Protokoll:
12149

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 149

  • date_rangeDatum: 25. März 1993

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:07 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/149 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 149. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Siegfried Vergin 12721 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 12721 A Nachträgliche Überweisung von Gesetzentwürfen an weitere Ausschüsse . . . 12721 B Begrüßung einer Delegation der bolivianisch-deutschen Freundschaftsgruppe im bolivianischen Parlament 12790 B Tagesordnungspunkt 6: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Der Solidarpakt als Grundlage für die Sicherung des Standortes Deutschland Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler BK . . . 12722A Hans-Ulrich Klose SPD 12730D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . 12736B Hans-Ulrich Klose SPD . . . . . . 12738 B Peter W. Reuschenbach SPD 12739 A Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . . 12741 B Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . 12744 C Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12746C Michael Glos CDU/CSU 12748 D Wolfgang Thierse SPD 12751D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . 12752B, 12763 C Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 12752 D Ernst Hinsken CDU/CSU . . 12755D, 12769B Jan Oostergetelo SPD . . . . . . . . . 12756 A Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . , 12757 A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 12757 C Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 12759 C Hans Peter Schmitz (Baesweiler) CDU/ CSU 12760C Rudolf Dreßler SPD . . . . . . . . . . 12762 B Hans-Eberhard Urbaniak SPD 12763A, 12772B Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 12764 A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste . . . 12766C Michael Glos CDU/CSU 12768 C Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . 12769 D Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin BMBau 12770 D Petra Bläss PDS/Linke Liste . . . . . . 12772 C Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . . 12773 B Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU . . . . 12774 A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 12775 C Ortwin Lowack fraktionslos . . . . . 12777 A Tagesordnungspunkt 4: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Übereinkommen vom 23. Oktober 1991 über Kambodscha (Drucksache 12/4469) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 9 vom 6. November 1990 sowie zu dem Protokoll Nr. 10 vom II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 25. März 1992 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Drucksache 12/ 4474) c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung und der Spielverordnung (Drucksache 12/4488) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. April 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Albanien über den zivilen Luftverkehr (Drucksache 12/4472) e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs (Mietwohnungssicherungsgesetz) (Drucksache 12/4396) f) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Sofortmaßnahmen zur Durchsetzung friedlicher Verhandlungslösungen im ehemaligen Jugoslawien (Drucksache 12/4192) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Rücknahme des Gesetzentwurfs über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin-Oebisfelde durch die Bundesregierung (Drucksache 12/4480) h) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zu dem ersten Bericht über die Anwendung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (Drucksache 12/4179) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 12/4616) 12778C Tagesordnungspunkt 5: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (Drucksachen 12/4071, 12/4537) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amtshilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 12/4072, 12/4598, 12/ 4599) c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Reichsheimstättengesetzes (Drucksachen 12/3977, 12/4565) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Jugendarbeitsschutz (Drucksachen 12/2867 Nr. 2.17, 12/3721) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur Nachtarbeit und zur Aufkündigung des Übereinkommens 89 der Internationalen Arbeitsorganisation (Drucksachen 12/2538, 12/4380) f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapitel 10 04 Titel 683 21 — Erstattungen bei der Ausfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet — (Drucksachen 12/4142, 12/4476) g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 94 zu Petitionen (Drucksache 12/4531) h) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens (Drucksache 12/4554) in Verbindung mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 III Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 95 zu Petitionen (Drucksache 12/4625) 12779B Tagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Adolf Ostertag, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ablösung des Arbeitsförderungsgesetzes durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz (Drucksache 12/4294) Ottmar Schreiner SPD 12781A Julius Louven CDU/CSU 12783 B Gerda Hasselfeldt CDU/CSU 12784 B Dr. Gisela Babel F.D.P. 12786D Petra Bläss PDS/Linke Liste 12790B Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 12792A Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 12793B, 12799B, 12803 C Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 12793 C Günther Heyenn SPD 12793 D Adolf Ostertag SPD 12795 C Dr. Alexander Warrikoff CDU/CSU . . 12798B, 12802 B Barbara Weiler SPD 12.798D, 12804 D Renate Jäger SPD 12800 C Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 12802 A Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU . . . . 12802 D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 12805 C Tagesordnungspunkt 8: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr (Tarifaufhebungsgesetz) (Drucksachen 12/3701, 12/4231, 12/4595, 12/4596) Helmut Rode (Wietzen) CDU/CSU . . . 12806 D Dr. Rolf Niese SPD 12809 C Horst Friedrich F D P 12811D Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär BMV 12813B Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zu ihrem unter Verschluß gehaltenen Gutachten zum Ausbau von Saale- und Elbe-Staustufen Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12814 C Clemens Schwalbe CDU/CSU . . . . . 12815 B Dietmar Schütz SPD 12816 B Dr. Sigrid Hoth F D P 12817 A Renate Blank CDU/CSU 12818B Susanne Kastner SPD 12819A Dr. Klaus Röhl F.D.P. 12820A Rudolf Meinl CDU/CSU 12821A Reinhard Weis (Stendal) SPD 12821 C Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär BMV 12822 C Heinz-Günter Bargfrede CDU/CSU . . 12823D Dr. Margrit Wetzel SPD 12824 D Dr. Harald Kahl CDU/CSU 12825 D Tagesordnungspunkt 9: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Hanna Wolf, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Lage der Frauen- und Mädchenhäuser und gesetzgeberischer Handlungsbedarf (Drucksachen 12/2243, 12/3909) Dr. Edith Niehuis SPD . . . . . . . . . 12826 D Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12828D Dr. Sigrid Semper F D P 12829 D Petra Bläss PDS/Linke Liste 12830D Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12831C Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMFJ 12832B Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Perspektiven für Frauen im ländlichen Raum in den neuen Bundesländern (Drucksachen 12/2360, 12/3910) Petra Bläss PDS/Linke Liste 12833 C Claudia Nolte CDU/CSU . . . . . . . 12835 A Angelika Barbe SPD . . . . . . . . . 12835 D Lisa Peters F.D.P. 12838A Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12839 C Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMFJ 12840 C Tagesordnungspunkt 11: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte des Kindes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 12/4168) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Gisela Babel, Angelika Barbe und weiterer Abgeordneter: Kinderbericht der Bundesregierung (Drucksache 12/4388) Dr. Sissy Geiger (Darmstadt) CDU/CSU . 12841 D Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . 12843 A Norbert Eimer (Fürth) F.D.P. . 12845A, 12854 B IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 12846 B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12847 C Klaus Riegert CDU/CSU 12848 C Gudrun Weyel SPD 12849D Norbert Eimer (Fürth) F.D.P. . . . . 12850A Margot von Renesse SPD . . . 12850B, 12854 B Klaus Riegert CDU/CSU 12850 C Susanne Rahardt-Vahldieck CDU/CSU 12852B Margot von Renesse SPD . . . 12.852C, 12855 C Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 12853A Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ . 12854 C Herbert Werner (Ulm) CDU/CSU (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . 12856 A Tagesordnungspunkt 12: a) Erste Beratung des von der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes (Drucksache 12/4297) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, Ingrid Köppe, weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsrechts (Drucksache 12/ 4348) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes (Drucksache 12/4611) 12857B Nächste Sitzung 12857 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 12858* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Gesetzentwürfe zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes) Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . . 12858* D Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12860* B Gertrud Dempwolf CDU/CSU 12861* D Ulrike Mascher SPD 12862* C Hans A. Engelhard F D P. 12863* A Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 12863* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 12721 149. Sitzung Bonn, den 25. März 1993 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Altherr, Walter CDU/CSU 25.3.93 Antretter, Robert SPD 25.3.93* Augustin, Anneliese CDU/CSU 25.3.93 Bartsch, Holger SPD 25.3.93 Berger, Hans SPD 25.3.93 Bindig, Rudolf SPD 25.3.93* Dr. Blank, CDU/CSU 25.3.93 Joseph-Theodor Blunck (Uetersen), SPD 25.3.93* Lieselott Böhm (Melsungen), CDU/CSU 25.3.93* Wilfried Büchler (Hof), Hans SPD 25.3.93* Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25.3.93 Doss, Hansjörgen CDU/CSU 25.3.93 Eylmann, Horst CDU/CSU 25.3.93 Dr. Feige, Klaus-Dieter BÜNDNIS 25.3.93 90/DIE GRÜNEN Dr. Feldmann, Olaf F.D.P. 25.3.93* Dr. Fell, Karl H. CDU/CSU 25.3.93 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 25.3.93* Gattermann, Hans H. F.D.P. 25.3.93 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 25.3.93 Genscher, Hans-Dietrich F.D.P. 25.3.93 Gerster (Mainz), CDU/CSU 25.3.93 Johannes Dr. Gysi, Gregor PDS/Linke 25.3.93 Liste Haack (Extertal), SPD 25.3.93 Karl-Hermann Hasenfratz, Klaus SPD 25.3.93 Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 25.3.93 Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 25.3.93 Hollerith, Josef CDU/CSU 25.3.93 Dr. Holtz, Uwe SPD 25.3.93* Ibrügger, Lothar SPD 25.3.93** Jelpke, Ulla PDS/Linke 25.3.93 Liste Jung (Limburg), Michael CDU/CSU 25.3.93 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 25.3.93* Kirschner, Klaus SPD 25.3.93 Kittelmann, Peter CDU/CSU 25.3.93* Klemmer, Siegrun SPD 25.3.93 Köppe, Ingrid BÜNDNIS 25.3.93 90/DIE GRÜNEN Dr.-Ing. Laermann, F.D.P. 25.3.93 Karl-Hans Lenzer, Christian CDU/CSU 25.3.93* Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 25.3.93 Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 25.3.93 Lummer, Heinrich CDU/CSU 25.3.93* Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 25.3.93* Erich Marten, Günter CDU/CSU 25.3.93* Dr. Matterne, Dietmar SPD 25.3.93 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 25.3.93* Reinhard Dr. Modrow, Hans PDS/Linke 25.3.93 Liste Dr. Müller, Günther CDU/CSU 25.3.93* Neumann (Gotha), SPD 25.3.93* Gerhard Oesinghaus, Günther SPD 25.3.93 Opel, Manfred SPD 25.3.93 Dr. Otto, Helga SPD 25.3.93 Paintner, Johann F.D.P. 25.3.93 Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 25.3.93 Pfuhl, Albert SPD 25.3.93 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 25.3.93* Reddemann, Gerhard CDU/CSU 25.3.93* Reimann, Manfred SPD 25.3.93* Rempe, Walter SPD 25.3.93 Richter (Bremerhaven), F.D.P. 25.3.93 Manfred Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25.3.93 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 25.3.93* Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25.3.93 Schulte (Hameln), SPD 25.3.93* Brigitte Dr. Solms, Hermann Otto F.D.P. 25.3.93 Dr. Sperling, Dietrich SPD 25.3.93 Dr. Sprung, Rudolf CDU/CSU 25.3.93* Steiner, Heinz-Alfred SPD 25.3.93* Stübgen, Michael CDU/CSU 25.3.93 Dr. von Teichman, F.D.P. 25.3.93* Cornelia Tietjen, Günther SPD 25.3.93 Tillmann, Ferdi CDU/CSU 25.3.93 Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 25.3.93* Friedrich Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 25.3.93 Wettig-Danielmeier, Inge SPD 25.3.93 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 25.3.93 Dr. Wieczorek CDU/CSU 25.3.93 (Auerbach), Bertram Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 25.3.93 Würfel, Uta F.D.P. 25.3.93 Zierer, Benno CDU/CSU 25.3.93* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Gesetzentwürfe zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes) Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Dieser Bundestag hat ja bereits mehrmals bewiesen, daß er durchaus in der Lage ist, Gesetze schnell durchzupeitschen. In Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 12859' der Regel ist das der Fall, wenn die Regierungskoalition mißliebige Debatten abbrechen oder einfach vermeiden will. In einem Fall hätte ich mir allerdings gewünscht, daß wirklich etwas über Nacht — und zwar schon vor 1991 — durchgepeitscht worden wäre, nämlich die Änderung des Opferentschädigungsgesetzes mit dem Ziel, auch Menschen mit einer anderen als der deutschen Staatsangehörigkeit in die Ansprüche auf Versorgungsleistungen einzubeziehen. Durch den Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste und den wenige Tage später eingereichten Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird diese erste Lesung überhaupt erst herbeigeführt — und das, nachdem über zwei Jahre eine Welle der Gewalt gegen ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen durch dieses Land tobt, die viele von ihnen zu Opfern gemacht hat, die aber von der bisherigen Regelung im OEG ausgeschlossen bleiben. Und obwohl gerade die großen Parteien unisono gerne ihre Bemühungen gegen Ausländerfeindlichkeit ins Rampenlicht zu bringen versuchen, reichte es lange Zeit zu nicht mehr als Worten. Die SPD hat jetzt endlich noch auf die Schnelle einen Entwurf nachgereicht. Und die Bundesregierung hat erst einmal nur einen Kabinettsentwurf beschlossen, der hier aber noch nicht einmal in erster Lesung mitberaten wird. Dies bedeutet wohl, daß die Opfer rassistischer Übergriffe noch länger werden warten müssen, um ihre Entschädigungsansprüche geltend machen zu können. Zu den Gesetzesentwürfen: Unser Entwurf sieht vor, die diskriminierende Regelung in § 1 Abs. 4 OEG zu streichen. Die Regelung war schon vor dieser Welle der Gewalt gegen Ausländer diskriminierend. Die Diskriminierung ist in der Öffentlichkeit erst jetzt deutlich geworden, nachdem die meisten der Opfer rassistischer Übergriffe gerade von einer Entschädigung nach dem OEG ausgeschlossen bleiben, nämlich Flüchtlinge und andere Ausländer, die aus Ländern kommen, die sich Gegenseitigkeitsabkommen angesichts ihrer wirtschaftlichen Lage gar nicht leisten können. Abgesehen davon stünde diesem Land eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber allen Menschen anderer Nationalität gut an. Hünxe ist nur ein Beispiel: Fast allen Flüchtlingen wird durch die bisherige gesetzliche Regelung die Unterstützung und Hilfeleistung entzogen, wenn ihnen durch Brandanschläge auch noch ihr letztes Hab und Gut genommen wird. Der Staat handelt bislang nach dem Motto: Ihr lebt hier auf euer eigenes Risiko. Ich bin sicher, daß es im Rahmen der Ausschußberatungen zwischen den Entwürfen von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und unserem Entwurf eine Übereinstimmung geben wird, zumal ich die im BÜNDNIS90-Antrag vorgeschlagene Änderung des Bundessozialhilfegesetzes nur nachhaltig unterstützen kann. Der Entwurf der SPD ist hingegen sichtbar schnell zusammengezimmert worden. Wenn das die knallharte Oppositionspolitik sein soll, die der Kollege Struck angekündigt hat, dann kann ich nur lachen: Sie sind hier von der Bundesregierung in einigen Punkten positiv überholt worden. Abgesehen davon, daß ich es — freundlich formuliert — seltsam finde, daß in Ihrem Entwurf eine Rückwirkung bis zum 1. Juli 1992 enthalten ist, während die Bundesregierung sich immerhin dazu durchgerungen hat, eine Rückwirkung bis zum 1. Januar 1991 zuzulassen, abgesehen davon ist einfach nicht erklärlich, warum Sie erneut bestimmte Gruppen von Menschen aus den Entschädigungsregelungen ausnehmen wollen. Ich bin der Meinung, daß ein erforderliches Grundprinzip nicht verstanden und beachtet wird, wenn in Fällen von fremdenfeindlichen Übergriffen, zu deren gesellschaftlichen Klima und Umfeld maßgeblich die Diskussion um das Asylrecht — inszeniert in Bonn — beigetragen hat, auch nur irgendein Mensch einer anderen Nationalität von Versorgungsleistungen ausgeschlossen bleibt. Warum sollen Touristen, die hier von Neonazis angegriffen werden, nicht Ansprüche geltend machen können? Sie, die hier allenthalben um das Bild Deutschlands in der Welt bangen, hätten allen Anlaß dazu, nicht wieder zu selektieren, sondern eine Regelung vorzuschlagen, die allen Opfern solcher Übergriffe eine Entschädigung ermöglicht. Ich will noch einmal Motivsuche betreiben, warum es so endlos lang dauert, bis hier eine zum Himmel schreiende Diskriminierung von Menschen anderer Nationalität abgeschafft wird. Und ich will dazu an eine Debatte erinnern, in der wir per Antrag die Einrichtung einer Stiftung für Opfer fremdenfeindlicher Übergriffe forderten. Herr Göttsching von der CDU/CSU hat damals ausgeführt, daß es nicht dazu kommen dürfe, durch eine „Art Sondergesetzgebung für Ausländer diese gegenüber anderen Bürgern unseres Landes (zu) privilegieren". Ich denke, hier finden wir ein Beispiel dafür, welche Geisteshaltung bislang jedenfalls in der Regierungskoalition eine Entschädigung der Opfer von fremdenfeindlichen Übergriffen verhinderte. Es ist schon ein starkes Stück gewesen, von der Sondergesetzgebung für Ausländer zu reden, wenn es nicht nur erstmals um eine Gleichbehandlung ausländischer Mitbürgerinnen geht, sondern wenn allgemein bekannt ist, daß die bundesdeutschen Normen zahlreiche Sondergesetze gegen Ausländer enthalten. Die schreckliche Bilanz des Terrors der letzten Jahre ist bekannt. Und bekannt ist auch — zumindest in den Menschenrechtsorganisationen, aber auch bei Organisationen wie dem Weißen Ring, daß ein beträchtlicher Teil der Opfer dieses Terrors durch die bestehende Gesetzgebung in der BRD benachteiligt sind. Der Weiße Ring mußte diesen Umstand in aller Deutlichkeit wiederholt feststellen, zuletzt in Erklärungen im Jahre 1992. Die bloße Einklagung und Forderung nach gesetzlicher Gleichbehandlung für ausländische Opfer wurde aber in der damaligen Debatte als „Sondergesetze für Ausländer" diskreditiert. Nein, Tatsache ist, daß es nach wie vor benachteiligende Sondergesetze gegen AusländerInnen in die- 12860 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 sem Land gibt. Und streng genommen ist dies ja auch der CDU/CSU bekannt. Das eigentliche Motiv für die Verhinderung von Gesetzen im Sinne der Gleichbehandlung für die Opfer ausländerfeindlicher Übergriffe und begleitender Maßnahmen wie die Einrichtung einer Stiftung wurde in derselben Debatte vom deutschen Kollegen Göttsching mit dankenswerter Offenheit vorgetragen: „Welches Signal setzen wir eigentlich für das Ausland, wenn wir eine solche Stiftung in der Bundesrepublik Deutschland installieren?" Das Protokoll vermerkt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU). Und Herr Göttsching führt den Kern seines Gedankens aus: „Wir schaffen praktisch eine Instanz, die jedem vor Augen führen würde, daß Deutschland nicht einmal mehr in der Lage ist, Ausländer vor systematischen — ich betone systematischen — Übergriffen zu schützen. Das kann nicht Sinn unserer Gesetzgebung sein." Über 5 000 ausländerfeindlich motivierte Straftaten allem im Jahr 1992 zeigen, daß es eine Tatsache ist, daß dieser Staat Immigrant Innen und Flüchtlinge in der Tat nicht vor systematischen Übergriffen schützen kann, und — sieht man sich beispielsweise die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen an — will. Natürlich muß in allererster Linie dies erreicht werden: Rassistische Übergriffe und jede Form von Diskriminierung ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger müssen verhindert werden. Und aber es muß selbstverständlich eine Entschädigung der Opfer von Übergriffen ermöglicht werden, die sowieso nie ausreichen wird, wiedergutzumachen, was ihnen angetan wurde. Wir fordern, die Gesetzentwürfe in der nächsten Sitzungswoche in den Ausschüssen zu beraten und noch Ende April zu einer Beschlußfassung in diesem Haus zu kommen. Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Leistungen auf Grund des deutschen Opferentschädigungsgesetzes erhalten zur Zeit grundsätzlich nur Deutsche sowie seit 1990 auch Bürgerinnen und Bürger aus EG-Staaten, nachdem der europäische Gerichtshof deren Einbeziehung gefordert hatte. Wenn sonstige Ausländer in Deutschland Opfer einer Gewalttat werden, können sie derartige Entschädigungsleistungen nur dann beanspruchen, wenn festgestellt ist, daß in ihrem Herkunftsland Deutschen unter gleichen Voraussetzungen und im gleichen Umfang entsprechende Ausgleichszahlungen zustehen. Diese sogenannte Gegenseitigkeit besteht heute nur hinsichtlich einer Handvoll Staaten: Finnland, Norwegen, Schweden, der kanadischen Provinzen Ontario und British Columbia sowie der US-amerikanischen Bundesstaaten Maryland und Ohio. Den fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten der letzten Wochen und Monate ist jedoch meines Wissens nach kein einziger Bürger aus den genannten Staaten zum Opfer gefallen, sondern eine Vielzahl von Menschen vorwiegend aus asiatischen oder afrikanischen Ländern, die schon an ihrer Hautfarbe als Ausländer erkennbar waren. Welche nicht hinnehmbaren Folgen dies für die Opferentschädigung hat, möchte ich an einigen Beispielen verdeutlichen: Keine Leistungen erhalten hiernach etwa die Hinterbliebenen — des Kurden Yusufoglu, der im Dezember 1990 in Hachenberg von Skinheads erstochen wurde; — des Afghanen, der im Februar 1991 nach dem Überfall auf seine Flüchtlingsunterkunft in Leisnig in Sachsen starb; — des Moçambikaners Gomondai, der im März 1991 in Dresden von Skinheads totgeschlagen wurde; — des Angolaners Agostinho, der im Juni 1991 in Friedrichshafen von einem DVU-Ordner erstochen wurde; — des Ghanaers Yeboah, der im Sepember 1991 nach einem Brandanschlag in Saarlouis starb; — des im Juli 1992 bei Stuttgart von vermummten Neofaschisten totgeschlagenen Jugoslawen Berisha. Keinerlei Ansprüche nach dem OEG haben auch — die Kinder des im Januar 1992 in Lampertsheim verbrannten Elternpaars aus Sri Lanka; -- die Frau des im März 1992 nahe Rostock von Neonazis erschlagenen Rumänen Christinel; — die Vietnamesin Van Thu, vor deren Augen ein Neonazi im April 1992 in Berlin-Marzahn ihren Ehemann erstach; — die Ehefrau und das kleine Kind des Angolaners Amadeu, der im November 1990 in Eberswalde erschlagen wurde. Den beiden libanesischen Kindern, die im Oktober 1991 bei einem Brandanschlag in Hünxe lebensgefährliche Verletzungen erlitten, versagte kürzlich das Landesversorgungsamt NRW die Heilbehandlungskosten, weil mit dem Libanon keine Gegenseitigkeit bestehe. Der Türke Arslan, dessen Ehefrau, Nichte und Enkelin im November vergangenen Jahres durch einen Brandanschlag in Mölln getötet wurden, erhielt zwar unmittelbar nach der Trauerfeier reichlich Gratis-Prügel von der Hamburger Polizei, jedoch keinen Anspruch etwa auf eine Hinterbliebenen-Rente. Ohne diese Aufzählung hier weiter fortsetzen zu müssen, sollte daran bereits eines deutlich geworden sein: Menschen, die hier bevorzugt Opfer fremdenfeindlicher Gewalt wurden und täglich werden, kommen gerade aus solchen Ländern, deren politische oder wirtschaftliche Verhältnisse Anlaß zur Flucht nach Deutschland gaben und in denen folglich auch die Entschädigungs-Voraussetzung der „Gegenseitigkeit" nicht erfüllt werden wird. Daher ist die geltende Fassung des Opferentschädigungsgesetzes unzureichend und muß dringend abgeändert werden. Besonders im Ausland ist der Vorwurf erhoben worden, hierzulande gediehen Neonazismus, Antisemitismus sowie Asylantenhetze, und die Polizei schaue derlei wie in Rostock tatenlos oder gar billigend zu. Wenn den Opfern solcher Gewalt nun weiterhin Entschädigungen versagt werden, wie sie jedem Deutschen zustehen, wird es Herr Kinkel künf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 12861* tig — zum Beispiel bei dem anstehenden Besuch in Vietnam — noch schwerer haben, dem Eindruck der Ausländer-Diskriminierung allein mit beschwichtigenden Worten entgegenzutreten. Und um auch dies noch deutlich zu sagen: Aktionismus im repressiven Bereich wie die beantragten Parteiverbote und Grundrechtsverwirkungen können eine Haltung gegenüber den Opfern nicht wettmachen, die als Hartherzigkeit empfunden werden muß! Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf sieht daher vor, allen ausländischen Opfern von Gewalttaten grundsätzlich einen Anspruch auf Entschädigung zu gewähren und außerdem — insofern über den entsprechenden Antrag der PDS hinausgehend — für die Verwaltungspraxis klarzustellen, daß derartige Leistungen nicht z. B. von der Sozialhilfe gleich wieder abgezogen werden dürfen. Auch die SPD hat sich vorgestern kurz vor der heutigen Beratung noch eine Vorlage abgerungen. Hiernach sollen solche Ausländer weiterhin keine Entschädigung erhalten, die „ihren rechtmäßigen Wohnsitz" nicht in Deutschland, sondern — der Entwurfsbegründung zufolge — „ihren ständigen Wohnsitz im Ausland haben." Wenn ich das lese, muß ich die Verfasser fragen: Ist diese Wendung nur der Hast bei der Formulierung geschuldet, oder ist diese Übereinstimmung mit der neuen Linie der SPD gegenüber Asylbewerbern wirklich gewollt? Ihnen kann doch eigentlich nicht entgangen sein, meine Damen und Herren Sozialdemokraten, daß der Begriff des ständigen oder berechtigten Wohnsitzes gemeinhin davon abhängig gemacht wird, wo jemand den „Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse" hat. Diesen Lebensmittelpunkt sieht die Praxis der Ausländerbehörden bei Asylbewerbern — gleich in welchem Stadium des Verfahrens — jedoch in deren Herkunftsland mit der Folge, daß ein Anspruch nach dem OEG entfiele. Ich muß diesen Entwurf daher als eine gewollte Fehlleistung ansehen! Und die Bundesregierung? Obwohl die Justiz- und Sozialminister sowie Ausländerbeauftragten eine baldige Novellierung des OEG angemahnt haben, erklärte die Regierung vor genau vier Wochen in diesem Hause klipp und klar, sie sähe keinerlei Anlaß zu Veränderungen. Unmittelbar vor der heutigen Debatte hat das Kabinett nun doch noch einen eigenen Entwurf verabschiedet. Wir freuen uns ehrlich, Herr Blüm, daß es dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der PDS mit ihren Initiativen offenbar gelungen ist, die Regierung umzustimmen. Was den Inhalt ihrer Vorlage angeht, begrüßen wir zunächst die geplante Rückwirkung auf Schäden seit dem 1. Januar 1991. Die vorgesehene Kapitalisierung von Ansprüchen, falls der Berechtigte Deutschland verläßt, halten wir grundsätzlich für ebenso bedenkenswert wie eine mögliche Differenzierung der Leistungspalette je nach Aufenthaltsdauer. Nicht einverstanden sein können wir aber mit der Absicht, als Voraussetzung jeglicher Ansprüche (von Familienbesuchern und Härtefall-Ermessen abgesehen) einen rechtmäßigen Mindestaufenthalt in Deutschland von sechs Monaten oder eine humanitär begründete Duldung festzuschreiben. Wenn man daneben die derzeit beratenen Asylbegleitgesetze und die dort vorgesehenen drastischen Verfahrensabkürzungen z. T. auf sechs Wochen berücksichtigt, bedeutet diese Voraussetzung doch, daß sehr viele Asylbewerber keinerlei Entschädigungsansprüche hätten, wenn Sie hier Opfer einer Gewalttat werden. Stellen Sie sich doch einmal einen Skinhaed-Überfall auf eine Sammelunterkunft und die anschließende Resonanz im In- und Ausland vor! Danach werden Sie, Herr Blüm, doch die Versagung von Opferentschädigung nicht ernsthaft damit begründen wollen, die Opfer seien aus einem sicheren Drittstaat gekommen. Ebensowenig mag ich an einen Brandanschlag auf eine Rumänen-Unterkunft in Berlin oder anderswo denken: Soll den Opfern da vorgehalten werden, das Warten auf ihre Zurückschiebung sei entschädigungsrechtlich etwas anderes als eine humanitäre Duldung? Derlei Ungereimtheiten werden auch der Offentlichkeit nicht zu vermitteln sein. Und auch die Ausschlußgründe in diesem Regierungsentwurf sind nicht akzeptabel. Denn hiernach könnte z. B. Herr Arslan nach dem Möllner Brandanschlag auf seine Familie nun Entschädigung versagt werden mit dem Hinweis auf Medienberichte über seine angeblichen kriminellen Kontakte. Oder soll einem politisch aktiven Ausländer, der von Neonazis verletzt wird, wirklich entgegengehalten werden können, andere Mitglieder seiner Organisation hätten in ihrem Heimatland schon mal Gewalt angewendet? Das geht zu weit. Über all diese Fragen werden wir uns im Ausschuß noch gründlich auseinanderzusetzen haben; dabei muß die Novellierung trotzdem so rasch wie möglich zugunsten der Opfer wirksam werden. Gertrud Dempwolf (CDU/CSU): Zur Beratung liegen uns zunächst einmal zwei Gesetzentwürfe der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS/ Linke Liste vor, die sich nur in Nuancen unterscheiden und die einzig und allein durch ihre Schlichtheit bestechen. Wenn ich von Schlichtheit spreche, dann meine ich das zunächst einmal rechtstechnisch. Rechtstechnisch ist es ja immer am einfachsten, eine einschränkende Regelung zu streichen. Doch was sind die Folgen? Aber auch deshalb sage ich „Schlichtheit", weil sich offenbar keine der Initiatoren dieser einfachen Regelung über deren Inhalt und Folgen im klaren zu sein scheint. Was würden wir wirklich regeln, wenn wir einem der hier vorliegenden Gesetzentwürfe zustimmen würden? Meine Damen und Herren, wir würden, wenn es danach ginge, jedem durchreisenden Touristen, wenn er bei uns Opfer einer Gewalttat wird, Leistungen in die fernsten Winkel der Welt zahlen, ohne auch nur mit einiger Sicherheit prüfen zu können, ob überhaupt noch gesundheitliche Folgen der Schädigung bestehen oder ob der Geschädigte überhaupt noch lebt. Wir müßten Leistungen in einer Höhe exportieren, die — wie bereits der Vertreter der Bundesregierung gesagt hat — den Geschädigten nicht nur in Ländern der sogenannten Dritten Welt weit über das Einkom- 12862 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 mensniveau seines sozialen Umfelds herausheben würde. Abgesehen davon, daß ich erhebliche Zweifel habe, daß sich die Bundesrepublik so etwas angesichts der derzeitigen Haushaltssituation leisten sollte, kann ich Ihnen versichern: Eine derart schlichte „große Lösung" werden die Unionsparteien nicht mittragen können. Im übrigen: Der Export von Sozialleistungen ist ein brisantes Thema. Wir sollten uns sorgfältig vor einer Regelung hüten, die zum Dammbruch führen könnte mit unabsehbaren finanziellen Folgen für andere Sozialleistungsbereiche. Das Problem des Leistungsexports löst auch der kurzfristig nachgereichte Gesetzentwurf der SPDFraktion nicht, auch wenn hier der Personenkreis durchaus enger gefaßt wird. Wenn ich zunächst plakativ die negativen Seiten der vorliegenden Gesetzentwürfe aufgezeigt habe, dann geht dies nicht gegen das Grundanliegen der Entwürfe. Die tragischen Fälle von Hilnxe und Mölln in einer Kette von Gewalttaten und Ausschreitungen gegen Ausländer haben uns Politikern auf drastische Art und Weise gezeigt, daß wir handeln müssen, daß wir nicht nur Reden halten dürfen. Wir müssen um mehr Verständnis werben für unsere ausländischen Mitbürger, die wir zum Teil als Arbeitskräfte ins Land geholt haben und die hier oft seit Jahren leben und arbeiten und deren Kinder hier geboren sind. Wir müssen auch Verständnis wecken für diejenigen, die hier bei uns Schutz suchen vor Verfolgung in ihrer Heimat. Wir haben die Verpflichtung, auch diese Mitmenschen vor Ausschreitungen und Gewalttaten zu schützen. Deshalb müssen wir auch den Opfern eine angemessene Entschädigung zukommen lassen. Was unter angemessen zu verstehen ist, darüber läßt sich sicher streiten. Nicht angemessen ist jedoch das, was die vorgelegten Gesetzentwürfe bewirken würden, weil sie weder tatsächlich das Ausmaß der Integration noch rechtlich den Aufenthaltsstatus berücksichtigen und weil sie den ungebremsten Leistungsexport bedeuten würden. Was wir brauchen, ist eine ausgewogene Regelung, die die vorgenannten Kriterien berücksichtigt, die darüber hinaus über jeden Zweifel deutlich macht, daß nicht jeder Illegale in den Schutz des Opferentschädigungsgesetzes einbezogen wird und daß wir nicht die Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen versorgen müssen, die ausländische Organisationen, kriminelle oder politische, in Deutschland gegeneinander veranstalten. Die vorliegenden Gesetzentwürfe erfüllen diese Voraussetzungen nicht. Der gestern im Bundeskabinett beschlossene Gesetzentwurf zur Änderung des OEG bietet für meine Fraktion eine vernünftige und notwendige Lösung an. Noch einen wichtigen Punkt möchte ich ansprechen: Es geht um Deutsche, die im Ausland Opfer von Gewalttaten geworden sind und die von dort meist keine oder nur unzureichende Entschädigungsleistungen erhalten. Auch darüber sollten wir hier einmal ernsthaft nachdenken. Ich weiß, daß eine Lösung aus rechtssystematischen Gründen im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes nicht möglich ist. Dennoch, wir sollten diese Gelegenheit nutzen, die Bundesregierung mit Nachdruck aufzufordern, auch hier unverzüglich etwas zu tun. Ich denke dabei nicht etwa daran, daß wir jetzt diejenigen versorgen sollten, die sich in ihrem Urlaub auf gefährliche Abenteuerreisen begeben oder sich gar in den Krisengebieten dieser Welt die Kugeln um die Ohren pfeifen lassen; aber was ist mit dem normalen Touristen, der völlig schuldlos im Ausland zum Gewaltopfer wird? Zurück in der Heimat, bleibt ihm oft nur der Weg zum Sozialamt. Und besonders ärgerlich für den Betroffenen wird es dann, wenn ihm eine — durchaus mäßige — Entschädigungsleistung aus dem Ausland, die ihrem ganzen Charakter nach nur eine Art Schmerzensgeld oder eine Pauschalabfindung für schädigungsbedingte Mehraufwendungen sein kann, auf die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet wird. Auch hier muß eine Lösung gefunden werden; das sieht auch die Bundesregierung so. Ulrike Mascher (SPD): Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits 1984 einen Antrag eingebracht, um die Gegenseitigkeitsklausel des geltenden Rechts so zu verändern, daß auch Ausländer, die Opfer von Gewalttätigkeiten waren, Entschädigungsansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend machen können. Für uns war es schon 1984 sehr unbefriedigend, daß Ausländer, die hier leben, wenn sie Opfer von Gewalttaten geworden sind, keine Leistung erhalten sollen, weil mit ihren jeweiligen Herkunftsländern keine entsprechenden Abkommen bestehen. Die Bundesregierung hat 1990 in der Antwort auf eine Große Anfrage der SPD-Fraktion diese Position noch einmal bestätigt. Angesichts der erschreckenden Zunahme von Gewalttaten gegen Ausländer, angesichts der Tatsache, daß es nur unzureichend gelungen ist, Ausländer, die bei uns Schutz suchen vor Gewalt, zu schützen, hält es die SPD-Fraktion für dringend geboten, unabhängig von der Forderung nach gegenseitiger Leistung auch Ausländern, wenn sie Opfer von Gewalttaten werden, Entschädigungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu eröffnen. Angesichts des finanziellen Umfangs —1990 hat die Bundesregierung den Mehraufwand auf rund 2 Milliarden DM beziffert, wobei der Anteil des Bundes rund 0,5 Millionen DM betragen sollte — will die SPD eine Regelung, die allen Ausländern, die hier leben, zugute kommen soll. Erfreulicherweise hat sich jetzt auch die Bundesregierung bewegt. Allerdings scheint mir bei einer ersten Durchsicht des Entwurfs des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung immer noch eine wenig großzügige Regelung für Ausländer, die kürzer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 12863' als drei Jahre in der Bundesrepublik leben, also vor allem für Flüchtlinge, geplant zu sein. Die Gewalttaten der vergangenen Monate haben sich ja vor allem gegen Flüchtlinge gerichtet, deshalb wollen wir gerade diese Gruppen von Opfern voll in die Leistungen des Opferentschädigungsgesetzes einbeziehen. Wir hoffen, daß auf der Grundlage unseres Entwurfs solch eine Regelung möglich wird. Hans A. Engelhard (F.D.P.): Einigkeit besteht, daß unser Opferentschädigungsgesetz heute noch eine Vielzahl von Ausländern in nicht vertretbarer Weise von Leistungen ausschließt und damit benachteiligt. Das Thema ist zu Recht wieder in die aktuelle politische Diskussion gekommen, seit der Fremdenhaß von rechtsextremistisch verblendeten Gewalttätern zu einer Fülle von Angriffen auf Ausländer führte. Auch ein wesentliches Element des Rechtsstaates ist es, sein Gewaltmonopol zunächst einmal präventiv zum Schutz der Bürger und Gäste im Lande einzusetzen. Wo der Erfolg versagt bleibt, ist es geboten, dem in seiner körperlichen Integrität verletzten Opfer mit einer Entschädigung zur Seite zu stehen. Über eine Änderung des Opferentschädigungsgesetzes wurde früher bereits intensiv nachgedacht. Ich erinnere mich lebhaft an die Erörterungen, die nach dem grauenvollen Anschlag beim Münchner Oktoberfest im Herbst 1980 stattfanden. Bei allem Verständnis und gutem Willen wird es jedoch nicht sinnvoll und möglich sein, einfach durch Streichung der Klausel über die Gegenseitigkeit Abhilfe zu schaffen. Die Bundesregierung und mit ihr die Koalitionsfraktionen haben sich erneut mit den anstehenden Fragen beschäftigt. Die Bundesregierung hat erst gestern im Kabinett einen Gesetzentwurf gebilligt. Zu den Einzelheiten wird anschließend wohl Herr Parlamentarischer Staatssekretär Günther noch Stellung nehmen. Ich beschränke mich auf die Feststellung, daß hier eine gute und abgewogene Regelung gefunden wurde, die vor allem darauf Bedacht nimmt, Ausländer, die bereits länger in der Bundesrepublik leben, verstärkt in die Regelungen des Opferentschädigungsgesetzes einzubinden. Aber bei einer besonders schweren Schädigung gehen endlich auch Touristen und kurzfristige Besucher nicht mehr leer aus. Wenn es uns bei den Beratungen gelingt, auf dieser Linie Ergebnisse zu erzielen, so haben wir dem Gedanken des Opferentschädigungsgesetzes über die Grenzen der Staatsangehörigkeit hinaus Rechnung getragen. Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Wir sind uns einig: In Zeiten, wo verblendete, ewig Gestrige mit brutaler Gewalt Ausländer angreifen, müssen ihre Opfer Anspruch auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz haben. Dies ist eine Frage der moralischen Verantwortung gegenüber den Opfern und entspricht dem Grundgedanken des Opferentschädigungsgesetzes. Es ist unstrittig, daß die bisherige gesetzliche Regelung zu restriktiv ist, wenn die Mehrzahl der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer vom Leistungsanspruch ausgeschlossen bleibt. Dennoch ist die ersatzlose Streichung der Gegenseitigkeitsklausel, wie sie beide heute vorliegenden Gesetzentwürfe vorsehen, nicht akzeptabel. Sie würde über das Ziel einer angemessenen Entschädigung der Opfer hinausschießen. Mit der Streichung der Gegenseitigkeitsklausel ginge die Verpflichtung einher, Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in alle Welt zu exportieren. Die Entwicklung der gesundheitlichen Folgen und das Ausmaß der entstandenen wirtschaftlichen Nachteile für den Geschädigten, die Grundlage für die Leistungsbemessung sind, wären unter diesen Bedingungen nur noch sehr schwer nachzuvollziehen. Dementsprechend groß wäre die Versuchung, die Regelungen des Opferentschädigungsgesetzes zu mißbrauchen. Die Kritiker, die einen neuen Sozialtourismus heraufbeschwören, könnten schließlich recht bekommen. Auch der Entwurf der SPD-Fraktion trägt diesen möglichen Folgen eines Leistungsexportes nicht in ausreichendem Maße Rechnung, selbst wenn der berechtigte Personenkreis eingeschränkt ist. Unser Entwurf hält für Touristen und kurzfristige Besucher grundsätzlich am Gegenseitigkeitserfordernis fest. Wir setzen uns für eine Lösung ein, die einerseits die angemessene Entschädigung ausländischer Opfer gewalttätiger Angriffe garantiert und andererseits Mißbrauch vermeidet. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, haben wir zur Erstellung unseres Konzeptes etwas mehr Zeit benötigt. Jetzt haben wir jedoch den Gesetzentwurf dem Bundeskabinett vorgelegt. Gestern wurde er gebilligt. Damit unsere ausländischen Mitbürger Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend machen können, erfaßt unser Konzept alle länger in der Bundesrepublik lebenden Ausländer. Wenn sie sich seit mindestens drei Jahren legal in der Bundesrepublik aufhalten, werden sie weitgehend dem Status eines Deutschen bzw. eines EG-Bürgers gleichstellt. Soweit sie sich noch nicht seit drei Jahren, aber rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten, haben sie Anspruch auf eingeschränkte Leistungen des Opferentschädigungsgesetzes. Für Ausländer, die sich zwar legal, aber nur kurzfristig in der Bundesrepublik aufhalten, wird es beim Gegenseitigkeitserfordernis bleiben. Um jedoch besonders schwere Fälle ausgleichen zu können, ist eine Härteregelung für ausländische Touristen und Besucher vorgesehen. Das Konzept der Bundesregierung stellt damit konkret auf den Aufenthaltsstatus und das Ausmaß der 12864* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1993 Integration ab. Diese Lösung bietet klare Abgrenzungskriterien. Es wäre sicher sinnvoll, die Beratung des Regierungsentwurfes mit den weiteren Beratungen der heute vorliegenden Gesetzentwürfe zusammenzufassen. Im direkten Vergleich werden Sie dann feststellen, daß der Entwurf der Bundesregierung nicht nur ausgewogener ist, sondern in einem Punkt sogar über die heute vorliegenden Gesetzentwürfe hinausgeht: Die tragischen Fälle der jüngsten Vergangenheit, die Anlaß der heutigen Beratung sind, werden rückwirkend erfaßt. Das bedeutet: Die beiden libanesischen Mädchen aus Hünxe, die bei einem rechtsextremistischen Brandanschlag im Oktober vorletzten Jahres schwer verletzt wurden, werden entschädigt. Gleiches gilt für die Hinterbliebenen der Opfer des Brandanschlages in Mölln, durch den eine türkische Frau und zwei türkische Mädchen ihr Leben verloren. Die Bundesregierung stellt sich ihrer Verantwortung gegenüber den Opfern der Gewalt in unserem Land. Unser Konzept sorgt dafür, daß die Humanität in der Bundesrepublik Deutschland nicht Halt macht vor der Nationalität.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1214900000
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich möchte zunächst dem Kollegen Siegfried Vergin, der am 17. März seinen 60. Geburtstag feierte, im Namen des Hauses ganz herzlich gratulieren.

