Ich denke, diese Tradition hat sich bewährt und sollte fortgesetzt werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13179
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthIch rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Hans Martin Bury, Wolfgang Roth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGegen wachsende Macht der Banken und Versicherungen und für mehr Wettbewerb bei Finanzdienstleistungen— Drucksache 12/2700 —Überweisungsvorschlag : Finanzausschuß
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht zu diesem Tagesordnungspunkt der Abgeordnete Dr. Uwe Jens.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe leider das Gefühl, wenn die Bundesregierung so weitermacht wie bisher, dann hat sie in nicht allzu ferner Zeit Wirtschaft und auch Wirtschaftsstandort der Bundesrepublik Deutschland ziemlich ruiniert. Vor wenigen Tagen ist im „Wall Street Journal Report" ein Bericht über die Industrie und über die Wirtschaftsbedingungen in der Welt insgesamt erschienen. Dort wurde festgehalten, daß man investieren darf, überall, nur nicht in Deutschland. Die Überschrift lautete: „Anywhere but Germany". Das macht mir große Sorgen.Es muß aus meiner Sicht Schluß sein mit dem dauernden Gerede über die miserablen, schlechten Investitionsbedingungen in diesem Land.Von den Vertretern der Regierungskoalition wird viel von der Notwendigkeit der Deregulierung gesprochen. Der Antrag, den wir heute hier diskutieren, könnte aus meiner Sicht den größten Beitrag zur Deregulierung in der Wirtschaft leisten, einen größeren, als man ihn sich sonst überhaupt vorstellen kann.Es geht bei diesem Antrag darum, Bindungen zwischen Banken und der Industrie einzuschränken. Es geht darum, Marktkräfte wieder freizusetzen. Es geht darum, mehr Risikobereitschaft in der Wirtschaft zu fördern. Und es geht darum, die Dynamik unseres marktwirtschaftlichen Systems insgesamt zu verbessern.An dem Abstimmungsverhalten in der zweiten und dritten Lesung — heute ist die erste — zu diesem Antrag wird sich auch zeigen, ob die CDU/CSU immer nur von Deregulierung spricht oder ob sie wirklich bereit ist, etwas dafür zu tun.Die Bankenvertreter in den Aufsichtsräten sorgen aus meiner Sicht dafür, daß nur noch in Anlagen investiert wird, wenn die Rendite stimmt. Und die Rendite stimmt nur, wenn die Investitionsrechnung mindestens eine Rentabilität ergibt, die auch bei Finanzanlagen auf dem Kapitalmarkt erreicht werden kann.Wirklich unternehmerisches Verhalten ist der deutschen Großwirtschaft abhanden gekommen. Die Risikobereitschaft der deutschen Industrie ist gering und sinkt immer mehr. Vor allem die personellen und kapitalmäßigen Verflechtungen zwischen Banken und Versicherungen einerseits und der deutschen Industrie andererseits haben sich wie Mehltau auf die deutsche Wirtschaft gelegt, sind hauptverantwortlich für die lahmende Wirtschaftsentwicklung in unserem Lande.
— Sie haben wenig Ahnung, Herr Fell; das muß ich wirklich sagen. Sie sollten besser meinen Ausführungen zuhören, und Sie sollten sie ernst nehmen.
Der Unmut über die Macht der Banken und Versicherungen wird auch bei den Verbrauchern immer größer. 1977 gab eine vierköpfige Familie mit mittlerem Einkommen nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes gerade 22 DM für Finanzdienstleistungen aus. 1992 hat sich der Betrag verfünffacht und summiert sich auf 122 DM.
Die Banken behaupten gerne, daß sie die Kosten richtig zurechnen müssen. Mit dieser Begründung werden dann gerne die Kontoführungsgebühren erhöht, obgleich immer mehr Menschen ihr Geld am Automaten abheben. Früher nahmen die Banken allerdings bei der Kontoführung ein Minus in Kauf. Da haben sie zugesetzt. Dafür hielt man sich an der Differenz zwischen Soll- und Habenzinsen schadlos. Jetzt erhöht man die Kontoführungsgebühren nahezu laufend mit dem Hinweis auf Kostensteigerungen, aber die Kluft zwischen Soll- und Habenzinsen wird bei den Banken nicht etwa kleiner, sondern langfristig eher größer.Natürlich gibt es auch so etwas wie Wettbewerb zwischen den Banken und Kreditinstituten und zwischen den Versicherungen. Durch Europa ist der Markt größer geworden, und das ist auch gut so. Der Wettbewerb bezieht sich allerdings nicht so sehr auf Otto Normalverbraucher. Wettbewerb gibt es im Bankensektor vor allem um die lukrativen Großkunden und Großkredite. Kleine Kunden und mittelständische Unternehmen haben es nach wie vor schwer, ihre Bank zu wechseln. Sie sind häufig auf Gedeih und Verderb an eine Bank gekoppelt. Insofern haben Banken und auch Versicherungen erhebliche Macht. Diese Macht wird durch den rudimentären Wettbewerb nicht begrenzt. Der Unmut über diese Macht wird nicht nur bei den Verbrauchern, sondern auch in der Wirtschaft, vor allem bei den kleinen und mittleren Unternehmen, immer größer.Ob die Banken, wie Professor Albach vor kurzem einmal behauptet hat, sich wie eine Spinne in das Netz der Wirtschaft gesetzt haben, oder, wie Walter Seipp, Aufsichtsratsvorsitzender der Commerzbank, meint, ob die Banken die Spinnen selbst sind und die Netze gesponnen haben, ist ziemlich egal.
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13180 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Dr. Uwe JensWolfgang Kartte, renommierter ehemaliger Präsident des Bundeskartellamtes, hat jedenfalls von einem Spinnennetz finanzieller und personeller Beteiligung gesprochen.
Der Würzburger Ordinarius Eckhard Wenger meint, wer oben ist, möchte nicht mehr Wettbewerb erleben, er möchte dadurch nicht wegkonkurriert werden. Unsere Wirtschaftsordnung gestattet unseren Spitzenkräften die Errichtung neofeudalistischer Strukturen. Das, meine Damen und Herren, muß dringend geändert werden.
Dem Professor Wenger aus Würzburg geht es vor allem um mehr Rechte für Kleinaktionäre. Durch wechselseitige Verflechtungen und Begünstigungswirtschaft bleiben die Interessen der Kleinaktionäre auf der Strecke. Die Rendite der vernetzten Wirtschaft mit den Banken ist gering. Die Kleinaktionäre werden daran gehindert, ihr Geld aus den Konzernen abzuziehen. Nachlässige Aufsichtsräte — von denen gibt es sehr viele — verschlimmern die Lage für die kleinen Geldanleger. Deshalb kommt auch der US-Anlageberater Josef Lufkin, der in den Vereinigten Staaten relativ bekannt ist, zu dem Ergebnis: Wenn sich in Deutschland nicht bald grundlegend die Art und Weise ändert, wie Aktionäre behandelt werden, wird das Kapital in andere Länder abwandern.Es gibt also viele Gründe, warum Kapital abwandert. Es ist keinesfalls immer so, daß die Unternehmensbesteuerung, wie die CDU/CSU lautstark behauptet, der alleinige Grund ist.
Um alle diese Mängel zu verringern, halten wir vier Punkte entsprechend unserem Antrag 12/2700 für dringend erforderlich. Ich hoffe, Herr Grünbeck, Sie werden diesen Antrag unterstützen. Mein Kollege Martin Bury wird ihn nachher noch ausführlich erläutern.
Notwendig ist auf alle Fälle — erstens —, daß der Einfluß der Banken und Versicherungen auf die Industrie — davon hatte ich gesprochen — zurückgedrängt wird. Ihr Anteilsbesitz sollte — mit Ausnahmen —, wie es die Monopolkommission vorgeschlagen hat, auf 5 % begrenzt werden.
Das würde auch die Beteiligung von Haushalten und Privatpersonen am Produktivvermögen attraktiver machen. Das ist vor allem ein wichtiger Schritt, um die Vermachtung unserer Wirtschaft zu vermindern.Zweitens. Das Depotstimmrecht, wie es zur Zeit ausgestattet ist, steigert die Macht der Kapitalsammelstellen auf die Hauptversammlung. Die jetzige Ausgestaltung des Depotstimmrechts hat sich nicht bewährt. Deshalb ist es einzuschränken und neu zu gestalten, um auch den Kleinaktionären mehr Rechte zu geben.Drittens. Wenn ein Bankenvertreter zehn Aufsichtsratsmandate in Industrieunternehmen oder Versicherungen hat, ist er mit seinen Verpflichtungen hoffnungslos überfordert. Die Fehlentscheidungen der Aufsichtsräte sind in den letzten Jahren immer deutlicher geworden. Vor allem ist es deshalb notwendig, die Anzahl der Aufsichtsratsmandate auf maximal fünf zu begrenzen und sogenannte Überkreuzverflechtungen ein für allemal zu unterbinden.Viertens. Eine Sonderregelung im Rahmen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung in § 102 für Banken und Versicherungen kann es in Zukunft nicht mehr geben. Auch daran, daß es diese Regelung noch gibt, erkennt man den Einfluß der Banken und Versicherungen auf den Gesetzgeber und auf diese Regierung. Diese Sonderregelung ist überflüssig. Wir Sozialdemokraten werden dafür sorgen, daß sie endlich abgeschafft wird.Die Verringerungen der Finanzmacht und die Entflechtung der Deutschland AG sind von elementarer Bedeutung für die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung und den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland. Wer wie wir Sozialdemokraten mehr Freiheit in unserer Gesellschaft verwirklichen will, darf nicht auf die Macht des Staates und der Bürokratie alleine schauen, sondern der muß auch die Macht der Wirtschaft, insbesondere von Banken und Versicherungen, im Auge behalten. An den Mißständen, wie sie durch unseren Antrag aufgezeigt werden, wird deutlich, wo überdurchschnittlich viel Macht angesiedelt ist.Wir Sozialdemokraten — damit komme ich zum Schluß — werden jedenfalls mit ganzer Kraft eine Politik formulieren, die nicht auf einzelne Wirtschaftszweige und deren Privilegien abgestellt ist, sondern die immer die gesamtwirtschaftlichen Interessen im Auge behält.Schönen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich stimme dem Kollegen Jens zu, daß wir alles tun müssen, um den Standort Deutschland auf dem hohen Niveau zu halten, auf dem er ist. Bei Ihrem Antrag aber, lieber Herr Jens, sehe ich nicht den leisesten Ansatz dafür, wie durch das Befolgen Ihrer Vorschläge eine Verbesserung der Standortsituation in Deutschland erfolgen sollte. Die Nagelprobe für Ihre richtige Einleitung wird sich in den nächsten Tagen ergeben, wenn nämlich hier über das Standortsicherungsgesetz abgestimmt wird. Da haben Sie die Chance, zu beweisen, ob Sie über Ihre ideologischen Scheuklappen hinwegsehen und hier endlich einmal den Dingen zustimmen können, die lange notwendig sind, um unseren Unternehmen in Deutschland die gleichen Chancen einzuräumen, wie sie ihre ausländischen Wettbewerber haben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13181
Gunnar UldallIn Ihrer zweiten Bemerkung zu Beginn sprachen Sie davon, daß Ihr Antrag zur Deregulierung führen würde. In der Zielsetzung sind wir uns da einig. Aber ich frage mich: Über welchen Antrag haben Sie eigentlich gesprochen? Ich sehe in dem Antrag nicht Deregulierung, sondern ich sehe darin mehr Regulierung.
Ich werde, wenn ich Ihre vier Punkte im einzelnen seziere, auch sehr deutlich zeigen, daß damit mehr Regulierung und mehr Rechtsstreit verbunden sein wird. Alles in allem möchte ich vorweg bemerken: Unsere Fraktion wird sich vehement, Herr Jens, gegen den Eindruck wenden, den Sie eben hier hervorzurufen versuchten, daß es in Deutschland im Finanzdienstleistungssektor keinen Wettbewerb gebe. Dieses ist einfach nicht richtig.
Aber nun möchte ich die SPD auch einmal loben, und zwar dafür, daß die Sozialdemokraten eine Kontinuität zeigen. Aber wie so oft erschöpft sich diese Kontinuität leider darin, längst bekannte und bereits überholte Forderungen erneut in die parlamentarischen Beratungen einzubringen.
Ausführlich wurden bereits 1989 die gleichen Vorstellungen, die hier von der SPD entwickelt wurden, zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Seinerzeit entschied man sich für eine systemgerechte Fortentwicklung des Wettbewerbsschutzes. Eine Durchbrechung der bisherigen kartellrechtlichen Gestaltung, wie dies von der SPD gewünscht wird, wurde damals bereits abgelehnt.Nun zu den vier Kernforderungen der SPD, nämlich der Streichung des § 102 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung, die Begrenzung des Anteilsbesitzes auf 5 %, die Begrenzung des Depotstimmrechts der Banken und die Begrenzung der Zahl der Aufsichtsratsmandate.Zunächst also zu dem § 102 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung. Bei der Forderung nach der Streichung dieses Paragraphen handelt es sich, wie ich eben schon sagte, um einen wenig originellen Neuaufguß einer bekannten Oppositionsforderung. Anläßlich der letzten Kartellrechtsnovelle wurde hier bereits darüber gesprochen. Es wurde festgestellt, daß es sich bei den Bestimmungen des § 102 GWB nicht um eine kartellrechtliche Privilegierung des Finanzdienstleistungssektors handelt.
Vielmehr ist für bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen eine permanente Mißbrauchsaufsicht an die Stelle des für die sonstige Wirtschaft geltenden Kartellverbots getreten. Diese Konzeption in der Kartellaufsicht hat sich in der Praxis bewährt. Sie wird durch die umfassende Fachaufsicht durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen und das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen ergänzt.Ich kann mir nicht recht vorstellen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß Sie wirklich davon überzeugt sind, daß mit Ihrer Streichung diesesParagraphen eine ordnungspolitische Verbesserung zu erreichen ist. Ein deutliches Indiz dafür ist der umfangreiche Ausnahmekatalog, den Sie ausdrücklich in Ihrem Antrag fordern.Sie wollen den Paragraphen zwar streichen, aber an seine Stelle soll treten: eine Ausnahmeregelung für Beziehungen innerhalb historisch gewachsener Bankengruppen, eine Ausnahmeregelung für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs, eine Ausnahme für die Sicherung von Einlagen über entsprechende Sicherungsfonds, eine Ausnahme für die Konsortialgeschäfte, eine Ausnahme für den Austausch von Bonitätsmerkmalen von Kreditnehmern, eine Ausnahme für die Bereitstellung gemeinsamer Kalkulationsgrundlagen für die Ermittlung der Nettoprämie von Schadenversicherungen, eine Ausnahme für Tarifierungsgrundsätze des Rückversicherers im Massengeschäft, eine Ausnahme für die gemeinsamen Tarife im Mitversicherungsgeschäft. Und dieses alles wird uns verkauft unter dem Deckmantel Deregulierung.
Mit diesen ausführlichen Ausnahmen, die die Sozialdemokraten jetzt formuliert haben wollen und die Eingriffe in das Gesetzeswerk bedeuten,
wird eins hervorgerufen: ein permanenter Rechtsstreit darüber, ob etwas unter die Ausnahmeregelung fällt oder nicht.Sie räumen mit Ihrem Antrag ein, daß es eine Notwendigkeit gibt, daß die allgemeinen kartellrechtlichen Ausnahmevorschriften gerade in der Bank- und Versicherungswirtschaft nicht ausreichen, um der Entwicklung dieser Wirtschaftszweige gerecht zu werden.Nun zum Punkt 2 Ihres Antrages: Sie fordern darin, daß man den Anteilsbesitz von Kapitalsammelstellen auf 5 % begrenzen sollte.
— Ja, auf die Ausnahmen komme ich gleich noch zu sprechen; das trifft nämlich den Nagel genau auf den Kopf.
Es gibt bereits eine Begrenzung im § 12 Abs. 5 des Kreditwesengesetzes. Dort wird eine Obergrenze für die einzelne Beteiligung auf 15 % des haftenden Eigenkapitals des Kreditinstitutes angesetzt bzw. dürfen nicht mehr als 60 % des haftenden Eigenkapitals des Kreditinstituts für die Summe aller bedeutenden Beteiligungen ausgegeben werden. Hier gibt es bereits Begrenzungen.
Eine generelle Beschränkung — lassen Sie uns darüber einen Moment nachdenken, lieber Herr Jens — des Anteilsbesitzes auf 5 % ist wenig zweckdienlich. Denken Sie jetzt bitte einmal daran, daß zwischen Bundeskanzler Kohl und der Kreditwirtschaft vereinbart worden ist, im Rahmen des Solidar-
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13182 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Gunnar Uldallpaktes 1 Milliarde DM für Beteiligungen an ostdeutschen mittelständischen Unternehmen zur Verfügung zu stellen.Jetzt wollen Sie die Beteiligung auf 5 % begrenzen. Da kann ich nur sagen: Dieses wäre ein wunderbarer Vorwand für die Kreditwirtschaft, sich aus dieser großartigen Vereinbarung wieder herauszuziehen, weil dieses einfach nicht zu vereinbaren ist.
Wenn man sich einmal die Hauptgründe für die Unternehmensbeteiligungen, die von Banken und Versicherungen eingegangen worden sind, ansieht, stellt man fest, daß diese nur im geringsten Teil zu Kapitalanlagezwecken erfolgt sind. Es überwiegen der Sanierungserwerb, der Erwerb zu Plazierungszwecken, das Engagement zur Abwehr von Überfremdung sowie die Unterstützung kapitalschwacher mittelständischer Unternehmen. Das sind alles die Fälle, die durch eine Ausnahmeregelung sowieso wieder zugelassen werden sollen.Also auch hier kann ich nur sagen: Dieses ist nicht Deregulierung, sondern hier wird weitergehend reguliert, als es bisher schon der Fall gewesen ist.
Nach Angaben des Bundesverbandes der deutschen Banken wurde der prozentuale Anteil von Unternehmensbeteiligungen in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgeführt. Eine zunehmende Gefährdung durch Banken und Versicherungen vermag ich angesichts dieser rückläufigen Beteiligungsquote nicht zu erkennen. Die Banken sollen und wollen ihr Geld durch Bankgeschäfte verdienen und nicht dadurch, daß sie Beteiligungen halten. Dafür sorgen nicht nur die eigenen Geschäftsinteressen der Institute, sondern dafür wird auch die neugefaßte Eigenkapitalrichtlinie, die wir vor einem halben Jahr hier im Hause verabschiedet haben, weiterhin sorgen.Schließlich, was die Versicherungen als Kapitalanlagestellen anbetrifft: Die Bestimmungen für die Versicherungen sind schon so weitgehend hinsichtlich der Anlagevorschriften festgelegt, daß ich auch hier keinen weiteren Handlungsbedarf sehe.Zum dritten Punkt, dem sicherlich sehr populären Thema Depotstimmrecht: Wenn man das Depotstimmrecht der Banken faktisch aufhebt, sehe ich die Gefahr, daß bereits eine kleine Gruppe von Aktionären oder ein Minderheitsgesellschafter, der vielleicht eine Beteiligung von 5 % hält, mit seiner kleinen Beteiligung ein überproportionales Stimmengewicht hat. Denn auf Grund der allgemeinen Massenträgheit, die bei uns in Deutschland immer weiter zunimmt, geht man nicht mehr zu solchen Veranstaltungen von Hoechst oder Bayer, wo man hinfahren muß; die Kosten dafür sind dann höher als das, was man als Dividende zu erwarten hat.Es wird dann eine kleine Gruppe straff organisierter Aktionäre geben, die rigoros stimmen und ihre Interessen durchsetzen werden. Das Ergebnis wird nicht ein Schutz der Kleinaktionäre sein, sondern die Kleinaktionäre werden im Ergebnis brutal durch irgendwelche Interessengruppen niedergestimmt werden.
Ich stelle mir einmal vor, wie wohl die Hauptversammlung von Bayer, die gestern stattgefunden hat, abgelaufen wäre, wenn man Ihrem Vorschlag gefolgt wäre. Da sind 30 000 Aktionäre versammelt gewesen. — Nebenbei, das sind lächerliche Prozentzahlen der Gesamtzahl der Aktionäre. — Aber bei dieser kleinen Gruppe von 30 000 Aktionären, die sich dort versammelt haben, wären irgendwelche Kader aufmarschiert, organisiert von irgendwelchen Umweltverbänden, sage ich mal, und hätten dort Beschlüsse gefaßt. Dann hätten sich aber die anderen 95 % Aktionäre gewaltig umgesehen, welche Ergebnisse dort plötzlich herausgekommen wären.Deswegen kann ich nur sagen: Wenn wir die Aktie stärken wollen, geben Sie um Gottes Willen nicht das Depotstimmrecht auf!
Sonst wird es dazu kommen, daß der Kleinaktionär einer entsprechenden straff organisierten kleinsten Gruppe oder einer kleinen Gruppierung von Gesellschaftern, die Minimalanteile haben, brutal ausgesetzt ist.
Der letzte Punkt betrifft die Aufsichtsratsmandate. Schon heute gibt es eine Obergrenze für Aufsichtsratsmandate: Man darf nicht mehr als 10 Aufsichtsratsmandate wahrnehmen. Jetzt frage ich Sie: Ist dieses eigentlich ein Thema, Herr Jens? Nennen Sie mir irgendeinen Fall, wo ein Aufsichtsratsmitglied, weil er zehn Mandate gehabt hat, seine Funktion nicht richtig ausgeübt hat? Mir ist kein Fall bekannt. Wenn das der Fall wäre, dann müßte der Gesellschafter ihn sofort vor die Tür setzen. Das würde er auch tun; das brauchen wir nicht gesetzlich zu regeln.Zum Stichwort Verflechtung: Ich frage mich: Gibt es eigentlich eine Verflechtung bei den Bankenvertretern in den Aufsichtsräten — ich konnte das in der Vorbereitung nicht mehr so schnell feststellen —, daß z. B. ein Bankenvertreter, der im Aufsichtsrat von Daimler-Benz sitzt, auch bei VW drinsitzt? Mir sind diese Fälle nicht bekannt.Aber ich kenne führende Gewerkschafter, für die das zutrifft.
— Nein, hier ist ausdrücklich nur von Banken und Versicherungen, aber nicht von Ihren Gewerkschaftsfreunden gesprochen worden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13183
Gunnar UldallMeine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird auch künftig einen fairen Leistungswettbewerb sicherstellen und konsequent jede Form von Wettbewerbsmißbrauch auch im Finanzdienstleistungssektor verhindern. Für einen derartigen Mißbrauch liegen heute jedoch weder im Banken- noch im Versicherungsbereich Anzeichen vor. Deswegen werden wir Ihren Antrag sehr kritisch im Ausschuß beraten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Grünbeck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer von der Macht der Banken und Versicherungen spricht, muß auch von der Verantwortung und dem Vertrauen sprechen, das sowohl in der Kredit- als auch in der Versicherungswirtschaft bestehen muß. Beiden Bereichen kommt in jeder Volkswirtschaft eine ungeheure Bedeutung zu.Durch den Ausbau des EG-Binnenmarkts, aber auch durch die immer stärker werdende internationale Verzahnung von Wirtschaftsabläufen haben sich neue Herausforderungen für die Kredit- und Versicherungswirtschaft gestellt.Die Verantwortung der Banken ist groß. Der Kapitalanleger will Vertrauen zu seinem Geldinstitut haben. Der Kreditnehmer sucht nicht nur eine Bank mit guten Konditionen, sondern auch einen Berater für seinen Kapitalbedarf. Dabei stellt sich oft das Problem der Absicherung der Kredite. Es ist Aufgabe der Banken, zu entscheiden, welches Risiko sie in Verantwortung gegenüber dem Sparer noch eingehen können. Auf der anderen Seite steht die wirtschaftliche Bedeutung, die die Ausleihung von Krediten hat. Dieser ständigen Güterabwägung muß sich jedes Kreditinstitut stellen.Im Namen der F.D.P.-Fraktion darf ich erklären, daß gerade jetzt für den Neuaufbau der östlichen Bundesländer, aber auch für die Umwandlung der Wirtschaftssysteme in den östlichen Ländern Europas von der sozialistischen Diktatur der Planwirtschaft hin zur sozialen Marktwirtschaft den Kreditinstituten eine besondere Bedeutung zukommt. Dabei ist es wirklich wünschenswert, daß die Banken den Rahmen der Sicherung von Krediten etwas großzügiger auslegen, Mut zum Risiko haben,
das nicht nur den Investoren und den Kommunen, den Ländern und dem Bund überlassen, sondern auch selbst verantwortungsbewußt da und dort mehr Mut zum Risiko zeigen. Gerade bei der Beteiligung an Unternehmen im Zuge der Privatisierung von Unternehmen in den neuen Bundesländern können die Banken eine große Verantwortung übernehmen und auch sonst beim Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft auf eine besonders gute Kooperation mit den Kommunen und den Unternehmen hinarbeiten.Die Initiative der SPD-Bundestagsfraktion und unsere Überlegungen gehen im Grunde genommen in die gleiche Richtung. Wie so oft sind wir uns vielleicht in der Zielsetzung einig, aber die Wege dahin sind unterschiedlich. Der SPD-Antrag hat einige Mängel, die nicht übersehen werden können.Den § 102 GWB zu streichen wäre falsch; denn er entspricht heute europäischem Wettbewerbsrecht. Die Kontrollorgane der Kapitalgesellschaften werden in Frage gestellt. Weshalb eigentlich? Wir haben Banken, die neben dem Aufsichtsrat die Kontrolle der Kapitalgesellschaften übernehmen, wir haben das Bundesaufsichtsamt für das Kredit- und Versicherungswesen, wir haben den Aufsichtsrat selbst und schließlich auch die Finanzämter, die eigene Kontrollabteilungen unterhalten. Meine Damen und Herren, nicht die Kontrollorgane fehlen, sondern die qualifizierten Persönlichkeiten in den Kontrollorganen, die in Unabhängigkeit gegenüber politischen und wirtschaftlichen Einflußnahmen für ihre Entscheidung geradestehen.
Die Forderung nach einer Obergrenze von 5 % für Beteiligungen ist unrealistisch und überzogen. Das gilt ebenso für die Forderung nach einer Begrenzung auf fünf Aufsichtsratsmandate pro Person. Das würde ja geradezu die Großbanken begünstigen.Sie fordern die Abschaffung des Depotstimmrechts. Es wurde gerade deutlich gemacht, wie alt diese Forderung ist und wie lange sie schon diskutiert wird. Aber es kommt nichts anderes dabei heraus. Nach unseren Überlegungen hat sich eindeutig ergeben, daß es zu dem Depotstimmrecht keine vernünftige Alternative gibt. Es käme zu einer geringeren Präsenz der Aktionäre auf Hauptversammlungen. Zufallsmehrheiten wären die Folge.Wenn wir sagen, daß es zum Depotstimmrecht keine Alternative gibt, so sagen wir aber auch, daß eine verantwortungsvolle Handhabung dieses Instruments notwendig ist. Stimmergebnisse von 99 % wie dieser Tage bei der Hauptversammlung von Hoechst, muten wie ein sozialistisches Wahlergebnis an und lassen gewisse Zweifel aufkommen, daß die Verantwortung hier ausreichend wahrgenommen worden ist.
Die SPD sieht als oberstes Ziel die Streuung der Macht. Dazu sage ich: Mein Gott, was höre ich da? Mir fehlt daran der Glaube. — Was Sie da postulieren, ist ja wirklich lobenswert, aber Sie müssen auch Ihr eigenes Haus bestellen; denn gerade aus der Entwicklung der letzten Jahre ist deutlich geworden, daß die Ballung von Macht bei den Gewerkschaftsunternehmen wie der Neuen Heimat, der Volksfürsorge, der Coop und der Bank für Gemeinwirtschaft zu keinem guten Ende geführt hat. Die Freien Demokraten stehen zum Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört die Vermeidung von Übermacht, nicht die Begrenzung von Macht, sondern mehr Verantwortung durch Macht.
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13184 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Josef GrünbeckWas dem SPD-Antrag fehlt, ist eine Initiative zur Privatisierung der Landesbanken und der Sparkassen. Gerade die Westdeutsche Landesbank liefert uns ja eigentlich ein Beispiel dafür, wie Banken nicht operieren sollen. Da werden hemmungslos Auslandsbeteiligungen erworben und Geschäfte betrieben, da wird eine Art Gemischtwarenladen aufgebaut, der teils aus Machtstreben, teils aber auch aus nicht gesicherten und viel zu großzügig gegebenen Krediten besteht.Die Folgen sind verheerend. Entweder müssen Konkurse in Kauf genommen werden, oder aber es müssen Firmenübernahmen durchgeführt werden, um größere Verluste zu vermeiden, die anschließend wiederum Banken in eine Aufgabe drängen, die ihnen gar nicht zugeordnet ist. Das führt zu Wettbewerbsverzerrungen, die man auch bei den Sparkassen beobachten kann.Schon die Zusammensetzung des Verwaltungsrats der Sparkassen muß uns ja zu denken geben. Nicht kraft Verstandes, sondern kraft Amtes sind Bürgermeister und Landräte in Verwaltungsräten und haben bislang noch nicht nachgewiesen, daß sie Bilanzen lesen oder auslegen können.Die Sparkassen stehen im Rahmen des EG-Binnenmarkts vor neuen Herausforderungen. Sparkassen sind nach dem Regionalprinzip aufgebaut. Das heißt, daß die übrigen EG-Länder heute ohne weiteres Banken in der Nähe der Sparkassen errichten können, die Sparkassen selbst auf Grund ihrer regionalen Begrenzung aber nicht reagieren können.Die Sparkassen waren ursprünglich dafür vorgesehen, kommunale Finanzierungen durchzuführen. Sie haben heute diesen Aufgabenbereich weit überschritten. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, das Haftungsrisiko weiterhin dem Steuerzahler aufzubürden.Die Folgerung kann nur heißen: Die Sparkassen und Landesbanken müssen sich für privates Kapital öffnen.
Durch Privatisierung könnten sowohl die Probleme der Eigenkapitalbildung als auch die des Regionalprinzips gelöst werden.
Eine solche Privatisierung bedeutet in letzter Konsequenz die Abkehr vom öffentlich-rechtlichen Status und damit vom Prinzip der Gewährträgerhaftung.Die F.D.P. hat sich seit Jahren um die Begrenzung der Macht der Banken bemüht, zuletzt in einer Arbeitsgruppe mit ihrem Koalitionspartner. Dabei sind die Argumente der Liberalen bekannt.
Die Banken haben bei den Investitionsentscheidungen bekanntlich immer ein gewichtiges Wort mitzureden — das ist auch richtig so —, aber es kann im Vordergrund nicht nur das Bankinteresse stehen, sondern es müssen die betriebswirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens und die Beschäftigung der Mitarbeiter ebenso in die Überlegungen einbezogen werden.Banken sollen Kredite geben und nicht Macht, sondern Kontrolle ausüben. Banken haben das Vertrauen der Kapitalanleger zu schützen und die Verantwortung für die Sicherheit der Anlagen zu übernehmen.
Bei der Kumulation von Einflußmöglichkeiten liegt doch — wenn ich das einmal so bayerisch sagen darf — der Hund begraben.
Die Vermehrung von Einflußmöglichkeiten aus Anteilsbesitz, aus der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten, aus der Ausübung des Depotstimmrechts und aus der Funktion als Kreditgeber und Beschaffer von Eigenkapital soll zurückgedrängt werden.
Vorrangig sollen sich die Banken auf Finanzdienstleistungen und nicht auf Anteilsbeteiligungen orientieren. Das würde heute bedeuten, daß man sich auch dazu aufrafft, die Rückführung des Anteilsbesitzes der Banken ernsthaft anzustreben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschließend möchte ich noch erwähnen, daß wir Deutschen wohl verpflichtet sind, in dieser Stunde auch einmal der Deutschen Bundesbank ein paar Worte der Betrachtung zu widmen. Das Nachkriegswirtschaftswunder wäre ohne diese souveräne Politik der Deutschen Bundesbank nicht möglich gewesen.
Unabhängig von der politischen Hautfarbe des jeweiligen Präsidenten und des Präsidiums der Deutschen Bundesbank sind alle der schwierigen Herausforderung gerecht geworden. Die Geldwertstabilität hatte hohen Rang. Dies hat zu einem großen Vertrauen der Bundesbürger zu ihrer nationalen Währung geführt. Wir alle sind zuversichtlich, daß auch eine europäische Zentralbank, wenn sie unter den gleichen Rahmenbedingungen arbeitet wie die Deutsche Bundesbank, auch für Europa mehr Stabilität der Währungsverhältnisse erzielen kann und damit Grundvoraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im weltweiten Feld darstellen und sicherstellen kann.Im Namen der F.D.P.-Fraktion darf ich nicht nur denjenigen, die in der Vergangenheit für die Bundesbank verantwortlich waren und heute verantwortlich sind, einen herzlichen Dank sagen, sondern auch wünschen, daß wir deren künftige Entscheidungen respektieren, nicht versuchen, unsachgemäß hineinzuregieren, sondern die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortsetzen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie sich mich im Namen der F.D.P.-Fraktion zum Schluß erklären: Wir werden Ihrem Antrag natürlich nicht zustimmen. Wo kämen wir denn hin!
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13185
Josef GrünbeckWir haben Ihren Antrag ja sehr aufmerksam beobachtet. Den haben Sie vor drei Jahren schon einmal in ähnlicher Form eingebracht. Nur ist der Name Roth etwas nach hinten gerückt; jetzt ist er ja unter die Banker gegangen.Die Macht der Banken und Versicherungen ist ein sensibles Feld. Dieses ist ohne Verantwortung und Vertrauen auf die Dauer gesehen nicht erfolgreich zu bestehen. Den Mißbrauch hier und auch in anderen Feldern zurückzudrängen wird unsere Aufgabe sein. Die F.D.P.-Fraktion hat sich dieser Aufgabe in der Vergangenheit gestellt und wird dies auch in Zukunft tun.
Als nächste spricht die Abgeordnete Frau Dr. Höll.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Prozeß der Konzentration und die Bildung von Monopolen hat auch die Banken erfaßt, und die SPD hat es bemerkt. Die Banken verwandeln brachliegendes Geldkapital in profitbringendes Kapital. Aus vergleichsweise bescheidenen Zahlungsvermittlern sind die Großbanken weltweit längst zu mächtigen Monopolen herangewachsen, die in einer ganzen Reihe von Ländern nicht nur über den größten Teil der Produktionsmittel, sondern auch über Rohstoffquellen verfügen.
Die Geschäftspolitik der Westdeutschen Landesbank belegt beispielhaft, daß wir es im Bankwesen mit gewaltigen Monopolbildungen zu tun haben, die eine Verschmelzung des Industriekapitals und des Bankkapitals zum Finanzkapital bewirken.
Die Konzentration und die Zentralisation der Banken unterscheiden sich natürlich in gewisser Hinsicht von dem analogen Prozeß in der Industrie. Die Banken sind nun einmal geneigt, ihr eigenes Kapital nur so weit zu erhöhen, daß die Möglichkeit gesichert wird, ihr Gesamtkapital durch fremde Gelder aufzufüllen und erhöhte Profite aus den Spekulationen zu ziehen. So kommt die Konzentration der Banken vor allem in der Zunahme der fremden Mittel, der Einlagen, über die die Bank verfügt, sowie in der Ausdehnung ihrer Operationen zum Ausdruck.
Ich erinnere an dieser Stelle an den ungebremsten Expansionsdrang der Westdeutschen Landesbank, die wesentlich zu dem beiträgt, was die SPD in ihrem Antrag beklagt, nämlich Konzentration und Wettbewerbsabbau.
Der SPD-Antrag ist meiner Meinung nach jedoch an Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Menschlich kann ich es auch verstehen: Wer beispielsweise Vizepräsident einer europäischen Bank werden will, muß sich auf mahnende Appelle beschränken und die Illusion nähren, der Konzentrationsprozeß sei zu kontrollieren.
Um zu zeigen, wie ernst es ihr damit ist, hat sich die SPD eine Menge Ausnahmeregelungen einfallen lassen. Der Prozeß der Kapitalkonzentration und der Monopolbildung wird durch die Banken verstärkt und beschleunigt. Er war bei aller Verschiedenartigkeit nationaler Bankgesetzgebung nicht aufzuhalten und ist auch durch die EG-weite Harmonisierung des
Bankenaufsichtsrechts nicht zu stoppen. Durch Aktienbesitz, durch Eintritt der Bankdirektoren in Aufsichtsräte oder Vorstände der Handels- und Industrieunternehmen ist eine Verschmelzung zwischen Unternehmen und Banken vorhanden. Sitze im Aufsichtsrat einer Großbank sind Objekte der Begierde.
Der Konzentrationsprozeß, der kennzeichnend für den Kapitalismus der freien Konkurrenz ist, hat dazu geführt, daß die gesamte kapitalistische Wirtschaft nicht nur national, sondern auch international von wenigen Großbanken beherrscht wird. Abmachungen zwischen einzelnen Großbanken, die auf eine Beschränkung des Wettbewerbs hinausliefen, hat es gegeben.
Die Annahme dieses Antrages der SPD würde nichts daran ändern, daß Kleinbanken durch Großbanken verdrängt oder eine Reihe von Kleinbanken in faktische Zweigstellen von Großbanken verwandelt werden. Die Großbanken verschlingen die kleineren Banken nicht nur unmittelbar. Angliederung, Unterwerfung oder Anschluß an ihre Gruppe oder ihren Bankkonzern ist ebenfalls eine mögliche Variante des immer gleichen. Das kann z. B. durch Beteiligung am Kapital der kleineren Banken oder durch Aufkauf oder Austausch von Aktien geschehen.
Das von der Bundesbank dominierte Kreditsystem ist enorm zentralisiert und gibt den Bankiers die geradezu fabelhafte Macht, in die wirkliche Produktion einzugreifen und damit die Zahl der Kapitalisten periodisch zu dezimieren, ohne etwas von der Produktion zu wissen, ohne etwas mit ihr zu tun zu haben. Das Ende 1992 vom Bundestag novellierte Kreditwesengesetz hat daran nichts geändert. Der SPD-Antrag ist ebenfalls reine Drucksachenprosa. Um so erstaunlicher finde ich es allerdings, daß Herr Uldall im Namen der CDU
— auch für die CSU — noch dermaßen scharf auf diesen Antrag reagiert.
Ich bedanke mich.
Als nächster hat der Abgeordnete Hans Martin Bury das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Banken und Versicherungen haben wichtige Transformationsfunktionen, ohne die eine moderne Volkswirtschaft überhaupt nicht funktionsfähig wäre. Aus der Ausübung dieser Funktionen ergibt sich jedoch auch eine im Vergleich zu anderen Branchen außergewöhnliche Machtstellung. Nicht zuletzt Alfred Herrhausen hat die Feststellung, daß Banken Macht besitzen, als unbestreitbar bezeichnet. Herr Uldall und Herr Grünbeck, er sagte wörtlich: „Dort, wo der Geist der Freiheit unkritisch absolut gesetzt wird, dort nimmt in der Tat nur die Freiheit der Mächtigen zu."
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13186 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Hans Martin BuryIch bezweifle nicht, daß Banken und Versicherungen ihre Einfußmöglichkeiten in der Regel verantwortlich ausüben. Dennoch ist es unbestreitbar die Aufgabe eines demokratischen Staates, die Kontrolle von privatwirtschaftlicher Macht sicherzustellen und Machtkonzentrationen zu vermeiden. Die starken kapitalmäßigen, aber auch persönlichen Verflechtungen sowie die mehrfache Einflußmöglichkeit durch Kreditvergabe, Beteiligungen, Aufsichtsratsmandate und Depotstimmrecht erfordern im Interesse des Wettbewerbs eine Neuregelung.Übrigens, selbst ausländische Banken und Broker bemängeln die enge Verflechtung deutscher Banken und Versicherungen untereinander und mit Industrieunternehmen, die die Transparenz des Marktes verschleiere, Absprachen und womöglich sogar Manipulationen zumindest begünstige.Ein Kernpunkt unseres Antrages ist die Streichung des § 102 GWB, in dem Banken und Versicherungen als „Sonderbereich" definiert und privilegiert werden. Die Kompetenzen der Fachaufsicht durch die Bundesaufsichtsämter für das Kredit- bzw. Versicherungswesen und die Kartellaufsicht werden durch diese Sonderstellung eingeschränkt; Elemente des Verbraucherschutzes fehlen dagegen weitgehend.
Herr Uldall, bei der Beratung des GWB in den 50er Jahren lehnten bezeichnenderweise sowohl der damals federführende Wirtschaftsausschuß als auch die damalige Bundesregierung dieses Sonderrecht für Banken und Versicherungen ab. Länder und Finanzpolitiker forderten dagegen sogar eine Totalfreistellung von den Regelungen des GWB. Heraus kam ein Kompromiß, der nur politisch-historisch zu begründen ist.Da die historischen Begründungen der Sonderstellung — wie öffentliche Bedürfnisprüfungen, weitgehende Zins- und Wettbewerbsreglementierungen — zwischenzeitlich längst entfallen sind, ist die Streichung des § 102 GWB nur folgerichtig. Die im öffentlichen Interesse notwendige Kontrolle der Aufsichtsbehörden wird damit erleichtert. Notwendige Ausnahmeregelungen für spezielle Bereiche — wenn Ihnen das zu viele sind, Herr Uldall, dann habe ich einen Hinweis darüber vermißt, welche Sie denn streichen wollen und welche Sie für überflüssig halten —,
z. B. für die historisch gewachsenen Bankengruppen oder für den Zahlungsverkehr, gemeinsame Kalkulationsgrundlagen der Versicherer für die Ermittlung von Nettoprämien bei Schadensversicherungen oder Tarifierungsgrundsätze im Rückversicherungsgeschäft, sieht unser Antrag vor. Damit ist die Streichung meines Erachtens auch aus Sicht der Kredit- und Versicherungswirtschaft tragbar. Sie entspricht übrigens auch den Empfehlungen der von der Bundesregierung eingesetzten Deregulierungskommission. Politische Widerstände sind deshalb meiner Meinung nach nur noch mit ideologischer Engstirnigkeit, aber nicht mit rationalen Argumenten zu begründen.
Während dem § 102 GWB vor allem symbolische Bedeutung zukommt, geht es bei der Begrenzung des Anteilsbesitzes um sehr konkrete Einflußmöglichkeiten auf branchenfremde Unternehmen. Im Gegensatz zu Industrieunternehmen, die Beteiligungen im Regelfall aus einer Gesamtunternehmensstrategie heraus auf Teilmärkten eingehen und mit ihrem Beteiligungskapital stärker begrenzt sind, beteiligen sich Kapitalsammelstellen, Banken und Versicherungen wesentlich umfangreicher und verfügen daher über einen entsprechend größeren Einflußbereich.Eine generelle Obergrenze der Beteiligung an einzelnen Gesellschaften ist dringend geboten, um Wettbewerbsverzerrungen und Einflußkonzentrationen zu vermeiden, wobei wir nach meiner persönlichen Auffassung über die Grenze im Hinblick auf das steuerliche Schachtelprivileg in den Ausschußberatungen durchaus noch diskutieren könnten. Damit wären die einzigen ernst zu nehmenden Einwände meines Erachtens beseitigt.Ausnahmen für Beteiligungen im Konzernverbund, vor allem aber für zeitlich befristete Beteiligungen zur Wagnisfinanzierung — das haben Sie übersehen, Herr Uldall — oder im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen sieht unser Antrag ausdrücklich vor. Aus der notwendigen Umstrukturierung der Beteiligungsverhältnisse und dem dann freiwerdenden Kapital ergäben sich dann sogar enorme Chancen für Unternehmen in den neuen Bundesländern.Zur Frage des Depotstimmrechts dürfte es im Grunde genommen gar keinen Streit geben. Selbst die „Banken hängen nicht am Depotstimmrecht", wie Eberhard Martini wörtlich erklärt hat. Wenn Sie sich die Abstimmungsergebnisse der Hauptversammlung — Sie haben sie ja erwähnt — des in jüngster Zeit negativ in die Schlagzeilen geratenen Chemiekonzerns von vorgestern anschauen, dann müßte der Sinn einer Trennung der Abgabe von Depotstimmen, die nur noch auf Grund von Einzelvollmacht ausgeübt werden dürften, augenfällig sein.
Herr Grünbeck, ich dachte, wir wären uns da einig. Nur, Sie müssen dann auch etwas tun.Zwar dürfen bereits nach gegenwärtigem Recht Kreditinstitute das Depotstimmrecht nur bei ausdrücklicher Übertragung durch die Aktionäre ausüben; diese Verbesserung der ursprünglichen Rechtslage hat jedoch nicht zu der gewünschten Beschränkung der Bankenposition in den Hauptversammlungen geführt, da noch immer auch die Erteilung einer pauschalen 15-Monats-Vollmacht für jeweils eine Hauptversammlung jeder AG der im Depot befindlichen Aktien möglich ist.Das Depotstimmrecht soll in Zukunft nach unserer Vorstellung nur noch auf Grund von ausdrücklich anläßlich der bevorstehenden Hauptversammlung der jeweiligen AG erteilten Einzelvollmachten ausgeübt werden dürfen. Wir wollen es nicht abschaffen, wir wollen es nur vernünftig regeln.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13187
Hans Martin BuryIhre Einwände hinsichtlich der dann voraussichtlich sinkenden Präsenz offenbaren meines Erachtens ein sehr merkwürdiges Demokratieverständnis.Das Verhalten der Depotbanken im Hinblick auf die bevorstehende Siemens-Hauptversammlung mit der Empfehlung, einen Antrag zur Abschaffung von Mehrfachstimmrechten abzulehnen, untermauert exemplarisch die Dringlichkeit einer gesetzlichen Neuregelung. Ebenso einleuchtend, wenn auch für manchen wegen eigener Betroffenheit oder Betroffenheit von Parteifreunden schwer akzeptabel, ist meines Erachtens die Reduzierung der Zahl der Auf sichtsratsmandate pro Person, um eine wirksame Wahrnehmung der gesetzlich und satzungsmäßig vorgesehenen Kontrollfunktion sicherzustellen.
Herr Bury, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Gerne.
Herr Kollege, würden Sie vielleicht mit mir gemeinsam anstreben, auch Mehrfachmandate in Automobilfabriken — Herr Steinkühler hat zwei — abzuschaffen?
Herr Grünbeck, wenn Sie unseren Antrag sorgfältig gelesen haben, werden Sie sehen, daß so etwas selbstverständlich auch für den Herrn Steinkühler zutrifft. Wir machen in diesem Punkt nämlich keine speziellen Regelungen für Banken und Versicherungen, sondern für alle.
Das Gesellschaftsrecht läßt heute bis zu zehn Mandate zu, soweit es sich um Tochtergesellschaften handelt, sogar weitere fünf. Diese Regelung ist weder ordnungspolitisch akzeptabel — insbesondere bei der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten in untereinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen oder gar bei Überkreuzverflechtungen — noch effizient. Nicht zuletzt im Hinblick auf die schwierige Wirtschaftslage und die enormen Versäumnisse deutscher Unternehmensführungen bei der Anpassung und Neuausrichtung an strukturelle Veränderungen wäre eine Aufwertung der Aufsichtsgremien erforderlich. Denn auch nach Ansicht renommierter Banker „soll richtig verstandene Aufsicht beim Entscheidungsprozeß ansetzen, um Fehlverhalten und Fehlmaßnahmen möglichst zu vermeiden" ; ich füge hinzu: vor allem auch, um Chancen frühzeitig zu nutzen.
Ich betone nochmals: Hierbei geht es nicht speziell um die Vertreter von Kapitalsammelstellen, Banken und Versicherungen. Ich halte es durchaus für sinnvoll und notwendig, wenn auch Finanzprofis in Aufsichtsräten sitzen. Aber daß manche Manager, Gewerkschafter und Politiker Aufsichtsratsmandate sammeln wie andere Leute Briefmarken, wird dem Zweck nicht gerecht.
Wir verschenken durch die Konzentration auf wenige Personen eklatant Chancen, weil die meisten Innovationsanstöße eben nicht von Insidern, sondern von Außenseitern kommen, die, statt von Aufsichtsratssitzung zu Aufsichtsratssitzung zu jetten, noch Zeit haben, kreative Potentiale zu pflegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, daß Sie sich bei einer sachlichen Debatte in den Ausschüssen ernsthaft mit unserem Antrag auseinandersetzen. Ich meine, daß wir unter dieser Voraussetzung eine gemeinsame Linie finden könnten. Die Sache wäre es wert.
Danke schön.
Als letzter in dieser Debatte spricht der Abgeordnete Dr. Karl Fell.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bury, uns verbindet die Tatsache, daß wir Berufserfahrung innerhalb einer Bank gesammelt haben. Da ich über eine Reihe von Jahren in einer Bank auch führend an Entscheidungen beteiligt war, liegt mir daran, einige Dinge geradezurücken und richtigzustellen, Herr Jens, die Sie hier so leichthin geäußert haben und die dem Antrag zugrunde liegen, die einfach falsch sind.
Erstens. Die Renditerechnung bei Investitionen sollte vernünftigerweise jeder Investor vornehmen, nicht nur die Bank, nicht nur eine Versicherung. Ich glaube nicht, Herr Jens, daß Sie oder ich privat irgendwo Geld anlegen oder investieren würden, wenn die Renditerechnung nicht stimmen würde. Man sollte den Banken daher nicht vorwerfen, was sie auch im Interesse der Bankeinleger sinnvollerweise tun, nämlich dafür sorgen, daß sich das Kapital vermehrt. Insofern gehört die Renditerechnung dazu.
Herr Fell, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jens?
Herr Fell, das ist hier auch gar nicht das Problem. Aber können Sie sich vielleicht vorstellen, daß auf Grund der Renditerechnung, die ich dargelegt habe, das Risiko, das ein wirklicher Unternehmer eingehen muß, ausgeklammert wird? Es wird nur noch gerechnet, und das eigentliche unternehmerische Element, auf das es doch ankommt, ist in unserer Wirtschaft verlorengegangen. Das ist doch der Punkt.
Herr Jens, wenn Sie recht hätten, dann dürfte es bei keiner Bank in irgendeinem Geschäftsjahr eine Wertberichtigung geben. Dann müßte nämlich sichergestellt sein, daß kein Geld irgendwo in ein Risiko gegangen wäre. In Wahrheit haben alle Banken Jahr für Jahr Wertberichtigungen auf Kredite in Millionenhöhe vorzunehmen, weil die Rechnung nicht aufgegangen ist, weil das
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Dr. Karl H. Fellunternehmerische Risiko größer war als vorausgesehen. Das ist Popanz, den Sie aufbauen.
Das zweite, um das es geht: Sie haben auf das „Wall Street Journal" hingewiesen: man solle investieren „anywhere but Germany" . Ich bin fast versucht, zu fragen: Haben Sie schon einmal etwas davon gehört, daß Deutschland neben Japan der größte Konkurrent der USA auf dem Weltmarkt ist und daß deswegen ein amerikanisches Interesse daran besteht, nicht in Deutschland durch Investitionen, die von Amerika ausgehen, die Wettbewerbsposition für die deutsche Industrie und für deutsche Produkte zu verbessern? Insofern ist eine solche Mahnung im „Wall Street Journal" für mich durchaus nachvollziehbar. Aber man muß auch die Motivation sehen, die dahintersteckt. Wenn es denn Gründe gibt, Herr Kollege Jens, sich in Deutschland zurückzuhalten, dann haben sie vielleicht etwas damit zu tun, daß die steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen ungünstiger sind als anderswo. Sie haben vielleicht damit zu tun, daß die Stückkosten in Deutschland, die Kosten pro Produktionseinheit, sehr viel ungünstiger aussehen als anderswo. Darüber können wir uns sehr schnell verständigen, und darüber sollten wir uns unterhalten. Der Kollege Uldall hat es Ihnen schon bei der Abstimmung über das Föderale Konsolidierungskonzept und beim Standortsicherungsgesetz gesagt. Hier sind Sie gefragt, die Rahmenbedingungen zu verbessern, damit hier etwas losgeht.
Dann kommt die Bemerkung von der Fehleinschätzung in den Aufsichtsräten. Das wird mit dem furchterregenden Bild gekoppelt, eine Bank habe dreifachen Einfluß: Sie ist beteiligt, sie hat einen Sitz im Aufsichtsrat des Unternehmens, und sie gibt auch noch Kredite; diese Massierung des Einflusses sei das Gefährliche. Die Fehlentscheidung im Aufsichtsrat kommt noch obendrauf.Jetzt frage ich: Wenn eine Bank an dem Unternehmen selbst beteiligt ist und über die Mitwirkung im Aufsichtsrat an den unternehmerischen Überlegungen teilnimmt und es trotzdem schiefgeht, wollen Sie dann daraus ableiten, der Bankenvertreter habe die Pleite bewußt herbeigeführt? Wir sollten die Kirche im Dorf lassen. In diesen Fällen ist das Eigeninteresse der investierenden Bank so groß, daß sie nicht einen Ratschlag geben wird, der sich gegen die Vernunft der Investitionen auswirken würde.
Es gibt eine Entwicklung, die, wie ich meine, besonders grotesk ist. Wir haben für Beteiligungen an lebensfähigen, an sanierungsfähigen Unternehmen in den neuen Bundesländern geworben. Wir haben geworben, auch die Banken, nicht nur Industrieunternehmen, mögen Berater abstellen, damit die sich gründenden oder die sanierungsfähigen Unternehmen eine Chance auf dem Markt bekommen. Wir haben dafür geworben, daß die Banken diesen Unternehmen Kredite geben, damit sie existenzfähig sind. Wir werben für alle drei Positionen, die jetzt plötzlich das Beschimpfungspotential darstellen. Wir wollen, daß sich in den neuen Ländern etwas entwickelt, und werfen zugleich vor, daß daraus Einfluß entsteht. Meine Damen und Herren, wir müssen in der Logik unserer Überlegungen bleiben. Deswegen: Wenn wir dort für Beteiligung, für Beratung, für Kredite werben, dürfen wir hinterher nicht schimpfen: Ihr habt zuviel Einfluß gewonnen.Im übrigen unterscheidet uns in Deutschland eine Sache fundamental von Amerika. Das ist die Tatsache, daß Unternehmer in Deutschland unverändert sehr viel eher sagen: Ich will Herr in meinem Hause bleiben; ich will nicht den Dritten, den Kapitalbeteiligten, der hinzutritt, ich will die Anteile an meinem Unternehmen behalten und finanziere deshalb lieber über Kredit, über Fremdkapital. — In Amerika ist der Weg völlig anders. Dort wird mit dem sogenannten „equity capital" — das ist Geld Dritter, das Eigenkapitalfunktion besitzt — finanziert und nicht über Bankkredite. Daraus ergibt sich die völlig unterschiedliche Konstellation zu Deutschland. Das ist ein Faktor, den man mit sehen muß.Allein die deutschen Privat- und Geschäftsbanken sind inzwischen in den neuen Bundesländern mit über 30 Milliarden DM im eigenen Risiko an dem dortigen Wirtschaftsaufbau beteiligt. Ich meine, wir sollten das nicht nur rügen, sondern wir sollten es loben. Wir sollten dankbar feststellen, daß hier eine große Bereitschaft zu verantwortlichem Mittun bei der Entwicklung in den neuen Bundesländern besteht.
Jetzt noch einmal kurz und schmerzhaft, Herr Kollege Jens zu dem Antrag. Herr Kollege Grünbeck hat bereits darauf hingewiesen: Ihr letzter Antrag stammt von 1989. Er war zum größten Teil wortgleich mit dem heutigen Antrag.
An diesem Antrag wurde nichts weiterentwickelt, nichts verändert, obwohl es in der Zwischenzeit zu der Bereichsausnahme des § 102 GWB eine Veränderung gab.
Das, was heute in § 102 GWB steht, kann ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Mißbrauchsaufsicht gesehen werden. Es gibt also eine Aufsicht durch die Kartellbehörde, die einzugreifen jederzeit in der Lage wäre, wenn ein Mißbrauch vorläge.Zweiter Punkt: Das Depotstimmrecht, auf das Sie immer wieder abheben — auch in Ihrem Antrag —, gibt es überhaupt nicht. Es gibt nur das Vollmachtsstimmrecht. Herr Bury hat es dankenswerterweise eben schon fast vollständig dargestellt. Aber eines hat er vergessen: Jeder Aktionär bekommt von seiner Hausbank vor jeder Hauptversammlung die Tagesordnung dieser Hauptversammlung und einen Vollmachtsbogen zugeschickt, auf dem er eintragen kann, ob er die von der Bank unterstützten oder nicht unterstützten Anträge mitträgt bzw. nicht mitträgt oder ob er eine anderweitige, eine abweichende Vollmacht erteilen will. Erteilt er diese abweichende Vollmacht, geht sogar die über 15 Monate laufende
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Dr. Karl H. FellVollmacht unter, denn die spezielle Vollmachtserteilung im Einzelfall hat Vorrang.Auch daraus ergibt sich doch längst, daß dieses sogenannte Depotstimmrecht ein Popanz ist. Das alles kommt mir vor wie das Ungeheuer von Loch Ness, das jeweils zur nachrichtenarmen Zeit auftaucht. Lassen Sie dieses Ungeheuer dort, wo es ist; es ruht dort gut. In den Banken und der Wirtschaft insgesamt gibt es eine sehr viel vernünftigere Praxis.Der dritte Punkt betrifft die Einflußnahme über Kreditvergaben. Natürlich hat der Kreditgeber Einfluß auf seinen Kreditnehmer.
Das muß wohl auch so sein. Sie wollen doch wohl nicht, daß der Kreditgeber gesagt bekommt: Gibt den Kredit, anschließend muß du gefälligst darauf vertrauen, daß es gutgeht, du brauchst dich nicht mehr um das Schicksal des kreditnehmenden Unternehmens zu kümmern. Es ist doch in Wirklichkeit so, daß sich der Kreditgeber darum kümmern muß.Die Industriebeteiligungen sind durch eine EGRichtlinie auf 15 % begrenzt worden. Vom Schachtelprivileg haben Sie schon gesprochen, Herr Kollege Bury. 15 % sind EG-weit die Obergrenze. Das haben wir in das Kreditwesengesetz hineingeschrieben. Es besteht überhaupt keine Veranlassung, diese Grenze zu unterschreiten, genausowenig wie Veranlassung besteht, die Zahl der zulässigen Aufsichtsratsmandate zu vermindern.Herr Kollege Jens, wenn Sie in der Ausschußberatung nicht wirklich gute Gründe nachschieben können, sehe ich keine Chance, daß wir uns über diesen Antrag einig werden.
Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/2700 an die in der Tagesordnung aufgeführen Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rolf Schwanitz, Robert Antretter, Angelika Barbe, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Verjährung von Straftaten nach §§ 234a, 241a StGB
— Drucksache 12/4349 —
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster ergreift das Wort der Abgeordnete Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verfolgung vonStraftaten, die aus politischen Gründen in der ehemaligen DDR nicht verfolgt worden sind, ist seit langem ein Thema von hoher politischer Brisanz. Während sich ehemalige SED-Funktionäre wie Krenz und Modrow mit dem Hinweis auf den kalten Krieg und mit anderen Schutzbehauptungen vor persönlicher Verantwortung drücken wollen, stehen Sätze wie „Die Kleinen fängt man, und die Großen läßt man laufen" oder „Gerechtigkeit haben wir gewollt, und den Rechtsstaat haben wir bekommen" für den ungebrochenen Wunsch nach strafrechtlicher Verfolgung der SED-Unrechtstaten in der deutschen Öffentlichkeit.Bei aller Enttäuschung und inneren Verbitterung über den schwerfälligen Umgang der deutschen Justiz mit diesem Unrecht ist die Erwartungshaltung der Menschen ungebrochen groß. Daran haben auch die Versuche der ehemaligen SED-Führung, die Strafverfolgung gegenüber den früheren Machthabern und ihren Helfershelfern in der sich demokratisierenden DDR von 1989 und 1990 und heute im vereinten Deutschland zu verhindern, nichts geändert.Der Deutsche Bundestag hat vor wenigen Wochen in seiner Beschlußfassung über das Verjährungsgesetz einen klaren Standpunkt zur Verfolgung dieser DDR-Kriminalität bezogen. Die Feststellung, daß die Verjährung bei derartigen Straftaten bis zum 2. Oktober 1990 systembedingt geruht hat, ist nicht nur inhaltlich richtig, sondern für die Tätigkeit der Justiz auch dringend erforderlich.Mit dem Verjährungsgesetz sind jedoch bei weitem noch nicht alle Probleme bezüglich der Verjährung von SED-Unrechtstaten beseitigt. Insbesondere beim Spitzel- und Denunziantentum, bei dem in seiner krassesten Form, nämlich dort, wo beispielsweise Freiheitsstrafen für die Opfer durch DDR-Gerichte ausgesprochen worden sind, nach § 241a StGB die Strafverfolgung einsetzen müßte, haben wir eine völlig andere Situation. Da hier ein Straftatbestand des bundesdeutschen Strafgesetzbuchs zur Anwendung kommt, verjähren diese Straftatbestände permanent. Berücksichtigt man, daß es hier um eine Verjährungsfrist von fünf Jahren geht, so besteht heute eine Verfolgungsmöglichkeit nur noch bei den Taten, die zwischen dem 29. April 1988 und dem 2. Oktober 1990 begangen worden sind. Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot von Strafrechtsnormen verbietet es, methodisch den gleichen Weg zu gehen wie bei den anderen SED-Unrechtstaten. Die Möglichkeit des Ruhens der Verjährungsfrist — so wie wir dies im Verjährungsgesetz richtigerweise formuliert haben — ist beim Spitzel- und Denunziantentum — oder, wie man exakter sagen müßte: bei der politischen Verdächtigung — nicht gegeben.Andererseits ist uns allen klar, daß die Gerichte und Staatsanwaltschaften in Ostdeutschland bereits jetzt überlastet sind. Es kann keinen anderen Weg geben als den, nach der Schwere des Vergehens und nach den Tätergruppen Prioritäten in der Abarbeitung zu setzen. Die Fälle der politischen Verdächtigungen werden dabei, ungeachtet der großen Leiden, die diese Straftaten bei den Opfern verursacht haben, gegenwärtig bei den ostdeutschen Staatsanwaltschaften eher mit einer geringeren Priorität versehen.
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Rolf SchwanitzEs wäre jedoch nicht zu akzeptieren, wenn die Politik einfach zusähe, wie wegen der hohen Arbeitsbelastung der ostdeutschen Justiz auch noch die letzten Verfolgungsmöglichkeiten durch Zeitablauf verschwinden. Die Menschen in Deutschland erwarten, daß sich die Justiz mit den ihr zur Verfügung stehenden Instrumentarien der Strafverfolgung zuwendet. Dies ist ein legitimer und berechtigter Wunsch. Ein tatenloses Zusehen der Politiker gegenüber den Verjährungsprozessen bei der politischen Verdächtigung würde bei den Opfern zu Recht als Komplizenschaft mit den Tätern von gestern ausgelegt.Was also möglich ist, ist die Verlängerung der Verjährungsfrist von fünf auf zehn Jahre, um der Justiz für die Strafverfolgung Zeit zu erkaufen.Lassen Sie mich an dieser Stelle unmißverständlich feststellen, daß es nicht darum geht, jeden Spitzel zu verfolgen. Es geht entsprechend der Formulierung des § 241 a Strafgesetzbuch ohnehin nur um jene Fälle, in denen Menschen infolge der Denunziation Schaden an Leib und Leben oder beispielsweise an Freiheit erleiden mußten. Es ist keine Verschiebung der Verfolgungsprioritäten der ostdeutschen Justiz beabsichtigt. Es geht darum, der Justiz Zeit zu verschaffen, damit sie die Fälle der politischen Verdächtigung entsprechend der Schwere der Tat an den richtigen Platz in der Warteliste der Ermittlungen einordnen kann. Es geht darum, daß die Justiz wenigstens die schwersten Fälle der politischen Verdächtigung in der ehemaligen DDR zur Anklage bringen kann. Die Verlängerung der Verjährungsfrist ist also ein Gebot für eine handlungsfähige Jusitz in Ostdeutschland.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch auf die Eilbedürfigkeit der Angelegenheit hinweisen. Wir eröffnen heute die Gesetzesberatungen zu diesem Thema. Gleichzeitig verjähren diese Tatbestände nach wir vor ununterbrochen. Eine rückwirkende Ausdehnung der Verfolgungsmöglichkeiten ist verfassungsrechtlich unmöglich. Eine Untätigkeit des Parlaments bis zum 3. Oktober 1994 hätte zur Folge, daß die politische Verdächtigung, dieser wichtige Grundpfeiler des ostdeutschen Überwachungsstaates, in keinem Fall mehr strafrechlich verfolgt werden könnte.Die Sozialdemokraten wissen, daß die ostdeutschen Länder auch über den Bundesrat bemüht sind, dieses Problem aufzugreifen. Auf den Umstand, daß von der Bundesregierung in dieser Sache bisher keine Initiative ausgegangen ist, will ich hier nur kurz eingehen. Dies ist für mich ein erneuter Beleg dafür, daß die justitielle Aufarbeitung des SED-Unrechts, die Strafverfolgung in diesem Bereich, vom Bundesjustizministerium nicht als gesamtdeutsche Verpflichtung, sondern als Privatangelegenheit der Länder begriffen wird. Ein Vordenken, eine intellektuelle Unterstüzung der Strafverfolgung von SED-Unrechtstaten wird vom Bundesjustizministerium heute offensichtlich genausowenig geleistet wie 1990. — Als ehemaliger Volkskammerabgeordneter sage ich dies ganz bewußt. —
Man überläßt die Initiative den Ländern und den Sozialdemokraten. Für mich ist dies ein trauriger Zustand.Eile ist geboten! Dies richtet sich insbesondere an unsere Kolleginnen und Kollegen, die an den Ausschußberatungen teilnehmen und abschließend an der zweiten und dritten Lesung beteiligt sind. Je länger wir brauchen, desto geringer wird der Effekt dieser Verjährungsverlängerung für die ostdeutsche Justiz sein. Ich fordere Sie deshalb auf, diesen Gesetzentwurf mit hoher Priorität im Rechtsausschuß zu beraten und zum Abschluß zu bringen. Ich bin sicher, die strafrechtliche Verfolgung der politischen Verdächtigungen in der ehemaligen DDR ist ein Thema, bei dem die Fraktionen einvernehmlich und schnell vor der Öffentlichkeit handeln werden.Danke schön.
Als nächster spricht der Kollege Horst Eylmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Leere des Plenums ist wieder ein aktuelles Thema. Bei einer Zusammenkunft der Ausschußvorsitzenden mit dem Präsidium am Donnerstag letzter Woche ist von mehreren Ausschußvorsitzenden, auch und gerade von Ausschußvorsitzenden der SPD, gerügt worden, im Plenum würden einstündige Debatten für Themen angesetzt, die in Ausschüssen in fünf bis zehn Minuten abgehandelt würden. Man brauche sich unter diesen Umständen über die geringe Präsenz nicht zu wundern. Ich gehe davon aus, daß für die erste Lesung dieses Gesetzes nur deshalb eine Stunde angesetzt worden ist, um die Berechtigung dieser Kritik eindrucksvoll zu verifizieren.Worum geht es? Im Januar dieses Jahres haben wir nach sehr eingehenden sorgfältigen Beratungen im Rechtsausschuß ein Gesetz verabschiedet, wonach die Verfolgungsverjährung von solchen Straftaten in der ehemaligen DDR vom 11. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 geruht hat, die aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden. Die verfassungsrechtlich schwierige Frage, ob das auch für solche Straftaten zu gelten hat, die nicht nur nach dem DDR-Strafrecht strafbar waren, sondern auch unter bundesdeutsches Strafrecht fielen, haben wir — wiederum nach sehr sorgfältigen Beratungen; wir haben sogar eine Anhörung durchgeführt — bejaht. Damit kann auch heute noch eine Freiheitsberaubung, die auf eine politische Denunziation zurückzuführen ist, verfolgt werden; denn eine Freiheitsberaubung war nach § 131 des Strafgesetzbuchs der DDR auch in der DDR strafbar.Richtig ist, daß durch das erwähnte Gesetz die Verjährung von Straftaten, die nach bundesdeutschem Recht verfolgt werden konnten, nicht berührt
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Horst Eylmannwurde. Sie wollen jetzt, meine Damen und Herren von der SPD, die Verjährungsfrist für diese Straftaten verlängern. Es verwundert, daß Sie dies nicht schon im Rahmen der Beratung des vorher erwähnten Verjährungsgesetzes beantragt haben. Damals ist das von den Rechtspolitikern der SPD überhaupt nicht zur Sprache gebracht worden, obwohl der Zusammenhang offensichtlich war. Wir werden Ihr Anliegen dennoch prüfen.Lassen Sie mich auch noch meine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, daß sich erst in der letzten Woche Ihr prominenter Parteifreund Egon Bahr vehement für eine Amnestie eingesetzt hat. Ich habe ihm widersprochen. Sein Vorschlag steht in einem offensichtlichen Gegensatz zu dem, was Sie hier heute propagiert haben.
Sie sollten vielleicht einmal in Ihren eigenen Reihen die notwendige Diskussion führen, um zu einer einheitlichen Meinung zu kommen. Sie müßten sich natürlich auch darüber klarwerden, was das Strafrecht bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu leisten vermag.Wir müssen im Rechtsausschuß einige Fragen rechtstatsächlicher Art klären. Es geht ja, wie Sie zu Recht in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs schreiben, nur noch um die Fälle politischer Verdächtigung und Verschleppung, die ab 1988 geschehen sind. Taten in den Jahren davor sind verjährt. Für diesen kurzen Zeitraum erscheint eine Verlängerung der Verjährungsfrist nur für solche Taten diskutabel, die nicht nach dem alten DDR-Recht strafbar waren. Wie groß die Zahl der übrigbleibenden Delikte ist, müssen wir wissen. Wir müssen dann prüfen, ob die Staatsanwaltschaften in den neuen Bundesländern nicht zumindest so weit arbeitsfähig sind, daß sie in dieser beschränkten Zahl von Fällen für eine Unterbrechung der Verjährung sorgen können. Wir werden das im Rechtsausschuß in Zusammenarbeit mit dem Bundesjustizministerium und den Länderministerien klären und dann unsere Entscheidung treffen. Mehr ist heute zu Ihrem Gesetzentwurf nicht zu sagen.Aber noch einmal zurück zu meinen Eingangsbemerkungen: Unser Procedere im Plenum — die heutige Debatte zeigt es wieder einmal — ist weitgehend zu einem inhaltsleeren Ritual erstarrt. Die Aussprache bei ersten Lesungen dient in vielen Fällen nur noch der Unterrichtung der mäßig interessierten Öffentlichkeit und der Verewigung der Redner im Stenographischen Protokoll. Beides ist auf anderem Wege weitaus ökonomischer zu erreichen. Erklärungen können z. B. schriftlich zu Protokoll gegeben werden. In der zweiten und dritten Lesung spielen wir vor einem immer schwächer und uninteressierter werdenden Publikum politische Entscheidungen nach, die längst in den Ausschüssen gefallen sind. Dort, wo der politische Dikussions- und Entscheidungsprozeß abläuft, nämlich in den Ausschüssen, sperren wir die Öffentlichkeit aus. Dafür gibt es gewichtige Gründe. Wenn man das für gerechtfertigt hält, müßte man aber zumindest nach Wegen suchen, die Ausschußarbeit, die einen Schwerpunkt dieses Parlaments darstellt, für die Öffentlichkeit transparenter zu machen.