(Beifall)

Ich komme nun zu den amtlichen Mitteilungen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache 12/4616 —

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214900100
Sammelübersicht 95 zu Petitionen
— Drucksache 12/4625 —
3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu ihrem unter Verschluß gehaltenen Gutachten zum Ausbau von Saale- und Elbe-Staustufen
4. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
— Drucksache 12/4611 —
Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.
Des weiteren mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.
1. Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. März 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich auch dem Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden:

(Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms — FKPG —)

— Drucksache 12/4401 —
Überweisung:
Haushaltsausschuß (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft EG-Ausschuß
Ausschuß für Treuhandanstalt
2. Der in der 143. Sitzung des Deutschen Bundestages am 4. März 1993 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich zur Mitberatung dem Rechtsausschuß überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Hanna Wolf, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
EG-Fernsehrichtlinie — Schutz von Minderjährigen
— Drucksache 12/4325 —
Überweisung:
Ausschuß für Frauen und Jugend (federführend) Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Innenausschuß
EG-Ausschuß
Sind Sie mit den Ergänzungen der Tagesordnung und den nachträglichen Ausschußüberweisungen einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Der Solidarpakt als Grundlage für die Sicherung des Standortes Deutschland



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Dazu liegen je ein Entschließungsantrag der Gruppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache einschließlich Regierungserklärung 41/2 Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1214900200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle erleben es täglich: Wir stehen mitten in einer Zeit dramatischer Umbrüche. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat neue Chancen eröffnet, hat aber auch neue Risiken mit sich gebracht. Viele Länder in der Welt sind gegenwärtig dabei, ihren Standort, ihre Position, ihre Rolle neu zu bestimmen. Auch wir Deutsche müssen dies tun.
Für uns stellt sich dabei eine doppelte Aufgabe: die innere Einheit unseres Vaterlandes zu vollenden und zugleich — das war immer deutsche Politik nach dem Krieg — einen Beitrag zur Einigung Europas zu leisten. Beides ist untrennbar miteinander verbunden.
Unsere Freunde und Partner erwarten zu Recht von uns, daß wir unsere Chancen nutzen. Niemand von ihnen zweifelt daran, daß die Deutschen die Herausforderung erfolgreich meistern werden, vor die wir durch die Aufgabe deutsche Einheit gestellt sind.
Ich bin ganz sicher — und ich weiß aus vielen Gesprächen —, daß der erfolgreiche Abschluß des Solidarpaktes gerade im Ausland das Vertrauen in die Kraft der deutschen Demokratie gestärkt hat. Die demokratischen Parteien, die Bundesregierung, die Bundesländer haben mit diesem Gemeinschaftswerk bewiesen, daß sie auch in schwierigen Zeiten zu vernünftigen Kompromissen, zu solidarischem Handeln fähig sind.
Meine Damen und Herren, ich will heute vor allem die Gelegenheit wahrnehmen, allen zu danken, die an diesem Ergebnis mitgewirkt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist ein gemeinsamer Erfolg. Es ist ein Erfolg für unsere freiheitliche Demokratie. Es ist ein Erfolg, der auch über die Tagespolitik hinaus wirksam ist.
Die finanzielle, ökonomische und politische Stabilität in Deutschland liegt nicht nur im deutschen Interesse. Sie versetzt uns in die Lage, zur Stabilität in Europa, zum Frieden in der Welt einen direkten, einen aktiven Beitrag zu leisten.
Wie eng Innenpolitik und Außenpolitik zusammenhängen, war auf jeder Station meiner kürzlichen Reise durch fünf asiatische Länder zu spüren. Mit Indien, Singapur, Indonesien, Japan und der Republik Korea verbinden uns enge traditionelle Beziehungen, die nicht zuletzt aus der Begegnung der Kulturen erwachsen sind. Ich erinnere beispielhaft an die großartigen Leistungen der deutschen Indologen.
Die meisten Länder Asiens, meine Damen und Herren, beeindrucken heute durch Dynamik, durch enorme Wachstumsraten ihrer Wirtschaft und durch technologischen Fortschritt. In Indien, Indonesien, Japan, der Republik Korea und China zusammengenommen wird um die Jahrtausendwende fast die Hälfte der Menschheit leben. Schon aus diesen gigantischen Zahlen ergibt sich die Bedeutung dieses Teils der Welt. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Asien wird im 21. Jahrhundert hervorragende Zukunftschancen haben. Und dem müssen Politik und Wirtschaft in Europa und Deutschland Rechnung tragen.
Wir Deutsche — ich finde, wir sollten dies einräumen — haben vor allem in den letzten Jahrzehnten aus vielerlei Gründen diese Weltregion nicht genügend beachtet. Um so wichtiger war es mir, mit dieser Reise das enorme Potential und die großen Chancen dieser Region wieder in unser öffentliches Bewußtsein zu rücken. Wir sind fest entschlossen, gemeinsam mit den Verantwortlichen im Bereich der Wirtschaft und der Wissenschaft eine zukunftsgewandte Partnerschaft mit den Ländern dieses Erdteils auf den Weg zu bringen.
Die Aufgaben sind vielfältig und müssen auf die spezielle Situation des jeweiligen Landes eingehen. Auf wirtschaftlichem Gebiet geht es zunächst darum, Handel und Investitionen in beide Richtungen zu verstärken. Dabei — ich glaube, das ist ein besonders wichtiges Ziel — müssen wir nach Wegen suchen, wie auch mittelständische Unternehmen aus Deutschland, die zum großen Teil über keine eigenen Auslandsabteilungen verfügen, in dieses Zukunftsengagement einbezogen werden können.
Mit den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern Asiens sind darüber hinaus Joint-ventures in Drittländern möglich und zu erstreben. Speziell in bezug auf Japan denken wir an einen Kooperationsrat für Hochtechnologie und Umwelttechnik, in dem die Regierungen und die Wirtschaft gemeinsam vertreten sind. Bei all dem geht es mir auch darum, die kulturellen Beziehungen intensiver einzubeziehen.
Meine Damen und Herren, wir alle verfolgen die Entwicklung der Volksrepublik China mit größter Aufmerksamkeit. Wir hoffen sehr, daß dort der wirtschaftlichen Liberalisierung bald politische Reformen folgen werden. Dies wäre — dessen bin ich sicher — zugleich ein Beitrag zur langfristigen Stabilität in Asien.
Auf meiner Rückreise von Asien habe ich in Moskau die Chance gehabt, ein intensives Gespräch mit Präsident Boris Jelzin zu führen. Er hat mir dabei versichert, daß er entschlossen ist, den Reformprozeß voranzutreiben.
In diesen Tagen haben wir dann erlebt, daß starke Kräfte innerhalb des Landes Reformen stoppen wollen. Ich möchte hier und heute ausdrücklich unterstreichen, daß es in unserem Interesse — des Westens und nicht zuletzt Deutschlands — liegt, daß die Reformpolitik Boris Jelzins erfolgreich fortgesetzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei setzen wir auf einen friedlichen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise. Boris Jelzin ist der demokratisch gewählte Präsident Rußlands. Sein Name steht für ein neues Rußland, das sich der Freiheit, der Demokratie und der Marktwirtschaft geöffnet hat. Wir wollen, daß dieses neue Rußland ein verläßlicher und stabiler Partner ist, der die ihm zukommende Rolle in der Völkergemeinschaft spielt. Ein schwaches, innerlich



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
zerrissenes Rußland wäre in niemandes Interesse. Das gleiche gilt selbstverständlich für die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Für uns Deutsche muß das heißen: Wer den Weg zu mehr Demokratie, zur Sozialen Marktwirtschaft, zur konstruktiven internationalen Zusammenarbeit geht, kann auch künftig selbstverständlich mit unserer Unterstützung rechnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das heißt auch, meine Damen und Herren: Wir treten im Kreis unserer G-7-Partner dafür ein, daß die G-7-Staaten, aber auch alle anderen Industrieländer nachdrücklich das Notwendige tun, um in dieser kritischen Zeit ein Zeichen der Unterstützung zu setzen. Das auf dem Wirtschaftsgipfel in München verabschiedete Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe muß endlich voll und ganz umgesetzt werden.
Jede andere Politik wäre kurzsichtig. Ein Rückfall in eine Politik der Konfrontation würde uns allen Lasten auferlegen, die um ein Vielfaches höher wären als die jetzige Hilfe etwa für Rußland.
Meine Damen und Herren, wir Deutsche haben mit Leistungen von über 80 Milliarden DM mehr als 50 To aller westlichen Hilfe géleistet. Wir haben bisher am meisten für Rußland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion getan. Das ist in Ordnung, und ich bekenne mich ausdrücklich zu dieser Politik. Aber ich will und muß hinzufügen: Damit sind wir an die Grenze unserer Leistungsfähigkeit gestoßen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Lachen bei der SPD)

— Das ist doch ein berechtigter Beifall an dieser Stelle.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Lachen bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

— Ich denke, Sie sind auch mit dem nächsten Satz einverstanden.
Wir erwarten, daß sich unsere Partner stärker als bisher engagieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich begrüße es, daß Präsident Clinton ein ganz konkretes Hilfsprogramm für Rußland in diesen Tagen angekündigt hat.
Meine Damen und Herren, der blutige Konflikt im ehemaligen Jugoslawien ist weiterhin Grund zu größter Besorgnis und Betroffenheit. Die Bemühungen um eine Friedenslösung in Bosnien-Herzegowina befinden sich derzeit in einem besonders kritischen Stadium. Hierfür trägt die Belgrader Regierung unmittelbare Verantwortung. Sollte der Friedensplan an fehlender Zustimmung der Serben scheitern, so wird die EG eine drastische Verschärfung der Sanktionen bis hin zu einer vollständigen Isolierung Serbiens ins Auge fassen müssen; und die serbische Führung muß sich die Frage stellen, ob sie diesen Konflikt unter Inkaufnahme des wirtschaftlichen Ruins ihres eigenen Landes fortsetzen will oder ob sie endlich — wir hoffen dies — dem Frieden eine Chance gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, in den Vereinigten Staaten hat Präsident Clinton vor gerade zwei Monaten sein hohes Amt angetreten. Mit ihm und seiner Administration wollen wir die enge deutsch-amerikanische Freundschaft und Partnerschaft selbstverständlich fortsetzen und ausbauen. Diese deutschamerikanische Partnerschaft ist und bleibt ein Eckpfeiler unserer Politik, und sie wird und muß sich gerade in Zeiten des Umbruchs immer wieder bewähren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die großen weltpolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, können Deutsche und Europäer nur zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika bewältigen.
Ich werde heute, wie Sie wissen, nach Washington fliegen und morgen mit dem Präsidenten zusammentreffen. Wichtige Gesprächsthemen werden neben der Lage in Deutschland und Europa die weitere Entwicklung in Rußland und im früheren Jugoslawien sein. Ich werde die Gelegenheit wahrnehmen, um mit dem Präsidenten auch über handelspolitische Fragen zu sprechen, zumal wir ja alle erlebt haben, daß es in den letzten Wochen in den transatlantischen Handelsbeziehungen erneut Irritationen gegeben hat.
Ich will in diesem Gespräch vor allem deutlich machen, daß wir in Deutschland auch im Interesse der Weltkonjunktur jetzt den entscheidenden Schritt zum Abschluß der GATT-Runde einfordern wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dabei müssen wir unseren Beitrag leisten. Aber die GATT-Verhandlungen müssen jetzt endlich abgeschlossen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, als übereinstimmende Meinung des Hohen Hauses ist in vielen Debatten immer wieder deutlich geworden: Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Mit dem Vertrag von Maastricht haben wir unwiderruflich den Weg zur Europäischen Union beschritten. Mit dem neuen dänischen Ministerpräsidenten Rasmussen war ich bei seinem Besuch vor einigen Tagen hier einig, daß die EG-Finanzminister bei ihrer Tagung am 19. April die europäische Wachstumsinitiative, die wir auf dem Europäischen Rat in Edinburgh beschlossen haben, unbedingt verabschieden müssen. Ich denke, auch mit dem gerade beschlossenen Solidarpakt leisten wir Deutsche einen wichtigen Beitrag, um die europäische und deutsche Konjunktur zu beleben und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung, die Länder — die alten und die neuen —, CDU/CSU, SPD und F.D.P. haben mit dieser Bonner Vereinbarung zum Solidarpakt ein wichtiges Stück der deutschen Einheit gestaltet. Sie haben damit bewiesen,



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
daß es auch in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit und über unterschiedliche Meinungen und Parteigrenzen hinweg möglich ist, gemeinsame Lösungen für dringende Fragen zu finden. Ich will auf einige Ergebnisse dieser Bonner Solidarpaktklausur hinweisen, nicht auf alle, aber wenigstens auf einige ganz wichtige.
Erstens. Die Finanzbeziehungen zwischen Bund, alten Ländern und neuen Ländern haben eine neue, dauerhafte und solide Grundlage erhalten. Wenn ich dies so einfach sage, will ich doch darauf hinweisen, wie schwierig Bund-Länder-Finanzverhandlungen in den letzten 40 Jahren in der Regel waren. Wer dabei war und das erlebt hat — bei unterschiedlichen parteipolitischen Zusammensetzungen der verschiedensten Bundesregierungen und einer unterschiedlichen parteipolitischen Situation in den Ländern —, muß einfach einräumen, daß in der Zeit, die jetzt zur Verfügung stand, Beachtliches geleistet werden konnte.
Ab 1995 werden die neuen Bundesländer nicht mehr Zuwendungsempfänger, sondern gleichberechtigte Teilnehmer am normalen Finanzausgleich sein. Wer die ja zum Teil quälenden Diskussionen vor diesem Datum in Bonn erlebt hat, weiß, warum ich dieses Wort „Zuwendungsempfänger" in diesem Zusammenhang bewußt verwandt habe.
Sie erhalten jetzt eine angemessene Finanzausstattung, die ihnen einen Aufholprozeß gegenüber den alten Bundesländern ermöglicht. Für die Übergangsjahre 1993 und 1994 wird der Fonds „Deutsche Einheit" nochmals aufgestockt. Für unsere Landsleute in den neuen Bundesländern bedeutet dies: Länder und Gemeinden können zügig investieren und ein entscheidendes Stück bei der Schaffung einer modernen Infrastruktur vorankommen. Damit sind immer — auch das ist wichtig — Aufträge für die ostdeutschen Betriebe und somit Arbeitsplätze verbunden. Schon bisher ist ja im Infrastrukturbereich — das wird viel zuwenig erwähnt — eine große Aufbauleistung erbracht worden. Zwischen 1990 und 1992 wurden fast 27 Milliarden DM allein in das Verkehrsnetz der neuen Bundesländer investiert. Mit dieser Summe konnten u. a. 5 600 km Fahrbahn erneuert und 770 Straßenbrücken saniert oder neu gebaut werden. Eisenbahnstrecken wurden in einer Länge von 2 200 km erneuert; 650 km wurden elektrifiziert.
Die Telekom ist der größte Einzelinvestor in den neuen Bundesländern. Allein in diesem Jahr wird es 850 000 neue Telefonanschlüsse geben. Das ist eine Anzahl, die in der ehemaligen DDR nicht einmal in zehn Jahren möglich war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Peter Conradi [SPD])

Bis 1997, das heißt in wenigen Jahren, wird in den neuen Bundesländern die gleiche Telefondichte wie im Westen erreicht sein. Von den dafür notwendigen Investitionen profitieren in hohem Maße die Wirtschaft und die Unternehmen in den neuen Ländern. Allein in diesem Jahr erhalten ostdeutsche Betriebe Aufträge im Gesamtwert von fast 5 Milliarden DM.
Das bedeutet Arbeitsplätze für rund 90 000 Beschäftigte.
Zweitens. Mit der Lösung der Altschuldenfrage im ostdeutschen Wohnungsbaubestand haben wir ein Investitionshemmnis ersten Ranges beseitigt. Hinzu kommen flankierende wohnungsbaupolitische Maßnahmen in Milliardenhöhe. Sie werden ebenfalls dazu beitragen, daß der private Wohnungsbau zu einer Lokomotive für den Aufbau Ost werden kann. Die Experten schätzen, daß dadurch die Investitionen auf mindestens 20 bis 30 Milliarden DM verdoppelt werden. Es müssen natürlich auch ausreichend Grundstücke verfügbar sein, um Eigenheime und Wohnungen zu bauen.
Meine Damen und Herren, allein die Fläche, die durch den Abzug der russischen Truppen freigegeben wird, entspricht ungefähr der Größe des Saarlands. Die Treuhandanstalt und die Bundesvermögensverwaltung werden jetzt zügig etwa 47 000 Liegenschaften und 300 000 Wohnungen auf den Markt bringen. Gefordert ist hier natürlich auch der Einsatz der Gemeinden, verstärkt Wohnbauland auszuweisen. Die Gemeinden erhalten ja speziell auch dafür finanzielle Hilfen.
Drittens. Zur Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik werden im Laufe dieses Jahres zusätzlich 2 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Dies bedeutet, daß die aktive Arbeitsmarktpolitik fortgesetzt werden kann. In diesem Jahr können konkret mit diesen Mitteln 20 000 Neueintritte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Westen und bis zu 225 000 im Osten finanziert werden.
Hinzu kommen weitere Förderungen durch die neu geschaffene Möglichkeit, in den Bereichen Umweltsanierung, soziale Dienste und Jugendarbeit Lohnkostenzuschüsse zu zahlen. Ich fordere Länder, Gemeinden und die Verbände auf, diese Möglichkeiten offensiv und natürlich vernünftig zu nutzen und sich dabei auch mit eigenen Finanzierungsbeiträgen zu beteiligen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Viertens. 1993 und 1994 wird die Ergänzungsabgabe nicht kommen, und die Arbeitsmarktabgabe wird nicht eingeführt. Für die nächsten Jahre gibt es verläßliche steuerpolitische Rahmenbedingungen für Bürger und Unternehmer. Dies war für uns in der Bundesregierung von ganz entscheidender Bedeutung.

(Zurufe von der SPD)

— Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Jetzt tue ich etwas, was mein Vorgänger Helmut Schmidt gefordert hat; aber auch damit sind Sie nicht einverstanden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Dr. Peter Struck [SPD]: So ist das Leben, Herr Bundeskanzler!)

— Herr Struck, Sie empfehlen mir doch immer, gut auf ihn zu hören. Jetzt habe ich es getan. Jetzt erwarte ich eigentlich Ihren Beifall.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Weitere Zurufe von der SPD)




Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
— Aber Entschuldigung, wenn ich meinen geschätzten Vorgänger zitieren wollte, was er über andere sagt, dann müßte ich hier einen ganzen Tag berichten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann müßte die SPD den Saal verlassen!)

Da er, wie Sie wissen, wortgewaltig ist, wird das quer über alle Fraktionen hinweg gehen. Da wir alle wissen, daß er das tut, brauche ich das hier nicht zu wiederholen, finde ich.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal: Diese Entscheidung war für die Bundesregierung von großer Bedeutung; denn die Belastung mit Steuern und Abgaben hat in Deutschland ohnehin bereits das höchste Niveau seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht. Wir liegen auch im internationalen Vergleich im Spitzenfeld, das heißt, in einer besonders ungünstigen Position.
Fünftens. Ein wesentlicher Finanzierungsbeitrag — mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen — wird durch eine verstärkte Mißbrauchsbekämpfung im Bereich sozialer und wirtschaftlicher Leistungen sowie durch weitere Einsparungen erreicht.

(Zurufe von der SPD: Krause! Krause!)

Bei den sozialen Regelleistungen werden Kürzungen vermieden. Aber wir alle kennen die Diskussion, die im Land über strukturelle Fehlentwicklungen auch im Sozialbereich geführt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Zurufe von der SPD: Krause! Krause!)

Viele zweifeln, ob sich Arbeit noch lohnt, wenn sie hören oder in ihrem persönlichem Umfeld erleben, daß es in manchen Fällen kaum noch Abstände zwischen Sozialhilfe, Lohnersatzleistung und Arbeitsentgelt gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir alle, ob es uns gefällt oder nicht, müssen uns gerade diesen Diskussionen stellen.
Ich komme jetzt auch auf das andere Thema, weil ich dagegen bin, das einseitig zu sehen. Ich bin strikt dagegen, eine Mißbrauchsdebatte zu führen, in der man sich beispielsweise ausschließlich dem Mißbrauch im sozialen Bereich zuwendet.

(Zurufe von der SPD: Krause! Krause!)

Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung sind keine Kavaliersdelikte.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jede Form von Mißbrauch schadet uns allen. Ich denke, es gehört zur föderalen Ordnung, daß wir bei nächster Gelegenheit mit den Kollegen aus den Ländern auch darüber reden, weil dies ja zu einem großen Teil die Länderzuständigkeit betrifft. Es muß darum gehen, wie weit man hier diesen Mißbrauch noch energischer bekämpfen kann.
Meine Damen und Herren, ein wichtiges Ergebnis des Solidarpakts ist ferner, daß es gelungen ist, ein festes Sparziel vorzugeben. Zum größten Teil haben wir bereits konkrete Sparmaßnahmen verabredet. Weitere werden in diesen Tagen in den Gesprächen zwischen den Bundesländern, dem Bund und den Fraktionen vereinbart. Zur Deckung des Restfinanzbedarfs wird ab 1995 der frühzeitig von mir angekündigte Solidaritätszuschlag wieder eingeführt, bei dem soziale Gesichtspunkte berücksichtigt werden sollen.
Ich bin sicher, mit dieser Bonner Vereinbarung haben Bundesregierung, Länder und Parteien auch dem Föderalismus einen wichtigen Dienst erwiesen. Wir haben uns über die Aufteilung eines Finanzbedarfs von insgesamt 110 Milliarden DM auf Bund, alte und neue Länder geeinigt. Dies ist ein Beweis für die Fähigkeit, schwierigste Finanzfragen — jedenfalls schwierigere Fragen als all jene, die wir in den vergangenen 40 Jahren zu lösen hatten — in einem konstruktiven Geist zu lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dieter-Julius Cronenberg [Arnsberg] [F.D.P.])

Darüber hinaus, meine Damen und Herren, hat sich auch gezeigt, daß unsere großen demokratischen Parteien zu gemeinsamem Handeln bereit und fähig sind, wenn dies die Situation verlangt. Ich sage dies ganz besonders betont angesichts mancher recht billiger Kritik, die wir alle in diesen Tagen immer wieder erfahren.
Mit der Bonner Vereinbarung über das Föderale Konsolidierungsprogramm steht der Solidarpakt. An ihm hat sich auch die Wirtschaft beteiligt. Ich will hier vor allem die herausragende Bedeutung der Zusage der Wirtschaft erwähnen, für die nächsten Jahre ausreichend viele Lehrstellen für junge Leute aus den neuen Bundesländern bereitzustellen. Dies ist eine ganz wichtige Zusage.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Junge Leute sollen sich darauf verlassen können, daß sie ihr Berufsleben mit einer guten Ausbildung beginnen können. Das ist psychologisch und gesellschaftspolitisch von einer ganz großen Zukunftsbedeutung.
Meine Damen und Herren, ich begrüße auch die Einkaufs- und Investitionszusagen der westdeutschen Wirtschaft zugunsten der neuen Bundesländer. Ich will hinzufügen, daß ich auch für die Bundesregierung den dringenden Wunsch und die Erwartung habe, daß alle Bundesdienststellen Vergleichbares tun, und zwar in allen Bereichen. Ich möchte gleichzeitig appellieren, daß sich auch die westdeutschen Gemeinden und die westdeutschen Länder in diesem Sinne bemühen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, es ist in vielen Fällen nicht böser Wille, sondern einfach Gewohnheit aus vielen Jahren, die ein Umdenken notwendig macht, auch als Botschaft an unsere Landsleute in den neuen Bundesländern.
Für die Tarifparteien, insbesondere im laufenden Konflikt in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie, sollte diese Vereinbarung Signal und Anlaß sein,



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
mit dem Willen zu Verständigung an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Die Tarifpartner, etwa ir der Chemie- und in der Energiewirtschaft, haben hier mit ihren Vereinbarungen ein Signal der Vernunft gesetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD)

— Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Jetzt lobe ich einen Kollegen aus Ihrer eigenen Fraktion. Hier müßten Sie doch Beifall geben, statt Zwischenrufe zu machen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Ein wirrer Haufen! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die mögen sich selber nicht! Das kann man verstehen!)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Ergebnis des Bonner Solidarpakts haben wir die Finanzgrundlagen für die vor uns liegenden Jahre bis 1995 und darüber hinaus gesichert. Die Deutsche Bundesbank hat in diesem Zusammenhang ihre Politik der behutsamen Zinslockerung fortgesetzt.
Wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen allein können jedoch die Zukunft des Standorts Deutschland nicht sichern. Es genügt nicht, die Kasse in Ordnung zu bringen, sondern wir müssen Bewegung in den Köpfen haben. Wir müssen umdenken. Dieses Umdenken ist, glaube ich, eine Herausforderung, die jenseits aller parteipolitischer Gegensätze auf der Tagesordnung steht.
Die deutsche Einheit, die wir am 3. Oktober 1990 erreicht haben, stellt uns eine Aufgabe, für die es in der Geschichte kein Beispiel gibt. Niemals zuvor hat es die Herausforderung gegeben, eine sozialistische Planwirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft umzuwandeln. Diese Aufgabe ist schwierig. Das sehen wir nicht nur in unserem Land. Wir sehen auch die viel schwierigeren Bedingungen in unserer Nachbarschaft, in Rußland und in den übrigen GUS-Staaten, in Polen, in Ungarn, in der Tschechischen Republik und in der Slowakei. Meine Gespräche in den letzten 48 Stunden mit der Ministerpräsidentin Polens und dem Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik haben mir gezeigt, wie sehr sich gerade diese Länder bemühen, Zukunft zu gewinnen. Wenn ich die Verhältnisse bei uns mit den Verhältnissen dort vergleiche, dann weiß ich, wie sehr wir, die wir das Glück hatten, im Westen unseres Vaterlandes aufgewachsen zu sein und zu leben, gefordert sind, jetzt die notwendigen Entscheidungen zu treffen und Beiträge zu leisten.
Die Menschen in diesen Ländern — das gilt für die neuen Länder der Bundesrepublik genauso wie für die Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa —, die diesen Umbruch bewältigen müssen, verdienen in besonderer Weise unsere Sympathie und Solidarität — nicht nur in Worten, sondern vor allem in Taten. Sie müssen jetzt sozusagen im Zeitraffer nachholen, wozu wir, die wir das Glück hatten, in Freiheit leben zu können, mehr als 40 Jahre Zeit hatten. Wir haben in den neuen Bundesländern dabei den großen Vorteil, daß der Aufbau- und Aufholprozeß von einer starken westdeutschen Volkswirtschaft unterstützt wird.
Wahr ist auch, daß bei uns im Gebiet der alten Bundesrepublik die gegenwärtige Rezession ihre Spuren hinterläßt. Manches geht eben langsamer, als es in den letzten neun Jahren der Hochkonjunktur möglich war. Aber es besteht gar kein Zweifel, daß wir diese Herausforderung bestehen können. Wir müssen sie mutig und entschlossen angehen. Mit Jammern läßt sich die Zukunft nicht gewinnen, auch nicht mit Jammern auf hohem Niveau.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bei einer ehrlichen und fairen Standortdiskussion sollten wir nicht zuletzt wegen unserer Landsleute in den neuen Ländern sagen: Viele Probleme der Bundesrepublik im März 1993 sind Probleme der alten Bundesrepublik. Wir hätten diese Probleme auch zu Lössen, wenn die deutsche Einheit nicht gekommen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir stehen jetzt in einer Situation, in der längst überfällige Korrekturen in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft vorgenommen werden müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, das ist eine Chance, aus der eine neue Aufbruchstimmung erwachsen kann. Nur wenn wir hier zu Hause unsere Aufgaben lösen, können wir auch Vorteile aus den Veränderungen in Europa und in der Welt ziehen.

(Zuruf von der SPD)

— Ihren Zwischenruf nehme ich gerne auf. Denn bei all den Fragen, die ich jetzt gleich anspreche, mache ich keine Schuldzuweisung, sondern ich sage ganz nüchtern: Das sind Dinge — —

(Lachen bei der SPD — Zuruf von der SPD: Da müssen Sie auch auf sich selbst zeigen!)

— Meine Damen und Herren, Sie werden an den Einzelbeispielen gleich sehen, daß weder Sie noch wir uns exkulpieren können, sondern daß wir uns jetzt
— das fordere ich ein — in einer ruhigen Diskussion darüber unterhalten müssen: Wie geht es weiter? Wenn ich Ihnen die Einzelbeispiele nenne, kann ich Ihnen auch sofort die Beteiligung der Sozialdemokratie in diesen Jahren dazusagen. Aber das nützt uns heute überhaupt nichts.

(Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])

— Ich habe vom Gespräch gesprochen. Das will ich einfordern.
Tatsache ist, daß innerhalb und außerhalb der EG Jahr für Jahr neue attraktive Standorte entstehen, die miteinander in Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze treten. Wir müssen uns jetzt auf diese Veränderungen einrichten. Wir müssen dabei einiges nachholen, was in früheren Jahren versäumt wurde. Wir haben im Bundeskabinett nach einer langen Diskussion beschlossen, daß die Bundesregierung
— die Vorarbeit wird vom Bundesminister für Wirtschaft geleistet — eine Vorlage erarbeitet, die wir im September im Bundestag zur Diskussion einbringen wollen. Ich erwarte von einer solchen Diskussion eine



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
fruchtbare und engagierte Auseinandersetzung über die Zukunft des Landes, und zwar über den Tag hinaus.
Ziel einer solchen Bestandsaufnahme muß sein, neue Lösungsansätze vorzuschlagen, über das notwendige Umdenken zu sprechen und es einzuleiten. Aus meiner Sicht ist das gleichzeitig eine Einladung an alle gesellschaftlichen Gruppen in unserem Land, sich mit eigenen Vorschlägen an dieser Diskussion zu beteiligen. Dazu sind alle aufgerufen: Parteien, Gewerkschaften, die Wirtschaft, Verbände, die Kirchen, wer immer sich daran beteiligen kann und mag. Ich möchte hinzufügen: Alle, die dem jetzigen Zeitgeist huldigen, indem sie vor allem die Parteien in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellen, sind ganz besonders eingeladen, neue Ideen in diese Diskussion einzubringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Daten und die Tatsachen sind bekannt. Aber man muß sie ständig wiederholen, damit uns klar wird, wo wir anzusetzen haben. Wir sind jetzt ein Land mit immer jüngeren Rentnern und immer älteren Studenten. Mit immer kürzerer Lebensarbeitszeit und kürzerer Wochenarbeitszeit und immer mehr Urlaub gerät die Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr. Das sind einfach die Tatsachen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sosehr ich wie Sie alle jedem von uns Freizeit gönne: Wahr ist auch, daß sich eine erfolgreiche Industrienation nicht als kollektiver Freizeitpark organisieren läßt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jenseits aller parteipolitischen Unterschiede wissen wir doch auch, daß die große Mehrheit unserer Bürger diese Überzeugung längst gewonnen hat. Sie ist bereit, die notwendigen Änderungen zu akzeptieren. Wir müssen uns in der Politik, in den Verbänden, überall fragen, ob wir uns noch alte Schlachten um Besitzstände und Ansprüche leisten können, obwohl die Wirklichkeit längst über sie hinweggegangen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer immer die Interessen einer Gruppe vertritt
— das ist legitim, und ich bin weit davon entfernt,

(Zuruf von der SPD: Sie vertreten die Wirtschaft!)

mich jener Heuchelei hinzugeben, über Interessengruppen herzuziehen —, muß wissen, daß die Prioritäten neu bestimmt werden müssen, daß wir Gewohnheiten ändern müssen, daß Ansprüche zurückgesteckt werden müssen. Das bedeutet überhaupt nicht, daß wir dabei im Lande an Lebensqualität verlieren. Jeder weiß doch, daß die Lebensqualität nicht allein davon abhängt, ob die Arbeitswoche 35, 36 oder 40 Stunden hat.

(Zuruf von der SPD)

— Ich weiß gar nicht, warum Sie das nicht mit Ruhe anhören. Sie wissen doch, daß es so ist. Sie werden in keiner Unterbezirksversammlung etwas anderes sagen können, wenn Sie auf diese Fragen angesprochen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir können in dieser Sache ganz unterschiedlicher Meinung sein. Ich bitte wegen der Bedeutsamkeit der Fragen nur darum, daß wir uns — dieses Jahr ist ja keine Wahl mehr — im Laufe des Jahres neben anderen Fragen — die es in ausreichender Zahl gibt und über die wir genug streiten können — die Zeit nehmen, darüber zu diskutieren und zu beraten, welches die zentralen Zukunftsaufgaben sind und was für Konsequenzen wir daraus ziehen.
Schon heute sind mehr als 20 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland über 60 Jahre alt. Die Zahl der über 85jährigen steigt bis zum Jahre 2000 auf 1,5 Millionen. In der Alterssicherung haben wir mit dem Rentenreformgesetz 1992 — das war auch ein Werk, das gemeinsam geschaffen wurde — auf diese Entwicklung reagiert.
Eine weitere Folge der Demographie — das sage ich mit Bedacht, weil es nicht zuletzt in Kreisen der Wirtschaft bestritten wird — ist die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen. Hier ist der Handlungsbedarf offensichtlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Woher kommt das?)

— Was wollen Sie denn? Ich habe das für diese Legislaturperiode angekündigt. Wir tun es ja.

(Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Wann denn?)

— Ich habe gesagt: in dieser Legislaturperiode. Ich stehe selbstverständlich zu unserem Wort. Ich habe aber auch gesagt: Das darf keine Mehrbelastung für die Wirtschaft bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Zwischenruf von Ihrer Seite imponiert mir nicht. Sie haben doch lange Zeit gehabt, das zu tun.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Sie doch auch!)

Sie haben zwischen 1969 und 1982 bei den gleichen demographischen Zahlen, die wir heute haben, nichts getan.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, zu einer Bestandsaufnahme gehört auch die Beschreibung der Lage unseres Bildungswesens. Ich bitte wirklich darum, die Diskussion in Deutschland nicht so zu führen, als ob uns die föderale Ordnung etwa verbiete, auf Bundesebene zu diesem Thema etwas zu sagen, mit der Begründung: Das ist Sache der Länder. Bildung und Ausbildung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, wie immer die verfassungsmäßige Zuordnung geworden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie wissen alle wie ich auch, daß die Frage von Bildung und Ausbildung entscheidend für die Zukunft



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
ist. Bildung und Bildungspolitik — das füge ich allerdings sofort in dieser Diskussion hinzu —, dürfen dabei nicht allein auf wirtschaftlichen Nutzen reduziert werden. Die Bildung hat vor allem die Aufgabe, die Persönlichkeit zu formen, den geistigen Horizont zu erweitern. Natürlich ist es auch ihre Aufgabe, beruflich zu qualifizieren.
Wenn wir in diesem Feld — ich hoffe, das wenigstens findet Ihre Zustimmung — eine nüchterne Bestandsaufnahme machen, müssen wir die Fehlentwicklungen im Bildungswesen eingestehen. Dazu gehören die Ungleichgewichte zwischen den Bildungsbereichen, die Verlängerung der Erstausbildungszeiten und die deutlichen Mängel in der Ausbildungseffizienz.

(Peter Conradi [SPD]: Und die Privatisierung des Fernsehens!)

— Was haben Sie gegen Privatisierung in dem Zusammenhang?

(Zuruf von der SPD: Wer macht denn die Fernsehprogramme?)

Ich kann nur sagen, ich habe nichts dagegen, geschätzter Herr Kollege, wenn Sie in Stuttgart beispielsweise eine Privatuniversität wie in Witten-Herdecke aufmachen. Ihrem Wagemut ist jede Freiheit gegeben.
Wir alle wissen, daß die erworbenen Qualifikationen immer schneller veralten. Deshalb müssen wir zu einer intelligenteren Verteilung der Bildungszeiten und Bildungsinhalte im Rahmen lebenslangen Lernens kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es kann doch nicht hingenommen werden, daß die Hochschulen auf Grund steigender Überlastung ihre Aufgaben in Lehre und Forschung nicht mehr erfüllen können, während das duale Ausbildungssystem immer mehr an Bedeutung verliert und in den alten Bundesländern Jahr für Jahr über 100 000 Lehrstellen unbesetzt bleiben.
Es kann doch auch nicht richtig sein, wenn die Zahl der Studenten die der Lehrlinge immer deutlicher übersteigt. Natürlich ist der Vergleich schwierig, weil jeder von uns weiß, daß das Studium länger dauert als die Lehre. Aber es muß uns doch zu denken geben, wenn inzwischen 1,8 Millionen Studenten nur 1,6 Millionen Lehrlinge gegenüberstehen. Diese Zahl muß doch eigentlich jeden überzeugen, daß hier etwas geschehen muß.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir leisten uns in Deutschland extrem lange Ausbildungszeiten für junge Akademiker — im Vergleich zu unseren Nachbarn in der EG, in Europa und den USA ungewöhnlich lange Ausbildungszeiten —, was gleichzeitig die Chancen für die jungen Deutschen in der künftigen Europäischen Union wesentlich schmälert.
Im Durchschnitt verlassen 27 % der Studenten die Hochschulen ohne Abschluß, in manchen Fachbereichen bis zu 50 %. Das ist für mich nicht primär eine Frage des Geldes, sondern der für junge Leute deprimierenden Erfahrung, die besten Jahre zum Lernen auf diese Art und Weise zu vertun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die jungen Deutschen müssen im zusammenwachsenden Europa im Wettbewerb mit ihren Altersgenossen aus anderen Ländern konkurrenzfähig sein. Deswegen geht es hier um eine gesamtstaatliche Aufgabe bei aller Anerkennung der föderalen Zuweisung der Kompetenzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will bewußt einmal ein Thema ansprechen, das gemeinhin vermieden wird, nämlich die Frage nach der Leistungsfähigkeit und der Effizienz im Bereich der Hochschulen; das wird ja gemeinhin immer nur in der Abteilung „Studenten" behandelt. Ich finde, es muß ein gemeinsames Ziel einer durchgreifenden Reform sein, zu einer wirklichen Straffung der Studiengänge zu kommen. Aber ich finde auch, daß dabei die Möglichkeit von Leistungskontrollen gegenüber den Lehrenden an deutschen Hochschulen einbezogen werden muß.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In anderen Ländern — beispielsweise in den USA, aber nicht nur in den USA — wird in die Beurteilung von Hochschullehrern immer auch das Votum von Studenten, die den Lehrer als Pädagogen erleben, einbezogen.
Natürlich weiß ich auch, daß bei den unterschiedlichen Systemen der vom Steuerzahler getragenen Universitäten und der Privatuniversitäten in den USA solche Beispiele nicht automatisch auf Deutschland zu übertragen sind. Trotzdem bin ich davon überzeugt, daß es auch bei uns zwingend geworden ist, Leistungsvergleiche zwischen den Hochschullehrern und den Universitäten herbeizuführen. Es kann nicht angehen, daß in demselben Bundesland — das hat wiederum überhaupt nichts mit der Parteifarbe der Landesregierung zu tun — an vergleichbaren Universitätsinstituten völlig unterschiedliche Abschlußzeiten erreicht werden. Es muß doch möglich sein, die Frage der Leistungskontrolle auch in diesem Bereich einmal in die öffentliche Diskussion zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf das andere Thema, das seit zehn Jahren auf der Tagesordnung steht und nicht so recht vorankommt — übrigens wiederum in keiner der großen politischen Parteien. Das ist die Frage der Verkürzung der Schulzeit an Gymnasien von neun auf acht Jahre. Eine Entscheidung ist überfällig. In den neuen Bundesländern sind acht Jahre die Regel. Sie werden sie selbstverständlich nicht ändern. Mir kann letztlich niemand klarmachen — auch nicht meine besonders geschätzten bayerischen Freunde —, daß man am Gymnasium in Freilassing neun Jahre braucht und daß man 20 km entfernt am Akademischen Gymnasium in Salzburg in acht Jahren ein qualifiziertes Abitur erreichen kann. Ich glaube, auch diese Entscheidung ist überfällig.
Meine Damen und Herren, ich habe einige der Themen angesprochen. Ich habe die Absicht, im Herbst dieses Jahres — wie ich hoffe, mit guter



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Vorbereitung — bildungspolitisch Verantwortliche und Interessierte aus Bund und Ländern, den Wissenschaftsorganisationen, der Wirtschaft, den Gewerkschaften und Parteien zu einer Konferenz über die Zukunft des Bildungswesens einzuladen. Voraussetzung dabei ist allerdings — nur dann werde ich eine solche Einladung aussprechen —, daß die Chance besteht, wirklich konkrete Ergebnisse zu erreichen. Ein solches Gespräch würde das Ziel verfehlen — ich sage dies gleich vorweg —, wenn es dabei allein und ausschließlich um Finanzfragen ginge.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der F.D.P.)

Was wir brauchen, ist weit mehr als die Finanzierung von Einrichtungen. Es ist ein übergreifender Konsens in allen wesentlichen Fragen von Bildung und Ausbildung.
Unsere Spitz enposition im internationalen Wettbewerb können wir nur halten, wenn hochqualifizierte Arbeitnehmer an modernsten Maschinen arbeiten. Die Beobachtungen, die ich auch als Laie vorgestern und gestern auf der Cebit-Messe in Hannover machen konnte, sind ein weiterer Beweis für diese Einschätzung. Moderne, hochwertige Maschinen sind teuer. Und wenn sie immer teurer werden, müssen sie auch optimal genutzt werden können. Es ist nicht länger tragbar, daß die Maschinenlaufzeiten in deutschen Unternehmen kürzer sind als anderswo in der EG.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß es möglich sein muß, eine Abkehr von den allzu starren Arbeitszeitregelungen zu finden, die sich eben nicht nur wirtschaftlich nicht rechnen, sondern die den Menschen auch zusätzliche Entfaltungsmöglichkeiten und Freiräume versperren. Wir müssen in diesem Bereich wie bei der Lebensarbeitszeit neue Wege beschreiten. Dazu zwingt uns auch die demographische Entwicklung.
Ich sehe hier auch eine große Chance für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich bin sicher, es wäre ein Gewinn an Lebensqualität, wenn an die Stelle des heute üblichen abrupten Ausscheidens aus dem Erwerbsleben ein allmählicher Übergang in den Ruhestand zur selbstverständlichen Alternative würde.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wer länger arbeiten will, soll dies können, und es soll sich dann auch lohnen. Wir haben dafür ja mit der Rentenreform 1992 die Voraussetzungen geschaffen. Wir sollten nur im Zusammenhang mit dem Gesamtthema „Deutschlands Zukunft" jetzt das Notwendige gemeinsam beschließen.
Meine Damen und Herren, für die Exportnation Deutschland sind Spitzenleistungen in Forschung und Entwicklung entscheidende Grundlagen für Wohlstand, soziale Sicherheit, Beschäftigung und Wachstum. Wir haben in einer ganzen Reihe wichtiger Bereiche — auch das gehört zum Bild, und es ist ab und zu notwendig, es zu sagen, weil manche unterwegs sind, die nur noch von den Mängeln reden — noch eine Spitzenstellung. Aber es ist alarmierend, wenn immer mehr Forschungskapazitäten für Zukunftstechnologien, wie z. B. in der Gentechnik, ins Ausland verlagert werden, weil bei uns Regelungsdichte und bürokratische Überwucherung den Fortschritt bremsen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Einen für mich ganz wesentlichen Kernsatz füge ich gleich hinzu: Unsere Philosophie heißt aber auch, daß nicht alles, was technisch machbar ist, verwirklicht wird und moralisch erlaubt ist. Auch dieser Grundsatz muß selbstverständlich gelten. Aber es kann nicht angehen, daß Produkte und Herstellungsverfahren immer häufiger in einem immer undurchdringlicheren Dickicht von Zulassungsverfahren und Verträglichkeitsprüfungen hängenbleiben.
Wir haben in 40 Jahren viel Ballast angesammelt, der uns heute den Weg in die Zukunft erschwert. Bei den vielen Chancen, die die deutsche Einheit mit sich bringt, sehe ich eine große Chance darin, daß wir mit einer Art Gesamtrevision Bürokratie abbauen, Verfahren vereinfachen, Genehmigungen beschleunigen können.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dazu ist diese Regierung doch gar nicht imstande!)

Wer diesen Satz zu übernehmen nicht bereit ist, den will ich einfach daran erinnern, daß der Aufbau in den 50er Jahren mit der heutigen Regelungsdichte so nicht stattgefunden hätte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann machen Sie doch einmal!)