Der Bundestag versäumt hier eine effektive Öffentlichkeitsarbeit — mit höchst bedauerlichen Folgen für das Ansehen des Parlaments und der Parlamentarier. Statt dessen lassen wir uns immer wieder mit Bildern und Berichten über das leere Plenum den Bürgern draußen im Lande als Faulenzer vorführen. Es ist an uns, dies zu ändern. Dazu ist es höchste Zeit!
Als nächster spricht der Abgeordnete Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich werde meine Redezeit nicht voll ausschöpfen, weil wirklich nur wenige Sätze zu sagen sind.Der Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion macht mich ratlos. Er will die Verjährungsfristen für die Delikte der Verschleppung und der politischen Verdächtigung auf zehn Jahre verlängern, wie es in der Begründung heißt. Leider ist den Verfassern ein gravierender Fehler unterlaufen: § 234 a StGB bestimmt, daß das Verbrechen der Verschleppung mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft wird. Als höchste zeitige Strafe können damit nach § 38 Abs. 2 StGB fünfzehn Jahre verhängt werden. Für Taten, die wie hier im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren, nämlich fünfzehn Jahren, bedroht sind, sieht § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB aber eine Verjährungsfrist von zwanzig Jahren vor. Der Gesetzentwurf der SPD würde deshalb bei dem Verbrechen der Verschleppung das Gegenteil von dem bewirken, was Sie heute gefordert haben, nämlich keine Verlängerung, sondern eine Halbierung der bisher bestehenden Verjährungsfrist. Deshalb muß das Bundesjustizministerium auch nicht tätig werden, Herr Kollege. Ich wäre dankbar gewesen, wenn man das geprüft hätte, bevor man einen solchen Gesetzentwurf in den Bundestag einbringt.
Anders sieht es bei der politischen Verdächtigung aus. Das Strafmaß ist hier auf fünf Jahre Freiheitsstrafe beschränkt, so daß nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB die Verjährungsfrist bisher tatsächlich nur fünf Jahre beträgt.Ich bitte aber die Kollegen — ebenso wie Kollege Eylmann von der CDU —, noch einmal zu überlegen, ob eine Verlängerung der Verjährung tatsächlich sinnvoll ist. Wie die Begründung ausführt, soll sie sich nur auf die Fälle beziehen, bei denen die Verjährung nicht eingetreten ist, also auf Fälle ab 1988 und später. Berücksichtigt man, daß ein entsprechendes Gesetz frühestens im Herbst dieses Jahres in Kraft treten könnte, so wird die Verlängerung damit nur für die Fälle praktisch bedeutsam, die zwischen Ende 1988 und der Wende im Herbst 1989 begangen worden sind. Die gravierendsten Vergehen werden in der Zwischenzeit angezeigt worden sein und damit
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Jörg van EssenGegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlung, und die Staatsanwaltschaft kann nach § 78 c StGB durch Ermittlungshandlungen die Verjährung unterbrechen. Ist es da nicht ein Gebot der Vernunft, die weniger gravierenden Fälle unter die „normale" Verjährung fallen zu lassen?Wie gesagt, ich bitte herzlich um ein erneutes Nachdenken, vielleicht unter Beteilligung des Kollegen Professor Meyer von der SPD, der die handwerklichen Dinge im Schlaf beherrscht. Er taucht — das ehrt ihn — im Rubrum bisher nicht auf.Vielen Dank.
Als nächstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren! Hier ist schon gesagt worden, daß der Bundestag am 21. Januar ein Gesetz über das Ruhen der Verjährung beschlossen hat. Drei Wochen später hat die SPD einen Entwurf eingereicht, der heute zur Diskussion steht. Es geht um dasselbe Thema, und auch ich habe mich gewundert, warum nach drei Wochen eine Veränderung vorgenommen werden soll. Herr Schwanitz hat gesagt, es seien bei weitem nicht alle Probleme beseitigt. Wir werden also — so darf ich annehmen — noch mit einer Serie weiterer entsprechender Anträge zu rechnen haben.In der Drucksache 12/4349 heißt es unter „A. Problem", von der alten Regelung, also von der vor kurzem beschlossenen Regelung, seien „diejenigen politisch motivierten Delikte nicht erfaßt, die schon vor dem 3. Oktober 1990 unter bundesdeutsches Strafrecht fielen". Hierzu zählten die Vorschriften der politischen Verdächtigung und der Verschleppung, die 1951 in das Strafgesetzbuch aufgenommen worden seien, „um auch den DDR-Bürger vor der Willkür des SED-Regimes zu schützen". Jetzt endlich könne diesen Vorschriften praktische Bedeutung zukommen. In der Begründung heißt es noch, daß Straftaten nach diesen Vorschriften, §§ 234a und 241 a StGB, in der Bundesrepublik verfolgt werden konnten, so daß der Lauf der Verjährungsfrist nicht unterbrochen werden konnte.Mich erfaßt insofern Erstaunen — das ist auch von Herrn Eylmann schon angedeutet worden —, als in Art. 2 des ersten Verjährungsgesetzes ausdrücklich ein Satz eingefügt worden ist, wonach auch in den Fällen, in denen sowohl Bundesrecht wie auch DDR-Recht gegolten habe, das Ruhen der Verjährung eintreten könne. Es hieß in der Begründung — genau in bezug auf den Fall, den wir heute besprechen:Unterlag beispielsweise die Tat unter dem Aspekt der politischen Verdächtigung ... dem bundesdeutschen Strafrecht . . ., so kommt ein Ruhen der Verjährung ... nicht in Betracht. Demgegenüber sei es aber gerechtfertigt, für den Strafanspruch der ehemaligen DDR, der vor allem unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsberaubung, § 131 StGB DDR, bestehen kann, von einem Ruhen der Verjährung auszugehen.Das war die damalige Konzeption. Ich habe dagegen polemisiert; aber es ist so beschlossen worden. Im Bericht des Rechtsausschusses wurde dieses Herangehen sehr ausführlich begründet, u. a. mit dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Daß es Bedenken gegen diesen Art. 2 gab, zeigte nicht nur meine Stellungnahme im Rechtsausschuß, sondern war auch bereits in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates deutlich geworden.Ich hatte nun die Annahme, als ich das las, daß man der eigenen Argumentation zu Art. 2 nicht mehr traut, vielleicht der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung nicht mehr sicher ist; vielleicht gab es auch schon Kontakte mit dem Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls wird nun ein anderer Weg eingeschlagen, nämlich die Anwendung des Bundesrechts.Ich möchte noch etwas speziell zu diesen Regelungen sagen. Die Paragraphen, um die es geht, also § 241a StGB, politische Verdächtigung, und § 243 a StGB, Verschleppung, zeigen, daß sich die Staats- und Justizorgane der alten Bundesrepublik gerade in den Hoch-Zeiten des Kalten Krieges und der politischen Verfolgung Andersdenkender sehr stark mit dem sogenannten Unrecht der DDR beschäftigt haben. Die Paragraphen sind bekanntlich am 15. Juli 1951 in das Strafgesetzbuch der BRD eingefügt worden, zu einer Zeit, in der man sich einerseits sehr stark damit beschäftigte, Handlungen der DDR-Bürger zu bearbeiten und zu registrieren und, wenn es denn möglich war, zu verfolgen, andererseits aber mit dem Unrecht der NS-Zeit sehr zurückhaltend umging, wir wir alle wissen und hier schon öfter besprochen haben. Hier wird nach meiner Ansicht deutlich, daß die damalige Art und Weise, mit der Gegenwart der DDR umzugehen, und die gleichzeitige halboffizielle Duldung von vielem, was an barbarischem NS-Unrecht geschah, in der Zeit von 1951 bis 1968 doch eng zusammengehörten.Mich erschreckt es, daß sich die SPD daran beteiligt hat, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verwenden, daß die juristischen Diskussionen gerade um solche Gesetze, um ihren Gefährdungs- und Täterbereich, ihr Bemühen, im Grundlagenvertrag zu einem besseren Verhältnis zur DDR zu kommen, immer in Zweifel gezogen haben. Man erinnere sich nur an die damaligen Kämpfe bestimmter Kräfte gegen die Entspannungspolitik. Diese damalige Regelung, dieses damalige Herangehen mißachtete die DDR ganz systematisch als eigenständiges Völkerrechtssubjekt.Jetzt soll die Verjährung verlängert werden. Herr Schwanitz hat zur Begründung angeführt, die Rechtspflege in den neuen Ländern sei in der kurzen noch verbleibenden Zeit nicht in der Lage, alle in Betracht kommenden Delikte zu verfolgen. Kurz gesagt: Beamtenmangel als Begründung für Verjährungsverlängerung. Ich wünsche Ihnen viel Glück beim Bundesverfassungsgericht!Ich stelle auch die Frage, wann denn die nächste Verlängerung kommt. Herr Schwanitz hat gesagt, man dürfe nicht tatenlos zusehen, wie Tag für Tag Straftaten verjährten. Ich meine, jeder Jurist weiß um den Wert der Verjährung in der Rechtsordnung. Man
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Dr. Uwe-Jens Heuerkann sich nicht hinstellen und sagen: „Wir können nicht tatenlos der Verjährung zusehen." Dann heben Sie doch die Verjährung für die DDR in toto auf! Dann brauchen Sie dem nicht mehr tatenlos zuzusehen.Wir haben hier oft darüber diskutiert, ob es politische Justiz gibt. Ich meine, daß solche Bemühungen mit Blick auf DDR-Handlungen — sei es mit dieser, sei es mit jener Begründung: mal mit dem schon genannten Art. 2, mal mit dem erwähnten Bundesrecht — politische Justiz sind. Ich zitiere Kirchheimer:Wenn gerichtsförmige Verfahren politischen Zwecken dienstbar gemacht werden, sprechen wir von politischer Justiz.Das ist ein Zitat aus seinem Buch „Funktionen des Staates und der Verfassung", Berlin 1966, Seite 147f.Egon Bahr — er wurde heute schon zitiert — hat am 20. April im „Neuen Deutschland" geschrieben, daß die innere Einheit Deutschlands von der Einstellung dieses Kurses abhängt. Herr Geis hat in seiner bekannten nachdenklichen Art darauf geantwortet. Herr Schwanitz hat sich hier wieder auf den ungebrochenen Willen bezogen, man müsse immer neue Gesetze machen, um diese Verfolgung weiter durchzuführen.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie sehr eindringlich, innezuhalten und über die Fortsetzung dieses Abrechnungskurses und über Versöhnung nachzudenken.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächster hat Gunter Weißgerber das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere, daß wir — für viele Opfer zu spät — erst heute diese Beratung im Deutschen Bundestag führen. Zweieinhalb Jahre nach der deutschen Vereinigung entscheiden wir über eine Verlängerung der Verjährungsfristen von politisch motivierten Straftaten wie Verdächtigung — mit tragischen Folgen für die Denunzierten — und Verschleppung aus politischer Willkür.Der Sachstand ist ernüchternd in seiner Eindeutigkeit. Angenommen, das Haus beschließt das Gesetz am 17. Juni dieses Jahres. Dann haben die unter §§ 234a und 241a StGB fallenden Straftäter, welche ihre niederen Erfolge bis zum 16. Juni 1988 abrechnen konnten, Ruhe vor Strafverfolgung. Die Opfer werden die Repressalien vielfach nie verwinden; ihre Peiniger dagegen kommen davon. Man kann natürlich auch versuchen, die mißliche Situation positiv auszudrükken: Wenigstens die Denunzianten, welche eifrig über den 16. Juni 1988 hinaus ihre miesen Dienste leisteten, können im Falle einer unserem Antrag gemäßen Einigung noch realistisch belangt werden.Mein schwacher Trost wird den Opfern wie Hohn vorkommen. Doch wollten diese in ihrer Mehrheit immer den Rechtsstaat. Rechtsstaat bedeutet aber nun einmal Recht statt Rache. Rückwirkende Gesetze verbieten sich hier von selbst. Ungeachtet dessen sind wir an dieser Stelle in der unbedingten Pflicht zu zügiger Arbeit. Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel. Die Ahnung, daß eine erfolgreich restaurierte Nomenklatur mit ihren geschlagenen Gegnern härter umgesprungen wäre, darf uns nicht zur Verbiegung rechtsstaatlicher Grundsätze verleiten.
Ich denke, unserer heutigen Diskussion dürfte die Kenntnis von Einzelschicksalen nichts schaden. Ich werde deshalb ein Beispiel aus dem „SalzgitterReport" vortragen:Politische Verdächtigung des Albert Buchler...Albert Buchler hat ausgesagt:Ich hatte schon seit mehreren Jahren den Wunsch, die DDR zu verlassen. Meine damalige Ehefrau Senta und mein Cousin Klaus wollten sich anschließen. Wir haben nie einen offiziellen Ausreiseantrag gestellt, weil wir die jahrelangen Repressalien seitens der Behörden der DDR fürchteten.So planten wir Ende Februar 1982, gemeinsam über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland zu flüchten. Zu diesem Zweck buchten wir eine Flugreise nach Bratislava. Das Ganze sollte als Urlaubsreise getarnt werden. Von Bratislava wollten wir dann zu Fuß über die Grenze nach Österreich flüchten. Als mein Cousin Anfang März 1982 für uns drei die Flugtickets besorgt hatte, besprachen wir die näheren Fluchteinzelheiten. Das war der Zeitpunkt, als meine Frau erstmals Bedenken bekam, die sie auch äußerte. Ich habe diese Bedenken aber nicht ernst genommen, weil ich von dem Gelingen unseres Planes überzeugt war.Am 15. März 1982 wurde ich um 11.50 Uhr von drei Beamten der Stasibehörde am Arbeitsplatz aufgesucht und „zur Klärung eines Sachverhaltes" nach Halle gebracht. Ein Grund für meine Inhaftierung wurde mir nicht genannt. Gegen 17.00 Uhr des gleichen Tages wurde ich das erstemal vernommen. Ich wurde gefragt, ob ich mir denken könne, weshalb ich inhaftiert wurde. Für mich stand nun fest, daß es wegen unserer geplanten Flucht war. Also versuchte ich auch nicht zu leugnen. Am nächsten Tag wurde für mich ein Haftbefehl erlassen. Nach Abschluß meiner Vernehmungen wurde mir eröffnet, daß meine Ehefrau unsere Fluchtabsichten der Staatssicherheit gemeldet hatte. Ich habe ihre Aussage selbst gelesen. Sie hat angegeben, daß sie mit uns flüchten wollte, jetzt aber Bedenken bekommen habe und deshalb die Anzeige gemacht habe.Sie selbst wurde auch nicht verurteilt. Ich wurde wie mein Cousin am 18. Juni 1982 vom Bezirksgericht Halle zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wegen „versuchter Republikflucht" verurteilt.Ich denke, dies ist ein eindrucksvolles Beispiel, daß wir auf jeden Fall noch handeln müssen, auch wenn
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13194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Gunter Weißgerbernur noch relativ wenige davon betroffen sein werden.Angesichts dieser Dinge von Siegerjustiz zu sprechen, wie es vielfach geschieht, scheint mir sehr unehrlich oder verschroben. Eine Justiz, welche den Oberspitzbuben nach Chile ziehen läßt, zeigt sich eher hilflos. Siegerjustiz ist es jedenfalls in keiner Weise. Mit Siegerjustiz verbinden sich bei mir die Vorstellungen von Internierung und Waldheim. Geréchtfertigte Strafverfolgung in einer Demokratie in dieser Art zu verunglimpfen scheint mir von Lernunfähigkeit zu zeugen. Bedenklicher ist dagegen die scheinbare Wahrheit, daß erfolgreich installierte Gewaltherrschaft Straffreiheit im Falle eines späteren Wechsels zu Demokratie nach sich zieht. Demokraten haben im Gegensatz dazu unter diktatorischen Bedingungen wesentlich härtere Folgen zu erwarten.
Herr Weißgerber, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heuer?
Wenn ich hier zu Ende bin, können Sie gern fragen.
— Im Moment nicht.
— Das können Sie.
Verehrte Abgeordnete, sehen wir zu, daß in diesem Land Gewalttäter keine Chance mehr haben und demzufolge ähnliche Aufgaben nie wieder auf ein deutsches Parlament zukommen können! Geben wir mit der zügigen Verabschiedung des Gesetzentwurfs ein Zeichen der Gerechtigkeit an die Bevölkerung!
Herr Eylmann, mich hat vorhin etwas überrascht, welche Wertung Sie vorgenommen haben. Es geht um ein hochpolitisches Problem, gerade im Osten, und da war es nicht sehr schön, wie Sie sich geäußert haben.
Herr Heuer, Sie sprachen vorhin im Zusammenhang mit den §§. 241a und 234a StGB von Bundesrecht. Dieses Recht wirkt seit 1951, es gibt also eine Kontinuität. Übrigens bin ich für diese Art Recht auch auf die Straße gegangen. Ich kann Ihren Anschauungen da sowieso nicht folgen.
Jetzt können Sie mich fragen.
Herr Abgeordneter, Sie haben vorhin gesagt, daß die Interniertenlager nach 1945 Ausdruck von Siegerjustiz waren. Beziehen Sie das auch auf den Nürnberger Prozeß?
In diesem Fall nicht. Ich beziehe mich auf die ganze Thematik, die wir bearbeiten, darauf, daß der Mißbrauch der Lager Sachsenhausen und Buchenwald durch die DDR-Machthaber im Auftrag der sowjetischen Machthaber erfolgte. Um diese Unrechtsproblematik geht es. Dieses Verhalten ist eine Form von Siegerjustiz. Wir wissen auch, daß der größte Teil der Inhaftierten nicht unter die Schuldigen zu rechnen war, größtenteils waren es Unschuldige.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Ja.
Stimmen Sie meiner Meinung zu, daß die Interniertenlager nicht von der DDR eingerichtet worden sind?
Ich nannte auch noch Waldheim. Weitergeführt hat es aber die DDR, in ihrem Sinne auch recht erfolgreich.
Danke schön.
Als letzte zu diesem Tagesordnungspunkt spricht die Ministerin der Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mich bei dem Gesetzentwurf, den die SPD vorgelegt hat, auf einige wenige Worte beschränken.Die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Staats- und Parteiapparats der ehemaligen DDR zählt mit zu einer der schwierigsten Hinterlassenschaften des SED-Staates. Mit welchen Schwierigkeiten unsere Strafgerichte bei der justitiellen Aufarbeitung der SED-Vergangenheit zu kämpfen haben, wird — auch in den Medien — immer wieder sehr deutlich. Es handelt sich um ein Problem, das in seinen vielen feinen Verästelungen bisher mehr die Fachöffentlichkeit interessierte und von ihr auch hinreichend erörtert worden ist.In diesem Zusammenhang stellen sich zentrale Fragen der Verfolgungsverjährung. Es ist hier schon gesagt worden, daß mit der Verabschiedung eines Gesetzes über das Ruhen der Verfolgungsverjährung gesetzgeberisch gehandelt worden ist. Wir haben unterschiedliche Rechtssituationen, die in dem Entwurf, so wie er von der SPD vorgelegt worden ist, nicht hinreichend berücksichtigt werden. Ich glaube, daß ich den Vorwurf, daß die Bundesregierung hier untätig geblieben ist, mit Berechtigung zurückweisen kann, denn gerade die Bundesregierung möchte nicht, daß Verjährungsfristen verkürzt werden. Daß dies bei Verabschiedung des vorliegenden Entwurfs beim Tatbestand der Verschleppung der Fall wäre, ist von Herrn van Essen juristisch dargelegt worden.Von daher möchte ich einmal deutlich machen: In anderen Debatten wird häufig der Vorwurf erhoben, Gesetze seien handwerklich nicht hervorragend, und sie werden dann mit bestimmten Noten belegt. Wir sollten uns nicht in dieser Form auseinandersetzen; sonst kommen andere und belegen vorliegende Vorschläge ebenfalls mit bestimmten Noten, und darum geht es uns nicht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13195
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau von Renesse?
Ja.
Frau Ministerin, stimmen Sie mir darin zu, daß bei der Argumentation von Herrn van Essen zu dem Tatbestand der Verschleppung, bei dem, wenn antragsgemäß entschieden würde, eine Verkürzung der Verjährungsfrist eintreten würde, das Problem des § 234a Abs. 3 StGB, nämlich der strafrechtlich eigenständig zu würdigenden Vorbereitungshandlung mit einer Höchststrafe von fünf Jahren, nicht erfaßt ist?
Sie haben recht, daß wir hier verschiedene Tatbestände unterscheiden müssen. Es geht uns gerade darum — so wird auch der vorgelegte Entwurf der SPD begründet —, die Probleme im Zusammenhang mit der Verschleppung strafrechtlich insgesamt zu bewältigen und zu versuchen, sie aufzuarbeiten. Dann muß man aber auch klarstellen, daß dazu eine Regelung erforderlich ist, die ausschließt, daß die Verjährungsfrist in einigen Fällen schon nach zehn Jahren abgelaufen ist. An diesem Punkt wird deutlich, daß Ihre Vorschläge — um es vorsichtig auszudrücken — in sich nicht ganz ausgewogen sind. Dies sollte in den Beratungen im Rechtsausschuß mit eine Rolle spielen.
Bei dem Tatbestand der politischen Verdächtigung ist schon ausgeführt worden, daß die Verjährungsfrist nach geltendem Recht fünf Jahre beträgt und wir die Verjährung aus verfassungsrechtlichen Gründen auch nur bei den Taten verlängern können, bei denen die Verjährung noch nicht eingetreten ist. Das heißt, wir können, auch wenn der Gesetzentwurf noch in diesem Jahr verabschiedet werden sollte, nur solche Delikte erfassen, die nach dem 1. Januar 1988 begangen worden sind. Mit anderen Worten: Wir erleichtern die Verfolgung nicht bei den Taten, die während der schlimmsten Repressionsphasen in der ehemaligen DDR begangen worden sind, sondern ausschließlich bei solchen, die kurz vor der Demokratisierung begangen worden sind. Auf diesen Punkt muß man in diesem Zusammenhang der Ehrlichkeit halber hinweisen.
Zum Bedürfnis einer gesetzlichen Regelung möchte ich nur anmerken, daß die Frage, ob die Gerichte und die Staatsanwaltschaften in den neuen Ländern in der Lage sind, auf diesem Gebiet tätig zu werden, schon lange behandelt wird. Deshalb wird im Rechtsausschuß des Bundesrats ja schon seit April letzten Jahres über Vorschläge diskutiert. Es gibt einen Gesetzentwurf des Landes Mecklenburg-Vorpommern, der die Fragen der Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen zum Inhalt hat. Dieser Entwurf ist in der Beratung immer wieder vertagt worden, weil sich die verantwortlichen Justizminister der neuen Länder nicht in der Lage sahen, zu sagen: Wir haben wirklich ein Bedürfnis für diese Regelung. Das heißt, sie glauben, mit diesen Fragen fertig werden zu können.
Darum sehe ich erst recht keine Untätigkeit der Bundesregierung, wenn wir zusammen mit den Landesjustizministern, die für diese Frage verantwortlich sind, abwarten und zu beurteilen versuchen, ob wir hier noch gesetzgeberisch tätig werden müssen.
Daher glaube ich, dieser Entwurf trägt nicht dazu bei, daß wir, was vielleicht viele von uns wünschen, mit den schwierigen Fragen der strafrechtlichen Bewältigung von SED-Unrechtstaten besser fertig werden.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Zwischenbemerkung hat der Abgeordnete Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz kurz noch etwas zu einer Sorge, die mich im Zusammenhang mit unserer heutigen Debatte bedrückt.
Ich würde es für verhängnisvoll halten, wenn in der Vorbereitung der Wahlen von 1994 gleichsam ein Wettbewerb beispielsweise zwischen der SPD und der CDU ausbricht, wer der Tüchtigere in der Verfolgung von DDR-Kriminalität ist.
Ich würde darum bitten, daß wir überlegen, ob man mit diesen Dingen nicht doch anders umgehen kann, und daß man nicht versucht, dem anderen etwas vorzuwerfen, in diesem Fall beispielsweise der CDU — Sie wissen ganz genau, daß diese Seite des Hauses mich sehr gern hier oben maßregelt —; das würde ich also nicht für schön halten. Ich hielte es für politisch gefährlich für den inneren Frieden in Deutschland, wenn hier ein Wettbewerb ausbrechen sollte, wer nun mit der ehemaligen DDR schärfer umgeht und wer dort Fehler begeht.
Ich darf nur noch einmal an die Formulierung erinnern, die heute gebraucht wurde: Erich Honecker ist von der Justiz freigelassen worden. — Sie alle wissen, warum das durch das Berliner Verfassungsgericht geschehen ist. Sie alle sind wahrscheinlich letztlich zufrieden, daß er weg ist. Das war ganz unzweifelhaft kein Freispruch — das wissen Sie alle —, sondern es war eine Einstellung des Verfahrens, weil der Angeklagte das Ende des Prozesses nicht erleben würde. Das halte ich für rechtsstaatlich nötig. Das hat aber mit Freispruch und ähnlichem überhaupt nichts zu tun, auch nichts mit dem bekannten Satz: Die Großen läßt man laufen, die Kleinen hängt man. Das alles halte ich für Demagogie.
Ich würde darum bitten, diese Demagogie zu unterlassen und zu versuchen, mit diesem Erbe der DDR vernünftig umzugehen, damit wir auf dem Wege zum inneren Frieden weiterkommen. Es würde mich sehr freuen, wenn auf allen Seiten des Hauses in dieser Richtung etwas unternommen würde.
Danke schön.
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen zu Zwischenbemerkungen.
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13196 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthIch schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/4349 an den Rechtsausschuß vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Einbürgerung und Hinnahme der Doppelstaatsangehörigkeit— Drucksache 12/4533 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Wir verfahren dementsprechend.Als erste spricht die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beginnen heute mit der parlamentarischen Beratung unseres Gesetzentwurfs zur Erleichterung der Einbürgerung und Hinnahme der Doppelstaatsangehörigkeit.Mit diesem Vorschlag werben wir von der SPD für Veränderungen unseres Staatsbürgerschaftsrechts in drei wichtigen Punkten: Wir wollen, daß die dann integrierten ausländischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland nach acht Jahren rechtmäßigen Aufenthalts ein Recht auf Einbürgerung erhalten und daß sie nach fünf Jahren eingebürgert werden können.Wir wollen zum zweiten, daß Kinder mit einer ausländischen Mutter oder einem ausländischen Vater bei der Geburt in der Bundesrepublik Deutschland Deutsche werden können. Und wir wollen, daß Doppelstaatsangehörigkeit kein Hindernis mehr für die Einbürgerung ist.Bundespräsident von Weizsäcker hat in seiner letzten Weihnachtsansprache vor Millionen von Bürgerinnen und Bürgern deutlich gemacht, worum es politisch im Kern geht. Er hat für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland geworben, für eine Gesellschaft der guten Nachbarschaft, in der wir uns alle zu Hause fühlen können, und hat dann ausgeführt — ich glaube es ist wichtig, daß man diese Worte nochmals im einzelnen zu Gehör bringt —: „Sind wir uns aber", so fragt der Bundespräsident, „auch genügend darüber im klaren, wer was dazu beiträgt, damit dieses Zuhause gut funktioniert?" Er fährt fort: „In München, um ein Beispiel zu nennen, sind 20 % der Mitarbeiter in Krankenhäusern Ausländer, in Gaststätten sind es mehr als ein Drittel, in Monteur- und Metallberufen knapp 50 %, bei der Straßenreinigung gar über 70 %. Was ausländische Arbeitnehmer bei uns leisten, " , so sagt er, „nehmen wir gern in Anspruch. " Und er fügt hinzu: „Da wäre es unmenschlich und töricht, wollten wir sie ausgrenzen."
„Würden wir denen, die es wünschen,", so fährt der Bundespräsident fort, „den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtern, und sei es neben ihrer bisherigen, dann würden wir ihre Lebenslage verbessern und unser Zusammenleben fördern. So", schließt Richard von Weizsäcker, „habe ich es schon vor über zehn Jahren als Berliner Bürgermeister erfahren: Es ist unser eigenes, unser deutsches Interesse. "Das hat Bundespräsident von Weizsäcker in seiner Weihnachtsansprache gesagt. Ich meine: Genau darum geht es; er hat recht. Die Erleichterung der Einbürgerung und die Hinnahme der Doppelstaatsangehörigkeit, um Integration und ein friedliches, gut nachbarliches Zusammenleben bei uns in Deutschland zu fördern, liegen in unserem eigenen Interesse.Es kommt ein zweites hinzu: Wir selber sind daran gewöhnt, täglich den alten Grundsatz jeder funktionierenden Demokratie ganz selbstverständlich für uns in Anspruch zu nehmen, der lautet: Wer Pflichten hat, der muß auch Rechte haben, auch staatsbürgerliche. Für die ausländische Wohnbevölkerung in unserem Lande gilt dieser Grundsatz bis heute nur sehr eingeschränkt. Wir sagen: Das muß sich ändern!
Wir wissen, daß nach Inkrafttreten der Verträge von Maastricht für die hier lebenden Staatsangehörigen und Staatsbürger aus EG-Ländern hoffentlich bald einiges anders wird. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß die große Mehrheit unserer ausländischen Wohnbevölkerung aus der Türkei oder aus dem ehemaligen Jugoslawien kommt. Diese Personen bleiben von den Reformen nach Maastricht ausgeschlossen.Wir sagen nun: Insbesondere für sie soll der Gesetzentwurf Einbürgerungserleichterungen bringen. Sie sind gute Nachbarn, sie leben und arbeiten zum allergrößten Teil schon Jahrzehnte bei uns — insgesamt mehr als drei Millionen schon länger als 15 Jahre —, sie bezahlen — das ist wichtig — die gleichen Steuern und tragen mit ihren Beiträgen zu unserem Sozialsystem im übrigen wertmäßig mehr bei, als sie als Gruppe davon profitieren.Wenn wir die Zahlen noch näher anschauen, stellen wir fest, daß mehr als 1,5 Millionen dieser ausländischen Wohnbevölkerung heute schon länger als 20 Jahre hier leben. Zwei Drittel der ausländischen Kinder sind in der Bundesrepublik geboren. Und die sitzen mit Ihren Kindern in Ihrer Heimatgemeinde auf der gleichen Schulbank, und sie spielen Fußball im selben Fußballverein.Viele dieser ausländischen Staatsangehörigen bei uns hätten gerne einen deutschen Paß, weil sie hier bleiben werden und weil sie vollständig dazugehören wollen. Aber sie haben Schwierigkeiten, eingebürgert zu werden. Wenn sie ihre alte Staatsangehörig-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13197
Dr. Herta Däubler-Gmelinkeit nicht aufgeben können oder das nicht wollen, haben sie nach der heutigen Praxis überhaupt keine Chance. Das zeigt die extrem niedrige Zahl der Einbürgerungen gerade aus diesem Personenkreis.Ich halte es für einen Fehler, daß bei uns in Deutschland das Verbot der Doppelstaatsangehörigkeit bisher immer noch als wichtiger erachtet wird als das Einbürgerungsinteresse dieser — wie ich sie nennen darf — Inländer mit ausländischem Paß.Ich halte es auch für einen Fehler, daß das Verbot der Doppelstaatsangehörigkeit höher bewertet wird als das Integrationsinteresse unserer Gesellschaft,
in der wir uns doch alle — ich komme auf Richard von Weizsäcker zurück — zu Hause fühlen wollen.Wenn wir in unsere Nachbarländer blicken, erkennen wir: Die sind alle schon weiter, jedenfalls die allermeisten. In den meisten dieser Nachbarländer ist trotz der Zugehörigkeit zu dem 1963 abgeschlossenen Europaratsabkommen zur Vermeidung von Doppelstaatsangehörigkeit die Lage anders. Aber dieses Abkommen steht dem, was wir als Reformen vorschlagen — vergessen wir das bitte nicht —, überhaupt nicht entgegen.Wie machen es die Schweizer, die Engländer, die Franzosen, die Niederländer, die Skandinavier, die Italiener und eigentlich alle außer den Luxemburgern, sogar teilweise — auch dort gibt es bereits einen Wandel — die Österreicher? Sie haben die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit bei der Geburt schon längst vorangetrieben. Sie haben das auf Abstammung beruhende Staatsangehörigkeitsprinzip, das ius sanguinis, soweit das vorher ausschließlich galt, durch das Territorialprinzip, das ius soli, längst ergänzt. Das sollten auch wir tun. Das schlagen wir vor.
In diesen Nachbarländern ist übrigens längst die Konsequenz daraus gezogen worden, daß Doppelstaatlichkeit und Einbürgerungserleichterungen wichtige Mittel zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft sind. In Großbritannien wurde diese Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts Anfang der achtziger Jahre vorgenommen und ausdrücklich damit begründet — ich zitiere —, „daß Doppelstaatlichkeit den Integrationsprozeß im Vereinigten Königreich erleichtere" und sich — jetzt folgt wieder ein wörtliches Zitat — „die mehrfache Staatsangehörigkeit in der Praxis als arbeitsfähiges Konzept erwiesen" habe, während „das Verbot der doppelten Staatsangehörigkeit in der Praxis eine zu starke Verwaltungsbelastung mit sich bringen" würde.Ich weiß, daß das für manche von Ihnen eine neue Argumentation ist. Aber wir werben mit unseren Vorschlägen, deren Beratung wir heute anfangen, dafür, daß auch Sie sich anschauen, was in der Wirklichkeit los ist, und daß wir dann daraus gemeinsam die vernünftigen Konsequenzen und Folgerungen ziehen.Noch einmal Großbritannien, Anfang der achtziger Jahre: „Man anerkenne" — so heißt es dort — „ausdrücklich, daß es bei vielen als Arbeitnehmer zugewanderten Einbürgerungswilligen eine doppelte Loyalität des Herzens gebe, eine Loyalität, die eben nicht gleichzusetzen sei mit einer Loyalität gegen Großbritannien als Land, das die Staatsangehörigkeit neu zuerkennt, oder einer einseitigen Loyalität für das Heimatland, die in Konkurrenz mit der neuen Staatsangehörigkeit entstehen kann."Doppelte Loyalität für zwei Staaten gleichzeitig, das ist es, was man dort vorgefunden hat. Diese doppelte Loyalität sollten auch wir respektieren und anerkennen, zumal da wir wissen, daß auch in der Bundesrepublik — Prinzip hin, Prinzip her — eine große Anzahl von Doppelstaatsangehörigen lebt, die diesen Grundsatz und seine Auswirkung in der Praxis für sich und für uns tagtäglich bestätigen.
Ich denke, daß diese Überlegungen in Großbritannien und anderen unserer Nachbarländer vieles aufgreifen, was unsere ausländische Wohnbevölkerung heute bewegt. Die meisten von ihnen tun sich schwer, ihre alte Staatsangehörigkeit aufzugeben. Manche — übrigens Menschen, die nicht einmal rechtliche oder materielle Gründe dafür aufführen wollen oder können, z. B. Gründe der Erbfolge oder andere, die wir kennen — sagen sie kämen sich vor, als würden sie einen Teil ihrer persönlichen Identität preisgeben, als würden sie mit familiären oder kulturellen Bindungen brechen. Das ist etwas, was wir nicht wollen. Ich habe von keiner Seite dieses Hauses Anforderungen an Integration gelesen, die darauf hinausliefen, kulturelle, familiäre oder persönliche Identität aufzugeben.Aber wenn das so ist, warum anerkennen wir nicht bald gemeinsam das, was die Engländer beschrieben haben und was uns unsere Nachbarn vormachen, als für in der Bundesrepublik nicht nur nachdenkenswert, sondern auch als etwas Wichtiges, was wir nachvollziehen können? Wir sollten dem Rechnung tragen.Der SPD-Gesetzentwurf tut das. Er erleichtert die Einbürgerung, gibt nach acht Jahren ein Einbürgerungsrecht und läßt nach fünf Jahren unter bestimmten Voraussetzungen die Einbürgerung zu. Unser Gesetzentwurf nimmt Abstand vom generellen Verbot der Doppelstaatsangehörigkeit. Wir legen auf diesen generellen Abschied großen Wert, weil wir gern eine bundeseinheitliche und — wenn es irgendwie geht — in der Praxis bürokratiearme Anwendung dieses Grundsatzes hätten.
Unser Gesetzentwurf gibt in Deutschland geborenen Kindern, deren Eltern oder Elternteile einen ausländischen Paß haben, die aber bei uns geboren sind, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit bei der Geburt und modernisiert so unser Staatsbürgerschaftsrecht, ergänzt also dieses vielgerühmte Abstammungsprinzip, das ius sanguinis, durch das Territorialprinzip, das ius soli.Unser Vorschlag zieht auch die Konsequenzen aus den Aktionen der deutschen Wirtschaft zur Anwer-
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Dr. Herta Däubler-Gmelinbung ausländischer Arbeitnehmer seit Adenauers Zeiten
und — lassen Sie mich daran erinnern — aus der Tatsache, die uns Max Frisch und der Bundespräsident Heinemann immer wieder mahnend vorhielten: „Es wurden zwar Arbeitskräfte gerufen, aber es sind Menschen gekommen."Der Gesetzentwurf schließt vernünftigerweise zu der Rechtslage und der Praxis unserer europäischen Nachbarstaaten auf, die Fragen zu lösen hatten, die mit denen vergleichbar sind, die die Bundesrepublik jetzt zu lösen hat.Lassen Sie mich hinzufügen, daß die zweite, jetzt fertig vorliegende und ausgearbeitete Fassung des Zusatzprotokolls zum sogenannten Mehrstaatenabkommen des Europarats von 1963 auch in diese Richtung zielt. Wir finden es schade, daß die Bundesregierung dieses Abkommen noch nicht gezeichnet hat. Die Franzosen haben dies schon getan. Wir ermutigen Sie, ja wir fordern Sie auf, dieses Abkommen bald zu zeichnen und dann dem Deutschen Bundestag vorzulegen.Wir möchten gerne, daß die Vorschläge, die wir heute beraten, bald verwirklicht werden. Wir halten es für falsch, mit diesen fälligen Entscheidungen so lange zu warten, bis die Bundesregierung irgendwann einmal ein vollständig neues Staatsangehörigkeitsrecht ausgearbeitet haben wird. Die Entscheidungen stehen jetzt an.Wir wissen, daß sehr viele gesellschaftliche Organisationen und die Bürgerinnen und Bürger das genauso sehen. Der Deutsche Städtetag z. B., an der Spitze sein Präsident, der Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel, drängt auf Reformen. Wir nehmen seine zusätzlichen Vorschläge zur Beschleunigung oder Erleichterung des Einbürgerungsverfahrens gern auf.Es ist ein wichtiges Zeichen, daß über 250 000 Unterschriften in wenigen Wochen bei der Bürgerinitiative eingegangen sind, die für die Unterstützung der Reformen des Staatsbürgerschaftsrechts wirbt. Auch namhafte Politikerinnen und Politiker der Union sind dabei. Sie wissen das selber. Ich denke, Sie sollten nicht nur auf uns, sondern auch auf die hören.
Lassen Sie mich noch anführen — ich habe mir dies bis zum Ende aufgespart —, daß ich der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Frau Schmalz-Jacobsen, sehr dankbar dafür bin, daß sie seit langem in der gleichen Richtung denkt wie wir und sie einen ausgearbeiteten Vorschlag vorgelegt hat. Ich bedauere es, daß dieser Vorschlag nicht der offizielle Vorschlag der Bundesregierung ist und daß wir im Bundestag offiziell nicht über ihn beraten können. Aber was nicht ist, kann noch kommen.Ich weiß aus Gesprächen und Stellungnahmen, daß viele Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsparteien dieses Hauses die Dringlichkeit und den Modernisierungsbedarf ebenso sehen wie wir. Deshalb fordere ich Sie auf: Wir sollten dies jetzt alles zusammenbinden. Wir sollten zügig beraten und bald die notwendigen Reformschritte beschließen.
Als nächster spricht der Kollege Erwin Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Bemerkungen zu Beginn. Erstens. Die Union will eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts.
Wir haben deswegen den Bundesminister des Innern gebeten, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzubereiten. Der Bundesminister des Innern hat eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern gebildet — es handelt sich um eine sehr schwierige Materie —, die daran arbeitet.
Hierfür dem Bundesinnenminister herzlichen Dank!
— Hören Sie doch erst einmal zu! Ich denke, das sollte man in einer Demokratie machen. Sie werden vielleicht erkennen, daß viele Argumente für Sie sehr interessant sind.Zweitens. Die Union setzt sich mit Nachdruck für eine Verbesserung der Integration der bei uns lebenden Ausländer ein. Gerade deswegen haben wir eine Verbesserung des Staatsangehörigkeitsrechts im Rahmen des Asylrechts, des Asylkompromisses durchgesetzt, insbesondere auf unsere Initiative hin.
Ich möchte es Ihnen erläutern.
Erstens. Wir haben gefordert, daß das Einheitlichkeitsprinzip der Staatsangehörigkeit in der Familie entfallen soll. Das war unser Antrag.Zweitens. Wir haben gefordert, daß nichteheliche Kinder deutscher Väter durchaus die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben können. Das war unser Antrag.
Drittens. Wir haben gesagt, daß Ausländer, die 15 Jahre hier sind, einen Rechtsanspruch darauf haben, Deutsche werden zu können.
Viertens. Wir haben gesagt, daß junge Leute, die acht Jahre hier in Deutschland sind und eine deutsche Schule besuchen, Deutsche werden können. Sie können dies beantragen.Sie haben über die Verwaltung gesprochen. Dazu gilt vor allem: Auf meine Initiative hin haben wir in den Asylkompromiß eingebracht, daß wir die Gebühren verringern. Die Leute brauchen nicht mehr 5 000
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13199
Erwin MarschewskiDM zu zahlen, sondern maximal 100 DM bzw. bei Erwachsenen 500 DM.Das waren Leistungen zugunsten der Integration der hier lebenden Ausländer. Die Initiative kam nicht von Ihnen, sondern von der Union. Das ist Politik.
Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf, wenn ich ihn richtig lese, nicht nachvollziehbar. Sie sagen, der Asylkompromiß setze insoweit lediglich ein unzureichendes Zeichen guten Willens. Frau Kollegin, bei mir drängt sich der Verdacht auf, daß Sie auch da wieder draufsatteln wollen. Wir wollen die Asylgesetze verabschieden, weil es nötig ist. Wir wollen endlich einmal unserem Volk zeigen, daß wir die Asylgesetzgebung richtig lösen. Wir wollen kein Draufsatteln.
— Ja, die Menschen unseres Landes warten auf eine Lösung gerade im Asylbereich. Deswegen gibt es keine Verbindung. Deswegen gibt es kein Draufsatteln. Wir wollen das verabschieden. Danach werden wir uns sicher einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts nicht verschließen. Ich wiederhole: Die Initiativen sind größtenteils von uns ausgegangen. — Herr Kollege de With?
Herr Kollege Marschewski, Sie gestatten offensichtlich eine Zwischenfrage.
Bitte schön.
Herr Kollege de With.
Herr Kollege Marschewski, wenn Sie sich schon bei Ihren, wie ich meine, kleinen Verbesserungen des Staatsangehörigkeitsrechts so loben: Würden Sie es nicht für noch besser halten, wenn wir mit dem Asylkompromiß, dem wir zugestimmt haben, gleichzeitig unsere Novelle verabschiedeten?
Herr Kollege de With, ich werde im Laufe meiner Ausführungen darauf kommen. Ich halte die generelle Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit wirklich nicht für das Allerbeste im Hinblick auf die Integration der hier lebenden Ausländer. Ich will das sogleich begründen und werde Ihnen sagen, warum wir dies tun.
Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?
Bitte schön.
Herr Kollege Marschewski, würden Sie dem Hohen Haus bestätigen, daß die Absprache zwischen den Fraktionen zur Neuregelung des Alsyrechts Anfang Dezember vergangenen Jahres ausdrücklich weitergehende Regelungen im Staatsangehörigkeitsrecht über das hinaus, was Sie gerade vorgetragen haben, ausschließt?
Das ist richtig, Herr Dr. Schäuble. Wir haben damals vereinbart, dieses Problem nicht abschließend zu behandeln.Herr Dr. Schäuble, Herr Kollege de With, wir haben gesagt: Wir wollen Erleichterungen. Diese Erleichterungen sind damals beschlossen worden.
Wir haben — ich sage dies noch einmal — gesagt: Wir wollen über die doppelte Staatsangehörigkeit jetzt im Zuge der Asylverhandlungen nicht reden und schon gar nicht entscheiden.
Die Verbesserungen sind durch uns — ich wiederhole das, auch wenn es wehtut — eingeführt worden. Die Kollegen, die bei den Asylverhandlungen dabei waren, werden wissen, wer der Initiator dieser Verbesserung war.
— Nehmen Sie das ruhig zur Kenntnis. Es ist so.Jetzt zum Kernpunkt des vorliegenden SPD-Entwurfs: Sie wollen die generelle Zulassung von Doppelstaatsangehörigkeiten. Ich sage Ihnen ganz klar: Die Union lehnt diese doppelte Staatsangehörigkeit nach wie vor entschieden ab, weil sie unseres Erachtens mit dem Wesen der Staatsangehörigkeit unvereinbar ist.Wie das Bundesverfassungsgericht betont hat, ist die Staatsangehörigkeit „Ausdruck der Grundbeziehung der mitgliedschaftlichen Verbindung und rechtlichen Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft". Aus der Staatsangehörigkeit ergibt sich deshalb — so das Bundesverfassungsgericht — ein „umfassendes Rechtsverhältnis, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen". Diese Staatsbürgerrechte und -pflichten sind jedoch keineswegs nur beliebig austauschbare Äußerlichkeiten. Vielmehr betreffen sie den innersten Kern unseres Staates und unserer Demokratie.Dies hat einen guten Grund: Wie die Geschichte uns eindrucksvoll lehrt, ist jedes Volk eine Schicksalsgemeinschaft, aus der man nicht nach Belieben austreten und in die man nicht nach Belieben eintreten kann. Das ist unsere Position. Die Staatsangehörigkeit ist somit die rechtliche Basis der ursprünglichen Beziehung des einzelnen zur staatlichen Gemeinschaft.Aus diesem Zusammenhang ergeben sich zwingend Konsequenzen:Erstens. Allein die Einbürgerung ist kein Instrument der Integration der hier lebenden Ausländer. Vielmehr setzt die Einbürgerung die Integration der Ausländer voraus. Das ist der Weg. Die Leute müssen sich hier anpassen. Die müssen sich eingliedern.
Die müssen ihr Leben und ihr Wissen einbringen.Nach dieser Integration sprechen wir über eine Staats-
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13200 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Erwin Marschewskiangehörigkeit. Dann können sie den Antrag stellen, in den deutschen Staatsverband aufgenommen zu werden.
Ich muß eine Frage stellen. Ist der Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht eher einer Integration hinderlich, eben weil er die Option der jederzeitigen Rückkehr in den Heimatstaat offenhält? Gerade deswegen ist der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit unter Aufgabe der bisherigen gerade aus Integrationsgründen der Mehrstaatlichkeit vorzuziehen.Ich meine, Ihr Begehren ist nicht schlüssig. Es verhindert wirkliche Integration, wenn jemand eine doppelte oder eine dreifache oder eine vierfache Staatsangehörigkeit besitzt. Das erreicht nicht die Integration, sondern das verhindert die Integration.
Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte, Frau von Renesse.
Herr Kollege Marschewski, welche Bestätigung wächst Ihnen zu aus den Erfahrungen mit den zunehmenden Zahlen von Doppelstaatern aus gemischtnationalen Ehen seit Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts Mitte der 70er Jahre? Sind Ihnen Erfahrungen bekannt, daß opportunistischer Umgang mit der jeweiligen Staatsangehörigkeit, mangelnde Bereitschaft, sich zu integrieren, ja womöglich, wie Sie gerade sagten, Integrationshemmnisse aus der doppelten Staatsangehörigkeit erkennbar erwachsen sind?
Ich werde gleich in meiner Rede auf dieses Problem zurückkommen.
Ich hatte als erstes gesagt: Allein die Einbürgerung ist kein Instrument der Integration der hier lebenden Ausländer.
Zweitens. Eine grundsätzliche Hinnahme von Mehrstaatigkeit würde die dauerhafte Bildung nationaler Minderheiten fördern. Ich halte auch dies nicht für erstrebenswert.
Diese Menschen hätten zwar formal die deutsche Staatsangehörigkeit, würden sich aber nicht ausschließlich dem deutschen Volk zugehörig fühlen. Sie wären, so meine ich, weiterhin Fremde und auch dem Einfluß des Herkunftsstaates unterworfen.
Drittens. Bedeutet die doppelte Staatsangehörigkeit nicht auch eine ungerechte Bevorteilung? Der Doppelstaatsangehörige kann sich in zwei Staaten frei niederlassen. Er hat Zugang zu zwei Staatsdiensten. Er kann die Vorteile beider Gemeinschaften in Anspruch nehmen, sich aber oft den Pflichten entziehen.
Die Probleme, die eine generelle Zulassung von Doppelstaatsangehörigkeiten aufwirft, betreffen nicht nur das Grundverhältnis zwischen Bürger und Staat. Sie betreffen gerade die alltägliche Rechtspraxis.
Ich darf in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, daß es Rechtsunsicherheiten gerade bei Doppelstaatsangehörigkeiten gibt, besonders im Familien-und im Erbrecht. Wie wollen Sie denn entscheiden, wenn Leute aus verschiedenen Bereichen — beispielsweise aus Persien und der Bundesrepublik Deutschland — kommen, wenn die Leute etwa arabischem oder mohammedanischem Ehe- bzw. Familienrecht und gleichzeitig deutschem Recht unterworfen werden? Wie soll denn da die Entscheidung gefällt werden? Das ist doch letzten Endes das Problem.
Nun sagen Sie, es gebe Probleme und Schwierigkeiten. Die müssen wir sicher beheben. Aber das ist doch bereits die derzeitige Rechtslage; denn § 87 des Ausländergesetzes regelt alle Probleme, die bisher aufgetreten sind.
Ich will Ihnen sagen, was darin steht: Wenn der Heimatstaat das Ausscheiden aus der angestammten Staatsangehörigkeit nicht vorsieht, dann ist eine Doppelstaatsangehörigkeit möglich. Gleiches gilt, wenn der Heimatstaat dies willkürlich verweigert oder wenn die Forderung nach Entlassung eine unzumutbare Härte darstellt.
Mir sind keine Fälle aus der Praxis bekannt, für die eine vernünftige Lösung nicht hätte herbeigeführt werden können. Alles, was an Argumenten für die doppelte Staatsangehörigkeit vorgetragen wird, ist über § 87 lösbar.
— Nennen Sie einen Fall! Sollten sich im Bereich der Vermögensfragen dann noch Probleme auftun — ich glaube nicht daran —, sind wir sicherlich bereit, über § 87 des Ausländergesetzes nachzudenken. Das ist klar. Aber der allergrößte Teil dessen, Frau Kollegin, was an Problemen aufgekommen ist, insbesondere im Erbrecht, ist mit der derzeitigen Rechtslage durchaus lösbar.
Ein weiterer Punkt: Wir haben ein Abkommen von 1963. Nach diesem Abkommen ist die Zulassung von Doppelstaatsangehörigkeiten völkerrechtswidrig, und die Staaten praktizieren dies.
Kollege Marschewski, der Kollege Hirsch hat den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen.
Bitte schön, Herr Dr. Hirsch.
Herr Kollege Marschewski, weil Sie sagten, § 87 regele das alles hervorragend: Haben wir uns nicht neulich in einem anderen Kreis darüber unterhalten, daß selbst in den Fällen, in denen frühere Jugoslawen seit zehn Jahren in der Bundesrepublik leben und nun die Entlassung aus der neuen Staatsangehörigkeit — nämlich eines der Nachfolgestaaten — wünschen, die Verwaltungen verlangen, daß die Antragsteller selbst in bürgerkriegsnahe Gebiete zurückkehren und dort notfalls
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Dr. Burkhard Hirschzwei Jahre warten müssen? Ist dies eine der befriedigenden Regelungen, von denen Sie reden?
Herr Dr. Hirsch, ich freue mich, daß nach den vielen Stunden, die wir beide zusammen waren, noch Fragen übrigbleiben. Ich gebe Ihnen die gleiche Antwort, die ich Ihnen auch im persönlichen Gespräch gegeben habe: Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten in bezug auf Jugoslawien eine generelle doppelte Staatsbürgerschaft gehabt. Wir hätten dann Kroaten, die Deutsche und Jugoslawen wären, wir hätten Serben, die Deutsche und Jugoslawen wären, wir hätten Bosnier, die Deutsche und Jugoslawen wären. Das ist doch die Antwort. Was wäre dann eigentlich los in diesem Lande? Wie sollten wir uns dann verhalten, wenn das so wäre, wie Sie es generell wollen?
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen: Unser Festhalten am Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit beruht keineswegs auf alten, auf antiquierten Vorstellungen.
Es beruht auf der Einsicht in das Wesen der staatlichen Gemeinschaft und ihrer rechtlichen Grundlagen.
— Ja, es ist eine Schicksalsgemeinschaft. Ich sehe die deutsche oder überhaupt eine Staatsangehörigkeit anders als Sie. Für mich gibt es eine persönliche Verbindung zwischen dem Staatsbürger und dem, der hier wohnt. Das ist gar keine Frage. Deswegen wollen wir auch keine generelle Zulassung einer doppelten Staatsbürgerschaft.
Und noch einmal der Wunsch nach einer Zwischenfrage, Herr Kollege.
Bitte schön, noch eine Zwischenfrage.
Weil Sie von Schicksalsgemeinschaft sprechen, Herr Kollege: Meinen Sie, daß das Schicksal der Deutschen in diesem Lande nicht auch von den vielen ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abhängt, von den Leistungen, die sie für dieses Land erbringen?
Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt, aber Sie reden ja dauernd dazwischen, machen Witzchen bei diesem sehr ernsten Thema. Ich habe Ihnen gesagt: Diese Leute können doch deutsche Staatsbürger werden, es gibt doch die Möglichkeit.
Aber sie müssen dann sagen, daß sie nur eine Staatsbürgerschaft wollen. Das ist das Problem.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen: Für uns ist und bleibt grundsätzlich die Bereitschaft zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit das entscheidende Kriterium für eine Zuordnung, für eine wirkliche Integration der Ausländer in Deutschland. Ich meine, die SPD-Forderung ist Ausdruck eines unreflektierten veröffentlichten Zeitgeistes.
Sie wird auch — das ist meine Erfahrung — vom größten Teil unserer Bevölkerung abgelehnt.
— Ja, sie wird vom größten Teil abgelehnt. Denken Sie einmal etwas nach, dann brauchen Sie nicht Zwischenrufe zu machen, auf die ich bereits eingegangen bin.
Wir als Union, meine Damen und Herren, sind gegen die Einführung einer generellen Doppel- und Mehrfachstaatsangehörigkeit.
Herzlichen Dank.
Nun spricht die Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es gibt inzwischen mehrere Vorschläge zur Neuregelung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit. Wir befassen uns ja heute auch nicht zum erstenmal mit diesem Gegenstand.Es besteht wohl inzwischen auf allen Seiten dieses Hauses Einigkeit darüber, daß es nicht guttut — und zwar niemandem guttut —, wenn ein großer Teil der Wohnbevölkerung auf Jahre oder auf immer außerhalb der staatlichen Gemeinschaft steht. Über das Wie sind wir unterschiedlicher Meinung. Das halte ich fest. Aber hier müssen wir irgendwann zu vernünftigen Lösungen kommen.Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, der heute auf der Tagesordnung steht, kommt den Vorstellungen der F.D.P. sehr nahe. Das wird niemanden, der die Debatte der letzten Wochen verfolgt hat, sonderlich überraschen.Wir haben bislang eine äußerst geringe Einbürgerungsquote. Von 1988 bis 1990 lag die Zahl der Ermessenseinbürgerungen von Ausländern — und nur von denen reden wir hier, weil die Aussiedler bekanntlich einen anderen Status haben — bei 0,4 %. 1991 stieg die Zahl auf die „schwindelnde" Höhe von 0,5 %.Dabei hat uns das Bundesverfassungsgericht bereits vor zweieinhalb Jahren einen Weg gewiesen. In seiner Entscheidung zum Ausländerwahlrecht hat es die Möglichkeit einer veränderten Zusammensetzung des Staatsvolks aufgezeigt und ausdrücklich auf
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13202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Cornelia Schmalz-Jacobsenden erleichterten Erwerb der Staatsangehörigkeit hingewiesen.Einbürgerung bedeutet doch in erster Linie Gleichstellung in Rechten und Pflichten, und zwar unabhängig davon, ob jemand seine alte Staatsangehörigkeit beibehält oder ob sie aufgegeben wird.
Der Ausländerstatus selbst ist ein gravierendes Integrationshindernis. Dies hat mit den zahlreichen einschränkenden Regelungen des Ausländergesetzes zu tun. Darum wäre es doch bedeutsam, wenn die Inländer ohne deutschen Paß auch rechtlich zu Inländern würden, weil damit z. B. die freie Berufswahl, die vollen politischen Rechte, die europäische Freizügigkeit und viele andere Erleichterungen verbunden wären, z. B. auch eine erleichterte Familienzusammenführung.Mit der Staatsbürgerschaft verbunden — das scheint mir ganz wichtig zu sein — ist aber auch das Gefühl, ein verantwortlicher Bürger, eine verantwortliche Bürgerin dieses Staates zu sein.
Das ist das, was wir anstreben. Dieses Gefühl, das zugleich auch eine Verpflichtung ist, sollten wir nicht durch das Zementieren der vielen Hürden auf dem Weg zur Einbürgerung unterdrücken.Als Ausländerbeauftragte hatte ich Ihnen in der Debatte am 4. März 1993 etwas über meine Vorstellungen gesagt, wie das Einbürgerungsrecht meiner Meinung nach gefaßt werden sollte. Heute nun kann ich mit Befriedigung feststellen, daß sich meine Fraktion weitgehend hinter meine Vorstellungen gestellt hat.
Die F.D.P.-Fraktion sieht den Anspruch auf Einbürgerung nach 15 Jahren, wie ihn der Asylkompromiß vorsieht, nur als einen ersten Schritt an.
Immerhin ist es aber ein grundlegender Fortschritt, wenn endlich statt der Ermessenseinbürgerung auch Rechtsansprüche festgelegt werden. Wir sollten auch das Gemeinsame verdeutlichen: Endlich weg von den Ermessenseinbürgerungen. Das Ziel der F.D.P. ist es, diesen Anspruch auf Einbürgerung bereits nach acht Jahren legalem Aufenthalt zu verankern, wenn der Unterhalt gesichert ist und keine Verurteilung wegen einer erheblichen Straftat vorliegt.Es ist besonders wichtig, die Situation der hier geborenen Kinder aufmerksam zu betrachten. Die Gleichstellung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern ist eine überfällige Reform; darüber sind wir uns einig. Das wird von niemandem mehr bestritten, wie wir auch heute gehört haben. Nach unseren Vorstellungen sollte aber mehr geschehen. Die Lebenswirklichkeit macht es notwendig, vom alleinigen Prinzip des Abstammungsrechts Abschied zu nehmen.Das Jus soli ist unserer Meinung nach unter bestimmten Voraussetzungen zwingend. Das bedeutet, daß Kinder, die hier geboren werden, schon bei der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, und zwar dann, wenn bereits ein Elternteil hier geboren ist. So können diese Kinder nämlich von Anfang an in der Gewißheit aufwachsen, daß sie in ihrer Heimat Deutschland auch wirklich willkommen sind, daß sie zu uns gehören.
Das betrifft im Klartext erst die dritte Generation. Ich verhehle nicht, daß ich diese Automatik gern schon für die zweite Generation einführen würde. Aber es ist entscheidend, daß wir auf diese Weise endlich mit dem Unsinn Schluß machen, daß selbst Kindeskinder von Einwanderern weiterhin den Ausländerstatus „erben".
Es sollte unserer Meinung nach ein Ausschlagungsrecht für die deutsche Staatsbürgerschaft geben, um dem Vorwurf der Zwangseinbürgerung zu begegnen. Wir sehen dafür den Zeitraum vom vollendeten 18. bis zum vollendeten 19. Lebensjahr vor.Ein wichtiger Eckpunkt der Vorstellungen meiner Fraktion ist die Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft, wie Sie wissen. Bei denjenigen, die einen Anspruch auf Einbürgerung haben, wollen wir nicht mehr auf der Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft bestehen. Man sollte die Doppelstaatsbürger-schaft nun nicht als Idealfall hinstellen, aber eben auch nicht als Sündenfall.
Eine sachliche Information über dieses umstrittene Thema anstelle der vielen Emotionen ist offenbar dringend geboten.
Ich habe manchmal das Gefühl, der Tatbestand der Doppelstaatsbürgerschaft wird geradezu als unanständig betrachtet, als ginge es um so etwas wie Vielweiberei oder ähnliches.
— Dagegen habe ich etwas.Die Befürchtung, daß Mehrstaatigkeit zu Konflikten oder zu doppelten Vorteilen führt, ist unbegründet. Staatsbürger, die mit zwei Pässen in der Tasche in Deutschland leben, haben keine doppelten Rechte. Da gilt nicht das Prinzip der Rosinenpickerei; das ist falsch.
Sie gelten als deutsche Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten wie jeder von uns, weil sie nämlich ihren Lebensmittelpunkt bei uns haben. Nach Meinung vieler und bedeutender Rechtsexperten entstehen aus einer Doppelstaatsbürgerschaft für Staat und Gesellschaft keinerlei Nachteile. Manchmal für den einzelnen; das können wir abzubauen versuchen.Das zeigen im übrigen auch die Erfahrungen, die wir in Deutschland mit einer ständig wachsenden Zahl
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Cornelia Schmalz-Jacobsenvon Doppelstaatlern machen. Wir zählen sie nicht einmal; darauf habe ich hier an einem anderen Tag schon einmal hingewiesen. Offenbar machen sie also keine Probleme.Ich erinnere an die Kinder aus binationalen Ehen, um nur eine einzige Gruppe von Doppelstaatlern zu nennen. In den Jahren 1981 bis 1990 hat es weit über 300 000 Eheschließungen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen in den alten Bundesländern gegeben. Allein im vergangenen Jahr waren es 43 000 solcher Eheschließungen, und diese Zahl wächst.Die Änderung unseres Staatsangehörigkeitsrechts ist aus gesellschaftspolitischen Erwägungen heraus überfällig. Die F.D.P.-Fraktion möchte einen rechtlich einheitlichen Rahmen hergestellt wissen, damit die unlogische Aufsplitterung des Einbürgerungsrechts — zum einen Teil als Teil des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechts, zum anderen als Teil des Ausländergesetzes — beseitigt wird.Viele Probleme, die sich heute im Feld der Ausländerpolitik stellen, hätten wir gar nicht, wenn wir den Menschen, die längst integraler Bestandteil der bundesdeutschen Bevölkerung sind, den Schritt zur Einbürgerung so leicht wie möglich machten.
Solange wir aber die dazu notwendigen Gesetzesänderungen nicht beschließen, ist es unehrlich, bei auftauchenden Problemen als Patentlösung die Einbürgerung vorzuschlagen: „Laßt euch doch einfach einbürgern!" So einfach ist das ja nicht.Staatsbürgerliche Gleichberechtigung — das weiß ich auch — führt nicht automatisch zur Gleichbehandlung im täglichen Leben. Dennoch ist sie die wahrscheinlich wichtigste Voraussetzung für ein Leben ohne Diskriminierung. In weiten Teilen der deutschen Bevölkerung wird das auch so gesehen.
Sie erwarten, daß wir von Integration nicht nur reden, sondern endlich gesetzliche Grundlagen dafür schaffen.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie zu Beginn mit einer kleinen Geschichte, die ich heute in der „Frankfurter Rundschau" gelesen habe, erfreuen. Ein kanadischer Wissenschaftler, Gast der Humboldt-Stiftung, arbeitend am Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover, ausgezeichnet mit dem Konrad-Adenauer-Preis, also sicher nicht verdächtig, dem Bündnis 90 sehr nahezustehen, wollte bei einem Kreditinstitut in Hannover ein Konto eröffnen. Von diesem Kreditinstitut wurde er an das Ordnungsamt verwiesen, um eine Meldebescheinigung zu bekommen. Vom Ordnungsamt wurde er an das Gesundheitsamt verwiesen, um die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis zu beschaffen. Das waren erstens ein Bluttest, zweitens eine Röntgendurchleuchtung und drittens eine Stuhlprobe — und das alles, um würdig zu sein, ein Konto bei einer deutschen Bank zu eröffnen. Das ist die Realität in Deutschland 1993.Vor 175 Jahren war Preußen in der Frage des Staatsbürgerrechtes weiter, als es die heutige Bundesrepublik ist.
1818 genügte es für den Erwerb der Staatsangehörigkeit, im Lande geboren zu sein. Auch wer nicht in Preußen geboren war, erwarb die Staatsangehörigkeit durch Wohnsitzbegründung mit polizeilicher Erlaubnis. Bevölkerung und Staatsvolk waren weitgehend identisch.1842 rückte Preußen jedoch vom Territorialprinzip ab und führte mit dem Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaften als preußischer Untertan das Abstammungsprinzip, das Jus sanguinis, ein. § 2 dieses Gesetzes bestimmte: „Jedes eheliche Kind eines Preußen wird durch die Geburt preußischer Untertan, auch wenn es im Auslande geboren ist." Ergänzend stellte nun aber § 13 klar: „Der Wohnsitz innerhalb Unserer Staaten soll in Zukunft für sich allein die Eigenschaft als Preuße nicht begründen."Das Abstammungsprinzip im Staatsangehörigkeitsrecht machte fortan in ganz Europa Schule. Im Deutschen Reich wurde das Jus sanguinis mit jenem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 23. Juli 1913 fortgeschrieben, das bis zum heutigen Tage die Grundlage unseres Staatsbürgerrechtes bildet.Dieser kurze historische Exkurs belegt, daß die Anwendung des Abstammungsprinzips eng mit der Herausbildung der Nationalstaatlichkeit verbunden war. Das Blutrecht war und ist Ausdruck nationalistischer Überheblichkeit.
Demnach haben bis heute im wesentlichen nur diejenigen einen Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit, die der Abstammung nach Deutsche sind. Die Einbürgerung von Ausländern und Ausländerinnen unterliegt weitgehend dem Ermessen der Behörden.Sosehr es — zumindest politisch — verständlich war, in der Zeit der Teilung Deutschlands mit Rücksicht auf die in der DDR lebenden Deutschen das Staatsbürgerrecht nicht zu verändern, so sehr ist nach der Wiedervereinigung und im Prozeß der europäischen Integration die Revision überfällig. In einem demokratischen Rechtsstaat muß sich das Staatsbürgerrecht an den Menschenrechten orientieren, nicht aber an mystischen Vorstellungen von Blutsgenossenschaft oder, wie es bei der CDU — wie ich heute gelernt habe — neuerdings wieder heißt, an der Schicksalsgemeinschaft.
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Konrad WeiB
Deutschland sollte sich endlich der Entwicklung des Staatsbürgerrechtes bei unseren europäischen Nachbarn anschließen. Fast überall ist es Ausländern einfacher möglich, die Staatsangehörigkeit ihres Niederlassungs- oder Geburtslandes zu erwerben. Fast immer ist die Beibehaltung der ursprünglichen Staatsbürgerschaft einfacher als bei uns.Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland laut Aussage des Bundesinnenministers vom gestrigen Tage lediglich 27 300 Ermessenseinbürgerungen vorgenommen. Davon durften 6 700 Antragsteller ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit behalten. Dem stehen 6,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land entgegen, die hier arbeiten und Steuern zahlen, die hier zur Schule gegangen oder sogar hier geboren sind, denen aber die deutsche Staatsangehörigkeit vorenthalten wird. Sie werden als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse behandelt. Somit trennt das in Deutschland geltende Blutsrecht auf Dauer und vererbbar einen Teil der deutschen Wohnbevölkerung von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten und schafft und zementiert Ungleichheit.Martin Luther King hat einmal über die amerikanische Demokratie gesagt:In einer Demokratie, in einem Land erster Klasse kann es keine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zweiter Klasse geben.Sind wir eine Demokratie erster Klasse?Sowohl das geltende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz als auch die von Bund und Ländern geschaffenen Einbürgerungsrichtlinien sind ganz auf Verhinderung ausgerichtet. Die Einbürgerung von Einwanderern und Flüchtlingen ist ausdrücklich nicht gewollt. In den Einbürgerungsrichtlinien heißt es dazu — ich zitiere —: „Die Bundesrepublik Deutschland strebt nicht an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen gezielt durch Einbürgerung zu vermehren. "Die 1991 mit dem neuen Ausländergesetz versuchte Reform der Einbürgerung war von Anbeginn an halbherzig und inkonsequent. Sie mußte an den ideologischen Barrieren unseres Staatsbürgerbegriffs scheitern.Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur verfassungsrechtlichen Bestimmung des Bürgerbegriffes vom 13. Februar 1992 eine Neufassung des Art. 116 des Grundgesetzes vorgeschlagen. Dadurch sollen die bestehenden Trennlinien zwischen Deutschen und Ausländern beseitigt und das Blutsrecht, das demokratische Rechte prinzipiell an biologische Voraussetzungen knüpft, überwunden werden. Statt dessen plädieren wir für die politisch-soziale Begründung des Bürgerbegriffs, für das Jus soli.Eine Erleichterung der Einbürgerung und die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft könnte jedoch bereits durch ein einfaches Gesetz bewirkt werden. Im Februar 1992 haben wir deshalb einen Gesetzentwurf vorgelegt, der ermöglichen würde, daß die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt zuerkannt und ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung mit einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland erworben wird. Außerdem haben wir dieZulassung von doppelter Staatsangehörigkeit als Regelfall vorgesehen.Mit einem Jahr Verzögerung hat nun die SPD, — offenbar nachdem sie bei den Asylverhandlungen in der Frage des Staatsangehörigkeitsrechts keinen Schritt vorangekommen ist —, einen entsprechenden, einen ähnlichen Gesetzesentwurf eingebracht. Die SPD packt das Problem der Einbürgerung mit ihrem Entwurf wiederum nur halbherzig an und bleibt hinter dem zurück, was wir bereits vorgelegt hatten. Es verwundert nicht, daß die betroffenen Verbände über diesen Entwurf außerordentlich enttäuscht sind. Warum z. B. die Erlangung der Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder vom Geburtsort der Eltern abhängig sein soll, will beim besten Willen nicht einleuchten. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird diesem Entwurf nicht zustimmen.Die SPD wäre gut beraten, gemeinsam mit uns die Gesetzesinitiative der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Frau Schmalz-Jacobsen, so, wie sie in der ursprünglichen Fassung vorgelegt worden ist, zu unterstützen. Obwohl auch dieser Entwurf hinter unseren Vorstellungen zurückbleibt, bietet er doch einen realpolitischen Ansatz, der den Interessen der in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer weitgehend gerecht wird.Eine Initiativgruppe von Einwanderern und Flüchtlingen, Bürgerinnen und Bürgern ohne deutschen Paß sowie Deutschen mit ausländischer Herkunft hat in einem offenen Brief alle Abgeordneten des Bundestages aufgefordert, den Entwurf der Ausländerbeauftragten durch einen Gruppenantrag in den Bundestag einzubringen. Ich bitte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, diesen Vorschlag zu unterstützen und sich für eine baldige Gleichstellung der seit längerem rechtmäßig in Deutschland lebenden oder hier geborenen Ausländerinnen und Ausländer zu engagieren.Außerparlamentarisch wird dies massiv unterstützt. Seit Jahren haben Initiativen, Verbände, Gewerkschaften und Kirchen darauf aufmerksam gemacht, daß es ein demokratisches Grundanliegen sein muß, die dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen anderer Herkunft — es sind mehr als 6,5 Millionen — am politischen Entscheidungsprozeß gleichberechtigt zu beteiligen. Im Januar 1993 wurde eine große parteiunabhängige Initiative für doppelte Staatsbürgerschaft und erleichterte Einbürgerung gestartet. Bis heute wurden hierfür bereits mehr als 250 000 Unterschriften gegeben; 1 Million sind angestrebt.Vielen Dank.
Nun spricht der Bundesminister des Innern, Herr Rudolf Seiters.
Frau Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich im Rahmen der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes auf sechs kurze Bemerkungen beschränken.
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Bundesminister Rudolf SeltersErstens. Die Integration der voraussichtlich auf Dauer hier lebenden Ausländer sollte — insoweit stimme ich im Ansatz mit dem Gesetzentwurf überein — soweit wie möglich gefördert und mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit abgeschlossen werden. Diesem Ziel dienen die Erleichterungen der Einbürgerung im Rahmen des vor gut zwei Jahren in Kraft getretenen Ausländergesetzes.Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften sieht weitere Verbesserungen vor. Das gilt für die Einbürgerung junger Ausländer bzw. für die Einbürgerung von Ausländern mit langem Aufenthalt, die einen zwingenden Anspruch auf Einbürgerung erhalten. Das gilt für den Erwerb durch Geburt für nichteheliche Kinder deutscher Väter und für die drastische Senkung der Gebühren für die Einbürgerung aus Billigkeitsgründen und aus Gründen des öffentlichen Interesses bis zur vollständigen Gebührenbefreiung.Mit anderen Worten: Wir fördern die Integration der bei uns lebenden Ausländer, und wir erleichtern auf breiter Basis die Einbürgerung, wenn die betreffenden Ausländer Deutsche werden wollen, mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten; beides gehört zusammen.
Zweitens. Auch die Bundesregierung hält eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts für dringlich. Daran wird intensiv gearbeitet. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist seit eineinhalb Jahren mit diesem Projekt befaßt und hat inzwischen die umfangreichen und schwierigen konzeptionellen Vorarbeiten abgeschlossen.Ich bin allerdings dafür, die Gelegenheit zu nutzen, eine Reform des gesamten, in zahlreiche Gesetze aufgesplitterten deutschen Staatsangehörigkeitsrechts durchzuführen und nicht ohne Not eine Teilregelung nach der anderen vorzunehmen. Ich beabsichtige jedenfalls, in dieser Wahlperiode einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorzulegen.Ausgangspunkt bleibt das Abstammungsprinzip, d. h. die deutsche Staatsangehörigkeit wird auch künftig durch Geburt, abgeleitet von der Staatsangehörigkeit der Eltern, erworben. Dieses Prinzip ist in den meisten Staaten der Welt geltendes Recht. Auch in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Reform des Staatsangehörigkeitsrechts" hat sich nach sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte keine Präferenz für das Territorial-, sondern eine Präferenz für ein Optionsmodell ergeben, das auf den ausdrücklichen Willen der Eltern abstellt.Drittens. Alle Vorschläge zur Änderung des Einbürgerungsrechts möchte ich unter dem Gesichtspunkt prüfen, ob sie geeignet sind, das Ziel einer wirklichen Integration der seit langem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer zu fördern. Ich sage — als meine Position — aber auch ganz eindeutig: Die Forderung nach genereller Hinnahme von Mehrstaatigkeit dient diesem Ziel nicht.
Deswegen sollten Doppel- oder Mehrfachstaatsangehörigkeiten im Grundsatz weiterhin vermieden werden. Von Loyalitätskonflikten und Rechtsunsicherheiten war bereits die Rede.Im übrigen gilt nach wie vor, daß die Staatsangehörigkeit die engste und verpflichtendste Beziehung zwischen Staat und Bürger darstellt. Das Bundesverfassungsgericht hat davon gesprochen, daß die Staatsangehörigkeit Ausdruck der Grundbeziehung, der mitgliedschaftlichen Verbindung und rechtlichen Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft sei. Der Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit fördert eine möglichst weitgehende Integration bei uns nicht, sondern hemmt sie eher, weil sie eine jederzeitige Rückkehr in die ursprüngliche Heimat sichert und den Gedanken daran wachhält.
Dieser Problematik ist sich auch der Bundesrat in seiner mit den Stimmen der A-Länder gefaßten Entschließung vom 15. Mai vorigen Jahres bewußt gewesen. Er hat allerdings gemeint, die Nachteile könnten mit dem Institut einer ruhenden und einer herrschenden Staatsangehörigkeit weitgehend vermieden werden. Auch hiermit würden aus meiner Sicht die grundsätzlichen Probleme nicht gelöst; denn auch die ruhende Staatsangehörigkeit läßt ja gerade die Möglichkeit eines Wiederauflebens zu. Sie stellt sich dadurch eben auch als Störung des Integrationsprozesses dar. Im übrigen würde sie das Zustandekommen entsprechender völkerrechtlicher Abkommen mit den Herkunftsländern voraussetzen. Gerade die Türkei ist hierzu nicht bereit.Viertens. Damit bei einer Ablehnung einer generellen Mehrstaatigkeit keine Mißverständnisse aufkommen, sage ich: Das geltende Recht läßt schon heute in einer großen Zahl von Fällen die Mehrstaatigkeit zu. Bei Einbürgerungen, auf die ein echter Rechtsanspruch besteht, vor allem bei Vertriebenen und NS-Verfolgten, wird die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht gefordert. Aber auch Ermessenseinbürgerungen erfolgen sehr häufig unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit, wenn der Ausländer seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht oder nur unter besonders schwierigen Bedingungen aufgeben kann oder wenn die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht zumutbar ist oder wenn der Heimatstaat die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit von der Leistung des Wehrdienstes abhängig macht.Der Kollege Weiß hat korrekt zitiert: Nach der vorläufigen, bisher noch nicht veröffentlichten Einbürgerungsstatistik für 1991 sind von 27 295 Ermessenseinbürgerungen 6 700 unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit erfolgt. Das sind immerhin 24,5 % der Fälle.Ich bin bereit, im Rahmen der Gesamtreform des Staatsangehörigkeitsrechts zu prüfen, ob über die bereits bestehenden Ausnahmen hinaus Mehrstaatigkeit dann hingenommen werden kann, wenn für den Einbürgerungsbewerber mit der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit erhebliche Rechtsnachteile in seinem Heimatland verbunden wären. Aber die generelle Hinnahme der Mehrstaatigkeit halte ich für falsch, weil sie der Integration nicht förderlich ist und
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Bundesminister Rudolf Seltersdem Grundgedanken zuwiderläuft, daß die Staatsangehörigkeit die engste und verpflichtendste Beziehung zwischen Staat und Bürger darstellt.
Fünftens. Ich halte auch die vorgesehene wesentliche Verkürzung der Mindestaufenthaltsfristen im SPD-Gesetzentwurf für nicht sachgerecht. Ich frage zunächst nach dem Sinn dieses Vorschlages angesichts der Tatsache, daß bereits jetzt vermutlich zwei Drittel der hier lebenden Ausländer die derzeitigen zeitlichen Voraussetzungen erfüllen.Vor allen Dingen aber rechtfertigen die vorgeschlagenen Fristen nicht die Vermutung eines hinreichendes Integrationsstandes. Da gleichzeitig auf jeden persönlichen Nachweis einer gelungenen Integration, z. B. Sprachkenntnisse, verzichtet werden soll, wirkt sich dies doppelt verhängnisvoll aus.Ein Vergleich des Entwurfs mit dem geltenden Ausländerrecht zeigt ferner, daß danach der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit einfacher und früher möglich wäre als der Erwerb einer bloßen Auf enthaltsberechtigung.Da die Staatsangehörigkeit außerdem ein jederzeitiges Rückkehrrecht in die Bundesrepublik Deutschland gewährleistet, würde sie vor allem als Aufenthaltstitel von solchen Ausländern begehrt werden, die zunächst einmal wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen. Damit würde die Zahl der im Ausland lebenden Deutschen, die keine nachhaltigen Beziehungen zu Deutschland unterhalten, erheblich vermehrt werden. Dies würde letztlich einen Mißbrauch des Gedankens des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit bedeuten. Auch insoweit darf ich auf den Spruch des Bundesverfassungsgerichts verweisen.Sechstens. Gerade wegen der fundamentalen Bedeutung der Staatsangehörigkeit in einer Demokratie soll die Einbürgerung am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen. Bei der Analyse des SPD-Gesetzentwurfs drängt sich der Eindruck auf, daß die Einbürgerung nicht als Abschluß der Integration, sondern als Mittel zur Integration betrachtet wird. Diese Erwartung ist aus meiner Sicht in keiner Weise gerechtfertigt, weil der Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit — ich möchte dies ausdrücklich noch einmal unterstreichen — nicht eine möglichst weitgehende Integration bei uns fördert, sondern sie eher hemmt.Ich plädiere deshalb für eine zügige Beratung des gemeinsamen Gesetzentwurfs zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften und die Verabschiedung der dort vorgesehenen Einbürgerungserleichterungen. Dem Gesetzentwurf der SPD kann ich meine Zustimmung nicht geben.
Als nächste spricht die Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muß sagen, der peinliche Argumentationsslalom des Kollegen Marschewski belegt eigentlich nur zweierlei: erstens, Herr Marschewski, daß sich Ihre Fraktion bei dieser Thematik eindeutig in der Defensive befindet, wie auch der bisherige Verlauf der Debatte zeigt, und auch leider in einer Denkweise von gestern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ulmer „Südwest-Presse" — hören Sie bitte zu, es ist ganz hübsch — meldete kürzlich in einer Bildunterschrift — ich zitiere — „Macht Druck auf Bonn. Götz George will, daß doppelte Staatsbürgerschaft bald zugelassen wird. " Dazu ein Foto, das Aufmerksamkeit erheitschte: Man sieht den Schauspieler, wie es seinem Image entspricht, in Lauerstellung auf irgend jemanden, der sich ihm feindlich nähern könnte, und mit beiden Händen umfaßt er ein einsatzbereites Schießeisen.Nun sind wir natürlich friedliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier, und wir zücken auch nicht den Revolver, um unserem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Aber diese Reform, für die wir heute eintreten, ist wahrhaft überfällig, und der Widerstand vor allem aus Ihren Reihen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, macht nicht nur uns ungeduldig.
Denn es passiert ja nicht alle Tage, daß eine breite Bewegung prominenter wie unbekannter Bürgerinnen und Bürger eine Viertelmillion Unterschriften sammelt — die Kollegin Däubler-Gmelin hat es schon erwähnt — und sich für ein Gesetz und für die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft stark macht. Ich finde, das war und ist ja noch eine der sympathischsten Bürgerinitiativen der vergangenen Monate. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Initiatoren wie auch bei den vielen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern ausdrücklich bedanken.
Ich finde einfach, wir brauchen solche handfesten, solche frischen Gesten gegen dumpfe Vorurteile und Ausländerhaß.Ich sehe mit Genugtuung, daß Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., in unsere Linie hineinbegeben, so daß auch die Ausländerbeauftragte nicht mehr eine einsame Ruferin in der Wüste ist. Das wäre auch unser Vorschlag, unsere Anregung an Sie, Herr Innenminister, daß Sie Ihre Ausländerbeauftragte, nämlich die der Bundesregierung, in diesem vernünftigen Anliegen unterstützen.
Auch den Kollegen Weiß möchte ich beruhigen und ermuntern. Das, was die Ausländerbeauftragte, und das, war wir hier vorgetragen haben, deckt sich in großen Zügen. Sie können also getrost mit Ihrer Gruppe diesem Anliegen auch beitreten und zustimmen.Die SPD hat schon vor mehreren Jahren Vorstöße für die erleichterte Einbürgerung gemacht. Wir legen
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Dr. Cornelie Sonntag-WolgastIhnen jetzt einen umfassenderen Gesetzentwurf vor. Dazu will ich noch einmal festhalten: Es wird nichts übergestülpt und auch nichts forciert.Ausländer der dritten Generation sollen bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Entscheidend ist dann eben nicht mehr die Abstammung, wie es uns das hochbetagte Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht bisher verordnete. Entscheidend ist vielmehr das Territorium, auf dem das Kind sein Leben beginnt und wo sich — vergessen wir das nicht — seine Eltern, vielleicht auch schon die Großeltern verwurzelt fühlen. Wollen die Eltern oder die Sorgeberechtigten das nicht, dann können sie diese Einbürgerung für das Kind innerhalb des ersten Lebensjahres ausschlagen.Einen Einbürgerungsanspruch sollen die hier aufgewachsenen Angehörigen der zweiten Ausländergeneration und diejenigen haben, die seit über acht Jahren hier leben. Wir nehmen die Mehrstaatigkeit hin. Auf Antrag — um auch das noch einmal klar zu sagen — können Ausländer eingebürgert werden, wenn sie seit fünf Jahren ihren gewöhnlichen Auf enthalt hier haben. Wir haben Voraussetzungen dafür genannt. Schließlich wollen wir einen Anspruch für deutsch verheiratete Bewerberinnen und Bewerber schaffen und last not least die Einbürgerungsgebühren senken.Ich halte noch einmal fest: Niemand wird gezwungen, sich einbürgern zu lassen. Aber allen denjenigen, die den Wunsch haben, wollen wir nicht länger mit antiquierten Paragraphen und bürokratischen Hindernissen diesen Weg versperren oder erschweren.Wir verlangen auch nichts Revolutionäres, nichts, was unser Staatsgefüge durcheinanderwirbein könnte,
und das Ganze hat auch herzlich wenig mit „Schicksalsgemeinschaft" zu tun.
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir ziehen schlicht und einfach die logische Konsequenz aus drei Jahrzehnten Arbeitsmigration. Heute leben bei uns mehrere Millionen Menschen ausländischer Abstammung mit ihren Familien schon länger als 20 Jahre. Sie mehren mit ihrer Arbeit unseren Wohlstand. Sie sichern mit Steuern und Sozialabgaben unsere gesellschaftliche Stabilität. Sie halten ganze Branchen lebensfähig und haben — vergessen wir das nicht — unsere Kultur bereichert.
Ich finde, dieser Beitrag beim Stichwort Kultur ist wahrhaftig sehr viel mehr und höher als die immer wieder beschworene Ausweitung des Angebots an Tavernen, an italienischen Eisdielen und türkischen Imbißbuden. Es ist sehr viel mehr.Diese Menschen wollen bei uns heimisch sein. Aber wir liefern ihnen eben immer noch den Anlaß, sich als Menschen der zweiten Kategorie zu fühlen. Deshalb verstehen wir unsere Gesetzesinitiative als ein wichtiges positives Signal, als Zeichen an die Adresse derAusländerinnen und Ausländer, daß wir eben gern mit ihnen zusammen leben und sie als gleichberechtigte Nachbarn, Kollegen und Freunde empfinden. Das darf man ihnen nicht immer nur in schönen Worten sagen, sondern man muß es dann auch in konkreten Schritten belegen.
Diese Signale sind weiß Gott notwendig nach diesem schrecklichen Herbst der Ausländerfeindlichkeit, den wir in diesem Land erlebt haben, nicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag und auch nicht irgendwann später, wenn Sie von der Regierungsseite uns vielleicht Vorschläge vorgelegt haben, von denen ich allerdings jetzt schon den Eindruck habe, daß sie absolut unzureichend sein werden.Die Reformgegner weisen ja gerne auf die Übereinkünfte des Europarats über die Verringerung der Mehrstaatigkeit vom 6. Mai 1963 hin, von vor 30 Jahren also. Diese in 30 Jahren etwas ergraute Regelung wurde seinerzeit nur von einer Minderheit der Mitgliedstaaten abgeschlossen und ratifiziert, und von diesen wiederum wenden nur einige wenige sie an. Das heißt, meine Damen und Herren, wir Deutsche befinden uns in einer Außenseiterposition, die uns nicht sonderlich schmückt.Die Reform, die wir vorschlagen, macht uns im internationalen Vergleich, so finde ich, ein Stück partnerschaftlicher gegenüber den meisten anderen Staaten Europas, aber auch gegenüber den Menschen anderer Nationalitäten, die sich heute eben als Inländer bei uns fühlen. Denn viele, die hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben, empfinden es ganz einfach als Verweigerung des Menschenrechts auf Heimat, daß ihnen dieser Staat, in dem sie sich niedergelassen haben, die Aufgabe, den Verzicht auf die eigene Staatsangehörigkeit abverlangt.Welch eine deutsche Mischung aus Inkonsequenz und Arroganz steckt in diesem Denken und Handeln der Deutschen, gerade der Konservativen, die sich doch sonst immer als Gralsritter des Heimatrechts brüsten, nämlich immer dann, wenn es um das Heimatrecht der Deutschen geht. Wie wir mit Aussiedlern verfahren, ist ja ein beredtes Beispiel dafür. Sich zur alten Heimat zu bekennen, ehedem geknüpfte Bande nicht zu durchtrennen, das gilt bei deutschen Auswanderern und bei deutschstämmigen Aussiedlern, die zu uns kommen, als etwas höchst Ehrenwertes und als Voraussetzung für den Status.
Es gibt nun mal bei den Einwanderern von heute auch gute und triftige Gründe dafür, daß sie an ihrer angestammten Nationalität festhalten wollen. Es gibt rechtliche, aber eben auch emotionale Gründe. Staatsbürgerliche Bindung ist z. B. nötig, wenn es um Besitz oder Kauf von Wohnungen, Häusern und Grundstücken geht, ist auch nötig in vielen Erbschaftsfragen.Weiter ist zu sagen: Anders als die klassischen Auswanderer, die ja vor Jahrzehnten etwa nach Kanada oder Australien gingen, um eine neue Existenz zu gründen, brechen die Migranten von heute
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13208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgasteben nicht ihre Kontakte zum Herkunftsland ab. Sie halten Verbindung zu Freunden und zu Familien. Die Medienvielfalt beschert ihnen doch ständig Informationen über das, was sich in den Ländern, aus denen sie stammen, tut. Sie verfolgen das mit Aufmerksamkeit und mit Wärme. Wir Deutschen tun gut daran, nicht länger den Verzicht auf die bisherige Staatsbürgerschaft sozusagen als Wegezoll — ich habe das auch heute wieder so verstanden —, als Eintrittskarte in ein dauerhaftes Leben auf deutschem Terrain zu verlangen.
Liebe Kollegen, eine solche Einbürgerung wäre nicht der Schlußpunkt der Integration, sondern die Einbürgerungserleichterung ist für uns ein notwendiger Bestandteil und eine Hilfe bei der Integration. Ich will Ihnen dazu auch noch folgendes sagen: Für mich ist Integration nicht eine Einbahnstraße, zu der die Ausländerinnen und Ausländer allein etwas beizutragen haben, sondern auch wir Deutschen haben ihnen diesen Weg zur Integration leichter zu machen.
Es muß auch Schluß sein mit Fällen, in denen Prinzipienreiterei bei der Gesetzgebung vernünftige und humane Lösungen torpediert.Ich habe heute in der „Süddeutschen Zeitung" einen kleinen Kommentar gelesen, der an eine Gerichtsentscheidung anknüpft. Es geht um einen syrischen Arzt. Seit 1981 hält er sich in der Bundesrepublik auf. Er arbeitete als Assistenzarzt; dann hat er eine chirurgische Fachausbildung gemacht, 1988 eine Deutsche geheiratet. Er will die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Jetzt erwächst ihm aus dieser Ehe ein Einbürgerungsanspruch, aber dafür müßte er seine bisherige Staatsbürgerschaft aufgeben. Dies wiederum scheitert daran, daß Syrien seine Staatsbürger eben nicht aus der Nationalität entläßt.
Nun kommt noch ein Aspekt hinzu, für den man durchaus Verständnis aufbringen kann: Aus entwicklungspolitischen Erwägungen ist es gar nicht gut, so wird argumentiert, wenn einem solchen Land hochqualifizierte Kräfte entzogen werden.
Nur, dieser syrische Mediziner, Herr Marschewski, geht nicht in seine Heimat zurück, weil er durch die Verehelichung auch eine Aufenthaltsberechtigung hier erworben hat.Was ich klarmachen will, ist folgendes: Wir bereiten vielen Menschen unnötig Schwierigkeiten, ohne daß irgend jemandem ein großer Nutzen entstünde; wohl aber entstehen Sorgen und entsteht Schaden für die Betroffenen, um die es geht, und das wollen wir abschaffen.
Wir ziehen mit unserer Initiative die logische Folgerung aus der heutigen Lebenswirklichkeit. Es ist ja sattsam bekannt, daß die jungen Ausländerinnen und Ausländer der zweiten und der dritten Generation unter Identitätsproblemen leiden. Sie reden wie ihre Altersgenossen. Sie haben sich den Tonfall Jugendlicher in Hamburg-Altona, in Bottrop oder Stuttgart angeeignet. „Hier bin ich zu Hause" , sagen sie, „aber in meinem Paß steht, daß ich Türke bin".Natürlich weiß ich, daß ein deutscher Paß allein nicht einer 18jährigen Griechin z. B. das Gefühl der Verwurzelung bringt. Natürlich weiß ich auch, daß es einen rechtsradikalen Fremdenhasser nicht unbedingt kümmert, ob der Adressat seiner Feindseligkeiten sich als deutscher Staatsbürger oder als deutsche Staatsbürgerin ausweisen kann. Aber ich glaube durchaus, daß den Unverbesserlichen in diesem Lande — leider gibt es davon gar nicht so wenige — der Spruch „Die nehmen uns Arbeit und Wohnung weg" vielleicht nicht mehr so leicht von den Lippen geht, wenn sie erfahren, daß der Ausländer/die Ausländerin rein rechtlich ein Mitbewerber deutscher Staatsangehörigkeit ist.Meine Damen und Herren, wir haben mit unserer Forderung nach erleichterter Einbürgerung starke Bündnispartner, Menschen, die gegen jeden Verdacht erhaben sind, beispielsweise in meinem sozialdemokratischen Ortsverein Plakate für uns zu kleben. Daß wir unseren ausländischen oder — besser gesagt — inländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bessere Chancen zur Einbürgerung bieten und die doppelte Staatsbürgerschaft einräumen sollten, das verlangen in schönem Einklang die Ausländerbeauftragten aus Bund und Ländern, die Justizministerin, die eingangs erwähnte große Bürgeraktion, das Europäische Parlament, namhafte Menschen mit dem Parteibuch der CDU — ich nenne Namen wie Geißler, wie Diepgen, wie Rommel —, ferner keine geringeren als der Bundespräsident und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts selber. Der wird ja wohl wissen, was er unserer Verfassung zumuten kann.Es sollte — damit schließe ich — den Wohlmeinenden in dieser Koalition leichtfallen, sich in eine höchst ehrenwerte Gesellschaft einzureihen.
Ich danke Ihnen.
Nun spricht der Kollege Wolfgang Zeitlmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Ziel dieses Gesetzentwurfs ist ausweislich der offiziellen Beschreibung des zu lösenden Problems die Integration des endgültig einwandernden ausländischen Bevölkerungsteils. Mit der vorgeschlagenen Regelung ist dieses Ziel jedoch nicht erreichbar. Weder dient die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit der Integration, noch läßt sich aus den geforderten Voraussetzungen für die Einbürgerung auf ein endgültiges Hier-bleiben-wollen schließen. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Entwurf ausschließlich um
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Wolfgang ZeitlmannErleichterungen beim Erwerb der deutschen Staatsansgehörigkeit.Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf versuchen Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, Deutschland durch die Hintertür des Einbürgerungsanspruchs für angeblich auf Dauer bei uns lebende Ausländer zum Einwanderungsland zu machen. Integration muß aber Voraussetzung der Einbürgerung bleiben. Die Erfahrungen mit den §§ 85 und 86 des Ausländergesetzes zeigen, daß oft selbst nach 15 Jahren die Integration noch nicht abgeschlossen ist. Insbesondere die Ehefrauen sprechen oft kaum Deutsch. Die Verkürzung der Zeiten des rechtmäßigen Aufenthalts als Voraussetzung für die Einbürgerung auf fünf bzw. acht Jahre ist deshalb abzulehnen.Nicht akzeptabel ist auch der automatische Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt für die Angehörigen der dritten Ausländergeneration. Eine solche Lösung würde nur indirekt auf den Willen der Eltern abstellen. Trotz des Ausschlagungsrechts wäre sie ein Akt der Fremdbestimmung. Auf den Willen dessen, der die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, käme es überhaupt nicht an. Die partielle Einführung des unserem Staatsangehörigkeitsrecht fremden Jus soli würde eine grundlegende Veränderung bedeuten. Auf diese Weise würden auch diejenigen Deutschen, die durch Abstammung eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben und Familien angehören, die sich bewußt nicht integrieren, weil sie einmal wieder in die Heimat zurückkehren wollen. Für sie hätte die deutsche Staatsangehörigkeit, die sie aus vordergründigen Zweckmäßigkeitsüberlegungen wahrscheinlich im Regelfall nicht ausschlagen würden, von vornherein nur eine sekundäre Bedeutung. Selbst nach einer endgültigen Rückkehr in die Heimat würden sie aber Deutsche bleiben, jedenfalls auf dem Papier. Nach dem gegenwärtig uneingeschränkt geltenden Abstammungsprinzip würden sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit auch an ihre Nachkommen weitergeben.Die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit ist keineswegs Kennzeichen eines modernen Staatsangehörigkeitsrechts. Mehrfache Staatsangehörigkeit wird auch heute noch von Fachleuten innerstaatlich und international als ein Übel betrachtet, das sowohl im Interesse des Staates als auch im Interesse der Bürger möglichst vermieden oder beseitigt werden sollte. Hinnahme von Mehrstaatigkeit bedeutet für den Staat, auf die Bereitschaft zu uneingeschränkter Loyalität eines Einbürgerungsbewerbers gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu verzichten. Die Aussage eines eingebürgerten ungarischen Staatsangehörigen, der ausnahmsweise seine bisherige Staatsangehörigkeit beibehalten durfte, mag dies verdeutlichen. Im Rahmen eines Gesprächs hat er dem deutschen Beamten wörtlich erklärt: Jetzt bin ich halt auch so ein Papierdeutscher. — Er meinte damit nichts anderes, als daß er sich nach wie vor als Ungar fühlt und seine ungarische Staatsangehörigkeit jedenfalls dann wieder in den Vordergrund stellen will, wenn ihm dabei persönliche Vorteile winken. Die doppelte Staatsangehörigkeit erleichtert nicht die Integration, sondern hält auch bei ihm eine für die Integration unerwünschte Rückversicherungsmentalität wach.Mehrstaater haben gegenüber Staatsbürgern mit nur deutscher Staatsangehörigkeit insofern Vorteile, als ihnen diese doppelte Angehörigkeit in dem anderen Staat eine bessere Stellung bei der Gewerbeausübung, im Niederlassungsrecht, im Grundstücksverkehr, bei der Abgabepflicht, bei Reisemöglichkeiten und in der Schul- und Hochschulausbildung bringen kann.Ein Deutscher, der zugleich die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, kann dort ungehindert, für Ausländer ansonsten nicht gestattete Grundstücksgeschäfte tätigen. Auch ein Medizinstudium ist für einen deutsch-rumänischen Doppelstaater in Bukarest grundsätzlich ohne weiteres möglich. Der Betroffene kann in Rumänien trotz eines schlechten Abiturzeugnisses, das ihm ein Studium in Deutschland nicht ermöglichen würde, Medizin studieren. Und so geht es weiter. Solche Beispiele sind keine Einzelfälle. Sie belegen, daß die Staatsangehörigkeit eine Besserstellung gegenüber dem einfachen Deutschen bedeuten kann.Andererseits sind im personenstandsrechtlichen Bereich nicht zu unterschätzende Verwicklungen möglich. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen.Ein iranischer Staatsangehöriger, der ausnahmsweise unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert worden war, hat mit einer iranischen Staatsangehörigen vor dem Islamischen Zentrum in Hamburg die Ehe geschlossen, aus iranischer Sicht eine wirksame Ehe. Dies wurde den Betroffenen von den iranischen Behörden auch bescheinigt. Nach deutschem Recht konnte die Eheschließung nicht anerkannt werden. Nach der Geburt eines Kindes waren die Eltern unangenehm überrascht, daß das Kind als nichtehelich galt und jedenfalls nicht mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat.Probleme auf Grund ihrer Doppelstaatsangehörigkeit hat auch eine deutsch-türksiche Frau bekommen, die in der Bundesrepublik von ihrem türkischen Mann geschieden wurde und sich nach einer erneuten Eheschließung in Deutschland anläßlich eines Besuchs in der Türkei eine bigamische Ehe vorhalten lassen mußte, weil das deutsche Scheidungsurteil in der Türkei nicht anerkannt war. Auf Grund ihrer türkischen Staatsangehörigkeit konnte die deutsche Auslandsvertretung ihr nicht einmal Schutz gewähren.
Ein letztes Beispiel für Sie: Heute um 11 Uhr hat in München eine Organisation „Leben und leben lassen e. V." zu einer Pressekonferenz geladen. Dort wird Dr. Madawi vorgestellt, ein persischer Politiker, der im Jahre 1991 mit Doppelstaatsangehörigkeit eingebürgert wurde und der nun ankündigt, daß er für das Amt des iranischen Präsidenten kandidiert und unter Lebensgefahr in dieses Land zurückkehren will. — Ich will nur einmal deutlich machen, welche Verwicklungen es geben kann, wenn es dann um die Frage geht, welchen Schutz unser Staat einem Deutschen, wenn13210 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993Wolfgang Zeitlmanner im Iran kandidiert und dorthin zurückkehrt, gewähren kann.Eine doppelte Staatsangehörigkeit generell ist jedenfalls mit uns nicht zu machen.Herzlichen Dank.
Nun spricht die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute liegt uns ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vor, der eine erleichterte Einbürgerung für Nichtdeutsche der zweiten und der dritten Generation vorsieht, ohne daß die Betreffenden in der Regel ihre bisherige Staatsbürgerschaft aufgeben müssen.Damit legt die SPD ihre Interpretation des sogenannten Asylkompromisses vom 6. Dezember 1992 vor, der nicht nur die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts beinhaltet, sondern auch Maßnahmen zur Integration der zweiten und der dritten Einwanderungsgeneration.
Die SPD folgt in ihren Überlegungen einem Gesetzentwurf der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer, Frau Schmalz-Jacobsen, vom 4. Februar dieses Jahres.Darüber hinaus steht dieser Gesetzentwurf im Zusammenhang mit außerparlamentarischen Aktivitäten. Dem Deutschen Bundestag dürfte bekannt sein, daß derzeit eine Million Unterschriften für die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft, eine erleichterte Einbürgerung und eine Änderung des Art. 116 unseres Grundgesetzes gesammelt werden, um einen alten, um nicht zu sagen: uralten Zopf deutschvölkischen Rechts abzuschneiden. Denn nach wie vor definiert sich dieses Volk nach seiner Abstammung, nach Blut und Boden — wie wir auch heute hier von Herrn Marschewski besonders deutlich hören konnten.Es schließt rund fünf Millionen Nichtdeutsche, die seit Jahren — die Mehrheit von ihnen seit Jahrzehnten— bei uns leben, von den bürgerlichen und demokratischen Grundrechten ebenso wie von sozialen Rechten aus. Mindestens elf Artikel unseres Grundgesetzes bleiben allein den deutschen Staatsangehörigen vorbehalten, etwa die Rechte auf Versammlungsfreiheit, die freie Berufswahl oder den Zugang zum öffentlichen Dienst.Meine Damen und Herren von der SPD, im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchte ich einige Fragen aufwerfen:Erstens. Ihre Vorschläge zur erleichterten Einbürgerung bei weitergehender Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit sind im Zusammenhang mit dem sogenannten Asylkompromiß zu sehen. Da Sie dort so gut wie nichts erreicht und sich als bloßes Anhängsel der Regierungsvorhaben erwiesen haben, stimmen Sie einerseits den dort gemachten Kompromissen zu, um zugleich weitergehende Vorschläge zu unterbreiten, von denen Sie wissen, daß sie im Bundestag keine Mehrheit finden werden
— wie wir ebenfalls von meinen Vorrednern aus der Regierungskoalition hören konnten.
Bereits in dem Art. 3 der sogenannten Asylbegleitgesetze vom 2. März dieses Jahres wurde das Jussoli-Prinzip für hier Geborene für den Fall vereinbart, daß zumindest ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Insofern ist das also nichts Neues.Doch dann kommt es: In den sogenannten Asylbegleitgesetzen gilt dieser Staatsangehörigkeitsanspruch auch für nichteheliche Kinder eines Vaters deutscher Staatsangehörigkeit. Von diesem Vater wird jedoch der biologische Nachweis gefordert, daß er auch wirklich der Vater ist; denn ansonsten bestünde — ich zitiere — „die Möglichkeit eines Mißbrauchs" dieser Vorschrift im Sinne einer problemlosen Einwanderung.Diesem Punkt haben die Verhandlungsführer der SPD zugestimmt, um ihn nunmehr nachträglich wieder zu streichen.
— Dann verstehe ich nicht, warum Sie ihm erst zustimmen und dann einen Antrag einbringen, um ihn wieder zu streichen.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Statt den Asylkompromiß konsequenterweise abzulehnen, da er keinerlei Substanzverbesserung des Status der zweiten und der dritten Einwanderungsgeneration enthält, sagten Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, erst einmal kleinlaut ein Ja, um dann allerdings ein Aber hinterherzuschieben. Und da fragen Sie noch nach Ihrer politischen Glaubwürdigkeit!
Zweitens. Der Gesetzentwurf zäumt das Pferd von hinten auf. Er bleibt Stückwerk, wenn nicht endlich die eigentliche, die zentrale Frage angegangen wird: Wer oder was ist eigentlich deutsch? Beziehen wir unsere Identität aus dem Völkischen, aus deutschem Blut und Boden, oder aber erkennen wir endlich das längst geschaffene Faktum an, daß sich diese Republik auf Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunft gründet?Erleichterte Einbürgerungen und die Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit werden nur dann gesellschaftlich wirksam, wenn die bei uns lebenden nichtdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger als in allen Belangen gleichberechtigt anerkannt werden.Dazu ist eine Änderung des Grundgesetzartikels 116 notwendig. Ich bin gespannt darauf, was uns die Bundesregierung in ihrer geplanten Staatsange-
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Ulla Jelpkehörigkeitsnovelle noch bieten wird und ob die SPD sich auch in dieser Frage wieder vor den Karren der Regierung spannen läßt.Übrigens: Sowohl im sogenannten Asylkompromiß als auch im vorliegenden SPD-Gesetzentwurf bezieht sich das Integrationsangebot auf all jene Nichtdeutschen, die zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft bereit sind. Was aber ist mit denen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht dafür entscheiden wollen? Auch ihre sozialen und demokratischen Rechte sind zu erweitern, um ihre gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, wie das bereits für die Nichtdeutschen aus den EG-Ländern weitestgehend der Fall ist.Ansonsten besteht die Gefahr, daß wieder zwischen jenen Nichtdeutschen unterschieden wird, die sich einbürgern lassen wollen — das sind dann die Guten und Integrationswilligen —, und jenen, die das aus ganz persönlichen Gründen nicht wollen; das sind dann die Integrationsunwilligen.Drittens. Der Vorschlag der SPD zur erleichterten Einbürgerung und zur Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit weist in die richtige Richtung, bleibt aber hinter den Erfordernissen einer im wahrsten Sinne des Wortes liberalen Ausgestaltung zurück. So sind die Fristen, nach denen ein Anspruch auf Einbürgerung besteht, viel zu lang;
es sollen fünf Jahre oder acht Jahre rechtmäßiger Aufenthalt sein. Auch ist nicht zu verstehen, warum die Einbürgerung von Ehegatten Deutscher an das zweijährige Bestehen der Ehe gekoppelt wird.Das Jus-soli-Prinzip für Menschen der dritten Einwanderungsgeneration und für hier Geborene ist nach wie vor an die Voraussetzungen gebunden, daß zumindest ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Es ist daher nur halbherzig. An diesem Punkt geht der Gesetzentwurf der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung weiter; denn danach erwirbt ein Kind auch dann die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn „beide Elternteile ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben".Schließlich die Gebühren. In der Regel betragen sie noch immer 500 DM. Das wird nach wie vor viele Menschen abschrecken, die Einbürgerung zu beantragen.Meine Damen und Herren, originell waren heute die Argumente von Herrn Marschewski.
Darüber hinaus haben Sie in der Öffentlichkeit die doppelte Staatsangehörigkeit abgelehnt, indem Sie z. B. erklärt haben, daß Babys noch keine bewußte und verantwortliche Entscheidung darüber treffen können, ob sie deutsche Angehörige werden wollen oder nicht.
Herr Marschewski, bitte glauben Sie mir, auch Babys deutscher Eltern ist es pupsegal, in welchem Land sie leben und welcher Nationalität sie angehören, es sei denn, Sie unterstellen, daß das Baby einer deutschen Mutter durch das allabendliche Vorsingen der deutschen Nationalhymne schon sehr frühzeitig in die Lage versetzt wird, sich zum deutschen Volkstum zugehörig zu fühlen.
Meine Damen und Herren, nach den Ereignissen von Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln und vielen anderen Orten ist es wahrlich alles andere als ein erstrebenswertes Ziel, für 500 Deutsche Mark die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Daß das ein erstrebenswertes Ziel ist, könnten nur Leute für sich behaupten, die nach wie vor stolz darauf sind, Deutsche zu sein.
Gestatten Sie mir abschließend noch eine Bemerkung. Im internationalen Kontext findet zur Zeit ein regelrechter Wettbewerb bezüglich der Restriktionen im Asylrecht statt. Alle EG-Staaten liegen im Trend. Die Deutschen werden sich mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts an die Spitze setzen.
Frau Kollegin, ich darf Sie darauf hinweisen, daß Sie schon eine Minute über die Zeit sind.
Ja, ich komme zum Schluß. Mein letzter Satz.
Die gleichzeitigen integrativen Maßnahmen für die Einwanderer, die die Bundesregierung, aber auch die SPD vorschlägt, bleiben zum Teil weit hinter den Standards anderer EG-Staaten zurück. Auch hier sind wir wieder ein trauriger Spitzenreiter.
Nun spricht der Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Sie, Herr Kollege Marschewski, unberechtigterweise die Vaterschaft für die Gedanken dieser beiden Gesetzentwürfe für sich in Anspruch nehmen wollten, dachte ich erst, daß Herr Geißler Sie überzeugt hätte. Ich wollte Ihnen schon gratulieren. Aber dann haben Sie mein Weltbild wieder in Ordnung gebracht, indem Sie zu den üblichen konservativen Gesichtspunkten zurückgekehrt sind. Leider!Es ist nicht meine Aufgabe, die Unterschiede zwischen den vorliegenden beiden Gesetzentwürfen, die unabhängig voneinander entwickelt worden sind und erstaunlicherweise sehr nahe beieinander liegen, was für die Sache selber spricht, hier darzustellen, sondern es kommt darauf an zu sagen, daß wir uns ja nun seit zwölf und mehr Jahren wirklich bemühen, das deut-
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Dr. Burkhard Hirschsehe Staatsangehörigkeitsrecht zu modernisieren. Wir haben damals einen Gesetzentwurf vorgelegt, durch den ausländische Kinder, die hier geboren und zur Schule gegangen sind, einen Anspruch auf Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bekommen, damit sie, wenn sie 16 Jahre alt sind und ihre Lebensentscheidung zu treffen haben, nicht von den Schwankungen der deutschen Ausländerpolitik oder von Verwaltungsermessen abhängig sind, sondern selber entscheiden können, wo sie bleiben wollen. Wir haben darauf hingewiesen, daß es nicht ein Gnadenakt ist, Deutscher werden zu dürfen, sondern daß es unserem ureigensten Interesse entspricht,
diesen Menschen eine klare Lebensperspektive zu geben und gleichzeitig zu verhindern, daß in der Bundesrepublik eine Diaspora von Menschen entsteht, die zwar die gleichen Pflichten, aber keinerlei politische Rechte haben und die auch in Fragen ihrer Berufsausbildung gegenüber Deutschen benachteiligt sind.Dieser Grundgedanke hat sich durch die inzwischen eingetretene Entwicklung nun wirklich als richtig erwiesen. Unsere Voraussagen über die Folgen mangelhafter Integration beginnen sich zu verwirklichen. Leider, muß man sagen. Bis zum heutigen Tage ist das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht im Vergleich zu allen anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft — Sie haben das vorhin dargestellt — in diesem Sinne das bei weitem rückständigste.
Die Ursache dieser politischen Stagnation muß offen angesprochen und ausgesprochen werden. Sie liegt in der Tabuisierung der Einwanderung, die sich über Jahrzehnte in die Bundesrepublik vollzogen hat und die viele nicht wahrhaben wollen.Der zweite Grund ist, daß der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit natürlich auch das Wahlrecht gibt, und zwar nicht nur das Recht zur Kommunalwahl, sondern zu allen öffentlichen Wahlen. An diese Veränderungen werden von den einzelnen politischen Lagern ganz unterschiedliche Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen geknüpft. Das ist die Wahrheit.
Trotzdem ist die Entwicklung, die wir hier vorschlagen, notwendig. Wir hatten schon bei der Novellierung des Ausländerrechts vor zwei Jahren gemeinsam wesentliche Fortschritte erzielt bei der Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern, die sich langjährig in der Bundesrepublik aufgehalten haben. Wir haben allerdings — Herr Kollege Marschewski, Sie haben in Ihrer Rede auf die Verhandlungen zum Asylrecht hingewiesen — dabei festgestellt, daß der damalige gesetzgeberische Wille durch Verwaltungsrichtlinien vollkommen konterkariert worden war und darum keine praktische Wirkung erlangt hatte.Das am heftigsten Umstrittene ist und bleibt die auch hier immer wieder erörterte Frage, ob eine doppelte Staatsangehörigkeit hingenommen werden kann oder nicht, ob also die Einbürgerung nur dann erfolgen soll, wenn der Ausländer vorher rechtswirksam auf seine bisherige Staatsangehörigkeit verzichtet hat.In der Europäischen Gemeinschaft bestehen, soweit wir das haben feststellen können, außer der Bundesrepublik nur Luxemburg und Spanien auf der Aufgabe der früheren Staatsangehörigkeit. Auch die immer wieder behaupteten praktischen Schwierigkeiten, denen sich ein Doppelstaatler aussetzen würde, sind ziemlich theoretischer Art und können leicht behoben werden. Es ist ja wirklich interessant, daß Sie mit keinem Wort darüber reden, daß alle Aussiedler, die in die Bundesrepublik kommen, selbstverständlich kraft Gesetzes Doppelstaatler sind und bleiben.
Sie sind Deutsche, natürlich; aber sie sind gleichzeitig Russen, Aserbaidschaner, Turkmenen, Kasachen, Sibiriaken, wie Sie wollen.
Ich frage Sie dann bitte: Wo ist der Unterschied?In Wirklichkeit geht es um die Frage, ob einem Ausländer die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, sozusagen zwischen dem einen und dem anderen Staat hin und her zu wandern. Dazu muß man nun hinsichtlich der Staaten der Europäischen Gemeinschaft fragen, warum das eigentlich nicht möglich sein sollte und ob das nicht gerade das politische Ziel ist, auf das die deutsche Europapolitik konsequent hinarbeitet.
Darum kann sich diese Frage nur im Verhältnis zu Drittstaaten stellen. Genau da merken wir, wie problematisch das ist, was wir von den Ausländern verlangen. Wenn sie alle Brücken hinter sich abbrechen und alle Nachteile, die sich für sie aus der Aufgabe z. B. der türkischen Staatsangehörigkeit ergeben können, in Kauf nehmen sollen, dann richtet sich doch gleichzeitig an uns die Frage, ob wir bereit sind, den eingebürgerten Türken ohne jede Einschränkung als deutschen Mitbürger zu akzeptieren, oder ob wir von ihm in Wirklichkeit nicht eine Leistung verlangen, die wir selbst zu erbringen nicht bereit sind. Diese Frage mag jeder für sich beantworten.Die Gesetzentwürfe enthalten nicht nur Kritik an der bisherigen Integrationspolitik, sondern sie sind auch eine konsequente Fortführung der Integrations-und der Zuwanderungspolitik, die wir gemeinsam betrieben haben. Darum hoffen wir, mit den nun auf den Tisch liegenden Vorschlägen endlich einige Schritte weiterzukommen. In diesem Sinne sind wir anDr. Burkhard HirschGesprächen mit allen Seiten des Hauses interessiert.
Nun spricht der Kollege Meinrad Belle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Nichts lockt die Fremden mehr an als Freiheit und der sie begleitende Wohlstand. Die Freiheit sucht man ihrer selbst willen, den Wohlstand der Bedürfnisse wegen." — Diese Aussage wird dem französischen Staatstheoretiker und Schriftsteller Montesquieu zugeschrieben. Trotz Konjunkturschwäche und Rezession kommen heute Fremde, Ausländer, zu uns, wegen der Freiheit in Deutschland und wegen des bei uns herrschenden Wohlstandes — aus diesem Blickwinkel betrachtet auf jeden Fall ein Anlaß zur Freude.
Ende 1991 waren fast 5,9 Millionen Ausländer bei uns in der Bundesrepublik Deutschland, davon 1,9 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Mehr als ein Viertel dieser Ausländer stammt aus einem Mitgliedsland der Europäischen Gemeinschaft. Fast 25 % dieser Ausländer leben schon länger als 20 Jahre bei uns in Deutschland.
Ich stelle fest, daß es Absicht aller Angehörigen dieses Hohen Hauses ist, diesen bei uns länger lebenden ausländischen Mitbürgern die Integration, das Einfügen, die Einbürgerung zu erleichtern. Im Ziel sind wir uns also einig, über den Weg streiten wir uns noch.
Im Asylkompromiß haben sich die großen Parteien auch auf eine Verbesserung der Einbürgerungsmöglichkeiten geeinigt; es wurde vorhin im einzelnen vorgetragen. Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, geht diese Regelung nicht weit genug, auch der F.D.P. nicht. Sie wollen insbesondere das Territorialprinzip für die Angehörigen der dritten Ausländergeneration und einen Einbürgerungsanspruch ohne zeitliche Begrenzung für die hier aufwachsenden Angehörigen der zweiten Ausländergeneration einführen und die Mehrstaatigkeit hinnehmen. Sie erwarten also insbesondere eine verbesserte Integration durch die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit.
Ich will nun nicht verkennen, daß Fälle denkbar sind, die es notwendig machen, die doppelte Staatsangehörigkeit in Kauf zu nehmen. Oft weigern sich die Heimatstaaten, ihre Bürger aus der Staatsangehörigkeit zu entlassen. Eingebürgerte gelten in ihrem Herkunftsland als Ausländer, können gelegentlich keine Immobilien erwerben oder auch nicht über Besitz verfügen. Auch im Erbfall sind Schwierigkeiten nicht ausgeschlossen.
Dabei sollten wir aber doch wirklich nicht übersehen, daß bereits das gültige Recht — § 87 Ausländergesetz — in Ausnahmefällen die doppelte Staatsangehörigkeit zuläßt. Der Herr Innenminister hat es vorhin gesagt: Von 27 295 Einbürgerungen des Jahres 1991 waren immerhin fast ein Viertel Einbürgerungsanträge, die unter Inkaufnahme der doppelten Staatsangehörigkeit genehmigt wurden. Härtefälle sind also geregelt.
Wir sind nach wie vor der Meinung, daß wir — auch wegen dieser erwähnten Ausnahmeregelung --- die doppelte Staatsangehörigkeit generell nicht zulassen können. Die Doppelstaatigkeit stellt ein Übel dar, weil niemand zwei Herren dienen kann. Sie führt nach wie vor zu Loyalitätskonflikten gegenüber beiden Staaten. Sie fördert auch nicht die Integration eines Ausländers im Wohnsitzstaat, da er sich nach wie vor die Möglichkeit offenhält, jederzeit in seinen Heimatstaat zurückzukehren. Außerdem ist doch wirklich nicht nachvollziehbar, daß die durch die Einbürgerung erworbene Staatsangehörigkeit auf Generationen hinaus auch dann vererbt wird, wenn die Familie wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt ist und keine Verbindung mehr zum vorherigen Einbürgerungsstaat besteht. Auf weitere Loyalitätskonflikte bei der Wehrpflicht, im Zusammenhang mit Problemen bei der Besteuerung, im Auslieferungsrecht, im Internationalen Privatrecht sei nur ergänzend hingewiesen.
Wir stellen uns einen anderen Weg vor. Wir sind der Meinung, daß jeder, der auf Dauer bei uns leben will, sich einfügen, sich integrieren muß. Er muß die Grundwerte unserer Verfassung akzeptieren. Jeder muß daher z. B. die Gleichberechtigung der Frau, die Glaubens-, die Gewissens- und die Religionsfreiheit anerkennen. Unerläßlich ist die Beherrschung der deutschen Sprache, weil sonst ein Leben in unserer Welt, das schiedlich-friedliche Miteinander der alten und der neuen Bürger, das Zusammenwirken in einer arbeitsteiligen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht möglich wäre.
Zwangsläufig kann daher die Einbürgerung nur am Ende dieses Einfügungsprozesses stehen. Sie setzt auch eine erkennbare Bindung an die Bundesrepublik Deutschland voraus. Loyalitätspflichten — z. B. zum bisherigen Herkunftsstaat — können wir auf Dauer einfach nicht hinnehmen.
Wir können dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion daher nicht zustimmen.
Wir müssen jetzt gemeinsam die beim Asylkompromiß getroffenen Erleichterungen realisieren, denn Härtefälle können auch geklärt werden. Ich meine, wir sollten heute keine umstrittenen Regelungen vorschnell einführen.
Die im vergangenen Jahr von Bundesinnenminister Seiters eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist an der Arbeit. Lassen Sie uns gemeinsam zu gegebener Zeit unvoreingenommen die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe überprüfen und Regelungen einführen, die den Ansprüchen eines humanen Staatswesens gerecht werden!
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Damit schließe ich die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/4533 an die in der
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13214 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Vizepräsidentin Renate SchmidtTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Dies ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
— Drucksache 12/4756 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
InnenausschußRechtsausschußHaushaltsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe als ersten den Kollegen Joachim Hörster auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute erneut eine Änderung des Abgeordnetengesetzes, und zwar zu dem Zweck, die Regelungen über die Fraktionen des Deutschen Bundestages, die wir bisher im wesentlichen im jeweiligen Haushaltsgesetz getroffen haben, in Form von eigenen gesetzlichen Vorschriften in das Abgeordnetengesetz einzufügen. Dieses Vorhaben, das ja lange zwischen den Präsidenten der Landtage und des Deutschen Bundestages, zwischen den Fraktionen in Bund und Ländern diskutiert worden ist, soll dazu dienen, die Rechtsstellung der Fraktionen klarer über das hinaus zu definieren, was in Art. 38 des Grundgesetzes zugrundegelegt ist, und darüber hinaus auch die Finanzierungsstrukturen der Fraktionen transparenter zu machen.Auch auf dem Hintergrund, daß wir in diesem Haushaltsjahr die Mittel der Fraktionen gegenüber den ursprünglichen Ansätzen und unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage gekürzt haben, finde ich den Abgesang, den wir in einem Teil der Medien zur Beratung dieses Gesetzentwurfs gefunden haben, doch reichlich merkwürdig. Da lese ich in einer Meldung zunächst einmal: „Fraktionen wollen ihre Einnahmen nicht begrenzen." — Dies ist schlicht falsch, weil das gar nicht Gegenstand des Gesetzentwurfes ist. Dann heißt es weiter in der Meldung: Steuermittel sollen künftig wie die Abgeordnetenbezüge steigen; Funktionszulagen sollen Renten verbessern. — Auch das steht nicht — nicht einmal mit einer einzigen Silbe — in diesem Gesetzentwurf. Es ist auch gar nicht Gegenstand der Beratung.Ich finde es schon sehr bedauerlich, daß jedesmal dann, wenn sich der Bundestag bemüht, Regelungen zu treffen, die seine Arbeitsverhältnisse und seine Rechtsverhältnisse, die Rechtsverhältnisse seiner Mitglieder und seiner Organisationsstrukturen wie z. B. die der Fraktionen verbessern, dann solche Abgesänge vorgenommen werden, weil es doch offenbarwohlfeil geworden ist, auf den Parlamentarismus einzuschlagen.
Kein Mensch macht sich mehr Gedanken darüber, was alles in der Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren so schlecht geworden ist, daß wir — bei aller Notwendigkeit, kritisch die eigene Tätigkeit zu betrachten — diesen Parlamentarismus immer und immer wieder, bei jeder Gelegenheit in Zweifel ziehen.
Eine gesetzliche Regelung haben wir insbesondere für notwendig erachtet, um die Einzelheiten der Verwendung und der Kontrolle der den Fraktionen zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel zu regeln. Daß die Fraktionen einen Anspruch auf ausreichende Haushaltsmittel haben, ist unstreitig. Das hat insbesondere das Bundesverfassungsgericht mit Hinweis auf die Aufgaben der Fraktionen, die im Interesse des Gesamtparlaments liegen, mehrfach festgestellt.Es dient der Transparenz, wenn die staatlichen Leistungen an die Fraktionen dem Grunde und der Art nach statt wie bisher im Haushaltsplan, auf Grund eines besonderen Verfahrens, das wir in das Abgeordnetengesetz hineinschreiben wollen, gesetzlich geregelt werden und dabei auch die Mittelverwendung, die Rechnungslegung und die Kontrolle der Fraktionsmittel in einem klaren Verfahren grundgelegt wird.Wir haben uns interfraktionell auf einen Gesetzentwurf geeinigt, der eine Reihe von Fragen regeln soll. Wir haben dabei die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die Geschäftsordnungsautonomie des Parlamentes und der Fraktionen und — das möchten wir betonen — insbesondere auch die verfassungsrechtliche Stellung der einzelnen Mitglieder der Fraktionen in ihrer Eigenschaft als Bindeglied zwischen der Staatswillensbildung einerseits und der gesellschaftlichen Willensbildung andererseits, als Bindeglied zwischen dem Parlament und den Parteien sowie als Bindeglied zwischen dem Parlament und den einzelnen Abgeordneten, beachtet.Dem Charakter der Fraktionen als Zusammenschlüsse von Abgeordneten entspricht es, die staatlichen Geldleistungen als gemeinschaftliche Amtsausstattung der in den Fraktionen zusammengeschlossenen Parlamentsmitglieder zu begreifen. Die Qualifizierung der staatlichen Leistungen als kollektive Amtsausstattung legt es nahe, die Regelungen über die Fraktionsfinanzierung nicht in einem eigenen Fraktionsgesetz — wie es teilweise in den Länderparlamenten auch geschehen ist —, sondern im Abgeordnetengesetz zu treffen.Mit den vorliegenden Regelungen über die Kontrolle der Mittelverwendung wollen wir die Arbeit der Fraktionen transparenter gestalten. Die Buchführung über die Einnahmen und Ausgaben ist eine Selbstverständlichkeit, die bisher in der Praxis ebenso beachtet worden ist wie das Gebot der wirtschaftlichen und
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Joachim Hörsterordnungsgemäßen Verwendung. Den von mir vorgelegten Besonderheiten der Fraktionen ist konsequenterweise auch bei der Rechnungsprüfung durch den Bundesrechnungshof Folge zu leisten. Daß wir dies in einem Gesetz regeln, bedeutet lediglich, daß wir das, was bisher Praxis ist, nunmehr auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen. Damit sind die Rechtsverhältnisse klar und eindeutig.
Daraus folgt auch, daß sich die Kontrolle des Bundesrechnungshofs hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit und der Ordnungsgemäßheit der Ausgaben der Fraktionen nicht auf die Kontrolle dessen ausdehnen darf, was die Fraktionen politisch leisten. Aber auch hier besteht Einvernehmen zwischen dem Bundesrechnungshof und den Fraktionen. Insoweit sind die Verhältnisse klar, und den Besonderheiten der Fraktionen als politischen Gliederungen des Parlaments wird Rechnung getragen.Nicht folgen können wir der Empfehlung der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung, die der Bundespräsident eingesetzt hat. Diese Kommission zur Parteienfinanzierung versucht — man muß ihren Inhalt nur genau verfolgen und richtig interpretieren —, die Fraktionen mit Behörden gleichzustellen und sie einer behördenähnlichen Kontrolle zu unterwerfen. Das würde den Besonderheiten der parlamentarischen Tätigkeit nicht gerecht. Von daher kann eine Prüfungskompetenz gegenüber den Fraktionen auch nicht nach den gleichen Systematiken aufgebaut werden, wie es gegenüber den Behörden des Bundes oder der Lander der Fall ist.Von daher gesehen ist es in der Tat erforderlich, all die Vorschläge, die wir in diesem Bereich erhalten haben, gesondert zu überprüfen und darauf zu achten, daß sie dem, was bisher gewachsene Parlamentserfahrung, gewachsenes Parlamentsrecht und gewachsene Parlamentspraxis ist, auch Rechnung tragen und insbesondere nicht dazu führen, daß eine irgendwie geartete behördliche Kontrolle über die politische — dick unterstrichen — Betätigung der Fraktionen ausgeübt wird.Absicht des Gesetzentwurfs insgesamt ist es, dazu beizutragen, daß die Arbeit der Fraktionen transparenter wird, daß die Rechtstellung der Fraktionen klar definiert wird, auch unter dem Gesichtspunkt, daß ihre Arbeitgeberfunktion klar hervorgehoben wird. Das ist eine Sache, die in der Vergangenheit immer etwas umstritten gewesen ist. Erforderlich ist auch, daß wir Regelungen treffen, wie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Fraktionen zu behandeln sind, wenn sie als Zeugen irgendwo aufzutreten haben. Ich denke, daß es uns gelingen wird, bei den Beratungen im Geschäftsordnungsausschuß, den wir als federführend für dieses Gesetz vorschlagen, die noch offenen Fragen zu erörtern und zu diskutieren und insbesondere die gesetzlichen Beratungen so zu führen, daß die Öffentlichkeit daran teilhaben kann und jeder sehen kann, wie sich die Verhältnisse in den Fraktionen regeln.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Nun spricht der Kollege Dr. Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Hörster hat die wesentlichen Gesichtspunkte des neuen Fraktionsgesetzes vorgestellt. Ich kann mich deshalb auf einige kurze Anmerkungen beschränken.Ich möchte meine Stellungnahme mit der Feststellung beginnen, daß Pressemeldungen, die sich heute auch in Artikeln niedergeschlagen haben, für mich eines beweisen: daß die Journalisten, die darüber geschrieben haben, erstens diesen Fraktionsgesetzentwurf überhaupt nicht gelesen und zweitens den größten Mist geschrieben haben, den man in diesem Zusammenhang überhaupt schreiben kann.
Genauso wie Journalisten von Politikern Qualität erwarten, erwarte ich auch von Journalisten Qualität. Wenn sie sich mit einem Thema beschäftigen, sollten sie sich den Gesetzentwurf, über den sie schreiben, wenigstens einmal ansehen.Ich stelle hier eindeutig fest:Erstens. Mit diesem Fraktionsgesetzentwurf ist keineswegs irgendeine Erhöhung der staatlichen Zuschüsse für Fraktionen verbunden.
Das entscheiden wir jeweils, wenn wir über den Haushaltsplan entscheiden.
Zweitens stelle ich fest, daß mit diesem Gesetzentwurf keineswegs Politiker mehr Geld haben wollen.Drittens stelle ich fest, daß mit diesem Gesetzentwurf keine Regelung für irgendeine Sonderleistung, etwa sogar in bezug auf Ruhegehaltsfähigkeit, für besondere Funktionsträger der Fraktionen verbunden ist. Es liegt mir sehr daran, das hier eindeutig klarzustellen, meine Damen und Herren.
Ich erwarte, daß diejenigen, die das geschrieben haben, auch das schreiben, was Ergebnis dieser Debatte ist. Ich erwarte, daß sie exakt berichten, was in diesem Gesetzentwurf tatsächlich steht. Ich möchte zwei wichtige Punkte herausheben.Uns Politikern ist bisher immer der Vorwurf gemacht worden, wir bewegten uns in einer Grauzone. Ich habe diese Grauzone nie gesehen. Denn wenn der Deutsche Bundestag über die Zuschüsse im Rahmen der Beratungen des Einzelplans 02 berät, entscheidet er auch über Zuschüsse an Fraktionen. Hier gibt es keine Grauzone. Es gibt eine ganz helle
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Dr. Peter StruckZone, die nämlich hier im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zu sehen ist.Zweitens möchte ich ausdrücklich festhalten: Die Kritik, die an dem Verhalten der Fraktionen geäußert wurde, man wehre sich gegen Überprüfungen z. B. durch den Bundesrechnungshof, war schon damals unberechtigt. Aber weil wir auch Stimmungen berücksichtigen müssen, haben wir das uneingeschränkte Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofs in diesen Gesetzentwurf ausdrücklich hineingeschrieben. Ich betone für alle Fraktionen, die diesen Gesetzentwurf erarbeitet haben, daß wir gar keinen Grund haben, uns vor irgendeiner Prüfung durch den Bundesrechnungshof zu fürchten, meine Damen und Herren. Wir haben überhaupt keinen Grund.
Der Gesetzentwurf betrifft nur die Stellung von Fraktionen. Wir haben in diesem Hause auch Gruppierungen, die diese Rechtsstellung nicht haben. Außerdem haben wir auch einzelne Abgeordnete— ich sehe gerade den Kollegen Lowack —, die sich sicher nicht als Fraktion bezeichnen würden.
Ich hoffe, daß die Rechtsstellung der Fraktionen durch diesen Gesetzentwurf eindeutig den Vorgaben entspricht, die das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, und daß dieser Gesetzentwurf den Anforderungen gerecht wird, die die Kommission aufgestellt hat, die der Herr Bundespräsident im Zusammenhang mit der Neuordnung des Parteienfinanzierungsgesetzes berufen hat. Es ist absolut falsch zu schreiben— wie es übrigens auch in den Berichterstattungen hieß —, wir würden uns mit diesem Gesetzentwurf gegen Vorschläge dieser Kommission aussprechen.Im Gegenteil, wir übernehmen Vorschläge dieser Kommission. Dabei möchte ich in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß die Fraktionen, die von der Kommission angehört wurden, gerade diesen Punkt in das Zentrum ihrer Darstellung gerückt und die Kommission von sich aus darauf hingewiesen haben, daß hier rechtlicher Klärungsbedarf besteht, jedenfalls in dem Sinne, daß die Regelungen, die wir bisher hatten— ich betone noch einmal: Wir haben nie etwas zu verschweigen gehabt —, auch im Bundesgesetzblatt stehen.Meine Hoffnung ist, meine Damen und Herren, daß die zuständigen Ausschüsse, die diesen Gesetzentwurf beraten müssen, zügig beraten, so daß wir kurz vor oder kurz nach der Sommerpause diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung verabschieden können.
Nun spricht der Kollege Torsten Wolfgramm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir haben uns hier mit einer juristisch schwierigen und komplexen Materie beschäftigt. Wir zeigen, daß wir sie auch nach außen selbst regeln können.Herr Kollege Struck hat eben von der nicht vorhandenen grauen Zone gesprochen. Das ist richtig; denn wir haben diese Dinge, die wir jetzt nach außen regeln, intern schon längst praktiziert.
Es hat bei allen Fraktionen, wenn ich das recht sehe, intern schon längst Rechnungsprüfer gegeben, die die Fraktionsunterlagen geprüft haben. Wir haben von der F.D.P.-Fraktion Wirtschaftsprüfer beauftragt, die die Unterlagen geprüft haben. Auch der Bundesrechnungshof ist seinem Prüfungsrecht nachgekommen. Dies machen wir nun nach außen transparent, entsprechend einem, wenn man so will, im Augenblick etwas strapazierten Transparenzbegriff, der ja auch den neuen Plenarsaal begleitet. Dabei gehe ich davon aus, daß unser Entwurf akustisch deutlich zu vernehmen ist. Wir rechnen auf faire Behandlung in der Öffentlichkeit, auch durch den Transmissionsriemen der Journalisten, der in dem ersten Einstieg, wie mein Vorredner festgehalten hat, nicht besonders glücklich gewirkt hat.Wir mußten uns hier nicht zum Jagen tragen lassen, sondern wir haben das selbst in die Hand genommen. Wir haben Überlegungen und Anregungen der Präsidentenkommission mit einbezogen. Aber wir haben uns entschlossen, die Dinge selbst zu regeln. Wir meinen, das ist auch richtig, denn das Haus muß seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln können.Wir haben also nicht gehandelt wie Pumpernickels Hänschen.
— Wenn Sie den Spruch nicht kennen, Herr Kollege Dr. Ullmann, er lautet: Pumpernickels Hänschen saß hinter dem Ofen und schlief, da brannten seine Höschen an — potztausend, wie er lief! — Das trifft für uns nicht zu.
— Lieber Herr Kollege, wenn Sie sich einmal vorstellen, wie es diesem Hänschen ergangen ist, dann sollten Sie keinen Zwischenruf dazu machen, sondern Mitleid mit ihm haben.
— „Hoffentlich" ist zuwenig; „richtig" wäre das richtige Wort gewesen.Ich möchte unterstreichen: Die Pflichten und die Rechte der Fraktionen werden im Abgeordnetengesetz geregelt, denn Fraktionen kann es nur geben, wenn es Abgeordnete gibt, genau genommen: eine genügende Zahl von Abgeordneten;
Fraktionen sind ja in politischer Hinsicht eine Art übereinstimmendes Kollektiv von Mitgliedern des Deutschen Bundestages. Deswegen ist das auch als eine kollektive Amtsausstattung der Abgeordneten anzusehen.
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Torsten Wolfgramm
Wenn die Fraktionen, wie das Verfassungsgericht aus guten Gründen dargelegt hat, in die staatliche Ordnung eingefügt sind, sind sie noch lange nicht deren integraler Bestandteil. Das wird auch in der politischen Bewertung, Betrachtung und Überprüfung immer seinen Niederschlag finden müssen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Andrea Lederer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Prinzipiell begrüßen wir es natürlich, wenn Rechtsklarheit geschaffen wird. Das ist übrigens auch ganz im Sinne der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen. Ich glaube, es ist längst überfällig, hier eine gesetzliche Regelung zu treffen.
Allerdings gibt es in diesem Hause — Herr Kollege Struck hat es schon ausgesprochen — nicht nur Fraktionen. Genau auf diesen Punkt möchte ich eingehen.
Bei der Lektüre des vorliegenden Entwurfs fällt auf, daß schlicht und ergreifend nur von Fraktionen die Rede ist. Der Begriff „Gruppe" wird an keiner Stelle erwähnt. Er ist der Erwähnung einfach nicht wert.
— Auf die vorübergehende Situation gehe ich gleich ein.
Der Entwurf sieht zwar vor, daß die Kriterien für die Bildung von Fraktionen einer Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestages vorbehalten bleiben sollen. Wir sind allerdings der Auffassung, daß so die Zukunft nicht aussehen kann, sondern daß es vonnöten ist, auf gesetzlicher Grundlage auch die Kriterien für die Bildung von Fraktionen, aus denen sich dann Rechte und Pflichten ableiten, zu regeln. Wir sind der Meinung, daß es durchaus von mehr Transparenz und höherer demokratischer Legitimation zeugen würde, wenn im Rahmen eines Gesetzes geregelt würde: Was ist eine Fraktion? Was ist eine Gruppe? Was soll zugelassen werden und in welchem Umfang?
In diesem Sinne werden wir im Zuge der Beratungen auch Vorschläge unterbreiten; denn es ist denkbar, daß auch nach den nächsten Wahlen Parteien Abgeordnete entsenden, deren Gesamtzahl nicht mindestens 5 % aller Bundestagsabgeordneten ausmacht. Sie müssen dennoch das Recht haben, durch einen Zusammenschluß die Interessen der Wählerinnen und Wähler deutlicher vertreten zu können.
Deshalb werden wir folgendes vorschlagen. Erstens. Parteien, die auf Grund einer Wahl Abgeordnete in den Deutschen Bundestag entsenden, müssen das Recht haben, Fraktionen zu bilden, mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten.