Die Bundesregierung hat eine ganze Serie von Bestimmungen und Gesetzesinitiativen entwickelt. Ich erinnere an das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Ich begrüße es sehr, daß dieses Gesetz nach mancherlei Schwierigkeiten in ein paar Tagen in Kraft treten kann. Wenn dieses Gesetz in Kraft getreten ist, kommt es allerdings entscheidend darauf an, wie es die Genehmigungsbehörden auf Landes-, Bezirks- und kommunaler Ebene handhaben.
Wir müssen diejenigen, die die Verantwortung tragen, ermutigen, ihre Handlungs- und Ermessensspielräume im Sinne des angestrebten Beschleunigungseffektes zu nutzen. Entschiedenes, verantwortliches, mutiges Handeln kann vor Ort viel mehr bewirken, als es viele gesetzgeberische Maßnahmen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In den Zusammenhang einer solchen Betrachtung gehört auch das Thema des Verkehrsaufkommens in Deutschland. Wir sind das wichtigste Transitland in Europa. Unsere Verkehrsinfrastruktur — das erlebt jeder auf deutschen Straßen — ist nicht dem heutigen und schon gar nicht dem zukünftigen Verkehr gewachsen. Es droht an vielen Stellen der Verkehrsinfarkt.
Wir müssen auch in diesem Feld der Politik und der Entwicklung unseres Staates und unserer Gesellschaft der Herausforderung mit neuen Vorschlägen begegnen, die dem steigenden Verkehrsaufkommen



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
unter größtmöglicher Schonung der Umwelt und bei hoher Verkehrssicherheit gerecht werden.
Daß die Bundesbahn — wir haben hier ein Beispiel, wo wir gemeinsam die Verantwortung für Fehlentwicklungen in den letzten Jahrzehnten tragen — hierbei eine besondere und eine umweltfreundliche Rolle spielt, gehört zu diesem Thema. Wir haben deshalb die Bahnreform beschlossen, die nach meiner Überzeugung aus ökonomischen und ökologischen Gründen völlig unverzichtbar ist.
Darüber hinaus müssen die Planungszeiten bei Verkehrswegen in ganz Deutschland kürzer werden; nicht nur in den neuen Ländern — dort vor allem —, sondern in ganz Deutschland. Die entsprechenden Gesetze sind auf den Weg gebracht worden.
Wir brauchen in diesem Zusammenhang für den Verkehrsbereich eine Neuordnung in Richtung Privatisierung. Alle Verkehrsteilnehmer, auch die im Transitverkehr, müssen sich an den von ihnen verursachten Wegekosten der Autobahnen beteiligen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist ein Thema, das in Deutschland angegangen werden muß. Es ist aber auch ein Thema, das zwangsläufig in seiner europäischen Dimension in der EG vorangebracht werden muß.
Die Wettbewerbsverzerrungen sind für uns nicht akzeptabel. Ich halte es für nicht hinnehmbar, daß beispielsweise für einen 40-t-Lkw in den Niederlanden umgerechnet 3 370 DM Kfz-Steuer bezahlt werden, bei uns 10 500 DM. Das ist eine unerträgliche Belastung für ein mittelständisches Gewerbe. Wir können das nicht akzeptieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wir alle spüren es: Viele Erwartungen richten sich in dieser Zeit auf Deutschland. Das Vertrauen in unsere Fähigkeit, die gegenwärtigen Probleme zu meistern, ist im Ausland groß, manchmal beängstigend groß.
Wir alle schauen zurück auf wichtige Perioden unserer Geschichte. In diesen Tagen war der Jahrestag des Ermächtigungsgesetzes. Wir haben mit gutem Grund bei dieser Gelegenheit an jene gedacht, die mit großem Mut und persönlichem Einsatz dazu nein gesagt haben.
Wenn wir aus der Geschichte dieses Jahrhunderts lernen wollen, müssen wir die Chance nutzen, die wir in den letzten Jahren dieses Jahrzehnts und Jahrhunderts haben, nämlich deutsche Einheit und europäische Einigung gleichzeitig zu vollenden. Wenn wir das tun, können wir zugleich vieles wiedergutmachen, was in deutschem Namen in der Vergangenheit an Schlimmem geschehen ist.
Deshalb treten wir unbeirrt für die europäische Einigung ein. Es gibt keinen überzeugenderen Weg, historisch verständliche, aber oft auch unberechtigte Ängste und Vorbehalte gegenüber dem vereinten Deutschland abzubauen, als den entscheidenden Beitrag der Deutschen zur europäischen Einigung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das wiedervereinigte Deutschland wird auch künftig in einem vereinten Europa als Teil der Atlantischen Allianz einen Beitrag zu Frieden und Freiheit in der Welt leisten. Dazu gehört für uns auch unser Einsatz für eine weltumspannende Umweltpartnerschaft, für die Überwindung des Nord-Süd-Konflikts. Das ist eine Vision deutscher Politik. Es ist eine Vision, für die es sich lohnt zu arbeiten. Es ist eine Vision, die uns in die Pflicht nimmt, aber vor allem auch den Mut zum Umdenken verlangt.
In wenigen Wochen, am 23. Mai, jährt sich zum 44. Mal der Tag der Verkündung des Grundgesetzes. Es ist eine gute Gelegenheit, uns dankbar an jene Männer und Frauen zu erinnern, die damals unsere freiheitliche Verfassung schufen, die nicht in Resignation versanken, sondern ja zur Zukunft sagten. Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss — ich nenne sie für viele andere — wiesen unserem Volk mit Weitsicht und Mut den Weg in die Zukunft.
Seit dem 3. Oktober 1990 können alle Deutschen diesen Weg endlich gemeinsam gehen. Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, daß wir auch gemeinsam erfolgreich sein werden. Entscheidend ist, daß wir uns dabei auf unsere Stärken besinnen. mit Tugenden wie Mut und Verläßlichkeit, Fleiß und Eigenverantwortung, Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft werden wir die Zukunft gewinnen. Dazu möchte ich uns einladen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1214900300
Als nächster spricht der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1214900400
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich einen Punkt der Zustimmung an den Anfang setzen: Wir Deutschen insgesamt, wir Europäer sind in hohem Maße an einer stabilen demokratischen Entwicklung in Osteuropa, in unserem unmittelbaren Nachbarland Polen und vor allem in Rußland interessiert.
Wir verfolgen den Machtkampf in Rußland mit großer Aufmerksamkeit und, wie ich nicht verschweigen will, mit wachsender Besorgnis. Unsere Sympathie gilt dem demokratisch legitimierten, gewählten Präsidenten Boris Jelzin, ihm als Person und allen, die in Rußland und in Osteuropa für Demokratie streiten.

(Beifall bei der SPD)

Wir, die Opposition, unterstützen die Bundesregierung ausdrücklich in ihrem Bemühen, andere westliche Ländern zu größerer Hilfe für Osteuropa zu bewegen: die Westeuropäer, die Vereinigten Staaten und vor allen Dingen Japan, für das offenbar Grenzinteressen von größerer Bedeutung sind als Überlebensinteressen.
Meine Damen und Herren, weit mehr als 50 % aller Hilfe, die bisher für Osteuropa geleistet worden ist, kommt aus der Bundesrepublik Deutschland. Es ist richtig: Viel mehr geht nicht. Gleichwohl muß mehr Hilfe sein; denn Instabilität in Osteuropa und Chaos in Rußland würden schwerwiegende Folgen für die ganze Welt, für Europa und ganz besonders für uns



Hans-Ulrich Klose
Deutsche haben. Ich nenne nur ein Stichwort, das der Migration, und jeder weiß, woran zu denken ist.
Insoweit sind wir Sozialdemokraten, wir, die Opposition, zur Zusammenarbeit mit der Regierung und zu ihrer Unterstützung bereit, und dies hat nichts mit Anpassung oder heimlichem Schielen auf eine große Koalition zu tun, wie uns das in den Medien ständig unterstellt wird. Es hat etwas mit gesamtstaatlicher Verantwortung zu tun, zu der sich auch die SPD bekennt. Auch wir arbeiten gemeinwohlorientiert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das, meine Damen und Herren, kann aber nicht heißen, daß wir zu allem, was die Regierung tut, Ja und Amen sagen,

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ja genügt!)

auch zu jedem Unsinn. Wenn ich dieses Stichwort nenne, fällt mir wie von selbst AWACS ein. Meine Damen und Herren, das ist schon ein tolles Stück von „Einigung", was da erreicht ist, ein wirklich tolles Stück Regierungskunst:

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Einigung auf der Basis, daß der Vizekanzler den Kanzler vor Gericht verklagt!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wie wäre es denn, meine Damen und Herren, wenn Sie in die Koalitionsvereinbarung eine Schiedsklausel aufnehmen und ein eigenes Schiedsgericht einrichten würden? Sie brauchen das offenbar, weil die Einigungsfähigkeit innerhalb der Koalition erschöpft ist. Lächerlich geradezu, lächerlich!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Diese Lächerlichkeit als Beweis für die Regierungsfähigkeit der einen und die Regierungsfähigkeit der anderen zu nehmen, das ist ein Kunststück, zu dem man geboren sein muß. Graf Lambsdorff, herzlichen Glückwunsch.

(Beifall bei der SPD — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sie sind sauer, daß es ohne Sie geht! — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Zum Thema!)

Zum Solidarpakt, meine Damen und Herren:

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Herr Klose, war das alles, was Sie zu diesem Thema zu sagen haben?)

Die SPD hat an den Verhandlungen über den Solidar-pakt teilgenommen.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Herr Klose, war das zu diesem Thema alles, was Sie zu sagen haben?)

— Wir werden sicher Gelegenheit haben, darüber noch ausführlich zu diskutieren, und wir werden Ihnen unsere Meinung dazu nicht ersparen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Welche denn? — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ihre Meinungen dazu! — Weitere Zurufe)

— Nein, wir werden sie nicht ändern; denn wir halten das, was Sie da tun, für wirklich unsinnig,

(Beifall bei der SPD)

und da ich, wie Sie wissen, kein Pazifist bin, füge ich hinzu: Selbst wenn die Verfassung so aussehen würde, wie Herr Kinkel sie gern haben will, würde ich dieser Aktion nicht zustimmen; denn ich halte es für eine abenteuerliche Überlegung, Flugzeuge über Jugoslawien abzuschießen, während unten UNOTruppen für humanitäre Hilfe sorgen. Das halte ich für unsinnig!

(Beifall bei der SPD)

Darüber werden wir uns noch unterhalten, und da mag man auch unterschiedlicher Auffassung sein. Mir ging es auch nicht um den Inhalt, sondern um das Procedere dieser großartigen Koalition und um ihre spezifische Form von Regierungskunst.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es wäre aber schön, Sie würden etwas zum Inhalt sagen; das ist viel wichtiger!)

— Das tue ich jetzt, Herr Kollege Schäuble. Deshalb hebe ich jetzt — mit Ihrer gütigen Zustimmung — noch einmal an und sage, daß ich mich jetzt dem Solidarpakt zuwenden will.
An den Verhandlungen zu diesem Solidarpakt haben wir ja teilgenommen. Wir waren gebeten, und wir haben das Verhandlungsergebnis am Schluß der Verhandlungen — ich sehe, der Ministerpräsident von Sachsen, Biedenkopf, ist da und lächelt freundlich —

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehen Sie sich doch den Kanzler an, der lacht sogar!)

akzeptiert, und dabei bleibt es auch. Natürlich — meine Damen und Herren von der Koalition, ich weiß gar nicht, was Sie daran wundert —

(Zuruf von der CDU/CSU: Daß Herr Dreßler etwas anderes sagt!)

entspricht das Ergebnis nicht unseren Erwartungen. Wir hatten andere, weitergehende Vorstellungen, die wir nicht durchsetzen konnten. Sie betreffen die Maßnahmen wie die Finanzierung. Wir sind in der Tat der Auffassung, es hätte entschlossener, wirksamer und vor allem früher gehandelt werden müssen.

(Beifall bei der SPD)

Aber das ist nicht unsere Verantwortung. Die Verantwortung dafür trägt die Regierung, die entsprechende Angebote der Sozialdemokraten in früheren Zeiten mehrfach, genau dreimal, abgelehnt hat. Das kostet die Republik viel Geld.

(Beifall bei der SPD)




Hans-Ulrich Klose
Begrüßenswert, meine Damen und Herren, ist immerhin, daß der Solidarpakt zustande gekommen ist — da stimme ich Ihnen zu, Herr Bundeskanzler — und daß er mehr ist als nur ein Pakt über Finanzen und Finanzverteilung. Aus der Sicht der neuen Länder ist das, was vereinbart worden ist, jedenfalls ein Fortschritt; denn der Solidarpakt sichert deren Finanzen über 1995 hinaus, und er regelt die Altschuldenfrage, die der ostdeutschen Wohnungswirtschaft eingeschlossen.
Daß der Bund, um dieses Teilergebnis zu erzielen, den Ländern insgesamt entgegengekommen ist, sollte positiv registriert werden — und diese Aussage auch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Positiv, meine Damen und Herren, bewerte ich auch die Bereitschaft des Bundes, den Kreditrahmen der Treuhand zu erweitern, um den Erhalt der industriellen Kerne in Ostdeutschland zu sichern. Die Finanzierung ist jetzt gesichert. Jetzt muß aber endlich, wie man in Norddeutschland sagt „Butter bei die Fische". Es muß schnell und zuverlässig entschieden werden, welche industriellen Kerne erhalten werden sollen, mit welchem Entwicklungsziel, für welche Zeit und mit welchem finanziellen Aufwand im Einzelfall saniert, umgerüstet und unterstützt werden soll.

(Beifall bei der SPD)

Ich weiß, meine Damen und Herren, die Treuhand ist dabei zuerst gefordert. Sie handelt aber auf Weisung des Bundesfinanzministers. Er sollte die Treuhand unverzüglich anweisen, unabhängig von aktuellen Privatisierungschancen tätig zu werden. Das heißt nicht, daß sich die Treuhand künftig nicht mehr um Privatisierung bemühen sollte. Sie soll es und soll dabei notfalls auch Minderheitsbeteiligung in Kauf nehmen, wenn anders unternehmerische Führung nicht zu gewinnen ist. Im Grundsatz aber muß ab sofort gelten: Sanierung vor Privatisierung!

(Beifall bei der SPD)

Um auch dies zu sagen: Es darf nicht zu sehr zugewartet werden; denn wenn sich die Ungewißheit, in der sich viele noch bestehende Betriebe in Ostdeutschland befinden, fortsetzt, dann gibt es bald keine industriellen Kerne mehr, über deren Erhalt noch zu streiten wäre.

(Zurufe von der SPD: Sehr wahr! — Leider wahr!)

Meine Damen und Herren, die ostdeutschen Länder müssen daran mitwirken. Sie müssen bei der Frage mitentscheiden, welche Betriebe aus regionalpolitischer Sicht erhalten werden müssen und welche nicht. Vor dieser Entscheidung können sich die ostdeutschen Länder nicht drücken.
Ich füge hinzu: Die Antwort „alle" wäre verständlich; realistisch ist sie aber nicht. Es muß mit Blick auf künftige Marktchancen und mit Blick auf die angepeilte industrielle Entwicklung entschieden werden.
Schnell muß es jedenfalls gehen. Diese Forderung wiederhole ich mit Nachdruck. Es ist schon genug Zeit verlorengegangen. Zu viele Betriebe sind verschwunden, zu viele Arbeitsplätze vernichtet worden.
Meine Damen und Herren, auf konkrete Vermarktungshilfen für die ostdeutschen Unternehmen haben wir uns in den Verhandlungen nicht verständigen können. Immerhin haben Sie, Herr Bundeskanzler, in den Verhandlungen zugesagt, daß Vermarktungshilfen ernstlich geprüft werden sollen. Wir möchten auch diesen Prüfungsauftrag nicht auf die lange Bank geschoben sehen. Auch hier muß schnell gearbeitet werden.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden jedenfalls nicht müde werden, Sie in kurzen Abständen an die Einlösung dieser Zusage zu erinnern.
Zufrieden sind wir mit den Beschlüssen zu Wohnungssanierung und Wohnungsneubau in Ostdeutschland. Wenn umgesetzt würde, was wir beschlossen haben, wäre dies ein erheblicher Beitrag zur Überwindung von Wohnungsnot, zur Beschäftigung von Menschen und zur Ankurbelung der schwachen Konjunktur insbesondere in den ostdeutschen Ländern.
Daß wir es gern gesehen hätten — das war ein Punkt der Kritik meines Kollegen Dreßler —, wenn auch die Wohnungsbaumittel West zumindest verstetigt worden wären — in der mittelfristigen Finanzplanung ist ja eine Reduzierung vorgesehen —, wissen Sie. Aber da gab es von Ihrer Seite nur den Hinweis auf die westdeutschen Länder, die in die Bresche springen könnten. Das ist aus Ihrer Sicht verständlich. Aus unserer Sicht sage ich: Mit Schwarzer-Peter-Spielen wird die Wohnungsnot, die auch im Westen der Republik dramatisch ist, nicht beseitigt.

(Beifall bei der SPD)

2 Milliarden DM mehr 1993 für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — das ist wenigstens etwas. Es reicht nicht aus, um eine Verstetigung der Beschäftigtenzahl im zweiten Arbeitsmarkt auf der derzeitigen Höhe zu sichern. Das wissen Sie auch, Herr Kollege Blüm. Deshalb bitte ich Sie, sich rechtzeitig um eine Aufstockung des Programms zu bemühen, denn die Arbeitslosigkeit im Osten ist dramatisch hoch: 30 bis 40 % real, in manchen Gegenden noch höher. Auch im Westen steigen die Arbeitslosenzahlen wieder an, und zwar drastisch. Allein für dieses Jahr wird mit einem Verlust von über einer halben Million Arbeitsplätzen gerechnet.
Würde ich dem Sprachgebrauch des Konrad-Adenauer-Hauses folgen, müßte ich alle diese Arbeitslosen Ihnen persönlich, Herr Bundeskanzler, und Ihrer Partei zurechnen.

(Beifall bei der SPD)

Ich lasse das. Ich erwarte aber von dieser Regierung, daß sie die Überwindung der Arbeitslosigkeit zum Hauptpunkt ihrer Politik macht.

(Beifall bei der SPD)

4 Millionen Arbeitslose — in Wahrheit, wie wir doch alle wissen, noch mehr —, das ist bedrückend und gefährlich und aus der Sicht der Betroffenen, der Arbeitslosen und jener, die sich um ihre Arbeitsplätze sorgen, unerträglich.

(Beifall bei der SPD)




Hans-Ulrich Klose
Es wäre gut, füge ich hinzu, wenn der Herr Bundeswirtschaftsminister uns wenigstens gelegentlich den Eindruck vermitteln würde, daß auch er dies unerträglich findet. Diesen Eindruck haben wir derzeit nicht.

(Beifall bei der SPD)

Auch bei Ihnen, Herr Bundeskanzler, gibt es Zweifel. Wenn ich lese, mit welchen Worten Sie jüngst die Proteste der Stahlkocher von Rheinhausen kommentiert haben, dann zweifle ich, ob es bei Ihnen so etwas wie Mitgefühl gibt.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

— Hören Sie doch erst einmal zu; vielleicht haben Sie das nicht mitbekommen. Sie haben für diese Proteste folgende Worte benutzt: Diese Proteste seien komisch und inakzeptabel. Sie haben diese Proteste „Geschrei" genannt, denn gleichzeitig gingen doch in den ostdeutschen Ländern viele Tausende Arbeitsplätze verloren.
Das ist ja richtig, Herr Bundeskanzler. Aber Sie können doch nicht das Elend der einen gegen das noch größere Elend der anderen ausspielen. Das geht doch nicht!

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Es ist zynisch!)

Der „Münchner Merkur" hat diese Rede, die Sie vor Unternehmern gehalten haben, vor zwei Tagen wie folgt kommentiert — ich will Ihnen das Zitat nicht ersparen —:
Die geschmacklosen Bemerkungen Kohls steigern noch den hilflosen Zorn der Betroffenen über die verantwortlichen Politiker. So stößt man Menschen, die Mitgefühl verdienen, ohne Sinn und Verstand vor den Kopf.
Dem muß ich zustimmen, Sie müssen nicht, aber Sie könnten.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundeskanzler, ich weiß sehr wohl, daß es einen Königsweg zur Überwindung der Arbeitslosigkeit nicht gibt. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sind ein Ansatz. Ein Zukunftsinvestitionsprogramm, wie wir es vorgeschlagen haben, könnte ein Weg sein, der weiterhilft. Dazu haben Sie sich nicht entschließen können,

(Zuruf von der SPD: Der Kanzler sagt: länger arbeiten! — Gegenruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

nicht zuletzt weil Ihnen die finanziellen Mittel, die dazu erforderlich wären, fehlen.
Aber sie fehlen Ihnen durch eigenes Verschulden. Hätten Sie den Menschen rechtzeitig vor der Bundestagswahl erklärt, daß es ohne persönliche Opfer und Steuererhöhungen nicht geht, wir wären heute in einer anderen, besseren Situation.

(Beifall bei der SPD)

Den Solidaritätszuschlag haben Sie nach einem Jahr auslaufen lassen, wider besseres Wissen. Die Menschen, auch die Wirtschaft, hatten sich an diesen Steuerzuschlag gewöhnt; sie hatten ihn akzeptiert.
Verantwortlicher Politik hätte es entsprochen, die Wahrheit zu sagen und zu tun, was getan werden mußte. Statt dessen sind Sie in eine immer höhere Verschuldung hineingeschlittert.
Der Bundesfinanzminister — er ist krank; ich wünsche ihm von dieser Stelle aus gute Besserung —

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)

kann einem leid tun, denn er ist heute in Wahrheit ein Schuldenminister. Allein die Nettoneuverschuldung dieses Jahres wird sich am Ende auf ca. 70 Milliarden DM belaufen.
Es ist übrigens bemerkenswert, Herr Bundeskanzler, daß Sie auf diese Tatsache in Ihrer Regierungserklärung mit keinem einzigen Wort eingegangen sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Man löst aber Probleme nicht, indem man sie verschweigt.

(Zuruf von der SPD: Darin ist er ein Meister!)

Zugegeben, Herr Bundeskanzler, zusätzliche Steuererhöhungen über jene hinaus, die Sie vorschlagen, sind in einer konjunkturell und strukturell krisenhaften Situation nicht eben der Weisheit letzter Schluß. Daß aber diese Nettoneuverschuldung nahtlos in die konjunkturelle Landschaft paßt, kann wirklich nur behaupten, wer sich an seine eigenen Worte in der jüngeren Vergangenheit nicht mehr erinnert. Wir erinnern uns aber gut an solche Worte, Herr Bundeskanzler, auch an Ihre.
Wir hatten vorgeschlagen, einen Solidaritätszuschlag in Form einer Ergänzungsabgabe schon in diesem Jahr wieder einzuführen. Leicht ist uns das nicht gefallen, denn wir wissen ja auch, daß der Widerstand beträchtlich gewesen wäre. Viele haben sich — gefragt und ungefragt — zu Wort gemeldet. Sie hätten sich auch nach einem positiven Beschluß geäußert, und zwar, wie ich vermute, überwiegend ablehnend. Dennoch sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler: Ihr Ausweichen vor dieser notwendigen Entscheidung hat dieser Regierung ein weiteres Stück Handlungsfähigkeit genommen. Das kritisieren wir,

(Beifall bei der SPD)

nicht zuletzt deshalb, weil durch diese Nichtentscheidung ein weiteres Problem ungelöst geblieben ist. Sie wissen doch wie wir, daß es bei der Finanzierung der deutschen Einheit eine Gerechtigkeitslücke — wie der Kollege Rühe gesagt hat — gibt: Die Beitragszahler werden heute relativ stärker zur Kasse gebeten als andere, z. B. Minister und Abgeordnete. Eine Arbeitsmarktabgabe, die dieses Gerechtigkeitsproblem würde lösen helfen, wollten Sie bzw. die F.D.P. auf gar keinen Fall akzeptieren.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aus gutem Grund!)

Dann aber hätten Sie sich zumindest zu einer Ergänzungsabgabe, die die unteren Einkommen schont, entschließen müssen. Ihre Zusage, bei der



Hans-Ulrich Klose
Wiedereinführung des Solidaritätszuschlags ab 1. Januar 1995 eine über den Grundfreibetrag hinausgehende soziale Komponente einzuführen, verschiebt die Lösung dieses Problems über den Wahltermin hinaus und ist vage genug, um Mißtrauen zu wekken.

(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Immerhin korrekt zitiert! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja, das hat ja Herr Scharping geschrieben!)

Daß Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, bei solcher Schieflage das Gerechtigkeitsproblem zusätzlich durch Kürzung von sozialen Regelleistungen verschärfen wollten, wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Politik dieser Regierung.

(Beifall bei der SPD)

Diese Regierung wird nicht müde, von sozialer Überforderung und notwendigen Anpassungen — nach unten, versteht sich — zu reden und zugleich wortreich die mangelnde Solidarität der Westdeutschen zu beklagen. Herr Bundeskanzler, Sie haben diese Gesellschaft gespalten und entsolidarisiert,

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und Sie hätten diesen Prozeß mit dem Konsolidierungsprogramm noch weitergetrieben, wenn wir Sie nicht daran gehindert hätten.
Sozialer Frieden, Herr Bundeskanzler, ist ein positiver Standortfaktor. Es macht keinen Sinn, diesen positiven Faktor kaputtzuregieren oder kaputtzureden.

(Beifall bei der SPD)

Sie tun das aber, indem Sie sich einseitig zum Interessenvertreter der ,,Leistungsträger" machen,

(Zuruf von der SPD: Der sogenannten!)

was an sich schon eine Zumutung ist, denn auch die Verkäuferin, der Lkw-Fahrer, der Polizist und die Altenpflegerin sind Leistungsträger, die harte Arbeit leisten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wer ständig davon redet, daß Leistung sich wieder lohnen müsse und zugleich die hohe Kostenbelastung des Standortes Deutschland beklagt, der will in Wahrheit das soziale Niveau herunterdrücken; und das, Herr Bundeskanzler, ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen!

(Beifall bei der SPD)

Es paßt übrigens in die Linie, daß just in diesen Tagen und in dieser Situation die Diskussion über Karenztage neu entfacht wird.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Leider wahr!)

Ja, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen! Weiß der Kollege Ost nicht, daß für die Durchsetzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall der längste Streik in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geführt worden ist? Wollen Sie, daß
sich das wiederholt? Soll die Gespaltenheit der Gesellschaft auf die Spitze getrieben werden? Eine Gesellschaft in Unfrieden kann doch nicht das Ziel verantwortlicher Regierungspolitik sein!

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Sie reden, Herr Bundeskanzler, gern von Mißbrauch. Na schön, auch wir sind — das sage ich ganz deutlich — gegen die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Rechten. Aber diese Aussage — bei der ich Ihnen zustimme —, bezieht sich wahrlich nicht nur auf soziale Rechte. Ich bin ganz sicher: Die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Subventions- und Steuervorteilen hat einen weitaus größeren Umfang als der Mißbrauch sozialer Rechte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir, zumal der Kollege Dreßler, haben darauf in den Verhandlungen ausdrücklich hingewiesen, und alle Experten, die wir zu Rate ziehen, sehen es so. Nur die Regierung sieht sich bemüßigt, bei solchen Hinweisen vor überzogenen Erwartungen zu warnen.

(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

Bei sozialem Mißbrauch nennen Sie Zahlen, Zielzahlen, die erreicht werden müssen. Bei sonstigen Mißbräuchen bleiben Sie wortkarg. Auch das macht mißtrauisch, Herr Bundeskanzler, und zwar in hohem Maße.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der SPD: Wo ist denn der Herr Krause?)

Daß bei diesem Teil der Verhandlungen natürlich insbesondere die Vertreter der F.D.P. vor zu hohen Erwartungen gewarnt haben, erwähne ich nur. Das weiß ja jeder; man muß es nicht näher begründen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundeskanzler, Sie sorgen sich, so sagen Sie, um den Standort Deutschland. Das ist in Ordnung, denn es gibt Standortprobleme.

(Zuruf von der SPD: 10 Jahre Kohl!)

Sie liegen aber falsch, Herr Bundeskanzler, wenn Sie glauben, die Standortprobleme durch Einschnitte in das soziale Netz lösen zu können. Deutschland wird immer ein Hochkostenland und auch ein Hochlohnland sein. Das waren wir auch in der Vergangenheit.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Jetzt aber zu hoch!)

Nur haben wir früher damit keine ernstlichen Probleme gehabt; denn wir waren unseren Konkurrenten überlegen, waren wettbewerbsfähig durch die Qualität unserer Produkte und Dienstleistungen, durch unser Know-how, durch die Zuverlässigkeit bei der Lieferung und durch den exzellenten Service, den die deutsche Wirtschaft anbieten konnte.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Und jetzt holen die anderen auf!)




Hans-Ulrich Klose
Wir sind auch heute nicht unbedingt schlechter; aber die anderen — Sie sagen es, Herr Schäuble —, unsere Konkurrenten, die in Europa und die in Ostasien, sind besser geworden, ohne daß wir uns neuen Vorsprung durch Produkt- und Produktionsinnovation geschaffen hätten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist es!)

Das liegt, wie nicht verschwiegen werden soll, auch an der Wirtschaft selber. Strukturkrise heißt nämlich in Wahrheit auch Managementkrise.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist wahr! )

Hinzu kommt aber, daß diese Regierung es nicht fertiggebracht hat und nicht fertigbringt,

(Zuruf von von der CDU/CSU: Verleumdung!)

eine intelligente Industriepolitik zu entwickeln. Dabei spielen ideologische Gründe eine Rolle, vor allem bei der F.D.P. — Franz Josef Strauß sah das zu seiner Zeit ja ganz anders.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dabei, meine Damen und Herren, geht es doch gar nicht darum, der Wirtschaft vorzuschreiben, in welche Richtung notwendige Innovationsprozesse vorangetrieben werden sollen. Es geht darum, gemeinsam mit der Wirtschaft Entwicklungslinien in die Zukunft zu projizieren.
Es ist bedauerlich, daß die Bundesmittel für Forschung und Technologie in den letzten Jahren reduziert worden sind.

(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

Denn ich sage Ihnen: Das Ministerium für Forschung und Technologie ist für einen Standort wie Deutschland wichtiger als das Wirtschaftsministerium.

(Beifall bei der SPD)

Das sehen Sie leider nicht so. Das bedauern wir, wie wir es auch bedauern und als einen Beleg für die eben erwähnte Managementkrise ansehen, daß auch die Wirtschaft ihre Aufwendungen für Forschung und Entwicklung deutlich heruntergefahren hat. Hier, Herr Bundeskanzler, sind Sie gefordert: als Moderator und Antreiber.
Die Gefahr, daß wir den Anschluß an die nächste und übernächste Stufe der industriellen Entwicklung verpassen, ist groß. Dort muß ein Schwerpunkt liegen, der sich übrigens mit den Notwendigkeiten einer innovativen Umweltpolitik sehr wohl verträgt. Standortpolitik heißt für mich ökonomische, ökologische und soziale Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Zukunft, meine Damen und Herren, ist nicht einfach gottgegeben. Zukunft ist, was wir daraus machen. Machen Sie etwas daraus, Herr Bundeskanzler!

(Beifall bei der SPD)

Und noch eines: Es wird derzeit viel — Sie haben es auch heute getan, Herr Bundeskanzler — über die viel zu langen Bildungs- und Ausbildungszeiten geklagt. Sie sind zu lang, auch aus meiner Sicht. Wenn ich mir aber vergegenwärtige, in welchem Zusammenhang über das 13. Schuljahr und über die zu langen Studienzeiten geredet wird, dann drängt sich mir der Eindruck auf, es gehe Ihnen mehr um Finanzpolitik — falsche Finanzpolitik —

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

und weniger, wenn überhaupt, um Bildungspolitik.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das war doch in Potsdam! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Warum greifen Sie die Ministerpräsidenten so an!)

Im übrigen erlaube ich mir zu Ihren Bemerkungen, Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang drei kurze kritische Fragen:
Erste Frage. Was heißt es denn, wenn Sie die hohen Zahlen von Studenten und von Schülern an weiterführenden Schulen und die geringeren Lehrlingszahlen beklagen? Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Zweite Frage. An welche Kinder denken Sie denn eigentlich, wenn Sie sagen, es gebe zu viele Studenten? Ich habe immer den Eindruck: Die, die so reden, denken immer an anderer Leute Kinder, nicht an die eigenen.