Zweitens. Abgeordnete, die keiner Fraktion angehören, müssen eine solche bilden können, wenn ihre Anzahl mindestens 1 % der Mandate, — derzeit also sieben Abgeordnete im Deutschen Bundestag — ausmacht.
Dazu ist zu sagen, daß dies auf den Umstand Rücksicht nimmt, daß beispielsweise durch das Erreichen dreier Direktmandate die undemokratische Fünfprozentklausel außer Kraft gesetzt werden kann und dann entsprechend der Stimmenanteile der entsendenen Partei auch Abgeordnete einziehen, obwohl deren Zahl nicht 5 % aller Abgeordneten im Bundestag ausmacht.
Dies nimmt auch Rücksicht auf die Feststellung, daß Abgeordnete — auch fraktionslose — ab einem bestimmten Mindestmaß die Möglichkeit haben müssen, politisch eine Zusammenarbeit anzustreben, die tatsächlich die Interessen der Wählerinnen und Wähler deutlich vertritt.
In diesem Sinne sind wir der Meinung, daß, wenn Sie sich schon nicht zu einer grundsätzlich großzügigeren Fraktionsregelung entschließen können, in einem solchen Gesetz zumindest der Gruppenstatus geregelt werden müßte. Es muß grundsätzlich festgestellt werden, daß Gruppen den Fraktionen gleichzustellen sind.
Wir sind der Meinung, wir brauchen keine Ausnahmen davon. Aber eventuell sollte die Regelung vorgesehen werden, daß in Ausnahmefällen Unterschiede in Rechten und Pflichten bestehen. Wir sind der Meinung, es kann eigentlich nicht die Zukunft sein, daß mit der Mehrheit dieses Parlaments per Geschäftsordnung des Bundestages, ihrer Interpretation und einer langanhaltenden Interpretation des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Gruppenstatus im Grunde genommen auch über die interne Organisation der Gruppen entschieden wird. Infolgedessen werden wir sowohl im Zuge der Ausschußberatungen als auch bei der zweiten und dritten Lesung entsprechende Vorschläge unterbreiten.
Ich danke.
Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Woche zahlreiche Besuche aus dem Ausland. Ich darf die Delegation aus dem Libanon unter Leitung des Finanzministers Fouad Siniora, die auf der Besuchertribüne Platz genommen hat, begrüßen.
Nach 16 Jahren Bürgerkrieg ist im Herbst 1992 zum erstenmal wieder ein Parlament gewählt worden, bestehend aus 128 Abgeordneten, darunter drei Frauen.Die Delegation studiert unsere Demokratie und deren Funktionieren und beschäftigt sich mit Fragen der gegenseitigen Beziehungen auf den Gebieten der Kultur, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Entwicklung.Herzlich willkommen und einen guten Aufenthalt in Deutschland!
Ich erteile nun das Wort unserem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann.
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13218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus dem Bericht der Weizsäcker-Kommission darf ich das Folgende wörtlich zitieren — es ist vielleicht nach so viel Selbstruhm und Schulterklopfen angebracht —: „Während sich die Finanzierungsbeträge pro Kopf an Parteien seit 1966 etwa vervierfacht haben, haben sich diejenigen an Fraktionen versechzehnfacht."
Ich denke, das ist ein Prüfungsergebnis, auf das die Öffentlichkeit von diesem Hause eine Reaktion erwarten darf.
In meinen Augen ist der Gesetzentwurf eine vernünftige Reaktion darauf, freilich keine befriedigende, eine unvollständige und das Kernproblem nicht lösende. Formal finde ich richtig und vernünftig, daß der Vorschlag gemacht wird, dieses Problem im Rahmen einer Änderung des Abgeordnetengesetzes zu regeln, und daß kein eigenes Fraktionsgesetz geschaffen wird. Das findet meine volle Zustimmung.
Damit ist das Problem aufgeworfen, das ich in den Mittelpunkt meines Beitrags stellen möchte. Laut den §§ 45 und 46 des Entwurfs des Fraktionsgesetzes, die die Entstehung und die Legaldefinition der Fraktion betreffen, stellt sich mir das Problem so dar: Da kommen die neu gewählten Abgeordneten, lupenreine Vertreter des gesamten Volkes, hierher, nur ihren Gewissen verpflichtet, gucken sich wie weiland Wolfram von Eschenbach auf der Wartburg um,
finden lauter so treffliche Leute, wie sie sich soeben hier dargestellt haben, und schließen sich zusammen.
Rein zufällig, Herr Rüttgers, sind es hier vorn alles CDU-Mitglieder, dort drüben sind es alles SPD-Mitglieder, und rein zufällig sitzen dazwischen alles Mitglieder des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN. — Das glaubt uns niemand im Lande.
Die politische Wirklichkeit kommt ja in § 53 Abs. 7 des Entwurfs des Fraktionsgesetzes zum Ausdruck, wo es um die Liquidation geht. Da kommt zum Vorschein, daß die Fraktionszusammenschlüsse natürlich durch Parteien determiniert sind. Das ist auch gar keine Schande. Aber das muß man in dem Gesetz merken. Das schafft natürlich das Problem, vor dem wir jetzt stehen — die Kollegin Lederer hat das thematisiert, und Herr Struck hat zu erkennen gegeben, daß auch er das Problem sieht —: Es kann hier ja kein Zweiklassenparlament geben. Man müßte auch über die Gruppen etwas sagen. Auch die Parlamentslehre des Grafen von Westphalen tut es schon. Ich finde es gar nicht schlecht, daß es auch Gruppen gibt. Aber das muß dann auch im Gesetz geregelt werden. Man muß im Gesetz irgendeine Antwort auf die Frage finden — ich höre sofort auf —, ob das in Ordnung ist, daß die Parteien ein Monopol auf die politische Willensbildung beanspruchen, obwohl das in der
Verfassung ganz anders steht. Dazu finde ich keine Antwort in diesem Gesetzentwurf.
Wenn Sie, Herr Hörster, bei dem Immobilismus verharren, den Sie vorhin hier dargetan haben, dann bekommen wir die Antwort nie. Wir sollten sie aber bekommen, und wir sollten sie der Öffentlichkeit in unserem eigenen Interesse geben.
Danke schön, Herr Präsident.
Eine kurze Berner-kung zur Geschäftslage: So, wie wir im Augenblick den Ablauf übersehen, wird der Beginn der Fragestunde um eine halbe Stunde früher liegen. Wir werden also mit der Fragestunde nicht, wie ausgedruckt, um 14.50 Uhr, sondern um 14.20 Uhr beginnen können. Ich hoffe, daß wir die Sitzung nicht unterbrechen wollen, sondern daß wir weitermachen wollen. Die notwendigen Mitteilungen über die Hauslautsprecher erfolgen jetzt. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch derart, daß wir eine Pause machen wollen. Dann wollen wir also durcharbeiten.
Als letzter zu dem Thema Fraktionsgesetz hat jetzt unser Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Herzlichen Dank. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem sogenannten Fraktionsgesetz, einem verdeckten Parteienfinanzierungsgesetz, wird diesem Parlament der letzte Hauch von Invididualismus und Unabhängigkeit der Abgeordneten ausgetrieben. Es müßte eigentlich Abgeordnetendisziplinierungs- und -entmündigungsgesetz heißen.
Zwar stand bereits bis jetzt die Fraktionswirklichkeit in offenem Gegensatz zu der in Art. 38 des Grundgesetzes postulierten Unabhängigkeit des Abgeordneten. Die Diskriminierung von Nichtfraktionsmitgliedern wird mit diesem Gesetz aber in einem Maße fortgeschrieben, das erschecken muß. Ich habe überhaupt nichts gegen die Zahlungen und Leistungen an Bundestagsmitarbeiter, auch soweit sie in Fraktionen tätig sind.Es wird nun aber gesetzlich verankert, daß der Steuerzahler in Zukunft auch mit Vergütungen an Fraktionsmitglieder belastet wird, und das nur deshalb, weil sie Funktionen in der Fraktion wahrnehmen und damit ihre Option auf einen noch lukrativeren Posten in der Regierung verbessern. Gleichzeitig werden sie auf Treue zur Fraktion eingeschworen. Zur Zeit gibt es in der größten Fraktion des Deutschen Bundestages über 130 Mitglieder als Funktionsträger. Der Steuerzahler soll für Veranstaltungen aufkommen, mit denen die Fraktionen nach dem Prinzip der mehr oder weniger sanften Gesetze ihre Mitglieder disziplinieren. Sogar für die Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen, die angeblich nichts mit allgemeiner Parteiarbeit zu tun hat, wird der Steuerzahler in Zukunft aufzukommen haben. Ohne jede Eingrenzung soll der Steuerzahler in Zukunft auch Ausgaben für Investitio-
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Ortwin Lowacknen der Fraktionen und sonstige Ausgaben zu tragen haben.Dieses Gesetz ist ein weiterer Schritt in Richtung auf mehr Staats- und Demokratieverdrossenheit und ein Schlag gegen die Vielfalt und den geistigen Reichtum im deutschen Parlament. Es fördert die Parteien als Staat im Staat. Es sanktioniert die Macht der Apparate, den Kollektivismus und die Legitimation des Kollektivs, das sich gegenüber dem einzelnen durchsetzt. Ohne Fraktion soll der Abgeordnete nichts bedeuten. Denn er bekommt ja nichts Vergleichbares und soll sehen, wo er bleibt.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich sage dies so offen, weil ich wissen möchte, ob überhaupt noch ein Gewissen und ein Gespür in diesem Bundestag dafür besteht, daß ein Hauch von Individualität und Einzelpersönlichkeit zu bewahren ist. Oder werden wir in Zukunft einen sogenannten Individualismus haben, der sich selber nur noch sehr sarkastisch sieht und seine politischen Entscheidungen jeweils damit entschuldigt, seine Fraktion habe eben über seinen Kopf hinweg mehrheitlich etwas anderes bestimmt? Das wäre leider eine traurige Perspektive dieses Gesetzes.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/4756 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Haushaltausschuß soll den Gesetzentwurf nur zur Mitberatung erhalten. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
a) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Augustinowitz, Ulrich Adam, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting, Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Humanitäre deutsche Hilfe durch Minenräumen in Staaten der „Dritten Welt"
b) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Hilfe bei der Räumung von Minen in ehemaligen Konfliktregionen als Beitrag zum Schutz von Menschen, zum Wiederaufbau von Lebensgrundlagen und zur Bekämpfung von Fluchtursachen
— Drucksachen 12/3348, 12/3694,
12/4655 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Augustinowitz Rudolf Bindig
Burkhard Zurheide
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Jürgen Augustinowitz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im November des vergangenen Jahres hat der Deutsche Bundestag in erster Lesung den Koalitionsantrag „Humanitäre deutsche Hilfe durch Minenräumen in Staaten der Dritten Welt" behandelt und an die zuständigen Ausschüsse überwiesen. In der Diskussion und den Beratungen seither haben sich einige Punkte herauskristallisiert, auf die ich hier noch einmal eingehen möchte.Zu den langanhaltenden Folgen von Kriegen und Bürgerkriegen gehören die Probleme, die durch die unsystematische Verlegung von Landminen entstanden sind. Der Minenkrieg mit seinen Grausamkeiten ist zu einem wesentlichen Element der Kriegsstrategie und Kriegstechnik geworden. Der Minenterror wurde vor allem zur Demoralisierung der Bevölkerung eingesetzt. Minen sind in den verschiedensten Ländern benutzt worden. Gerade Dritte-Welt-Staaten sind besonders betroffen, wie z. B. Angola, Afghanistan, Kambodscha, Mosambik und Somalia. Das Vorhandensein von Minen ist zu einem gewaltigen Hindernis für die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder geworden.Die Gefahr, die von verlegten Landminen ausgeht, ist fast unvorstellbar. Die Vereinten Nationen schätzen, daß weltweit ca. 100 Millionen Minen verlegt worden sind. Daß Schafherden als Minenräumer über Äcker gejagt werden, um die Minen zur Detonation zu bringen, ist kein Gerücht. Fast 1 300 Menschen sterben monatlich oder verletzen sich schwer; Zehntausende von verstümmelten Opfern sind betroffen, darunter viele Kinder.Präventivmaßnahmen, wie sie Minenräumeinsätze darstellen, sind besser als die nachträgliche Rehabilitierung von Minenopfern. Minenräumung fördert so den Wiederaufbau und ermöglicht die Rückkehr von Flüchtlingen.Es gibt kaum einen geeigneteren Zeitpunkt, über den Koalitionsantrag zum Minenräumen abschließend zu beraten, als jetzt. Die Somaliadebatte der letzten Woche an dieser Stelle hat noch einmal sehr deutlich die Wichtigkeit dieses Themas für den Wiederaufbau eines Landes hervorgehoben. Über das Ziel sind sich alle mitberatenden Ausschüsse einig. Weder im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit noch im Auswärtigen Ausschuß, noch im Verteidigungsausschuß sind in der Sache Bedenken geäußert worden.Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf, den betroffenen Staaten Ausstattungshilfe beim Aufbau und bei der Ausbildung eigener Minenräumkräfte zu geben,
humanitären Organisationen Minenräumgerät zurVerfügung zu stellen und ihnen Ausbildungshilfe inEinrichtungen der Bundeswehr zu gewähren, die
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Jürgen AugustinowitzVereinten Nationen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten bei der Minenräumung zu unterstützen, aber auch privaten Unternehmen mit entsprechender Kompetenz Möglichkeiten zu geben, sich an Minenräumeinsätzen zu beteiligen.Ich möchte kurz am Beispiel Somalias skizzieren, wie man diese Forderungen konkret umsetzen kann. Im Sinne dieses Antrages der Koalition könnten die in Somalia eingesetzten. Pioniere der Bundeswehr, die zum Selbstschutz unseres dortigen Kontingentes Minen räumen, auch im Rahmen eines Pilotprojektes Hilfe bei der Ausbildung somalischer Helfer leisten. Die UNO-Resolution 814 vom 26. März 1993 fordert ausdrücklich dazu auf, bei der Beseitigung von Minen in Somalia mitzuwirken. Innerhalb der eigenen Möglichkeiten sollte Deutschland den Auftrag dieser Resolution mit erfüllen. Hierzu sind die Überlegungen des Koalitionsantrages gut geeignet.Die von der SPD im Antrag „Hilfe bei der Räumung von Minen" vorgelegte Idee, ein spezielles Umwelt-und Katastrophenhilfskorps einzurichten, paßt nicht in die politische Landschaft, erfordert darüber hinaus neue Strukturen und stößt auf großen Widerstand bei den sehr gute Arbeit im humanitären Bereich leistenden Nichtregierungsorganisationen. Im übrigen weise ich den Versuch der parlamentarischen Opposition, solche wie jetzt in Somalia vorgesehenen humanitären Einsätze in eine verfassungspolitische Diskussion hineinzuziehen, entschieden zurück.
Minenräumen ist personalintensiv; es erfordert einen hohen Materialeinsatz; es verlangt einen hohen Sicherheitsaufwand; es dauert lange und ist deshalb sehr teuer. — Daraus sind die notwendigen Schlüsse zu ziehen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Insbesondere gehört dazu die Bereitstellung von finanziellen Mitteln für notwendige Minenräummaßnahmen, wie sie beispielsweise von der Bundesregierung bereits für eine Minenräumaktion der Organisation Amerikanischer Staaten in Nicaragua geschehen ist. Hier hat die Bundesregierung richtigerweise aus dem Etat für Ausstattungshilfe 100 000 DM für eine Minenräummaßnahme bereitgestellt.
Die Beseitigung verlegter Landminen könnte vor allem auch durch kompetente deutsche Firmen geschehen, wobei sich die Bundesregierung an der Finanzierung beteiligen könnte. Ich finde, dies ist ein wichtiger Punkt, den man mit aufgreifen muß.
— Gucken Sie sich die einmal an, Herr Ullmann; die Unternehmen gibt es bereits, die sich darauf spezialisiert haben, und wir sollten auch diesen Sachverstand, vor allen Dingen im Interesse der Opfer oder möglicher Opfer, mit hineinnehmen.
Es ist vielleicht auch möglich, daß humanitäre Hilfsorganisationen bei einem Pilotprojekt Somalia mitmachen. Mit dem Einsatz von „Cap Anamur" in Angola z. B. liegen hierzu bereits Erfahrungswerte vor.
Wir können und wollen uns keinesfalls überall engagieren. Wir sollten im Einzelfall entscheiden — besonders auch im Blick auf den Schutz der Minenräumkräfte —, was man verantwortungsbewußt wie machen kann, mit welchen Organisationen, mit welchen Unternehmen und Ländern man zusammenarbeiten kann. Ich glaube, daß dann Minenräumen ein wesentlicher Beitrag deutscher humanitärer Hilfe werden kann und daß wir mit diesem wichtigen Beitrag auch Erfolg haben werden.
Ich bitte Sie daher, dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. zuzustimmen und den Antrag der SPD abzulehnen.
Meine Damen und Herren, nun hat unser Kollege Rudolf Bindig das Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren! Landminen sind ein furchtbarer Massenkiller von Menschen auf der Welt.
Auf 80 bis 100 Millionen schätzen die Vereinten Nationen die Zahl der Landminen, die weltweit auf Feldern und Weidegründen herumliegen. Es wird berichtet, daß jeden Monat rund 800 Menschen das Leben verlieren und 450 weitere schwer verletzt werden. Wahrlich, es ist ein Teufelszeug, welches im Zusammenhang mit Kriegen, Bürgerkriegen und Auseinandersetzungen zwischen gewalttätigen Banden auf der Welt ausgestreut wird.Die Aufmerksamkeit stärker auf diese Problematik zu richten hat sich das Internationale Komitee des Roten Kreuzes vorgenommen, und eine Kampagne von Nichtregierungsorganisationen für die Ächtung von Landminen ist angelaufen. Diese Bemühungen sind unterstützenswert.Die Anträge, die wir heute miteinander beraten, stellen darauf ab, daß man aus der Bundesrepublik Deutschland gegen diese Geißel, die in vielen Ländern ausgelegt worden ist, tätig werden kann, daß Unterstützung und Hilfe bei der Räumung solcher Landminen gewährt werden kann.Wir sind in der Zielsetzung einig, daß es erforderlich ist, den betroffenen Ländern auch mit internationaler Hilfe Unterstützung bei der Minenräumung zu geben. Oftmals sind in kriegerischen Auseinandersetzungen ganze Landstriche vermint worden. Es sind die Gegenden, in denen Nahrungsmittel produziert werden, vermint worden, so daß dort die Nahrungsmittelproduktion gestört ist. Entwicklungs- und Aufbauhilfe kann in vielen Ländern, die davon betroffen sind, erst in Gang kommen, wenn eine Minenräumung stattgefunden hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13221
Rudolf BindigTrotzdem ist es sinnvoll, hier zwischen Entwicklungshilfemaßnahmen und solchen, die im Vorfeld liegen, die Entwicklungshilfe erst möglich machen, aber als ein besonderer Problembereich gesehen und begriffen werden müssen, genau zu unterscheiden.Sie schreiben in Ihrem Antrag:Deutsche Nichtregierungsorganisationen und deutsche staatliche Stellen helfen, Minenopfer ärztlich zu behandeln und orthopädisch zu rehabilitieren. Viel besser wären präventive Maßnahmen: die Räumung der Minen.Diese Denkrichtung ist richtig: von den Folgen stärker zu den Ursachen zu gehen. Es ist, meine ich, aber erforderlich, noch weiter zu den Ursachen zu gehen, als Sie dies in Ihrem Antrag tim. Es geht nicht nur darum, Minen zu räumen, sondern darum, schon im Vorfeld bei der Anwendung, beim Export und sogar der Produktion derartiger Minen anzusetzen.
Diesen Gesichtspunkt haben wir in unserem Antrag deutlich zum Ausdruck gebracht, indem wir fordern,die Bemühungen zur weltweiten Ächtung von Produktion, Export und Anwendung solcher unterschiedslos wirkenden Waffen ... gegen die Zivilbevölkerung als solche oder gegen einzelne Zivilpersonen zu unterstützen, wie dies auch von vielen wichtigen internationalen nichtstaatlichen Organisationen gefordert wird.Zu bedenken ist hier, daß das im September 1992 beschlossene UN-Waffenübereinkommen zur Achtung der unterschiedslos wirkenden Waffen nicht ausreicht, weil es sich auf den Schutz der Zivilbevölkerung bezieht, aber nicht die Produktion, den Export und die Anwendung von Landminen verbietet.Ein schwieriger Punkt betrifft die Frage: Wer soll denn nun aus der Bundesrepublik hier tätig werden und beim Minenräumen Hilfe leisten? Im Antrag der CDU heißt es:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,— die Vereinten Nationen— jetzt kommt eine Unschärfe in die Darstellung hinein —mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei der Minenräumung zu unterstützen;Es wird nicht gesagt, was damit gemeint ist und wer da tätig werden soll, ob man Nichtregierungsorganisationen helfen soll, ob Privatfirmen die Minenräumung durchführen sollen. Vor allen Dingen wird nicht ausgeführt, welche Aufgabe in diesem Zusammenhang die Bundeswehr wahrzunehmen hat und wahrnehmen soll. Damit ist dieser Antrag mit der schwierigen Debatte verbunden, die wir um die Frage des Einsatzes der Bundeswehr außerhalb der Grenzen des Vertrags- und Bündnisgebietes führen.In der Debatte in den Ausschüssen haben die Kollegen der Union gesagt, es könne nicht darum gehen, der Bundeswehr weltweit Minenräumaufgaben zu übertragen. Sehr wohl sei es Aufgabe deutscher Streitkräfte, im Rahmen ihrer Ausbildungskapazitäten Dritten die Befähigung zum Minenräumen zu vermitteln. Aber irgendwo haben Sie wohl selber gespürt, daß in Ihren Formulierungen eine Unschärfe enthalten ist, denn im Ausschuß haben Sie dann gefragt: Wer ist innerhalb der Bundesregierung eigentlich dafür zuständig, wer hat denn die Federführung? Wie wollen Sie diesen Antrag in die Praxis umsetzen, wer soll der Akteur sein? Soll das die Bundeswehr sein, oder wer soll das machen? Dies haben Sie selber noch einmal gefragt, weil Sie gespürt haben, daß das Problem des Einsatzes der Bundeswehr berührt wird.Es kann nicht angehen, die Bundesregierung allgemein aufzufordern, „mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei der Minenräumung" tätig zu werden. Vielmehr muß dies klar präzisiert werden. Wenn Sie die Bundeswehr meinen, dann müssen hierzu klare Rechtsgrundlagen geschaffen werden. Es handelt sich beim Minenräumen um eine sehr gefährliche Arbeit mit hohem Risiko, und diese erfordert klare rechtliche Grundlagen.Wir haben dazu gesagt, daß wir, um solche Einsätze zu ermöglichen, bereit sind, das Grundgesetz entsprechend zu ändern, weil dies eine humanitäre Aufgabe ist. Aber dazu bedarf es eben vorher einer rechtlichen Klärung.
Es muß noch gesagt werden, daß, weil es sich um eine schwierige Aufgabe handelt, auch das entsprechende Gerät zur Verfügung stehen sollte. Wenn man an bestimmte Organisationen bestimmte Aufträge gibt, dann muß auch klar werden, was damit an weiteren Erwartungen verbunden ist. Die Fähigkeit, einen schmalen sicheren Streifen durch ein Minenfeld zu schlagen, so wie es bisher zum Auftrag der Bundeswehr gehört hat, ist nämlich eine gänzlich andere Aufgabe als großflächige Minenräumung in ländlichen Regionen von Ländern der Dritten Welt.Wir stimmen überein, daß es sinnvoll sein kann und sinnvoll ist, bei der Ausbildung zu helfen. Wir sind der Auffassung, daß es sinnvoll ist, Nichtregierungsorganisationen und Privatfirmen, die diese Aufgabe übernehmen, im informativen Bereich zu unterstützen, und auch im UN-Bereich die Kapazitäten zur Wahrnehmung dieser Aufgabe zu stärken und dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen und die technischen Voraussetzungen zu schaffen und Gerät bereitzustellen. Wir sind aber dagegen, daß mit der Begründung der Notwendigkeit, Minen zu räumen, ein Auftrag an die Bundeswehr ergeht, ohne daß die rechtlichen Grundsatzfragen geklärt sind.Aus diesem Grunde werden wir Ihren Antrag ablehnen und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag, der an die Ursachen der Verminung herangeht und stärker auf die Schaffung klarer Rechtsgrundlagen abstellt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf Waldburg-Zeil? — Bitte.
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Herr Kollege Bindig, auch Sie haben sich nun etwas unscharf ausgedrückt. Es hat Einsätze der "Cap Anamur" bzw. deren Trägerorganisation gegeben. Würden Sie es ablehnen, daß für einen solchen Einsatz einer Nichtregierungsorganisation Minenräumpanzer aus alten NVA-Beständen bereitgestellt werden?
Nein. Ich sagte ja, daß es eine Aufgabe sein kann und eine Aufgabe ist, daß Deutschland bewährten Privatfirmen oder Nichtregierungsorganisationen die operativen Möglichkeiten schafft, bei der Entminung tätig zu werden. Der in Ihrer Frage angesprochene Sachverhalt würde dadurch voll abgedeckt. Es ist sinnvoll, solche Organisationen zu unterstützen, die dort tätig werden wollen und solche Aufgaben wahrnehmen.
Auch mit Ausbildungshilfe und Material der Bundeswehr?
Ja, auch mit Ausstattungshilfe und Material von der Bundeswehr. Ich möchte allerdings ergänzen, daß auch der Endverbleib der Geräte klar geregelt sein muß.
Die Rede des Kollegen Bindig wurde mit Beantwortung dieser Frage beendet. Nunmehr hat unser Kollege Burkhard Zurheide das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Verlegen von Landminen, das zumeist auch noch systematisch erfolgt, ist ein besonders widerwärtiger Aspekt vieler Kriege. In den wenigsten Fällen dienen Minen der direkten Kriegsführung, was schon schlimm genug ist, zumeist sind sie Elemente des Terrors, der sich gegen die Zivilbevölkerung richtet. Daß dies völkerrechtswidrig ist, kümmert die meisten Kriegsparteien wenig. Aber nicht nur während, sondern auch nach der Beendigung eines Krieges stellen die verlegten Minen ein riesiges Gefahrenpotential für die Zivilbevölkerung dar. Verminte Landstriche sind unbewohnbar. Sie führen bei den Betroffenen, die mit ihnen in Kontakt kommen, zu den schrecklichsten Verletzungen und Verkrüppelungen.
Natürlich ist es völlig unbefriedigend, sich Gedanken machen zu müssen, wie verlegte Minen beseitigt werden können, statt dafür sorgen zu können, das Minenlegen überhaupt zu verhindern. Aber gute Worte und Appelle reichen wie so oft nicht aus. Wir haben uns den Realitäten zu stellen.
Wenn sich die Vereinten Nationen nach Wiederherstellung einigermaßen friedlicher Verhältnisse entschließen, Minenräumaktionen durchzuführen, so ist dies ohne Zweifel nur ein winziger Beitrag zur Wiederherstellung der Lebensgrundlagen in einem vom Krieg betroffenen Gebiet. Man darf die Augen aber auch nicht davor verschließen, daß Minenräumen gefährlich und teuer ist. Die Menschen, die in systematisch verminten Gebieten leben, haben aber einen Anspruch darauf, daß die Weltgemeinschaft wenigstens das tut, was ihr möglich ist.
Wir begrüßen es daher ausdrücklich, daß die Vereinten Nationen begonnen haben, sich um dieses Problem zu kümmern. Deutschland beteiligt sich in Wirklichkeit schon jetzt direkt und indirekt an solchen Maßnahmen; indirekt insoweit, als Minenräumaktionen der Vereinten Nationen aus Mitteln der VN, zu denen wir beigetragen haben, bezahlt werden, und direkt insoweit, als Geldbeträge Organisationen zur Verfügung gestellt werden, die mit Minenräumen befaßt sind.
Insoweit ist es auch richtig, daß die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag die Bundesregierung auffordern, die Vereinten Nationen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei der Minenräumung zu unterstützen. Und da, Herr Bindig, kann ich in der Tat nicht nachvollziehen, was Sie erneut eingewandt haben. Wenn wir sagen, es soll das getan werden, was uns zur Verfügung steht, so schließt das in einem Rechtsstaat aus, daß man etwas tut, was rechtlich nicht möglich ist. Wenn es dort heißt, „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln", dann sind dies eben auch nur alle rechtlich zur Verfügung stehenden Mittel. Das ist in einem Rechtsstaat so.
Herr Bindig, lassen Sie mich dazu noch eine zweite Bemerkung machen, weil mich das schon einigermaßen erstaunt hat. Sie haben hier gesagt, das Minenräumen sei eine humanitäre Aufgabe, und genau zu diesem Zwecke bräuchten wir eine Grundgesetzänderung. Es gibt ja einiges in dieser Debatte. Was die Öffentlichkeit von Ihnen, von der SPD insbesondere erwartet, ist, deutlich zu sagen, was man denn eigentlich will. Aber daß neuerdings das Argument vorgetragen wird, auch für humanitäre Maßnahmen, die ja seit 1973 von allen Bundesregierungen geleistet werden, müsse man das Grundgesetz ändern, ist in der Tat neu. Wenn das die Meinung der SPD wäre, kann ich nur sagen: Gute Nacht! Dann können wir diese Diskussion nämlich ganz schnell wieder vergessen.
Ich meine also wirklich, daß Klarheit in dieser Angelegenheit dringend notwendig ist. Minenräumen ist eben eine zutiefst humanitäre Aufgabe, und die Frage der Grundgesetzänderung ist eine Frage, die hiermit überhaupt nichts zu tun hat,
die eine Folgefrage für den Fall wäre, daß die Bundeswehr eingesetzt würde zum Minenräumen in nichtbefriedeten Gebieten. Darum geht es hier gar nicht. Es geht hier um rein humanitäre Fragen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bindig?
— Bitte, Kollege Bindig.
Ist Ihnen nicht bekannt, daß der Einsatz der Bundeswehr weltweit auch für humanitäre Zwecke in der strengen Auslegung des Grundgesetzes eine Art Gewohnheitsrecht geworden ist, welches sich praktisch herausgebildet hat, daß aber
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Rudolf Bindigder Übergang von einer rein humanitären Leistung zu einer gefährlichen Tätigkeit — und das ist Landminenräumen — genau jenen Grenzbereich berührt, wo das gewohnheitsrechtlich umkippt in eine Frage, die formalrechtlich gründlich geklärt sein muß?
Herr Bindig, es ist doch überhaupt keine Frage, daß sämtliche Einsätze unter dem Dach der Vereinten Nationen schwierig abzugrenzen sind. Aber es gibt klassische humanitäre Aufgaben — eine davon erfüllen z. B. Sanitätssoldaten der Bundeswehr in Kambodscha —, die streng humanitär sind. Wenn wir an dieser Stelle zu einer Klarstellung im Grundgesetz kämen, wären wir doch dafür dankbar. Nur, wir sind es doch nicht, die das verhindern. Sie sind es doch, die dies verhindert haben und die dies verhindern. Und jetzt — —
— Sie sollten vielleicht unserem Antrag zustimmen, damit wir in der Sache weiterkämen.
Man kann sich mit Fug und Recht darüber beklagen, daß es in dieser Welt nicht gelingt, friedlich miteinander umzugehen. Aber wir meinen schon, daß man das, was man tun kann, aus humanitären Gründen auch tun sollte, und wenn es noch so wenig ist.
Vielen Dank.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, jetzt hat als nächste unsere Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der ersten Behandlung der beiden Anträge zum Räumen von Minen in Ländern der Dritten Welt bzw. in ehemaligen Konfliktregionen ist fast ein halbes Jahr vergangen. Nach wie vor besteht das akute Problem verminter Territorien in ehemals aktuellen Konfliktgebieten. Nach wie vor sind schnelle, unbürokratische Lösungen gefragt, die das Leben in früheren Kampfgebieten wieder lebenswert, die Rückkehr von Hunderttausenden von Flüchtlingen in eine bewohnbare Heimat möglich machen. Dazu gehört aber eben auch das fachgerechte und vollständige Räumen der überreichlich verlegten Minen, die das Leben und die Gesundheit so vieler unschuldiger Menschen, vor allem aber auch Kindern, gefährden.
Geändert allerdings hat sich der rechtliche Kontext, in dem wir uns mit diesem Problem auseinandersetzen. Nachdem der Bundestag in der vergangenen Woche Entscheidungen über den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes getroffen hat, die weit über unsere Befürchtungen aus der ersten Lesung hinausgehen, ist die Schaffung rechtlicher Grundlagen für einen Einsatz militärischer Strukturen beim Minenräumen in Entwicklungsländern quasi hinfällig geworden.
Geblieben sind jedoch die Fragen nach der Finanzierung, der Verantwortlichkeit und der Umsetzung der unbestritten notwendigen Hilfe der Bundesrepublik für die betroffenen Länder.
Im Prinzip haben wir unsere Vorstellung bereits im November dargestellt. Ich beschränke mich deshalb an dieser Stelle auf Stichworte: technische und materielle Unterstützung nichtmilitärischer Institutionen, privater Hilfsorganisationen — NGOs —, um sie für diese Aufgaben zu befähigen; Mittelbereitstellung nicht im Rahmen der Ausstattungshilfe, sondern im Rahmen humanitärer Hilfe mit ausdrücklich festgeschriebenem Verwendungszweck; verstärkt materielle Unterstützung entsprechend den UNO-Programmen ohne Beteiligung von Angehörigen der Bundeswehr und überhaupt ein striktes Verbot des Rüstungsexports, vor allem in Konfliktregionen.
Eine Bemerkung zum Schluß: Minenräumen ist ein Versuch, bestehende Probleme punktuell zu behandeln. Eine konsequente restriktive Ausfuhrpolitik für jegliches militärisches Gerät wäre ein effektiver Weg, diese Art von Problemen gar nicht erst entstehen zu lassen.
So ließe sich auch vermeiden, daß dieselben Kreise zunächst am Verkauf von Militärgerät — sprich z. B. Minen — und dann noch an den Aufträgen zu ihrer Vernichtung Unsummen verdienen, die letzten Endes von den Steuerzahlern aufgebracht werden müssen.
Der vorliegenden Beschlußempfehlung können wir uns leider nicht anschließen, so sehr wir auch die Notwendigkeit schneller Hilfe für die betroffenen Länder sehen. Solange Ursachen nicht benannt werden, sind reale Lösungen nicht in Sicht.
Nächster Redner ist unser Kollege Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Prinzip sind wir uns natürlich einig: Es ist in den vergangenen Jahren auf dem Gebiet des Minenräumens zuwenig geschehen, und die aktuellen und auch noch zu befürchtenden Kriege und Bürgerkriege lassen das Problem eher ins Unermeßliche wachsen.Allein in der Zeit der sowjetischen Besetzung wurden auf afghanischem Territorium mehr Minen abgeladen als an allen Fronten während des gesamten Zweiten Weltkrieges. Und auch seitdem ist in vielen Ländern durch den Einsatz von Minen millionenfaches Leid verursacht worden. Wir sind mit Ihnen der Meinung, daß Minenräumen gegenwärtig zu den wichtigsten humanitären Aufgaben gehört, daß vor allem Präventivmaßnahmen intensiviert werden müssen bis hin zur vollständigen Ächtung von Produktion, Export und Verwendung der Minen, daß sich die Bundesrepublik daran beteiligen soll und daß den Menschen, die sich dieser schwierigen Aufgabe widmen, unsere größte Achtung und unser Dank gebührt.Dennoch liegen der heutigen Beschlußempfehlung zwei entscheidende Fehler zugrunde.Wie schon mein Kollege Weiß im November letzten Jahres dazu ausgeführt hat, bezweifeln wir nachdrücklich, daß Ausstattungshilfen — an welche Nach-
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Gerd Poppefolgeregime von kriegerischen Auseinandersetzungen in der Dritten Welt auch immer sie gehen — irgendeine Gewähr dafür böten, daß das zum Minenräumen erforderliche technische Material nicht etwa für weitere Kriegshandlungen eingesetzt würde. Dieser scheinbare Weg zur Hilfe beim Minenräumen führt in eine Sackgasse.Abweichend von der Meinung unseres Kollegen Weiß hat unsere Gruppe aber auch außerordentliche Bedenken gegenüber der Unterstützung humanitärer Organisationen mit minenräumtechnischem Gerät ohne Einbindung in die fachliche und politische Kontrolle der Vereinten Nationen.Das von der UNO initiierte Minenräumprogramm in Afghanistan, das das größte jemals organisierte ist, leidet unter chronischer Geldknappheit. Aber es funktioniert, weil es politisch, militärisch und technisch abgesprochen und koordiniert worden ist. In derartige Programme, so meinen wir, sollten die verfügbaren Bundesmittel fließen, bevor eine einzige Mark auf Grund blumiger Absichtserklärungen von technischen Laien investiert wird.Auch das in der Novemberdebatte und heute wieder mehrfach beschworene Minenräumengagement vom Komitee Cap Anamur war bislang keineswegs erfolgreich, konnte auch nicht erfolgreich sein, weil außer dem Engagement die wesentlichen Voraussetzungen fehlten.Minenräumen bleibt zwangsläufig das Geschäft von Spezialisten — unter direkter Kontrolle der UNO, wohlgemerkt. Und wenn diese Kontrolle gewährleistet ist, können wir sowohl die Beteiligung von Bundeswehrangehörigen als auch von Spezialisten aus humanitären Organisationen und auch aus privaten Unternehmen unterstützen.Bevor aus dem heute zu erwartenden Mehrheitsbeschluß praktische Konsequenzen gezogen werden, würden wir der Komplexität des Gegenstandes wegen dringlichst empfehlen, interfraktionell eine Fachanhoning zum Thema zu organisieren, zu der wir auf Grund unserer eigenen Kontakte die Erfahrungen und die Präsenz eines der renommiertesten Minenräumspezialisten der Welt beisteuern könnten, nämlich von Rae McGraw von MAG, der Mine Awareness Group, aus Großbritannien.Wir müssen aber die vorliegende Beschlußempfehlung aus den genannten Gründen ablehnen.
Meine Damen und Herren, nunmehr erhält das Wort die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, unsere Kollegin Ursula Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die meisten Redner der heutigen Debatte haben ein Bild des Elends gezeichnet, das durch die Verlegung von Minen, speziell von Minen gegen Einzelpersonen, weltweit angerichtet worden ist, vor allen Dingen unter der Zivilbevölkerung. Ich glaube, man muß neben dem körperlichen und persönlichen Elend insbesondere auch noch einmal auf die Tatsache hinweisen, daß dadurch, daß diese Minen nach wie vor unentdeckt in den Böden liegen, die notwendige Rehabilitierung, der Wiederaufbau der Volkswirtschaften nachhaltig verhindert wird und dies wohl auch noch eine geraume Zeit der Fall sein wird.Die Bundestagsfraktionen haben sich bereits mit dieser Thematik beschäftigt. Wir haben die Folgen in Form dieser Anträge heute vor uns liegen. Wir wollen helfen. Die Bundesregierung will helfen. Wir wissen aber, daß Deutschland angesichts der Dimension dieses Problems Helfer haben muß, daß Deutschland nur einer unter vielen sein kann. Es sind langfristige und nachhaltige Bemühungen der gesamten internationalen Gemeinschaft erforderlich. Hier kommt den Vereinten Nationen eine ganz entscheidende Rolle zu.Wir begrüßen deshalb die Einrichtung und Bestellung eines Koordinators für die Aktivitäten der Vereinten Nationen bei der Minenräumung im Rahmen ihrer friedenserhaltenden und humanitären Maßnahmen. Die Bundesregierung ist bereit, multilaterale Maßnahmen zur Lösung des Minenproblems, insbesondere Aktionen der Vereinten Nationen auch weiterhin mit bilateralen Beiträgen zu flankieren und zu unterstützen.Es verdienen auch — dieses habe ich am 12. November letzten Jahres schon einmal gesagt — regionale Ansätze zur Bewältigung des Minenproblems besondere Aufmerksamkeit und unsere Unterstützung. Wir haben z. B. die Organisation amerikanischer Staaten aus Mitteln der Ausstattungshilfe des Einzelplans 05 unterstützt, um dem interamerikanischen Verteidigungsrat bei der Räumung von Minen in Nicaragua zu helfen. „Cap Anamur" hat überzähliges Material der ehemaligen Nationalen Volksarmee erhalten, um in eigener Regie Minenräumungen vorzunehmen. Erst kürzlich hat auch der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlingsfragen Minensuchgerät aus Beständen der ehemaligen Nationalen Volksarmee erhalten.Die Bundesregierung beabsichtigt jedoch nicht, wie von der SPD in ihrer Entschließung vorgeschlagen, ein deutsches Umwelt- und Katastrophenhilfskorps aufzubauen.
Es gibt inzwischen genügend Organisationen und Unternehmen, die mit den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen bei der Minenräumung zusammenarbeiten.Herr Augustinowitz, Sie haben vorhin noch einmal plastisch beschrieben, wie schwierig dieses Thema „Minenräumung" ist. Die Typenvielfalt der verlegten Minen, die ganz unterschiedlichen lokalen Bedingungen, unter denen sie verlegt wurden, und das erhebliche Risiko bei der Minenräumung erlauben keine einheitliche Patentlösung. Jeder Einzelfall muß demzufolge geprüft werden. Dabei — auch dies wurde erwähnt — wird es keine Billiglösungen geben. Minenräumung ist personalintensiv und erfordert einen sehr hohen Materialeinsatz und einen hohen Sicherheitsaufwand. Sie ist teuer und dauert lange.
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Staatsministerin Ursula Seiler-AlbringDie Bundesregierung hält es daher für das sinnvollste, den von der Verminung größerer Landstriche betroffenen Ländern Hilfe durch die Ausbildung eigener Minenräumungseinheiten und — in beschränktem Umfang — durch die Bereitstellung der benötigten Minensuch- und Minenentschärfungsgeräte Hilfe zu leisten. Angesichts der enormen Probleme infolge von Minenverlegungen ist es ebenfalls wichtig, für die Zukunft den Gebrauch dieser unterschiedslos die schwächsten Teile der Bevölkerung treffenden Waffen zu bannen.Die Bundesregierung sieht im VN-Waffenübereinkommen zur Ächtung von unterschiedslos wirkenden Waffen den besten Ansatz, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu sichern. Sie tritt für die universelle Respektierung dieses Instruments ein und wird darauf hinwirken, bei der Weiterentwicklung des humanitären Kriegsvölkerrechts die bereits bestehenden Einsatzverbote für Landminen zu verschärfen. Dazu gehört auch ein Herstellungs- und Exportverbot für die sogenannten antipersonal mines, die sich gezielt gegen ungeschützte Einzelpersonen richten.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlußempfehlung — Drucksache 12/4655 —, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. — Drucksache 12/3348 — anzunehmen. Wer für diese Ausschußempfehlung ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen gab es nicht. Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt weiterhin unter Buchstabe b, den Antrag der Fraktion der SPD — Drucksache 12/3694 — abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung des Ausschusses ist bei Gegenstimmen aus der SPD-Fraktion und Stimmenthaltung der Gruppen PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Anpassungsprotokoll vom 17. März 1993 zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum
— Drucksache 12/4738 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
EG-Ausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des EWR-Ausführungsgesetzes
— Drucksache 12/4790 — Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
EG-Ausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch und eröffne die Aussprache.
Das Wort hat zunächst der Herr Parlamentarische Staatssekretär, unser Kollege Dr. Reinhard Göhner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Bundestag liegen heute zwei Gesetzentwürfe zum Anpassungsprotokoll vom 17. März 1993 zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vor. Wir müssen uns deshalb noch einmal mit diesem Komplex „Europäischer Wirtschaftsraum" befassen, weil die Schweiz bedauerlicherweise wegen des Ausgangs der Volksabstimmung am 6. Dezember 1992 nicht am Europäischen Wirtschaftsraum teilnehmen kann.Das Abkommen über Europäischen Wirtschaftsraum konnte deswegen nicht in der vereinbarten Fassung in Kraft treten. Die anderen EFTA-Staaten, die Europäische Gemeinschaft und natürlich ihre Mitgliedstaaten mußten ein Anpassungsprotokoll als Folge dieses Sachverhaltes aushandeln. Wir begrüßen, daß es gelungen ist, sich schnell auf dieses Anpassungsprotokoll zu einigen. Hilfreich war natürlich, daß man sich im wesentlichen auf technischformale Anpassungen beschränken konnte. Die Streichung der Schweiz als Vertragspartei sowie aller sie betreffenden Bestimmungen machen den größten Teil des Anpassungsprotokolls, das Ihnen vorliegt, aus.Materiellrechtliche Änderungen finden wir bei der Hilfe der EFTA-Vertragsstaaten für die weniger entwickelten EG-Staaten. Die EFTA-Vertragspartner übernahmen dankenswerterweise hier größtenteils den Anteil der Schweiz. Der Schweiz wird im Anpassungsprotokoll und in einer gemeinsamen Erklärung der Vertragsparteien ausdrücklich die Möglichkeit eines späteren Beitritts eingeräumt. Wir werden dies selbstverständlich unterstützen. Ich selbst habe auf der Hannover-Messe in Gesprächen erfahren, daß — was nicht überraschend ist — die Wirtschaft, die Industrie in der Schweiz durchaus nach wie vor ein großes Interesse daran hat.Die vorliegenden Gesetze sollen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Deutschland das Anpassungsprotokoll vor dem 1. Juli 1993 ratifizieren kann. Mit diesem Anpassungsprotokoll soll an diesem Tage das EWR-Abkommen in Kraft treten. Darm sind wir mit der Schaffung dieses Wirtschaftsraumes gegenüber dem EG-Binnenmarkt nicht allzulang in Verzug.Das EWR-Abkommen schafft weitgehend Freizügigkeit nicht nur für Waren, sondern auch für Dienstleistungen, Personen und Kapital. Die EFTA-Vertragspartner übernahmen im wesentlichen die Binnenmarktregelung der Gemeinschaft. Im Europäischen Wirtschaftsraum werden weitgehend gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen. Zusammenarbeit soll außerdem in der Umwelt-, in der Verkehrs-
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Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnerpolitik, in der Forschungs- und Technologiepolitik und in einigen anderen Bereichen Platz greifen.Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, für Deutschland hat dieser Europäische Wirtschaftsraum besondere Bedeutung. Wir sind stets dafür eingetreten, daß der EG-Binnenmarkt nach außen offen sein müsse, und das geschieht durch diese Erweiterung auf den Europäischen Wirtschaftsraum.Der EWR wird unsere intensiven wirtschaftlichen Verbindungen, die wir schon heute mit Österreich und den nordischen Staaten haben, vertiefen.Unsere Wirtschaft wird erhebliche Vorteile von dem Europäischen Wirtschaftsraum haben. Für den Handel fallen praktisch sämtliche Hemmnisse. Die öffentlichen Beschaffungsmärkte der EWR-Vertragspartner öffnen sich. Unsere Banken, Versicherungen und andere Dienstleistungsbereiche können in bisher zum Teil oder weitgehend verschlossenen Märkten tätig werden. Unsere Arbeitnehmer und Selbständigen können künftig in allen EWR-Staaten arbeiten. Zeugnisse von uns gelten auch dort und umgekehrt. Investitionen werden uneingeschränkt möglich, grundsätzlich — das ist wichtig — auch der Verkehr mit Immobilien.Diese Vorteile stärken unsere Wirtschaft auch im Wettbewerb mit anderen Teilen der Welt.Meine Damen und Herren, wegen der Gesamtheit der Vorteile dieses wirklich bedeutendsten Vertragswerks, das die EG je vereinbarte, hat Deutschland die Verwirklichung dieses europäischen Wirtschaftsraums mit allem Nachdruck unterstützt. Wir sollten deshalb auch alles daransetzen, daß Deutschland das Anpassungsprotokoll rechtzeitig ratifiziert, damit der Europäische Wirtschaftsraum nunmehr tatsächlich Wirklichkeit wird.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Dr. Norbert Wieczorek das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ablehnende Referendum der Schweizer zum EWR-Vertrag am 6. Dezember macht es nun notwendig, daß wir uns heute über das Zusatzabkommen unterhalten. Der europäische Integrationsprozeß ist damit zum zweitenmal in Verzug gekommen. Der erste Verzug ist bei der MaastrichtRatifizierung entstanden — der zweite Verzug jetzt bei diesem Vertrag, der sowohl einen inneren Zusammenhang zum europäischen Währungs- und Wirtschaftssystem hat, aber auch vor allem zu dem, was wir mit Maastricht planen.Dies alles geschieht in einer Phase, in der sich Europa in einer ausgesprochenen Wachstumsschwäche befindet. Außerdem befinden sich Teile Europas — wir denken insbesondere an die Staaten Mittel- und Osteuropas — in einer Phase politischer Instabilität bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, daß wir heute hier ein Zeichen setzen, denn das verstärkte Zusammenwachsen von EG und EFTA ist gerade zum gegenwärtigenZeitpunkt wichtig und notwendig, um ein Zeichen für die bessere Kooperation in Europa zu setzen.Gemeinsam wird es uns auch leichter fallen, die Konjunkturschwäche in Westeuropa zu überwinden und die zunehmende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.Es ist zu hoffen, daß dieser Zusammenschluß zu einer Ausdehnung des Handels und damit auch der Beschäftigung führt. Gemeinsam wird es auch einfacher sein, als stabilisierender politischer Faktor die Übergangsprobleme in den osteuropäischen Staaten zu überwinden. Dabei profitieren EG und EFTA gleichermaßen von einer verstärkten Zusammenarbeit. EG und EFTA können zusammen rund 46 % des Welthandels für sich verbuchen. Der Zusammenschluß zum europäischen Wirtschaftsraum ist dabei nicht nur ein Signal, das nach innen wirkt. Der Abbau der Wirtschaftsschranken zwischen den Staaten Westeuropas wird sich auch positiv auf die weltweite Konjunkturlage auswirken.Dies gilt um so mehr, wenn es nach allem Hin und Her doch noch gelingen sollte, in diesem Jahr endlich den neuen GATT-Vertrag zur Reife zu bringen; denn das ist jetzt um so notwendiger, weil sich sonst die Tendenzen — auch hier in Europa, aber auch anderswo — zu einer Abschottung von Handelsregionen verstärken könnten. Der EWR-Vertrag hat also insbesondere jetzt an Bedeutung gewonnen.Noch zum Zeitpunkt seiner Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag war davon auszugehen, daß es sich bei dem Europäischen Wirtschaftsraum nur um ein kurzes Intermezzo bis zum Volleintritt der EFTA-Staaten in die Gemeinschaft handeln könnte. Dies ist jetzt nicht mehr gesichert. Es gibt in einzelnen der beitrittswilligen Länder erheblichen innenpolitischen Widerstand. Der Verlauf der Beitrittsverhandlungen, die mit fast allen EFTA-Ländern noch in diesem Jahr aufgenommen werden oder schon aufgenommen wurden, zeigt, daß es doch etwas schwieriger sein wird. Bis Ende dieses Jahres ist das jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle nicht zu erreichen; im Gegenteil: Die Anpassungen, die notwendig sind — nicht nur im Agrarbereich, aber vor allem auch dort —, werden dazu führen, daß wir möglicherweise bis in das Jahr 1995 hineinkommen.Um so wichtiger wird damit ein baldiges Inkrafttreten des EWR-Vertrags — besonders für die wirtschaftlich und strukturell schwächeren Regionen der Gemeinschaft. Der Ausstieg der Schweiz aus diesem Vertrag hat dies besonders deutlich gemacht und auch Schwierigkeiten gebracht; denn mit ihm drohte der Anteil der Schweiz an den von den EFTA-Staaten in Aussicht gestellten Kohäsionsmitteln verlorenzugehen. Dies hat zu großer Unruhe in den betroffenen Empfängerländern geführt. Spanien ging aus Sorge um einen Rückgang seiner Fördermittel sogar so weit, die Ratifizierung des EWR-Vertrags von der Ratifizierung des Maastricht-Vertrags durch Dänemark und Großbritannien abhängig zu machen. Wir hoffen, daß die Dänen bei ihrem Referendum mit Ja stimmen. Zu Großbritannien werde ich nachher noch eine kurze Bemerkung machen.
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Dr. Norbert WieczorekGlücklicherweise haben sich die verbliebenen sechs EFTA-Staaten bereit erklärt, den Finanzierungsanteil der Schweiz, der sich immerhin auf 28 % belief, zu übernehmen und damit ein drohendes Scheitern des Abkommens zu verhindern. Ich glaube, wir sollten diesen Ländern dafür dankbar sein, daß damit der Prozeß weitergehen kann; denn damit stehen Portugal, Griechenland, Irland und Spanien neben den Struktur- und Kohäsionsfonds der Gemeinschaft weitere 1,5 Milliarden ECU in Form zinsvergünstigter Darlehen und 500 Millionen ECU als Direktzuschüsse zur Verfügung, um dringende Vorhaben in den Bereichen der Umwelt- und Verkehrspolitik als auch auf den Feldern der beruflichen Bildung und der Ausbildung durchzuführen und sie damit mehr an das Standardniveau in Westeuropa heranzuführen. Dies ist ein wichtiger Punkt.
Die Erfahrungen mit dem EWR können auch für die Osterweiterung der Gemeinschaft von Bedeutung sein. Für die Staaten Mittel- und Osteuropas, zu denen die Gemeinschaft gegenwärtig besondere Formen der Kooperation entwickelt — die weiterentwikkelten Assoziierungsabkommen —, könnte der EWR bei seinem Gelingen ein Modell für ihre weitere Annäherung an die Europäische Gemeinschaft werden. Die Möglichkeit der Rechtsangleichung im Rahmen einer durch den Zusammenschluß zu einem Wirtschaftsraum erfolgten Vertiefung der Integration erleichtert den Übergang erheblich. Hier ist, glaube ich, ein guter Weg für die mittel- und osteuropäischen Staaten gefunden worden, sie, sofern sie das entsprechende Niveau erreicht haben, vor dem Volleintritt an die EG heranzuführen.Der EWR ist damit von wesentlicher stabilitätspolitischer Bedeutung für Europa. Er sollte daher zum schnellstmöglichen Zeitpunkt in Kraft gesetzt werden. Durch die Haltung Spaniens hat sich das Schicksal des Europäischen Wirtschaftsraums direkt mit dem der Europäischen Union verbunden.Ich muß gestehen, daß ich sehr betroffen davon bin, daß Spanien nach wie vor diese Verbindung zu Großbritannien aufrechterhält; denn der parlamentarische Prozeß in Großbritannien läßt erwarten, daß wir frühestens im Sommer, möglicherweise erst im Herbst eine Ratifizierung des Maastrichter Vertragswerks in Großbritannien bekommen. Das heißt, so lange wird auch der Europäische Wirtschaftsraum in der Schwebe bleiben. Dies ist nicht gut für die europäische Einigung. Es ist auch nicht gut für die erwarteten wirtschaftlichen Belebungen aus diesem Vertrag, und wir sollten alles daransetzen, daß Spanien diese aus meiner Sicht nicht zulässige Verbindung endlich aufgibt und zu einer Ratifzierung schreitet — noch dazu, da ja seine finanzielle Versorgung aus dem Entgegenkommen der anderen EWR- und EFTA-Länder gesichert ist. Ich glaube, dies ist auch eine Aufgabe für die Bundesregierung.Die Bundesrepublik sollte nun ihrerseits — und das tun wir ja heute — durch eine schnelle Ratifizierung des Zusatzabkommens keinen Zweifel an ihrer Haltung für eine Europäische Union und für einen vereinigten Wirtschaftsraum in Europa aufkommen lassen.Die negative Entscheidung der Schweizer Bevölkerung muß zum Anlaß genommen werden, die strukturellen Schwächen der Europäischen Gemeinschaft — insbesondere meine ich damit ihr Demokratiedefizit — zu überdenken.
Es ist dieses Demokratiedefizit gewesen, das in der Schweiz eine große Rolle gespielt hat, wie mir verschiedene Gespräche, insbesondere in Zürich, gezeigt haben. Es war der deutschsprachige Teil, der die Ablehnung bewirkt hat.Wir müssen auch die notwendigen Veränderungen vornehmen, damit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger der Gemeinschaft gegenüber wieder gestärkt wird. Wir müssen dafür sorgen, daß die Kandidaten für den Beitritt die Chance sehen, sich voll einzubringen, aber in Strukturen, die eher der Demokratie entsprechen. All das, was wir im Zusammenhang mit Maastricht gesagt haben — Demokratiedefizit und größere Transparenz in der EG —, muß endlich verwirklicht werden. Sonst sind wir hier immer noch auf einem gefährlichen Weg.Das heißt auch für uns, daß die Tür für die Schweiz auf keinen Fall abgeschlossen sein darf. Im Gegenteil: Wir müssen versuchen, auch die Schweiz dazu zu gewinnen. Das mag jetzt zwar später kommen, aber es wäre sehr sinnvoll und wünschenswert, wenn sich die Schweiz dann, wenn auch wir unsere Voraussetzungen geschaffen haben, überwinden könnte, sich diesem neuen Europa anzuschließen. Ich glaube, das Neutralitätsproblem dürfte kein Hindernis dafür sein.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Hermann Schwörer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sosehr wir das Fernbleiben der Schweiz in diesem neuen EWR bedauern, so erfreulich ist es, daß sich die übrigen Vertragspartner sehr schnell auf den EWR ohne die Schweiz geeinigt haben. Man sieht daraus das große Bedürfnis nach einem engeren Zusammengehen in ganz Europa. Wir sehen das übrigens jetzt besonders stark in Osteuropa.Die technischen Änderungen waren kein großes Problem; das wissen wir. Schwieriger war es, zu erreichen, daß die EFTA-Vertragspartner den größten Teil des finanziellen Beitrages der Schweiz zum Kohäsionsfonds übernommen haben. Das zeigt das Interesse aller Staaten, die in den EWR gegangen sind. Es zeigt aber auch die Einsicht in die Notwendigkeit, den schwachen Ländern des europäischen Südens wirksam zu helfen.Die Vorteile liegen auf der Hand. Für den wirtschaftlichen Austausch gibt es fühlbare Erleichterungen: Wegfall von Handelshemmnissen, Anerkennung technischer Prüfungen, Zugang zu öffentlichen Aufträgen in allen Ländern, Freiheit der Niederlassung
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Dr. Hermann Schwörerund der Dienstleistungen, Anerkennung der Diplome, Mäglichkeit des Grunderwerbs und vor allem Freizügigkeit der Arbeitnehmer in allen EWR-Staaten.Diese Erleichterungen sind gerade in der heutigen Konjunkturphase von einer besonderen Bedeutung. Wir erhoffen uns davon einen fühlbaren positiven Einfluß auf unsere Warenströme und damit für ein größeres Wachstsum in allen EWR-Staaten. Wir haben ja hier alle Sorgen wegen zu geringer Raten und hoffen, durch die Aufhebung der Grenzen zu einem lebhafteren wirtschaftlichen Austausch, zu mehr Wettbewerb und damit auch zur Verstärkung der Innovation beizutragen.Ich möchte neben all dem Positiven, das ich jetzt angeführt habe, noch ein paar kritische Fragen stellen, die mit dieser Abstimmung zusammenhängen. Muß nicht die mißlungene Abstimmung zu einer Gewissenserforschung in der EG in manchen Punkten führen? Ich möchte nur ein paar Beispiele nennen.Der Ministerrat hat immer noch ein zu großes Übergewicht gegenüber dem Europäischen Parlament. Die Brüsseler Bürokratie ist immer noch bereit, ständig neue Verwaltungen einzurichten oder neue Vorschriften zu erlassen, die vor allem auch die mittelständischen Betriebe mit zusätzlicher Arbeit überbelasten. Oder ich denke daran, was für eine Diskussion man um die neue Währung, um ein neues Geld geführt hat. War das nötig? Das hat doch bloß dazu geführt, daß man hier Ängste geweckt hat, daß bewährte und beliebte Währungen eines Tages verschwinden. Ich glaube, das war ein bißchen zu progressiv gedacht und diskutiert.Ein letztes — ich sehe gerade einen berühmten Kollegen aus der Landwirtschaft vor mir —: Sind nicht die Subventionen falsch angelegt, wenn der Begünstigte nur 20 % davon in seiner Kasse sieht und der größte Teil durch Lagern, Unter-Preis-Verkauf und Betrügereien aufgefressen wird? Also, das sind schon kritische Fragen, die man sich in den nächsten Jahren wirklich überlegen sollte.Wir haben den Schweizern die Möglichkeit offengelassen, sich zu einem späteren Zeitpunkt für den EWR zu entscheiden. Ich glaube, das war gut so; denn die Schweiz ist immerhin der wichtigste Wirtschaftspartner der Bundesrepublik unter den EFTA-Staaten. Wir begrüßen es deshalb, daß die Öffnungsklausel enthalten ist und der Schweizer Bundesrat alle Optionen einer künftigen Integrationspolitik offengehalten hat. Ich hoffe, daß, wenn es wieder einmal zu neuen Verhandlungen in dieser Richtung kommt, vielleicht manches von dem besser geworden ist, was jetzt im Abstimmungskampf in der Schweiz dazu geführt hat, daß dieses Land den Beitritt zum EWR abgelehnt hat.Im übrigen kann ich noch einmal sagen, daß wir über dieses Abkommen froh sind. Wir begrüßen es. Die EFTA-Staaten sind und bleiben wichtige Handelspartner außerhalb der EG. Wir stimmen deshalb dem Anpassungsprotokoll zu und hoffen, daß es bald verwirklicht wird.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Fritz Schumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Referendum in der Schweiz ist Anlaß, daß wir uns heute noch einmal mit dem EWR-Abkommen beschäftigen. Ich stimme meinem Vorredner Herrn Schwörer und anderen zu, die gefordert haben, daß man sich auch damit auseinandersetzen solle, warum das Abkommen in der Schweiz abgelehnt worden ist. Nach meinem Kenntnisstand haben z. B. regionale Gesichtspunkte, regionale Freiheiten, kulturelle Vielfalt bei den Schweizern eine große Rolle gespielt. Es wäre auch interessant, zu hinterfragen, warum der französischsprechende Teil zu 80 % mit Ja gestimmt hat und warum es ausgerechnet im deutschsprechenden Teil so viele Gegenstimmen gab. Aber das will ich jetzt nicht untersuchen. Vielleicht war der Verlauf des deutsch-deutschen Einigungsprozesses eine Ursache dafür. Vielleicht haben die Deutschsprechenden besser verstanden, was da abgelaufen ist.Gestatten Sie mir, daß ich in diesem Zusammenhang an die drängenden Fragen der Einbeziehung Osteuropas in einen Europäischen Wirtschaftsraum erinnere, den wir uns ja insgesamt vorstellen, Fragen, die nach unserer Auffassung von der Bundesregierung und den Ländern Westeuropas noch nicht ausreichend in Angriff genommen werden.Noch in der Phase des Zusammenbruchs des Sozialismus in Osteuropa wurde der gute Gedanke der Schaffung eines demokratisch gestalteten europäischen Hauses begeistert gefeiert. Auf der vor zwei Jahren in Paris durchgeführten gesamteuropäischen Konferenz nahmen die Präsidenten und Regierungschefs feierlich die Europäische Charta an. Sie verhieß den Völkern Europas, daß mit der Beendigung des kalten Krieges und dem Sieg der Marktwirtschaft eine grandiose europäische Perspektive entstanden sei. Sie versprach Frieden, Demokratie, sozialen Fortschritt und europäische Einigung vom Atlantik bis zum Ural.Heute spricht leider niemand mehr vom gemeinsamen europäischen Haus. Das ist aus dem Sprachgebrauch weithin verschwunden. Die Europäische Charta spielt in der praktischen Politik kaum noch eine Rolle. Keines der großen Versprechen wurde auch nur im Ansatz verwirklicht. Osteuropa geriet ohne die versprochene Hilfe in eine tiefe Wirtschaftskrise. Das Bruttosozialprodukt der osteuropäischen Länder sank innerhalb von drei Jahren, von 1989 bis 1992, um rund 32 %. Für 1993 ist erneut mit einem Rückgang von 10 bis 14 % zu rechnen, so daß dann das europäische Wirtschaftspotential nur noch rund 57 % betragen wird. Eine rapide Verarmung breiter Bevölkerungsteile ist die Folge.Westeuropa verteidigt seinen Wohlstand gegenüber dem größeren Teil des Kontinents. Das muß man heute deutlich feststellen. Der Europäische Wirt-
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Dr. Fritz Schumann
schaftsraum entwickelt sich trotz aller gegenteiligen Versicherungen praktisch zu einer westeuropäischen Festung, die sich gegenüber Armutsflüchtlingen, Asylbewerbern und Exporten aus Osteuropa abschottet. Von der früher geforderten Freizügigkeit für die Osteuropäer ist keine Rede mehr; eine wirksame Hilfe für die osteuropäischen Staaten erfolgt nicht. Halbherzige Programme, hauptsächlich für technische Hilfe und Beratungsdienst, sichern eher die Existenz westlicher Berater, als daß sie wirksam helfen könnten. Es gibt kein Konzept für die Einbeziehung Osteuropas in einen europäischen Wirtschaftsraum, die angesichts der Probleme dringend erforderlich wäre. Die mit Polen, Ungarn und der damaligen CSFR abgeschlossenen EG-Assoziierungsabkommen können bestenfalls als Ansätze für ein solches Konzept angesehen werden.Völlig offen bleibt jedoch, wie die wirtschaftliche Lage in Osteuropa stabilisiert und ein weiteres Abgleiten großer Teile dieser Region in Chaos und bewaffnete Konflikte verhindert werden kann.Danke.
Meine Damen und Herren! Noch eine Bemerkung zur Geschäftslage: Wir haben noch etwa zehn Minuten Debattenzeit. Dann beginnt die Fragestunde. Ich bitte, daß draußen zu wiederholen.
Eine zweite Bemerkung: Die Fragestunde wird nicht eine Stunde dauern. Nach der Zahl der vorliegenden Fragen müssen wir davon ausgehen, daß wir in einer guten halben Stunde fertig sind. Wir möchten dann mit der Aktuellen Stunde beginnen. Ich bitte, auch das noch ein bißchen zu verbreiten, und hoffe, daß ich in Übereinstimmung mit den Geschäftsführern bin, wenn ich sage, daß wir weitermachen und keine Pause einlegen.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Entwurf wird nun klargestellt, daß als Vertragspartner der Europäischen Gemeinschaft die EFTA-Staaten Finnland, Island, Liechtenstein, Norwegen, Österreich und Schweden Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten sollen. Es ist erfreulich, daß diese Länder am EWR festhalten und die Finanzierung des Kohäsionsfonds gesichert werden konnte.Andererseits ist aber das Ausscheren der Schweiz mit seiner Konsequenz für den europäischen Integrationsprozeß zu bedauern. Das ist hier von allen Seiten geäußert worden. Aus Sicht der Europäischen Gemeinschaft stellt eine Verweigerung der Schweiz einen Verlust an potentieller Wirtschaftskraft, Knowhow und Stabilität dar, also von Faktoren, die für die Wirtschaftskraft eines gemeinsamen Europa von besonderer Bedeutung gewesen wären.Aber auch für die Schweiz selbst ist fraglich, ob es eine wirtschaftlich kluge Entscheidung war, sich der europäischen Integration — ich sage einmal: vorerst — zu entziehen; sind doch mit einem Binnenmarkt, an dem 18 weitere europäische Staaten, darunter die wirtschaftlich bedeutendsten, beteiligt sind, enorme Chancen auch für die eigene Wirtschaft verbunden.Wir haben indes das Votum des Schweizer Volkes zu akzeptieren, auch wenn es denkbar knapp ausfiel. Wir haben allenfalls nach den Gründen für die Entscheidung der Schweiz zu fragen und zu überlegen, ob möglicherweise einige Befürchtungen nicht zu Recht bestehen, ob nicht die EG als wirtschaftlicher und bürokratisierter Koloß auch abschreckend wirken kann. Haben denn nicht die Dänen mit ihrer Haltung zum Vertrag von Maastricht allzu deutlich gezeigt, daß es auch innerhalb der Kernstaaten der Europäischen Gemeinschaft über den Kurs der europäischen Integration nicht nur Einvernehmen gibt?Die wirtschaftliche Situation der Schweiz hat sich bisher auch ohne eine Mitgliedschaft in der EG in vielerlei Hinsicht positiv entwickelt. Einem vergleichsweise sehr hohen Wohlstand und nahezu erreichter Vollbeschäftigung steht eine konkurrenzlos niedrige Steuerbelastung gegenüber. Hinzu kommt, daß die Schweiz ohne die internen Bindungen der EG deutlich günstigere Einkaufsmöglichkeiten auf dem Weltmarkt hat. Zu denken ist hier an den jüngsten Konflikt um die EG- oder Dollarbananen. Ähnliches ist aber auch auf dem wirtschaftlich viel bedeutsameren Weizen- und Rindfleischmarkt zu beobachten.Allerdings hat die Schweiz andererseits in der Vergangenheit von dem Handel mit der EG, aber auch mit ihren EFTA-Partnern profitiert. Letztere wenden sich nunmehr verstärkt der Europäischen Gemeinschaft zu. In ihr konnten durch Liberalisierung und Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung bisher unbestreitbare Erfolge erzielt werden.Meine Damen und Herren, durch die Einbeziehung der beitrittswilligen EFTA-Staaten wird sich diese Entwicklung nun fortsetzen. Es ist, so glaube ich, vor diesem Hintergrund möglich, daß die von der Schweiz gepflegten Beziehungen durch die Umorientierung ihrer Partner auf neue Füße gestellt werden. Es kann sich daraus für die Schweiz in überschaubarer Zukunft die wirtschaftliche Notwendigkeit ergeben, erneut über einen Beitritt zum EWR zu entscheiden.Neben der möglichen wirtschaftlichen Entwicklung kann aber auch der zweite Aspekt der europäischen Einigung, nämlich die politische Integration, dazu geeignet sein, einen Umdenkungsprozeß in der Schweiz anzuregen. Die Mitgliedschaft in der EG und im EWR bedeutet für jeden Staat einen wichtigen Schritt in einem Einigungsprozeß, der weit über den Abschluß bilateraler Handelsverträge, aber auch eines EFTA-Abkommens hinausgeht.In einer Zeit, in der internationaler Handel Welthandel bedeutet, marktwirtschaftliche Strukturen sich in den europäischen Reformstaaten zu entwickeln beginnen und in Ostasien Japan ein Vorbild für eine Vielzahl von Staaten dieser Region geworden ist, muß die Bündelung europäischer Interessen als Notwendigkeit bezeichnet werden. Es ist nicht auszuschließen, daß sich diese Erkenntnis auch in der Schweiz durchsetzen wird.
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Klaus BeckmannWir begrüßen deswegen auch das Legislaturprogramm des Schweizer Bundesrates, das auf Liberalisierung und Eurokompatibilität ausgerichtet ist. Wir begrüßen auch die gemeinsame Erklärung der EWRVertragsparteien, die sich für einen möglichen Beitritt der Schweiz in der Zukunft ausgesprochen haben.Ich hoffe abschließend, daß die Schweiz von diesem Angebot Gebrauch machen wird, um der Gefahr der Isolation, die in diesem Fall eben keine „splendid isolation", sondern ein Im-Abseits-Stehen bedeuten würde, zu entgehen.Dennoch müssen wir heute — ich sage: leider — dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen.Vielen Dank.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Dr. Andreas Schockenhoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 18 europäische Staaten werden mit dem 1. Juli 1993 Teil des Europäischen Wirtschaftsraumes sein. Die Schweiz wird hoffentlich nachziehen. 18 Staaten, das sind mit Ausnahme der Schweiz, Zyperns und Maltas alle europäischen Staaten, die man vor 1989 westlich genannt hat. Das ist auch die Mehrheit aller europäischen Staaten, die vor 1989 überhaupt existiert haben. Mit der Assoziierung der EFTA-Staaten ist die Teilnahme an der Europäischen Gemeinschaft zum Normalfall in Europa geworden. Was mit sechs Pionieren der europäischen Einigung 1957 in Rom begonnen hat, wird für die Mehrheit der Menschen in Europa zum Normalfall.
Die Zusammensetzung dieses Europäischen Wirtschaftsraums birgt aber auch Gefahren. Er schließt nämlich nur die Staaten diesseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs zusammen. Wir müssen jetzt sehr genau darauf achten, daß das einige Europa nicht die Reichen zusammenfaßt, die wirtschaftlich Schwächeren aber außen vorläßt. Nicht nur die deutsche Politik, auch unsere europäischen Nachbarn müssen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein neues politisches Koordinatensystem in Europa finden und danach handeln.
Manche glauben, Protektionismus, die wirtschaftliche Abschottung Westeuropas, sei eine Lösung. Damit würde aber der Eiserne Vorhang, der politisch gefallen ist, eine wirtschaftliche Renaissance erleben. Eiserne Vorhänge, eine Festung Europa — das hat mit dem freien Europa, wie wir es alle wünschen, nichts zu tun.
Andere suchen ihr Heil im Nationalismus. Im ehemaligen Jugoslawien und in Teilen der ehemaligen Sowjetunion erleben wir, wozu es führt, wenn auf die Fragen des vor uns liegenden 21. Jahrhunderts die Antworten des 19. Jahrhunderts gegeben werden. Nationaler Chauvinismus kann ebensowenig eine Antwort auf die Fragen der Zukunft sein wie die neue Trennung Europas.
In dieser Woche hat sich der EG-Ausschuß mit den Assoziierungsabkommen der Europäischen Gemeinschaft mit Ungarn und Polen befaßt. Das zeigt, wohin der Weg gehen muß. Natürlich sind die Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen richtig, aber wir müssen jetzt auch dafür sorgen, daß die Begrenzung der EG auf die Staaten der alten westlichen Welt überwunden wird. Wenn die Staaten der Europäischen Gemeinschaft jetzt nicht zeigen, daß sie bereit sind, die Reste des Eisernen Vorhangs wegzuräumen, wird die Idee des freien Europa Schaden nehmen.
Die Assoziierung der Einzelstaaten ist ein Fortschritt; die politische Aufgabe geht aber weiter. Im Interesse des Friedens und der Sicherheit in Europa brauchen wir den Beitritt der EFTA-Staaten, vor allem aber auch die klare Perspektive einer Mitgliedschaft der Staaten Mittel- und Osteuropas. Dazu gehört möglichst bald die Möglichkeit des Beitritts zum EWR mit allen Rechten, aber auch allen Pflichten. Wenn sie am europäischen Einigungsprozeß teilnehmen wollen, müssen sie den Vereinbarungen des Vertrags von Maastricht zustimmen, nicht von heute auf morgen, aber auch nicht mit Sonderrechten bis zum SanktNimmerleins-Tag.
Ich bin sicher, daß bis zum Jahr 2000 die Mehrheit der über 40 europäischen Staaten am Integrationsprozeß teilnehmen wird. Damit stellt sich für uns auch die Frage, wie sich dieses Europa weiter entwickeln soll. Wenn Adenauer, Schuman, Spaak und de Gasperi 1957 gewartet hätten, bis sie alle die im Boot gehabt hätten, die demnächst dem Europäischen Wirtschaftsraum angehören werden, wären die Verträge von Rom wahrscheinlich heute noch nicht abgeschlossen.
Ich denke, der EWR ist ein guter Fortschritt; der Vertrag von Maastricht und die Europäische Union werden umgesetzt werden, und die Staaten des EWR werden bald auch Teil der Europäischen Union sein. Andere werden dem Europäischen Wirtschaftsraum und der Europäischen Union beitreten. Wenn wir Europa aber auf eine neue Stufe stellen wollen, brauchen wir neue Pioniere der europäischen Einigung, brauchen wir die Staaten und die Staatsmänner, die zur Vorreiterrolle bereit sind. Ich hoffe, daß Deutschland weiterhin dazugehören wird.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/4738 und 12/4790 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu noch anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Punkt 2 unserer Tagesordnung auf:Fragestunde— Drucksache 12/4791 —
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Vizepräsident Helmuth BeckerZunächst kommen wir zu den Fragen des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.Die dort gestellten drei Fragen der Abgeordneten Klaus Harries — Frage 28 —, Horst Kubatschka — Frage 29 — und Steffen Kampeter — Frage 30 — sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Damit ist dieser Geschäftsbereich erledigt.Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Frau Minister Dr. Irmgard Schwaetzer zur Verfügung.Die Fragen 31 und 32 des Kollegen Burkhard Hirsch sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Wir kommen dann zur Frage 33 des Kollegen Herbert Frankenhauser:Kann die Bundesregierung — angesichts der im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL veröffentlichten Äußerungen des Architekten Behnisch, daß die Schwierigkeiten beim Neubau des Parlaments durch die Unklarheit verursacht worden seien, wer konkret der Bauherr sei — darlegen, wer tatsächlich der Bauherr des Plenarsaals ist und damit für die Planungen zuständig war, und wie bewertet die Bundesregierung die Aussage von Herrn Behnisch, daß sich „diese Bauverwaltung dadurch auszeichnet, daß sie hin und wieder unwahre Behauptungen aufstellt"?Frau Minister, bitte.
Herr Kollege, die Verteilung der Aufgaben zwischen dem Bauherrn — der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesbaudirektion — und dem Architekten werden durch die RBBau und deren Konkretisierung im Architektenvertrag eindeutig festgelegt. Insofern ist die Außerung von Herrn Behnisch unzutreffend und nicht verständlich. Das gleiche gilt für seine Unterstellung, daß „die Bauverwaltung hin und wieder unwahre Behauptungen aufstellt", die ich im übrigen schärfstens zurückweise.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Frankenhauser, bitte.
Frau Ministerin, was hat die Bundesregierung unternommen, um die offensichtlich unwahren Behauptungen des Herrn Architekten Behrisch auch in der Öffentlichkeit zurechtzurücken?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesminsterin: Herr Kollege, die Bundesregierung hat zu keiner Zeit Zweifel daran gelassen, daß die Bundesbauverwaltung alle ihr gestellten Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Das ist auch in der Öffentlichkeit bekannt.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Frankenhauser.
Frau Ministerin, inwieweit ist nach Ihrer Einschätzung Herr Behnisch auch für die Akustik im neuen Plenarsaal verantwortlich und welche Konsequenzen werden daraus gezogen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Behnisch hat mit der Bauverwaltung, vertreten durch die Bundesbaudirektion, einen Vollvertrag für die Erstellung des Plenarsaals abgeschlossen. Im Rahmen dieses Vollvertrages hat er selbstverständlich auch eine Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des gesamten Saales. Das war schließlich der Auftrag, den der Deutsche Bundestag erfüllt sehen wollte und will.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Klejdzinski.
Sie haben vorhin erklärt, daß es ein Vollvertrag war. Kann man davon ausgehen, daß der Vertrag nach der HOI abgeschlossen worden ist, oder gab es Sonderregelungen?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, wie das im Bereich des öffentlichen Bauens so üblich ist, werden die Richtlinien für die Durchführung von Bauaufgaben des Bundes im Zuständigkeitsbereich der Finanzbauverwaltung — kurz: RBBau — zugrunde gelegt. Die Richtlinien für die Architektenverträge gliedern sich in unterschiedliche Phasen auf. Nach der RBBau ist der Architektenvertrag mit Herrn Behnisch abgeschlossen worden. Es sind danach — jeweils nach Erörterung mit dem Deutschen Bundestag --- spezifische Zusatzverträge abgeschlossen worden, in Ergänzung des ursprünglichen Vertrages, aber alles im Rahmen dessen, was in der RBBau vorgesehen ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Gilges.
Frau Ministerin, ist es nicht vielmehr richtig, daß sich die Bundesbauverwaltung und das Bundesministerium ausdrücklich vorbehalten haben, die akustische Anlage für den Plenarsaal eigens auszuschreiben und die Vergabe auch eigens vorzunehmen, ohne daß der Architekt Behnisch in diese Entscheidung involviert war?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, es ist ganz selbstverständlich, daß die Bundesbaudirektion unter ihrem Namen die Ausschreibungen von einzelnen Gewerken vornimmt. Es ist ganz selbstverständlich, daß nach der Ausschreibung die Auftragsvergabe durch die Bundesbaudirektion erfolgt. Es ist aber genauso selbstverständlich, daß bei der Aufstellung des Leistungsverzeichnisses — genauso ist das auch vor der Ausschreibung der elektroakustischen Anlage gelaufen — sowohl mit dem späteren Nutzer — das ist der Deutsche Bundestag — als auch mit den anderen am Bau Beteiligten über das Leistungsverzeichnis gesprochen wird, ehe es einer Ausschreibung zugrunde gelegt wird.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Wittmann.
Frau Ministerin, wird die Bundesregierung den Architekten Behnisch in RegreB nehmen?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, das ist eine Frage, die zum jetzigen Zeitpunkt
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13232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzernicht beantwortet werden kann, weil der Bau noch nicht abgeschlossen ist. Deswegen ist die Architektenleistung auch noch nicht abgeschlossen.Im Rahmen des Vertrages wird die Fertigstellung des Plenarsaals bis zur vollen Funktionsfähigkeit auch vom Architekten verantwortet werden. Erst danach können über weitergehende Maßnahmen Erwägungen angestellt werden, wenn sich das als notwendig erweisen sollte.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Wagner.
Frau Minister, sind Sie bereit, zuzugeben, daß nach den Richtlinien für die Durchführung von Bauaufgaben des Bundes eine klare Trennung zwischen Architektenleistung und Ingenieurleistung gezogen wird, daß für Ingenieure — etwa für Akustik — gesonderte Verträge aufgestellt und deren Leistungen und die Ergebnisse der Ausschreibung nicht in die Abrechnungssumme der Architekten einbezogen werden?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, was in die Abrechnungssummen einbezogen wird, ergibt sich ganz eindeutig aus den Verträgen. Wir halten uns selbstverständlich an die Verträge.
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Lowack, bitte sehr.
Frau Kollegin, steht denn verbindlich fest, daß die Firma Siemens entsprechend dem Leistungsverzeichnis geleistet hat?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Da bisher noch keine funktionsfähige elektroakustische Anlage im Plenarsaal vorhanden ist und außerdem in Übereinstimmung mit der Firma Siemens unter allen Betroffenen eine Vereinbarung erzielt worden ist, die eine Überarbeitung der elektroakustischen Anlage vorsieht, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt festzustellen, daß die Firma Siemens bisher dem Auftrag gemäß noch nicht geliefert hat.
Meine Damen und Herren, zu diesem interessanten Thema gibt es noch eine weitere Frage des Kollegen Herbert Frankenhauser, die Frage 34:
Kann die Bundesregierung konkret erläutern, wer dafür verantwortlich ist, daß „eine Vielzahl von Maßnahmen, die für eine ordnungsgemäße Erstellung des Plenarsaals von Beginn der Planungs- und Bauzeit an hätten vorgenommen werden müssen, nun nachgeholt werden müssen" ?
Bitte sehr, Frau Minister.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ein wesentlicher Grund für die nicht in allen Teilen und während aller Planungs- und Bauphasen optimale Abstimmung der mit der Planung und der Ausführung Beauftragten des Bundes ist die beim Plenarsaal praktizierte baubegleitende Planung.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Klejdzinski.
Frau Ministerin, darf ich Sie fragen: Gibt es jemanden, der verantwortlich ist in dieser Bundesregierung, den man anschließend mehr oder weniger daran festmachen kann, daß bestimmte Fehlleistungen erbracht worden sind?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ich halte es generell für äußerst problematisch, aber natürlich auch für verständlich, daß von einzelnen bereits während einer Planungs- und Bauphase Schuldzuweisungen vorgenommen werden. Ich habe bereits in Beantwortung der vorherigen Fragen Ausführungen dazu gemacht, wie die Aufgabenverteilung vorgesehen ist und auch durchgeführt wird.
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Wittmann.
Frau Ministerin, kann die Bundesregierung ausschließen, daß solche Pannen auch bei den Baumaßnahmen in Berlin passieren?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, nach einer längeren Diskussion im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages und nach vielen Diskussionen im Rechnungsprüfungsausschuß des Deutschen Bundestages hat der Haushaltsausschuß die Bundesregierung gebeten, dafür Sorge zu tragen, daß bei den Baumaßnahmen in Berlin eine baubegleitende Planung, wie sie bei den Bauten in Bonn vorgenommen worden ist, nicht stattfindet. Das ist einer der wesentlichen Gründe dafür, daß die Bundesregierung in Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag bereits die Gründung einer „Baugesellschaft Berlin" im wesentlichen für die Erstellung der Bauten des Deutschen Bundestages und des Kanzleramtes in Berlin, in Angriff genommen hat.
Herr Kollege Wagner hat noch eine Zusatzfrage.
Frau Minister, können Sie sagen, wer für die Ausschreibungen der Akustikanlage verantwortlich war? War es eine beschränkte Ausschreibung, war der Mindestfordernde nachher auch Auftragnehmer, oder war das etwas anderes?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, es hat sich um eine offene Ausschreibung gehandelt. Im Rahmen dieser offenen Ausschreibung hat nur eine sehr begrenzte Anzahl von Firmen die Ausschreibungsunterlagen überhaupt angefordert; es waren weniger als zehn Firmen. Es haben nur zwei Firmen ein Angebot abgegeben, wobei eine Firma auch nach Rückfrage nicht in der Lage war, den Anforderungskatalog, der der Ausschreibung zugrunde lag, in wesentlichen Punkten zu erfüllen, so daß für die Auftragsvergabe nur ein Auftragnehmer übrigblieb.
Noch eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Eichhorn.
Frau Ministerin, Sie haben gerade gesagt, daß Sie in Berlin eine baube-
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Maria Eichhorngleitende Planung vermeiden wollen. Wie stellen Sie sich dann die Verwirklichung des Zeitplanes vor?Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, ich bin fest davon überzeugt, daß es sich positiv auf die Verwirklichung des Zeitplanes auswirken wird, daß wir die Bauten in Berlin über eine Bundesbaugesellschaft erstellen lassen, so daß zu einem sehr frühen Zeitpunkt sehr detaillierte Festlegungen über die Anforderungen des Nutzers und die Ausgestaltung der einzelnen Gebäude in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Nutzers getroffen werden müssen und eine zügige Verwirklichung der Pläne befördert wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Gilges.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, zuzugestehen, daß die Entscheidungen der Fraktionen über die Errichtung einer Baugesellschaft für die Bauten in Berlin politisch schon gefällt worden waren, bevor die akustische Anlage im Plenarsaal ausgefallen ist, daß der Zusammenhang zwischen dem Ausfall dieser Anlage und der Entscheidung, eine Baugesellschaft in Berlin zu gründen, von Ihnen nachträglich konstruiert worden ist, und daß die Gründe eigentlich ganz woanders liegen?
Und zweitens: Könnten Sie einmal sagen, daß die Anforderungen an die akustische Anlage auch für die beiden Anbieter so komplex waren — weil sie in Beamtenstuben Ihres Ministeriums gemacht worden sind —, daß die Übersichtlichkeit kaum noch gegeben war? — Ich habe es jetzt etwas verklausuliert ausgedrückt.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Abgeordneter, es sind zwar im Prinzip zwei Fragen, weil Teil A und Teil B nicht in einem inneren Zusammenhang stehen. Aber es macht nichts, ich beantworte Ihnen das gerne.
Ich habe zu keinem Zeitpunkt darauf hingewiesen, daß die Entscheidung, in Berlin eine Baugesellschaft zu gründen und die Bundesbauten über diese Baugesellschaft erstellen zu lassen, in irgendeiner Weise mit dem Plenarsaal in Bonn zusammenhängt. Ich habe vielmehr darauf hingewiesen, daß nach intensiven Diskussionen im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages, und zwar an Hand eines anderen Projektes, bei dem die baubegleitende Planung ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten gemacht hat, diese Entscheidung getroffen worden ist.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, zu den Anforderungen an die elektroakustische Anlage: Herr Kollege, wie das so üblich ist, wird von der Bauverwaltung und dem zukünftigen Nutzer, also in dem Fall dem Deutschen Bundestag, in vielen Besprechungen der Anforderungskatalog aufgestellt und präzisiert. Dieser Anforderungskatalog, der abgesprochen war, ist der Ausschreibung zugrunde gelegt worden. Aus der Tatsache, daß ein Parlament eben nicht eine einfache Konferenzveranstaltung ist, in der ein Redner unter Umständen auf Fragen antworten muß, sondern eine Fülle zusätzlicher Nutzungsmöglichkeiten aufweisen muß, ergibt sich zweifellos eine höhere Komplexität, die aber zwischen dem Deutschen Bundestag und der
Bauverwaltung abgesprochen war und die von dem
späteren Auftragnehmer auch akzeptiert worden ist.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Baumeister.
Frau Ministerin, würden Sie mir zustimmen, daß die Erfahrungen, die wir beim Bau des neuen Plenarsaals mit der sogenannten baubegleitenden Planung gemacht haben, durch die Errichtung einer Baugesellschaft vermieden werden sollten?
Würden Sie mir ferner zustimmen, daß es wichtig ist, daß wir gerade in Berlin diese Fehler nicht mehr machen und deshalb eine exakte Planung vorschalten, daß diese Planung so sein muß, daß sie letztendlich zum Erfolg führt? Das aber ist durch die Konstruktion, wie wir sie jetzt haben, nach meiner Meinung ausgeschlossen.
Und schließlich: Halten Sie es nicht für notwendig, daß die Planungen jetzt weitergeführt und nicht durch einen Beschluß oder durch einen Antrag in Frage gestellt werden, was eine Verzögerung zur Folge hätte? Denn dadurch würden meiner Meinung nach die Kosten nur noch höher werden.
Frau Kollegin Baumeister, drei Fragen auf einmal!
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau Kollegin, Ihre drei Fragen reizen gerade dazu, sie mit einem pauschalen Ja zu beantworten.
Ich möchte mir allerdings als Mitglied der Bundesregierung selbstverständlich nicht erlauben, zu sagen, daß eine Entscheidung des Deutschen Bundestages, nämlich eine baubegleitende Planung vorzunehmen, ein Fehler gewesen sei. Insofern könnte ich Ihrer Aussage dazu nicht zustimmen. Aber selbstverständlich gehe auch ich davon aus, daß mit der Entscheidung, in Berlin eine Baugesellschaft zu gründen, und in Verbindung mit der dadurch notwendig werdenden sehr frühzeitigen detaillierten Planung die Sicherheit erhöht wird, zügig mit den gestellten Bauaufgaben fertig werden zu können.
Ich stimme Ihnen auch in der Bewertung zu, daß es wichtig ist — und zwar sowohl für den Deutschen Bundestag als auch für das Land Berlin als auch für die Region Bonn —, zum jetzigen Zeitpunkt weiter Planungssicherheit zu haben, daß nämlich der Beschluß vom 20. Juni 1990 realisiert wird, wie er vorgesehen ist. Dies scheint mir auch wichtig zu sein im Hinblick darauf, daß alle Beteiligten, auch z. B. die Wirtschaft, die sich überlegt, Investitionen zu tätigen, sicher sein müssen, daß weiter zügig an der Umsetzung dieses Beschlusses gearbeitet wird. Die Bundesregierung wird das tun.
Meine Damen und Herren, wir gehen nunmehr aus dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages wieder in unser weites Land durch die Beantwortung der Fragen 35 und 36 des Kollegen Dr. Karl-Heinz Klejdzinski.Ich rufe zuerst die Frage 35 auf:
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Vizepräsident Helmuth BeckerBetrachtet die Bundesregierung das Instrument der Familiendarlehengewährung als ein wichtiges wohnungspolitisches Mittel, den Familieneigenheimbau zu fördern?Bitte, Frau Minister.Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, die Bundesregierung sieht die Familienheimförderung auch als wichtiges wohnungspolitisches Instrument zur Bildung von Wohneigentum an. In erster Linie ist die Familienheimförderung jedoch Bestandteil der Wohnungsfürsorge des Bundes und dient zusammen mit anderen Förderungsmaßnahmen auf diesem Gebiet der Deckung des bestehenden Wohnungsbedarfs. Von der Aufgabenstellung her ist folglich eine generelle Familienheimförderung ohne Rücksicht auf bereits am jeweiligen Dienstort vorhandenen und ansonsten nicht zweckentsprechend einzusetzenden Wohnraum des Bundes nicht möglich.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Klejdzinski. Bitte.
Frau Ministerin, die anderen Fragen vorhin konnten Sie ein bißchen allgemein beantworten. Aber das hier ist eine konkrete Frage, die man sicherlich einmal prüfen muß, insbesondere mit Blick auf meine zweite Frage. Kann man dazu nur ja sagen, ohne etwas zu verändern?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, die Bundesregierung gewährt Familienheimdarlehen in dem Umfang, in dem sich das als notwendig erweist. Aber die Wohnungsfürsorge des Bundes ist nachrangig zu bewerten, gemessen an der Möglichkeit, sich auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt mit Wohnraum zu angemessenen Bedingungen zu versorgen. Wegen dieser Nachrangigkeit ist die Bundesregierung gehalten, die allgemeine Wohnungsmarktsituation am Wohnort des Beamten zu prüfen.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Klejdzinski. Bitte.
Frau Ministerin, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß Beamte der Besoldungsgruppe A 12 oder A 13, die Sie in einen Ballungsraum wie München oder in einen Ballungsraum wie Köln versetzen, in der Regel auf dem freien Wohnungsmarkt keine Mietwohnungen finden, die in etwa dem entsprechen, was Sie unter dem Aspekt der Wohnungsfürsorge leisten müßten?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, das ist der Grund, weshalb die Bundesregierung ihren eigenen Anstrengungen zur Familienheimförderung und zur Wohnungsfürsorge noch einmal zusätzlichen Nachdruck verliehen hat. Die Bundesregierung ist an vielen Stellen dieser Republik in der Wohnungsfürsorge aktiv. Wir haben unsere Aktivitäten in der jetzigen Situation allerdings vorrangig auf die östlichen Bundesländer konzentriert, weil es dort einen besonders hohen Nachholbedarf gibt. Aber selbstverständlich gewähren wir Familienheimdarlehen auch an diejenigen in den westlichen Bundesländern, die das in Anspruch nehmen wollen und die unter den Kriterienkatalog fallen.
Ich rufe nunmehr die Frage 36 des Kollegen Dr. Karl-Heinz Klejdzinski auf:
Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung seit 1971 keine Anpassung der Familienheimdarlehen mehr vorgenommen, obwohl der Baupreisindex 1971 bei 50,1 und im Jahre 1991 bei 124,3 lag?
Ein Teil davon ist schon bei der vorherigen Frage mitbehandelt worden. Bitte, Frau Minister.
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, die Familienheimförderung hat erst in letzter Zeit wieder an Bedeutung zugenommen. Die bisherigen Förderungskonditionen boten den Antragstellern bislang genügend Anreiz, hiervon Gebrauch zu machen. Derzeit laufen innerhalb der Bundesregierung Abstimmungsgespräche mit dem Ziel, die Fördersätze des Familienheimdarlehens anzuheben. Ob und inwieweit hierbei ein Ausgleich der Baupreissteigerungen berücksichtigt werden kann, hat sich auch an der Haushaltssituation des Bundes zu orientieren.
Herr Kollege Klejdzinski.
Frau Ministerin, wenn im Jahre 1971 der Baupreisindex 50,1 und im Jahre 1991 124,3 betrug und in der ganzen Zeit keine Anpassung der Grundsummen erfolgt ist, würden Sie dann noch behaupten wollen, daß Sie eine Wohnungspolitik betrieben haben, die den von Ihnen genannten Grundsätzen entspricht?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ich habe Ihnen soeben schon ausgeführt, daß die bisher geltenden Förderungsbedingungen auch von den Beteiligten in weitem Umfange als ausreichend empfunden worden sind. Das konnten wir der Nachfrage entnehmen.
Sie haben meinen Ausführungen ebenfalls entnehmen können, daß die Bundesregierung derzeit dabei ist, die Förderbedingungen wegen der veränderten Lage zu überprüfen. Diese Prüfung werden wir in möglichst kurzer Zeit abschließen, weil wir alle das für notwendig halten.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Klejdzinski. Bitte.
Frau Ministerin, darf ich Sie fragen, wie lange Sie noch prüfen werden?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ich habe Ihnen bereits ausgeführt, daß wir diese Prüfungen möglichst schnell abschließen werden.
Die Frage 37 des Kollegen Ludwig Stiegler soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Damit sind wir am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Vielen Dank, Frau Minister.Ich rufe den letzten heute zu behandelnden Geschäftsbereich, den Geschäftsbereich des Auswär-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13235
Vizepräsident Helmuth Beckertigen Amtes, auf. Uns steht zur Beantwortung der Fragen Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.Zunächst rufe ich die Frage 38 des Kollegen Claus Jäger auf:Welches ist der Stand der Bemühungen der Bundesregierung um die Anerkennung der deutschen Sprache als gleichberechtigte Amtssprache in der EG, und welche Stellung nimmt das Europäische Parlament zu dieser Frage ein?Frau Staatsminister.
Herr Kollege, die Verbesserung der Stellung der deutschen Sprache in der Gemeinschaft ist für die Bundesregierung eine Frage von ganz herausragender politischer Bedeutung. Entsprechend intensiv sind ihre Bemühungen auf allen Ebenen um eine Verbesserung dieser Stellung.
In rechtlicher Hinsicht ist die Gleichstellung der deutschen Sprache mit den anderen Sprachen der Gemeinschaft erreicht. Gemäß Art. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sind die Sprachen der Mitgliedsländer gleichberechtigte Amts-und Arbeitssprachen der Organe der Gemeinschaft.
Bei der Anwendung in der Praxis durch Kommission und Rat dominiert seit Gründung der Gemeinschaft Französisch; seit dem britischen Beitritt ist Englisch als vielverwendete Sprache hinzugetreten. Die nachdrücklichen Bemühungen der Bundesregierung gelten dem Ziel, daß der deutschen Sprache auch in der täglichen Praxis der Gemeinschaftsorgane eine dem Englischen und Französischen gleichberechtigte Stellung eingeräumt wird.
Der Herr Bundeskanzler, der Herr Bundesminister des Auswärtigen und ich selbst weisen in unseren Gesprächen mit Vertretern der EG-Institutionen und der Mitgliedstaaten auf die Notwendigkeit der Änderung der bestehenden Praxis hin. Dabei heben wir insbesondere hervor, daß die Benachteiligung der deutschen Sprache zu Wettbewerbsnachteilen für die deutsche Wirtschaft, insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen, führt. Wir unterstreichen auch, daß diese Benachteiligung Einfluß auf die Akzeptanz der europäischen Integration innerhalb der deutschen Bevölkerung haben könnte. Die Bundesregierung wird deshalb in diesem Sinn weiter auf die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten einwirken, bis ein befriedigender Zustand hergestellt ist.
Um zum anderen Teil Ihrer Frage zu kommen, Herr Kollege: Im Europäischen Parlament gilt das Vollsprachenregime. In den Sitzungen des Plenums und der Ausschüsse wird in alle Sprachen der Gemeinschaft gedolmetscht; Dokumente werden in alle Gemeinschaftssprachen übersetzt.
Zur Frage der rechtlichen Gleichstellung der deutschen Sprache in Kommission und Rat hat das Parlament bisher keine Stellung genommen, da diese Gleichstellung, wie soeben dargelegt, besteht. Das Europäische Parlament hat im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft in einer Entschließung die Auffassung vertreten, daß die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten zur Zulassung weiterer Amtssprachen führen werde. Diese Entwicklung mache jedoch schon aus praktischen Gründen eine Begrenzung auf bestimmte Arbeitssprachen unerläßlich. Deutsch muß nach Auffassung der Bundesregierung auf jeden Fall zu diesen Arbeitssprachen gehören.
Zusatzfrage des Kollegen Jäger, bitte.
Frau Staatsministerin, ich möchte mich zunächst für Ihre ausführliche Beantwortung bedanken und vor allem würdigen, daß Sie die Bemühungen der Bundesregierung sehr eingehend dargestellt haben.
Ich darf dann noch einmal nachfragen: Wie ist die Haltung der Gremien, auf die es hier ankommt, nämlich des Rates und der Kommission? Wieweit haben sie sich den deutschen Argumenten gegenüber bereits als aufgeschlossen erwiesen?
Ich bin da ganz offen, Herr Kollege: längst nicht in dem wünschenswerten Umfang. Deshalb wird z. B. in unserem Hause die Überlegung angestellt, ob wir in Brüssel — ich hoffe, daß uns der Deutsche Bundestag mit entsprechenden Mitteln dabei unterstützen wird — nicht ein zusätzliches Angebot an Sprachunterricht, an Unterrichtung in deutscher Sprache und an Sprachkursen für die Beamten und Bediensteten in den Gemeinschaftsorganen anbieten sollten, um auf diese Art und Weise Verständnis für unsere Sprache zu wecken, zumindest im passiven Gebrauch.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Jäger, bitte.
Frau Staatsminister, ist es nicht so, daß noch immer ein Großteil der amtlichen Dokumente, die von Rat und Kommission herausgegeben werden, nicht in deutscher Sprache veröffentlicht werden, und würde nicht der von Ihnen vorhin dargestellte rechtliche Stand, der eine Gleichberechtigung der deutschen Sprache zum Inhalt hat, verlangen, daß solche Dokumente auch in deutscher Sprache erscheinen, so daß z. B. deutsche Firmen solche Verordnungen und Vorschriften ohne weiteres lesen und in die Tat umsetzen können?
Das trifft völlig zu, Herr Kollege Jäger. Dazu muß ich sagen, daß offizielle Dokumente der Gemeinschaft in allen Amtssprachen der Gemeinschaft zu bekommen sind. Es ist nur eine Frage der schnellen Verfügbarkeit dieser Dokumente. Da gebe ich Ihnen zu, daß wir nachdrücklich daran festhalten müssen, daß die Zurverfügungstellung von Dokumenten in deutscher Sprache ebenso schnell vonstatten geht, wie das für die beiden Sprachen Englisch und Französisch geschieht. Und um auf den Heiterkeitserfolg bei der Opposition noch einmal einzugehen: Sowohl der Bundeskanzler als auch der Bundesminister des Auswärtigen als auch andere Kollegen in der Bundesregierung und auch ich versuchen dies permanent, wir können es jedoch nicht mit der Brechstange durchsetzen. Es gibt durchaus Anlaß, meine Kolleginnen und Kollegen, dieses zwar
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13236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Staatsministerin Ursula Seiler-Albringnachdrücklich, aber doch in einer Weise zu verfolgen, die uns nicht den Vorwurf des Kulturchauvinismus „an die Jacke hängt", wenn ich das einmal so einfach ausdrücken darf.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Klejdzinski.
Frau Staatsministerin, ich kann das bestätigen. Der Herr Bundeskanzler hat mir vor vier Jahren einmal einen Brief geschrieben, daß er sich für Deutsch als Amtssprache in den Gremien einsetzen würde. — Gemeint waren die Gremien des Europarats und der WEU.
Das eigentliche Problem sind aber nicht so sehr die Dokumente, sondern die Einstellungen bei diesen Behörden. Nach meiner Einschätzung haben diejenigen, die die Amtssprache sprechen, insbesondere bei Einstellungen auf allen Ebenen dieser Gremien einen erheblichen Vorteil. Insofern müßte es verbindlich sein, daß Amts- und Arbeitssprache gleichbewertet werden.
Ich korrigiere Sie ungern, Herr Kollege, aber es existieren in der Gemeinschaft neun Amtssprachen. Insofern ist der erste Teil Ihrer Frage etwas mißverständlich ausgedrückt.
Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß das Anliegen, das in allen Fraktionen des Deutschen Bundestages artikuliert wird, auch das der Bundesregierung ist und daß wir Ihnen nur versichern können, hieran festzuhalten.
Ich möchte vor allen Dingen auf den letzten Teil meiner Antwort an den Kollegen Jäger verweisen, daß im Zuge der Erweiterungsverhandlungen mit vier neuen Ländern, die wir zur Zeit führen, mindestens zwei schwierige Sprachen hinzukommen und daß sich der Gemeinschaft deshalb die Frage stellt, ob die Kommission nicht sehr bald — ich habe diese Frage heute morgen mit dem Kommissar Pinheiro noch einmal vertiefend behandelt — zu dem Vorschlag kommen muß, eine Reduzierung der Arbeitssprachen auf vier oder fünf vorzunehmen, die dann aber auch tatsächlich praktiziert werden, wobei die Beibehaltung der Amtssprachen eine Selbstverständlichkeit sein muß.
Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Claus Jäger auf:
Steht dem bosnischen Volk nach Auffassung der Bundesregierung ein völkerrechtlich geschütztes Recht auf Selbstverteidigung gegen die brutale serbische Aggression zu, und ist es bejahendenfalls völkerrechtlich zulässig, dieses Recht durch die Verhinderung von Waffenlieferungen an Bosnien in Form eines Embargos einzuschränken?
Frau Minister.
Herr Kollege Jäger, jeder Staat, auch Bosnien-Herzegowina, hat ein naturgegebenes Recht auf Selbstverteidigung, das in Art. 51 der UN-Charta ausdrücklich bestätigt wird. Dieses Recht kann durch verbindliche, auf Grund von Kap. VII der UN-Charta getroffene Beschlüsse des Sicherheitsrates eingeschränkt werden.
Die Resolution 713 Ziffer 6 vom 25. September 1991, mit der das Waffenembargo verhängt wurde, ist ein solcher Beschluß. Er wurde im übrigen durch die Sicherheitsresolutionen 724 Ziffer 5 a vom 15. Dezember 1991 und 727 Ziffer 6 vom 8. Januar 1992 ausdrücklich bestätigt.
Eine Zusatzfrage. Bitte.
Frau Staatsminister, hat nicht die Möglichkeit der Vereinten Nationen, die Ausübung des Selbstverteidigungsrechtes gemäß Art. 7, wie Sie vorgetragen haben, einzuschränken, den inneren Sinn, daß die Vereinten Nationen selber das von einem Überfall betroffene Volk wirksam zu schützen in der Lage sind und das auch tun und deswegen dem betroffenen Volk eine uneingeschränkte Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nicht erlauben, weil sie der Auffassung sind, sie könnten das besser in die Hände nehmen? Heißt das nicht, daß die Vereinten Nationen dort, wo sie dazu nicht in der Lage sind, nicht berechtigt sind, das Selbstverteidigungsrecht einzuschränken?
Die Vereinten Nationen, Herr Kollege — ich habe Ihnen die Daten soeben vorgetragen —, haben immer wieder den Inhalt der ersten Resolution bestätigt. Insofern gehen sie nicht davon aus, daß das Ziel, daß sie damit verfolgen, nicht erreicht werden kann.
Ich gebe Ihnen unumwunden zu, Herr Kollege, daß es für die Aufhebung des Waffenembargos viele Gründe gibt. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Gründen dagegen, nicht zuletzt den Grund, daß die Verbündeten — darunter sind zwei wichtige Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen — zur Zeit nicht bereit sind — dies ist gerade am letzten Wochenende Gegenstand einer Debatte in Fünen gewesen —, einer Aufhebung des Waffenembargos zuzustimmen. Aus diesen Gründen verbietet sich ein Alleingang der Bundesregierung und der Bundesrepublik Deutschland.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Jäger.
Frau Staatsminister, da ich nicht nach irgendeinem Alleingang und auch nicht nach der Bewertung des Verhaltens der verbündeten Regierungen gefragt habe, sondern nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit bestimmter Einschränkungen, möchte ich noch einmal insistieren und fragen, ob es nach Auffassung der Bundesregierung für die Vereinten Nationen nach ihrer Charta und nach dem allgemeinen Völkerrecht zulässig ist, ein Volk, das sie nicht wirkungsvoll schützen können — wie vor aller Augen ist; das bedarf keines Beweises —, in seiner Selbstverteidigung zu beschränken.
Herr Kollege Jäger, ich bin kein Jurist und schon gar kein Völkerrechtsspezialist. Ich möchte Ihnen, um diese spezielle juristische Frage seriös beantworten zu können, anbieten, sie von den Juristen unseres Hauses beantworten zu lassen. Ich würde Ihnen das gern schriftlich zukommen lassen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13237
Eine Zusatzfrage des Kollegen Lowack. Bitte.
Verehrte Frau Kollegin, warum verbietet sich denn ein entsprechender Antrag oder Vorschlag der Bundesregierung? Wäre nicht selbst dann, wenn man nach der bisherigen Lage davon ausgehen müßte, daß zwei Staaten, die Sie vorhin zitiert haben, dagegen sein könnten, über einen Antrag der Bundesregierung zu sprechen, zu verhandeln und zu entscheiden?
Es ist etwas schwierig, Herr Kollege Lowack, da die Bundesrepublik Deutschland nicht Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist, dies von außerhalb zu tun. Man könnte dies selbstverständlich machen. Aber die Bundesregierung zieht es vor, diese außerordentlich sensible Frage, die durchaus Konsequenzen für die Zivilbevölkerung auch in Bosnien-Herzegowina hat, im Kreise der Verbündeten zu diskutieren. Kein Mensch kann der Bundesregierung verbieten, einen solchen Antrag zu stellen. Aber ich denke, sie ist gut beraten, dieses im Kreise derjenigen, die das schließlich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durchzusetzen haben, zu diskutieren.
Eine Zusatzfrage unseres Kollegen Christian Schwarz-Schilling. Bitte.
Frau Staatsministerin, es wurde des öfteren als ein Grund genannt, daß man befürchtet, daß bei einer Aufhebung des Boykotts die Leiden der Zivilbevölkerung noch größer werden könnten, d. h., daß sich der Krieg dadurch erst richtig aufheizt.
Sind nicht auch Sie der Auffassung, daß es sich nach der Historie bis heute und der Situation heute herausstellt, daß das Kriegsziel der serbischen Militärführer nicht darin besteht, die gegnerische bosnische Armee niederzuwerfen und das Land zu okkupieren, sondern daß das Ziel ganz ausdrücklich die Liquidierung der bosnischen Bevölkerung in bestimmten Bereichen und, wo dieses nicht gelingt, die brutalste Vertreibung ist, wobei dort das Töten der Menschen während dieses Vorgangs fast zum Konzept gehört?
Wenn dies der Fall ist, wird dann nicht, wenn diejenigen, die ihre Bevölkerung verteidigen wollen, dazu nicht in der Lage sind und wenn sich auch die Menschen selber nicht verteidigen können, das Massaker unter der Bevölkerung weniger verhindert, als es jetzt der Fall ist?
Herr Kollege Schwarz-Schilling, ich habe vorhin gesagt, daß es viele Gründe gibt, darüber nachzudenken, ob man das Waffenembargo gegen Bosnien-Herzegowina aus den von Ihnen genannten Gründen aufheben solle.
Aber die berechtigte moralische Empörung und Verachtung hinsichtlich dessen, was dort geschieht, die uns allen gemeinsam ist, dürfen nicht dazu führen, daß wir bestimmte Dinge außer acht lassen.
Ich nenne nur eines: Wenn wir — ob nun wir gemeinsam, die Sicherheitsratsmitglieder oder nur ein Staat bilateral — die Seite, von der wir das Gefühl haben, daß sie sich nicht wehren kann, mit Waffen versorgen, hätte das zur Konsequenz, daß alle UNTruppen, alle UNPROFOR-Truppen, aus dieser Gegend abgezogen würden und damit die Zivilbevölkerung, der auf die bisherige Art und Weise nach wie vor wenigstens noch in Umrissen geholfen werden kann, völlig schutzlos wäre.
Dies sollte mit ins Kalkül gezogen werden, wenn man darüber nachdenkt, ob man im Zusammenhang mit den kriegsführenden Parteien in Bosnien-Herzegowina, denen unsere Sympathien gehören, dem zustimmt.
Ich denke, daß dieser Diskussionsprozeß nicht abgeschlossen ist. Aber ich gebe wirklich zu bedenken, daß man beide Argumentationsseiten gegeneinander abwägen muß, um zu verhindern, daß die schutzlose Zivilbevölkerung noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Überlegung, die Sie eingangs angestellt haben, die Hypothesen, daß der Krieg in andere Regionen erweitert und noch ausgeweitet werden kann, sind sehr wohl ebenfalls ins Kalkül zu ziehen.
Ich appelliere wirklich an Sie, der Bundesregierung abzunehmen, daß sie sich in dieser Frage die Entscheidung nicht einfach macht, sondern noch in einem Entscheidungsprozeß ist.
Zusatzfrage, Graf von Schönburg-Glauchau.
Frau Ministerin, würden Sie in Ihre Überlegungen auch einbeziehen, daß die bis jetzt von den Vereinten Nationen offenbar nicht wirksam genug geschützten Frauen und Mädchen in Bosnien bei einer Aufhebung des Waffenembargos die Möglichkeit hätten, sich gegen Vergewaltigungen selber wirksamer zu schützen?
Dies ist sicherlich nicht auszuschließen, Herr Kollege, und wird mit Sicherheit auch ein Element unserer Überlegungen sein. Aber ich glaube, daß das, was speziell auch die Bundesregierung zur Verbesserung der Situation der Frauen und der Flüchtlinge insgesamt tut, hier ein sehr praktikables und gutes Instrument ist. Ich würde mich freuen, wenn wir die Informationen über das, was wir tun — ich hatte schon Gelegenheit, einen Kreis von Kollegen und vor allem von Kolleginnen, zu unterrichten —, auch Ihnen zur Verfügung stellen könnten.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Augustinowitz.
Frau Staatsministerin, der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung in der letzten Woche aufgefordert, zu prüfen, inwieweit eine Aufhebung des Waffenembargos mög-
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13238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Jürgen Augustinowitzlich und richtig ist. Wie weit ist die Prüfung der Bundesregierung gediehen?
Herr Kollege, wir haben damit selbstverständlich unmittelbar anschließend begonnen. Ich bin zwar in der Lage, eine ganze Reihe von Argumenten zu nennen — was ich dem Kollegen Schwarz-Schilling eben vorgetragen habe, ist ja Konsequenz auch dieser Überlegungen für und gegen die Aufhebung des Waffenembargos —; aber es verbietet sich, an dieser Stelle über Einzelheiten zu sprechen. Sicherlich kann man im Kreis der entsprechenden Ausschüsse vortragen, welche Argumente, die sich mit der speziellen Situation vor Ort dort auseinandersetzen, für oder gegen die Aufhebung des Waffenembargos angeführt werden können. Wir könnten das vielleicht nachher bilateral verabreden.
— Auch der Kollege Rudi Walther kann das bekommen, wenn er das möchte.
— Auch dies.
Weitere Zusatzfragen liegen mir nicht vor.
Die Frage 40 des Kollegen Schreiner wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 41 des Kollegen Lowack:
Warum fordert die Bundesregierung angesichts der Aufforderung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, deutsche Soldaten in Somalia im Rahmen von VN-Maßnahmen einzusetzen, keine Revision der gegen Deutschland gerichteten Feindstaatenklausel in den Artikeln 53 und 107 der UN-Charta?
Herr Kollege Lowack, die sogenannte Feindstaatenklausel der UN-Charta, Art. 53 und 107, ist nach Auffassung der Bundesregierung spätestens mit dem Beitritt der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen im Jahr 1973 gegenstandslos geworden. Die Tatsachen, daß die Bundesrepublik Deutschland seitdem zweimal dem Sicherheitsrat angehörte und während einer Sitzungsperiode den Präsidenten der Generalversammlung gestellt hat, zeigen deutlich, daß die Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen die vollen Rechte eines gleichberechtigten Staates ausübt.
Mit dem Inkrafttreten der abschließenden Regelung, durch die die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes beendet wurden, des sogenannten Zweiplus-Vier-Abkommens, gilt dies für das vereinte Deutschland erst recht.
Mit ihrem Beschluß vom 21. April 1993 entsprechend der mit Note der Vereinten Nationen vom 12. April 1993 unterbreiteten Bitte, die Operationen der Vereinten Nationen in Somalia durch Entsendung eines verstärkten Nachschub- und Transportbataillons der Bundeswehr zu unterstützen, hat die Bundesregierung daher entsprechend ihrer Verantwortung als Mitglied der Vereinten Nationen gehandelt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Vorausschickend, sehr verehrte Frau Kollegin, daß ich Ihnen immer furchtbar gern zustimmen würde und daß Ihre Äußerung sehr ehrenwert ist, frage ich Sie: Wie viele Mitglieder der Vereinten Nationen haben dieser Interpretation der Bundesregierung bislang zugestimmt, die ja nun in irgendeiner Form auch gemäß dem internationalen Völkerrecht anerkannt worden sein müßte bzw. gemäß der Wiener Vertragsrechtskonvention anerkannt werden sollte?
Es gibt, Herr Kollege Lowack, nach meiner Information zumindest keinen Staat, der sich dagegen ausgesprochen hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Wann hat die Bundesregierung völkerrechtlich verbindlich diese Interpretation das erste Mal so angebracht, z. B. bei den Vereinten Nationen in New York, daß beispielsweise die Vollversammlung dazu hätte Stellung nehmen können?
Die Bundesregierung vertritt diese Interpretation ihrer Haltung zur sogenannten Feindstaatenklausel in allen Gremien der Vereinten Nationen. Ob sie dies einmal offiziell gemacht hat, kann ich Ihnen so nicht sagen, Herr Kollege Lowack. Ich lasse das nachprüfen und werde Ihnen gern eine schriftliche Antwort zukommen lassen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Frau Staatsministerin, ich schicke voraus, daß ich Ihre Interpretation der völkerrechtlichen Situation teile, möchte aber doch fragen: Wenn die Völkergemeinschaft und die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mit uns übereinstimmend der Meinung sind, daß diese Artikel wirkungs- und bedeutungslos geworden sind, weshalb gibt es dann überhaupt einen Widerstand dagegen, sie auch formell aus dem Text der Charta zu streichen?
Herr Kollege Jäger, für eine förmliche Aufhebung der sogenannten Feindstaatenklausel in der Charta wäre eine Änderung der Charta nach den in den Art. 108 und 109 vorgeschriebenen Verfahren notwendig. Danach müssen Änderungen zunächst von zwei Dritteln der Mitglieder der Vereinten Nationen in der Generalversammlung angenommen werden. Sie müssen sodann von zwei Dritteln der Mitglieder der Vereinten Nationen einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats nach Maßgabe ihres jeweiligen Verfassungsrechts ratifiziert werden, bevor sie in Kraft treten können.In der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß vor allem die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats einem Eingriff in den Normenbestand der Charta ablehnend gegenüberstehen, und zwar auch aus der Besorgnis,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13239
Staatsministerin Ursula Seiler-AlbringÄnderungen ließen sich nicht auf einzelne Punkte beschränken.Bei dieser Sachlage sieht die Bundesregierung keine Veranlassung — das beantwortet zusätzlich die Frage des Kollegen Lowack —, Initiativen für eine Streichung der sogenannten Feindstaatenklausel zu ergreifen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Frage 42 des Kollegen Lowack:
Weshalb erteilen die deutsche Botschaft in Peking und das Generalkonsulat in Shanghai seit Herbst 1992 keine Einreisevisa an Ehepartner von chinesischen Stipendiaten in Deutschland, und halt die Bundesregierung dieses Verfahren nicht für inkriminierend und unmenschlich?
Herr Kollege Lowack, die genannten Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland in China erteilen Visa nach den allgemeinen, für alle deutschen Auslandsvertretungen geltenden Rechtsgrundlagen und -grundsätzen. Danach erhalten auch die Ehegatten chinesischer Stipendiaten in Deutschland Visa zum Besuch ihres Ehepartners in Deutschland. Ein maßgebliches Kriterium zur Erteilung eines Visums ist allerdings die Prognose über die Rückkehrbereitschaft des Visumbewerbers. Diese fällt häufig nicht positiv aus.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Frau Kollegin, ist denn die Bundesregierung, wie es vor etwa zweieinhalb Jahren gefordert wurde, an der Auswahl der Stipendiaten nicht mitbeteiligt, so daß man diese Einschätzung, die heute offenbar allein durch die genannten Auslandsvertretungen vorgenommen wird, von vornherein ein kleines bißchen eingrenzen könnte?
Herr Kollege Lowack, wir haben in der Tat vor und haben auch auch Anlaß dazu, über die Vergabe und über die Kriterien der Vergabe der Stipendien nachzudenken. Man kann jemanden, der ein Stipendium haben möchte, natürlich sehr wohl fragen, ob er bereit ist, zurückzukehren; aber wenn er das nicht vorhat, wird er das in dieser Phase mit Sicherheit nicht sagen.
Der Zeitpunkt, auf den Sie rekurrieren, ist insofern ein gewisses Merkmal, als sich in der letzten Zeit, speziell seit dem Herbst 1992, hier ein zunehmender Mißbrauch dargestellt hat. Deshalb sind die Vertretungen, die in der Vergangenheit mit der Erteilung von Visa sehr großzügig umgegangen sind, angehalten, etwas restriktiver vorzugehen, weil sich Mißbrauchssachverhalte in der letzten Zeit ergeben haben.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Sehr verehrte Frau Kollegin, ist Ihnen oder ist der Bundesregierung bekannt, daß z. B. der DAAD oder diejenigen, die für diese Stipendien verantwortlich sind, die derzeitige
Praxis der genannten Auslandsvertretungen bedauern?
Das mag man im Einzelfall sicherlich bedauern, vor allem wenn es um den konkreten menschlichen Einzelfall geht. Wir sind nichtsdestotrotz gehalten, Herr Kollege, uns an die rechtlichen Grundlagen für die Erteilung von Visa zu halten. Wenn Mißbrauchssachverhalte erkennbar sind, dann sind unsere Bediensteten und Beamten im Ausland verpflichtet, entsprechend vorzugehen.
Weitere Zusatzfragen liegen mir nicht vor.
Die Fragen 43 und 44 des Kollegen Wilfried Böhm und die Frage 45 des Kollegen Alois Graf von Waldburg-Zeil werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 46 des Kollegen Dr. Peter Ramsauer:
Ist der Bundesregierung bekannt, in welchem Umfang Journalisten Flugzeuge der Bundesregierung bzw. des Bundes benutzen, und zwar bei Auslandsreisen von Mitgliedern der Bundesregierung?
Ja, Herr Kollege. Es wird auf die Beantwortung der schriftlichen Frage des Abgeordneten Wallow durch Staatsminister Schäfer vom 10. März 1993 verwiesen. Darin hieß es:
Seit dem 1. Januar 1991 sind bei Reisen des Bundeskanzlers und der Bundesminister in das Ausland 1 444 Personen, die nicht als Delegationsmitglieder oder als Mitglieder des Deutschen Bundestages mitgereist sind, zum kostenlosen Mitflug eingeladen worden. Von diesen 1 444 Personen waren 921 Medienvertreter.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Ramsauer.
Frau Staatsminister, kann man den marktlichen Gegenwert dieser kostenlosen Mitflüge in etwa beziffern?
Eine genaue Bezifferung ist sicherlich möglich, wenn Sie uns noch etwas Zeit geben.Aber ich möchte vielleicht darauf hinweisen, daß sich seit einiger Zeit eine gewisse Änderung dahin ergeben hat, daß für Reisen des Bundeskanzlers in das Ausland seit dem 26. November 1992 eine andere Regelung gilt: Alle an offiziellen Reisen des Bundeskanzlers als Gäste teilnehmenden Personen, also solche, die nicht der Delegation angehören, tragen die Kosten für Transport, und zwar 30 % des LufthansaEconomy-Tarifs, Unterkunft und Verpflegung selbst. Über Ausnahmen wird im Einzelfall entschieden. Der Bundesminister des Auswärtigen hat die analoge Anwendung dieser Regelung für seine Reisen in das Ausland am 12. Januar 1993 gebilligt.Wir müßten also, wenn Sie das möchten, auseinanderfieseln, welche Kosten sich für einen bestimmten Zeitraum tatsächlich ergeben haben.
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13240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Die zweite Zusatzfrage des Kollegen Ramsauer.
Frau Staatsminister, halten Sie die Mutmaßung eines Journalisten mir gegenüber für glaubhaft, daß die In-Rechnung-Stellung des von Ihnen genannten Betrages in Höhe von 30 % des normalen Economy-Tarifs manchmal durch nicht hinreichend sorgfältiges Verwaltungshandeln seitens der Flugbereitschaft unterbleibt?
Ausschließen kann man so etwas nicht. Ich habe aber keine konkreten Anhaltspunkte dafür, daß so etwas passiert, Herr Kollege. Solange ich solche Anhaltspunkte nicht habe, kann ich nicht darüber reden.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Bindig.
Frau Staatsminister, ist Ihnen bekanntgeworden, ob jemals eines der großen publizistischen Massenblätter in der Bundesrepublik Deutschland in aller Heftigkeit und Schärfe kritisiert hat, daß Journalisten auf Reisen mit Mitgliedern der Bundesregierung weltweit unentgeltlich unterwegs sind?
So etwas soll es gegeben haben. Aber ich kann mich im Moment an keinen konkreten Anlaß erinnern.
Vielleicht kann ich noch einmal darauf hinweisen, daß diese Reisen den Medienvertretern aller Blätter und aller Sorten von Blättern offenstehen. Es handelt sich sozusagen um ein Windhundverfahren. Die Bundesregierung selektiert hierbei nicht, sondern der, der zuerst da ist, mahlt zuerst und sitzt zuerst im Flugzeug.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Lowack.
Verehrte Frau Kollegin, es könnte sich fast schon erledigt haben, aber es bleibt noch ein kleiner unklarer Bereich übrig. Was hat dazu geführt, daß bestimmte Journalisten öfter in den Genuß dieser Einladungen gekommen sind?
Vielleicht waren sie schneller als die anderen. Ich sage Ihnen ja: Das ist der Grund.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor.
Wir kommen zu der Frage 47 des Kollegen Peter Ramsauer:
Werden bei diesen Auslandsreisen Hotels, Transportgelegenheiten oder Verpflegung für Journalisten bereitgestellt bzw. übernommen, und wie bezahlen die Journalisten bzw. die entsprechenden Verlage den Reisekostenanteil bei Flugmaschinen des Bundes, bzw. wurden geldwerte Vorteile von den betreffenden Journalisten auch steuerlich berücksichtigt?
Das Auswärtige Amt, Herr Kollege Ramsauer, übernimmt lediglich den Transport der Begleitjournalisten vom und zum Flughafen sowie zu Presseterminen während der Reise. Der Reisekostenanteil für den Mitflug wird von den begleitenden Journalisten über das Pressereferat des Auswärtigen Amtes direkt mit dem Bundesamt für Wehrverwaltung abgerechnet.
Über die steuerliche Behandlung dieser Auslandsreisen von Journalisten ist dem Auswärtigen Amt nichts bekannt.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Gehe ich recht in der Annahme, Frau Staatsminister, daß sich die von Ihnen gerade gegebene Antwort nur auf Reisen des Auswärtigen Amtes bezieht?
Ja; das ist richtig. Wenn z. B. der Bundesminister fliegt, dann übernimmt das Auswärtige Amt für die begleitenden Journalisten die Kosten, die ich Ihnen soeben geschildert habe.
Eine zweite Zusatzfrage des Kollegen Ramsauer.
Gehe ich dann auch recht in der Annahme, daß das Volumen der gesamten Reisen — also nicht nur das der Reisen des Auswärtigen Amtes, sondern auch das der ganzen Bundesregierung, d. h. aller Ressorts — wesentlich größer ist?
Ich habe Ihre Frage nicht ganz verstanden; vielleicht können Sie sie wiederholen.
Vielleicht ist eine Präzisierung Ihrer Frage überflüssig, wenn ich Sie noch einmal darauf verweise, daß der Unterhalt und die Verpflegung — also Hotelunterkunft und Verpflegung — des von Ihnen soeben in Ihrer Frage angesprochenen Personenkreises von diesem selber zu übernehmen sind.
Sie haben aber nur für den Bereich des Auswärtigen Amtes und nicht für alle anderen Ressorts der Bundesregierung gesprochen.
In bezug auf Ihre Frage 47 habe ich in der Tat für das Auswärtige Amt gesprochen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Die Fragen 48 und 49 der Kollegin Lieselott Blunck werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 51 des Kollegen Rudolf Bindig auf:Hat die Bundesregierung über die deutsche Vertretung bei den Vereinten Nationen oder in anderer Weise in irgendeiner Form die Tatsache oder die Inhalte der Anforderung der Vereinten Nationen für ein deutsches Kontingent für die internationale Truppe in Somalia, wie sie in dem Brief des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Boutros Ghali, enthalten sind, vorher abgestimmt, oder hat sie den VN Hinweise gegeben, wie eine Anforderung gestaltet sein könnte oder sollte?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13241
Herr Kollege, mit Schreiben des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen in New York vom 18. Dezember 1992 war der Generalsekretär der Vereinten Nationen über das Angebot der Bundesrepublik Deutschland zur Unterstützung der humanitären Bemühungen der Vereinten Nationen in Somalia entsprechend dem Kabinettbeschluß vom 17. Dezember 1992 in Kenntnis gesetzt worden. Dieser Unterrichtung folgten Gespräche mit dem Sekretariat der Vereinten Nationen in New York über die Gestaltung des deutschen Beitrags.
Auf Anfrage des Sekretariats der Vereinten Nationen hat die Bundesregierung am 18. Februar 1993 spezifiziert, wie sich das deutsche Kontingent gemäß dem Angebot vom 17. Dezember 1992 genau zusammensetzen soll, welche Ausrüstung und welche Bewaffnung vorgesehen waren.
Sowohl gegenüber den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats als auch gegenüber dem VN-Sekretariat hat die Bundesregierung die zentralen Kriterien im Kabinettsbeschluß einschließlich der verfassungsrechtlichen Grenzen für den Einsatz des deutschen Kontingents erläutert.
Das Anforderungsschreiben des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 12. April 1993 berücksichtigt diese Vorgaben und verwendet dabei teilweise wörtliche Formulierungen aus dem deutschen Angebot gemäß dem genannten Kabinettbeschluß vom 17. Dezember 1992. Diese Tatsache bewerten wir als besondere Rücksichtnahme des Generalsekretärs der Vereinten Nationen auf deutsche Belange.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Frau Staatsminister, wenn die Bundesregierung an der Formulierung der Nachfrage oder der Bitte, die die Vereinten Nationen hinsichtlich des Kontingents geäußert haben, so intensiv mitgewirkt hat, wie Sie es gerade geschildert haben, dann müßte doch eigentlich davon gesprochen werden, daß es sich um eine Art bestellter Anforderung handelt, weil der Inhalt den VN von der Bundesregierung fast vorbereitet unterbreitet worden ist.
Aber, Herr Kollege, uns beiden ist doch klar, daß die Vereinten Nationen auf exakte Angaben der Mitgliedstaaten darüber angewiesen sind, in welchen konkreten Formen personelle und sonstige Leistungen zur Durchführung von Beschlüssen des Sicherheitsrates bereitgestellt werden können. Nur so können die Vereinten Nationen vernünftige Friedensoperationen derart planen, daß deren Erfolg sichergestellt ist.
Frau Staatsminister, als es um die konkrete Ausgestaltung des Kontingents, also darum ging, welches Personal und welches Gerät im einzelnen zur Verfügung gestellt oder mitgenommen werden sollte, ist von Vertretern der Bundesregierung in vielen Reden immer argumentativ behauptet worden, dies sei von den Vereinten Nationen so angefordert worden. Genau genommen haben Sie die Anforderung, die die Vereinten Nationen formuliert haben, jedoch schon selber vorformuliert, d. h. Sie haben die Anforderung praktisch selber formuliert.
Das war Ihre zweite Zusatzfrage.
Nein, Herr Kollege. Ich glaube, so kann man das nicht sehen. Wenn man ein Angebot macht und es auch gegenüber dem Steuerzahler verantworten will, dann muß man auch in etwa wissen, was sinnvoll ist. Insofern verbietet es sich nicht, sondern es bietet sich geradezu an, mit dem Bedarfsträger darüber zu reden, was sinnvoll und was nicht sinnvoll ist, was von anderen gemacht wird und was z. B. uns möglich sein wird.
Zu der Frage 51 liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.
Ich rufe die Frage 50 auf:
Wie viele Finanzmittel veranschlagt die Bundesregierung insgesamt für den jetzt beschlossenen Einsatz der Bundeswehr in Somalia, und aus welchen Einzelplänen und Titeln des Bundeshaushalts sollen die erforderlichen Beträge aufgebracht werden?
Frau Staatsministerin.
Die Kosten für die Entsendung des verstärkten Transport- und Versorgungsbataillons nach Somalia sind für die auf das Haushaltsjahr 1993 entfallenden sieben Monate mit 184,4 Millionen DM veranschlagt. Gemäß Kabinettsbeschluß vom 21. April 1993 wird die Finanzierung der nicht veranschlagten Mehrkosten in Höhe von 100 Millionen DM im Einzelplan 60 sichergestellt, wobei Verstärkungsmittel aus dem Einzelplan 14 bis zur Höhe von 50 Millionen DM einzusetzen sind.
Insgesamt kann man sagen, daß im Einzelplan 60 — Kap. 60 04, Tit. 547 02 — zunächst unter Berücksichtigung der Sperre von 6 Millionen DM insgesamt 194 Millionen DM für Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit internationalen humanitären Hilfsmaßnahmen veranschlagt sind, wovon bis zu 100 Millionen DM aus dem Einzelplan 14 erwirtschaftet werden müssen.
Für die Fortführung aller laufenden Hilfsmaßnahmen der Bundeswehr waren für das Haushaltsjahr 1993 hiervon bereits 115,6 Millionen DM verplant. Durch die Mitwirkung in Somalia ergibt sich ein Gesamtbedarf der Bundeswehr im Zusammenhang mit internationalen humanitären Hilfsmaßnahmen von insgesamt 300 Millionen DM. Danach sind im Einzelplan 60 insgesamt 300 Millionen DM veranschlagt, wovon 150 Millionen DM aus dem Einzelplan 14 zu erwirtschaften sind.
Zusatzfrage, Kollege Bindig.
Frau Staatsminister, finden Sie die Schwerpunktsetzung richtig, d. h. daß für diesen einen Einsatz, wie Sie jetzt gesagt haben, mehr als 180 Millionen DM veranschlagt werden, während im Einzelplan 05 des Auswärtigen Amtes für den Gesamtbereich der humanitären Hilfe, für alle Not
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13242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Rudolf Bindigund Katastrophen auf der Welt, 80 Millionen DM veranschlagt werden?
Herr Kollege Bindig, Sie wissen natürlich, was ich Ihnen jetzt antworte. Wir wären dankbar, wenn wir diese Mittel in ähnlicher Größenordnung in unserem Haushalt hätten. Ich appelliere an alle Kollegen, die hier sind, auch an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, einmal darüber nachzudenken, ob wir so etwas nicht für das nächste Jahr machen könnten.
Nun eine zweite Zusatzfrage des Kollegen Bindig.
Frau Staatsminister, da im Zusammenhang mit diesem Einsatz immer von der humanitären Bedeutung dieses Einsatzes gesprochen wird, möchte ich fragen, wieviel von den über 180 Millionen DM, die für den Bundeswehreinsatz ausgegeben werden sollen, schätzungsweise effektiv bei den Menschen ankommen, die in Not sind, und wieviel dieses enormen Betrags von über 180 Millionen DM für Geräte, Material, Transportkosten und die Bezahlung der Bundeswehrangehörigen aufgewendet wird.
Herr Kollege Bindig, ich darf Ihnen einen Vorschlag machen: Sie wissen, daß gestern General Bernhardt als erster Vertreter der Bundeswehr nach Somalia abgeflogen ist. Er wird am Sonntag durch einen Voraustrupp der Bundeswehr verstärkt werden, der an Ort und Stelle erkunden wird, in welchem Maße, wo und wie eingegriffen werden kann. Wenn wir diese Bewertung vorliegen haben, können wir uns Gedanken darüber machen, welche Mittel wohin gehen. Dann bin ich in der Lage, Ihnen genauere Auskunft darüber zu geben.
— Das weiß ich, Herr Kollege Bindig.
Eine letzte Zusatzfrage hat der Kollege Rudi Walther.
Frau Staatsministerin, können Sie bestätigen, daß es, wenn die von Ihnen in Ihrem Einzelplan genannten Mittel nicht ausreichen, genügend Instrumente des Haushaltsrechts gibt, Ihnen die notwendigen Gelder zusätzlich zur Verfügung zu stellen? Ihr Nachbar zur Rechten weiß das ganz bestimmt.
Herr Kollege Walther, ich habe ja unter Ihnen im Haushaltsausschuß gelernt.
Es geht ab und zu mit mir durch. Ich bin mir selbstverständlich über die Mechanismen der Haushaltsaufstellung im klaren. Aber ab und zu meldet sich der Parlamentarier in mir mit gewissen Wünschen. Ich weiß aber aus langer gemeinsamer Erfahrung mit Ihnen ganz genau, wie schwierig es ist, das innerhalb der Regierung durchzusetzen.
Jetzt will ich aber wieder ernst werden. In der Tat wünschen wir uns, daß der für den Bereich der humanitären Hilfe im Auswärtigen Amt zur Verfügung stehende Titel erhöht werden könnte. Aber das wird mit Sicherheit in den Verhandlungen über den Haushalt des nächsten Jahres anzusprechen sein. Dort gehört es auch hin.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Frau Staatsministerin.
Wir haben noch drei Fragen zur schriftlichen Beantwortung: die Frage 52 des Kollegen Hans Wallow sowie die Fragen 53 und 54 des Kollegen Gernot Erler. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde angekommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Arbeitsmarktlage und ihren Auswirkungen auf die Bundesanstalt für Arbeit
Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde beantragt.
Als erster Redner hat der Kollege Ottmar Schreiner das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die von der Bundesregierung in den letzten Tagen korrigierten Wachstums-und Beschäftigungsprognosen zeichnen ein düsteres Bild für Deutschland. Für das Jahr 1993 wird nunmehr alleine für Westdeutschland gegenüber 1992 ein Anstieg der Zahl der Arbeitslosen um mehr als 0,5 Millionen auf dann insgesamt etwa 2,3 Millionen erwartet. Für Ostdeutschland werden insgesamt etwa 1,2 Millionen Arbeitslose erwartet. Das bedeutet im Jahresverlauf 1993 für Gesamtdeutschland eine Arbeitslosenzahl von rund 3,5 Millionen.
Offenkundig haben fünf Jahre Mitarbeit im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung nicht einmal die politische Grundausstattung bei Ihnen bewirkt, um über diese Zusammenhänge mitdiskutieren zu können.Die wirkliche Lage ist wesentlich düsterer als 3,5 Millionen Arbeitslose. Denn wir haben einen Fehlbestand von rund 7 Millionen regulärer Arbeitsplätze. Das ist die Aussage aller Institute in der Bundesrepublik, die sich mit diesen Fragen beschäftigen. Das ist die Aussage der Experten.Die 7 Millionen sind einfach zusammenzurechnen. Es sind die 3,5 Millionen Arbeitslosen. Es sind die rund
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13243
Ottmar Schreiner2 Millionen Menschen, die immer noch in Überbrükkungsmaßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes sind, einschließlich Kurzarbeitergeld, einschließlich der diversen Spielarten von Vorruhestand. Und es sind geschätzt rund 1,5 Millionen stiller Reserve, also Leute, die sich, aus welchen Gründen auch immer, bei den Arbeitsämtern erst gar nicht mehr registrieren lassen, weil sie keine Hoffnung mehr auf Arbeit haben. Wenn Sie diese Zahlen, die auf den Aussagen der Experten beruhen, zusammenrechnen, kommen Sie auf einen Fehlbestand von rund 7 Millionen regulären Arbeitsplätzen in Deutschland.
Man sollte meinen, daß zumindest der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit das technische Rüstzeug hat, um zwischen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zu differenzieren. Herr Jagoda hat gestern in der „Bild"-Zeitung von irreführenden Zahlen des SPDParteivorsitzenden gesprochen.
Herr Jagoda hat offenkundig keine Ahnung. Der SPD-Parteivorsitzende hat vom Fehlbestand von 7 Millionen regulärer Arbeitsplätze gesprochen. Ich sage nochmals, dick unterstrichen: Das ist die Aussage aller Experten, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen.
Das wird von niemandem, der Ahnung hat, bestritten.Zweite Bemerkung. Die Institute sagen uns dazu: Das ist die dramatischste Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt seit der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre mit allen politischen Folgewirkungen der damaligen Zeit. Darauf wird hingewiesen. Es ist überhaupt keine Frage, daß die Höhe der Arbeitslosigkeit, das Ausmaß an sozialer Deklassierung und das Ausmaß an sozialer Ausgrenzung die soziale und politische Stabilität eines Landes mit beeinflussen. Wenn Sie das nicht begreifen wollen, tun Sie mir wirklich leid.
— Wenn Sie das schon lange begriffen haben, Herr Kollege: In der Regierungserklärung zum Solidarpakt vor der Osterpause hatte der Bundeskanzler rund eine Stunde Redezeit. Ich will die Redezeiten der Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen gar nicht zusammenrechnen. In all diesen Beiträgen zum Solidarpakt damals ist das Wort Arbeitslosigkeit und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht gefallen. Nichts, absolut nichts.