(Beifall bei der SPD)

Dritte Frage. Ist Ihnen, Herr Bundeskanzler, bekannt, daß Studienabbrecher nicht unbedingt und nicht einmal in ihrer Mehrheit Gescheiterte sind? Es sind, wie neuere Untersuchungen zeigen, ganz überwiegend solche, die mit großem Erfolg unmittelbar in die Berufstätigkeit einsteigen. Es sind Berufseinsteiger.

(Beifall bei der SPD)

Sie schütteln den Kopf, Herr Bundeskanzler; aber ich sage Ihnen: Da sind Sie einfach nicht gut genug unterrichtet. Wir sind gern bereit, Ihnen die entsprechenden Untersuchungen auf den Tisch zu legen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Lesen!)


(V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker)

Wir sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, auch wenn es um persönliche Fortbildung geht.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Im übrigen, Herr Bundeskanzler, erlaube ich mir noch folgende Anmerkung: Die Verkürzung der Bildungszeiten kostet, wie alle Sachverständigen Ihnen sagen können, zumindest in einer sehr langen Anfangsphase erheblich mehr Geld und nicht weniger. Um es gleich hinzuzufügen: Wir Sozialdemokraten sind dafür, daß mehr Geld für die Bildung ausgegeben wird; denn der Reichtum Deutschlands beruht doch nicht auf natürlichen Standortvorteilen. Natürliche Ressourcen haben wir nicht, nur ein bißchen Kohle, nicht einmal genug Sonne. Unser Reichtum beruht auf der Fähigkeit von Menschen, klugen Köpfen und geschickten Händen.

(Beifall bei der SPD)




Hans-Ulrich Klose
Hier, meine Damen und Herren, bei der Pflege des Humankapitals, muß ein Schwerpunkt gebildet werden, was im übrigen schon deshalb dringlich ist, weil der demographische Wandel — Sie, Herr Bundeskanzler, haben davon gesprochen, die Gesellschaft wird älter — uns zu einer weit vorausschauenden Politik zwingt. Sie wissen das, Herr Bundeskanzler. Wo aber bleiben die Konsequenzen solcher Erkenntnis? Wann endlich wird die Fort- und Weiterbildung in Deutschland zur klar konturierten und geförderten vierten Säule unseres Bildungswesens gemacht?

(Beifall bei der SPD)

Daß Sie allein das nicht schaffen können, Herr Bundeskanzler, weiß ich; die Länder müßten sich daran beteiligen, ebenso die Wirtschaft und die Gewerkschaften. Sie aber müßten ihnen schon von Amts wegen den Anstoß dazu geben. Sie müßten für den notwendigen Schub sorgen. Von nichts kommt nichts und von Regierungserklärungen allein auch nicht.

(Beifall bei der SPD)

Sie sehen, Herr Bundeskanzler, es gibt viel zu tun, und wir bitten Sie herzlich: Tun Sie etwas! Wir möchten uns auseinandersetzen mit dem, was Sie tun, statt Sie immer nur für das kritisieren zu müssen, was Sie nicht tun!

(Beifall bei der SPD)

Sie verfügen, Herr Bundeskanzler, wie jedermann sehen kann, über ein großes Maß an ruhender Energie.

(Heiterkeit bei der SPD)

Wir bitten Sie, daß Sie diese Energie in Bewegungsenergie umsetzen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundeskanzler, machen Sie den Weg frei, so oder so, damit es vorangeht in Deutschland!

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214900500
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Wolfgang Schäuble das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1214900600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klose, ich will zunächst das aufgreifen, worüber wir uns einig sind. Einig sind wir uns ganz offensichtlich darin, daß wir unsere Hoffnungen vor allen Dingen auf den Bundeskanzler Helmut Kohl richten. Das haben Sie zum Schluß direkt zum Ausdruck gebracht.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Das hat Herr Klose gut formuliert! — Zurufe von der SPD)

Einig sind wir uns darin, daß das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Bundesregierung, Bundesländern, Partei- und Fraktionsvorsitzenden einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen Folgen von 40 Jahren Sozialismus und Teilung in Deutschland leistet.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Übrigens, Herr Klose, ergibt sich ein gewisser Widerspruch zu dem, was Sie am Schluß gesagt haben: Wenn der Bundeskanzler sich nicht so ungeheuer eingesetzt hätte, wäre ja diese Einigung, die von den meisten im voraus so nicht für möglich gehalten worden ist, nicht zustande gekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Daß es bis zu dieser Einigung so lange gedauert hat — das wissen Sie doch besser als jeder andere —, liegt doch daran, daß es endlos lange gedauert hat, bis Ihre Partei bereit war, sich darüber klarzuwerden, ob sie überhaupt an einen Tisch kommen will. Sie haben ja noch darüber diskutiert, ob die Verhandlungen im Kanzleramt stattfinden dürfen. Solche formalen Probleme haben Sie doch gehabt!

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Wenn es nach uns gegangen wäre, wären wir im Oktober schon zusammengekommen. So ist viel Zeit verlorengegangen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Lachen bei der SPD — Rudolf Dreßler [SPD]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Aber da es ein gemeinsamer Erfolg ist, bin ich auch dafür, daß wir ihn nicht hinterher zerreden, sondern daß wir bei dem bleiben, was wir miteinander vereinbart haben und was für die neuen Bundesländer eine wichtige Grundlage ist, damit sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten jetzt ihre Aufgaben mit einer angemessenen finanziellen Ausstattung auch schon für die Jahre 1993 und 1994, also vor 1995, bewältigen können und daß sie Klarheit über die Grundlagen für die Erledigung ihrer eigenen Aufgaben haben. Das ist das Wichtige, und darüber hinaus ist die Klärung der finanziellen Rahmenbedingungen für die mittelfristige Entwicklung eine wichtige Grundlage für Vertrauen, und Vertrauen ist eine wichtige Grundlage für die investierende Wirtschaft. Ohne weitere Investitionen sind wir nicht in der Lage, die großen wirtschaftlichen Probleme, vor denen wir stehen, miteinander zu bewältigen. Das ist der eigentliche Erfolg der Verhandlungen unter der Verantwortung des Bundeskanzlers.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will nicht noch einmal im einzelnen aufzeigen, wo die entscheidenden Wachstumsimpulse sind. Wir sind uns einig, daß das, was zum Wohnungsbau in den neuen Bundesländern vereinbart worden ist mit der Regelung der Altschulden, mit dem großen Ankurbelungsprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau, um nur zwei Punkte zu nennen, ein ganz wichtiger Impuls ist.
Und, Herr Kollege Klose, da wir uns ja auch einig sind, daß die finanzielle Ausstattung der westdeutschen Länder im Rahmen des Verhandlungsergebnisses — das haben übrigens die Ministerpräsidenten hinterher fairerweise selbst gesagt — großzügig genug bemessen ist, ist doch die Verabredung, die wir gemeinsam getroffen haben, daß für zusätzliche

Dr. Wolfgang Schäuble
Impulse für den Wohnungsbau in Westdeutschland die Länder in Westdeutschland zuständig sein sollen, nicht eine, die Sie heute schon wieder aufkündigen sollten. Wir sollten den Ländern gemeinsam sagen, daß sie jetzt auch in Westdeutschland genügend finanzielle Mittel haben, um ihre originären Aufgaben im Wohnungsbau, insbesondere auch im sozialen Wohnungsbau, zu erfüllen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich will daran erinnern, daß wir über die Vereinbarungen in der vorletzten Woche hinaus eine Fülle von Maßnahmen zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern auf den Weg gebracht haben, zum Teil gegen Ihren hinhaltenden Widerstand, was etwa die Beschleunigungsgesetze zur Verkürzung der Genehmigungsverfahren anbetrifft.
Wir haben die Investitionszulage erhöht und verlängert. Wir haben wieder eine kommunale Investitionspauschale eingeführt, die für die Städte, Gemeinden und Landkreise in den neuen Bundesländern ganz entscheidend wichtig ist, damit sie eigenen Spielraum für Investitionen haben. Wir haben das übrigens überwiegend gegen den zähen Widerstand der Landesregierungen der neuen Bundesländer durchsetzen müssen. Sie sind ja auch nur föderalistisch, wenn es um Forderungen an den Bund geht, während die Freiräume für die kommunale Ebene nicht ganz so groß bemessen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das aber ist eine Erfahrung, die wir gelegentlich auch in Westdeutschland machen.
Sie haben recht, Herr Kollege Klose, daß der Anstieg der Neuverschuldung im Bundeshaushalt 1993 und 1994 hoch ist, bis an die Grenze dessen geht, was wirtschaftlich und finanzpolitisch vertretbar ist. Aber, Herr Kollege Klose, wenn konjunkturpolitische Argumente überhaupt noch eine Rolle spielen, dann kann man ja nicht bestreiten, daß über die ohnedies schon in Kraft getretenen oder noch vorgesehenen Steuer- und Abgabenerhöhungen in den Jahren 1993 und 1994 hinaus weitere Steuererhöhungen bei der gegebenen konjunkturellen Lage nun wirklich Gift wären. Wir würden dadurch nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen mußten Sie ja auch in den Verhandlungen einsehen, weil Sie keine Argumente dagegen hatten, daß es unvermeidlich richtig und notwendig war, den Solidaritätszuschlag erst ab 1. Januar 1995 wiedereinzuführen, weil eine frühere Steuererhöhung für unsere konjunkturelle Entwicklung wirklich Gift wäre.
Weil dies so ist, sind auch die Spielräume für Ausgaben im Bundeshaushalt in diesem und im nächsten Jahr ungewöhnlich beengt. Wenn an dem Ergebnis der Verhandlungen mit den Bundesländern, den Fraktionen und insbesondere auch der Mehrheit im Bundesrat etwas zu beklagen ist, dann das, daß es wegen Ihres Widerstands nicht gelungen ist, größere Einsparungen durchzusetzen, die in der gegebenen wirtschaftlichen und finanziellen Lage ganz unbestreitbar notwendig wären.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber, lieber Herr Klose, weil Sie es so mit der Wahrheit haben

(Peter Conradi [SPD]: Sie doch hoffentlich auch!)

— ich auch —: Wir tun immer so, als ob wir sie vor allen Dingen immer von den anderen einfordern. Das ist wohl wahr, gegen diese Versuchung bin ich auch nicht ganz gefeit. Es kommt gleich wieder so etwa, das ist wahr.

(Peter W. Reuschenbach [SPD]: Sie hatten doch eben die Arbeitslosen im Auge!)

— Ich komme gleich darauf.
Lassen Sie mich zunächst einmal etwas sagen, damit es für den Umgang miteinander nicht so belastend ist. Wenn Sie über die vorgeschlagenen Einsparmaßnahmen hier kritisch reden und daraus Angriffe gegen die Bundesregierung ableiten, dann sollten Sie doch der Wahrheit die Ehre geben und sagen, daß in den Vorschlägen der Bundesregierung selbst Kürzungen der Regelsatzleistungen gar nicht primär vorgeschlagen waren. Wir haben von vornherein gesagt, wir wollen sowohl im Bereich der Arbeitsförderung wie im Bereich der Sozialhilfe Mißbrauch bekämpfen, Fehlsteuerung von Leistungen verhindern, und nur, wenn wir insoweit nicht hinreichend zum Ziel kommen, können wir auch Regelsatzkürzungen nicht völlig ausschließen. Das gehört zur Wahrheit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daran hat sich übrigens durch die Vereinbarungen im Kanzleramt überhaupt nichts geändert, zumal wir miteinander verabredet haben, daß dieses Volumen erreicht werden muß.
Ich finde, zur Wahrheit, verehrte Kolleginnen und Kollegen, gehört auch — dazu haben Sie nichts gesagt —, daß in der gegebenen Situation in den ostdeutschen Ländern eine schnelle Angleichung der Tarife an das westdeutsche Niveau nicht möglich ist und daß es unverantwortlich ist, auf dieser Position zu bestehen,

(Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein [CDU/CSU]: Das soll die SPD auch sagen! Das ist es!)

und daß Tarifanpassungen im Metallbereich in der Größenordnung von fast 30 % in diesem Jahr bei der gegebenen Dramatik der Entwicklung im Arbeitsmarkt unverantwortlich sind. Dazu hätten Sie etwas sagen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Peter W. Reuschenbach [SPD]: Das ist Agitation, nicht die Wahrheit!)

— Wenn wir über die Wahrheit reden, muß darüber geredet werden. Wenn Ihnen die Lage der Arbeitslosen am Herzen liegt,

(Peter W. Reuschenbach [SPD]: Das ist Agitation!)




Dr. Wolfgang Schäuble
müßten Sie wahrhaftigerweise davon reden, daß eine so schnelle Tarifanpassung mehr Arbeitslosigkeit bedeuten wird. Weil uns das Schicksal der Arbeitslosen am Herzen liegt und wir mehr Mitleid haben, als Sie uns unterstellt haben, müssen wir wahrhaftigerweise sagen, daß dies so nicht zusammengeht. Anders ist es nicht zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Hans-Ulrich Klose [SPD]: Wie hätten Sie es dann gern?)

— Der Bundeskanzler hat davon gesprochen. — Ich denke, daß der Abschluß im Chemiebereich

(Zuruf von der SPD: Der ist höher!)

für andere Tarifbereiche durchaus ein Vorbild sein kann. Ich denke auch, daß Abschlüsse, wie sie im öffentlichen Dienst für Gesamtdeutschland erreicht worden sind, durchaus zeigen, daß es im Bereich der Tarifpartner auch Einsicht in neue Notwendigkeiten gibt. Aber die Art, wie im Augenblick von der IG Metall in Norddeutschland demonstriert wird, weil, wenn die Tarife jetzt nicht um 26 % angepaßt würden, die schiere Not ausbrechen würde, ist wirklich unverantwortliche Demagogie in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214900700
Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klose?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1214900800
Ja.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1214900900
Herr Kollege Schäuble, da Sie den Chemieabschluß in den ostdeutschen Ländern loben: Ist Ihnen nicht bekannt, daß der 9-%-Abschluß im Bereich Chemie materiell die gleichen Auswirkungen wie der 26-%-Abschluß bei der IG Metall hat, weil nämlich bei Chemie die Ausgangsbasis sehr viel höher war?

(Beifall bei der SPD)


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1214901000
Jedenfalls, Herr Kollege Klose, scheint mir, daß eine Anpassung um 9 % im Jahre 1993 ein größeres Maß an Einsicht in die Realitäten erkennen läßt als die Forderung, auf einer Anpassung von 26 % zu bestehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. — Lachen bei der SPD — Peter Conradi [SPD]: Kann nicht rechnen!)

— Ich kann relativ gut rechnen. Da seien Sie ganz vorsichtig! Aber das will ich Ihnen jetzt ersparen.
Was ich Ihnen nicht ersparen will, ist, daß wir auch in einem anderen Punkt miteinander die Wahrheit sagen sollten. Wir haben auch in Westdeutschland wirtschaftliche Probleme. Es ist übrigens nicht wahr, was Sie dem Bundeskanzler an Äußerungen zu der Not der betroffenen Stahlarbeiter unterstellt haben.

(Peter Conradi [SPD]: Doch, doch!)

An diesen Forderungen ist nicht in Ordnung, daß dieselben Menschen, die von montags bis freitags von Subventionsabbau reden, dann, wenn in der Stahlindustrie eine Krise herrscht, am Samstag eine bundesweite Stahlkonferenz fordern, um die Verantwortung für die Lösung der Probleme der Bundesregierung zuzuschieben. Darum geht es.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nein, Soziale Marktwirtschaft heißt schon, daß die Probleme dort gelöst werden müssen, wo sie entstanden sind. Darum geht es, nicht um die Not der betroffenen Stahlarbeiter.

(Peter Conradi [SPD]: Sie sitzen doch im EG-Ministerrat!)

— Ich sitze im Moment am Rednerpult des Deutschen Bundestages und würde Sie bitten, daß ich auch weiterhin hier reden darf.
Wahr ist, wenn wir von den strukturellen Problemen in Westdeutschland reden, aber auch, daß sie nicht durch die Wiedervereinigung entstanden sind und daß der Wettbewerb härter geworden ist. Zu den Wahrheiten gehört wohl auch, daß wir unsere Arbeitsmarktprobleme, weil der Rationalisierungsdruck im weltweiten Wettbewerb immer stärker wird, nicht notwendigerweise allein schon mit zusätzlichem Wirtschaftswachstum lösen. Vielmehr kann weiteres wirtschaftliches Wachstum sogar mit weiterem Beschäftigungsabbau verbunden sein. Weil dies so ist und zu den Wahrheiten gehört, die unangenehm sind, müssen wir mehr darüber nachdenken und darüber reden, wie wir die strukturellen Probleme in der westdeutschen Wirtschaft besser in den Griff bekommen.
Was Sie da zu der Entwicklung der Lohnnebenkosten etwa im Bereich der Lohnfortzahlung gesagt haben, Herr Kollege Klose, war völlig ungenügend. Ich habe von dieser Stelle aus vor kurzem schon einmal die Rechnung aufgemacht — sie bleibt unbestreitbar wahr —: Wir haben 30 Tage gesetzlichen Urlaub, im Durchschnitt 20 Tage Krankheit pro Beschäftigten, 15 gesetzliche Feiertage, macht 65 Tage. Die Woche zu fünf Tagen gerechnet, sind 13 Wochen pro Jahr, ein Viertel des Jahres, arbeitsfrei. Damit werden wir im internationalen Wettbewerb immer weniger konkurrenzfähig. Deswegen müssen wir über diese Fehlsteuerung nachdenken und sie korrigieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das hat überhaupt nichts mit „gegen den sozialen Frieden gerichtet" zu tun, sondern das hat damit zu tun, daß wir Arbeitsplätze für die Zukunft wieder sicherer machen wollen.
Wenn dies so ist, dann muß natürlich auch über die Bildungs- und Qualifikationsprobleme in Deutschland in einer anderen Weise, als es in den letzten Jahrzehnten bei der starren Besitzstandsverteidigung üblich geworden ist, nachgedacht und geredet werden.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Es war ein zentraler Fehler sozialdemokratischer Bildungspolitik, daß Sie das Bildungssystem vom Beschäftigungssystem ausdrücklich abgekoppelt haben. Wenn das Bildungssystem keinen Bezug mehr zum Beschäftigungssystem hat, dann produzieren Sie immer noch mehr Hochschulabsolventen, immer noch



Dr. Wolfgang Schäuble
höhere Arbeitslosenzahlen. Das kann nicht der richtige Weg sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214901100
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Reuschenbach?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1214901200
Bitte sehr.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214901300
Bitte, Kollege Reuschenbach.

Peter W. Reuschenbach (SPD):
Rede ID: ID1214901400
Herr Kollege, würden Sie den hier Anwesenden bitte erklären, welchen Sinn es machen sollte, in der Textilindustrie, in der Automobilindustrie, im Bergbau, in der Stahlindustrie länger zu arbeiten, mehr Arbeitsstunden zu haben, mehr Schichten zu fahren, mehr zu produzieren und dies alles dann zusätzlich auf Halde zu legen?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1214901500
Herr Kollege, das habe ich überhaupt nicht gesagt, davon habe ich auch gar nicht geredet. Das zeigt nur, daß Ihr sozialistischer Bodensatz Sie immer nur zu einer sehr statischen Betrachtungsweise bringt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Lachen bei der SPD)

Das Problem, Herr Kollege Reuschenbach, von dem ich gesprochen habe, liegt darin — davon hat auch Ihr Fraktionsvorsitzender gesprochen —, daß wir bei härter werdendem internationalen Wettbewerb auf unsere Wettbewerbsfähigkeit achten müssen. Denn wenn wir nicht mehr konkurrenzfähig sind, dann gibt es überhaupt keine Arbeitsplätze in Deutschland, weil die Produkte woanders erstellt werden. Wenn bei uns Löhne und Lohnnebenkosten und die Lohnstückkosten auch im Vergleich zu anderen gleichfalls leistungsstarken Wettbewerbsländern wesentlich höher sind, dann ist es eben so, daß wir nicht mehr konkurrenzfähig sind. Dann gehen die Arbeitsplätze hier bei uns verloren. Das ist der Zusammenhang.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn wir zusätzliche Beschäftigung wollen, dann müssen wir den Zusammenhang zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem wieder stärker herstellen, weil zuviel davon zerstört worden ist. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir über die Frage nachdenken, ob wir bei den unbestreitbaren Entwicklungen in unseren Industriegesellschaften, in denen die Gefahr groß ist — ich wiederhole das —, daß auch bei anhaltenden höheren Wachstumsraten die Arbeitsmarktprobleme nicht automatisch gelöst sind, immer mehr Kosten unseres öffentlichen Systems und unserer sozialen Sicherungssysteme auf die Arbeitskosten aufschlagen dürfen. Das ist der eine Punkt, der ganz gewiß falsch ist.
Zum anderen werden wir darüber nachdenken müssen, ob es intelligentere Formen gibt, um Menschen in Beschäftigung zu bringen, die bei der jetzigen Entwicklung keine hinreichenden Beschäftigungschancen haben. Ich fürchte, Herr Kollege Klose, daß die Ausweitung von AB-Maßnahmen kein hinreichend intelligenter Ansatz ist, um diese Probleme zu lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD])

— Ja, ich bin ja dabei: Wir haben darüber geredet; Herr Thierse, Sie waren dabei, Herr Dreßler auch.
Ich will an dieser Stelle erwähnen, daß wir, wenn wir die AB-Mittel in diesem Jahr von 9,9 Milliarden DM um noch einmal weitere 2 Milliarden DM aufstokken,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wird ja nicht reichen!)

nicht einfach in der bisherigen Systematik verbleiben, sondern daß wir beispielsweise über eine stärkere Inanspruchnahme der Methode oder des Ansatzes in §
249 h Arbeitsförderungsgesetz intelligentere Formen suchen, um Menschen dauerhaft in Beschäftigung zu bringen. Dazu brauchen wir allerdings zusätzliche Träger; denn das ist nicht allein Sache der Bundesanstalt. Ich hoffe, daß Länder und Gemeinden und viele freie und private Träger sich dieses Instrumentariums zusätzlich bedienen, weil wir in der Tat neue Überlegungen anstellen müssen, um mehr Menschen dauerhaft in Beschäftigung zu bringen.
Ein weiterer Ansatz — davon haben Sie auch nicht gesprochen —, um diese Probleme zu lösen, ist ganz unbestreitbar der, daß wir weitere Bereiche öffentlicher Infrastruktur aus der öffentlichen Verwaltung in private Strukturen überführen wollen.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Zum Beispiel?)

— Zum Beispiel den Telekommunikationsbereich, z. B. die Bahnreform, z. B. auch die Privatisierung von Autobahnen. Das ist überhaupt keine Frage. Das Beispiel der Telekom bei der Modernisierung des Fernsprechnetzes in den neuen Bundesländern ist ein schlagender Beweis dafür, daß bei hohen Wachstumsraten in der Nachfrage öffentliche Anbieter, öffentliche Verwaltung nicht hinreichend effizient und flexibel sind, um einen rasch wachsenden Bedarf zu befriedigen. Deswegen ist der Privatisierungsansatz der richtige Ansatz, um mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Deswegen hoffe ich auf Ihre Unterstützung bei der Privatisierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben zuwenig von dem gesprochen, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zu Recht zentral in den Mittelpunkt unserer Sorgen und unseres Handelns gelenkt hat: Wir dürfen nicht immer mehr Modernität verweigern. Die Genehmigungsverfahren dauern zu lange. Das ist ein entscheidender Standortnachteil Deutschlands.
Die Gespräche über den Energiekonsens dürfen nicht zur reinen Ausstiegsveranstaltung werden, weil wir auch in Zukunft den Strom nicht allein aus der Steckdose beziehen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In der Gentechnik müssen wir die notwendigen Korrekturen einführen, damit Deutschland auch in



Dr. Wolfgang Schäuble
Zukunft ein Standort für moderne chemische und pharmazeutische Forschung bleiben kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Im übrigen: Wenn wir, was wir alle wollen, wo ich Sie bitten würde, Ihre Blockade aufzugeben, endlich ein Staatsziel Umweltschutz in unser Grundgesetz aufzunehmen — —

(Lachen bei der SPD) — Lachen Sie doch nicht!


(Wolfgang Thierse [SPD]: Das ist doch demagogisch! Wer hat denn nein gesagt?)

— Das ist doch nicht wahr!

(Wolfgang Thierse [SPD]: Das sind doch erpresserische Methoden!)

— Herr Thierse, da waren Sie noch gar nicht im Bundestag, da haben die Koalitionsfraktionen schon eine Initiative eingebracht. Ich will Ihnen doch den Unterschied erklären.

(Unruhe bei der SPD und Zurufe von der SPD: Unerhört! — Wolfgang Thierse [SPD]: Erpressung durch Herrn Rüttgers!)

— Also, Herr Präsident, vielleicht machen wir ein bißchen Pause. Wenn dann Ruhe eintritt, darf ich den Unterschied unserer Positionen erklären, weil ich um Ihre Zustimmung werbe.

(Peter W. Reuschenbach [SPD]: Machen Sie mal, aber machen Sie keine Denkpause!)

— Nein, nur Sie eine Schreipause, das würde schon reichen, Herr Kollege.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir alle wollen den Umweltschutz im Grundgesetz verankern. Aber wir, CDU/CSU und F.D.P., sind ganz davon überzeugt, daß der Auftrag sich an den Gesetzgeber richten muß, daß er klar bestimmt sein muß, weil ein nicht hinreichend konkretisierter Auftrag in der Staatszielbestimmung dazu führt, daß Sie keine vorher berechenbare Genehmigungsentscheidung mehr haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Damit schaffen Sie ein neues Investitionshindernis.
Deswegen sage ich: Lassen Sie uns das doch in einer vernünftigen Form miteinander besprechen! Dann werden wir ein Staatsziel Umweltschutz in die Verfassung aufnehmen, das nicht zu einem Investitionshindernis wird, sondern das dafür sorgt, daß die Interessen von Ökologie und Ökonomie vernünftig miteinander vereinbart werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie wollten nicht über außenpolitische Fragen reden, Sie sagen: Das machen wir demnächst, bei anderer Gelegenheit. Dann will ich es heute auch nicht tun, allerdings mit der einen Bemerkung: Vieles von den Beschwernissen, die wir haben, hat doch damit zu tun, daß die Menschen in unserem Lande spüren — übrigens überall in anderen europäischen Ländern auch, schauen Sie sich doch einmal die Entwicklung in Frankreich oder in anderen europäischen Ländern an, selbst in Nordamerika an —, daß sich mehr verändert, als wir in den zurückliegenden Jahrzehnten wachsenden Wohlstandes gewohnt waren. Deswegen macht es übrigens keinen Sinn, immer nur in der Verteidigung jeden Besitzstandes regungslos zu verharren. In einer Zeit solcher Veränderungen — innen- wie außenpolitisch — macht es keinen Sinn, nur immer in den alten, überholten Positionen und Schützengräben zu verharren.

(Zuruf von der SPD — Beifall bei der CDU/ CSU — Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen.
Weil sich aber mehr verändert, müssen wir auch in der Lage sein, zugleich in einer so unruhigen, von Ungewißheiten geprägten Zeit den Menschen mehr Sicherheit zu vermitteln. Herr Kollege Klose, in einer solchen Zeit die Bundesrepublik Deutschland aus den festen Verankerungen in der europäischen wie der atlantischen Integration herauslösen zu wollen, wäre nun wirklich unter gar keinen Umständen zu verantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich gehöre nicht der „Weltmacht SPD" an. Sie mögen eine Entscheidung des Weltsicherheitsrates für falsch oder richtig halten — sie ist noch gar nicht getroffen—, darüber kann man diskutieren. Ich denke nur, wenn eine solche Entscheidung getroffen wird und wenn dieses atlantische Bündnis gebeten sein sollte, eine solche Entscheidung zu vollziehen, dann sollten sich die Deutschen nicht aus der atlantischen Integration zurückziehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Dies wäre nicht im deutschen Friedens- und Sicherheitsinteresse.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Beifall bei der F.D.P.)

Wir haben es uns auch in der Koalition nicht einfach gemacht. Es ist ja auch nicht einfach, wer sagt denn das? Es wäre ganz einfach, wenn die Sozialdemokraten ihre Mitverantwortung übernehmen würden. Wir haben eine Initiative auf den Tisch gelegt, damit die Frage nicht in Karlsruhe entschieden werden muß, wie das Grundgesetz auszulegen ist. Zusammen mit Ihren Stimmen können wir durch eine verfassungsergänzende Klarstellung die Frage außer Streit stellen.

(Zuruf von der SPD)

— Ja, aber Ihr Ansatz löst das Problem nicht. Ihr Lösungsvorschlag bringt uns aus der europäischen und der atlantischen Integration heraus, und das ist nicht zu verantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Menschen haben diese Form von Streitereien satt.

(Zuruf von der SPD: Ja, Ihre Form!)

— Ich streite doch gar nicht. Ich bitte Sie doch ganz herzlich. Ich sage Ihnen doch unsere Position. Sie



Dr. Wolfgang Schäuble
können doch gar nicht widersprechen. Wenn wir Ihre Initiative zur Ergänzung des Grundgesetzes beschließen würden, dann müßten wir uns bei der Umsetzung des Beschlusses des Weltsicherheitsrates aus der atlantischen Integration zurückziehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!)

Das wissen Sie. Herr Klose, schütteln Sie nicht den Kopf. Sie wissen selbst, daß die Teilnahme der Soldaten der Bundesluftwaffe an den integrierten AWACSVerbänden bei der Annahme Ihrer Initiative zur Grundgesetzänderung nicht möglich wäre. Deshalb können wir das nicht verantworten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht verantwortbar, Wahnsinn! — Zuruf von der SPD)

— Das ist das, was ich sage. Ich sage, in einer Zeit, in der sich so aufregend viel verändert, in der die Menschen mehr Sicherheit und Stabilität brauchen und nicht weniger,

(Zuruf von der CDU/CSU: Menschenrechte!)

in der wir einen starken Rechtsstaat brauchen und nicht einen schwachen und mehr innere Sicherheit und nicht weniger, in einer solchen Zeit dürfen wir die Bindungen der Bundesrepublik Deutschland in der europäischen Verankerung und in der atlantischen Verankerung nicht lockern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dazu brauchen wir Ihre Mitwirkung. Wenn Sie nicht mitwirken, gibt es keinen anderen Weg, als die umstrittene Frage, wie das Grundgesetz auszulegen ist, in Karlsruhe klären zu lassen. Es ist der schlechtere Weg. Aber solange sich die Sozialdemokraten verweigern, ist es der einzig mögliche.