Das ist der eigentliche Punkt, den wir zu kritisieren haben. Seien Sie doch froh, daß der SPD-Parteivorsitzende überhaupt eine öffentliche Diskussion über Wege und Bausteine in Richtung Abbau der Arbeitslosigkeit anstoßen will. Die Bundesregierung ist auf diesem Feld völlig rat- und konzeptionslos. Sie haben in der Sache absolut nichts zu bieten. Das ist der Sachverhalt.
Sie stellen keinerlei Überlegungen an, wie eine beschäftigungsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, wie eine wirklich arbeitsfördernde Arbeitsmarktpolitik aussehen könnte. Das, was Sie tun, ist das genaue Gegenteil: Die bewährten Instrumente der Arbeitsmarktpolitik werden dramatisch zurückgeschnitten. Im Nachtragshaushalt der Bundesanstalt —18 Milliarden DM — ist keine einzige Mark für zusätzliche AB-Maßnahmen vorgesehen, aber 7,7 Milliarden DM zur weiteren Finanzierung des Arbeitslosengeldes.Warum verwenden Sie die 7,7 Milliarden DM, die Sie zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit einstellen müssen, nicht dazu, auch in Westdeutschland Arbeitsmarktprojekte zu finanzieren, wie das in Ostdeutschland auf Grund des § 249h AFG geschieht? Danach übernimmt die Bundesanstalt die Basisfinanzierung in Höhe der eingesparten Lohnersatzleistungen, und die Komplementärfinanzierung muß von seiten derer erfolgen, die von diesen Projekten den Nutzen haben: der Bund, die Bundesländer und die Träger. Warum wird das nicht gemacht? Das würde den Bund keinen Pfennig mehr kosten, es würde die Bundesanstalt keinen Pfennig mehr kosten, es würde aber Millionen von Menschen wieder einen kleinen Zipfel von Hoffnung geben.
Statt dessen werden völlig phantasielos knapp 8 Milliarden DM im Bereich der Finanzierung von Arbeitslosigkeit eingestellt.Ich komme zum letzten Punkt. Sie wissen, daß die Summe von 18 Milliarden DM auf tönernen Füßen steht. Heute morgen hat der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit im Verwaltungsrat der Anstalt gesagt: Alleine im Bereich der Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen beträgt das Jahresdefizit 1993 3,5 Milliarden DM. Eingestellt im Nachtrag sind 2 Milliarden DM. Es verbleibt also nach wie vor ein Defizit von 1,5 Milliarden DM. Das wissen Sie.Ich will von der Koalition die Frage beantwortet haben: Wann wäre denn die Stunde günstiger als jetzt, endlich an die Einführung einer sozial gerechten Arbeitsmarktabgabe zu gehen?
Diese haben Sie, Herr Bundesminister, mehrfach gefordert.
Sie könnten einen erheblichen Teil der finanziellenProbleme lösen, wenn Sie sich endlich dazu entschließen könnten, bei der Antwort auf die Frage, wie wir
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Ottmar Schreinermöglichst sinnvoll die Arbeitslosigkeit bekämpfen und wen wir daran beteiligen sollten, ein kleines bißchen mehr soziale Gerechtigkeit walten zu lassen.
Herr Kollege Schreiner, jetzt muß ich aber wirklich sagen, daß Schluß ist. Bitte.
Letzter Satz, Frau Präsidentin.
Aber wirklich.
Mit keinem einzigen Pfennig werden Sie und ich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herangezogen. In Zukunft wollen Sie aber noch stärker als bislang die kleineren Einkommen dazu zwingen. Das ist niemandem in dieser Republik zu erklären. Deshalb sollten Sie endlich Ihren arbeitsmarktpolitischen Offenbarungseid leisten.
Schönen Dank.
Als nächster hat der Kollege Fuchtel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als erstes möchte ich dem Kollegen Schreiner sagen: Sie haben doch selber bei den Verhandlungen zum Solidarpakt Ihre Forderung nach Einführung einer Arbeitsmarktabgabe fallengelassen. Jetzt kommen Sie wieder damit und stellen sie in den Mittelpunkt.
— Meine Damen und Herren, so wichtig war es Ihnen, daß Sie darauf verzichtet haben. Das muß klar gesagt werden.
Ganz grundsätzlich möchte ich sagen: Es wird schon wieder versucht, eine neue Lügendoktrin aufzubauen. Ich möchte für die CDU/CSU eindeutig feststellen, daß der Bundesarbeitsminister absolut korrekt gehandelt hat, was die Schätzdaten betrifft.
Die interministeriellen Schätzkreise fixierten unter SPD-Regierungen die makroökonomische Datenlage, und sie tun es heute noch genauso. Es ist schon sehr verwunderlich, daß man das auf einmal in Frage stellt. Ich denke, wenn Sie jemals wieder an die Regierung kommen sollten,
werden Sie sich auch wieder auf dieser Datenbasis bewegen.Man sollte in schwierigen Zeiten nicht kopflos werden. Deswegen sollte man solche bewährten Instrumente und Verfahrensweisen nicht zur Disposition stellen. Es ist eine alte Weisheit — ich sage das auch im Blick auf die gestrige Diskussion in der Bundesanstalt für Arbeit —: Wenn der eine die Musik bestellt und der andere sie nur bezahlen soll, wird sie immer zu teuer.
Aus diesem Grund ist es ganz richtig, daß dies so geschieht. Es muß auch künftig auf dieser Basis geschehen.Es ist natürlich ein großes Problem, daß wir einen so hohen Nachschuß erbringen müssen. Dies zeigt den Ernst der Lage. Nur, zu denken, Herr Schreiner, man könnte mit einer Arbeitsmarktabgabe, also mit weiteren Belastungen und vor allem auch nur mit der Arbeitsmarktpolitik solche Probleme bewältigen, zeigt, daß man hier völlig falsch liegt. Wir müssen die Politik im Zusammenhang sehen. Wenn wir keine Maßnahmen zur Gesundung der Wirtschaft ergreifen, können wir auch nicht erreichen, daß die entsprechenden Arbeitsplätze vorhanden sind.
Diese Grundwahrheit muß immer wieder herausgestellt werden, weil sie bei der SPD verlorengegangen ist.Ganz nebenbei möchte ich sagen: Wenn wir jetzt einen sehr hohen Nachholbedarf haben und sehr viel Geld einbringen müssen, Sie von der SPD hätten das Geld schon längst verspielt. Sie hätten ja allein Herrn Modrow schon 17 Milliarden DM mitgegeben. Dann wäre das Geld schon längst weg, das wir jetzt noch zur Verfügung haben, um die anstehenden Aufgaben zu erfüllen.
— Das tut weh, Herr Schreiner; das ist klar.Sie waren gestern im Ausschuß nicht einmal in der Lage, diesem Nachtragshaushalt zuzustimmen. Sie haben ihm nicht zugestimmt.
Die Öffentlichkeit muß das einmal erfahren, wenn hier solche geifernden Reden gehalten werden.Es ist meiner Meinung nach äußerst notwendig, daß wir in der Zukunft die Lösung nicht in weiteren Ausgabensteigerungen und weiteren Belastungen sehen — wie das eben gesagt wurde —, sondern in Einsparungen und Begrenzungen. Dies ist für Sozialromantiker bitter, aber wahr und notwendig für eine positive Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland.Früher waren wir Deutsche als erste in Europa in der Lage, auf solche Herausforderungen zu reagieren.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13245
Hans-Joachim FuchtelHeute zwingen Sie von der SPD uns mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat, daß wir bei der Lösung solcher Aufgaben zum Schlußlicht werden. Überall in Europa, gleichgültig in welchem Staat und welcher Couleur die Regierung ist, ist es so, daß die Politiker die Lage früher als wir begriffen und danach gehandelt haben. Wir kommen jetzt langsam mit dem Solidarpakt auf diese Schiene. Das ist viel zu spät. Auch hier haben Sie sich absout als Hemmschuh erwiesen. Das möchte ich Ihnen auch einmal ganz deutlich sagen.
Ein letztes Wort dazu; den Rest werden meine Kollegen ausführen.
Wie schwierig es bei der SPD und den Gewerkschaftsvertretern derzeit ist, zeigt allein der Eiertanz um die Meldekontrolle. Wir müssen nochmals deutlich machen, daß im Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit die Gewerkschaftsvertreter nicht in der Lage waren, der Meldekontrolle zuzustimmen. Jedermann weiß doch, daß dieses Instrument zur Bekämpfung des Mißbrauchs unbedingt eingesetzt werden muß.
Wenn man selbst dazu nicht in der Lage ist, wie soll man dann eigentlich zu weiteren Schritten in der Lage sein? Heute wissen wir, daß allein durch dieses Instrument 5 bis 15 % der Mißbrauchsfälle entdeckt und beseitigt werden können.So müssen wir vorgehen, wenn wir auf diesem Gebiet etwas erreichen möchten. Es ist dringend notwendig, daß wir den Mut haben, auch bei der Bundesanstalt für Arbeit alle Ressourcen für Einsparungen auszureizen, damit wir dort wieder zu solideren Verhältnissen kommen.
Ich muß die Äußerungen des Kollegen Ottmar Schreiner als unparlamentarisch rügen. Der Kollege Fuchtel ist, auch mit Leidenschaft gesprochen, kein — wie war das doch gleich? Ich wiederhole es lieber nicht. Er ist es auf jeden Fall nicht.
— Nein, das würde ich ungern tun, weil ich dann den Kollegen Fuchtel noch einmal beschimpfen würde. Das steht mir absolut nicht zu.
Als nächste hat die Frau Kollegin Gisela Babel das Wort.
— Nicht fünf Minuten, sondern genauso lange, wie er geredet hat. Das waren nämlich mehr als fünf Minuten.
Bitte, Frau Kollegin Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann an dem Sinn dieser Aktuellen Stunde schon ein bißchen Zweifel hegen, wenn man als Sinn nicht nur unterstellt, daß Herr Schreiner sein Konto der Ordnungsrufe wieder nach oben schrauben wollte. Das gelingt ihm ja in der Regel.
Welchen Nutzen hat für Sie diese Debatte? Es ist wahr: Wir haben in der Arbeitsverwaltung ein großes Defizit in Höhe von 20 Milliarden DM. Wir waren im Herbst letzten Jahres daran, durch die AFG-Novelle dieses Defizit um 5 Milliarden DM zu senken. Heute, ein halbes Jahr später, gibt es eine Aktuelle Stunde, weil ein weiteres Defizit in Höhe von 20 Milliarden DM vorliegt.Die Bilanz der Bundesanstalt für Arbeit ist ein Spiegel der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik. Wir haben gestern gehört: 100 000 Arbeitslose mehr bedeuten eine Kostenbelastung von 2,1 Milliarden DM. Wenn sich die Projektion also auf 1,9 Millionen Arbeitslose bezog — heute gibt es schon 2,3 Millionen Arbeitslose —, dann kann man sehen, daß dieses Loch tatsächlich durch die Rezession entstanden ist.Damit will ich nicht sagen, daß gewisse Summen nicht auch durch eine etwas lockere Haushaltsführung — so will ich einmal sagen — entstanden sind. Die Haushaltspolitiker sehen das noch sehr viel strenger als die Sozialpolitiker.
Aber das ist sicher richtig. Wir sind uns in diesem Punkt, glaube ich, sogar einigermaßen einig, daß Mißbrauchsbekämpfung richtig ist.
Nur, die Bundesanstalt ist doppelt belastet. Wir sehen uns einem Teufelskreis gegenüber: Bei weniger Beiträgen gibt es weniger Einnahmen, und bei Zunahme der Arbeitslosigkeit ergeben sich höhere Kosten.Was also ist zu tun? Außer den alten Vorstellungen haben wir natürlich dazu nichts gehört. Die Opposition setzt bei zunehmender Arbeitslosigkeit auf mehr Arbeitsmarktpolitik. Was heißt das für die SPD? Mehr Arbeitsmarktpolitik ist für sie schlicht das Aufstocken der Mittel für AB-Maßnahmen, das Aufstocken der Mittel für Fortbildung und Umschulung. Das aber heißt mehr Geld. Woher das kommt, müssen Sie in einer sozialpolitischen Debatte ja auch nicht weiter ausführen.Bei der Opposition ist aber das Merkwürdige: Die Projekte, für die sie eigentlich sein müßte, weil sie sie in den Grundprinzipien angemahnt hat, lehnt sie ab, nämlich Projekte nach § 249h, also AB-Maßnahmen, bei denen die Arbeitsverwaltung das Geld nur in
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Dr. Gisela BabelHöhe der Arbeitslosenversicherung bereitstellt und eine zusätzliche solidarische Finanzierung von seiten der Länder notwendig ist. Das lehnen Sie ab mit der Begründung, daß dies eine untertarifliche Bezahlung sei.Das Schöne dabei ist — dazu möchte ich heute in der Aktuellen Stunde von den Kollegen der SPD etwas hören —, daß Herr Engholm vor zwei Tagen sehr zu Recht gesagt hat: Auch wir im Westen sollten über solche Maßnahmen nachdenken, die an sich sinnvoll sind und die eine Finanzierung unterhalb der Tarife zulassen.
Ich halte das für sehr bemerkenswert und für sehr überlegenswert.
Das zeigt mir wieder: Dieser Parteivorsitzende der SPD ist seiner Partei so weit voraus, daß ich fürchte, daß der Kontakt mit ihm immer schwieriger wird.
Ich möchte also gerne hören, was Sie heute zu diesem neuen Kapitel der Arbeitsmarktpolitik zu sagen haben.
— Die Tatsache, daß Sie jetzt laut werden, spricht noch nicht dafür, daß Sie wissen, wie Sie antworten werden.Ich bedanke mich.
Nun kommt Frau Kollegin Petra Bläss zu Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist j a wohl mindestens die fünfte Debatte zur Arbeitsmarktpolitik in den ersten vier Monaten dieses Jahres. Das Ergebnis jedoch ist stets das gleiche: Die Arbeitsmarktentwicklung spitzt sich weiter dramatisch zu, und die Bundesregierung reagiert mit weiterem Rückzug aus der aktiven Arbeitsmarktpolitik und drastischen Einsparungen dort, wo Aufstockung der Mittel gerade jetzt dringend geboten wäre. Ich erinnere nur an die unsägliche Debatte, die wir gestern im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur Kürzung des Unterhaltsgeldes bei Umschulungsmaßnahmen hatten.Nachdem Sie sich bei den FKP-Verhandlungen mit Ihren Sozialabbauplänen nicht so, wie geplant, durchsetzen konnten, drohen Sie jetzt damit, durch einen neuen Gesetzentwurf zum AFG weitere Kürzungen bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu verankern. Dies ist absolut kontraproduktiv in der gegenwärtigen Entwicklung. Wie sich Ihre Verhandlungspartner fühlen müssen, darüber möchte ich gar nicht erst spekulieren.Inzwischen ist auch von seiten unzähliger Expertinnen und Experten festgestellt worden, daß die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen zur Arbeitsmarktpolitik und dabei insbesondere zum Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit von völlig falschen ökonomischen Eckwerten ausgegangen ist. Weder die angenommenen Zahlen zu den Arbeitslosen oder die zu den Altersübergangsgeldbezieherinnen und -beziehern noch die Prognosen zur Entwicklung des Sozialprodukts stimmen. Während der Bundeswirtschaftsminister in der Haushaltsdebatte von einer Stagnation des Sozialprodukts ausging, muß er jetzt ein Absinken von 1 bis 1,5 % einräumen, wie der Presse zu entnehmen war.Ähnliches gilt für die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen. In Auseinandersetzung mit der Bundesanstalt hat die Bundesregierung im Dezember 1992 für 1993 Arbeitslosenzahlen in Höhe von knapp 2 Millionen allein in den westlichen Bundesländern prognostiziert. Im April meldete aber die Bundesanstalt bereits 2,2 Millionen Arbeitslose im Westen und damit eine Steigerung von 25 %. Daß damit der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit für 1993 noch längst nicht erreicht ist, weiß in diesem Hause jede und jeder. Ich erinnere nur — wie schon so häufig — an all die Bereiche, in denen weiterer drastischer Beschäftigungsabbau durch Fertigungsreduzierung bzw. ganze Betriebsstillegungen bevorstehen: Stahl-, Automobilindustrie, Textilindustrie und Maschinenbau.Auch im Osten ist die Zahl der arbeitslos Gemeldeten weiter angestiegen, u. a. auch in Auswirkung der von mir nachdrücklich kritisierten zehnten AFG-Novelle und den dort vorgenommenen Einsparungen. Dazu meldet die Bundesanstalt, daß seit Ende März 1993 allein durch Kürzungen der ABM-Mittel in Ostdeutschland 100 000 Menschen weniger in solchen Maßnahmen tätig sind. Beispielsweise mußte der Arbeitslosenverband landesweit 1 000 ABM-Stellen aufgeben. Das zeigt doch den ganzen Irrwitz der gegenwärtigen Situation: Die Arbeitslosenzahlen steigen, und der Verband, der Hilfe und Auffangmöglichkeiten anbietet, muß nun versuchen, seine wichtige, gesellschaftlich dringend notwendige Arbeit ehrenamtlich aufrechtzuerhalten.Auch die restriktiven Beschränkungen in der Fort-bildungs- und Umschulungspolitik der Arbeitsämter führen zu einer deutlichen Abnahme bei der Nutzung solcher Maßnahmen. Gegenüber dem Vorjahresmonat sind die Teilnehmerinnen- und Teilnehmerzahlen im März 1993 um 58,4 % gesunken; in absoluten Zahlen bedeutet das einen Rückgang von etwa 160 000. Ich garantiere einen weiteren Abwärtstrend, wenn Sie nun auch noch das Unterhaltsgeld kürzen.Gerade gestern konnten sich die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung bei der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg vor Ort überzeugen, wie dramatisch die Bundesregierung mit ihren ökonomischen Eckwerten danebengelegen hat und wie teuer ihre Revision wird. Die im Nachtragshaushalt vorgesehenen Mittel für die Bundesanstalt in Höhe von 18,5 Milliarden DM müssen ausschließlich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13247
Petra Blässdafür eingesetzt werden, die Mehraufwendungen aufzufangen, die durch die falschen Annahmen der Bundesregierung notwendig geworden sind.
— Die Zahlen haben wir gestern gehört. — So müssen allein 7,7 Milliarden DM für zusätzliches Arbeitslosengeld und für zusätzliche Arbeitslosenhilfe sowie 3,1 Milliarden DM für Kurzarbeitergeld eingesetzt werden, weil heute allein im Westen statt der angenommenen 250 000 750 000 Menschen von dieser Regelung betroffen sind.Die im Rahmen der FKP-Diskussion zusätzlich bereitgestellten 2 Milliarden DM für AB-Maßnahmen haben für den Augenblick zwar die schlimmsten Zusammenbrüche in diesem Bereich verhindern können, sind aber bis zur Sommerpause aufgebraucht und lassen dann einen erneuten ABM-Stopp befürchten. Denn — auch dies ist der Sparpolitik der Bundesregierung geschuldet — trotz der Aufstockung um 2 Milliarden DM liegen die ABM-Mittel in diesem Jahr immer noch um 500 Millionen DM unter denen des Vorjahres, und das bei weiter angestiegenen Arbeitslosenzahlen und einer dramatischen Zunahme von Langzeitarbeitslosen jetzt auch in den neuen Bundesländern.Meine Damen und Herren, die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation und sämtliche Prognosen machen einmal mehr deutlich, wie überfällig eine Kurskorrektur in der Haushaltspolitik der Bundesregierung ist.
Frau Kollegin, ich gehe davon aus, daß dies jetzt der letzte Satz ist; denn die Zeit ist überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Statt stets im nachhinein die durch Kürzungen an der falschen Stelle entstandenen größten Löcher wieder zu stopfen, muß endlich eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Arbeit und nicht Arbeitslosigkeit finanziert, Priorität bekommen.
Ich danke.
Als nächster spricht der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat am letzten Montag in seinem Spitzengespräch mit Wirtschaft und Gewerkschaften die 16. Fehlprognose zum Aufschwung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern und zu dessen Finanzierung offenbart. Selbsttäuschung, Täuschung, Irrungen, Wirrungen, Autosuggestion und Schönfärberei reihen sich aneinander und lassen ein insgesamt heilloses und konzeptloses Agieren auf dem Feld der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik erkennen, und das in einer Situation, die wirklich dramatisch ist.Es wurde bereits von Herrn Schreiner erwähnt, daß Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre die Arbeitslosenzahl in Deutschland 6 Millionen betragen hat. Nun will ich mich nicht darum streiten, wo sie momentan steht. Da geht offenbar jede Seite des Hauses von anderen Zahlen aus; aber Fakt ist zumindest eines: Jeder dritte im Osten ist arbeitslos, hat seinen Arbeitsplatz verloren. Die wirkliche Arbeitslosigkeit in den Kommunen liegt zwischen 30 und 40 % — darin sind wir uns sicher einig —, und die Tendenz in der Arbeitslosigkeit geht eher auf 4 Millionen zu als auf 3 Millionen. Auch darin sind wir uns sicherlich einig.Nun will ich über eine De-facto-Arbeitslosigkeit von 7 Millionen nicht streiten; aber wenn man all die Menschen hinzuzählt, die in Umschulungsmaßnahmen sind, die in den Vorruhestand geschickt wurden— allein 900 000 Menschen im Osten sind in den Vorruhestand geschickt worden —, dann, so denke ich, kommen wir schon sehr deutlich an diese Zahl heran. Das geht in der Struktur zu Lasten älterer Arbeitnehmer, es geht zu Lasten von Jugendlichen, und es geht zu Lasten von Frauen, die überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind.Darin offenbart sich einfach das Fiasko Ihrer Wirtschaftspolitik. Es ist eben zuwenig, wenn die eine Seite der Wirtschaftspolitik aus Psychologie und die andere aus Zweckoptimismus besteht.Jetzt sind etliche Branchen in der alten Bundesrepublik betroffen. Die Produktivität geht zurück, die Abwicklung und die Stillegung von Industriebetrieben selbst im Westen wird diskutiert, und — ein Phänomen, das wir in der alten Bundesrepublik seit vielen Jahren nicht mehr hatten — Massenentlassungen stehen bevor. Es ist eine wirklich dramatische Situation.Nun will ich nicht so tun, als ob wir das Patentrezept in der Hand hätten.
— Nein, ich versuche das einigermaßen realistisch zu fassen, daß niemand ein sofort wirksames Mittel parat hat, um in dieser Situation einzugreifen.Aber es geschieht einfach zu wenig. Es geschieht zu wenig dafür, daß der zweite Arbeitsmarkt stabilisiert wird und ausgebaut wird; denn er ist eine Brücke in dieser Zeit, in der viele Menschen regelrecht alimentiert werden müssen.Es spricht, wenn Sie so wollen, für die Einfallslosigkeit der Regierung, daß von Nürnberg aus der Vorschlag für ein Arbeitsbeschaffungsprogramm— sprich: Pflegeversicherung — kommen muß, daß nämlich Herr Jagoda sagt: 150 000 Arbeitsplätze könnten allein durch die Pflegeversicherung geschaffen werden.
— Ich weiß, Sie reden immer von den Kosten, bevor Sie die soziale Seite betrachten.
Aber auch für die Arbeitsmarktabgabe halte ich die Zeit jetzt für gekommen. Ich finde, daß jetzt diese Schallmauer aus Ignoranz und Taubheit hier im Westen durchbrochen werden muß. Herr Schreiner, da muß ich wirklich an Ihrer Partei Kritik üben. Ich
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13248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Werner Schulz
glaube, wenn Sie Ihre phonetische Kraft an der Stelle einsetzen würden, an der man momentan diesen Dammbruch schaffen könnte, eben beim Solidarpakt, dann würde das vielleicht erreicht werden. Ich weiß nicht, warum die SPD auf diese Forderung verzichtet hat.Im Augenblick spricht Herr Rüttgers vom zweiten Solidarpakt. Dadurch sollen die lobenswerterweise verhinderten Sozialkürzungen nun doch auf einem Umweg hineingebracht werden, indem die Unterhaltshilfen für die Menschen, die sich in Umschulung befinden, nun auf Arbeitslosengeld eingeschrumpft werden.Ich meine, hier steht auch die SPD in der Pflicht, diese Arbeitsmarktabgabe durchzusetzen. Ich glaube, Sie sollten diesem Solidarpakt, so wie er jetzt ist, bei dem Defizit, das sich in Nürberg zeigt, nicht zustimmen. Das wäre meine Bitte an die große Oppositionspartei, sofern sie die Oppositionsrolle wirklich einnimmt.
Nun hat der Minister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Meine Damen und Herren! 18 Milliarden Defizit bei der Bundesanstalt für Arbeit — eine bedrückende Zahl! Ohne die 10. AFG-Novelle, die Sie bekämpft haben, wären es nicht 18 Milliarden, sondern 28 Milliarden.
Was das Schätzen anbelangt: Sie haben in Ihrem Antrag vom März einen weitaus geringeren Zuschußbedarf geschätzt, was ich Ihnen aber gar nicht vorwerfe. 100 000 Arbeitslosengeldempfänger mehr in den alten Bundesländern, das bedeutet schon 2,4 Milliarden DM mehr.Ich will die Debatte heute nicht statistisch führen, weil hinter jeder dieser Zahlen ein Schicksal steht.
Insofern muß es uns — hören Sie mir doch einmal ruhig zu — um das Schicksal der Arbeitslosen und der Kurzarbeiter gehen. Deren Zahl steigt, und das muß uns bedrücken. Das ist die Herausforderung, mit der wir fertigwerden müssen.Ich will nur noch einiges klarstellen. Wer für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Politik zum Alleinverantwortlichen macht, verwechselt die Zuständigkeiten in der Sozialen Marktwirtschaft. Alle tragen Verantwortung: Bund, Länder, Gemeinden, die Tarifpartner, also Arbeitgeber und Gewerkschaften, und die Unternehmen. Den Aufschwung — das haben wir schon oft erlebt — reklamieren alle für sich als Verdienst, das sie allein zustande gebracht haben, auch manche Unternehmen. Für den Abschwung aber ist nur die Politik verantwortlich und bei der Politik nur Bonn. Das halte ich für eine ungeheure Verengung; das ist eine Flucht aus der Verantwortung.
Auch die Sozialpolitik kann es nicht allein schaffen. Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik gehören in der Sozialen Marktwirtschaft zusammen, und sie schaffen es auch nur zusammen.Ich will nur hinzufügen: Wenn alle in Deutschland, auch mancher kritisierende Unternehmer, ihre Aufgaben so effektiv angepackt hätten wie die Sozialpolitiker, dann sähe es in Deutschland anders aus.
Ohne Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ohne Fortbildung, ohne Umschulung, ohne Kurzarbeit, ohne Altersübergangsgeld, ohne Vorruhestand hätte es in den beiden letzten Jahren in den neuen Bundesländern 2 Millionen Arbeitslose mehr gegeben, und deshalb sage ich all denjenigen Dank, die nicht geredet haben, sondern gearbeitet haben, besonders auch den Mitarbeitern der Bundesanstalt für Arbeit für ihre Leistung.Deshalb, Herr Kollege Schreiner, sollten Sie es nicht so hinstellen, als sei nichts geschehen. Es ist soviel im Arbeitsmarkt geschehen wie nie zuvor, und das muß auch einmal anerkannt werden.
Als ich mein Amt als Arbeitsminister angetreten habe, ist in Nürnberg nur jede vierte Mark für den Arbeitsmarkt ausgegeben worden, heute jede zweite Mark — jede zweite Mark!
— Ich wiederhole: damals j ede vierte Mark, heute j ede zweite Mark.
Allein für ABM werden jetzt 12 Milliarden DM ausgegeben, und da stellt sich Herr Schreiner hin und will der deutschen Öffentlichkeit klarmachen, wir würden nichts tun. 12 Milliarden DM für ABM, 16,8 Milliarden DM für Fortbildung und Umschulung, und mit einem kleinen Federstrich rhetorischer Höchstleistung wird das alles beiseite geschoben. Das muß doch erst einmal aufgebracht werden!
Auch im Nachtragshaushalt stehen Mittel für Fortbildung und Umschulung.Ich will hinzufügen, meine Damen und Herren: Die Arbeitsmarktpolitik kann nicht alles leisten; sie will es noch nicht einmal. Es wäre nämlich ausgesprochen kurzsichtig. Wir können doch nicht aus der alten
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Bundesminister Dr. Norbert BlümDDR-Planwirtschaft jetzt eine große neue ABM-Gesellschaft machen.
Das ist die Lösung der SPD: Wir stellen alles auf ABM um!
— Meine Damen und Herren, ich überlasse das Urteil den Zuhörern. Die eigentliche Aufgabe ist, Dauerarbeitsplätze zu schaffen, neue Arbeitsplätze auf Dauer. ABM ist doch immer nur ein Übergang. Wollen Sie denn die Arbeitnehmer mit ABM abspeisen?
Das ist immer die Verengung, als könne die Sozialpolitik alle Probleme lösen.
Fortbildung und Umschulung, das ist doch kein Selbstzweck, meine Damen und Herren. Es muß doch auch gefragt werden: Für was Fortbildung und Umschulung?
Wir haben 2 Millionen Menschen in den neuen Ländern, die seit 1991 bereits in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen eingetreten sind. Wenn wir das hochrechnen, dann beginnt der Kreislauf; dann sind die ersten schon bald wieder an der Reihe, zum zweiten Mal Fortbildung und Umschulung in Anspruch zu nehmen.
Es geht doch darum, sinnvoll, verwertbar fortzubilden. Vielleicht brauchen wir weniger Computerbearbeiter und mehr Maurer. Die Frage muß doch auch einmal gestellt werden. Fortbildung und Umschulung müssen doch auch zu einer Einfügung in den Arbeitsmarkt führen.
Lassen Sie mich hinzufügen: Auch in Westdeutschland beobachte ich zunehmend, daß sich viele Unternehmen von ihren Qualifizierungspflichten, die sie über Generationen im Betrieb erfüllt haben, dadurch befreien, daß sie das alles an die Bundesanstalt abschieben. Sollen wir das hinnehmen? Da muß doch ein Riegel vorgeschoben werden. Morgens gegen Lohnnebenkosten zu schimpfen und sie nachmittags zu erhöhen, das halte ich für doppelzüngig. Auch dies gehört zur kritischen Bilanz.
Dann stellt sich Kollege Schreiner hier her und verlangt die Ausweitung des § 249 h AFG auf den Westen. Lieber Kollege Schreiner, darüber kann man reden;
es ist in der Tat ein sinnvolles Instrument. Ich will nur festhalten: Er wirft uns Phantasielosigkeit vor, und seine Phantasie beschränkt sich darauf, das Instrument, das die Koalition für den Osten vorgeschlagen hat, jetzt auf den Westen auszudehnen. Herzlichen Dank für dieses Kompliment!
Jetzt kommt es aber: Nun verkündet der Parteivorsitzende der SPD, Herr Engholm, daß unter Leitung von Oskar Lafontaine jetzt eine Arbeitsgruppe ein neues Programm zur Bekämpfung der steigenden Arbeitslosigkeit entwickelt. Guten Morgen, Herr Engholm; jetzt wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt.
Wir haben gehandelt!Jetzt schlägt er Gemeinschaftsarbeiten vor. Da kann ich zum zweitenmal nur sagen: Guten Morgen, Herr Engholm. Diese Möglichkeit gibt es im Sozialhilfegesetz seit eh und je. Herr Engholm soll erst einmal in Schleswig-Holstein machen, was er in Bonn vorschlägt; das wäre der erste Beitrag.
Was allerdings Gemeinschaftsarbeit an Stelle von ABM anbelangt, so stößt das klar an die Grenze der Verfassung. Darauf haben das Justizministerium und das Innenministerium hingewiesen. ABM ist ein Arbeitsverhältnis und hat mit Gemeinschaftsarbeit nichts zu tun.Deshalb frage ich Sie, Herr Schreiner: Wollen Sie eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft? Sollen die starken Arbeitnehmer unter dem Schutz des Tarifvertrags stehen und die schwächeren in die Gemeinschaftsarbeit abgedrängt werden?
Das ist eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft auf Vorschlag des Parteivorsitzenden Engholm.
Da muß ich die Gewerkschaften dafür in Schutz nehmen, daß sie sich gegen Engholm wenden und von dem SPD-Sprecher Schreiner kritisiert werden.
Die Gewerkschaften haben keine Kritik verdient, wenn sie den Tarifvertrag gegen Schreiner und Engholm verteidigen.
Jetzt beleidigen Sie bitte nicht die Gewerkschaften. Die haben erkannt, daß dies ein Angriff auf den Tarifvertrag ist.
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Bundesminister Dr. Norbert BlümIch füge hinzu: Richtig ist, daß bei ABM ein Anreiz vorhanden sein muß, in den ersten Arbeitsmarkt umzusteigen. Deshalb begrüße ich es, daß die IG Bergbau und die IG Chemie im Zusammenhang mit § 249 h AFG eigene Tarife gebildet haben. Das ist der richtige Weg. Herr Schreiner, setzen Sie sich mit dem Vorwurf des DGB auseinander, dem ich mich ausdrücklich anschließe: Ihr Kanzlerkandidat schlägt eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft vor.
Mich quält schon die Frage, wie neue Arbeitsplätze geschaffen werden können. Abseits aller konjunkturellen Schwierigkeiten: Was machen wir eigentlich mit den Arbeitnehmern, die in der Hochleistungstechnologie nicht unterzubringen sind? 3 Millionen Arbeitsplätze für Ungelernte fallen in den nächsten acht Jahren weg.
Da, glaube ich, ist die Gesellschaft zu mehr Kreativität aufgefordert.Da bin ich Herrn Jagoda, meinem früheren Kollegen, dankbar, daß er darauf hinweist, daß gerade im Bereich Pflege ein neues Beschäftigungsfeld auftaucht.
Wir diskutieren hier nicht mit Scheuklappen. — Sie erschrecken ja, wenn Sie mir einmal Beifall klatschen müssen. Klatschen Sie ruhig Beifall! — Wir brauchen auch die Pflege. Sie ist auch beschäftigungspolitisch wirksam.
Herr Minister, ich darf Sie darauf hinweisen, daß Sie natürlich so lange reden können, wie Sie wollen, daß dies nach unserer Geschäftsordnung aber Konsequenzen hat.
Frau Präsidentin, dann will ich diesen Gedanken noch zu Ende führen.
Ich kann, Herr Minister, dann nicht verhindern, daß die Konsequenzen eintreten.
Mein letzter Satz ist: Wir werden im Arbeitsmarkt unsere Pflicht erfüllen. Wir sollten hier nicht Schwarzen Peter spielen. Ich lade alle ein, Wirtschaft, Gewerkschaften, Arbeitgeber und Bundesregierung, diese Koalition und die Opposition, den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit mit aller Kraft zu führen.
Das Wort hat nun die Kollegin Renate Rennebach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Blüm, auf Ihre Rede, von Halbwahrheiten, von Halbweisheiten, von Weihrauch geprägt, offensichtlich in einer Klosterzelle und nicht in der Realität dieser Welt entstanden,
möchte ich eigentlich nicht näher eingehen. Nur zu zwei Sachen möchte ich kurz etwas bemerken. Erstens. Subventionierte Arbeit ist etwas anderes als untertarifliche Bezahlung.
Zweitens haben wir schon lange projektbezogene Arbeitsmarktpolitik gefordert, so daß es überhaupt nichts Neues ist, daß wir § 249 h AFG auf die alte Bundesrepublik Deutschland ausweiten wollen, natürlich zu anderen Konditionen, als Sie es machen. Wir wollen hier z. B. keine untertarifliche Bezahlung und keine Zwangsteilzeit.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, wir Sozialdemokraten haben im Mai 1991, als es um den Willen der Bundesregierung ging, die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern allein aus den Beiträgen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu finanzieren, immer wieder deutlich gesagt, daß dies nicht ausreichend war. Wir haben zugleich und ebenso deutlich einen Arbeitsmarktbeitrag aller Menschen mit Einkommen in dieser Republik gefordert, weil wir der Überzeugung waren, daß nur so die damals erst noch drohende Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern hätte bewältigt oder verhindert werden können. Seit damals reden wir Sozialdemokraten weiterhin davon, daß mehr finanzielle und vor allem kreativ eingesetzte Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik verwendet werden müssen. Sie dagegen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben diese unsere Vorschläge schlicht vom Tisch gefegt und statt dessen im Zuge der AFG-Novelle sogar noch die bis dato bestehenden Möglichkeiten für eine aktive Arbeitsmarktpolitik bis auf ein Alibivolumen auf dem Waigelschen Altar geopfert.
Wenn ich mir dann heute auf der einen Seite die existierende Massenarbeitslosigkeit, die Sie selbst nun wirklich nicht mehr leugnen können,
dazu die turnusmäßigen Horrorzahlen über die Defizite der Bundesanstalt für Arbeit ansehe und auf der anderen Seite Ihre krampfhafte Hilflosigkeit, Ihre politische Handlungsunfähigkeit und konzeptlose Flickschusterei sehe, dann muß ich Ihnen sagen,
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Renate Rennebachmeine Damen und Herren von der Koalition: Sie haben nichts, aber auch wirklich nichts verstanden.
Sie sind im Gegenteil auf dem besten Weg, in diesem Land allergrößtes soziales Unheil anzurichten, und Sie haben als Antwort nichts als pöbeln hier im Parlament und sich totlachen über eine ernsthafte Angelegenheit.
Die Misere, in die Sie uns mit Ihrer Politik hineingeritten haben, ist geradezu unglaublich:
einerseits Massenarbeitslosigkeit von in einigen Regionen sage und schreibe mehr als 50 % und andererseits zig Milliarden große Löcher im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit. Was steht dem an Arbeitsmarktpolitik gegenüber, die diesen Namen auch wirklich verdient? Von Herrn Blüm habe ich nichts gehört, sondern nur ein ständiges Herumgerede über Erblasten, was nun wirklich keinem hilft. Dies hilft ebensowenig wie Ihre Angriffe auf das Tarifvertragssystem und Ihr abgöttischer Glaube an die wundersamen Heilkräfte der Marktwirtschaft.
— Wer schreit, hat unrecht, meine Herren von der F.D.P.Nun ist diese Politik, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, von dieser Stelle aus — und nicht nur von dieser Stelle aus — schon oft und zu Recht als verantwortungslos bezeichnet worden. Ich möchte deshalb heute exemplarisch nur einen Teilbereich herausgreifen und an der dramatischen Entwicklung der Erstausbildung junger Menschen deutlich machen, welche Misere Sie verursacht haben. Systematisch sind die Ausbildungskombinate der ehemaligen DDR zerschlagen worden, so daß junge Menschen, die es nicht gewohnt waren, sich um Ausbildungsplätze kümmern zu müssen, jedenfalls nicht in dieser Menge, keine Perspektive haben.
Die Zahlen sprechen für sich. Wie wir gestern in Nürnberg erfahren haben, gab es 1991 noch 38 000 überbetriebliche Ausbildungsplätze, 1992 waren es nur noch 20 000,
weil es keine ausreichende Zahl an Plätzen in denBetrieben gab. Davon waren 16 000 für Marktbenachteiligte und 4 000 für aus persönlichen GründenBenachteiligte. Schon 1992 haben 41 000 Jugendliche in den neuen Ländern keinen Ausbildungsplatz gefunden, wobei von diesen einige in der alten Republik untergekommen sind. In diesem Jahr sind es rund 51 000 Jugendliche, die noch nicht versorgt sind.
Und was machen wir dann mit unseren Jugendlichen?Ich will Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nicht schon wieder den Teufel einer verschwindenden Demokratie an die Wand malen.
Aber auch hier und besonders in bezug auf die jungen Menschen haben wir eine große Verantwortung. Sicherlich ist dies nur ein Teil einer neu zu überdenkenden Arbeitsmarktpolitik; doch sollten leere Kassen nicht auch für leere Köpfe sorgen.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, Sie sind gefragt, neue Wege in der Arbeitsmarktpolitik zu gehen. Wir haben Vorschläge gemacht, auf die in früheren Debatten bereits hingewiesen wurde.
Tun Sie endlich was, handeln Sie! Ich danke Ihnen.
Nun kommt der Kollege Dietrich Austermann zu Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist für jedermann offenkundig, daß die Debatte, die zur Aktuellen Stunde von der SPD angestrengt worden ist, eine Debatte geworden ist, die sich gegen sie selber gerichtet hat.
Das hat zum einen der Bundesvorsitzende der SPD, zum anderen die Art und Weise, wie hier geredet wird, deutlich gemacht. Ich denke, sowohl Herr Schreiner wie seine Nachfolgerin haben schon durch die Wortwahl deutlich gemacht: Ihnen geht es eigentlich nicht um die Arbeitslosen,
um die Probleme des Arbeitsmarktes, sondern um andere Dinge.
— Ich sage es gleich, worum es geht; wenn Sie dann ausnahmsweise zuhören, werden Sie es feststellen.Ich meine, es ist überhaupt nicht angemessen, wenn man den Eindruck erweckt, es sei in den letzten Jahren im Bereich des Arbeitsmarktes nichts gesche-
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Dietrich Austermannhen. Der Bundesarbeitsminister hat darauf hingewiesen: Im letzten Jahr sind 54 Milliarden Mark für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben worden. Und hier wird der Eindruck erweckt, es sei nichts geschehen!Ich nehme das Beispiel der Lehrlinge, das Sie angesprochen haben. Im Westen sind 20 % der Lehrstellen unbesetzt, im Osten gibt es einen Ausgleich, etwa so viele Lehrstellen wie Bewerber. Im September wird -- wie im letzten Jahr — eine positive Bilanz zu ziehen sein; davon können Sie ausgehen.
— Was auch verdrängt wird — das ist ein gutes Stichwort, Frau Kollegin —, ist ja die Tatsache, daß in den letzten Jahren durch die erfolgreiche Politik auch dieser Bundesregierung zusätzliche Millionen von Menschen einen Arbeitsplatz bekommen haben, die ihn vor vielen Jahren, als Sie noch regiert haben, nicht hatten. Das heißt, drei Millionen mehr haben heute einen Arbeitsplatz, die ihn vorher nicht hatten.
Darüber wird viel zu wenig geredet. Das hängt mit der stärkeren jungen Generation, mehr Frauen und Ausländern zusammen, mit vielen anderen Dingen auch und beschränkt sich auf den Westen.
— Können Sie nicht verhindern, daß die Dame permanent das Nachdenken erschwert, weil sie vor sich hin brüllt? Vielleicht kann sie nachher, wenn wir alle weg sind, noch fünf Minuten Redezeit bekommen. — Ich glaube, daß man in der gegenwärtigen Situation deutlich machen muß, daß tatsächlich im Osten — das werden die jüngsten Arbeitsmarktzahlen in der nächsten Woche zeigen — eine Veränderung zum Positiven eingeleitet worden ist und daß die jetzige finanzielle Belastung, die dann natürlich den Bundeshaushalt trifft, vor allen Dingen durch den Konjunktureinbruch im Westen hervorgerufen worden ist.Die jüngsten Eckwerte zwingen zu einer Korrektur der finanziellen Rahmendaten der Bundesanstalt für Arbeit. Wir werden diese 18 Milliarden Mark im Nachtragshaushalt bereitstellen, Herr Schreiner, genau wie zwei Milliarden Mark mindestens zusätzlich für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das heißt, dieser zusätzliche Betrag wird nicht von den Beitragszahlern, sondern von den Steuerzahlern erbracht. Soviel zum Thema Arbeitsmarktabgabe.Wenn Sie das Thema hier wieder aufwärmen, dann sagt man sich: Bringen Sie doch einmal Klarheit in Ihre eigenen Reihen! Der Herr Engholm hat nach dem Abschluß des Solidarpaktes gesagt, daß die Arbeitsmarktabgabe nie sein Vorschlag war. Er war der Meinung, das hätte auch zusätzlich die Konjunktur belastet. Sie kommen jetzt wieder damit her. Gestern erzählt er etwas anderes über andere Maßnahmen. Bringen Sie doch bitte mal Klarheit in Ihre eigenen Reihen!
Ich glaube, man muß deutlich machen, daß es auch ein paar Punkte gibt, Fehlentwicklungen in der Bundesanstalt für Arbeit, Mitbestimmung ohne Mitverantwortung zu Lasten Dritter, wie der Kollege Fuchtel gesagt hat. Dies kann so unbegrenzt nicht weitergehen.Ich möchte etwas zu den haushaltsmäßigen Auswirkungen sagen. Eine Neuverschuldung von knapp 70 Milliarden Mark, wie sie sich jetzt mit dem Nachtragshaushalt 1993 ergeben wird — das hatten wir übrigens für das Jahr 1991 ursprünglich vorgesehen und sind dann jeweils Jahr für Jahr um 20 bis 30 Milliarden unter dieser geplanten Neuverschuldung geblieben —, muß die einmalige Ausnahme bleiben.
Sie kann auf Dauer den Kapitalmarkt, die Zinsen und damit die Arbeitsplätze nicht unbeeinflußt lassen. Deshalb muß weitergedacht werden, muß auch nach dem Solidarpakt weiter überlegt werden, ob aus Pflichtleistungen Kann-Leistungen werden müssen, ob das Arbeitsförderungsgesetz weiter novelliert werden muß und was mit dem Unterhaltsgeld ist. Man kann sich nicht einerseits dagegen wenden und andererseits den zweiten Arbeitsmarkt mit niedrigen — Herr Engholm hat ausdrücklich gesagt: untertariflichen — Löhnen fordern.Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß wir eine ganze Reihe von Maßnahmen eingeleitet haben, die durchaus auch Hoffnung und positive Perspektiven ermöglichen. 65,8 Milliarden Mark beträgt das Investitionsvolumen des Bundeshaushaltes. Kommunale Investitionspauschale, Aufstockung des KfW-Programms, zusätzliche ABM-Mittel, Altschulden-Regelung für den Wohnungsbau, Standortsicherungsgesetz, Solidarpakt — dies alles schafft Zuversicht dafür, daß künftig bessere Bedingungen gegeben sind und daß wir vor allem einen Weg finden, die Arbeitslosigkeit deutlich zu drosseln. Das werden wir in Zukunft fortsetzen. Sie können davon ausgehen, daß es dann in absehbarer Zeit — nach dem Konjunktureinbruch — wieder heißt: Auch im Westen nimmt die Zahl der Arbeitsplätze bei hoher Beschäftigung deutlich zu.
Dafür haben wir die richtigen Schritte eingeleitet und werden im Bundeshaushalt dafür in den nächsten Wochen die erforderlichen Maßnahmen treffen.Ich würde mich freuen, wenn alle Kollegen im Haushaltsausschuß diese Politik unterstützten.Herzlichen Dank.
Nun spricht der Kollege Josef Grünbeck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, der Verlauf dieser Debatte kann im Grunde genommen niemanden zufriedenstellen; denn es wird uns nicht helfen, dieses schwierigste Problem unserer ganzen sozialen Rechtsstaatlichkeit zu lösen, wenn wir nur
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Josef Grünbeckgegenseitige Schuldzuweisungen suchen und nicht auf den Kern der Sache kommen.
Meine Damen und Herren, wir haben eine weltweite Rezession. Das ist unbestritten. Die Rezession hat sich in Europa noch verfestigt durch Entwicklungen im Osten, und ich kann nur zwei Ereignisse schildern:Vergangene Woche war hier in Bonn der Vorstandsvorsitzende der Firma Siemens. Er hat in der Bayerischen Landesvertretung einen Bericht erstattet, daß die Firma jetzt 487 000 Menschen beschäftigt, davon zwei Drittel im Ausland. Wissen Sie denn, warum?Gestern waren die Vertreter der Werften dran. Sie haben uns zugestanden, daß die Subventionen allein nicht das Entscheidende sind, was die weltweite Verzerrung des Wettbewerbs und die Arbeitslosigkeit in den Küstenregionen anlangt, sondern daß wir in der Bundesrepublik in der Bruttoarbeitszeit mit führenden Nationen wie Süd-Korea oder Japan einfach nicht mehr Schritt halten können.
Japan hat 2 330 Nettoarbeitsstunden pro Jahr, Korea 2 300 und wir noch 1 650 Stunden.
— Wissen Sie, ich würde Ihnen dringend empfehlen: Schreien Sie nicht zuviel, denken Sie ein bißchen mehr nach, wie wir substantiell das schwere Problem der Arbeitslosigkeit aus der Welt schaffen können.
Wir können meines Erachtens national überhaupt nichts anderes tun, als zunächst einmal den Mißbrauch sozialer Leistungen zurückzudrängen und unter Kontrolle zu bringen.
Wenn Sie das noch nicht eingesehen haben, dann kann ich Ihnen als mittelstandspolitischer Sprecher meiner Fraktion nur sagen: Der Mittelstand trägt jetzt noch einen großen Teil der Vollbeschäftigung im Bau-und im Ausbaugewerbe und in einigen anderen Bereichen. In der Ausbildung ist er absolute Spitze. Aber Sie sagen dauernd, Sie wollen mehr ABaßnahmen. Wenn Sie noch mehr AB-Maßnahmen fordern, werden Sie den Mittelstand in der ordentlichen Beschäftigung zurückdrängen und die Ausbildungsplätze natürlich kaputtmachen.
Sie können doch nicht ordnungspolitisch wegtreten! Die Investitionen — wo fließen sie denn? Und können Sie denn irgendwo anders etwas machen? Sie können doch nicht glauben, daß Sie die strukturelle Krise unserer Beschäftigung durch mehr Arbeitsabgaben oder durch Mehrbelastung der Unternehmen lösenkönnen! Das können Sie doch nicht ernsthaft wirklich und wahrhaftig in die Welt setzen wollen!
Ich sage Ihnen nur, dem Herrn Engholm würde ich freundliche Grüße bestellen. Sie brauchen seinen Plan nicht! Ich sage Ihnen, weil ich von der Bundesanstalt für Arbeit höre, daß heute noch jährlich 400 000 bis 500 000 Leute die ihnen zugewiesene Arbeit aus Gründen, die nicht alle überprüfbar und durchschaubar sind, ablehnen: Ändern Sie doch endlich mit uns gemeinsam die Zumutbarkeitsklausel, damit ein Mensch auch die Arbeit annimmt, die er zugewiesen bekommt und die ihm auch wirklich zumutbar ist.Wir haben heute beispielsweise noch 200 000 offene Stellen im Montagebereich. Wir bekommen kaum noch Monteure für das Auslandsgeschäft. Ja, wo wollen Sie denn montieren, wenn Sie im Inland nichts mehr verkaufen können? Dann müssen Sie Montageplätze für das Ausland finden! Machen Sie das doch mal. Herr Schreiner, ein Monopol der sozialen Verpflichtung hat weder die SPD noch der Staat; es gibt kein Monopol für die soziale Verpflichtung,
es gibt für uns alle nur eine Verpflichtung: dieses schwerwiegende Problem der zunehmenden Arbeitslosigkeit gemeinsam zu lösen.
Sie tun wirklich in all Ihren Redebeiträgen so, als könne der Bundesarbeitsminister, die Bundesanstalt für Arbeit oder irgend jemand anders das Problem der Beschäftigung allein lösen.
Das Beschäftigungsproblem besteht in der Wirtschaft. Die Hauptlast trägt der Mittelstand. 80 % aller Menschen sind in mittelständischen Unternehmen beschäftigt. Der soziale Friede ist kein Monopol von irgend jemand. Der soziale Friede ist ein Eckpfeiler unserer Gesellschaftsordnung. Dafür und für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit sollten wir mit großer Verantwortung gemeinsam arbeiten.
Nun spricht der Kollege Karl Diller.
Frau Präsidentin! Der Kollege Grünbeck hat so nüchtern und sachlich angefangen, dann aber gab es irgendwo einen Schnitt.
Herr Grünbeck, denken Sie einmal darüber nach, ob Sie Auslandsmonteure vielleicht deswegen nicht finden, weil das Arbeitsamt wegen gestrichener Fort-bildungs- und Umschulungsmaßnahmen nicht mehr in der Lage ist, die Leute entsprechend zu qualifizieren.
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Karl DillerOffenbar sind Sie auch nicht, Herr Grünbeck, in Kenntnis der Tatsache, daß ABM im Westen fast auf Null stehen.
Lassen Sie mich deshalb als Haushaltspolitiker folgendes feststellen: Die Bundesregierung hat im Dezember letzten Jahres erkennbare wirtschaftliche Entwicklungen nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Ihr Zickzack-Kurs hat jetzt fatale Folgen für den Bundeshaushalt.
Im übrigen sollte die Bundesregierung künftig auf gar keinen Fall mehr einen Beschluß an einem 13. eines Monats fassen. Am 13. Mai letzten Jahres hat sie den Beschluß gefaßt: Es gibt zukünftig keinen Bundeszuschuß mehr an die Bundesanstalt. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es die größte Lachnummer in der Republik. Im letzten Jahr haben Sie noch 14 Milliarden DM überbrücken müssen. Ich sage Ihnen voraus, daß in diesem Jahr die 18 Milliarden DM noch überschritten werden.
Die wirtschaftspolitische Inkompetenz und Ignoranz der Bundesregierung führen zu einem ZickzackKurs in der Arbeitsmarktpolitik. Dieser Minister wies die Bundesanstalt im Dezember letzten Jahres an: Kürzt bei Fortbildung und Umschulung 2,7 Milliarden DM. Jetzt sagt er: Wir brauchen 2 Milliarden DM zusätzlich. Im Dezember wies er die Bundesanstalt an: Kürzt bei ABM 1,7 Milliarden DM. Jetzt sagt er: Wir brauchen 2 Milliarden DM. Dies ist, wie wir sagen: rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, aber keine ordentliche Politik.
Als Haushaltspolitiker stelle ich zudem fest: Dieser Minister hat das Chaos im Haushalt der Bundesanstalt selbst zu verantworten. Er führt die Fachaufsicht.
Ich muß sagen, Herr Minister: Wenn es bei Ihnen Mitte der achtziger Jahre eingerissen ist, daß es bei der Bundesanstalt kein EDV-System, kein Mittelbewirtschaftungssystem gibt, es nichts zur wirksamen laufenden Haushaltskontrolle gibt, wie es der Rechnungshof feststellt, dann ist das ein Skandal.
Wieso gab es unter Ihrer Verantwortung bei der Bundesanstalt keine Übersicht über die bei AB-Maßnahmen je nach Wirtschaftszweig angewandten Tarifverträge und die Entgeltstruktur innerhalb der Maßnahmen?Im übrigen bewilligte die Bundesregierung der Bundesanstalt nicht das notwendige Personal. Die kuriose Folge war: Abordnungen in den Osten führten zu Nichtabrechnungen von ABM hier. Dies führte zu einer Fehlschätzung dessen, was man im nächstenHaushaltsjahr an ABM-Mitteln brauchen würde. Fehlendes Personal führte zu einer mangelhaften Mißbrauchsbekämpfung beim Einsatz von Arbeitskräften aus Mittel- und Osteuropa zu Lasten unserer Beschäftigten.
Die Bundesregierung fährt einen Zickzack-Kurs, der zu immensen Problemen führt. Das Ende des „Aufschwung-Ost-Programms" wurde nicht gleitend abgefedert. Im Februar diesen Jahres hat man deswegen bei der Bundesanstalt Notmaßnahmen ergriffen, da 120 % aller ABM-Mittel für dieses Jahr schon im Februar belegt waren. Dies ist ein Beweis für die fehlende Haushaltskontrolle und die fehlende Fachaufsicht.
Ähnliches droht übrigens 1994. Im Sommer wird alles abstürzen, weil die Anschlußmaßnahmen, die man im Dezember ergriffen hat, im Sommer auslaufen werden. Diesen Absturz werden Sie im nächsten Jahr haben, wenn Sie nicht das Sonderprogramm dieses Jahres im nächsten Jahr weiterführen. Die Mittelbelegung allein aus diesem Sonderprogramm wird im nächsten Jahr 3 bis 4 Milliarden DM betragen. Als Haushälter stelle ich außerdem fest:
Die Bundesregierung muß endlich richtige Wirtschaftspolitik betreiben und nicht sagen, Wirtschaftspolitik sei Sache der Wirtschaft.
Dann könnten wir das Wirtschaftsministerium abschaffen. Dazu gehört auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Von diesen knapp 19 Milliarden DM — man muß auch die Arbeitslosenhilfe in Höhe von 1,1 Milliarden DM dazurechnen — sind nur 10 % für eine aktive Beschäftigungspolitik. Laßt uns doch diese zusätzlichen Milliarden, die wir jetzt zur Verfügung stellen, zur Beschäftigung in Projekten von öffentlichem Interesse, insbesondere im Umweltbereich, nutzen. Stellen wir Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und die eingehenden Beiträge der dadurch zusätzlich Beschäftigten dafür bereit. Lassen wir die Länder, Gemeinden und Projektträger die Komplementärmittel finanzieren.Unser Vorschlag hat sogar für einen Haushaltspolitiker unglaublichen Charme. Es entsteht weder beim Bund noch bei der Bundesanstalt ein finanzieller Mehrbedarf. Menschen kommen zusätzlich in Arbeit. Es werden Werte geschaffen, die in den Regionen strukturverbessernd wirken.Es ist im übrigen an der Zeit, die strukturellen Probleme der Bundesanstalt zu beseitigen. In guten Zeiten steigen die Einnahmen. Dann kann mehr für ABM und FuU gemacht werden. In schlechten Zeiten sinken die Einnahmen, dann werden ABM und FuU gestrichen und zusätzlich Arbeitslosigkeit erzeugt.Unser Vorschlag ist, ein neues arbeitsmarktpolitisches Instrument einzuführen: Die Arbeitsmarktabgabe. Ich zitiere eine neutrale Quelle:
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Karl DillerDie Chance, durch eine Arbeitsmarktabgabe für Beamte, Freiberufler und Selbständige dem— zusätzlichen Schuldenmachen —zu entgehen — und zugleich für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen —, läßt die Koalition mit Rücksicht auf einen getreuen Wählerstamm weiter ungenutzt.So am Wochenende die „Süddeutsche Zeitung" . Sie hat diesen Beitrag mit der Überschrift „Blind vor einer Katastrophe" versehen. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ich möchte aus gegebenem Anlaß darauf hinweisen, daß wir uns in einer Aktuellen Stunde mit einer Redezeit von fünf Minuten befinden.
Nun spricht der Kollege Franz Romer.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Das Thema dieser Aktuellen Stunde ist nicht erfreulich. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt hat sich auf Grund der Konjunkturschwäche verschlechtert. Diese Entwicklung stellt auch die Bundesanstalt für Arbeit vor finanzielle Probleme. Ein Defizit ist unvermeidbar. Letzte Woche wurde dieses Defizit für 1993 auf 18 Milliarden DM geschätzt, womit nicht gesagt ist, daß dies eine verbürgte Obergrenze darstellt. Nun hoffe ich nicht, daß die SPD mit dieser Aktuellen Stunde der Bundesregierung die Schuld an der Finanzlage der BA anlasten möchte. Dies wurde bereits erfolglos durch eine führende Gewerkschaftsvertreterin versucht. Aber diese Aktuelle Stunde gibt uns Gelegenheit, einmal grundsätzlich über die zukünftigen Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit nachzudenken.Die BA hat im Laufe der Jahre eine Reihe von Aufgaben übernommen, die dem eigentlichen Zweck ihrer Tätigkeit wesensfremd sind. Ein Abspecken in diesen Bereichen kann und muß überlegt werden. Das heißt in erster Linie: Das finanzielle Volumen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik darf nicht ewig — wie in diesem Jahr — die Hälfte des Haushaltsvolumens der BA ausmachen. Damit wir uns nicht mißverstehen: Für den Übergang ist die aktive Arbeitsmarktpolitik in dieser Größenordnung ungeheuer wichtig.Ich habe auch die 2 Milliarden DM begrüßt, die durch den Solidarpakt zusätzlich bereitgestellt wurden. Das wirtschaftliche Zusammenwachsen Deutschlands gibt es eben nicht zum Nulltarif.
Ein bedingter Ausbau der ABM im Westen war zu begrüßen, wenn die ABM als Brücke zum normalen Arbeitsleben dienen sollten. Je mehr Brücken, desto mehr Zugänge.Für eine Übergangszeit sind auch die hohen Zahlen im Osten vertretbar, wenn so für etwa zwei Millionen Menschen die notwendige Umstrukturierung sozial verträglich abgefedert wird. Aber wer ernsthaft für die Zukunft des wiedervereinten Deutschlands plant, kann nicht wie Herr Engholm wollen, daß wir offiziell einen staatlich subventionierten zweiten Arbeitsmarkt einrichten.
Wir würden die Bundesanstalt für Arbeit zum größten Einzelarbeitgeber machen. Das wäre die Einführung der Staatswirtschaft durch die Hintertür der Arbeitsmarktpolitik.
Zur Erinnerung, meine Damen und Herren von der SPD: ABM steht für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, nicht für Arbeitsbeschaffungsmonopol.
Wenn Herr Engholm also eine Art zweiten Arbeitsmarkt, einen Niedriglohnsektor für öffentlich organisierte Gemeinschaftsarbeit vorschlägt, bewegt er sich in die vollkommen falsche Richtung. Oder glauben Sie, eine subventionierte, künstliche Vollbeschäftigung könne auf Dauer produktive Arbeitsplätze ersetzen?
Im Gegenteil: Die Subventionierung eines zweiten Arbeitsmarkts ist auf Dauer wirtschaftlich untragbar und würde den Standort Deutschland extrem gefährden.
Dieser SPD-Hang zur Augenwischerei hat Tradition. Ob bei Kurzarbeit Null oder bei der Verlängerung von ABM, die SPD bevorzugte den kurzfristigen Effekt gegenüber der langfristigen Sanierung. Ich warne davor, durch das Gerede von einem gespaltenen Arbeitsmarkt und einer Zweidrittelgesellschaft Unsicherheit zu verbreiten. Dies führt nur zu Sozialneid.Meine Damen und Herren, wenn wir ernsthaft sparen wollen, müssen wir die vorhandenen Mittel der BA — etwa für Maßnahmen zur Fortbildung und Umschulung — noch stärker als bisher an Arbeitsmarkt und wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichtet vergeben. Ich schließe auch nicht aus, daß der notwendige Sparkurs zur Abschaffung gewohnter Einrichtungen führen kann. Wir müssen überall kürzen, und das auch da, wo es wehtut.Eine Straffung der Aufgaben der BA oder Kürzungen bedeuten aber keinesfalls, daß die Arbeitslosenversicherung als solidarische Sozialversicherung gefährdet wäre; im Gegenteil: Wenn sich die BA wieder auf ihre Kernaufgaben konzentrieren kann, ist sie stabiler. Unsere solide Finanz- und Haushaltspolitik wird die Arbeitslosenversicherung leistungsfähig erhalten und dafür sorgen,
daß sie nicht durch eine Aufblähung geschwächt und unberechenbar wird.Eine Erholung des Arbeitsmarkts und damit auch der Finanzlage der BA kann nicht durch die aktive
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13256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Franz RomerArbeitsmarktpolitik allein erfolgen. Dies sollte sich auch Herr Engholm vor Augen halten. Wer in schreienden Farben ein Schreckensbild von sieben Millionen Arbeitslosen an die Wand malt, produziert zwar Schlagzeilen, trägt aber nichts zu einer ernsthaften Lösung des Problems bei.
Wie so oft wirkt Herr Engholm auch hier, als ob es ihm eher auf den Effekt als auf die Fakten ankäme. So wird man vom Nordlicht zum Irrlicht.
Die Bundesanstalt für Arbeit wird die ihr gestellten Aufgaben weiterhin erfolgreich lösen, aber sie wird dies für die Zukunft um so einfacher tun können, wenn sie sich auf ihre eigentlichen Kernaufgaben konzentrieren kann. Darauf sollten wir hinarbeiten.Ich bedanke mich.
Nun spricht der Kollege Konrad Gilges.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es faszinierend, Herr Bundesminister Blüm, wie es Ihnen mit einer geschickten Demagogie gelungen ist, von der eigentlichen Fragestellung dieser Aktuellen Stunde abzulenken, nämlich von der Frge, was mit den 18 Milliarden DM Defizit bei der Bundesanstalt und mit der Steigerung der Arbeitslosenzahlen auf 3,5 Millionen in diesem Jahr ist. Sie haben es fertiggebracht, darauf hier in zehn Minuten keine Antwort zu geben.
Ich frage mich: Weshalb sind Sie eigentlich Bundesminister,
wenn Sie diesem Parlament auf berechtigte Fragen nicht antworten.
Das zeigt Ihre zur Zeit bestehende Konzeptionslosigkeit in dieser Frage.
Sie sind konzeptionslos. Die Schnelligkeit Ihrer Novellen — von der 8. zur 9. und zur 10. — zeigt, daß bei Ihnen Konzeptionslosigkeit besteht. Das beklagen wir alle.
Es ist keine Konzeption zu erkennen. Man kann das an der 10. Novelle und an der Meldepflicht deutlich machen. Das Ergebnis dieser Meldepflicht ist, daß unter dem Strich nicht mehr Geld hereinkommt, aber die Arbeitsvermittlung lahmgelegt wird. Wenn Sie einmal in ein Arbeitsamt gingen,
würden Sie schnell feststellen, daß die Vermittler nicht mehr in der Lage sind, Beratungstätigkeiten wahrzunehmen — weder beim Arbeitnehmer, d. h. bei dem Arbeitslosen, noch beim Unternehmer. Das war ein wichtiger Bestandteil des AFG und der Arbeitsvermittlung. Sie sollte sich nämlich von dem unterscheiden, was in den 50er und 60er Jahren der Fall war, daß nämlich nur gemeldet wurde und man sich einen Stempel abholte. Die Arbeitslosen sollten vielmehr beraten werden. Sie haben dies mit Ihrer Meldepflicht boykottiert. Sie haben mit Ihrer Meldepflicht ein organisiertes Chaos in den Arbeitsämtern hergestellt.
Statt mehr Personal einzustellen, haben Sie für 1 600 Beschäftigte bei der Bundesanstalt einen KWVermerk gemacht. Das heißt, die Bundesanstalt ist nicht mehr in der Lage, ihre gesetzlichen Aufgaben wahrzunehmen, weil Sie hier eine irre Diskussion führen, die keinen Sinn hat und die nicht notwendig ist.Ich will zum zweiten etwas zu Ihrer Handlungsunfähigkeit sagen. Sie machen keine aktive Arbeitsmarktpolitik mehr. Ich will das einmal am Beispiel des Arbeitsamtsbezirks von Köln deutlich machen. Wir haben zur Zeit in Köln 45 000 Arbeitslose gemeldet. Darüber hinaus gibt es mehr. Nach dem, was wir alle — Unternehmer und Gewerkschaften — gemeinsam sagen, werden in diesem Jahr noch einmal 15 000 hinzukommen.
Wir werden am Ende dieses Jahres 60 000 Arbeitslose in Köln haben. Herr Blüm, das ist eine Steigerung von 33 %. Das, was im Arbeitsamtsbezirk Köln stattfindet, findet in der ganzen Bundesrepublik statt. In der ganzen Bundesrepublik haben wir wahrscheinlich eine Arbeitslosensteigerung von 33 %. Sie aber machen hier alberne Bemerkungen über irgend etwas, das mit der Sache überhaupt nichts zu tun hat.
Man kann nicht sagen, daß Sie aktiv eingreifen; im Gegenteil: Sie treffen sogar noch kontraproduktive Entscheidungen, in dem Sie die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen kürzen. 1992 hatten wir 695 000 Menschen in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, die an die Veränderungen des Arbeitsmarkts angepaßt werden sollten, die es möglich machen sollten, daß die freien Stellen auch wieder besetzt werden können. Was machen Sie? — In diesem Jahr werden wir in Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen nur noch 460 000 Menschen haben. Das ist eine Reduzierung um 25 %.Man muß die Zahlen gegenüberstellen: Um 33 % werden die Arbeitslosenzahlen steigen, aber um 25 % wird die notwendige aktive Maßnahme zur Qualifizierung der Arbeitslosen gesenkt. Das gibt keinen Sinn.
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Konrad GilgesDas ist keine Konzeption. Ich sage Ihnen: Sie sind handlungsunfähig. Sie sind nicht mehr in der Lage, als Bundesminister zu bestehen, weil Sie nach meiner Meinung nicht mehr die Unterstützung des Bundeskanzlers und Ihrer eigenen Fraktion haben. Sie sind nicht mehr in der Lage, eine Politik zu betreiben.
— Das ist alles Verbalradikalismus, was sie hier machen. Das sind radikale Reden, Herr Fuchtel, die an der Sache überhaupt nichts ändern.
Es ist keinem Arbeitslosen, keinem Mann und keiner Frau, damit gedient, wenn Sie hier eine dumme Rede halten.
Vielmehr sollten Sie sich den Problemen nähern.
Sie sollten beginnen, eine aktive Arbeitsmarktpolitik 'zu machen. Das ist heute notwendiger denn je.
Das Wort hat nun nochmals der Minister für Arbeit und Soziales, Dr. Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will nur den Behauptungen des Kollegen Gilges die Fakten gegenüberstellen.
Die Tatsachen: Der Kollege Gilges hat hier behauptet, daß die Meldekontrollen nichts bringen. Ergebnis
— Meldekontrollen der Bundesanstalt für Arbeit vom 26. Februar bis 9. April: 932 748 Meldeaufforderungen, rund eine Million. 94 697 Meldeversäumnisse —die sind selbst nach ausdrücklicher Einladung nicht zum Arbeitsamt gekommen.
Herr Gilges, jeder zehnte, der ins Arbeitsamt eingeladen wurde, ist trotz der ausdrücklichen Einladung nicht zum Arbeitsamt gegangen.
48 202 Abmeldungen aus dem Leistungsbezug; jeder zwanzigste hat sich abgemeldet.
Meine Damen und Herren, wer behauptet, das sei kein Erfolg, der steht im Widerspruch — —
— Herr Gilges kann durchaus hinter meinem Rücken herumlaufen. Solange er mir nicht in den Rücken fällt und die Wahrheit hier nicht beschädigt, kann er selbst das.
Ich will ausdrücklich sagen, daß diese Meldekontrollen auch nicht unzumutbar sind. Der, der Arbeitslosengeld empfängt, sollte durchaus auch in der Lage sein, sich beim Arbeitsamt zu melden, um seinen Willen zur Arbeitsvermittlung nachzuweisen.