(V o r sitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Meine Damen und Herren, meine herzliche Bitte, weil Sie von der Bereitschaft, gesamtstaatliche Verantwortung zu tragen, gesprochen haben, weil Sie im Rahmen der Verhandlungen zum Solidarpakt gesamtstaatliche Verantwortung mit uns zusammen getragen haben: Tragen Sie sie auch bei der Wahrnehmung der außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland.
Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214901600
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1214901700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Auf der Pressekonferenz nach Abschluß der Klausurtagung im Bundeskanzleramt habe ich für die F.D.P. positiv gewürdigt, daß ein gemeinsames Ergebnis erreicht und damit Klarheit für die Wirtschaft erzielt wurde, daß der Bund/Länder-Finanzausgleich im Konsenswege zustande kam, daß erfolgversprechende Regelungen für den Wohnungsbau in Ostdeutschland festgelegt wurden, daß weitere Steuererhöhungen vor 1995 und die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe verhindert wurden, daß nun aber auch die Tarifvertragsparteien ihren Beitrag zum Solidarpakt leisten müssen.
Auch im Rückblick auf die zunehmend kritischere Diskussion der letzten zehn Tage habe ich von den zitierten Feststellungen nichts zurückzunehmen. Dreierlei ist aber hinzuzufügen.
Erstens. Es gibt kein Nachverhandeln, Herr Dreßler. Die psychologische Wirkung darf nicht zerredet, die praktische Durchführung darf nicht durch bürokratische Bedenkenträgerei verzögert oder verhindert werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Zweitens. Die Solidarpaktgespräche haben das ganze Ausmaß unserer finanzpolitischen Probleme deutlich gemacht: Nettokreditaufnahme, Staatsquote und Abgabenquote erreichen bisher in der Bundesrepublik ungeahnte Ausmaße und werden sie vor allem ab 1995 erreichen. Bei all dem, meine Damen und Herren, unterstellen wir, daß die Konjunktur spätestens im Laufe des Jahres 1994 wieder anspringt. Dies ist eine Einschätzung, dies ist keine gesicherte Erkenntnis. — Prinzip Hoffnung?
Drittens. Die neuen Bundesländer sind jetzt finanziell angemessen ausgestattet worden. Die F.D.P. begrüßt das. Wir halten das für richtig und notwendig. Die alten Bundesländer sind zu gut weggekommen. Die Kreditquoten — 6,2 % für die neuen Bundesländer, 2,1 % für die alten Bundesländer — sind Kennzeichen von Besitzstandswahrung, aber nicht von gesamtdeutscher Solidarität.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der Bund trägt die Hauptlast. Sein finanzpolitischer Handlungsspielraum nähert sich der Nullgrenze. Wird das gutgehen? Ich denke allein an ins Haus stehende internationale Verpflichtungen von Anforderungen der Dritten Welt über die Europäische Gemeinschaft bis zur Sicherung alter sowjetischer Kernkraftwerke.
1993 wird die Nettokreditaufnahme des Bundes wohl 60 bis 70 Milliarden DM — das hat Herr Klose genannt — betragen. So schätzen wir es heute. Was aber, wenn Beschäftigung und Steuereinnahmen stärker zurückgehen als erwartet? — Auch Prinzip Hoffnung?
Diese Überlegungen zeigen deutlich, was in der Klausurtagung zu kurz gekommen ist — Herr Schäuble hat es erwähnt: sowohl die Einsparungen bei den Subventionen für die Wirtschaft als auch die notwendigen, weil unvermeidlichen Einsparungen im Sozialbereich. Ich sage unvermeidlich, weil ich sicher bin, daß sie uns nicht erspart bleiben. Wir fürchten, daß beide großen Parteien so lange damit warten, bis wir nur noch auf Zwänge reagieren, bis wir Gestaltungsmöglichkeiten verloren haben. Warum muß die Politik eigentlich so oft nur noch hinterherhecheln?
Wir sagen ja zur Mißbrauchsbekämpfung, und zwar auf allen Gebieten. Aber das wird nicht reichen.



Dr. Otto Graf Lambsdorff •
Die Diskussion um das Abstandsgebot zwischen Lohn, Lohnersatz und Sozialhilfe während der Klausurtagungen war kennzeichnend. Den F.D.P.-Teilnehmern war klar — ich glaube, wir haben uns nicht getäuscht —, daß die Notwendigkeit von Korrekturen im Rund des NATO-Saals durchaus verstanden wurde. Aber es traut sich keiner. Statt dessen gab es den Wettlauf, wer als erster vor der nächstbesten Fernsehkamera verkünden konnte, er habe Einschnitte in das soziale Netz verhindert. Darin war Herr Schröder übrigens Meister. So schnell konnte kein anderer von Ihnen vor die Fernsehkameras spurten wie der Kollege Schröder.

(Joachim Poß [SPD]: Der war sogar noch schneller als Sie!)

— Er war noch schneller als ich. Er war zwar nicht an den entscheidenden Runden beteiligt, aber er hat über die Fernsehkameras den Eindruck vermittelt, er sei der eigentliche Macher der Konferenz gewesen. Respekt, meine Damen.

(Wolfgang Thierse [SPD]: Sie waren der eigentliche!)

Meine Damen und Herren, solcher Populismus läßt den leider nicht seltenen Zustand bestehen, daß Lohnersatzleistungen netto mehr einbringen als Lohn und daß deshalb keiner aus dem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt, der so gestellt ist, in den ersten Arbeitsmarkt zurückkehrt.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Ich sage: Wir werden es ändern. Wenn ich sage „wir", meine ich nicht etwa die F.D.P. — sie allein kann das nicht —, sondern uns alle. Wir alle werden es ändern. Wir kommen gar nicht daran vorbei. Geschieht es wieder einmal erst, wenn es eigentlich schon zu spät ist?
Den Weg über weitere Abgabenerhöhungen gibt es nun wirklich nicht mehr. Dies ist schon von Herrn Schäuble gesagt worden. Auch der Herr Bundeskanzler hat das erwähnt. Hier gilt der alte Satz, meine Damen und Herren: Bei einem Steuersatz von Null ist das Steueraufkommen Null, und bei einem Steuersatz von hundert ist das Steueraufkommen auch Null. Wir bewegen uns langsam in diese Richtung. Wir sind an der Steuerergiebigkeitsgrenze angelangt.
Der Bundeskanzler hat vorgestern in Hannover gesagt, wir müßten Besitzstands- und Verteilungsdenken überwinden. Sie haben es heute noch einmal wiederholt. Der Bundeskanzler hat in Hannover und hier ausgeführt, in den Köpfen müsse sich etwas ändern. Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Wir können nichts mehr verteilen. Im Gegenteil, die F.D.P. warnt davor, irgendwelche Zusagen mit Verfalldatum zu machen. Wer von uns, meine Damen und Herren, weiß denn, ob wir uns 1996 in Kraft tretende neue Leistungsgesetze überhaupt leisten können?
Herr Bundeskanzler, eine Bemerkung: Sie haben zur Pflegeversicherung gesprochen und gesagt: Sie darf und wird keine Mehrbelastungen für die Wirtschaft bringen. — Diese Lösung gibt es nicht. Das ist ausgeschlossen. Es gibt sie nicht.

(Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Wieso denn nicht?)

— Weil die gesamte Volkswirtschaft, verehrter Herr Kollege Blüm, selbstverständlich belastet wird. Egal, wen Sie im einzelnen belasten, die Volkswirtschaft belasten Sie.

(Zuruf von der SPD)

— Ich bin für Nachhilfeunterricht empfänglich, meine Damen und Herren, Sie aber leider nicht.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist das Problem!)

Sie bekommen doch ständig Nachilfeunterricht von Helmut Schmidt. Erst hat er es bei Ihrer Fraktion versucht, dann hat er in der „Zeit" geschrieben, jetzt ist er bei der „Bild"-Zeitung angelangt und versucht, Sie auf diese Weise zu erreichen. Es hilft auch nichts, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Sicherung der Realeinkommen ist auf einige Zeit nicht möglich. Aber ich frage noch einmal: Wenn wir vorübergehend auf das Einkommensniveau vom Ende der 80er Jahre zurückfielen, wäre das ein Unglück, wäre das Not und Elend in Deutschland? Übrigens teile ich auch in dieser Frage die Meinung von Helmut Schmidt. Er hat es genauso formuliert.
Wir müssen alles vermeiden, was noch mehr Arbeitsplätze gefährdet. Herr Klose, die Behauptung, jemand, der dieses Thema nicht ständig wie eine Fahne vor sich her trage und ständig erwähne, nehme die Arbeitslosigkeit nicht ernst — Sie haben den Bundeswirtschaftsminister angesprochen —, finde ich ungerecht und unfair. Unser ganzes Bemühen — das bestätige ich allen Beteiligten an der Klausurtagung — ging dahin, als Endziel dieser Veranstaltung die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu bekämpfen und zu verringern. Das ist wahr.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Sehr gut!)

Aber wir müssen das vermeiden, was zu noch mehr Arbeitslosigkeit führt. Ein Streik in Ostdeutschland für 26 % mehr Lohn? — Sollen die Betriebe mit Gewalt umgebracht werden? Sollen so die industriellen Kerne erhalten werden? Ich weiß, daß es Unternehmen gibt, die nur auf einen vorzeigbaren Grund warten, um definitiv zu schließen. Soll denen ein Streik die Argumente frei Haus liefern? Meine Damen und Herren, ich kann mich nicht erinnern, jemals ein so frivoles Spiel mit Arbeitsplätzen erlebt zu haben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Peter W. Reuschenbach [SPD]: Wenn man Tarifverträge bricht, darf man sich nicht wundern, wenn zurückgeschlagen wird!)

Meine Damen und Herren, alles, was wir heute diskutieren, betrift den Standort Deutschland. Bisher haben wir gesagt: Andere haben in dem Wettbewerb aufgeholt. Sie sind besser geworden. Aber Deutschland ist als Investitionsland nicht schlechter geworden. — Stimmt das eigentlich noch, oder bedeutet die Bewältigung der kommunistischen Mißwirtschaft eine nicht nur relative, sondern auch absolute Verschlechterung unserer Situation — ohne daß ich daraus jemandem Vorwürfe machen wollte, außer den Kommunisten, die die Mißwirtschaft hergerichtet haben, und ihren Nachfolgern?

Dr. Otto Graf Lambsdorff
Wahrscheinlich ist diese Frage müßig. Aber keineswegs müßig ist es, unsere Anstrengungen zu intensivieren, uns auf unsere Stärken zu besinnen und unsere Schwächen zu bekämpfen, wie es der Bundeskanzler heute vorgeschlagen hat.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Unsere Schwächen, meine Damen und Herren, sollten wir wirklich bekämpfen, denn dies brauchen wir nicht: überlange Genehmigungsverfahren, neue arbeitsrechtliche Hemmnisse, unflexible Arbeitsmärkte, Überregulierung, weitere teure Sozialleistungen.
Ich stimme ausdrücklich zu, Herr Bundeskanzler, was Sie zu den langen Ausbildungszeiten gesagt haben. Aber das war eine merkwürdige Diskussion heute. Ich kenne das bildungspolitische Idealziel der GRÜNEN. Das ist der unmittelbare Anschluß vom BAföG an den Vorruhestand.

(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

Nunmehr, meine Damen und Herren, höre ich, daß es auch ein anderes bildungspolitisches Ziel gibt, das ist der Studienabbrecher. Das konnte man bei Herrn Klose beinahe so heraushören. Denken Sie eigentlich daran, meine Damen und Herren, daß die bildungspolitische Finanzierung — Sie haben die finanziellen Überlegungen kritisiert und bei dem hehren Ziel Bildungspolitik geradezu für unangemessen gehalten — von den Groschen der Steuerzahler, die Sie hier auch vertreten, getragen wird? Diese aber sehen es nicht so gern, wenn die Leute an den Universitäten sitzen, nicht einmal einen Abschluß schaffen und auch gar nicht darauf hinarbeiten, sondern nach einigen bequemen Jahren auf Steuerzahlers Kosten, wie Sie sagen, erfolgreiche Berufseinsteiger sind.
Unsere Stärken, meine Damen und Herren, waren und sind: eine gut strukturierte Wirtschaft in Westdeutschland, gut augebildete Arbeitnehmer, unternehmende Unternehmer, stabiles Geld, sozialer Friede — völlig richtig, das hat Herr Klose erwähnt — und Einsicht in das wirtschaftlich Machbare. Diese Stärken müssen wir nutzen.
Dazu brauchen wir im übrigen das Standortsicherungsgesetz — das hätten wir in der Klausurtagung besser auch gleich bestätigt —, trotz der unbefriedigenden Finanzierung für die Absenkung der Spitzensteuersätze. Dazu brauchen wir Subventionsabbau und Deregulierung. Dazu brauchen wir moderate Tarifabschlüsse wie im öffentlichen Dienst oder in der Ostdeutschen Chemie, und zwar für mehrere Jahre. Daß in der Chemieindustrie mit 9 % dieselbe Belastung erzielt worden sein soll wie mit 26 % bei der Stahlindustrie, meine Damen und Herren, das glauben Sie selber nicht.

(Peter W. Reuschenbach [SPD]: Das ist doch nachrechenbar!)

Sie müssen endlich einsehen, daß wir flexiblere und den Regionen und den Branchen und der Ertragskraft von Unternehmen angepaßte Tarifverträge brauchen.
Warum sollen Dienstleistungsunternehmen in Ostdeutschland nicht so bezahlen, wie sie auch Produktivität erzeugen und wie sie verdienen, eben anders als ein Metallunternehmen, das das nicht schaffen kann?

(Beifall bei der F.D.P.)

Aber das scheitert an Ihnen und an einigen Vertretern der Gewerkschaften.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Was haben wir denn mit den Tarifvereinbarungen zu tun? Das ist doch wirklich Quatsch!)

Sie unterstützen das doch fortgesetzt, Herr Klose.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Ich denke, Sie sind auch für Tarifautonomie!)

Meine Damen und Herren, zu dieser Entwicklung brauchen wir endlich den Kompromiß betreffend den Stromvertrag in Ostdeutschland. Das schafft Arbeitsplätze. Wir brauchen die Postreform für mehr Arbeitsplätze in der Telekommunikation. Sie und Ihre Kollegen bremsen mit der Verhinderung der Postreform, Herr Klose, Arbeitsplätze, die in diesem Bereich entstehen können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir brauchen die Privatisierung von Teilen staatlicher Infrastrukturleistungen, weil wir sie aus öffentlichen Geldern nicht finanzieren können, privates Kapital aber durchaus mobilisiert werden kann.
Meine Damen und Herren, zur Standortpflege gehören auch offene Märkte nach außen. Die weltweite Arbeitsteilung stellt Vorteile im Wettbewerb ständig in Frage. Das treibt den strukturellen Wandel. Aber dieser Wandel wird in der realen Welt durch Subvention und Protektion oft genug verfälscht. Kurzfristig bringt das für die vermeintlich Geschützten Vorteile, aber der Verzicht auf Anpassung zahlt sich über die Zeit nicht aus.
Wer sich dem Strukturwandel verweigert, der verliert. Die Problembereiche der deutschen Wirtschaft — auch hier im Westen — stehen für diese These genauso wie der totale Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaften.
Das GATT steht für ein System des offenen Welthandels. Es hat maßgeblich dazu beigetragen, daß der Westen im Vergleich zum Osten ein so hohes Wohlstandsniveau erreichen konnte. Daran knüpft sich notwendig die Forderung nach einem raschen Abschluß der ohnehin längst überfälligen GATT-Runde. Das ist ein trübes Kapitel.
Man kann nur hoffen, daß sich in dem Handelskonflikt zwischen den USA und der EG wieder die Vernunft durchsetzt.
Herr Bundeskanzler, Sie fahren in diesen Tagen — morgen oder heute noch — nach Washington. Bitte sagen Sie dem amerikanischen Präsidenten Clinton, daß Ihre Regierung zum freien Welthandel und zum GATT steht und daß wir keine Handelskriege, sondern Zusammenarbeit wollen und brauchen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wenn Sie in Washington im Weißen Haus sind, Herr Bundeskanzler — ich will hier nicht angeben, aber doch anmerken, vor drei Wochen habe ich an derselben Stelle, nicht beim Präsidenten, aber bei seinem



Dr. Otto Graf Lambsdorff
Sicherheitsberater, genau diese Diskussion geführt —, dann ist doch völlig klar, daß Sie auf die Bereitschaft der Bundesrepublik angesprochen werden, sich an Out-of-area-Einsätzen, die im Weltsicherheitsrat durch die Vereinten Nationen beschlossen werden sollen, zu beteiligen.
Herr Klose, ich bin mit Ihnen einig, daß man darüber nachdenken kann, ob es sinnvoll ist, über Jugoslawien Flugzeuge abzuschießen, während unten UNO-Truppen stehen. Aber das ist eine Entscheidung der Vereinten Nationen, doch nicht eine Entscheidung der Bundesregierung.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Nein, wir sind bei jeder einzelnen Entscheidung der Vereinten Nationen frei, ob wir mitmachen oder nicht! Reden Sie nicht dauernd an den Sachverhalten vorbei!)

Aber hier geht es ja um eine andere Frage. Hier geht es um eine Frage, die Sie angesprochen haben. Die Freie Demokratische Partei ist seit Mai 1991 — wir waren die ersten, die damals einen Beschluß gefaßt haben — der Meinung, daß die Bundeswehr an Einsätzen der Vereinten Nationen außerhalb des NATO-Gebietes teilnehmen müsse — unter bestimmten Vorkehrungen. Deswegen haben wir vorgeschlagen, die Verfassung zu ändern -- weil wir Zweifel haben, ob uns die derzeitige Verfassungslage das erlaubt.
Eine solche Verfassungsänderung haben wir gemeinsam mit dem Koalitionspartner im Bundestag eingebracht. Aber dazu brauchen wir bekanntlich die Zweidrittelmehrheit. Die Sozialdemokraten, Sie, Herr Klose, blockieren diese Zweidrittelmehrheit. Sie machen die Bundesrepublik Deutschland international handlungsunfähig. Wir sind nicht bereit, das hinzunehmen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir wollen diese Einsätze, aber nur dann, wenn die Verfassung es erlaubt. Deswegen müssen wir einen Weg finden, wie wir diese Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht vornehmen lassen, um dann in der Lage zu sein, so zu handeln, wie es die Völkergemeinschaft von uns erwartet.
Ich fordere, meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten auf: Entweder gehen Sie mit der F.D.P. nach Karlsruhe, klagen dort, und dann lassen wir gemeinsam feststellen, was das Bundesverfassungsgericht sagt, oder — viel besser — ändern Sie die Verfassung so, daß Deutschland seiner internationalen Verantwortung endlich gerecht werden kann. Wir lassen uns nicht zum Gespött der Welt machen, weil Sie uns blockieren.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, mit der Einigung über das Föderale Konsolidierungsprogramm hat die Politik einen wichtigen Beitrag zum Gelingen des Solidar-paktes geleistet.
Jetzt, da sich im Westen unseres Landes die Dinge offenbar besser entwickeln und auch die Tarifpartner in den neuen Bundesländern den Weg zur Vernunft finden, ist eine gute Basis dafür gelegt, daß es wieder aufwärts gehen kann in unserer Wirtschaft, daß der Aufschwung Ost endlich an Kraft gewinnt.
Jetzt müssen die Weichen dafür gestellt werden, daß die deutsche Wirtschaft ihre Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit verbessert und Deutschland ein attraktiver Standort bleibt.
Für die Politik ist dies vor allem eine ordnungspolitische Aufgabe. Für die Wirtschaft bedeutet dies Kostenkontrolle, Bewahrung der Flexibilität und Bereitschaft zum strukturellen Wandel in offenen Märkten.
Das ist der Weg des Erfolges. Die Geschichte der Wirtschaft im Westen unseres Landes stellt dies ebenso unter Beweis wie die hoffnungslose Unterlegenheit jedeweder staatlichen Interventions- oder Planwirtschaft. Wir werden unseren erfolgreichen Weg weitergehen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214901800
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Dietmar Keller das Wort.

Dr. Dietmar Keller (PDS/LL):
Rede ID: ID1214901900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Monaten wird über den Solidarpakt für den Osten gestritten, und ebensolange wird mit diesem Begriff Schindluder getrieben und Parteipolitik betrieben. Denn Solidarität wird letztendlich nicht von denen verlangt, die am Anschlußprozeß verdient haben, oder von jenen, die seit Jahren Spitzengehälter kassieren. Der sogenannte Solidarpakt hat vorrangig die Niedrigeinkommen im Visier und zielt auf eine neue Welle des Sozialabbaus.
Das wahre Desaster, in dem die Bundesregierung steckt, wird damit verschleiert. Die Bundesrepublik steckt in einer wirtschaftlichen Krise. Die Kassen der öffentlichen Haushalte sind leer, und die verfehlte Anschlußpolitik der Bundesregierung ist daraus kaum mehr zu finanzieren.
Ja, Herr Bundeskanzler, ich stimme Ihnen zu: Umdenken ist nötig. Ich denke mir aber, es wäre für die Bundesrepublik Deutschland gut, wenn Sie ein gutes Beispiel gäben und damit anfingen. Es ist mir völlig unerklärlich, das man zehn Minuten über Bildungs- und Hochschulpolitik und dabei ausschließlich über Studiendauer spricht. Es geht um neue Bildungskonzepte. Es geht um Ausbildungskonzepte. Es geht um ein Bildungskonzept, das den Anforderungen des nächsten Jahrhunderts gerecht wird. Nur von dort aus sind Ausbildungsdauer und Studienzeiten konkret zu bestimmen.
Die gegenwärtige Situation ist auch auf den verfehlten Anschlußkurs der Bundesregierung und besonders auf ihre seit zehn Jahren praktizierte Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückzuführen. Strukturprobleme in Industrie und Landwirtschaft wurden nicht gelöst, ein gegen die Umwelterfordernisse gerichtetes Verkehrssystem ausgebaut, der Wohnungsbau vernachlässigt, ein uneffektives Gesundheitssystem verf e-stigt. Es hat eine Umverteilung großen Ausmaßes von unten nach oben stattgefunden. Angesichts der welt-



Dr. Dietmar Keller
wirtschaftlichen Rezession brechen wegen dieser ungelösten Probleme ökonomische, soziale und finanzielle Konflikte verschärft aus.
Nein, meine Damen und Herren, der sogenannte Solidarpakt löst nicht die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die in der Bundesrepublik Deutschland anstehen. Er wird sie verschärfen. Er stellt eine Bankrotterklärung dar. Von den für 1993 vorgesehenen Einsparungen von 1,1 Milliarden DM gehen allein 674 Millionen DM zu Lasten staatlicher Sozialleistungen. Auch 1994 soll bei den Sozialleistungen um über 2 Milliarden DM gekürzt werden. Bis 1996 sollen für die Bundesanstalt für Arbeit mindestens 6 Milliarden DM weniger ausgegeben werden. Das bedeutet entweder einen weiteren drastischen Leistungsabbau oder noch weniger ABM und andere beschäftigungspolitische Maßnahmen.
Die Bundesregierung weist zwar stets darauf hin, daß zur finanziellen Ausgewogenheit auch ein Abbau von Steuervergünstigungen und Subventionen vorgesehen sei. Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß nur über Kürzungen in Höhe von 5 Milliarden DM Einvernehmen erzielt werden konnte. Wir mißbilligen auch die bekundete Absicht, die Sozialhilfe für Asylbewerber und -bewerberinnen so drastisch zu kürzen und vor allem überwiegend in Sachleistungen auszuzahlen.
Nicht nur die PDS/Linke Liste kritisiert, daß eine Reihe wichtiger Fragen im Solidarpakt unbeantwortet geblieben sind oder ergebnislos an Arbeitsgruppen delegiert wurden.
Erstens. Über den bis 1996 durch Subventionskürzungen und Einsparungen zu erbringenden Einsparbetrag des Bundes in Höhe von 9 Milliarden DM ist kein Einvernehmen erzielt worden.
Zweitens. Die Bahnreform wurde ausgeklammert.
Drittens. Die Frage, ob der Schienenpersonennahverkehr und der öffentliche Personennahverkehr durch die Länder übernommen werden soll, wurde nicht abschließend beantwortet.
Viertens. Die von der Bundesregierung, den Koalitionsfraktionen und der SPD angestrebte aufkommensneutrale Reform der Unternehmensbesteuerung ist nicht in Sicht.
Fünftens. Ein Wohnungsbauprogramm für die alten Bundesländer wurde offenbar nicht einmal für diskussionswürdig befunden.
Sechstens. Als Folge der Verhandlungen über den Solidarpakt wird inzwischen sogar von Regierungsseite bezweifelt, daß in den alten Bundesländern der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab 1996 realisierbar ist.
Siebtens. Für die angekündigte Erarbeitung gesenkter Standards bei den Klärwerken durch Wegfall der dritten Reinigungsstufe und bei der Technischen Anleitung Siedlungsabfall fehlen Rahmendaten.
Achtens. Die als Überprüfungen angekündigten Überlegungen, Standards bei öffentlichen Einrichtungen, z. B. beim Wohnungs- und Straßenbau und bei Kindergärten, ebenfalls zu senken, werden offenbar dem freien Spiel der Kräfte in künftigen Beratungsrunden überlassen.
Neuntens. Der angekündigte Verzicht auf die Forderung nach Straßenrückbau, der die Umweltstandards auf das Niveau der fünfziger Jahre zurückschrauben wird, ist ohne jede Präzisierung geblieben.
Zehntens. Unternehmer, die Banken, das Handwerk oder die Deutsche Bundesbank werden auch weiterhin am Solidarpakt nicht beteiligt werden.
Elftens. Wir halten es für einen Fehler, daß dem Konsolidierungsprogramm keine Gesamtübersicht über die Lage der öffentlichen Schulden, der Haushalte und der öffentlichen Kassen zugrunde liegt. Die Bundesregierung geht derzeit von einer Neuverschuldung bis zum Jahresende von rund 55 Milliarden DM aus. Wir rechnen mit mindestens 70 Milliarden DM.
Zwölftens. Dem ab 1. Januar 1995 wieder zu entrichtenden Solidaritätszuschlag auf die Lohn- und Einkommensteuer von 7,5 %, als dessen Ergebnis dem Bund jährlich mindestens 28 Milliarden DM zur Verfügung stehen würden, fehlt eine soziale Komponente. Das Konsolidierungsprogramm zementiert die ungleiche Lastenverteilung vor allem dadurch, daß auf die Einführung einer Ergänzungsabgabe verzichtet werden soll und daß Beamte, Selbständige und Freiberufler auch in Zukunft zur Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik keinen Beitrag leisten müssen.
Wir treten für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik ein, die den Einstieg in eine generelle wirtschafts- und sozialpolitische Wende sichert und eine Alternative zum Solidarpakt bildet; denn die Probleme resultieren aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen, die durch die herrschende Politik verfestigt und durch die gegenwärtige weltwirtschaftliche Krise zugespitzt werden. Die ökonomische Talfahrt kann nur gestoppt werden, wenn weitere Kürzungen bei den Sozialleistungen und die Senkung des Reallohns verhindert werden sowie vor allem in Ostdeutschland ein neues, innovatives und auf die Umwelterfordernisse ausgerichtetes Wirtschaftspotential gefördert wird.
Wir haben dem Deutschen Bundestag einen Entschließungsantrag unterbreitet und fordern darin eine aktive Industrie- und Strukturpolitik in den Ländern und Regionen. Wir fordern eine Politik, die eine generelle Veränderung im gesellschaftlichen System der Arbeitsteilung anstrebt, um das Recht auf Arbeit auch wirklich durchzusetzen. Wir fordern eine Beschäftigungspolitik, die die vorhandenen Arbeitsmarktinstrumente wirksam nutzt, weiter ausbaut und um neue ergänzt. Wir fordern eine Politik, die den ökologischen Umbau endlich ernst nimmt, eine Politik, die öffentliche Investitionsprogramme für Wohnungsbau, Infrastruktur und Umweltsanierung realisiert. Wir fordern eine Umkehr in der Sozialpolitik, die endlich den Einstieg in die soziale Grundsicherung ermöglicht.
Die wirksamere Nutzung der Arbeitsmarktinstrumente muß mit der Schaffung perspektivischer Dauerarbeitsplätze durch eine aktive regionale Struktur-



Dr. Dietmar Keller
und Beschäftigungspolitik verbunden werden. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die öffentliche Finanzierung dringend notwendiger regulärer Arbeitsplätze in den Bereichen humaner Dienstleistungen und Umweltsanierung.
Bis 1994/95 wird infolge des Anschlusses Ostdeutschlands ein zusätzlicher Schuldenberg von wenigstens 450 Milliarden DM anfallen. Zwei Drittel dieser Schulden sind Resultat der Zerstörung des Wirtschaftspotentials und der massenhaften Vernichtung von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland infolge des Crashkurses der Bundesregierung. Zur Finanzierung dieses Lastenausgleichs bieten sich aus unserer Sicht insbesondere an: die Bekämpfung des Betrugs bei der Zinsbesteuerung, eine höhere Besteuerung des Vermögens an Immobilien auf Basis des Verkehrswertes unter Berücksichtigung sozialer Mindestgrenzen, die Erhöhung der Erbschaftsteuer unter Beibehaltung der gegenwärtigen Freibeträge.
Zur Finanzierung dieser Vorschläge für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik schlagen wir —und das nicht erst seit kurzem — vor, den Verteidigungshaushalt drastisch zu kürzen, die Bezüge der Spitzenbeamten im öffentlichen Dienst zu kürzen, keine Extrapensionen für Staatsbeamte vor dem Rentenalter zu zahlen sowie das Ehegattensplitting zu einer wirksamen Förderung von kinderreichen und einkommensschwachen Familien umzubauen, die die Freibeträge übersteigenden Zinseinkünfte progressiv und wirksamer zu besteuern, das Vermögen an Immobilien auf der Grundlage ihrer Neubewertung zum tatsächlichen Verkehrswert höher zu besteuern, die Erbschaftsteuer unter Beibehaltung der gegenwärtigen Freibeträge zu erhöhen, Banken und Versicherungen eine Zwangsanleihe in Höhe von mindestens 1,5 % der Bruttowertschöpfung abzufordern, die 1993 wirksam gewordene Senkung der Vermögen- und Gewerbesteuer zurückzunehmen

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ja schlimmer als Honecker, was Sie da vortragen! Das ist ja Wirtschaftsstalinismus!)

sowie auf die im Standortsicherungsgesetz vorgesehene Nettosteuersenkung für Unternehmen zu verzichten und von westdeutschen Unternehmen für mindestens fünf Jahre eine Investitionshilfeabgabe in Höhe von 10 % zu verlangen, wobei in die Bernessungsgrundlage der Jahresüberschuß der Steuern sowie 2 bis 4 % der Umsätze einfließen sollten.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sie haben noch immer nichts gelernt! Es ist wirklich traurig! — Michael Glos [CDU/CSU]: Wirtschaftsstalinismus!)