Meine Damen und Herren, damit schützen wir auch diejenigen, die unter ihrer Arbeitslosigkeit leiden. Die große Mehrzahl der Arbeitslosen leidet unter der Arbeitslosigkeit. Die müssen getrennt werden von denjenigen, die den Sozialstaat ausnutzen.
Die Bundesanstalt für Arbeit schätzt, daß durch diese Meldekontrollen und andere Maßnahmen wie Razzien in diesem Jahr Mittel in Höhe von 1,2 Milliarden DM erspart werden.
Diese 1,2 Milliarden DM geben wir besser an anderer Stelle aus, nämlich für diejenigen, die wirklich der Hilfe bedürfen.
Ich will noch klarstellen, daß sich die verschärfte Mißbrauchskontrolle keineswegs nur gegen Arbeitnehmer richtet, sondern daß mit der gleichen Energie auch gegen jene Arbeitgeber vorgegangen wird, die beispielsweise auf dem Bau ausländische Kollegen zu Hungerlöhnen beschäftigen. Auch das ist Mißbrauch. Ich halte es sogar für kriminell, ausländische Arbeitnehmer mit 5 DM Stundenlohn abzufinden, ihnen schlechte Unterkunft zu geben. Das halte ich für kriminell, und das muß hart bestraft werden.
Ich wünsche mir nur die gleiche Energie wie bei der Mißbrauchsbekämpfung, wenn es gilt, Steuermißbrauch und Subventionsschwindel aufzudecken.
Nur als kleiner Hinweis: Das Vorbeilaufen hinter Ministern, Abgeordneten und Staatssekretären ist weder nach unserer Geschäftsordnung verboten noch irgendwie unparlamentarisch, es ist aber höchst unerwünscht.
Nun hat der Kollege Ottmar Schreiner das Wort.
Frau Präsidentin! Ich wollte die Gelegenheit nutzen, noch einmal auf die Vorwürfe des Ministers an die Adresse des SPD-Parteivorsitzenden einzugehen und die damit in Rede stehenden Fragen zu beantworten.Sie haben erstens der SPD vorgeworfen, sie hätte bei ihrer Forderung, die Grundstrukturen des § 249h, der bislang nur in Ostdeutschland eingesetzt wird, auch in Westdeutschland einzusetzen, was die Frage der Projektförderung und die Frage der Basisfinanzierung durch die Bundesanstalt anbelangt, von der Bundesregierung abgeschrieben. Das ist nun wirklich albern. Sie wissen, daß wir in verschiedenen Anträgen, zuletzt in dem Antrag „Arbeit fördern statt Arbeitslosigkeit finanzieren", schon im letzten Jahr eine projektorientierte Arbeitsmarktpolitik gefordert haben, die jetzt in diesem einen Punkt allerdings von der Bundesregierung übernommen worden ist. Dar-
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Ottmar Schreinerüber sind wir froh, dagegen haben wir gar nichts. Wir haben auch nichts gegen die Finanzierungsstruktur, die dazu führt, daß bei der Umsteuerung von Arbeitslosengeld in Richtung arbeitsmarktpolitische Projektförderung die Bundesanstalt respektive der Bund mit keinem einzigen Pfennig mehr belastet würden. Insoweit zielt Ihre Kritik völlig ins Leere.Wir haben allerdings dazugesagt, daß wir dieses Instrument „Ausweitung auch für Westdeutschland" nach wie vor nur bei tariflicher Bezahlung der Betroffenen wollen. Daran halten wir fest. Es ist nicht klarzumachen, warum beispielsweise ein Arbeitnehmer in Ostdeutschland, der an der gleichen Werkbank steht wie sein Kollege und genau die gleiche Arbeit wie sein Kollege verrichtet, weniger verdienen soll als der Kollege, der nach Tarif bezahlt wird. Wir haben immer gesagt, daß der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gilt. Dieser Grundsatz wird mit Ihren Maßnahmen allerdings entschieden verletzt.
Sie dürfen nicht alles durcheinanderwerfen. Die Gewerkschaften — zumindest Teile der Gewerkschaften — haben in der Vergangenheit gerade Sie kritisiert, weil gesagt worden ist, der Bundesarbeitsminister unterschreite zum erstenmal in der Geschichte der AB-Förderung den eisernen Grundsatz tariflicher oder — sofern Tarife nicht vorhanden — ortsüblicher Bezahlung. Sie haben hier wirklich alles durcheinandergeschmissen. Sie haben die Kritik, die Sie von den Gewerkschaften erfahren haben, jetzt in Richtung des SPD-Parteivorsitzenden umgelenkt, der wegen nichts anderem kritisiert worden ist als wegen des genau gleichen Sachverhalts, weil er AB-Maßnahmen zu untertariflicher Bezahlung gefordert hat. Dann dürfen Sie sich doch nicht hier im Plenum hinstellen und sich gewissermaßen als eine Art Schützer der Gewerkschaften aufspielen, als hätten die Gewerkschaften bei Engholm etwas anderes kritisiert, als sie bei Ihnen schon lange kritisieren.Lassen Sie mich dazusagen: Die Grundidee des SPD-Parteivorsitzenden war, eine öffentliche Diskussion anzustoßen, wie wir diese Wahnsinnsgelder — über 100 Milliarden DM bei der Bundesanstalt! — eher dazu verwenden können, Arbeit zu fördern als Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Wenn es gelänge, diesen Stein, der ins Wasser geworfen worden ist, zu einer wirklich intensiven öffentlichen und von mir aus auch kontroversen, aber ergebnisorientierten Diskussion zu nutzen, dann wäre sehr viel gewonnen.Ich sage, um das klarzustellen, gleich dazu: Wir lehnen jede Entgeltregelung auch bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unterhalb einer tariflichen Entlohnung ab. Ich sage das, damit das unmißverständlich klar ist. Das war die bisherige Linie, an der wir festhalten, weil es keine sachlichen Gründe dagegen gibt.
Darüber kann man reden. Das ist sicherlich klar. Aber die Argumente, die bisher vorgetragen worden sind, sind aus meiner Sicht nicht überzeugend.Das zweite: Da hat Minister Blüm wirklich alles durcheinandergeschmissen, und dann haben Sie noch einen Redner ans Podium geschickt, bei dem es fast eine Katastrophe geworden ist. Ich meine die Anregung, über eine Teilsubventionierung von relativ unproduktiver Arbeit nachzudenken. Das hat mit „untertariflich" überhaupt nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Die Überlegungen, auf denen dieser Vorschlag beruht, sind — ich sage Ihnen das, wie es ist — an wissenschaftlichen Instituten ausgearbeitet worden. Eine Adresse ist in Köln das Max-Planck-Institut. Das ist nicht die schlechteste Adresse.Die Überlegung ist ganz einfach. Sie lautet: Ist es nicht wesentlich sinnvoller, gesellschaftspolitisch wirksamer, finanziell billiger und auch für die Menschen besser, darüber nachzudenken, ob man relativ unproduktive Arbeit manueller Art, beispielsweise im Dienstleistungsbereich, die nicht weiter rationalisierbar ist, weil die Natur der Arbeit das nicht mitmacht, die aber bei uns in einem hochproduktiven Land in der Regel auch nicht mehr bezahlt werden kann, über Teilsubventionierungen auf ein Lohnniveau anheben kann, das deutlich über den Lohnersatzleistungen liegt und von daher diese Arbeit für Menschen wieder attraktiv macht? Das ist die Grundüberlegung.
Herr Kollege, würden Sie einmal einen Blick nach links werfen? Da ist so ein rotes Lämpchen. Es bedeutet, daß die fünf Minuten um sind.
Das Rotlicht stört die Saarländer schon immer, Frau Präsidentin.
Und jetzt ist wirklich Schluß. Sie haben vorhin zwei Minuten überzogen. Bitte Schluß!
Gut, ich komme dann zum Schluß.
— Sie müssen doch an einer sachorientierten Debatte interessiert sein.
Ich sage zum Schluß: Der Grundsatz — letzter Satz, Frau Präsidentin — einer staatlicherseits teilsubventionierten Arbeit ist doch längst im Arbeitsförderungsgesetz enthalten. Ich brauche doch den Fall Krause hier nicht auszubreiten.
Die einzige spannende Frage wäre, ob es andere Anknüpfungspunkte gibt.
Frau Präsidentin, die Meute nimmt jetzt einen derart pöbelhaften Ausdruck an, daß ich Schluß machen muß.
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Nun hat der Kollege Dr. Peter Ramsauer das Wort.
Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich angesichts der gigantischen Nebelwerferei und Verwirrung, welche die SPD-Fraktion hier in dieser Aktuellen Stunde zu verbreiten versucht hat, mit einer wichtigen Klarstellung zur Lage auf dem Arbeitsmarkt beginnen: Trotz aller Klagen und Probleme liegt die Erwerbstätigkeit im Bereich der alten Bundesländer mit 29 Millionen immer noch um 2,7 Millionen über dem historischen Beschäftigungstief von 26,3 Millionen Menschen im Jahre 1983, einem Beschäftigungstief, welches diesem Land durch die langen Jahre SPD-Mißwirtschaftspolitik beschert worden ist.
Die Zahl der Erwerbstätigen, meine Damen und Herren, hat sich zwar in den letzten zwölf Monaten um etwa 320 000 verringert, das stimmt, aber wir befinden uns immer noch auf sehr hohem Niveau. Mit Blick auf die neuen Länder — es ist heute schon angeklungen — muß man heute auch über den Silberstreif am Horizont reden. Die Arbeitslosigkeit hat sich dort von März 1992 bis März 1993 immerhin um 80 000 verringert. Die Zahl der in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befindlichen Personen — hören Sie sich das ruhig an — inklusive der Kurzarbeitenden ist in diesem Zeitraum sogar um 200 000 gesunken.
Die Bewertung der Lage halte ich schon für nötig, damit wir uns nicht auf hohem Niveau in grenzenlosem Selbstmitleid verlieren.
Meine Damen und Herren, trotzdem bin ich über die Entwicklungsintensität der Arbeitslosigkeit in großer Sorge. Ich fürchte nämlich, daß wir es nicht zur Gänze mit konjunkturellen Ursachen zu tun haben, sondern mit tiefgreifenden strukturellen Ursachen. Dieser jetzige Aufschwung im Konjunkturzyklus ist nämlich der erste nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs. Somit kommen vielfältige Auswirkungen zum Tragen, wenn massenhaft Investitivkapital zu viel kostengünstigeren Wirtschaftsstandorten in osteuropäischen Ländern abwandert. Es rächen sich viele Fehler, die man sich scheinbar leisten konnte, solange der Eiserne Vorhang Investivkapital nicht durchließ.
Ein wesentlicher Fehler dieser Art war und ist die Mißachtung des ehernen ökonomischen Grundsatzes, daß nur verteilt werden kann, was vorher oder zumindest gleichzeitig erwirtschaftet worden ist. Vor allem zu Ihnen, Herr Kollege Schreiner, sage ich: Es geht halt nicht, daß die einen nur Geld und Wohltaten verteilen und die anderen für das Heranschaffen des Geldes zuständig sind. Solange sich die Tarifpartner im Ringen um höhere Lohnabschlüsse nicht an der Zunahme der Produktivität orientieren, solange also die Lohnstückkosten davonlaufen, braucht sich niemand darüber zu wundern, wenn deutsche Investoren in osteuropäische Länder gehen, und zwar mit Lohnstückkosten zwischen 10 % und 20 % der deutschen, ganz abgesehen von den immer weiter ausufernden
Reglementierungen, denen sich derjenige zu unterwerfen hat, der hier in Deutschland Arbeitsplätze schaffen will. Es ist derjenige, der bei einer Genehmigungsbehörde leider Gottes nicht gefragt wird, wie die Behörde helfen kann, sondern der gefragt wird: Haben Sie auch alle Antragsunterlagen dabei? Haben Sie auch alle Vorschriften beachtet? Und das Ganze erfolgt in einem Klima, meine Damen und Herren, bei denen das Verhindern momentan leichter wird als das Unternehmen.
Meine Damen und Herren, nochmals zur Tarifpolitik. Der ab Montag drohende Streik in der ostdeutschen Metall- und Stahlindustrie paßt in die wirtschaftliche Lage wie die Faust aufs Auge.
— Liebe Kollegin Rennebach, Sie passen mit Ihren Auftritten manchmal hier auch wie die Faust aufs Auge hinein. Das muß man wirklich sagen.
Meine Damen und Herren, dem sarkastischen „Jubelruf" in einem heutigen Pressekommentar kann ich nur zustimmen, der lautet: „Hurra, jetzt ist der Weg frei, auch die restlichen Arbeitsplätze noch wegzustreichen! " Offensichtlich hat es sich doch noch nicht überall herumgesprochen, daß in einer total veränderten wirtschaftlichen und politischen Lage nicht mehr jedes gewerkschaftliche Kampfritual in die Landschaft paßt.
Überhaupt, meine Damen und Herren, müssen wir völlig unabhängig von konjunkturpolitischen Ansätzen — —
Verehrter Herr Abgeordneter Dr. Ramsauer, Sie täten mir einen Riesengefallen, wenn Sie es mir leichter machen, als es der Kollege Schreiner meiner Vorgängerin im Amte, Vizepräsidentin Frau Schmidt, gemacht hat. Sie sind am Ende der Redezeit. Ich muß bei der Aktuellen Stunde darauf aufmerksam machen.
Die rote Lampe hat gerade erst zu blinken begonnen, und Ihre Vorgängerin im Präsidium hat fairerweise immer noch zwei Minuten nachspielen lassen.
Ich kenne die Großzügigkeit der Präsidentin Frau Schmidt, und ich bin auch selber großzügig. Wir wollen eine vernünftige Lösung finden. Machen Sie es mir nicht so schwer.
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13260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Ich habe in der Hitze des Gefechtes den Präsidentenwechsel nicht bemerkt, Herr Präsident, und deswegen bitte ich um Gnade vor Recht.
Wir müssen völlig unabhängig von konjunkturpolitischen Ansätzen an vielen anderen Hebeln ansetzen, meine Damen und Herren. Ich begrüße es deshalb, wenn endlich auch in der SPD die Arbeitslosen nicht mehr vor Investitionen und neuen Arbeitsplätzen „geschützt" werden, sondern offensichtlich jetzt ganz unkonventionelle Ideen diskutiert werden. Man kann ja zu dem Vorschlag Ihres Kanzlerkandidaten Engholm stehen, wie man will, aber hier befreit sich die SPD endlich von alten ideologischen Denkfesseln, auch wenn der DGB solches Gedankengut als ekelhafte Ketzerei betrachten wird und es geradezu ein großer Genuß ist, wenn man heute in den Zeitungen Headlines liest wie: Zweifel an Engholm wachsen. In der SPD rumort es. Was will Engholm eigentlich? Engholm und die Fallstricke. Der Spitzenkandidat der SPD kämpft mit seiner Partei. DGB übt scharfe Kritik an Engholm.
Meine Damen und Herren, unseren Kollegen in der SPD wünschen wir für die kommenden Monate viel Freude mit ihrem Kanzlerkandidaten.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Arbeitsmarkt im wiedervereinigten Deutschland schlägt unter dieser CDU/CSU-F.D.P.-Koalition einen Minusrekord nach dem anderen. 3,5 Millionen Arbeitslose sind statistisch erfaßt. Ingesamt sind es sogar ca. 7 Millionen Arbeitsplätze, die fehlen. Es gibt 3,5 Millionen offene und noch einmal soviel verdeckte Arbeitslose. Das sind mit Angehörigen ca. 20 Millionen Menschen — also jeder vierte Mensch in dieser reichen Gesellschaft —, deren Leben von Arbeitslosigkeit und zunehmender materieller Not geprägt ist.
Und noch eine bittere Wahrheit gehört dazu. Wir werden von der nach Millionen zählenden Arbeitslosigkeit nicht wieder herunterkommen. Moderner Kapitalismus ohne Massenarbeitslosigkeit ist wie der berühmte Fisch ohne Wasser. Die beiden einzigen theoretisch möglichen Auswege sind verbaut. Eine Lösung durch wirtschaftliches Wachstum ist nicht möglich. So viele modernde und eben deshalb immer teurere Arbeitsplätze, wie nötig sind, um Arbeit für alle zu schaffen, können einfach nicht geschaffen werden. Wäre es möglich, sie zu schaffen, wäre die Umwelt restlos zerstört.
Die neue, größere deutsche Republik würde von den Autowahnsinnigen à la Bundesverkehrsminister Krause zubetoniert.
Die einzig vernünftige Alternative, eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf 30 und weniger Wochenstunden, wird von den wirtschaftlich und politisch Herrschenden verhindert. Also bleibt nur die Aufrechterhaltung, die bessere Versorgung und bessere Ausgestaltung des sogenannten zweiten Arbeitsmarktes. Insofern ist dem Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Engholm im Grundmuster zuzustimmen.
Ein zweiter Arbeitsmarkt aber, der niedrigere Löhne und schlechtere Anstellungsbedingungen ermöglicht, als es den Tarifverträgen entspricht, ist kein echter zweiter Arbeitsmarkt. Er ist ein Reservoir billiger Arbeitskräfte, die nach und nach die teureren Arbeitskräfte verdrängen. Ergebnis wären nicht mehr Arbeitsplätze, sondern eine Umwandlung von tariflich bezahlten und halbwegs geschützten Arbeitsplätzen in großenteils prekäre und ungeschützte Arbeitsplätze. Das ist die harte Logik eines solchen Vorschlages, wenn er in dieser Form gemacht wird.
Der zweite Arbeitsmarkt muß bleiben. Er muß ausgebaut werden; er muß politisch bewußt anders ausgestaltet werden als der formelle, der erste Arbeitsmarkt.
Dazu wiederum ist es unerläßlich, die Bundesanstalt für Arbeit zu stärken, ihre Finanzgrundlagen zu verbessern, die Mittel für AB-Maßnahmen und andere Programme weiter zu erhöhen. Dazu ist es aber auch notwendig, den Staat und die Gesellschaft über die Bundesanstalt für Arbeit hinaus für den Arbeitsmarkt in die Pflicht zu nehmen. Hier ist einer der vorrangigen Punkte, wo die längst überfällige Friedensdividende hingeleitet werden muß. Hier müssen Gelder hingelenkt werden, die sonst für Prestigeprojekte, für Technologien oder für Subventionen an in Geld schwimmende Unternehmen ausgegeben werden.
Ein derart ausgebauter zweiter Arbeitsmarkt gibt die Möglichkeit, ökologisch und sozial sinnvolle Aufgaben wahrzunehmen. Er gibt auch Raum für selbstverwaltete Projekte und Initativen und kann damit einen wichtigen Beitrag zur Veränderung harter Zwangsmechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft leisten.
Herr Präsident, ich danke Ihnen für die Geduld.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres
— Drucksache 12/4716 —Überweisung svorschlag:Ausschuß für Frauen und Jugend FinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Marliese Dobberthien, Hermann Bachmaier, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13261
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergFörderung eines freiwilligen ökologischen Jahres— Drucksache 12/4470 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Frauen und Jugend FinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung und WissenschaftHaushaltsausschußIch erteile zunächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Yzer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beklagen heute oft die Aktivitätenarmut Jugendlicher, ihr geringes Engagement zugunsten des Gemeinwesens. Dabei wissen wir aber auch, daß eine große Zahl der Heranwachsenden ausgesprochen wertorientiert denkt und für die Bedürfnisse der Schwächeren durchaus sensibilisiert ist. Als Politiker haben wir die Aufgabe, so meine ich, Anreize zu geben, damit diese gemeinwohlorientierte Grundeinstellung nicht verkümmert, sondern in positives Handeln für die Gemeinschaft umgesetzt wird.Seit nahezu 40 Jahren gibt es das freiwillige soziale Jahr. Es bietet jungen Menschen die Möglichkeit, ihre Bereitschaft zum sozialen Engagement einzubringen, durch ganztägige Hilfstätigkeiten in sozialen Einrichtungen verantwortliches Handeln gegenüber den Mitmenschen und gegenüber der Gesellschaft zu lernen und dadurch ihre Persönlichkeit zu entwikkeln.Dieses freiwillige soziale Jahr erfuhr bereits 1964 gesellschaftliche Anerkennung. Seitdem werden die Helferinnen und Helfer rechtlich annähernd so behandelt wie Auszubildende, und zwar insbesondere hinsichtlich ihrer sozialen Absicherung. Das bedeutet im wesentlichen, daß sie in die gesetzliche Renten-, Kranken- und Unfallversicherung sowie in die Arbeitslosenversicherung einbezogen sind, daß die Zeit des freiwilligen Dienstes bei der Zahlung von Kindergeld und Kindergeldzuschlägen berücksichtigt wird und daß es für sie Vergünstigungen im Steuerrecht und im Personennahverkehr gibt.Das freiwillige soziale Jahr hat sich damit im Laufe der Zeit qualitativ und quantitativ weiterentwickelt und ist zu einem jugendpolitisch wichtigen Angebot geworden. Bereits seit einigen Jahren treten jährlich ca. 6 000 Helferinnen und Helfer in den Dienst, und die Zahl der Bewerbungen wächst.Es ist angezeigt, die Förderung des freiwilligen Dienstes für die Gemeinschaft auf eine breitere Basis zu stellen; denn das Interesse junger Menschen bezieht sich längst nicht mehr nur auf soziale Tätigkeitsfelder. Immer mehr Jugendliche wollen sich für die Umwelt engagieren. Dabei fehlt es bisher weitgehend an Möglichkeiten, diese Bereitschaft zum ökologischen Engagement außerhalb eines Ausbildungs-und Beschäftigungsverhältnisses in entsprechendes Handeln umzusetzen.Aus diesem Grunde hat das Bundesministerium für Frauen und Jugend gemeinsam mit mehreren alten und neuen Ländern ein freiwilliges ökologisches Jahr modellhaft gefördert, das ökologische Arbeit in allen Bereichen des Natur- und Umweltschutzes verbunden mit ökologischer Weiterbildung und pädagogischer Betreuung ermöglicht. 1992 wurden in den alten Bundesländern hierzu 1,3 Millionen DM, in den neuen Bundesländern 1,6 Millionen DM bereitgestellt.Die vorliegenden Ergebnisse der Modelle sprechen dafür, daß das freiwillige ökologische Jahr ebenso wie das freiwillige soziale Jahr Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung gibt, wenn es qualifiziert pädagogisch begleitet und sinnvoll organisiert ist. Deshalb soll die Gleichstellung von freiwilligem sozialen Jahr und freiwilligem ökologischen Jahr durch den vorliegenden Gesetzentwurf vollzogen werden.Festgelegt werden in Art. 1 des Gesetzentwurfs die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein freiwilliges ökologisches Jahr gefördert werden kann. Dabei möchte ich insbesondere darauf hinweisen, daß die pädagogische Begleitung gegenüber der beim freiwilligen sozialen Jahr verbessert wird. So wird hinsichtlich der Seminararbeit die Mitwirkungsmöglichkeit der Teilnehmenden gewährleistet, und es werden die Gesamtdauer sowie bestimmte Seminararten zwingend vorgeschrieben. Außerdem kann das freiwillige ökologische Jahr im europäischen Ausland abgeleistet werden.Art. 2 des Gesetzentwurfs nimmt Anpassungen bei der Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres hinsichtlich der Regelungen vor, die die pädagogische Begleitung, die Altersgrenze für die Teilnahme, den Einsatz im europäischen Ausland und den Schutz personenbezogener Daten betreffen.Art. 3 ändert dann schließlich alle Gesetze und Verordnungen, die Regellungen für das freiwillige soziale Jahr enthalten, und zwar durch Einbeziehung des FÖJ in die entsprechenden Vorschriften.Die Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung und der vorliegende Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zeigen, daß sowohl zwischen Bund und Ländern als auch zwischen Koalition und Opposition ein weitgehender Konsens darüber besteht, daß das freiwillige ökologische Jahr ein jugend- und umweltpolitisch gleichermaßen sinnvolles Angebot an junge Menschen darstellt, das dem freiwilligen sozialen Jahr gleichwertig ist.Dabei möchte ich allerdings auch nicht verschweigen, daß es unterschiedliche Auffassungen in Detailfragen, insbesondere aber auch in der Frage der Finanzierung der Durchführungskosten des FÖJ gibt. Diese Fragen werden in den Ausschußberatungen ausführlich zu erörtern sein. Lassen Sie mich aber zur Finanzierungsfrage vorab auf folgendes hinweisen.Das Gesetz zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres führt dieses Jahr nicht ein, sondern bestimmt — ebenso wie das Gesetz zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres — lediglich die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Teilnahme nach den gesetzlichen Bestimmungen gefördert werden kann.
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13262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Parl. Staatssekretärin Cornelia YzerDementsprechend enthält der Gesetzentwurf auch keine Regelung über die Finanzierung der Durchführungskosten, begründet also auch für Länder und Kommunen keine Verpflichtung, die Durchführung des FÖJ zu finanzieren, sondern geht davon aus, daß die unmittelbar teilnehmerbezogenen Kosten wie Taschengeld, Unterkunft, Verpflegung, Arbeitskleidung, Versicherungsbeiträge und Kosten der pädagogischen Begleitung ebenso wie die anfallenden Verwaltungskosten von den Trägern und Einsatzstellen übernommen werden.Der Bund übernimmt Kosten für die Ausgaben bei Kindergeld, Kinderzuschlägen sowie Ausgleichsleistungen an Bundesbahn und Reichsbahn in Höhe von rund 3 Millionen DM. Eine weitergehende gesetzliche Verpflichtung des Bundes kommt mangels einer Ausführungs- und Finanzierungskompetenz bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend gerade in Richtung des federführenden Ausschusses für Frauen und Jugend, aber auch in Richtung der zu beteiligenden Ausschüsse sagen: Ich wäre für eine zügige Beratung des Gesetzentwurfs dankbar, damit der 1. September 1993 als angestrebter Termin für das Inkrafttreten eingehalten und damit die Förderung des freiwilligen ökologischen Jahres im Jahrgang 1993/94 noch gewährleistet werden kann.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Dobberthien.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Treibhauseffekt und Ozonloch wachsen. Der Wald versauert. Pro Stunde stirbt eine Art aus. Wir ersticken im Müll, leiden an Abgasen und Lärm. Kostbare Rohstoffe und Energiereserven werden verbraucht und vergeudet. Was bleibt übrig für künftige Generationen?Bei Bürgerinnen und Bürgern wächst die ökologische Sensibilität und die Bereitschaft, aktiv zum Umweltschutz beizutragen, oft konsequenter als bei manchen Politikern, vor allem konsequenter als bei jenen Bedenkenträgern in den Koalitionsfraktionen, die uns bis heute den Umweltschutz als Staatsziel in der Verfassung verweigerten.
Besonders Jugendliche sind engagiert. Die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber für die Modellversuche „freiwilliges ökologisches Jahr" übersteigt die Zahl der vorhandenen Plätze um ein Vielfaches. Nur 10 % der Bewerbungen fanden Berücksichtigung. Modellversuche in den verschiedenen Bundesländern boten bisher 230 Jugendlichen einen Platz. Wie in den sozialen Diensten zeigen auch in den ökologischen Diensten Mädchen ein besonderes Engagement. Sie stellen 90 %.Das Auslaufen der Modellversuche erfordert eine bundesgesetzliche Regelung.
Insofern ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung prinzipiell zu begrüßen; im Detail enttäuscht er jedoch. Er wiederholt die Fehler des freiwilligen sozialen Jahres. Dies wollen wir verhindern. Wir möchten, daß das FÖJ zu einer attraktiven Alternative zu Jugendfrust und Jugendunlust wird. Wer Jugendlichen eine sinnvolle Lebensperspektive ermöglichen will, wer ein Abgleiten in Orientierungslosigkeit und Gewaltbereitschaft verhindern will, muß jungen Leuten glaubhaft vermitteln, daß es jenseits von Profitstreben und Eigennutz Ziele und Werte dieser Gesellschaft gibt, für die es sich zu arbeiten lohnt.
Beim Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wir jedoch Zweifel, ob er diesen Ansprüchen genügt. Daher haben wir in einem eigenen Antrag unverzichtbare Eckpunkte formuliert. So ist z. B. die Festlegung der Arbeitsinhalte als überwiegend praktische Hilfstätigkeit nicht akzeptabel. Basis für die Gestaltung des FÖJ muß ein ganzheitliches Verständnis von Umweltschutz sein. Zum Beispiel sollten Umweltbildung und -beratung, die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen, die Mitarbeit bei umweltrelevanten politischen Prozessen gleichberechtigt neben praktischer Tätigkeit stehen.So sehen das auch die Umweltverbände und der Bundesrat. Dieser beklagt, daß die praktische Hills-tätigkeit zu sehr im Vordergrund steht und nicht konkretisiert ist. Zu vermeiden ist auch, daß junge Leute, wie im freiwilligen sozialen Jahr geschehen, als billige Arbeitskräfte mißbraucht werden. Unterbezahlung und Mißbrauch dürfen die freiwilligen Dienste nicht diskreditieren.
Der Gesetzentwurf will die freiwilligen Dienste arbeitsmarktneutral durchführen. Das ist ein richtiger Grundsatz. Um die Arbeitsmarktneutralität zu gewährleisten, muß der Tätigkeitsbegriff eindeutig definiert werden. Billige Freiwillige dürfen nicht mißbraucht werden, Personallücken zu füllen. Die Dienste müssen vielmehr der Entwicklung der Persönlichkeit und des Umweltbewußtseins Jugendlicher dienen. Nur so wird und bleibt das freiwillige ökologische Jahr glaubwürdig.Ich bezweifle, daß die Bundesregierung dieses Ziel ernst nimmt. Denn sonst würde sie nicht fachliche und pädagogische Betreuung während des FÖJ so sträflich vernachlässigen. Der alte Entwurf vom Februar 1992 zum FÖJG ließ positive Ansätze erkennen, doch sie sind gestrichen worden.
— Waigel. Auch der Passus über Zweck und Inhalt der Begleitseminare ist ersatzlos gestrichen worden. Glauben Sie etwa, es reicht aus, sie allein in das Ermessen der Träger zu stellen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13263
Dr. Marliese DobberthienGerade nicht! — Die Seminare sollten der Reflexion der praktischen Tätigkeit dienen, Wissen und Verantwortungsbewußtsein für Umwelt und Gemeinwohl fördern. Ohne solche Eckpunkte bleibt Ihr Gesetzentwurf ein Torso.Auch bei der Finanzierungsregelung sind Sie zu kurz gesprungen. Nach unserer Ansicht sollten vermehrt Mittel aus dem Bundesjugendplan zur Verfügung gestellt werden.Zu kurz gesprungen ist es auch, den zuständigen Landesbehörden zu überlassen, wer als Trager anerkannt wird. Es wäre nicht schwierig gewesen, einem Großteil geeigneter Träger ohne bürokratischen Aufwand die Anerkennung zu ermöglichen. Zum Beispiel könnten nach Bundes- oder Ländernaturschutzgesetzen anerkannte Umweltverbände ohne weiteres FÖJTräger werden. Gleiches könnte für die nach § 75 Kinder- und Jugendhilfegesetz anerkannten Träger der freien Jugendhilfe gelten. Aber das muß frau wollen, Frau Yzer.Wir jedenfalls wünschen eine plurale Trägerstruktur bei weitgehendem Ausschluß privatwirtschaftlicher Einrichtungen. Ein FÖJ wie beim verkorksten „Grünen Punkt", das wäre nicht mein Ziel.
Bedeutsam ist daher die Festlegung von Mindestvoraussetzungen für Träger und Einsatzstellen des FÖJ und des FSJ.Essential sind schließlich die sozialen Leistungen. Die Gewährung einer angemessenen Unterkunft, von Arbeitskleidung und Verpflegung sowie eines vernünftig bemessenen Taschengeldes sind unverzichtbar. Jugendliche sollen für ihr ökologisches und soziales Engagement nicht materiell bestraft werden.Auch verbesserte Krankenversicherungsregelungen sind notwendig. Oder halten Sie es für sozial gerechtfertigt, daß Jugendliche schlechtergestellt werden als Wehrpflichtige, wenn sie sich auf Grund eines freiwilligen Dienstes noch mit 25 Jahren in einer Ausbildung befinden und sich nun auf eigene Kosten versichern müssen?Ich fasse zusammen. Der Gesetzentwurf zum FÖJ sollte in wichtigen Punkten nachgebessert werden. Die im Antrag der SPD aufgeführten Eckpunkte bieten eine vorzügliche Grundlage zur konstruktiven Überarbeitung des Entwurfs. An uns soll es nicht liegen, daß das Gesetz rasch in Kraft treten kann.Im Interesse einer perspektivischen Jugendpolitik fordere ich daher die Bundesregierung auf, unsere Anstrengungen nicht nach dem üblichen Muster pauschal zu verwerfen, sondern ernsthaft zu prüfen. Unsere engagierten Jugendlichen hätten es verdient.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Böhmer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der letzten Woche haben wir am gleichen Platz und fast zur gleichen Zeit schon einmal darüber gesprochen, was weiterhin getan werden kann, damit umweltorientiertes, also umweltverträgliches Handeln einen noch stärkeren Platz im täglichen Leben einnimmt. Bei dieser Debatte in der vergangenen Woche beim Thema Umweltbildung hat nahezu jeder von uns die große Diskrepanz bedauert, die zwischen Sensibilität und konkretem Handeln bei den Bürgerinnen und Bürgern besteht.Zugleich können wir aber feststellen: Die Ansätze für positive Entwicklungen nehmen erfreulich zu. Das Umweltbewußtsein ist gestiegen, und wir finden ein wachsendes Engagement von Jugendlichen im ökologischen Bereich. Es hat sich also in der Tat etwas verändert. Entscheidend dabei ist, daß es sich nicht nur um eine Hoffnung handelt, sondern um eine neue Wirklichkeit.Mehr und mehr Jugendliche kritisieren und fordern nicht nur, sondern sie wollen selbst anpacken und für eine bessere, lebenswertere Umwelt arbeiten.Genau hier setzt die Idee des freiwilligen ökologischen Jahres an. Mit der Vorlage des Gesetzentwurfes geht die Bundesregierung ihren Weg konsequenter Umwelt- und Jugendpolitik weiter. Und dies gerade in einer Zeit, in der Individualisierung großgeschrieben wird, in der Egoismen mehr und mehr das Handeln bestimmen. Gerade in einer solchen Zeit gilt es, den Sinn für das Gemeinwohl zu fördern.
Für die meisten jungen Frauen und Männer, so hört man oft, sind Karriere und Kawasaki, schick Kochen und das Klönen mit Bekannten wichtiger als zumindest zeitweiser Einsatz für das Gemeinwesen. Aber — und das läßt, denke ich, doch sehr deutlich hier eine Trendwende erkennen — der Einsatz der jungen Leute für die Allgemeinheit ist im Steigen begriffen. Dafür steht beispielhaft die Zahl derer, die sich im freiwilligen sozialen Jahr engagiert haben. Es waren jährlich mehr als 6 000 junge Menschen.Ich denke, daß mit dem Angebot eines freiwilligen ökologischen Jahres ein weiteres Angebot im Bereich der Umwelt hinzukommt, das für viele junge Frauen und Männer ausgesprochen attraktiv ist. Die bisherigen Modellversuche mit dem freiwilligen ökologischen Jahr belegen dies — ob es um die Arbeit im Naturschutzpark, in Vogelwarten, in Umweltbildungszentren oder auf dem Bauernhof mit ökologischem Landbau geht. Diese Modellversuche waren sehr erfolgreich.Ich denke auch, daß wir von daher dort anknüpfen müssen, wo wirksamer Umweltschutz in der Tat beginnen muß, nämlich bei jedem von uns selbst, vor der eigenen Haustür, und das heißt genau: im Kopf. Der Mensch muß sich begreifen als Teil der Schöpfung und muß Natur und Umwelt als Einheit sehen.Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, wie der Ansatz der Tätigkeiten im freiwilligen ökologischen Jahr ausgestaltet ist. Es geht nicht darum — das möchte ich mit aller Deutlichkeit betonen; ich pflichte gerade auch den Ausführungen der Bundesregierung an dieser Stelle bei —, billige Arbeitskräfte im
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Dr. Maria BöhmerUmweltbereich einzusetzen. Wir wollen die jungen Leute arbeitsmarktneutral eingesetzt wissen. Ich sehe zwar, daß die Befürchtungen der SPD vielleicht vom Grundsatz her verständlich sind, aber sie sind von der Sache her unberechtigt. Ich setze auf eine gewissenhafte Auswahl der Träger durch die Länder, um Mißbrauch zu vermeiden. Warum soll gerade das nicht möglich sein?
Wer sich für das freiwillige ökologische Jahr entscheidet — und das haben wir auch beim freiwilligen sozialen Jahr beobachtet —, entscheidet sich ganz bewußt für einen Dienst an der Allgemeinheit auf der Basis ehrenamtlicher Arbeit. Eine besondere Absicherung, Verdienst oder Freizeit stehen bei der Entscheidung nicht so sehr im Vordergrund. Ich denke, daß wir gerade bei denjenigen, die sich durch vorbildliches Engagement für Allgemeinheit und Umwelt einsetzen, dafür sorgen müssen, daß eventuelle Benachteiligungen und Probleme so weit wie möglich aus der Welt geschafft werden.Hier hat die Bundesregierung an die Erfahrungen mit dem freiwilligen sozialen Jahr angeknüpft. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, zu sehen, was im Bereich der sozialen Absicherung geschaffen worden ist. Wir sollten bei der Beratung in den Ausschüssen sehr wohl noch einmal miteinander diskutieren und erörtern, daß es eben nicht nur um Taschengeld, Unterbringung und Verpflegung geht, sondern daß den Möglichkeiten der sozialen Absicherung ein breiter Rahmen gegeben worden ist.Ich möchte noch zwei Anmerkungen machen. Zum einen zur Kritik, die an der überwiegend praktischen Hilfstätigkeit geübt worden ist: überwiegend praktische Hilfstätigkeit wurde von der SPD, von Ihnen, Frau Dobberthien, in etwa mit der Forderung gleichgesetzt — ich beziehe mich hier auf den Antrag —, daß man Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Umweltbildung, wissenschaftliche und theoretische Arbeiten mit einbeziehen sollte. Das ist meines Erachtens auch jetzt schon beim freiwilligen ökologischen Jahr möglich. Es sollte aber nicht damit überfrachtet werden; denn wir haben in der vergangenen Woche an dieser Stelle festgestellt, daß nicht Kenntnis und Wissen allein genügen, um zu einem veränderten umweltgerechten Handeln zu kommen, sondern daß es gerade das praktische, konkrete Tun ist, das zu Veränderungen in unserer Gesellschaft führt. Das sollten wir praktizieren.
Noch eine Anmerkung zu den Finanzen. Ich denke, daß wir uns noch einmal ansehen müssen, wie die Bedingungen für die Realisierung des freiwilligen ökologischen Jahrs sind. Ich habe aber äußerst erfreut zur Kenntnis genommen, daß die Deutsche Bundesstiftung Umwelt für die neuen Bundesländer eine Anschubfinanzierung beschlossen hat. Immerhin werden mehr als 8,5 Millionen DM zur Verfügung gestellt, damit die Förderung des freiwilligen ökologischen Jahrs in den neuen Bundesländern starten kann. Das ist ein guter Weg, auf dem wir weitergehen sollten.
Ich habe es Ihnen nicht ausgeschaltet.
Ich dachte schon, das sei jetzt eine ganz radikale Methode.
Die Mikrophonprobleme beschränken sich vorläufig noch auf den anderen Plenarsaal.
Wenn Sie es aber als Hinweis verstehen, daß Ihre
Redezeit schon überschritten ist, ist es schon richtig.
Ich danke Ihnen für den Hinweis. Wir hatten aber gerade die Erfahrung sammeln können, daß die anderen Kollegen etwas überziehen konnten. Ich denke, bei einem Thema wie dem freiwilligen ökologischen Jahr sollte, was für die einen recht ist, für die anderen nicht ganz unbillig sein.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. FunkeSchmitt-Rink.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Mit diesem Gesetzentwurf zur bundeseinheitlichen Absicherung eines freiwilligen ökologischen Jahres wird jungen Leuten zwischen 16 und 27 Jahren endlich die Möglichkeit gegeben, auch im Bereich des Umweltschutzes zu arbeiten.Das freiwillige ökologische Jahr ist analog zum freiwilligen sozialen Jahr konzipiert; Das haben wir schon gehört. Es bietet für den Erwerb einer fundierten Umweltbildung eine hervorragende Basis, und zwar im In- und Ausland.In Modellversuchen der Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Sachsen und Sachsen-Anhalt sind erste, sehr positive Erfahrungen mit dem FÖJ gesammelt worden. Um es für junge Leute aber wirklich attraktiv zu machen, müßten die Länder nach Meinung der F.D.P. dieses Jahr auch als Bildungsjahr anerkennen, und zwar vorbereitend bzw. integrierend für Studium und Berufsausbildung.
Die Bundesländer könnten dies individuell ausgestalten. Für den Bund kann ich das natürlich nur empfehlen.In einer vorläufigen Begrenzung auf 1 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer entstehen Mehrausgaben in Höhe von 1,9 Millionen DM — das sind Kindergeld,
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Dr. Margret Funke-Schmitt-RinkKinderzuschlag, Ausgleichszahlungen für Deutsche Bundesbahn und Reichsbahn — und Steuermindereinnahmen in Höhe von etwa 1 Million DM.Ganz wichtig ist der F.D.P., daß für überregionale Maßnahmen der pädagogischen Begleitung des FÖJ etwa 3 Millionen DM im Bundesjugendplan vorgesehen sind. Der Bund kann sich, was ich sehr bedaure, nicht an Mehrkosten beteiligen. Den Ländern obliegt es, hier gegebenenfalls ergänzende Finanzierungsregelungen zu treffen.Da die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dem FÖJ selber geldwerte Leistungen erbringen, z. B. durch die Kartierung von Biotopen, den Einsatz bei Befragungen zum Umweltverhalten, müßte eine mittelfristige Finanzierung durch die Träger der Maßnahmen möglich sein. Zudem liegt für die von den Bundesländern geltend gemachte Belastung bisher keine nachprüfbare Kostenschätzung vor.Im übrigen ist das FÖJ nicht die einzige Maßnahme der Koalition zum Umweltschutz. Wie sehr sich die Bundesregierung im Bereich der Umwelterziehung und vorsorgenden Umweltpolitik engagiert — schon ab dem Kindesalter —, machen nicht zuletzt die Aktivitäten des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft deutlich. So wurden bereits 50 Millionen DM in Projekte und Maßnahmen der Umweltbildung und Umweltwissenschaft in Schulen investiert. Junge Menschen werden somit frühzeitig angeleitet, die Komplexität der ökologischen Inhalte zu begreifen und ihr Wissen individuell in verantwortliches, umweltbewußtes Handeln in Haushalt, Beruf und Freizeit umzusetzen. Ihnen wird auf dem Weg von der Schule in den Beruf somit die Möglichkeit gegeben, ihre Persönlichkeit zu stärken.Für die F.D.P. will ich hier ganz deutlich betonen: Jugendliche dürfen nicht als Lückenbüßer für mangelndes Personal im Umweltbereich eingesetzt, d. h. mißbraucht werden.
Es soll nicht durch die Hintertür ein soziales Pflichtjahr eingeführt werden. Die F.D.P. hat sich gerade aufdem Bundesparteitag 1992 dagegen ausgesprochen.Fázit: Teilnehmerinnen und Teilnehmer am freiwilligen ökologischen Jahr sollen konkrete ökologische Probleme kennenlernen und so zur frühen Bewußtseinsbildung und eigenen Verantwortlichkeit gegenüber der Natur und ihrem Schutz geführt werden.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung behauptet zwar, daß es sich beim freiwilligen ökologischen Jahr nicht um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument zur Behebung von Jugendarbeitslosigkeit handele, allein: ein genauerer Blick in ihren eigenen Entwurf beweist das Gegenteil. So wird der Begriff der Hilfstätigkeit nicht, wie im Antrag der SPD gefordert, durch das Gesetz konkretisiert und auf zusätzliche, sonst nicht durchgeführte Arbeiten beschränkt. Konsequenterweise kann die Bundesregierung dies auch gar nicht tun, da sie im Entwurf des föderalen Konsolidierungsprogramms für den Bereich der Sozialhilfe ebenfalls den bisher erforderlichen Nachweis der Zusätzlichkeit der zugewiesenen Arbeiten streichen will. Leise und im Paragraphenwust versteckt wird hier die Arbeitsmarktneutralität des Gesetzgebers unterhöhlt.Sehr dubios ist auch die Begründung für die Herabsetzung des Alters der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am freiwilligen ökologischen Jahr auf 16 Jahre. Einerseits soll ein besserer Übergang von der Schule zum freiwilligen Dienst geschaffen werden, was nichts anderes heißt, als daß Jugendarbeitslosigkeit von Haupt- und Realschülerinnen und -schillern verschleiert werden soll. Andererseits wird behauptet, ökologische Arbeit sei nicht so schwer wie soziale Dienste.Auch die als Neuerung angeführte bessere soziale Absicherung der freiwillig tätigen Jugendlichen genügt in keiner Weise den Erfahrungen, die bisher mit dem sozialen Jahr gemacht wurden. Nur die Jugendlichen, die vor dem freiwilligen Dienst eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung hatten, erhalten im Anschluß an das freiwillige Jahr Arbeitslosengeld. Alle anderen — dies ist wahrscheinlich die Mehrheit — werden Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger oder leben vom Geld ihrer Eltern. Ihr ökologisches Engagement und die praktisch unentgeltlich geleistete Arbeit werden nicht berücksichtigt.Wäre die Bundesregierung endlich willens, jedem hier lebenden Menschen eine steuer- und versicherungsfinanzierte soziale Grundsicherung zu ermöglichen, könnte alle gesellschaftlich nützliche Tätigkeit, also auch die im Umweltbereich als Arbeit im Rechtssinn bewertet, entsprechend vergütet und versicherungsrechtlich berücksichtigt werden.Da sich dies allerdings nicht abzeichnet, fordere ich, die soziale Stellung von Jugendlichen, die unmittelbar im Anschluß an den Schulabschluß ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr ableisten, wenigstens der der Wehr- oder Ersatzdienstleistenden anzugleichen. Dies betrifft insbesondere die Frage der vom Bund zu tragenden Beiträge zur Arbeitslosenversicherung oder der am Durchschnitt aller Arbeitslosen orientierten Beitragsbemessungsgrenze für Arbeitslosengeld. Es ist doch nicht einzusehen, daß die freiwillige Arbeit Jugendlicher auf ökologischem und sozialem Gebiet weniger wichtig sein soll als der längst überflüssige Wehr- oder Ersatzdienst.Neu am vorliegenden Entwurf, gegenüber dem Gesetz über das soziale Jahr, ist die Möglichkeit, das freiwillige ökologische Jahr im Ausland, allerdings nur im europäischen, ableisten zu können. Unbeschadet der Tatsache, daß ökologische Probleme globaler Natur sind und gerade die westeuropäische Zivilisation umweltpolitisch seit Jahrhunderten auf Kosten der übrigen Welt lebt, will die Bundesregierung das vorhandene Interesse der Jugendlichen an einem Auslandseinsatz europazentristisch kanalisieren. Ich schließe mich deshalb denjenigen Kolleginnen und
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Petra BlassKollegen an, die einen unbeschränkten Auslandseinsatz fordern.Zu befürchten bleibt, daß die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das wachsende Interesse Jugendlicher an Umweltfragen benutzt, um notwendige Arbeiten in diesem Bereich im wörtlichen Sinne zum Nulltarif durchführen zu lassen. Statt Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu schaffen und damit die steigende Jugendarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, verfährt sie auch hier nach dem Prinzip, Arbeitslosigkeit statt Arbeit zu fördern, und tarnt dies in besonders heuchlerischer Weise.Danke.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4716 und 12/4470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor.
Ich mache noch darauf aufmerksam, daß der Antrag der SPD-Fraktion — er liegt Ihnen auf Drucksache 12/4470 vor — an den Haushaltsausschuß überwiesen werden soll, und zwar nicht gemäß § 96 der Geschäftsordnung, sondern zur Mitberatung. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist. — Ich kann das so als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Aufnahme des Fernsehfilms „Wahrheit macht frei" und des Buches „Drahtzieher im braunen Netz — Der Wiederaufbau der NSDAP" in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung
— Drucksachen 12/2426, 12/3570 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Joseph-Theodor Blank Günter Graf
Hans-Joachim Otto
Der Ältestenrat schlägt Ihnen einen Debattenbeitrag von fünf Minuten pro Gruppe und Fraktion vor. Wenn das Haus damit einverstanden ist, können wir mit der Debatte beginnen.
Ich erteile zunächst der Abgeordneten Frau Ulla Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Fernsehfilm „Wahrheit macht frei" vor gut anderthalb Jahren fertiggestellt war, da sorgte er im benachbarten Ausland für Furore. In fast allen westeuropäischen Ländern ist dieser vom schwedischen Fernsehen produzierte Film im Fernsehen ausgestrahlt worden. Dies unterstreicht die Aufmerksamkeit, aber auch die Besorgnis, mit der unsere Nachbarländer die gefährliche Entwicklung der neofaschistischen Gruppierungen in Deutschland verfolgt haben.Daß im Gegensatz dazu dieser überaus informative Film im bundesdeutschen Fernsehen nicht gezeigt worden ist, unterstreicht ein offenes Desinteresse an der Aufklärung über das Organisationsgeflecht des bundesdeutschen Neofaschismus. Vor dem Hintergrund des neofaschistischen Terrors gegen Flüchtlinge und Immigranten, der Zerstörung jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten in diesem Land ist dieses Desinteresse von Kumpanei oft kaum noch zu unterscheiden.Daß dieses Desinteresse an diesem Film und auch an dem Buch „Drahtzieher im braunen Netz" vom Innenausschuß geteilt wird, zeigt der Umgang mit unserem Antrag. Wir haben ihn vor gut einem Jahr gestellt, oder anders ausgedrückt: vor ca. 5 100 fremdenfeindlichen Straftaten, vor Rostock-Lichtenhagen, vor Quedlingburg, vor Mölln.All diese Ereignisse haben das Bedürfnis nach umfassender informativer Darstellung des Organisationsgeflechts des bundesdeutschen Neofaschismus sowohl bei den Vertretern der Regierungsparteien, aber auch der SPD nicht gesteigert. Eine Empfehlung für die Aufnahme in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung wird einhellig abgelehnt.Man kann den Antrag mit formalen Begründungen und den entsprechenden Mehrheiten natürlich ablehnen — man kann. Man muß ihn aber keineswegs ablehnen. Wer wie Kollege Otto bei der damaligen Diskussion im Ausschuß aus diesem Antrag mit wachsender Erregung einen Mißbrauch des Parlaments macht, hat wirklich alle Maßstäbe verloren.Ich gebe aber auch gerne zu, daß dieser Antrag hohe Anforderungen an die Toleranz und die Bereitschaft vieler Mitglieder dieses Hauses zum Nachdenken stellt. Denn Film und Buch stören offenbar in Zeiten, in denen es dem rechtsextremen CDU-Bundestagsabgeordneten Rudolf Krause schon fast als Verdienst angerechnet werden muß, wenn er in der „Altmarkt-Zeitung" vom 27. April 1993 noch einmal darauf hinweist, daß es völlig unsinnig sei, wenn sich die CDU von den Republikanern inhaltlich abgrenzt. Krause wörtlich:Gerade in der heiklen Asylfrage ist diese Abgrenzung inhaltlich gegenstandslos.Feststellen muß man auch, daß Film und Buch im Kontrast zu den offiziellen Verlautbarungen stehen, nach denen die fremdenfeindlichen Straftaten spontan und ohne organisatorischen Hintergrund durchgeführt werden.Der Film widerlegt diese Verharmlosung faktenreich. Herr Seiters hätte bei einem Minimum an Bereitschaft zum Zugucken durchaus erfahren können, wie sehr seine Selbstbeweihräucherung in Sachen Organisationsverbote eigentlich am Problem vorbeigeht.Auch Politologen, Soziologen und Pädagogen müssen immer wieder auf den traurigen Umstand hinweisen, daß gewaltbereite neofaschistisch orientierte Jugendliche ihre politische Motivation gegen Flüchtlinge, Juden und Polen aus den Medien und der herrschenden Politik ableiten. Der Film zeigt, wie gezielt und wie erfolgreich organisierte Kreise an diesem Problem arbeiten.
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Ulla JelpkeFür einige Thesen von Film und Buch spricht der „Deutschland-Kalender" der Bundeszentrale für politische Bildung, in dem Städte aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und sogar Litauen abgebildet werden. Die rheinland-pfälzische Kulturministerin Rose Götte hält die Verteilung dieses Kalenders für „unmöglich und instinktlos". Vielleicht aber hat auch der neue Präsident der Bundeszentrale, Günter Reichert, nur Instinkt und politisches Bewußtsein bewiesen. Schließlich ist er Vertriebenenpolitiker.Die Hinweise auf solche Zusammenhänge — ich nenne nur die Staatssekretäre Lintner und Waffenschmidt und ihr zweifelhaftes Verhältnis z. B. zur neurechten Zeitung „Junge Freiheit" und zum Verein für das Deutschtum im Ausland — werden den Verdacht der Kumpanei nähren, solange Anträge zur Unterstützung von Aufklärungsarbeit so behandelt werden wie unser Antrag heute.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Joseph-Theodor Blank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion lehnt, den Empfehlungen des Bundestagsausschusses für Bildung und Wissenschaft und des Innenausschusses folgend, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste ab, die Bundesregierung aufzufordem, darauf hinzuwirken, einen bestimmten Fernsehfilm und ein bestimmtes Buch in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung aufzunehmen.
Dieses Votum, Frau Kollegin Jelpke — ich habe das auch in den Beratungen im Innenausschuß schon deutlich gemacht — hat nichts, überhaupt nichts mit Inhalt und Thematik des Films „Wahrheit macht frei" und des Buches „Drahtzieher im braunen Netz — Der Wiederaufbau der NSDAP" zu tun.
Im Gegenteil: Meine Fraktion wünscht und unterstützt ausdrücklich eine breit angelegte Bildungsarbeit insbesondere in Schulen und durch kulturelle und politische Einrichtungen, um die Aufklärung über die Aktivitäten und die Gefahren des Rechtsradikalismusses noch weiter zu verbessern.
Ich sehe auch, daß es in einer Zeit des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs vor allem in den neuen Bundesländern, in der viele Menschen verunsichert sind und nach Orientierung suchen, für die ewig gestrigen braunen Rattenfänger offensichtlich einfach ist, in bestimmten Bevölkerungsgruppen Menschen für ihre Ziele zu gewinnen.
Es ist jedoch nicht Aufgabe des Parlaments — deshalb, Frau Jelpke, lehnen wir den Antrag ab —, einzelne Filme oder Bücher daraufhin zu überprüfen und zu bewerten, ob sie in die Publikationsliste der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen werden sollen oder nicht.
Wir, das Parlament, können der Exekutive Vorgaben für die politische Arbeit geben.
Unsere Aufgabe ist es, die Exekutive zu kontrollieren. Der Funktionsvorbehalt der Exekutive verbietet uns jedoch, selber die Arbeit der Regierung und der ihr nachgeordneten Behörden zu übernehmen. Genau das wäre hier der Fall, würde der Bundestag dem Antrag der PDS/Linke Liste folgen.
Wir haben Fachleute in der Bundeszentrale für politische Bildung, die über die pädagogische Eignung der beiden Dokumentationen kompetent und fundiert entscheiden können. Es könnte auch sein, daß ein bestimmter Film oder ein bestimmtes Buch genau das Gegenteil dessen bewirkt — ich will nicht sagen, daß das auf diese beiden Publikationen zutrifft —, was eigentlich bezweckt ist.
Frau Kollegin Jelpke, wir haben ein unabhängiges, nicht weisungsgebundenes Kuratorium, das die Bundeszentrale berät.
Ich habe bereits bei den Beratungen des vorliegenden Antrags im Innenausschuß im Herbst des vergangenen Jahres Ihnen, Frau Jelpke, empfohlen, sich direkt an die Bundeszentrale für politische Bildung zu wenden und dort Ihr Anliegen zu verfolgen.
Es bleibt dabei: Ihren Antrag lehnen wir, wie die zuständigen Ausschüsse empfehlen, ab.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Günter Graf.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der heute hier zur Debatte stehende Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Aufnahme des Fernsehfilms „Wahrheit macht frei" und des Buches „Drahtzieher im braunen Netz — Der Wiederaufbau der NSDAP" in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung ist sicherlich ein im Ansatz durchaus akzeptabler Vorschlag — dies will ich überhaupt nicht verhehlen —; denn wir stimmen in diesem Hause wohl darin überein, daß wir alles tun müssen, um auf die Gefahren eines Wiedererstarkens des Nationalsozialismus hinzuweisen.
Allerdings stellt sich die Frage — diese Frage will ich für die SPD-Fraktion in aller Deutlichkeit hier stellen —, ob der von Ihnen gewählte Weg der richtige ist. Der Kollege Blank hat auf die Beratungen im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und im Innenausschuß hingewiesen. Wir haben dort mehr oder weniger einmütig festgestellt, daß der Weg, den Sie hier wählen, um das Filmwerk und das Buch über das Parlament in die Bundeszentrale zu transportieren, sicherlich nicht der richtige ist.
Es widerspricht im übrigen auch dem Selbstverständnis der Bundeszentrale für politische Bildung, seine Entscheidungen von dem Votum des Parlaments bzw. der Bundesregierung abhängig zu machen. Vielmehr muß es darum gehen, daß die Entscheidungen über die Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung, über die Aufnahme bestimmter Bücher, Filme, Seminare und dergleichen, unter Einbeziehung der dafür vorgesehenen Gremien — darauf
Günter Graf
haben auch Sie, Herr Kollege Blank, hingewiesen — in der Bundeszentrale selbst getroffen werden.
Was diese Gremien angeht, möchte ich der Öffentlichkeit sagen: Wir haben einerseits den Beirat, und wir haben andererseits das Kuratorium für politische Bildung. Das sind die richtigen Ansprechpartner. In den Ausschußberatungen haben wir in entsprechender Weise darauf hingewiesen.
Einzig und allein aus diesen Gründen — nicht in der Sache, um das deutlich zu sagen — plädiere ich für die SPD-Bundestagsfraktion dafür, Ihren Antrag abzulehnen. Ich habe Sie ja gerade in der Pause angesprochen, habe gesagt: Ziehen Sie den Antrag zurück! In der Sache können wir in den Ausschüssen konsequenterweise darüber reden. — Sie sind dem nicht nachgekommen.
Ich will nur darauf hinweisen, daß Sie, Frau Jelpke, in der Sitzung des Innenausschusses am 14. Oktober selbst dargestellt haben, daß Sie sich an die Bundeszentrale gewandt haben. Wie Sie mir eben gesagt haben, sei Ihnen eine Antwort in entsprechender Form bis zum heutigen Tage nicht zugegangen.
Auf der anderen Seite will ich deutlich sagen, daß selbst in Ihren eigenen Reihen der von Ihnen gewählte Weg nicht als der richtige betrachtet wird. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sich Ihr Kollege Keller in der Sitzung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft am 24. Juni bei der Abstimmung über Ihren Antrag nämlich der Stimme enthalten, und alle anderen, die dort waren, haben dagegen gestimmt. Ich glaube, das zeigt ganz deutlich, daß Sie sich in dieser Frage selbst nicht so ganz einig sind und daß Sie wahrscheinlich viel mehr des Effektes wegen diesen Antrag im Plenum des Deutschen Bundestags zur Abstimmung stellen.
— Bitte?
— Herr Kollege Seifert, ich kann Ihnen nur sagen: Ein Günter Graf, der aus Südoldenburg, hart an der ostfriesischen Grenze, kommt, läßt sich im Grunde genommen zu nichts zwingen. Ich weiß, wann ich bereit bin, meine Fraktion zu unterstützen, und ich weiß, wann ich meine eigene Meinung zu vertreten habe.
Dies ist meine persönliche Meinung, und die ist völlig identisch mit der Meinung meiner Fraktion.
Ich möchte Ihnen abschließend nur empfehlen, wirklich noch einmal darüber nachzudenken. Wählen Sie einen anderen Weg! Dies ist der falsche Weg. Überlegen Sie! Erklären Sie der Öffentlichkeit einmal, wie es mit der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung künftig sein soll, wenn wir in diesem Hohen Hause bei jedem Buch, bei jedem Film, bei jedem Seminar darüber abstimmen,
ob das aufgenommen werden soll oder nicht!
Das kann nicht der Weg sein. Das können Sie auch nicht ernsthaft wollen. Ich bin davon überzeugt, daß das auch gar nicht Ihr ernsthaftes Bemühen war. Vielmehr ging es Ihnen darum, hier etwas hochzupuschen, etwas aufzubauschen. Das bringt nichts.
Danke schön.
— Es tut mir leid, Frau Jelpke. Der Redner hatte seine Ausführungen beendet, und bei den Fünf-MinutenBeiträgen — —
— Okay, dann ist es gut.
Herr Kollege, erinnern Sie sich noch daran, daß einige Wochen vor der Einbringung unseres Antrags, den Film „Wahrheit macht frei" in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung aufzunehmen, die Gruppe PDS/ Linke Liste einen Antrag für eine Aufklärungskampagne gegen Rassismus, Neofaschismus, Fremdenfeindlichkeit eingebracht hat und daß die Fraktionen diesen Antrag ebenfalls geschlossen abgelehnt haben, und sehen Sie nicht, daß das hier ein weiterer konkreter Versuch war, einen solchen Antrag einzubringen, um einfach deutlich zu machen, daß es Materialien gibt, mit denen man aufklären kann? Erinnern Sie sich daran?
Frau Jelpke, ich wäre Ihnen dankbar, wenn die Frage nicht länger dauerte als der Redebeitrag, der dem Abgeordneten Graf zugestanden worden ist.
Frau Kollegin Jelpke, ich erinnere mich schwach daran. Jeder hat aber wohl Verständnis dafür, daß man sich natürlich nicht ganz konkret an jeden einzelnen Vorgang erinnert, der irgendwann im Laufe der letzten Jahre hier behandelt worden ist.Eines will ich Ihnen ganz deutlich sagen: Mit Ihrem Antrag verfolgen Sie ja das Ziel, uns öffentlich in einer Form darzustellen, die den Tatsachen nicht entspricht. Gerade Sie sollten auch aus der Ausschußarbeit wissen, daß es gerade die Sozialdemokraten sind und waren, die in dieser Frage, was Rechtsextremismus und dergleichen angeht, der ja viele Ursachen hat, konsequentes Vorgehen von der Bundesregierung gefordert haben. Ich habe nicht die Bundesregierung in Schutz zu nehmen. Ich persönlich bin in dieser Frage mit Ihnen der Auffassung, daß viele Dinge nicht geschehen, die hätten geschehen müssen, und daß wir vieles, was sich in den letzten Jahren in unserem Lande vollzogen hat, hätten verhindern können. Aber das ist ein anderes Thema. Das wollen wir hier heute nicht vertiefen. Aber Sie sollten uns hier in der Öffentlichkeit nicht in einer Art und Weise darstellen, die völlig an der Wirklichkeit vorbeigeht.Ich sage Ihnen persönlich ganz freundschaftlich: Lassen Sie uns im Ausschuß — Sie wissen, daß wir
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Günter Grafdazu jederzeit bereit sind — ordentlich miteinander reden, aber nicht in einer Art und Weise, bei der man Effekte erheischen will und im Grunde genommen an dem eigentlichen Thema vorbeigeht! Das hilft uns allen in diesem Hause überhaupt nicht weiter.Ich hoffe, ich habe Ihre Frage beantwortet; wenn nicht, bin ich gern bereit, nachher draußen mit Ihnen weiter darüber zu reden.
Danke schön. — Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß, wie bei der Aktuellen Stunde, bei den FünfMinuten-Beiträgen Zwischenfragen normalerweile nicht zugelassen werden, und zwar — das hat der Dialog hier gerade bewiesen — aus gutem Grund.
Nun hat der Abgeordnete Heinz-Dieter Hackel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste bereitet mir aus zweierlei Gründen Sorge.
Zum einen beweist die Gruppe, daß sie bestimmte Denkmechanismen immer noch nicht abgelegt hat, wenn sie glaubt, die Regierung auf diesem Wege zu einem schwerwiegenden Eingriff in die Angelegenheiten einer überparteilich angelegten Institution bewegen zu können. Die Bundeszentrale für politische Bildung ist nämlich bewußt nicht Teil der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Diese inhaltliche Unabhängigkeit entspricht auch unseren liberalen Vorstellungen von politischer Bildung in einem freiheitlichen Rechtsstaat.
Zum anderen arbeitet die Bundeszentrale für politische Bildung durchaus nicht ohne inhaltliche Kontrolle. Sie ist angebunden an den Deutschen Bundestag. Ihre Arbeit wird begleitet durch ein Kuratorium, das, wie ein Bundestagsausschuß, aus 22 Mitgliedern dieses Hauses besteht.
Wenn der Bundestag angesichts dieser Fakten die Bundesregierung zur Einflußnahme auffordert, dann schlägt er sich also geradezu selbst ins Gesicht. Er verfügt ja über das allein zuständige Gremium.
Wenn also überhaupt, dann wäre dieser Antrag an das Kuratorium zu richten, aber nur dann, wenn es dafür eine Grundlage gäbe. Im Normalfall sollte man sich mit einer solchen Forderung also erst einmal an die Bundeszentrale selbst wenden. Dies ist aber meines Wissens nach überhaupt nicht geschehen.
Welche Bücher und welche Filme in das Angebot der Bundeszentrale aufgenommen werden, muß der Bundeszentrale und ihren beigeordneten Gremien überlassen bleiben. Das ist für mich eine demokratische Grundsatzfrage. Als Mitglied des Kuratoriums für politische Bildung kann ich im übrigen nicht erkennen, wo inhaltlich die Lücke für den Vorschlag der PDS/Linke Liste sein soll.
Die Bekämpfung von Gewalt, von Extremismus, allerdings von rechts wie von links, gehört zu den Schwerpunkten der Arbeit der Bundeszentrale. Insbesondere die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit prägt einen erheblichen Teil der Publikationen und Maßnahmen. Diesem außerordentlich umfangreichen Angebot auf dem Sektor wurde bislang von keiner Seite Einseitigkeit vorgeworfen. Im Gegenteil: Die Bundeszentrale wird dem Anspruch auf überparteiliche Arbeit gerade durch den pluralistischen Ansatz in ihren Maßnahmen gerecht. Auch in diesem Sinne bitte ich Sie, den Antrag abzulehnen.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt den Antrag der PDS ab. Es ist ein Antrag im Geiste des verordneten Antifaschismus der SED.
Dies ist aber das Letzte, was wir in der gegenwärtigen Situation brauchen können.
— Jetzt hört mal zu!
Wenn die PDS einen Beitrag zur Analyse dessen leisten wollte, warum die rechtsradikalen Aktivitäten so besorgniserregend sind, sollte sie sich auf die Untersuchung der Beziehungen zwischen SED-Organisation und Neonazis in der DDR konzentrieren. Damit könnte sie einen wirklichen Beitrag leisten.
Der erste große neonazistische Überfall auf eine Kirchenveranstaltung im Oktober 1987 nahm seinen Ausgang auf einer Feier anläßlich der Verabschiedung eines Neonazis zum zehnjährigen Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee. Berüchtigt war die rechte Ecke bei den Spielen des Hausvereins von Erich Mielke SC Dynamo Berlin, die jedes Tor ihrer Mannschaft mit dem deutschen Gruß bejubelte, auch wenn der Ehrenvorsitzende in seiner Loge saß.
Es ist bekannt, daß die Volkspolizei wegsah, wenn Neonazis auf linke Punks einprügelten. Es ist bekannt, daß dieselbe Partei, die sich im Oktober 1989 als schlagkräftige Truppe erwies, nichts unternahm, wenn der Leadsänger einer bekannten neonazistischen Rockgruppe mit dem Hitler-Gruß seine Fans begrüßte und von ihnen ebenso zurückgegrüßt wurde.
Vor wenigen Monaten drohten ehemalige NVAOffiziere einem Mitglied des Verteidigungsausschusses, sie würden sich den Republikanern als militäri-
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13270 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Vera Wollenbergersche Berater zur Verfügung stellen, wenn sich der Ausschuß nicht dafür einsetze, daß ihnen eine Abfindung nach ihrer Vorstellung gezahlt werde.Diese Beispiele zeigen, wie wenig der verordnete Antifaschismus in der DDR der Entstehung von neonazistischem Gedankengut entgegengewirkt hat. Sosehr wir dem Film und dem Buch eine weite Verbreitung wünschen, so wenig kann eine staatlich verordnete Rezeption dieses Anliegen fördern.Es ist richtig, daß die Bundesregierung den Rechtsradikalismus nach wie vor sträflich unterschätzt. Es ist auch richtig, daß wir immer wieder unsere Stimme dagegen erheben müssen. Die PDS dürfte aber nicht so tun, als gingen sie die Ursachen des Neonazismus im Osten nichts an. Ohne sich dem eigenen Versagen in der Vergangenheit zu stellen, den mahnenden Zeigefinger zu erheben und auf andere zu deuten: Das ist die Art von Heuchelei, die wir 40 Jahre ertragen mußten, die aber jetzt endlich überwunden werden sollte.Wir schließen uns der Ausschußempfehlung an.
Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Horst Waffenschmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte der Kollegin Wollenberger ausdrücklich für das danken, was sie hier gesagt hat und was die Situation entlarvt hat, die wir hier vorgefunden haben.
Ich will hier aus Anlaß dieser Debatte aber auch einmal die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung und die Arbeit im Kuratorium, Herr Vorsitzender, bewußt würdigen; denn dort hat man sich seit Jahren darum bemüht, mit vielfältigen Initiativen auf die Gefahren des politischen Extremismus von rechts und von links hinzuweisen. Ich will ausdrücklich sagen: Dies ist in einer großen Zahl von Aktivitäten und Initiativen geschehen. Es bedurfte nicht dieses Antrags, der hier mit sehr fadenscheinigen Begründungen vorgetragen wurde.
Ich will nur ein Beispiel dafür nennen, was allein zur Aufarbeitung im Hinblick auf nationalsozialistisches Gedankengut geschehen ist. In einer Gesamtauflage von 3,5 Millionen Exemplaren hat die Bundeszentrale für politische Bildung eine Informationsreihe herausgegeben, die sich insbesondere an Schüler und an Volkshochschulen richtet, um auf die Gefahren extremistischer politischer Arbeit von rechts hinzuweisen. Ich erkläre aber genauso, daß die Bundeszentrale für politische Bildung auch weiterhin auf die Gefahren von links hinweisen wird, die keinen Deut geringer einzuschätzen sind als die Gefahren von rechts.