Wir fordern darüber hinaus eine wirksamere Bekämpfung der Steuerhinterziehung und der Wirtschaftskriminalität, den Einstieg in eine ökologische Steuerreform an Stelle der Regierungsvorschläge zur Einführung einer Autobahngebühr, die Einführung einer Ergänzungsabgabe für Höherverdienende und die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für Minister, Abgeordnete, Selbständige und Beamte.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214902000
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1214902100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich hatte ich erwartet, heute vom Herrn Bundeskanzler etwas darüber zu erfahren, wie der Solidarpakt den Wirtschaftsstandort Deutschland sichert. Doch dazu war kaum etwas zu hören; dazu steht aber auch nichts in diesem Paket. Dafür ein Reisebericht und ein Kanzler, der sich genüßlich von außen betrachtet und eine erstaunliche Bilanz vorlegt, was in seiner Amtsperiode alles nicht geleistet worden ist, was liegengeblieben ist, was ungelöst blieb, was er gar nicht erkannt hat.
Es war in zehn Jahren doch genügend Zeit, diese Dinge in Angriff zu nehmen. Daß er das nicht getan hat, daß genau diese Chance bei der deutschen Vereinigung verspielt wurde, werfen wir ihm vor.
Aber offensichtlich hat sich der Kanzler vorgenommen, jetzt auch noch die Oppositionsrolle selbst zu übernehmen und auszufüllen. Was heißt denn nüchterne Bestandsaufnahme, Ideen für die Zukunft vorlegen, alle gesellschaftlichen Kräfte einbinden? Diese Möglichkeiten waren da und sind vertan worden. Für mich gehört die Borniertheit der politischen Klasse gegenüber den anstehenden Problemen, die geringe Kraft zur gesellschaftlichen Konsensbildung zur nüchternen Bestandsaufnahme als Neu-Bundesbürger, wenn Sie so wollen, eigentlich zu dem Enttäuschenden.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: Jammern allein genügt nicht!)

— Nein, ich werde Ihnen das auch etwas konkreter sagen. Endlich, unter Erfolgsdruck und eitlem Sonnenschein einer Klausur, ist das Kuckucksei ausgebrütet, das uns die Regierung Kohl in das gesamtdeutsche Nest gelegt hat. Doch den Namen eines Solidarpakts hat es wahrlich nicht verdient. Von Solidarität ist hier wenig zu spüren. Die Politik der wohlklingenden Namen und dürftigen Inhalte, ein Markenzeichen der Regierung der geistig-moralischen Wende hat nun die sozialdemokratische Opposition eingebunden.
Dieser vermeintliche Solidarpakt, meine Damen und Herren, ist nichts anderes als ein Steuer- und Schuldenpakt auf Kosten der Bürger der ostdeutschen Länder und künftiger Generationen. Er bietet uns nach dem sogenannten Asylkompromiß ein zweites Exempel der „Cohabitation allemande", der informellen Großen Koalition zwischen Regierung und SPDFraktion. Die Verhandlungen um diesen Pakt zeigen uns, wie man sich eine Große Koalition vorstellen muß: kraft- und visionslos. Sie trauen weder sich noch Ihren Wählern etwas zu. Dieser Pakt löst nicht die Probleme, sondern vertagt sie, blendet sie aus oder schiebt sie zwischen den politischen Ebenen hin und her. Gewiß, der Länderfinanzausgleich hat Konturen bekommen. Doch dazu waren Bund und Lander nach dem Einigungsvertrag ohnehin verpflichtet. Diese Solidarität ist im Grundgesetz verankert. Daß sie vertagt wurde, war das Erstaunliche.



Werner Schulz (Berlin)

Ursprungsthema der Regierung war doch der Erhalt des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Dazu liefert dieser Pakt allerdings keinen Beitrag.
Nur eines ist sicher: Nach der nächsten Bundestagswahl steigen die Steuern. Alles andere bleibt vage. Selbst die Bestandsaufnahme ist nicht exakt. Es gibt doch nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland, Herr Klose. Wir haben doch bereits zwei Standorte in Deutschland: einen gefährdeten in Westdeutschland und einen Wirtschaftstandort in Ostdeutschland, der völlig weggebrochen ist. In diesen Fragen sind wir uns ja einig. Wir haben am Anfang immer die Sanierung der ostdeutschen Betriebe gefordert. Da, wo es noch möglich war, hat diese Regierung dieses Problem ignoriert, hat es abgelehnt. Was heißt denn jetzt die industriellen Kerne retten? Wieviel sind davon überhaupt noch zu retten? Momentan sind die Kerne im Westen bedroht. Das ist doch die Frage. Das ist das Problem. Niemand spricht mehr von der modernen Zukunft im Osten Deutschlands, von der innovationsträchtigen Industrie. Das sind Schlagworte, die offenbar verbraucht sind.
Für eines muß man die Bundesregierung loben. Taktisch betrachtet war sie erfolgreich. Erneut hat sie sich über die Zeit gerettet und darüber hinaus auch noch die SPD-Opposition an ihre Seite gezwungen, die sich damit offenbar endgültig von ihrer Oppositionsrolle verabschieden will.

(Zuruf von der SPD: Dummes Zeug)

Eine Alternative zum Kurs der Bundesregierung ist jedenfalls nicht mehr erkennbar. Es herrscht eine neue Solidarität. Die Solidarität der Wahlverlierer, der Volksparteien, deren Volk langsam die Nase voll hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Leidtragenden sind die Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland. Bezeichnend waren die öffentlichen Reaktionen auf die Verhandlungsergebnisse. Zunächst wurde positiv bewertet, daß überhaupt ein Ergebnis zustande gekommen ist. Damit hatte offenbar niemand mehr gerechnet. Bei näherer Betrachtung wird jedoch schnell klar, wie die Einigung erzielt wurde. Der Solidarpakt ist ein Pakt auf Kosten Dritter. Durchgängiger Kommentar der Wochenzeitschriften — die hatten etwas länger Zeit zum Überlegen —: Chance vertan, vermutlich die letzte Chance der Regierung Kohl vor der Wahl. Sie hat es erneut verpaßt, die Gestaltung der inneren Einheit zur Sache der Bürger zu machen.
Merkwürdig ist das Verfahren, mit dem dieser Pakt geschlossen wurde. Erst letzte Woche wurden der Nachtragshaushalt und das Begleitgesetz zum Föderalen Konsolidierungsprogramm eingebracht. Noch bevor dieses Paket die Ausschüsse erreicht hat, ist es in einer Runde verändert worden, die in der Verfassung überhaupt nicht vorkommt, schon gar nicht dafür vorgesehen ist. Diese Art der Gesetzgebung habe ich noch nicht einmal zu Volkskammerzeiten, die weitaus stürmischer verlaufen sind, erlebt. Offenbar wird das parlamentarische System gegen eine Kanzlerdemokratie mit Länderchefumrahmung ausgetauscht. Wen wundert es da, daß sich selbst bei den Abgeordneten langsam Politikverdrossenheit breitmacht.
Wir sind mit diesem Pakt nicht einverstanden. Wir lassen uns nicht in eine solche Politik einbinden. Ich will Ihnen auch gerne verraten, warum.
Erstens. Der Solidarpakt geht zu Lasten künftiger Generationen. Der Schuldenberg, den die Bundesregierung angehäuft hat, wird weiterhin dramatisch ansteigen. Allein die Zahlen des Föderalen Konsolidierungskonzeptes weisen für 1995 einen Fehlbetrag von fast 20 Milliarden DM aus. Darin sind jedoch eine Reihe von Risiken unterschätzt. Die großen Schuldenposten: Treuhandanstalt, ostdeutsche Wohnungswirtschaft, Kreditabwicklungsfonds werden sehr zurückhaltend eingeschätzt. Der nach 1995 einzurichtende Erblastfonds wird deutlich höhere Schulden umfassen als die jetzt veranschlagten 400 Milliarden. Hinzu kommen die konjunkturellen Etatrisiken bei der Bundesanstalt für Arbeit und bei den Steuereinnahmen. Über den schon geplanten Anstieg der Verschuldung hinaus zeichnet sich eine weitere Schuldenexplosion im öffentlichen Sektor ab. Ein Wechsel auf die Zukunft könnte man sagen, wenn nicht die Zukunft der drückend hohen Zinslasten in den öffentlichen Haushalten schon begonnen hätte.
Zweitens. Zu einem Programm vernünftiger Einsparungen hat es bei den Verhandlungen im Kanzleramt dagegen nicht gereicht. Von den 9 Milliarden DM ohnehin zu niedrig angesetzten Sparmaßnahmen sind bisher nur 3,9 Milliarden DM fest vereinbart worden. Was bei den Verhandlungen über den Rest herauskommt, ist angesichts bisheriger Erfahrungen mit dem Subventionsabbau mehr als zweifelhaft. Damit sind auch die Vereinbarungen über die Umsatzsteuer mit einem Fragezeichen versehen.
Drittens. Der Pakt zwischen SPD und Bundesregierung beendet die soziale Schieflage nicht. Zwar sind die Pläne für den schlimmsten Sozialabbau zunächst einmal vorläufig vom Tisch, doch trotzdem sind immer noch erhebliche Kürzungen bei den Sozialleistungen geplant. So führt die Deckung der Sozialhilferegelsätze zu empfindlichen und nachhaltigen Einschnitten. Ohne Inflationsausgleich wird aber das Bedarfsprinzip nach und nach ausgehöhlt. Das Existenzminimum darf jedoch nicht zur Disposition einer Runde betuchter Politiker stehen. Die Sicherung einer menschenwürdigen Lebensführung ist ein unverzichtbarer Grundpfeiler des sozialen Rechtsstaates.
Auch die schon bestehende Ungerechtigkeit in der Finanzierung der Einheit wird fortgeschrieben. Die Beitragszahler der Sozialversicherung müssen weiterhin einen großen Teil der Transfers in die neuen Bundesländer allein finanzieren. Der Solidarpakt ändert daran nichts. Die Lohneinkommen werden weiterhin über Gebühr in Anspruch genommen. Ein Trost, daß wenigstens die Familie Krause in Börgerende mit großherzigen Rückzahlungen an das Arbeitsamt ihren persönlichen Beitrag zur Entlastung der Arbeitslosenversicherung leistet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Jeden Tag eine gute Tat, und es geht aufwärts mit Deutschland und der CDU.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)




Werner Schulz (Berlin)

Viertens. Die Finanzlasten der deutschen Einheit sind nach wie vor nicht gerecht zwischen Bund und Ländern verteilt. Die alten Bundesländer haben ihre Verhandlungsmacht ausgespielt und sich erneut der Verantwortung entzogen. Sie werden, wenn die öffentlichen Zahlen zutreffend sind, im Jahre 1995 nur etwa 2 Milliarden DM zusätzlich zu tragen haben. Für die Finanzausstattung der neuen Länder reichen die vereinbarten Finanzmittel von 55 Milliarden nicht aus. Die Ministerpräsidenten hatten in Potsdam den , zusätzlichen Finanzbedarf der Ostländer mit 60 Milliarden plux x beziffert. Nach Auffassung der Ostländer war x bis dahin, vor wenigen Tagen, gleich 18. Die Kanzlerrunde kam auf x gleich minus 5. Was mag nur zu der wundersamen Bedarfssenkung um 23 Milliarden binnen weniger Tage geführt haben? Wie lange wird sie vorhalten?
Wenn es dabei bleibt, wird die Sparsamkeit am falschen Platz auf Kosten der so dringend notwendigen öffentlichen Investitionen in den neuen Bundesländern gehen oder sie führt dort zu einer rasanten Neuverschuldung.
Fünftens. Der Pakt auf Kosten Dritter ist ökologisch blind. Auf der ökologischen Habenseite bleibt nur die Ausweitung des Kreditrahmens der Treuhand zur Sanierung ökologischer Altlasten. An der Absichtserklärung, was sie wert ist, sehen wir daran, wie CDU/CSU das Staatsziel Umweltschutz behandeln. Was uns Herr Schäuble dazu hier ausgeführt hat, war ein Glanzstück, was er beherrscht, zum Thema verkehrte Welt. Allen ist doch mittlerweile aufgefallen, daß die verantwortlichen Politiker — Sie hören aufmerksam zu — von CDU und CSU offensichtlich lieber in Privatflugzeuge, Test- und Gratiswagen einsteigen als in eine verantwortliche Diskussion über unsere Zukunft, über den Zustand unserer Umwelt. — Doch, da können Sie den Kopf schütteln, wie Sie wollen, Herr Schäuble. Darüber sollten wir uns einmal etwas genauer austauschen.
Da mag auch Oskar Lafontaine im Bundestag, soviel er will, von der Notwendigkeit des ökologischen Umbaus reden, wenn es zum Schwur kommt, bleibt die Umwelt auf der Strecke. Kein Einstieg in die Ökosteuerreform, keine Erhöhung der Mineralölsteuer! Eigenartig! Erst gestern konnte man in der „Frankfurter Rundschau" lesen, das Wirtschaftsministerium halte einen ökologischen Umbau des Steuersystems u. a. wegen seiner positiven Wirkungen für die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland für notwendig. Das klingt gut, aber keiner macht das. Das entspricht dem Tenor der Kanzlerrede.
Fazit des' Ganzen: Der große Wurf ist nicht gelungen. Die große gemeinsame Kraftanstrengung verharrt im Tauziehen der politischen Akteure. Die Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte blieb aus. Während im Kanzleramt der Solidarpakt geschmiedet wurde, spitzten sich im Lande die Auseinandersetzungen zwischen den Tarifparteien bedrohlich zu. Dieser Pakt ist nicht sozial, nicht ökologisch, nicht gerecht und finanziell nicht solide.
Meine Damen und Herren, die Chance zu einer solidarischen Lastenteilung darf nicht länger vertan werden. Allzuoft sind die Menschen in unserer Gesellschaft getäuscht worden. Die soziale und finanzpolitische Stabilität in der Bundesrepublik muß auf dem schnellsten Weg wiederhergestellt werden. Eine sozial gerechte Finanzierung der deutschen Einheit ist mehr als überfällig. Die einkommensstarken Schichten müssen endlich einen angemessenen Beitrag leisten.
Ebenso dringend ist eine Korrektur der unsoliden Schuldenpolitik notwendig. Nicht nur der Schulden-stand und die Neuverschuldung der Gebietskörperschaften, sondern des gesamten öffentlichen Sektors einschließlich der Sondervermögen muß deutlich zurückgeführt werden. Die dramatisch angestiegene Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte droht allenfalls die finanzpolitische Handlungsfähigkeit des Staates zu lähmen. Die enorme Staatsverschuldung versperrt schon jetzt unseren Weg nach Europa. Nur eine solide Finanzpolitik schafft auch der Bundesbank kredit- und geldpolitischen Spielraum, der für eine konjunkturelle Belebung unabdingbar ist.
Unsere Vorschläge für den finanzpolitischen Wechsel, für den Lastenausgleich deutsche Einheit liegen vor. Wir verlangen zur soliden Finanzierung des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Ländern eine struktur- und finanzpolitisch ausgerichtete Investitionshilfeabgabe der Unternehmen. Damit werden die größten Gewinner der Einheit, die westdeutschen Unternehmen, denen der Vereinigungsboom jahrelang die Kassen gefüllt hat, jetzt auch zur Finanzierung der Einheit herangezogen. Die Einnahmen aus der Abgabe werden über einen Fonds zweckgebunden zur Kapitalbildung in den neuen Bundesländern verwendet. Wer in den neuen Bundesländern investiert, kann dies mit der Abgabe verrechnen.
Die Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung der deutschen Einheit wollen wir — darin sind und waren wir uns mit der SPD einig — durch eine Arbeitsmarktabgabe schließen. Wir geben Ihnen die Gelegenheit, mit einem Entschließungsantrag heute das noch einmal zu unterstützen. Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß Sie uns hier unterstützen.
Wir fordern eine Korrektur dieser unsoliden Schuldenpolitik. Die Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte muß rückgängig gemacht werden. Wir haben genügend Vorschläge zum Abbau ökonomisch und ökologisch ungerechtfertigter Subventionen vorgelegt, zuletzt in einem Brief an den Kanzler anläßlich der Solidarpaktgespräche. Doch an konstruktiven Vorschlägen hat diese Regierung überhaupt kein Interesse. Sie betreibt lieber Wortschöpfung statt Wertschöpfung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214902200
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Michael Glos das Wort.

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1214902300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, was ich meinen beiden Vorrednern mehr verübeln soll,



Michael Glos
den Inhalt ihrer Reden oder die Tatsache, daß sie den Saal leer geredet haben.

(Zurufe)

— Also, dann darf ich Rudi Walther, der ein gestandener Haushälter ist, zitieren. Er hat vorhin — ich wäre ja nicht so weit gegangen —, während der Kollege Schulz geredet hat, laut und vernehmlich zu Recht gerufen: „Dummes Zeug! "

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Nur an einer Stelle!)

— Er sagt: Nur an einer Stelle.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind aber hier, urn über den Solidarpakt zu reden. Ich bin der Überzeugung, daß der Solidarpakt die Grundlage dafür geschaffen hat, den Finanzausgleich zwischen den öffentlichen Ebenen mittelfristig neu zu ordnen, die Finanzausstattung der neuen Länder auf eine längerfristig gesicherte Grundlage zu stellen und vor allen Dingen einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Folgen von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft zu leisten. Darüber hätten meine Vorredner reden sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die wissen nämlich genau, warum wir jetzt diese große Misere in den neuen Bundesländern haben.
Es muß jetzt darum gehen, in einer gemeinsamen solidarischen Anstrengung die Klausurbeschlüsse möglichst rasch umzusetzen, statt öffentlich nach Siegern und Besiegten zu suchen und das Ergebnis im nachhinein zu zerreden oder Nachbesserungen welcher Art auch immer durchzusetzen.
Die Ergebnisse der Solidarpaktklausur sind in vielerlei Hinsicht eine Bestätigung des Kurses, den Bundesfinanzminister Theo Waigel mit Vorlage des Föderalen Konsolidierungsprogramms beharrlich und i:berzeugend verfolgt hat.

(Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ CSU])

Ich möchte dem Finanzminister von hier aus gute Besserung wünschen.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.])

Wir bedauern, daß er heute nicht hier sein kann, um auch die Früchte seines Bemühens im Plenum des Deutschen Bundestages zu ernten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lieber Herr Klose, Sie haben heute das wahrscheinlich von Frau Kollegin Matthäus-Maier in Ihr Manuskript hineingeschriebene Wort „Bundesschuldenminister" verwendet. Ich finde das nicht richtig. Sie wissen ganz genau, daß Theo Waigel nach FranzJosef Strauß der zweite Finanzminister in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen wäre, der Schulden hätte zurückführen können, wenn nicht die Aufgabe der Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung gekommen wäre. Wir haben eine Ausnahmesituation. Wir werden diese Ausnahmesituation bewältigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich finde es überhaupt einen sehr freundlichen Akt gegenüber dem Solidarpakt, daß man Frau Matthäus-Maier weggelassen hat.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Ich bin überzeugt, diese Veranstaltung wäre nicht so harmonisch gewesen, wenn Frau Matthäus-Maier dabeigewesen wäre. Sie weiß nämlich nichts anderes, als bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten den Rücktritt von Theo Waigel zu fordern. Purer Unfug! — Noch einmal ganz herzlichen Dank an die SPD, daß sie auch die heutige Veranstaltung von Frau Matthäus-Maier verschont hat.

(Unruhe bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei dem Solidarpakt geht es um eine Entscheidung für Deutschland — das sollten Sie zur Kenntnis nehmen —und vor allen Dingen gegen einen lähmenden Verteilungsstreit zwischen den staatlichen Ebenen. Vereinbart wurden gemeinsame Anstrengungen für die neuen Bundesländer, ohne die West-Länder finanzpolitisch zu überfordern. Dabei ging es vor allen Dingen darum, im Westen die notwendige Basis für die Unterstützung der neuen Länder zu schaffen. Das Fundament für die Unterstützung der neuen Länder kann nur eine funktionierende und wachsende Wirtschaft sein.
Deswegen haben wir darauf verzichtet, zur Unzeit die Ertragsteuern zu erhöhen, wie es von der SPD gefordert worden ist. Das ist vor allen Dingen nötig, um eine Verschärfung der konjunkturellen Schwächephase in Deutschland zu vermeiden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist uns vor allen Dingen gelungen, die vielfältigen Versuche der SPD abzuwehren, aus parteitaktischen Gründen eine Ergänzungs- und Arbeitsmarktabgabe schon zur Mitte des Jahres 1993 einzuführen. Das wäre konjunkturpolitisch verheerend gewesen. Wirtschaftspolitische Notwendigkeit muß vor Parteitaktik gehen.
Mit den Vereinbarungen wurde ein klares Signal für die internationalen Finanzmärkte gegeben, daß die Bundesrepublik Deutschland willens und in der Lage ist, die Probleme des Zusammenwachsens Deutschlands aus eigener Kraft zu lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eines muß aber für spätere Haushaltsentscheidungen ganz klar sein. Wir haben uns nicht immer wieder gegen frühzeitige Steuererhöhungen gestemmt, damit jetzt in einem Milliardenrausch alle Sparanstrengungen über Bord geworfen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Finanzdecke bleibt trotz vereinbarter Einsparungen und trotz Solidarzuschlags bis zum Zerreißen angespannt. Deshalb bleiben Ausgabendisziplin und Haushaltsmoratorium die Priorität der künftigen Finanzpolitik auch weit über das Jahr 1995 hinaus.
Wir müssen jetzt in der öffentlichen Diskussion die Beschlüsse zusammenhalten, denn nur das Gesamtpaket des Föderalen Konsolidierungsprogramms schlägt eine tragfähige Brücke über die bisherigen



Michael Glos
Verteilungskämpfe und über die derzeitigen konjunkturellen Risiken in Deutschland. Nur wenn unser Finanzkonzept in einen Solidarpakt aller gesellschaftlichen Gruppen einmündet, wird Deutschland seine Wiedervereinigungsaufgabe auch wirklich meistern können. Die Politik und die staatlichen Ebenen können dies nicht allein leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hierzu gehört vor allen Dingen, daß auch die Wirtschaft ihren Beitrag leistet und ihre Zusagen hinsichtlich Investitionen und verstärkter Einkäufe in den neuen Bundesländern sowie ihre Ausbildungsplatzgarantie in die Tat umsetzt. Das wäre meiner Ansicht nach wichtiger als überzogene Kritik aus dem Arbeitgeber- und Unternehmerlager wie unlängst aus dem BDI. Hier hat man vor allem die Entscheidungsträger von Regierung und Opposition kritisiert.
Ich glaube, jeder muß sehen, daß er seine Hausaufgaben macht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wenn wir heute zu Recht die hohen Lohnkosten, die hohen Lohnstückkosten in der Bundesrepublik Deutschland beklagen, dann muß man immer daran erinnern, daß der größte Teil davon letztendlich auf freiwilligen Vereinbarungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern beruht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Insofern müssen alle ihre Hausaufgaben machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Tarifparteien müssen ihren Beitrag zum Gelingen des Solidarpaktes leisten. Von der Lohnseite muß nachhaltig ein Kurs der Lohnmäßigkeit in West- wie in Ostdeutschland verfolgt werden, um den Unternehmen von der Kostenseite her die notwendige Entlastung zu verschaffen und vor allen Dingen der Deutschen Bundesbank die Fortsetzung des begonnenen Zinssenkungsprozesses zu ermöglichen.
Streikgetöse paßt nicht in die Landschaft. Wer jetzt wie Franz Steinkühler in den neuen Ländern Parolen wie „Jetzt ist es nicht Zeit zum Reden, jetzt ist es Zeit zum Zahlen" ausgibt, der täuscht nicht nur die betroffenen Arbeitnehmer, sondern muß sich auch sagen lassen, daß er den wirtschaftlichen Niedergang eines ganzen Wirtschaftszweiges bewußt in Kauf nimmt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es kann auch niemand Verständnis dafür haben, wenn Ministerpräsident Stolpe im Kanzleramt den Vereinbarungen zustimmt, seine ständig um Publizität bemühte Sozialministerin Regine Hildebrandt aber nach weiteren Milliardenbeträgen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ruft.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die Kreissäge!)

Wir sind hier sehr weit gegangen. Es wurden 2 Milliarden DM zusätzlich zur Verfügung gestellt. Wenn die Bundesanstalt für Arbeit vorher etwas vorsichtiger mit den Mitteln umgegangen wäre, wäre die Misere nicht so groß.

(Gudrun Weyel [SPD]: Das war Ihr Kollege!)

Gott sei Dank kommt auch ein Teil, wenngleich nur der kleinere, hier in den Westen. Auch hier im Westen haben wir große Problemgebiete. Stahl ist genannt worden; wir haben das Problem des Maschinenbaus. Wir haben bestimmte Regionen auch in Bayern, die ganz stark unter dieser strukturellen und konjunkturellen Entwicklung leiden. Auch dort werden Beträge gebraucht, um wieder neue AB-Maßnahmen bewilligen zu können. ABM ist aber — das ist heute mit Recht von Herrn Dr. Schäuble schon gesagt worden — kein Allheilmittel. Wir müssen die Grundlagen, auf denen unser Wohlstand beruht, wieder stärken. Wir müssen uns vor allen Dingen der internationalen Wettbewerbssituation stellen.
Da ist es nicht nur so, daß wir sehr viel schlechter geworden sind; das behaupte ich überhaupt nicht. Nur haben wir übersehen, daß die anderen um uns herum, die für uns wichtigen Wettbewerbsländer, viel besser geworden sind, daß sich natürlich vor allem auch Billiglohnländer vor unserer Haustür auftun.
Deswegen hat es auch keinen Sinn, besserwisserische Belehrungen wie der Oberlehrmeister der Nation, Helmut Schmidt, zu machen, der mit seinem Volk ja eigentlich nie zufrieden war, das er regiert hat. Deswegen war wahrscheinlich am Schluß das Volk auch mit ihm sehr unzufrieden. Er war vor allen Dingen mit seiner Partei nicht zufrieden.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das kann man verstehen! Da hat er auch recht gehabt!)

Deswegen hat er sich verweigert, Vorsitzender zu werden. Das kann man gut verstehen. Er ist ja jetzt von den Höhen der „Zeit" herabgestiegen in die Niederungen der Bild-Zeitung. Ich darf ihn hier zitieren. Er spricht davon, unser Volk sei tatsächlich in einen Zustand geraten, in dem sich Ängste und Weinerlichkeit mischen mit Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit. Er sagt auch, bei uns herrschten „Raffgier und hemmungsloses Streben nach persönlichem Gewinn".
Nun müssen wir fragen: Ist das wirklich überall so? — Ich bin der Meinung, das ist nicht so.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wir dürfen nicht übersehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß sich Millionen von Landsleuten abplagen,

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Was kriegt er wohl dafür bezahlt!)

daß sie sich bemühen, auch den Wiederaufbau im Osten zu bewältigen, daß es sehr viel Positives zu berichten gibt und daß sich in den drei Jahren, in denen jetzt die D-Mark eingeführt ist, ungeheuer viel getan hat

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr gut!)

und daß es täglich vorwärts geht, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist für den Aufschwung aber auch schädlich, wenn einerseits der SPD-Parteivorstand die verein-



Michael Glos
barten Ergebnisse als Erfolg für die SPD verbucht — die SPD, zumindest die Mitglieder, die im Kanzleramt dabei waren, hat daran mitgewirkt —, andererseits der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dreßler für die SPD sofort Nachbesserungsforderungen anmahnt. Was soll die Bevölkerung eigentlich glauben?

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Eine Fortsetzung der Diskussion um vermeintliche Gerechtigkeitslücken und Steuererhöhungen vor 1995 ist nur dazu geeignet, Unsicherheiten in Wirtschaft und Bevölkerung zu schüren.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß Herr Ministerpräsident Biedenkopf, der heute früh da war, mit den Bund-Länder-Vereinbarungen zum Solidarpakt die Aufforderung, Teilung durch Teilen zu überwinden, als eingelöst ansieht, und daß aus Sachsen nunmehr keine weiteren Forderungen an die westdeutsche Bevölkerung kommen werden, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: Daran werden wir ihn erinnern!)

Ich glaube, auch das muß registriert werden.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das muß man festhalten, jawohl!)