Es ist der Sprecherin der PDS unterlaufen, erneut Verdächtigungen und Unterstellungen gegen Einrichtungen vorzutragen, z. B. gegen den VDA, der im
Auftrage des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums des Innern seit Jahren eine wichtige kulturfördernde Arbeit, vor allen Dingen in Staaten Osteuropas, leistet. Ich weise die Unterstellungen, die Sie hier vorgetragen haben, und Ihre Verdächtigungen gegen Demokraten und leitende Mitarbeiter ausdrücklich zurück. Sie sind durch nichts, aber auch gar nichts begründet.
Ich bedanke mich bei den Sprechern der Fraktionen, die alle mit guten Gründen dargelegt haben, warum dieser Antrag abzulehnen ist. Ich darf Ihnen versichern: Wir sind mit der Struktur der Bundeszentrale für politische Bildung gut gefahren. Die Bundeszentrale hat sich in über 40 Jahren um eine ausgewogene politische Bildungsarbeit bemüht. Im Zentrum standen Information und Kampf gegen politischen Extremismus. Im Zentrum stand ferner die Information über positive Elemente des demokratischen Staatsaufbaus. Diese Arbeit sollte weitergeführt werden. Es bedarf nicht der Einzelweisungen aus dem Ministerium; man sollte diese sogar so weit wie möglich vermeiden. Ich hebe die gute Arbeit des Kuratoriums hervor, in dem die politischen Fraktionen zusammenarbeiten. Ich meine, wir sollten am Konsens aller Demokraten festhalten, der die positive Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung bisher begleitet hat. Ich danke, daß er auch heute hier zum Ausdruck kam. So sollten wir verfahren.
Herzlichen Dank.
Zu einer kurzen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Dr. Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin entsetzt, erschüttert über das, was in den Worten der Kollegin Wollenberger soeben zum Ausdruck kam.
Wenn es sich so verhält, dann ist es ganz schlimm. Es ist mir neu; das sage ich offen dazu.Ich habe die Entwicklung von rechtsradikalen Kräften in West und Ost intensiv verfolgt;
lange in der Zeit vor 1989, über mehrere Jahrzehnte hinweg.
Hier ist davon nie wirklich etwas durchgekommen. Ich werde dem auch weiterhin nachgehen.Dennoch — deshalb gebe ich diese Erklärung ab — werde ich für den Antrag der PDS/Linke Liste stimmen. Ich halte in dieser Situation jede Initiative, um dafür zu sorgen, daß weiterhin intensiv und wahrheitsgemäß über die Entwicklung von rechtsradikalen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13271
Dr. Ulrich BriefsKräften und insbesondere über die Zeit vor 1945 in Deutschland berichtet wird, für so bitter notwendig, daß ich mich in diesem Fall entschließe, für diesen Antrag zu stimmen.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuß empfiehlt, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/2426 abzulehnen. Wer dieser Empfehlung folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Darm ist diese Beschlußempfehlung bei Enthaltung der Abgeordneten Frau Köppe gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste und des Abgeordneten Dr. Briefs angenommen worden.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Köppe, Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Bannmeilengesetzes
— Drucksache 12/4530 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Der Ältestenrat schlägt Ihnen auch hier eine Aussprache mit 5-Minuten-Beiträgen vor. Ich setze voraus, daß Sie damit einverstanden sind.
Ich erteile zunächst einmal der Abgeordneten Frau Ingrid Köppe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will das Bannmeilengesetz abschaffen.
Wir meinen, daß diesem Gesetz ein äußerst überholtes Verständnis von Regierung und Parlament als einem räumlich und politisch abgeschotteten Bereich zugrunde liegt, und wir wenden uns deswegen gegen dieses Gesetz.
Im Bundestag wird zwar über die Belange von Bürgern und Bürgerinnen entschieden, sie selbst jedoch haben als politische Subjekte bei Strafandrohung keinen Zugang in die Umgebung des Bundestages, wenn sie hier demonstrieren wollen.
— Ja, die Besucher auf der Tribüne haben ganz sicherlich Zugang. Darüber bin ich auch froh.
— Das ist Öffentlichkeit. Aber Sie wissen doch, daß es in diesem Land durchaus Menschen gibt, die vor dem Bundestag demonstrieren wollen.Wir haben ja heute morgen schon darüber gesprochen. Da haben Sie es sogar abgelehnt, sich mit einem diesbezüglichen Antrag zu beschäftigen.Solche Demonstrationen im Umkreis des Bundestages werden nicht zugelassen, obwohl es nach dem Bannmeilengesetz sogar eine Ausnahmeregelung gibt.
Wir denken, daß ein Verbot jeglicher politischer Manifestation um den Bundestag herum ein Symbol für Angst und Distanz der Politiker und Politikerinnen gegenüber dem Volk ist.
Wie sehr dieses antiquierte Denken hier im Hause noch herrscht — darauf habe ich eben schon verwiesen —, hat uns die Debatte am heutigen Morgen gezeigt, als es die Mehrheit dieses Hauses ablehnte, sich mit einem Antrag zu beschäftigen, der sich mit der im Bannmeilengesetz selbst vorgesehenen Ausnahmeregelung befaßt. Das ist der § 3. Wir hatten beantragt, daß zu dem Tag, an dem hier die Schlußabstimmung über die Asylgrundrechtsänderung vorgenommen wird, Demonstrationen vor dem Bundestag zugelassen werden. Eine Befassung mit diesem Antrag haben Sie abgelehnt.Neben grundsätzlichen Erwägungen gegen dieses Gesetz spielen praktische Überlegungen eine Rolle. Sie wissen, daß Demonstranten nur mit sehr hohem Personaleinsatz der Polizei vom Bundestag ferngehalten werden können. Sie haben sicherlich auch zur Kenntnis genommen, daß sich selbst der Polizeipräsident von Bonn für eine Reform des Bannmeilengesetzes ausspricht.Von den Befürwortern des Bannmeilengesetzes wird der Zweck dieser Regelung dahin beschrieben, vom Parlament den Druck der Straße fernzuhalten und die Unabhängigkeit des Parlaments in seiner Entscheidung zu gewährleisten.Kurz etwas zu diesen Argumenten.Zum ersten. Mit dem Druck von der Straße werden wir Parlamentarier und Parlamentarierinnen ohnehin konfrontiert, etwa in Form von Politikverdrossenheit und auch Fremdenhaß.Zu dem zweiten Argument: dieses Gesetz diene dazu, die Unabhängigkeit des Parlaments in seinen Entscheidungen zu gewährleisten. Ich denke, daß Lobbyisten und Medien, die hier herein dürfen,
weit subtiler und effektiver auf die Parlamentariereinwirken, als das Aufzüge im Regierungsviertel tun.Darüber hinaus wird vielfältige Beeinflussung auf
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13272 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Ingrid KöppeAbgeordnete ausgeübt, z. B. durch Parteispenden oder über Fraktions- oder Parteidisziplin.
Im übrigen: Wenn es zur parlamentarischen Abstimmung kommt, ist das Abstimmungsverhalten meistens schon in Richtung auf die von der Fraktion vereinbarte Entscheidung festgelegt.
— Ich habe mich mit dem Argument auseinandergesetzt, daß das die Unabhängigkeit der parlamentarischen Entscheidungen beeinflussen würde. Wenn Sie zuhören, haben Sie es gehört.
Ein drittes Argument, das immer vorgebracht wird, lautet: Wir sind mit der Bannmeilenregelung sehr gut hingekommen.
Meine Herren, ich möchte Sie bitten, die Abgeordnete in Ruhe zu Ende sprechen zu lassen. — Bitte sehr.
Ein Argument, das immer angeführt wird, lautet: Wir sind in den vergangenen Jahren mit der Bannmeilenregelung gut hingekommen. Wenn wir uns ein bißchen umschauen — auch ich habe das getan —, können wir feststellen, daß andere Länder und Parlamente sehr gut ohne eine solche Bannmeilenregelung auskommen.
Ich nenne stellvertretend das niederländische Parlament, das wir vor kurzem besucht haben. Auch das Parlament in den USA kann auf eine solche Banruneilenregelung verzichten. Im übrigen brauchen wir gar nicht so weit zu fahren. Selbst in Bremen verzichtet man auf eine solche Regelung.
Ich hoffe, daß wir Gelegenheit haben werden, unseren Antrag in den Ausschüssen weiter zu diskutieren, und bedanke mich bei Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Wolfgang von Stetten das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Schon im Ansatz ist der von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachte Entwurf in sich ebenso falsch wie die Folgerung und die fast naive Einstellung, daß dadurch Kosten für Sicherheitsorgane in nicht unerheblichem Umfang gespart werden könnten. Denn die Personalkosten würden sogar höher werden, weil man alle naselang präventiv vorgehen müßte.Wenn man die Begründung und die Redebeiträge von heute morgen dazu hört, könnte man fast meinen, daß das Vorhandensein einer Bannmeile für den Deutschen Bundestag mit monarchischem Despotismus des Mittelalters oder rechter oder linker Diktatur in der Neuzeit gleichgesetzt wird. Die Bannmeile ist ein Schutz für die ungestörte Arbeit des Abgeordneten, damit er nicht unmittelbar dem Bürger und dem Druck der Straße ausgesetzt ist.
Sie hält den demokratischen und friedlichen Bürger nicht von seinen Grundrechten ab, in diesem Fall der Demonstrationsfreiheit. Das kann er mit Ausnahme von wenigen kleinen Zonen, den Länderparlamenten, dem Verfassungsgericht und dem Bundestag, auf 300 000 Quadratkilometern der Bundesrepublik Deutschland auch in und um Bonn herum, tun. Wer hier von Beschränkung der Demokratie redet, weiß im Grunde genommen nicht, was er sagt, und öffnet bewußt oder unbewußt Radikalen von rechts und links die Tür zum Versuch, die Demokratie zu zerstören.
In der Tat stammt das Wort „Bannmeile" aus dem Mittelalter und meinte das Gebiet um eine Stadt herum, das, ohne umzäunt zu sein, ein befriedetes Gebiet war, in dem die stadtfremden den stadteigenen Gewerbetreibenden keine Konkurrenz machen durften. Vielleicht sollte man tatsächlich ein moderneres Wort nehmen und „Schutzbereich" sagen. Wenn wir das in einem hoffentlich bald einzubringenden Gesetz für den Schutz des Reichstags in Berlin als Schutzbereichsgesetz erlassen, wäre das vielleicht ein Fortschritt.
Aber es bleibt dabei: Auch um den Reichstag in Berlin muß ein Schutzbereich, eine Bannmeile entstehen.Der Hinweis auf andere westliche Demokratien, die kein Bannmeilengesetz haben, trügt, weil sie alle ein wesentlich schärferes Polizei- und Versammlungsrecht haben. Die Polizei dort kann sehr viel schneller, kann präventiv und damit wirksamer eingreifen, als das nach unseren — teilweise aufgeweichten — Gesetzen möglich ist.
Deshalb ist es wichtig, ohne lange Prüfung der Verhältnismäßigkeit und sonstiger Voraussetzungen festzustellen, daß im Schutzbereich des Deutschen Bundestages nicht demonstriert werden darf.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13273
Dr. Wolfgang Freiherr von StettenGeradezu absurd ist der Antrag, Frau Kollegin, für den 13. Mai eine Ausnahmegenehmigung nach § 3 des Bannmeilengesetzes zuzulassen, nachdem Schlägertrupps und Pressuregroups der linken Fundamentalisten bereits ihre Anreise angekündigt haben und sogar, wie ich hörte, Bundestagsabgeordnete aus dem Bundestag heraus unter Mißbrauch ihres Telefons zu solchen Demonstrationen aufrufen.
Das sollte eigentlich geahndet werden.
Wer so etwas tut, verwirkt meiner Ansicht nach sein Recht als Abgeordneter.
Wer zu groß angekündigten Gottesdiensten vermummt anrücken will, will nicht Asylbewerbern helfen, sondern diese unsere Demokratie ins Chaos stürzen. Die Veranstalter müssen wissen, auf was sie sich einlassen.Aber gerade auch im Vorfeld dieser angekündigten Demonstration ist es notwendig, den Entwurf zur Aufhebung des Bannmeilengesetzes eindeutig abzulehnen.Danke schön.
Das Wort hat nummehr der Abgeordnete Dieter Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich, ob wir hier im Lande nicht doch einige Sorgen haben, die etwas größer sind
als die Auseinandersetzung um Sinn oder Unsinn eines Bannmeilengesetzes.Fraglos gibt es demokratische Parlamente mit einer langen Tradition, die ohne eine Bannmeile auskommen. Zweifellos gibt es ebenso demokratische Parlamente, die seit geraumer Zeit mit einer Bannmeile leben, beispielsweise der Deutsche Bundestag. Wir haben diese Situation nicht nur international, wir haben sie sogar national. Darauf hat Frau Köppe zu Recht hingewiesen. Es gibt in Deutschland Landtage, die keine Bannmeile haben.
Der Gesetzgeber hat das Recht und die Möglichkeit, das so oder so zu regeln. Es gibt ein Für und Wider. Wir haben jetzt wieder einmal eine Zeit, wo wir über den Sinn oder den geringeren Sinn -- ich will nicht „Unsinn" sagen — einer Bannmeile diskutieren. Wir sollten uns auf Grund des vorliegenden Antrags diese Fragen erneut stellen. Wir haben inzwischen von der Publizistik und von Polizeipraktikern kritische Argumente gegen die Bannmeile gehört. Ich persönlich bin der Auffassung, daß wir die Bannmeile keineswegs haben, um das Volk fernzuhalten. Das, Frau Köppe, ist Unfug. Ganz im Gegenteil: Wo sind wir denn, daß Volksvertreter vor dem Volk, das sie vertreten, Angst haben?Wir haben hier im engeren Parlamentsviertel in Bonn, in der Bannmeile, Jahr für Jahr mehr als 200 000 Besucher. Jeder Besucher ist herzlich willkommen. Das sind bei weitem nicht nur Lobbyisten. Die große Mehrzahl sind ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die uns hier besuchen. Mir geht es so wie Ihnen: Ich freue mich über jeden Besucher, der hier herkommt.
Denn das bedeutet letzten Endes Interesse am Parlament, Interesse an der Arbeit der Volksvertreter. Ich freue mich, daß im neuen Plenarsaal ein paar Besucherplätze mehr zur Verfügung stehen, so daß der große Andrang noch besser befriedigt werden kann.
Vielleicht gelingt es, in Berlin die Besuchertribüne noch ein wenig zu vergrößern. Demokratie heißt Öffentlichkeit, heißt Dialog mit dem Bürger, nicht etwa Dialog ohne den Bürger.
Wir Parlamentarier sind Menschen, die sich seit langen Jahren vielleicht etwas stärker in Politik einschalten als andere. Ich bin ganz sicher, daß wir alle miteinander schon viele tausend Male an Demonstrationen und öffentlichen Versammlungen teilgenommen haben.
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist ein ganz elementares demokratisches Grundrecht. Auch wir Abgeordnete nehmen sehr häufig an solchen Demonstrationen teil, übrigens auch hier in Bonn.Aber warum soll dies eine so elementar wichtige Frage sein, wieso soll es gar eine antidemokratische Angelegenheit sein, wenn wir in Deutschland einen einzigen Ort haben, der gar nicht einmal ganz so groß ist, wo die gewählten Volksvertreter ihre Arbeit unbeeinträchtigt und so gut wie möglich leisten sollen? Das ist eigentlich die Funktion der Bannmeile, nicht mehr und nicht weniger.Ich will noch einmal deutlich machen: Ich glaube, daß dieses Parlament auch ohne Bannmeile vernünftig arbeiten könnte. Deswegen werden wir uns der Diskussion stellen. Federführend wird der Geschäftsordnungsausschuß sein. Ich bin durchaus dafür, daß wir auch prüfen, ob wir nicht eine öffentliche Anhörung durchführen und das mit Polizeipraktikern, Wissenschaftlern und Publizisten debattieren sollten. Vielleicht können wir neue Aspekte gewinnen oder auch neue Entscheidungen treffen.Aus meiner Erkenntnislage von heute spricht mehr dafür, es bei der bewährten Praxis zu belassen. Auch
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13274 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Dieter Wiefelspützdie bundesdeutsche Demokratie, die ja noch nicht so ganz alt ist, hat ihre eigenen Traditionen, die auch Sinn machen. Seit gut 40 Jahren gibt es hier in Bonn diese Bannmeile. Seit mehr als 40 Jahren wird damit ganz vernünftig umgegangen. Warum sollen wir diese bewährte Praxis ohne Not ändern? Wir sollten eine Änderung nur dann vornehmen, wenn wir zwingende Argumente dafür haben. Wir stellen uns, Frau Köppe, allerdings sehr gern der Diskussion. Das werden wir in den kommenden Monaten tun.Mir macht aber ein bißchen Sorge — ich schaue ganz besonders intensiv nach ganz links —, daß verstärkt Mitglieder des Bundestages als Personen auffallen, die wegen Verletzung der Bannmeile vor deutschen Gerichten stehen und von diesen möglicherweise sogar verurteilt werden. Wir sollten einmal die Frage stellen, ob wir als Abgeordnete nicht eine ganze Reihe von besonderen und viel stärkeren Möglichkeiten haben, uns zu artikulieren, als diejenigen, die uns heute hier besucht haben. Bei uns sind manchmal Fernsehkameras dabei. Ich darf beispielsweise jetzt hier im Parlament reden. Haben wir es wirklich nötig, in diesem Parlament auch noch zu demonstrieren? Ich denke, dazu haben wir doch ganz andere Möglichkeiten.Ich bitte, das zu bedenken, wenngleich ich einräume: Man muß prüfen, ob es möglicherweise nicht auch zum Kernbereich von Art. 38 des Grundgesetzes gehört, sich in der Weise zu betätigen, wie das einige Kolleginnen und Kollegen neulich getan haben, wo strafrechtliche Folgen zu zeitigen waren.
Herr Abgeordneter Wiefelspütz, geschäftsordnungskundig, wie Sie sind, wissen Sie, daß ich Sie jetzt darauf aufmerksam machen muß, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich würde niemals dem Präsidenten zu widersprechen wagen. Ich möchte im Gegenteil ganz besonders folgsam sein.
Ich will mit dem Angebot schließen, den Vorschlag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN solide zu prüfen. Vermutlich werden wir bei der jetzigen Regelung bleiben. Wir werden aber alle Argumente kritisch prüfen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Dr. Dagmar Enkelmann hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe zu, nicht ganz unbefangen an diese Debatte zu gehen. Mein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Bannmeilengesetz läuft in der nächsten Instanz. Ich bin auch bereit, bis zum Bundesverfassungsgericht zu gehen. Ich bin also in diesem Sinne eine Betroffene.Was den konkreten Fall angeht, Kollege Wiefelspütz, ging es gerade darum, daß die Möglichkeit für die Öffentlichkeit eben nicht vorhanden war. Deswegen sind Abgeordnete vor das Bundeskanzleramt gezogen, um dort Presseerklärungen zu verteilen. Aber darauf komme ich noch zu sprechen.Betroffen bin ich aber vor allem über den Umgang mit dem Gesetz in diesem Hohen Hause. Ist sich jede und jeder wirklich im klaren, worüber wir hier reden? Die Bannnmeile umschließt ein Areal von 200 000 qm. Dieser Bereich erstreckt sich vom Freizeitpark Rheinaue bis weit hinter das Museum Koenig. Wir reden also nicht nur über das Terrain rings um das Wasserwerk.
— Herr Gallus, ich stelle Ihnen das gern zur Verfügung.Neben dem laut § 106a StGB zu schützenden Gesetzgebungsorgan des Bundes befinden sich in der Bannmeile zahlreiche Botschaften, die EG-Vertretung, die Mittelstandsvereinigung der CDU, das Johanniter-Krankenhaus, das Deutsche Atomforum, die Kerntechnische Gesellschaft, aber auch zahlreiche Banken, Versicherungen, Geschäfte, Museen und last but not least der Bonner Ruderverein. Kurioserweise liegt selbst ein Teil des Rheins im — wie es im Gesetz heißt — „befriedeten Bannkreis".
— Ich stelle das gern zur Verfügung.Spätestens an dieser Stelle sei die Frage gestattet, worin der Sinn des Bannkreises besteht. Er besteht laut § 106 a StGB im Schutz des gesetzgebenden Organs. Die Gesetzgebungsverantwortung des Johanniter-Krankenhauses oder gar des Bonner Rudervereins vermag ich allerdings nicht zu erkennen.
Nun stelle man sich aber einmal vor, die Ruderinnen und Ruderer des Vereins würden gegen die Entscheidung ihres Vorstands protestieren, daß künftig sonntags nicht mehr auf dem Rhein gerudert werden dürfe. Sie müßten dann mit einem Verfahren wegen Bannkreisverletzung und mit einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen rechnen.
So fiktiv dieses Beispiel ist, macht es doch gerade durch seine Absurdität die Sinnlosigkeit der Bannmeile deutlich. Wesentlich bedenklicher aber scheint mir, daß von der übergroßen Mehrheit der Abgeordneten dieses Hauses eine offensichtliche Beschneidung der in Art. 5 und 8 des Grundgesetzes festgeschriebenen Meinungs- und Versammlungsfreiheit akzeptiert und begründet wird. Um nicht mehr und nicht weniger geht es hier.Wovor haben Sie Angst? Vor Transparenten, auf denen Ihr Einsatz für den Erhalt der Stahlstandorte in Deutschland gefordert wird? Vor Flugblättern, in denen auf die Sorgen ostdeutscher Mieterinnen und Mieter hingewiesen wird? Vor kurdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die von Ihnen Bleiberecht und
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Dr. Dagmar EnkelmannSchutz vor Abschiebung einklagen? Sie meinen doch nicht im Ernst, daß Sie davor mit einem „befriedeten Bannkreis„ geschützt werden müßten.
Da haben wir im übrigen vor der letzten Volkskammer der DDR ganz andere Sachen erlebt und hatten dennoch keine Bannmeile. Trotz vor den Eingang getriebener Rindviecher und Schweine oder trotz vorgefahrener Müllfahrzeuge haben wir unsere Arbeit getan.Warum legen Sie so außerordentlich großen Wert auf einen Bannkreis um Gesetzgebungsorgan und Bundesverfassungsgericht, nicht aber beispielsweise um ein Amtsgericht, dessen Entscheidungen wohl noch viel öfter aggressive Wut hervorrufen können? Wenn, dann müßte man auf dieser Ebene beginnen.Überhaupt ist der Umgang mit § 106a StGB äußerst willkürlich. Die Meinungsäußerungen, die der Bundesregierung genehm sind und die von ihrer eigenen Klientel kommen, werden nicht verfolgt. Weder gibt es Verfahren gegen Lebenschützerinnen und Lebenschützer, die sich gegen eine Änderung des § 218 StGB einsetzen, die stundenlang und unbehelligt mit ihren Plakaten in der Bannmeile zubringen durften, noch wurde einer der Hunderte von Bauern bestraft, die im vergangenen Jahr hier in der Bannmeile demonstrierten.Gleichwohl fordert man die ganze Härte des Gesetzes, nachdem fünf Abgeordnete der PDS/Linke Liste vor dem Bundeskanzleramt Presseerklärungen an Journalisten verteilt hatten. Weil sie Abgeordnete der ach so ungeliebten Gruppe dieses Parlaments sind? Oder weil sie sich für eine Aufklärungsaktion der Bundesregierung zum Thema Asylrecht einsetzten?
Nebenbei bemerkt lesen sich die Urteile des Amtsgerichts Bonn eher wie Satiren und lassen mich jedenfalls an einer gründlichen Rechtsprechung zweifeln.Im Urteil gegen Ulla Jelpke wird die Bannkreisverletzung mit einem Ladendiebstahl verglichen. In einem Urteil wird u. a. behauptet, ich sei Mitglied des Deutschen Bundestages für die Partei DIE GRÜNEN. Das bin ich nun nicht.
Ferner wird behauptet, ich hätte mit Passanten über politische Ansichten der GRÜNEN gesprochen. Noch eine Kostprobe, damit Sie etwas zum Lachen haben: „Die Angeklagte hat drei Kinder von 15, 12 und 3 1/2 Jahren, die noch zur Schule gehen." Ich erkläre: Meine jüngste Tochter geht mit dreieinhalb Jahren noch nicht zur Schule.Der Gesetzgeber soll unbeeinflußt von politischen Meinungsäußerungen in der Bannmeile seine Arbeit tun. Aber was ist mit den Lobbyisten, die dank Hausausweisung im Bundestag ein- und ausgehen, als Sachverständige in Ausschüssen und Kommissionen sitzen sowie Abgeordnete mit günstigen Immobilien oder Testfahrzeugen ihrer Firmen beglücken? Welches Gesetz schützt die Abgeordneten davor?Abgesehen davon sind Störung der Tätigkeit des Gesetzgebungsorgans, Nötigung und Gewalt oder Drohung durch andere Vorschriften im Strafgesetzbuch—u. a. durch die §§. 106 und 106 b — hinreichend abgedeckt.Hören wir auf die, die es besser wissen müssen! Wenn der Polizeipräsident von Bonn meint, die Bannmeile sei überflüssig — er ist kein PDS-Mitglied —, dann spricht er aus langjähriger Erfahrung.Die Bannmeile ist ein Relikt der Vergangenheit. Im übrigen ist eine Umbenennung der Bannmeile in „Abgeordnetenreservat" oder so ähnlich wenig hilfreich, Herr Kollege von Stetten. Die Bannmeile gehört ins Geschichtsbuch verbannt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politikverdrossenheit ist zweifelsohne eines der Worte dieser Zeit. Grund sind aber nicht die Medien, Grund sind nicht die 68er, Grund ist gerade auch eine verknöcherte parlamentarische Demokratie, die die Bevölkerung, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Ängste und ihre Hoffnungen auf Distanz hält. Grund ist ein Parlament, das hier in Bonn teilweise wie unter einer Käseglocke tagt.
— Herr von Stetten, es sind immer dieselben dummen Zwischenrufe von Ihnen.
— Der war ganz und gar nicht gut; das ist ein Armutszeugnis — Grund ist ein bürokratischer, hierarchischer und teilweise autoritärer Apparat, Grund sind entsprechende Regelungen, mit denen wir, die Abgeordneten und Parteien, uns die Menschen in diesem Lande fernhalten. Grund ist auch die treudeutsche Unfähigkeit, mit Protest, mit Bewegungen der Gesellschaft umzugehen.Mir bzw. meiner Mitarbeiterin das Telefon abzuschalten ist kleinkariert, ist lächerlich. Ich höre schon das Gelächter,
wenn ich das nächste Woche in Paris erzähle:
„Voilà les allemands! " So sind sie halt, die Deutschen. Das ist eine typisch deutsche autoritäre Maßnahme von oben. In Deutschland ist eben alles verboten, was nicht erlaubt ist.Wohlgemerkt, das Telefon ist nicht abgeschaltet worden wegen eines erwiesenen Falls von angeblich nicht zulässiger Information über irgendwelche
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13276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993
Dr. Ulrich Briefsgeplanten Verletzungen der Bannmeile am Tag der Bundestagsabstimmung über die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Es ist einfach auf Verdacht abgeschaltet worden. Das ist in jedem Fall ein unzulässiger Eingriff in die Rechte gewählter Abgeordneter und wird als solcher von mir mit den entsprechenden Mitteln bekämpft werden.Grotesk ist aber der politische Anlaß für diese Maßnahme und auch für die heutige Diskussion. Diejenigen, die gegen die Aushöhlung der Verfassung dieses Landes protestieren und entsprechende Informationen verbreiten, diejenigen, die den möglichen Marsch in neoautoritäre Verhältnisse nicht mitmachen wollen, werden belangt: wie meine Mitarbeiterin, indem man ihr das Telefon sperrt, wie die Demonstrantinnen und Demonstranten am Tage X, also dem 13. Mai — wie es jetzt wohl feststeht —, an dem Tag der fast vollständigen Beseitigung des Grundrechts auf Asyl, indem man sie mit Hilfe des Bannmeilengesetzes und des § 106a Abs. 1 StGB zu Straftätern macht.Ich zitiere aus der Begründung des Gesetzentwurfes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Die Bannmeile im Bonner Regierungsviertel, aber auch beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sind die Symbole eines überkommenen spätabsolutistischen Staatsverständnisses.
Die Sphäre des Staates sollte ein räumlich und politisch abgesonderter Bereich bleiben, in dem zwar über die Belange der Bürgerinnen und Bürger entschieden wurde, in denen die Menschen aber als politische Subjekte keinen Zugang hatten.Dem ist nichts hinzuzufügen.Der Gesetzentwurf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist vollauf zu unterstützen. Alle, die eine lebendige, bürgernahe Demokratie haben wollen und nicht eine Herrschaft von Mumien, sollten ihn ebenfalls unterstützen.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Lüder das Wort.
Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte eigentlich gehofft, daß wir uns an dem Entwurf orientieren und nicht daran, wessen Telefon abgeschaltet worden ist oder wessen Urteile als scheltenswert empfunden werden.
Wir machen doch denen, die uns zuhören, etwas vor, wenn wir so tun, also könnte irgend etwas an der Rechtsprechung oder am Telefonhören oder am Rudern geändert werden, wenn wir uns in dieserDebatte mit solchen Seitenthemen befassen, abgesehen davon, daß nach meinem Rechtsstaatsverständnis der Deutsche Bundestag nicht der Ort ist, Urteilsschelte zu betreiben, noch dazu an Hand von einzelnen Auszügen aus Urteilen.
Der Entwurf gibt uns Gelegenheit, grundsätzlich darüber nachzudenken — ich würde den Weg weitergehen wollen, den Herr Wiefelspütz aufgezeigt hat —, ob wir eine Bannmeile brauchen und — das ist in meinen Augen noch wichtiger — ob wir sie so brauchen, wie sie gezogen ist, und ob wir sie, wenn wir nach Berlin gehen, so ziehen sollten, wie manche Polizeileute sie haben wollen, nämlich quer durch die Straße „Unter den Linden", oder ob wir sie auf den Kern dessen beschränken sollten, dem sie dienen soll, nämlich die Diskussionsfreiheit und die Meinungsbildungsfreiheit dieses Verfassungsorgans zu sichern.Meine Damen und Herren, ich glaube, man muß daran erinnern, daß es eine Bannmeile nicht nur für den Bundestag und den Bundesrat gibt, sondern Bannmeilen gibt es auch um den Sitz des Bundespräsidenten, gibt es auch um den Sitz des Bundesverfassungsgerichts — und dies aus guten Gründen; denn alles dies sind Staatsorgane, die in der Lage sein müssen, ihre eigene, unabhängige Willensbildung zu vollziehen.Wenn hier davon gesprochen worden ist, daß das Grundrecht auf Demonstration eingeschränkt würde, so sage ich mit allem Nachdruck und aller Klarheit: Nein. Es gilt, zwischen zwei Grundrechten, zwischen zwei grundlegenden Rechten abzuwägen: Das eine ist das Grundrecht der Bürger auf Demonstration. Dieses Recht ist wichtig und darf nicht angetastet werden und wird auch in unserem Staat gewahrt.
Das andere ist das grundlegende Recht der Verfassungsorgane, z. B. dieses Deutschen Bundestages, auf Meinungsbildung und Meinungsfindung in Unabhängigkeit und ohne den Druck von draußen, sondern nur kraft der Argumente, die wir hier austauschen.
Heute morgen ist in der Debatte im Hinblick auf den 13. Mai ein Wort gebraucht worden, das mich erschreckt hat. Ein Vertreter der PDS hat davon gesprochen, zu der Demonstration am 13. Mai würden „massenhaft" Bürger kommen. Zu „massenhaften" Demonstrationen und zu „massenhaften" Agitationen wurde in dem Staat aufgerufen, dessen „Massen" jetzt die Freiheit gewählt haben. Wer das Wort „massenhaft" als Begriff in das Parlament einführt und meint, wir sollten mit „massenhafter" Argumentation am 13. Mai rechnen, der ist auf dem falschen Dampfer.
Meine Damen und Herren, dieses Parlament hat das Recht und muß das Recht behalten, seine Meinung in
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 155. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. April 1993 13277
Wolfgang Lüderder Unabhängigkeit einer repräsentativen Demokratie zu bilden.
Dazu sind wir gewählt. Dafür sind wir verantwortlich. Auch dafür haben wir uns im nächsten Jahr dem Wähler zu stellen. Das ist das gute Recht dieses Parlaments, und es ist die gute Pflicht der Abgeordneten, daß wir ernst nehmen, was draußen auf der Straße geschieht, aber daß wir das gewichten, was hier drinnen argumentiert wird. Nicht die Masse der Straße, sondern das Maß der Argumente muß das bestimmen, was wir hier zum Ergebnis führen wollen.
Deswegen ist für mich die Bannmeile — ich habe es heute morgen gesagt und wiederhole es jetzt — ein Stück Kultur des Parlamentarismus. Dies möchte ich erhalten wissen im Interesse der Freiheit der Bürger und der Freiheit der Abgeordneten.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/4530 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich nehme an, daß sich kein Widerspruch ergibt. — Das ist so. Dann kann ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 15 a und b sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
15. a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Dezember 1991 zur Erhaltung der Fledermäuse in Europa
— Drucksache 12/3916 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/4777 — Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Ulrike Mehl
Gerhart R. Baum
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. März 1992 zur Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee
— Drucksache 12/3917 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/4776 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Dietmar Schütz
Gerhart R. Baum ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Egon Susset, Dr. Norbert Rieder, Peter Harry Carstensen , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P.
Zum Walfang
zu dem Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz, Michael Müller , Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbot des Walfangs international und in der EG absichern
— Drucksachen 12/4761, 12/4510, 12/4823 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Dietmar Schütz
Gerhart R. Baum
Auch hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor.
— Also, dann machen wir eine erweiterte „Bonner" halbe Stunde. Damit ist das Haus aber dann ganz bestimmt einverstanden. — Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Norbert Rieder das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute das Vergnügen, uns über drei völlig verschiedene Tiergruppen zu unterhalten bzw. über den Schutz dieser Tiergruppen: über Fledermäuse, über Kleinwale und über Großwale. Über alle diese drei Themen haben wir uns in diesem Haus bzw. in den Ausschüssen schon ausführlicher unterhalten.Ich will deswegen nach der Größe vorgehen und mit dem gewichtigsten — zumindest dem reinen Gewicht nach — Tier beginnen, nämlich mit den Großwalen. Möglicherweise sind diese Großwale auch diejenigen Tiere aus diesen drei Gruppen, die international und national die größte Resonanz bekommen.Bei der Behandlung der Großwale — bzw. bei dem, was wir weltweit gern schützen würden — ist es uns geglückt, in einem gemeinsamen Antrag fast aller im Bundestag vertretenen Parteien die überwiegende Meinung des Parlamentes — und in diesem Punkt wohl auch die Meinung der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung — in einem klaren Verhandlungsziel für internationale Konferenzen zum Walschutz zu bündeln.Wir alle, die wir daran beteiligt waren, waren uns einig, daß die Großwale nach wie vor weltweit geschützt werden müssen, daß es also keineswegs an der Zeit ist, diesen Schutz aufzugeben, und daß für die meisten Arten auch noch auf unabsehbare Zeit ein
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Dr. Norbert Riederabsoluter oder nahezu absoluter Schutz erforderlich ist.
Wir geben deshalb unserer Verhandlungsdelegation für Kyoto einen ganz klaren Auftrag mit, wobei wir es, wie das in solchen Fällen immer ist, der Erfahrung oder dem Verhandlungsgeschick unserer Delegation überlassen müssen, im Verlauf der Verhandlungen die richtige Taktik und die richtige Strategie zu entwickeln.
Wohlgemerkt, es handelt sich um ein Ziel, das wir ihnen mitgeben. Was dann konkret zu erreichen ist, das kann hier im Saal jetzt noch keiner voraussehen.
Hier in diesem Saale sollten wir aber auch einmal den bisherigen deutschen Vertretern bei der Internationalen Walfangkommission dafür danken, daß der Walschutz in den letzten Jahren deutlich verbessert werden konnte. Das ist auch dem Geschick unserer Verhandlungsdelegation zu verdanken.Wir sollten aber auch dem Bundesministerium für Landwirtschaft danken, das die Betreuung dieses Bereiches in den letzten Jahren gehabt hat und auch in Zukunft haben wird und ebenfalls hervorragende, lobenswerte Arbeit geleistet hat.
Ein Defizit bzw. eine Unlogik in den internationalen Abkommen über den Walfang und den Walschutz darf ich hier allerdings nicht unerwähnt lassen, nämlich den Fang von Walen durch — wie heißt es so schön? — Eingeborene. Die Grundidee des Walfangs durch Eingeborene ist die, daß Eingeborene, speziell Eskimos von Alaska bis Grönland, zum sogenannten Subsistenzfang, also für die eigene Versorgung, Wale — allerdings in begrenztem Umfang — jagen dürfen.Ich glaube, daß diese Abkommen bzw. die Sondergenehmigungen in Zukunft sehr viel stärker auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden sollten. Ich möchte dazu zwei Beispiele nennen.Die Eskimos im Norden von Alaska an der Prudhoe Bay schwimmen im wahrsten Sinne des Wortes auf einer Ölwoge und damit im Geld, und ich frage mich, ob in diesem Bereich Waljagd durch Eingeborene noch nötig ist. Zur Selbstversorgung dieser Bevölkerung, um nicht zu verhungern, liefert sie dort keinen wesentlichen Beitrag mehr. Ich habe den Eindruck, daß Begründungen, wie Norwegen sie mitunter bringt, das ganz im Norden von Skandinavien zur Versorgung der dortigen Eingeborenen — die in diesem Fall allerdings Norweger sind — Waljagd betreiben will, nicht schlechter fundiert sind als die Begründungen der Eskimos in Alaska.Ich möchte das an einem weiteren Beispiel ein wenig ausführen und die Narwale erwähnen, die zu den Kleinwalen gehören. — Das betrifft eigentlich schon den nächsten Punkt. — Bei den Narwalen ist es so, daß Eingeborene in Grönland sie in beachtlichem Maße fangen, natürlich ihr Fleisch essen und ihre Zähne — die wir alle irgendwo einmal gesehen haben; denn die Narwalzähne wurden als Horn der Einhörner angesehen — zu kunstgewerblichen Gegenständen verarbeiten, und das ist auch legal. Das ist übrigens das einzige Walprodukt, nämlich Narwalzahn, von Eingeborenen in Grönland bearbeitet, das wir als Bundesdeutsche legal erwerben und in die Bundesrepublik importieren dürfen. Wohlgemerkt, wenn die Wale von Eingeborenen erlegt und verarbeitet wurden, nur dann ist es erlaubt.Aus gut unterrichteter Quelle erfahren wir aber, daß im letzten Jahr etwa 1 000 Narwalzähne in unbearbeitetem Zustand nach Dänemark gelangt sind. 1 000 Narwalzähne bei einer Population von maximal 30 000 Narwalen weltweit, das ist ein Aderlaß, der ganz beachtlich ist. In diesem Bereich sollten wir wirklich einmal etwas genauer nachbohren.An diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig nicht nur der Schutz der Großwale, sondern auch der Schutz der Kleinwale ist. Deshalb ist es besonders erfreulich, daß wir heute abschließend über den Entwurf eines Gesetzes zur Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee abstimmen werden. Dieses Gesetz, das ein Folgeprodukt des Bonner Übereinkommens zur Erhaltung wandernder, wildlebender Tierarten ist, gilt für alle Kleinwalarten in der Nord- und Ostsee, also für Tümmler und Delphine und ihre Verwandten.Wir, die CDU/CSU, haben in der ersten Lesung dieses Gesetzes bereits unsere positive Einstellung zu diesem Gesetz dargelegt und unsere uneingeschränkte Zustimmung angekündigt. Ich kann mir deshalb inhaltliche Bemerkungen dazu ersparen.Es wäre aber wünschenswert, wenn die Bundesregierung ihren Einfluß geltend machen würde, um auch andere Staaten dieser Erde, die noch nicht in ähnliche Abkommen eingebunden sind, wie wir es jetzt nach der Abstimmung darüber sein werden, dazu zu bringen, ähnliche Abkommen abzuschließen.Auch für den Abschluß dieses Abkommens möchte ich übrigens im Namen der CDU/CSU den beteiligten Verhandlungsführern, in diesem Fall dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, ausdrücklich danken.Nun sind aber bekanntlich die Kleinwale nicht die einzigen Tierarten, die wandern und damit durch Störung ihrer Wanderwege oder Lebensräume, die an den Wanderstrecken liegen, in Gefahr kommen. Zu den am meisten gefährdeten Tiergruppen in der Bundesrepublik und in Europa gehören bekanntlich die Fledermäuse. Nach seriösen Schätzungen sind die Fledermausbestände in Deutschland und in Mitteleuropa auf 5 % ihres Bestandes von vor 50 Jahren gesunken. Wenn wir die geschätzten Zahlen von vor 100 Jahren nehmen — allerdings gab es damals noch keine Zählungen —, kann man nur von einem drastischen Populationszusammenbruch sprechen.
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Dr. Norbert RiederDabei wird diese Tiergruppe zumindest heute nicht mehr direkt verfolgt, sondern sie wird ausschließlich durch Störung ihres Lebensraumes gefährdet. Zu nennen sind dabei folgende Hauptfaktoren: als erstes die fehlende Nahrung bzw. die Vergiftung der Nahrung. Die Fledermäuse müssen zu ihren Nahrungsbiotopen bei uns in Mitteleuropa täglich bis zu 100 km fliegen. Nahrungsräume für Fledermäuse, also insektenreiche Gegenden, sind extrem selten geworden.Der nächste Grund ist die Zerstörung der Quartiere. Fledermäuse brauchen sowohl im Sommer als auch im Winter sehr ungestörte und im Winter vor allen Dingen frostfreie Quartiere. Solche Quartiere finden wir in Höhlen, in Stollen, in alten Bunkern.
— In Kellern z. B. auch. — Daß diese Quartiere sehr selten sind, kann dadurch belegt werden, daß Wanderungen zu den Winterquartieren bei uns in Mitteleuropa von bis zu 800 km Entfernung nachgewiesen worden sind.Der dritte Punkt, der ganz wesentlich ist, ist die Zunahme von Holzschutzmitteln im Dachgebälk. Die Fledermäuse hängen am Dachgebälk und vergiften sich durch diese Holzschutzmittel.Genau diese drei Faktoren sollen durch dieses internationale europäische Abkommen geregelt werden, so daß wir hoffen können, daß wir dadurch einen wesentlich besseren Schutz der Fledermäuse bekommen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dietmar Schütz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich — genauso wie Herr Rieder —, daß es gelungen ist, dem Bundestag nunmehr eine einstimmig herbeigeführte Beschlußempfehlung des Umweltausschusses zum Walfang vorzulegen. Das zügige Zustandekommen dieser Empfehlung ist vor allem deshalb besonders wichtig, weil so der Deutsche Bundestag noch vor der IWCKonferenz in Kyoto ein klares Bekenntnis zur Aufrechterhaltung des Walfang-Moratoriums, meine Herren von der Regierungsbank, ablegt.Angesichts ähnlicher Resolutionen anderer Parlamente, vor allem des US-Repräsentantenhauses und des Europäischen Parlaments, wurde es für ein solches Votum auch höchste Zeit. Mit der Beschlußempfehlung ergeht an die Bundesregierung die klare Aufforderung, sich bei zukünftigen Verhandlungen, die den Walfang betreffen, für eine Fortsetzung des von der IWC beschlossenen Moratoriums einzusetzen und den kommerziellen Walfang abzulehnen.Der ebenfalls hinzugefügte ausdrückliche Hinweis auf das Washingtoner Artenschutzabkommen ist ein weiterer wichtiger Beitrag zum Schutz der Wale, ist doch das Abkommen in Verbindung mit der EGArtenschutzverordnung geltendes EG-Recht. Da im Anhang des Artenschutzabkommens alle Walarten zumindest als „gefährdet" aufgeführt sind — also auch die umstrittenen Minkewale —, muß die Position der Bundesregierung für die bevorstehende IWCKonferenz auch an diesem Punkt klar abgesteckt sein: uneingeschränkte Aufrechterhaltung des seit 1986 geltenden Walfang-Moratoriums.
Ich freue mich, daß wir das alle wollen.Eine wie auch immer geartete Zustimmung zum kommerziellen Walfang darf es von seiten der Bundesregierung in Kyoto nicht geben. Diese Haltung müßte der Bundesregierung im übrigen um so leichter fallen, als sie selbst in der Vergangenheit immer wieder ihren festen Willen betont hat, am Moratorium festzuhalten.Dies gilt hoffentlich auch für die Minkewale im Nordostatlantik. Norwegens Behauptung, der Bestand dieser Gruppe habe sich erholt und eine Bejagung zu kommerziellen Zwecken sei deshalb wieder möglich, kann im Hinblick auf die uns vorliegenden Zahlen nur widersprochen werden. Die Zahl der Tiere — ich habe das in der vorigen Debatte schon einmal gesagt — beträgt 86 700. Dies ist noch immer ein Bestand, den man nicht als erholt bezeichnen kann. Er liegt noch immer unterhalb der geforderten 54 % des ursprünglichen Bestandes und ist daher schutzwürdig. Ich will die inhaltliche Diskussion an dieser Stelle nicht weiterführen. Wir haben dies das vorige Mal schon ausführlich gemacht; ich kann darauf verweisen.Ich will statt dessen zwei Anmerkungen zur Forderung nach einem Walschutzgebiet und zum wissenschaftlichen Walfang machen.Die bereits im SPD-Antrag enthaltene Forderung nach einem Walschutzgebiet in den Meeren um die Antarktis bis zum 40. Grad südlicher Breite, also der französische Antrag, ist auch Bestandteil des neuen gemeinsamen Papiers. Daß nunmehr nicht von vornherein starr alle Gewässer bis zum 40. Grad südlicher Breite als Walschutzgebiet ausgewiesen werden sollen, sondern eine gewisse Flexibilität bei der Festlegung erlaubt wird, tut der Intention eines Walschutzgebietes keinen Abbruch. Vielmehr soll so die Möglichkeit eröffnet werden, daß das Schutzgebiet entsprechend den wissenschaftlichen Forschungen abgesteckt wird.Zum wissenschaftlichen Walfang bleibt festzuhalten, daß die prinzipielle Erlaubnis ausdrücklich nicht die Fortschreibung der bisherigen Praxis bedeutet. Bislang sind alle sogenannten wissenschaftlichen Programme ohne Genehmigung der IWC zum Walfang durchgeführt worden. Die IWC hat die jeweils verantwortlichen Nationen sogar mehrfach zur sofortigen Einstellung ihres letztlich allein kommerziellen Zwekken dienenden Walfangs aufgerufen.Wenn wir mit der vorliegenden Beschlußempfehlung auch in Zukunft, Kollege Feige, die Möglichkeit des Walfangs zu wissenschaftlichen Zwecken nicht völlig ausschließen, beinhaltet dies also keinesfalls die nachträgliche Sanktionierung des vorherigen Schlachtens. Vielmehr geht es darum, Entnahmen einzelner weniger Tiere aus den Beständen nur noch
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Dietmar Schützdort zuzulassen, wo es zur Erlangung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse wirklich nötig ist. Tausende getötete Wale unter dem Deckmantel der Wissenschaft für den Tisch japanischer Gourmets darf es in Zukunft nicht mehr geben.
Sie sollen eben nicht gefährdete Tierarten essen.Ich betone die Grenzen des wissenschaftlichen Walfanges ausdrücklich. Wir haben dieser Passage deshalb zugestimmt, weil wir es für einen Wert an sich halten, daß der Bundestag eine Position gemeinsam verabschiedet, und haben unsere anfänglichen Bedenken zurückgestellt. Wir wollten eine einstimmige Verabschiedung erreichen. Ich appelliere also auch an die Kollegen der anderen Fraktionen, sich diesem Votum anzuschließen, denn je klarer das Votum des Bundestags ist, desto deutlicher ist es in Richtung IWC. Deswegen sollten wir auch den letzten Halbsatz, den wir so vielleicht nicht alle wollen, doch noch akzeptieren, um die gemeinsame Position aufrechtzuerhalten.In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Birgit Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Im ersten Gesetzentwurf geht es um die Erhaltung der Fledermäuse in Europa. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Erhaltung und Hege der Fledermäuse in Gebäuden gelegt. Ferner wollen sich die Vertragsstaaten bemühen, den Einsatz von für Fledermäuse giftigen Chemikalien zu verringern. Dazu gehört auch die Untersuchung der Wirkung von Pflanzenschutz- und sonstigen Schädlingsbekämpfungsmitteln auf Fledermäuse. — Warum dies wichtig ist, hat Kollege Rieder bereits erklärt. — Derzeit verwendete Holzschutzchemikalien sollen durch ungefährlichere Alternativen ersetzt werden. Bedauerlicherweise geht der Gesetzentwurf nicht so weit wie unser nationales Recht. Dennoch unterstützt auch unsere Fraktion diesen Gesetzentwurf, denn dieses Abkommen stellt in Europa einen wichtigen Fortschritt dar.Im zweiten Gesetzentwurf geht es um die Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee. Damit dieses Übereinkommen überhaupt in Kraft treten kann, müssen mindestens fünf Nord- und Ostseeanrainerstaaten dieses Übereinkommen ratifizieren. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Freisetzung von Schadstoffen in die Meere zu verringern und die Fischfangmethoden zu optimieren, so daß sich die Problematik der Beifänge verringert. Im Gesetzentwurf ist auch ein Maßnahmenpaket enthalten, das die gemeinsame Erforschung der Walpopulationen und ihres Verbreitungsgebiets vorsieht. Für die Erhaltung der Wale ist deren Erforschung notwendig. Dieser Notwendigkeit wird auch im Rahmen des Entschließungsantrags zum Walfang Rechnung getragen. Denn nur durch die genaue Kenntnis des Verbreitungsgebiets und der Wanderungsbewegungen kann dann ein genaues Walschutzgebiet abgesteckt werden.Damit komme ich auch schon zum dritten Teil unseres Tagesordnungspunkts, zu dem jetzt ein gemeinsamer Antrag vorliegt, nachdem in der letzten Woche in der Debatte einige Punkte noch strittig waren. Damals war nicht klar erkennbar, daß man kein absolutes Walfangverbot will, damals gab es auch noch nicht Klarheit und Einigkeit über die Frage, Ausnahmeregelungen zum Zweck der Forschung zuzulassen, und wir waren uns über die Zulassung des kommerziellen Walfangs nicht einig, jedenfalls hat es so ausgesehen. Ich freue mich, daß wir mit dem vorliegenden Antrag, der vor allen Dingen der Initiative der Kollegen Rieder und Schütz zu verdanken ist, einen für beide Seiten tragbaren Kompromiß gefunden haben.Wünschenswert für mich ist die genannte Verknüpfung der IWC mit dem Washingtoner Artenschutzabkommen, auch wenn nicht alle Staaten der IWC dem Washingtoner Artenschutzabkommen beigetreten sind. Nur im Falle einer gesicherten Populationsstärke können bestimmte Tierarten auf Antrag eines Mitgliedstaats aus dem Anhang 1, also dem Verbot des kommerziellen Handels, des Washingtoner Artenschutzabkommens genommen werden. Wenn diese Verknüpfung gelingt, wäre sichergestellt, daß kein kommerzieller Walfang gestattet wird, bevor nicht genügend Tiere einer Walart vorhanden sind und das weitere Bestehen gesichert ist. Es würden dann jährliche Fangquoten festgelegt, die, wenn es notwendig wäre, auch gegen Null tendieren könnten. Auf diese Art und Weise würde es keine Gefährdung einer Population geben.Da wissenschaftliche Untersuchungen auch in Zukunft zur Erforschung der Wale notwendig sind, sieht unser Antrag vor, der IWC die Kontrolle und Genehmigung einer Jagd zu diesen Zwecken zu übertragen. Damit werden die wissenschaftlichen Untersuchungen an einer Stelle koordiniert. So können unnötige Doppeluntersuchungen vermieden werden.Ich finde es positiv, daß eine gemeinsame Position auch hinsichtlich des Walschutzgebiets in der Antarktis gefunden wurde. Wir unterstützen diese Forderung, erwarten aber, daß bei der Festlegung der Grenzen des Wahlschutzgebiets die Ergebnisse der Untersuchungen des Wissenschaftsausschusses der IWC Berücksichtigung finden, denn es gibt durchaus Walarten, z. B. die Blauwale, die sich im Sommer oberhalb des 40. Grads südlicher Breite aufhalten. Deshalb müssen entsprechende Erkenntnisse über die Wanderungsbewegungen der verschiedenen Walarten Einfluß auf die Grenzen eines Walschutzgebiets haben.Ich denke, daß wir mit diesem Antrag auch all den Staaten ein Angebot machen, die aus der IWC ausgetreten sind oder mit diesem Gedanken spielen. Wir haben — ich habe dies an dieser Stelle in der letzten Woche schon gesagt — mit dem Walschutz nur Erfolg,
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Birgit Homburgerwenn wir auf Dauer auch die Länder, die am Walfang Interesse habe, in der IWC halten können.Ich appelliere an die Bundesregierung, daß sie sich in unserem Sinne — wir haben ja nun eine breite Übereinstimmung, eine breite Mehrheit für eine gemeinsame Position gefunden —, im Sinne unseres Antrages auf der Konferenz einsetzt und den Willen des Parlaments ernst nimmt. Ich hoffe jedenfalls nicht, daß es hinterher schlicht und ergreifend heißt: Die Position war nicht durchsetzbar.In diesem Sinne erwarte ich nach der Konferenz einen ausführlichen Bericht der Bundesregierung.Danke.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Dagmar Enkelmann.
— Nicht nur heute.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich mache es kurz und verzichte auf die Kleinwale und Fledermäuse, allerdings nur in meiner Rede, ansonsten nicht.
Nach langem Hin und Her und Rauf und Runter hat sich der Umweltausschuß zu einem gemeinsamen Antrag in bezug auf den Walfang durchgerungen. Da das in diesem Parlament äußerst selten passiert, sollten wir diesen Tag im Kalender rot anstreichen.
— Ich bin mehr für Rot.
Bedenken wurden noch von verschiedenen Seiten bezüglich des „wissenschaftlichen" Walfangs geäußert. Hier wurde zweifellos in den letzten Jahren schlimmer Mißbrauch getrieben. Greenpeace hat zu Recht darauf hingewiesen, daß keines der seit 1986 betriebenen Walfangprogramme die im selben Jahr festgelegten Kriterien der IWC an „wissenschaftlichen" Walfang erfüllte. Per Resolution wurden die walfangenden Länder aufgefordert, keine Wale zu töten, da ihr Programm „keine notwendigen Erkenntnisse" liefere.
Trotzdem wurden unter diesem Vorwand seither über 2 700 Wale getötet. Es soll hier besonders erwähnt werden: Auch Norwegens diesjähriger „wissenschaftlicher" Walfang, wie er bezeichnet wird, wird von der IWC abgelehnt.
Die Forderung an die Bundesregierung, sich bei den künftigen Verhandlungen vor allem dafür einzusetzen, daß Walfang zu wissenschaftlichen Zwecken wirksam kontrolliert werden kann, will ich deshalb nachdrücklich unterstreichen.
Die PDS/Linke Liste fordert die Bundesregierung erneut auf, kompromißlos gegen die Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs einzutreten, wie dies Neuseeland, Irland und auch die USA erst kürzlich getan haben. Wir begrüßen den fraktions- und gruppenübergreifenden Antrag. Unsere Aufgabe wird aber sein, die bevorstehenden Verhandlungen kritisch zu begleiten und sehr genau das Auftreten der bundesdeutschen Verhandlungsführer zu beobachten. Wir werden Ihnen also sehr genau auf die Finger sehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Ulrike Mehl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fledermäuse galten früher als Unglücksboten. In der Antike kündigte ihr lautloses Erscheinen drohendes Unheil an. Es wurden ihnen magische Fähigkeiten nachgesagt, und man glaubte, sie stünden mit den Kräften der Finsternis im Bunde. Da sich Aberglaube nicht nur in der Politik lange hält, ist es nicht verwunderlich, daß so etwas auch in der Bevölkerung hier und da zu finden ist. Auf diesem Aberglauben baute auch die Legende um den blutsaugenden Grafen Dracula auf.Blutsauger gibt es zwar auch heute in Hülle und Fülle. Dabei handelt es sich aber niemals um heimische Fledermäuse. Daß Fledermäuse für die Menschen völlig ungefährlich, dafür aber die Menschen für die Existenz der Fledermäuse sehr gefährlich sind, haben wir inzwischen glücklicherweise erkannt. Es ist sogar umgekehrt: Das Verschwinden der Fledermäuse kündigt Unheil an, und die Kräfte der Finsternis sind eher in unserem naturfeindlichen Handeln zu suchen.
Daß die Fledermäuse keine magischen Kräfte haben, ist dadurch belegt, daß sie nur knapp der Ausrottung entgangen sind. In den 70er Jahren waren im Vergleich zu den 50er Jahren nur noch ca. 5 % der ursprünglichen Anzahl der 22 bei uns vorkommenden Arten vorhanden.
Die fehlenden magischen Kräfte der Fledermäuse mußten durch die intensive Arbeit von Naturschützern ersetzt werden. Die kleine, fieselige und unnachgiebige Arbeit von Umweltverbänden und Artenspezialisten hat den endgültigen Untergang dieser Tiere verhindert. Dazu habe übrigens auch ich zehn Jahre gehört.Gerade an solchen Spezialthemen macht sich gerne die Naturschutzdiskussion fest. Die früher offen gestellte Frage, wozu wir solche Wesen überhaupt brauchen, wird heute zwar nur gedacht und nur selten ausgesprochen, aber da ist sie. Wozu sind Fledermäuse, Frösche, Regenwürmer nütze? Wir haben anderes zu bewältigen, nämlich Arbeitslosigkeit, Solidarpakt und Kriege.
Und eigentlich trifft es unsere Seele noch viel mehr,wenn Rehe mit großen Augen, possierliche Eichhörn-
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Ulrike Mehlchen, Schmetterlinge oder Störche im Vordergrund unseres Schutzbestrebens stehen.Das Verständnis dafür, was Natur- bzw. Artenschutz ist, hat große Variationsbreiten. Wissenschaftliche Einigkeit herrscht aber mit Sicherheit dahingehend, daß in erster Linie Lebensraumschutz und zusätzliche gezielte Artenschutzmaßnahmen die Basis bilden.Hauptursachen des Rückgangs und beinahe Verschwindens der Fledermäuse sind die Zerstörung ihrer Winter- und Sommerquartiere, nämlich alter Bäume und Höhlen, und das Versperren des Zugangs zu Dachstühlen für die Tiere. Weiter sind die Ausräumung der Landschaft und damit der Entzug der Nahrungsgrundlagen, die intensive Landwirtschaft — da haben wir wieder das alte Dilemma —, insbesondere der Pestizideinsatz in bezug auf Insekten, eine wesentliche Ursache.
Auch dadurch wurde die Nahrungsgrundlage entzogen und setzte eine schleichende Vergiftung der Fledermäuse ein.Diese intensiven und nachhaltigen Eingriffe in den Naturhaushalt sind in ihren Folgen lange nicht wahrgenommen worden, weil man es eben nicht sieht oder es für unwichtig hält, daß seit vielen Jahren ein rasanter Schwund von Insektenarten stattfindet. Fledermäuse stehen aber ebenso wie die Menschen am Ende der Nahrungskette. Sie kann man eher zählen, und man kann ihre Aufenthaltsorte finden. Sie sind also gewissermaßen Bioindikatoren.
Dies ist übrigens interessant auch in bezug auf die Belastung von Fledermäusen durch Holzschutzmittel. Bei auf Dachböden lebenden Arten wurde in Untersuchungen eine vierhundert- bis tausendfache Anreicherung der Schadstoffe PCB und Lindan festgestellt. Wenn man weiß, daß in den alten Bundesländern 1988 ca. 48 000 t Holzschutzmittel verbraucht wurden,
daß es für 80 % der Mittel bisher keine besonderen Anforderungen gibt und erst seit neuestem ein kleiner Prozentsatz der Mittel vom Umweltbundesamt geprüft und begutachtet wird, braucht man sich nicht über diese Belastung zu wundem. Auch der Verein der holzschutzmittelgeschädigten Menschen kann davon ein langes Lied singen.
Summa summarum ist festzuhalten, daß unsere vielfältigen Eingriffe in die Natur und in die Ökologie oft am dramatischen Rückgang einzelner Arten abzulesen ist. Diese Signale müssen ernst genommen werden. Es darf dann nicht darum gehen, ob man gerade mal andere Prioritäten hat oder ob viele Menschen diese Art zufällig sympathisch oder unsympathisch finden. Auf gezielten Artenschutz kann also nicht verzichtet werden. Deshalb ist dieses Regionalabkommen sehr zu begrüßen. Insbesondere müssen aber die Erhaltung und der Schutz von vielfältigen Lebensräumen realisiert werden.Dies sind zwar Sätze, die ich als Naturschutzpolitikerin kaum selbst noch hören kann. Aber da leider erhebliche Defizite auf diesem Gebiet zu verzeichnen sind, werde ich nicht müde, sie immer wieder zu wiederholen.
Dies gilt im besonderen für die neuen Bundesländer, weil sie kaum in der Lage sind und auch in absehbarer Zeit nicht sein werden, die notwendigen Arten- und Naturschutzmaßnahmen zu realisieren. Wenn hier weiterhin nichts geschieht, dann verspielen wir auf Nimmerwiedersehen eine vielfältige Natur und verlagern uneinschätzbare negative Konsequenzen in unverantwortlicher Weise auf nachfolgende Generationen.Ich fordere die Bundesregierung auf, hier endlich nachhaltig aktiv zu werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß Frau Mehl die Fledermäuse und auch die Kleinwale in meinem Sinne „miterledigt" hat.
Professor Rieder, ich unterstütze Ihren Antrag. Ich komme auf die Wale zurück.Der vorliegende interfraktionelle Antrag zum Walfang ist nicht nur das Ergebnis der Beratung zweier konkurrierender Anträge der Koalitionsfraktionen und der SPD in der letzten Woche, sondern auch das Ergebnis eines Versuchs, die unterschiedlichen Auffassungen der Parteien unter einen Hut zu bringen.In der gemeinsamen Beratung zeigte sich eine außerordentlich große Übereinstimmung bei der Beurteilung des Gefährdungsgrads der Wale an sich. Alle Parteien verurteilten den über 100 Jahre anhaltenden gnadenlosen Ausrottungsfeldzug gegen alle Walarten. Es kann praktisch nur als historischer Zufall gewertet werden, daß Deutschland nicht daran beteiligt ist. Es ist unbestritten, daß sich die Bundesregierung für das Walfangmoratorium eingesetzt hat.
Auch in der Beurteilung der jetzt erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Wale stimmen alle im Bundestag vertretenen Parteien weitestgehend überein. Ich freue mich, daß der Bundestag die Regierung auffordert, sich für die Fortsetzung des IWC-Walfangmoratoriums einzusetzen. Diese Aufforderung entspringt der Erkenntnis, daß auch die wieder, wenngleich nur sehr langsam, wachsenden Bestände der Meeressäuger keine kommerzielle Jagd vertragen.
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Dr. Klaus-Dieter FeigeIm gleichen Sinne ist der französische Antrag zu unterstützen, der die Meere südlich des 40. Breitengrads auf der Südhalbkugel der Erde zum Walfangschutzgebiet erklärt. Ich stimme mit Professor Rieder darin überein, daß dieser Breitenkreis nicht unbedingt als Dogma zu werten ist, sondern positiv oder negativ, je nach der Bestandsentwicklung oder auch nach den entsprechenden Lebensräumen, verändert werden kann.
Bei der Beurteilung dessen, was man bei der gegenwärtig immer noch bestehenden Gefährdung der Walarten schon wieder oder weiterhin zulassen kann, gibt es aber noch Differenzen. Auch wenn sich der Punkt 2 des Antrags nicht nur auf EG-beitrittswillige Länder bezieht, so steht er doch mit dem Punkt 4 in unmittelbarem Zusammenhang.Ich halte es durchaus für legitim, daß wir hier im ganz konkreten Fall das Land Norwegen — nur um dieses Land dreht es sich in dem Punkt 4 des Antrags — auf unsere Meinung in Sachen Walfang hinweisen. Die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehen jedoch in dem Punkt 2 des Antrages eine weitgehende Rücknahme des europa-bewußten Ansatzes, den Beitritt zur EG an bestimmte Bedingungen zu knüpfen.Wir sind im Gegensatz zu den Koalitionsfraktionen davon überzeugt, daß von Japan und auch Norwegen ein „wissenschaftlicher" Walfang nur als Alibi eingefordert wird, während sich tatsächlich hinter der Waljagd nur ein Überwintern der eigenen Walfang-flotte für angeblich bessere Jahre und die Befriedigung spezieller kulinarischer Bedürfnisse mancher Bevölkerungskreise verbergen.
Spätestens dann, wenn man den wissenschaftlichen Walfängern die weitere Verwertung des Walfleisches für den menschlichen Genuß untersagen würde, käme die Verlogenheit des eigentlichen Geschäftes heraus. Wir können auch nicht mehr nachvollziehen, welche Erkenntnisse über das Leben der Wale gerade durch die Tötung dazugewonnen werden können.Ich glaube, heute kommt es mehr denn je darauf an, Aussagen über die tatsächliche Populationsgröße und -dynamik der Wale sowie deren Wanderungs-, Paarungs- und Fortpflanzungsgebiete zu bekommen. Aber hierfür muß kein weiteres Tier mehr harpuniert werden.Das deutliche Bemühen in dem Punkt 2 des Antrages, die einseitige Kündigung des Walfangmoratoriums durch Einzelländer zu erschweren, erkenne ich voll an. Jedoch auch die Skepsis, daß dies überhaupt praktisch so kontrollierbar ist, führt dazu, daß wir dieser Antragsposition unsere Zustimmung verweigern müssen. Ich hoffe, daß sich erst unsere erwachsenen Enkel, wenn überhaupt, wieder Gedanken über die Aufhebung des Walfangmoratoriums machen werden. Aber ich hoffe auch, daß in den verbleibenden Jahren von den Menschen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß wir die Wale für unsere Ernährung nicht mehr benötigen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich komme jetzt nicht zu den Fledermäusen, sondern zum Walfang, Frau Kollegin.
Der Schutz von Walbeständen hat für Deutschland Vorrang. Diese Haltung wurde von der deutschen Delegation in der IWC stets vertreten. Entsprechend dieser Haltung wird sich die Bundesregierung auch bei der IWC mit Nachdruck für den Schutz der Walbestände einsetzen.
Die Bundesregierung begrüßt es, daß sich der Deutsche Bundestag noch vor den nächste Woche in Kyoto beginnenden Beratungen zur 45. Jahrestagung der IWC mit der schwierigen Frage des Walfangs befaßt.
Ich darf noch einmal kurz in Erinnerung rufen: Am 18. Juni 1982 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zu dem Internationalen Übereinkommen vom 2. Dezember 1946 zur Regelung des Walfangs beschlossen. Es ist am 2. Juli 1982 in Kraft getreten.
Nach den Bestimmungen der Konvention, also nach den von uns anerkannten Spielregeln, ist die Internationale Walfang-Kommission berechtigt, die Bestimmungen der Anlage zur Walfangkonvention zu ändern, um die Ziele der Konvention durchzusetzen.
Seit 1986 haben wir ein unbefristetes Walfangmoratorium, damit genügend Zeit für die Bewertung der Bestände und die wissenschaftliche Überprüfung gegeben ist.
Die Nummer 1 des vorliegenden Antrags stellt klar, daß eine generelle Aufhebung des Moratoriums nicht in Betracht kommt. Die Bundesregierung teilt diese Auffassung.
Eine Lockerung des Moratoriums ist auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnisse ohnehin allenfalls für Populationen der Art Zwergwal denkbar; alle anderen Populationen und alle anderen Walarten bleiben auch nach Auffassung der Wissenschaftler für eine kommerzielle Nutzung tabu.
Die Bundesregierung teilt die Auffassung, daß Ausnahmen vom Moratorium nur unter den Voraussetzungen vorstellbar sind, die im Beschluß des Deutschen Bundestages vom 8. Oktober 1992 niedergelegt sind. Die darin aufgeführten Kriterien sind die Leitlinien, an denen auch die deutsche Delegation alle Wünsche bezüglich des Küstenwalfanges kleinen Umfanges messen wird. Auf jeden Fall — das sei hier
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Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröbl
nochmals betont — muß gewährleistet sein, daß der nachhaltige Schutz der Bestände sichergestellt ist.
Die IWC ist derzeit die einzige internationale Organisation, die weltweit effizienten Walschutz betreiben kann. Der Bundesregierung kommt es daher darauf an, diese Organisation zu erhalten und auch die am Walfang interessierten Länder in vollem Umfang in den Schutz der Walbestände einzubeziehen. Deshalb begrüßen wir in Ihrem Antrag insbesondere die Nummer 4.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich die Aussprache schließen kann.
Damit kommen wir zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 4. Dezember 1991 zur Erhaltung der Fledermäuse in Europa auf Drucksache 12/3916. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/4777, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich von dem Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden ist.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 31. März 1992 zur Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee auf Drucksache 12/3917. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/4776, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Auch hier bitte ich Sie, sich vom Platz zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen möchten. — Das ist offensichtlich einstimmig der Fall.
Nun stimmen wir ab über die Beschlußempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 12/4823 zu den Anträgen zum Walfang und dazu, das Verbot des Walfangs international und in der EG abzusichern.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat getrennte Abstimmung verlangt. Wir stimmen zunächst über die Nr. 1 der Beschlußempfehlung ab. Wer ihr zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Sie ist einstimmig angenommen.
Nun stimmen wir über die Nr. 2 der Beschlußempfehlung ab. Wer ihr seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Kollegen Feige ist die Nr. 2 angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Nr. 3 und 4 der Beschlußempfehlung. Wer stimmt diesen Nummern zu? — Sie sind einstimmig angenommen. Damit ist die Beschlußempfehlung insgesamt angenommen.
Wir sind am Ende unserer heutigen Tagesordnung und auch der Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. April 1993, 9 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen und erholsamen Abend und erkläre die Sitzung für geschlossen.