Ich finde das gut und fair und richtig, weil wir natürlich auch an der Grenze unserer Belastungsfähigkeit angelangt sind. Insofern ist es zu begrüßen, daß verläßliche Rahmendaten herrschen, daß die Bundesländer in Ost und West wissen, welche Ausgabenspielräume und vor allen Dingen, welche Einsparnotwendigkeiten sie für die kommenden Jahre haben. Deswegen werden nirgends die nackte Not und das nackte Elend ausbrechen. Die Deutschen jammern, aber sie jammern auf einem sehr hohen Niveau.
Das wiedervereinigte Deutschland steckt sicher in Schwierigkeiten. Ich will die Probleme nicht leugnen oder gar herunterspielen. Aber wir sind weit gekommen, und wenn ich mich bei unseren Nachbarn umschaue, dann sind die Kassandrarufe in keiner Weise angebracht. Wir sind trotz Wiedervereinigung und trotz Konjunkturschwäche nicht dabei, in Not und Armut zu versinken. Auch wenn wir beim Pro-Kopf-Einkommen im europäischen Vergleich nicht mehr an der Spitze stehen, kann bei aller Sorge und Not im Einzelfall von einem allgemeinen Niedergang überhaupt keine Rede sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Schon der Vergleich mit unseren unmittelbaren Nachbarn in der EG zeigt: Unsere Probleme und Aufgaben sind im Vergleich mit dem, was andere zu bewältigen haben — und zwar ohne Wiedervereinigung —, schaffbar. Im Durchschnitt der EG-Länder liegt die Arbeitslosigkeit bei 11 %, in Westdeutschland bei 6 %, in ganz Deutschland bei 81/2%. Wir sorgen uns zu Recht angesichts einer für 1993 erwarteten Inflationsrate von 31/2 %. Für die EG insgesamt belaufen sich die Schätzungen auf 41/4%. In der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung macht unser Staatsdefizit 1993 31/2 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Im EG-Durchschnitt sind es 53/4 %.
Wir sehen die konkreten Gefahren von Steuererhöhungen, aber unsere Nachbarn — Belgien, die Niederlande und Italien — sind ebenfalls auf Abgabenerhöhungen angewiesen.
Trotz aller Sorgen um die eigenen nationalen Probleme bleibt die Welt um uns herum nicht stehen. Was sich in dieser Woche in Moskau tut, ist für unser Land mindestens genauso bedeutsam wie die Diskussion über Steuererhöhungen ab 1995.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ludwig Erhard hat einmal formuliert: Ein Kompromiß — das ist die Kunst, einen Kuchen so zu teilen, daß jeder meint, er habe das größte Stück bekommen.
Wenn jeder meint, er sei als Sieger aus der Klausurtagung über den Solidarpakt herausgegangen, so hat jeder recht; denn gewonnen haben mit dieser Vereinbarung, wenn wir sie umsetzen, alle: das wiedervereinigte Deutschland, die Deutschen in Ost und West.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214902400
Meine Damen und Herren, bevor ich dem Abgeordneten Wolfgang Thierse das Wort gebe, möchte ich die Dame und die Herren vom BÜNDNIS 90 bitten, ihre Gruppensitzung nach draußen zu verlegen. Sie plaudern bereits seit einer Viertelstunde. Ich bin zwar an einem vollen Plenum sehr interessiert, aber das ist ein bißchen übertrieben.
Ich wäre dankbar, wenn der Abgeordnete Wolfgang Thierse nun das Wort ergreifen würde.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214902500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle kennen das Spiel zur Genüge, den unausweichlichen Interpretationsstreit bei der Bewertung von Ergebnissen schwieriger Verhandlungen: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Die Antwort auf diese Frage verändert nichts am wirklichen Sachverhalt. Das Glas wird weder voller noch leerer durch die Antwort, aber sie scheint trotzdem unendlich wichtig. Deswegen sage ich ganz entschlossen: Das Glas ist tatsächlich halb voll: Die Verhandlungen zum Solidarpakt haben zu einem tragbaren, durchaus vernünftigen Ergebnis geführt. Sie haben zu einem wirklichen Ergebnis geführt, und das allein unterscheidet sich ja schon positiv von dem, was die Koalition heute nacht verabredet hat. Wir haben ja schon manches von Ihnen erlebt, aber die gestrige Koalitionsverabredung zum Thema AWACS ist geradezu ein Stück aus dem Tollhaus: ein Teil der Regierung gegen den anderen Teil. Da wirft der Vizekanzler dem Kanzler Verfassungsbruch vor. Kein Kabarettist würde sich so etwas ausdenken können. Aber da ist kein Anlaß zur Heiterkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was Sie da verabredet haben, ist ein weiterer schlimmer Schlag gegen die Glaubwürdigkeit der



Wolfgang Thierse
Politik. Das Ganze findet dann nach der Melodie statt: Schuld ist wie immer die SPD.

(Zurufe von der CDU/CSU: Richtig, so ist es!)

So habe ich Herrn Schäuble verstanden. Dies ist ein peinlich-lächerliches Schauspiel.
Sie haben von dem Bedürfnis der Deutschen nach Sicherheit gesprochen. Dies ist in diesen unsicheren Zeiten des Übergangs, des dramatischen Umbruchs, in dem wir uns befinden, wirklich sehr verbreitet. Aber ich glaube nicht, daß das Gefühl und die Realität von Sicherheit dadurch gestärkt werden, daß die außenpolitische Identität der Deutschen gewissermaßen im Handstreich von heute auf morgen geändert wird. Ich glaube, wir brauchen wirklich eine breite gesellschaftliche Debatte, was denn internationale Verantwortung für die Deutschen künftig zu heißen hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man darf diese Debatte nicht auf die Frage „Sollen deutsche Soldaten möglichst schnell, ohne daß wir mit darüber zu befinden hätten, irgendwo eingesetzt werden?" verkürzen. Es ist doch nicht so, daß es Beschlüsse der UNO oder anderer internationaler Organisationen gibt, und wir, die deutsche Regierung, hätten nicht mehr darüber zu entscheiden, was deutsche Soldaten zu tun oder zu lassen haben.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wer sagt denn das? Wer tut denn das?)

Wenn wir diese Debatte nicht führen, dann werden wir erleben, daß sich Väter und Mütter und Schwestern und Brüder eben nicht in der Lage sehen, daß deutsche Soldaten Beiträge zur Friedenssicherung oder zur Friedensherstellung leisten.

(Zurufe von der CDU/CSU: Die Engländer! Die Franzosen!)

Dies wird nur erträglich für ein Volk sein, wenn wir vorher ernsthaft, aufrichtig, mit dem nötigen Ernst darüber reden, nicht aber, wenn wir von heute auf morgen Grundgesetzänderungen erreichen wollen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214902600
Herr Abgeordneter Thierse, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Schäuble zu beantworten?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214902700
Ja.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214902800
Bitte sehr.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1214902900
Herr Kollege Thierse, wären Sie bereit, zu akzeptieren, daß es gar nicht in erster Linie um die Frage geht, deutsche Soldaten nun schnell irgendwo hinzuschicken, sondern daß es um die Frage geht, ob wir uns an der Integration Europas und am Atlantischen Bündnis, woran wir seit über vier Jahrzehnten teilnehmen, auch in Zukunft beteiligen oder ob wir aussteigen wollen?

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214903000
Herr Schäuble, Sie werden mir nicht übel nehmen, daß ich daran erinnere, was ich früher von Beruf war — Germanist. Ich habe also gelernt, was man mit Sprache alles tun kann. Was Sie „Beibehaltung der Bündnisverpflichtung" nennen, ist ja nur der Versuch, in vornehmen Worten etwas anderes zu verstecken. Wir waren im Bündnis volles Mitglied,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wir sind im Bündnis!)

aber wir haben vereinbart, daß deutsche Soldaten außerhalb des NATO-Gebiets nicht einzusetzen sind.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Sie wollen jetzt klammheimlich eine Änderung der außenpolitischen und der Sicherheitsdoktrin der Deutschen erreichen — so ganz nebenbei.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Der begreift es immer noch nicht!)

Mein eigentlicher Punkt ist: Ich glaube ja, daß wir uns neuen Fragen zu stellen haben; dies aber nicht, weil Deutschland etwas größer geworden ist — das ist das Unwichtigste dabei —, sondern weil wir wirklich in einer anderen Weltsituation leben. Aber dies wird nur dann ohne tiefe Spaltung in Deutschland gehen, wenn wir darüber mit Ernst und mit Ausführlichkeit reden, nicht aber, wenn am Mittwoch, in der Nacht, ein Koalitionskompromiß über eine Verfassungsänderung erreicht wird, über die wir dann schon am Freitag im Parlament zu diskutieren haben. Das nenne ich eine Art von Handstreich. Gestern abend haben Sie dem noch einen Narrenstreich hinzugefügt mit Ihrer eigentümlichen Vereinbarung, sich gegenseitig zu verklagen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214903100
Auch der Abgeordnete Graf Lambsdorff möchte Ihnen eine Frage stellen.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214903200
Ja.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214903300
Bitte sehr, Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1214903400
Abgesehen davon, Herr Kollege Thierse, daß ich Sie gern fragen möchte, ob Sie vergessen haben, daß dieser Antrag vor drei Monaten in erster Lesung hier behandelt worden ist,

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

möchte ich Sie aber auch fragen, ob Sie und die SPD eigentlich sehen, daß Ihre Verweigerung zur Zustimmung der Behandlung der Verfassungsänderung am Ende dazu führen kann, daß wegen Ihrer Blockade das Bundesverfassungsgericht sagt, daß die geltende Verfassung dies erlaube, und so die von Ihnen und uns gewünschten Möglichkeiten der parlamentarischen Mitwirkung an dem Verhalten der sozialdemokratischen Fraktion scheitern.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Genau das muß gesagt werden!)





Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214903500
Wissen Sie, ich finde es unangemessen, der parlamentarischen Opposition gewissermaßen, wenn ich das starke Wort verwenden darf, erpresserisch mit einem Verfassungsgerichtsurteil zu drohen. Wir können doch unsere Meinung in dieser Frage ganz entschieden äußern.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist doch nicht erpresserisch! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Entschuldigen Sie, es wird immer gesagt: Wir blockieren. Es heißt: Wir würden, indem wir Ihre Meinung nicht teilen, dazu zwingen, daß man vor das Verfassungsgericht geht und daß das Verfassungsgericht parlamentarische Rechte oder parlamentarische Mitwirkung einschränkt. Das interpretiere ich als den Versuch, Pression auf unsere Meinungsbildung auszuüben. Das wird man doch wohl sagen können.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: Sie haben ja gar keine Meinung!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214903600
Herr Abgeordneter Thierse, Graf Lambsdorff möchte noch einmal nachfragen,.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1214903700
Herr Kollege Thierse, darf ich Sie um die Freundlichkeit bitten, daß Sie sich Ihren germanistischen Wortschatz noch um den juristischen Wortschatz mit einer Interpretation des Wortes „Erpressung" ergänzen lassen?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214903800
Ich habe mich ja im zweiten Satz auf das Wort „Pression" zurückgezogen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sind Sie bereit, sich zu entschuldigen? — Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU] zu Abg. Michael Glos [CDU/CSU] gewandt: Er hat sich verbessert!)

Meine Damen und Herren, ich will zum Solidarpakt zurückkommen. Wir haben ein Ergebnis erzielt, das die Zustimmung der Sozialdemokraten im Bund wie in den Ländern, im Osten wie im Westen Deutschlands gefunden und auch verdient hat. Ich sage dies mit Erleichterung; denn diesem Ergebnis ist ein langer, quälender Diskussionsprozeß vorausgegangen, dessen positives Ende durchaus nicht sicher war.
Das Ergebnis ist ein Kompromiß, gewiß; wir Sozialdemokraten sind nicht zufrieden; denn wir wollten mehr und Besseres für den Aufbau Ost, für eine sozial gerechtere Verteilung der Lasten und für die Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Deutschland insgesamt erreichen. Aber es ist dennoch viel erreicht worden. Wir tragen die Vereinbarung als einen vernünftigen Kompromiß mit, den wir zu bewerten haben: an den Voraussetzungen, an seiner Vorgeschichte einerseits und den erzielten Ergebnissen andererseits.
Ein paar Bemerkungen zur Vorgeschichte: Wir Sozialdemokraten haben der Bundesregierung und den Koalitionsparteien seit 1990 immer wieder angeboten, bei allem politischen Streit, bei allen sachlichen Differenzen in wesentlichen Grundfragen des deutschen Einigungsprozesses zusammenzuarbeiten, gemeinsame Lösungen zu erreichen, wenn die Basis dieser Zusammenarbeit Wahrheit und Gerechtigkeit sind und die Anstrengungen um einen fairen Kompromiß.
Der Bundeskanzler hat dieses Angebot mehrmals ausgeschlagen. Er hat nicht gewagt, der Bevölkerung die Wahrheit zuzumuten, bis er auf einem Parteitag im Herbst 1992 eine, eine „Stunde der Wahrheit" verkündete. Er hat nicht vermocht, die Einigung als identitätsstiftendes Projekt für die Deutschen in Ost und West zu denken und zu gestalten. Er hat die Chancen und Lasten der deutschen Einigung und des Umwandlungsprozesses in Ostdeutschland ungerecht verteilt. Das ist doch wohl unumstritten — nur, daß in Ihren Reihen die soziale Ungerechtigkeit beschönigend, verharmlosend „Gerechtigkeitslücke" genannt wird.
Das Ergebnis war und ist bitter. Die gewiß in jedem Fall unvermeidlichen Probleme sind größer geworden. Sie werden schmerzlicher erfahren. Eine Atmosphäre der Übellaunigkeit hat sich in Deutschland flächendeckend breitgemacht, teils in wütender Resignation sich äußernd, teils in aggressiver, sturer Verteidigung von Besitzstanden.
Daß die bisherige Politik der Bundesregierung gescheitert ist und nicht in der Lage war, die schwere Krise zu meistern, in die die deutsche Einigung durch ihr Verschulden geraten ist, hat der Bundeskanzler indirekt — vielleicht unabsichtlich, aber doch unüberhörbar — selbst eingestanden: spätestens in dem Moment, als er nach einem Solidarpakt rief, also nach etwas anderem als der bisherigen Politik der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Als ich das erste Mal das Wort „Solidarpakt" aus dem Munde des Bundeskanzlers hörte, war ich neidisch: respektvoll neidisch auf die selbstkritische Einsicht, die ich dahinter vermutete, die Einsicht, daß ein politischer Neuansatz notwendig sei, und neidisch auch auf den positiven Begriff, den der Herr Bundeskanzler oder seine Berater gefunden hatten. Aber ich bemerkte schnell: Es war nur ein begriffspolitischer Luftballon, losgelassen und aufgestiegen in den Himmel der politischen Auseinandersetzung. In dem Korb, der an ihm hing, war zunächst nichts. In den nächsten Wochen tat der Bundeskanzler und taten andere Regierungsmitglieder immer wieder nur dasselbe hinein: Lohnverzicht, Lohnmäßigungsforderungen an die Arbeitnehmer, an die Gewerkschatten, nichts sonst. Worüber also, Herr Schäuble, hätte man im Oktober verhandeln sollen?

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber es lag alles auf dem Tisch!)

— Im Oktober war nichts anderes da. Welche Verzerrung des Gedankens der Solidarität, Forderungen immer nur an die eine Seite der Bevölkerung zu richten,

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: Stimmt doch gar nicht! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ist doch nicht wahr! Wie kann man so etwas aufschreiben und vorlesen!)




Wolfgang Thierse
Verpflichtungen nur einem Teil abzuverlangen, und zwar nicht dem Stärkeren!

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: Ausdruck: 1, Inhalt: 5! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: 6!)

— Herr Krause, ich habe Ihren Sudeltext gelesen. Ich wäre da etwas stiller.

(Zuruf von der SPD: Herr Krause sollte sich bei Inhalt zurückhalten!)

Dann trat Finanzminister Waigel hinzu und legte als Beitrag der Bundesregierung zum Solidarpakt ein Föderales Konsolidierungsprogramm vor. Es enthielt ein Bündel von Maßnahmen zur Konsolidierung der in Unordnung geratenen Staatsfinanzen und unterschiedlich diskutable Einsparungs- und Subventionskürzungsvorschläge. Diesem Papier war nicht anzumerken, daß es um den Osten Deutschlands geht, daß es darum geht, den wirtschaftlichen Niedergang, den industriellen Kahlschlag durch energisches Gegensteuern aufzuhalten. Es enthielt keine Maßnahmen, keine Aufgabenbeschreibungen zur Industrie- und Strukturpolitik für den Aufbau Ost, für aktive Arbeitsmarktpolitik.

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: Das stimmt doch nicht!)

Es war nicht der angekündigte Kurswechsel zur solidarischen Gestaltung der Einheit, im Gegenteil: Der Vorschlag enthielt einen gefährlichen Anschlag auf den Sozialstaatsgedanken, auf das soziale Netz, indem er ausgerechnet bei Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, bei Wohngeld, beim BAföG Einsparungen erreichen wollte. Dieser Vorschlag war und ist, wenn er denn je wiederholt werden sollte, lebensgefährlich gerade für die Ostdeutschen. Denn wir Ostdeutschen bedürfen auf lange Zeit der Solidarität der Westdeutschen. Wer diese Solidarität gefährdet, gefährdet uns. Die Verwirklichung des Vorschlags des Finanzministers hätte die sozial Schwächeren zu den Hauptträgern der Lasten der deutschen Einheit, ja, zu deren Opfern gemacht und damit emotionale und soziale Spaltung in Deutschland bewirkt. Das zu verhindern war Ziel der Sozialdemokraten bei den Solidarpaktverhandlungen.

(Beifall bei der SPD — Abg. Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Dieses Ziel haben wir erreicht.
Damit bin ich bei den Ergebnissen. Sie werden mir hoffentlich nicht übelnehmen, wenn ich die Bewertung nicht zuletzt, sondern zuerst aus ostdeutscher Perspektive vornehme.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214903900
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214904000
Ich bin schon beim nächsten Thema.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214904100
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, es ist sein gutes Recht, das abzulehnen.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214904200
Gerade aus ostdeutscher Sicht ist der Zugewinn, der mit dem Solidarpakt erreicht worden ist, deutlich.
Erstens. Durch eine neue Regelung des BundLänder-Finanzausgleichs werden die neuen Länder aus der unerquicklichen Rolle des Bittstellers befreit. Durch die Festlegung eines Transfervolumens von 55,8 Milliarden DM — das zwar hinter den Forderungen der ostdeutschen Länder und wohl auch hinter dem wirklich Notwendigen zurückbleibt — und durch den Finanzausgleich erhalten die neuen Lander eine langfristig gesicherte Grundlage für ihre Existenz.
Zweitens. Für die Erhaltung und Modernisierung industrieller Kerne, also von Arbeitsplätzen in der Industrie, und für die Beseitigung ökologischer Altlasten im Osten Deutschlands werden — über die Erweiterung des Kreditrahmens der Treuhandanstalt — mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Das entspricht unseren Forderungen, vor allem aber den unabweisbaren Notwendigkeiten im östlichen Deutschland. Das ist ein Erfolg, der aber der aktiven und engagierten Umsetzung und Verwirklichung durch die Treuhandanstalt, die Länder und die Kommunen bedarf. Es müssen jetzt so schnell wie möglich Konzeptionen und Entscheidungen zur Sanierung und Modernisierung erreicht werden: Was sind industrielle Kerne, und was können wir tun? Jedes weitere Abwarten, jede bürokratische Unentschlossenheit, jedes Warten auf den Privatisierungsprinzen, der das schlafende Treuhandunternehmensdornröschen wachküßt, ist von verheerender Wirkung. Es werden bald keine industriellen Kerne Ost mehr da sein. Überwinden Sie Ihre ideologisch motivierte Abwehr gegen unseren Vorschlag zur Bildung von Industriegesellschaften. Ein entsprechender Antrag liegt vor.
Drittens. Es ist vereinbart worden, daß Maßnahmen zur Absatzförderung ostdeutscher Produkte notwendig und unterstützenswert sind. Ich kann nur hoffen, daß die verabredete Prüfung geeigneter Instrumente seitens der Bundesregierung nicht so lange dauert wie bisher — bis am Schluß nichts mehr zu fördern ist. Der wirtschaftspolitische Attentismus der Bundesregierung in dieser Frage gefährdet die Keime eines wirtschaftlichen Neuanfangs in Ostdeutschland.
Viertens. Das für die Menschen in Ostdeutschland persönlich und unmittelbar Wichtigste, was wir vereinbart haben, sind die Maßnahmen zur Wohnungssanierung, zum Wohnungsneubau und vor allem zur Lösung des Wohnungsaltschuldenproblems. Der Wohnungsmangel und die Angst vor beliebigen Mieterhöhungen waren und sind die bedrängendsten Probleme in den neuen Ländern. Wenn es durch die Verwirklichung unserer Beschlüsse gelingt, die Mieterhöhungen in klar definierten Grenzen zu halten, den Wohnungsbau im Osten anzukurbeln und dadurch die Aussicht auf Überwindung der dramatischen Wohnungsnot zu vergrößern und dadurch natürlich auch Arbeitsplätze zu schaffen, hätten wir wirklich viel bewegt — wenn in dieser Frage auch nur in Ostdeutschland ein möglicherweise gefährliches Ungleichgewicht.



Wolfgang Thierse
Fünftens. Es ist gelungen, die Kürzung der ABMMittel rückgängig zu machen.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Niemand hat sie gekürzt! Aufgestockt haben wir sie!)

2 Milliarden DM stehen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wieder mehr zur Verfügung.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Besser mit den Worten umgehen, Herr Thierse! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Entschuldigung: die Stornierung der ABM-Mittel
rückgängig zu machen. Ich habe mich versprochen. —

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Auch das stimmt nicht!)

Also 2 Milliarden DM stehen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wieder mehr zur Verfügung.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sie sollten über Sachen reden, von denen Sie Ahnung haben!)

Das ist viel, und es ist viel zuwenig: angesichts der wahnsinnig hohen Arbeitslosigkeit im Osten und der zunehmenden Arbeitslosigkeit im Westen. Wir brauchen für eine weitere Übergangszeit umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ich weiß: Sie sind nicht die Lösung des Problems, sondern sie sind nur dazu geeignet, um massenhaft individuelles Unglück zu vermindern und um viele — gerade auch soziale — Projekte am Leben zu erhalten.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Daß es auch bezahlt werden muß, ist Ihnen aber klar?)

— Ich bin sicher, hier werden wir finanziell noch nachlegen müssen.
An dieser Stelle will ich eine Bemerkung zu Ihren Äußerungen zum Tarifrecht im Metallbereich im Osten Deutschlands machen. Die Zahl 26 % klingt sehr beeindruckend. Aber Sie müssen der Ehrlichkeit halber auch dazusagen, was das Ergebnis dieser Tariferhöhung ist. Die ostdeutschen Metallarbeitnehmer werden dann bei 61 % bis 63 % des Realeinkommens ihrer westdeutschen Kollegen angekommen sein, und das bei einem Preisniveau von etwa 95 % im Osten Deutschlands. Das müssen Sie auch sagen.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen auch über Vertragstreue reden.

(Zustimmung bei der SPD)

Sie müssen auch darüber reden, daß bei Abschluß dieses Lohnangleichungsvertrages die wirtschaftliche Grundsituation in Deutschland bekannt war und daß bei den Abschlüssen der Privatisierungsverträge mit der Treuhandanstalt dieser Lohnangleichungsprozeß ebenfalls bekannt war.
Ich kann nur wünschen, daß im Osten Deutschlands nicht versucht wird, etwas zu zerstören oder zu verhindern, was — ich sage es mit neidvollem Blick — zum sozialen Frieden und zum Prozeß der Wohlstandsmehrung im Westen Deutschlands, in der alten Bundesrepublik, ganz wesentlich beigetragen hat, nämlich starke und das Vertrauen ihrer Mitglieder habende Gewerkschaften.

(Beifall bei der SPD)

Die Gewerkschaften dazu zu zwingen, Vertragsbruch zu begehen, wie es die Arbeitgeber versuchen, schwächt die Gewerkschaften, und das schwächt am Schluß unser gesellschaftliches System insgesamt.

(Beifall bei der SPD — Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Wenn es nur Arbeitslose gibt, gibt es auch keine Gewerkschaften mehr!)

— Sie wissen, Herr Krause, daß Lohnkürzungen bisher keine Arbeitsplätze geschaffen haben; es gibt kein Beispiel dafür. Sie müssen einmal auf die Zahlen gucken, was das Ergebnis dessen ist.

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: In den meisten LPG-Nachfolgebetrieben ist es aber so!)

— Wir reden jetzt vom Metallbereich.
Sechstens. Wir Sozialdemokraten haben die beabsichtigten schlimmen Kürzungen sozialer Leistungen bei Arbeislosen, Sozialhilfeempfängern und Studenten verhindert. Das ist wichtig; denn der soziale Friede ist eine entscheidende Bedingung für die innere Einigung Deutschlands. Es wäre der falsche Preis für den Aufbau Ost, wenn er vor allem bei denen abkassiert würde, die ihn am schlechtesten entrichten können. Uns Ostdeutschen ist am wenigsten damit gedient, daß andere zu Opfern unseres Aufschwungs gemacht werden. Die Zerstörung der Bereitschaft, zu teilen, wäre die unerbittliche Folge, ebenso die Verschärfung der Verteilungskämpfe in Deutschland.
Damit bin ich bei jenem Punkt angelangt, den wir für absolut ungelöst halten.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214904300
Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Frage des Abgeordneten Hinsken zu? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Hinsken.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1214904400
Herr Kollege Thierse, pflichten Sie mir bei, daß es doch nicht Rechtens sein kann, wenn Lohnersatzleistungen höher sind als Löhne, und daß deshalb endlich einmal überprüft werden sollte, ob nicht Korrekturen angebracht sind?

(Zuruf von der SPD: Bei den Löhnen doch nicht!)

Ich bin gern bereit, ein Beispiel zu bringen.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214904500
Herr Kollege, es ist unstrittig, daß auch Sozialdemokraten selbstverständlich gegen Mißbrauch von Sozialleistungen sind

(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das ist doch kein Mißbrauch! — Zuruf von der SPD: Herr Krause nicht!)

und daß wir auch durchaus Sinn für solche Art Differenzierung haben. Aber dann sollten Sie einmal danach fragen, warum die Löhne so niedrig sind und ob wir nicht endlich den Freibetrag durchsetzen



Wolfgang Thierse
sollten, der es ermöglicht, daß auch untere Einkommen höher sind als Sozialhilfesätze.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214904600
Nun möchte Herr Abgeordneter Oostergetelo — den ich vorher darauf aufmerksam mache, daß Dreiecksfragen nicht zulässig sind — eine Frage stellen. — Bitte sehr.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1214904700
Herr Kollege, angesichts der von Ihnen geschilderten Probleme, die man dann heraufbeschwört, wenn man die Gewerkschaften dazu zwingt, Vertragsbruch zu begehen, und angesichts der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit, zu überlegen, wie hoch das Lohnniveau sein soll, frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Meinung, daß in dieser Auseinandersetzung viel zuwenig zum Tragen kommt, daß das auch dazu beiträgt, daß die besten Leute eigentlich aufgefordert werden, in den Westen zu gehen, wo sie entsprechend bezahlt werden können?

(Zustimmung bei der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1214904800
Das ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Argumente. Es ist so selbstverständlich, daß ich nicht daran erinnert habe. Aber ich will ausdrücklich sagen: Man kann so weiterfahren und den Ostdeutschen eine klare erkennbare Perspektive der Einkommensangleichung nehmen. Die Folge wird unausweichlich sein, daß uns unsere Zukunft wegläuft. Das einzige, was wir wirklich haben — alles andere ist ziemlich marode —, sind junge qualifizierte, hochmotivierte Leute, und die gehen weg, wenn sie nicht sehen, daß ihre Arbeit in einer erreichbaren Zeit die gleiche Entlohnung findet wie die Arbeit im Westen. Darum geht es auch.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe von den Verteilungskämpfen gesprochen und bin damit bei dem Punkt, den wir für ungelöst halten. Die Regierungskoalition war leider zu einer langfristig soliden und sozial gerechten Finanzierung der notwendigen und sinnvollen Aufgaben nicht bereit. Die wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen werden dadurch beschränkt, der ganz große Atem fehlt. Ein wirkliches Zukunftsinvestitionsprogramm für den Osten Deutschlands, wie wir es vorgeschlagen haben, fehlt und bleibt weiter notwendig. Wer behauptet, der Aufbau im Osten und die Stabilisierung im Westen Deutschlands seien durch Kürzungen und Einsparungen zu finanzieren, unterliegt entweder gefährlicher Selbsttäuschung oder betreibt gefährliche Täuschung.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wer tut das denn?!)

Die Regierungsparteien waren um des Erhalts der Koalition willen lieber bereit, den Staat noch stärker, noch dramatischer zu verschulden, als dem Volk die ungeschminkte Wahrheit zuzumuten.

(Widerspruch bei der CDU/CSU) Sie hatten die Wahl zwischen höherer Verschuldung und höheren Steuern.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen lesen, was wir beschlossen haben!)

Ich schenke noch immer denjenigen mehr Glauben, die unseren Vorschlag einer steuerlichen Ergänzungsabgabe und einer Arbeitsmarktabgabe für weniger konjunkturschädlich halten als dauerhaft hohe Zinsen, die bekanntlich Investitionen bremsen.

(Beifall bei der SPD)

Nun, Sie waren dagegen. Damit fehlt aber für den Augenblick das Instrument, welches die sozialen Verteilungskonflikte, die mit lange nicht mehr erlebter Härte stattfinden, hätte mildern können. Gerechtigkeit ist nicht nur eine moralische Forderung, sie ist eine elementare Bedingung dafür, daß gearbeitet und nicht gestreikt wird. Sozialer Friede ist eine Produktivkraft und nicht nur eine Wunschvorstellung von Predigern, auf die wir ohne weiteres verzichten könnten.
Wir Sozialdemokraten wollten staatliche Einnahmeverbesserungen, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um der gerechten und soliden Finanzierung der notwendigen und sinnvollen Aufgaben der deutschen Einigung willen. Daß wir sie nicht erreicht haben, macht unsere Zustimmung zu dem Erreichten nicht falsch, und es ist viel erreicht worden. Das wollten wir und durften wir durch ein Nein nicht gefährden, das wollten wir durch unser Ja unterstützen und beglaubigen.
Mir geht es nicht darum, zu rechtfertigen, daß die SPD wieder einen Kompromiß mitträgt. Kompromisse sind in einer Demokratie unverzichtbar. Ich habe mein Leben in einem Staat verbracht, in dem die Macht nicht geteilt war, und ich möchte das nicht wieder erleben. Es ist ein Glück, daß sich Bund und Länder Macht teilen, auch wenn es Zeit und Mühe kostet.
Die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder erkennen unisono an, daß sie nun endlich aus der Rolle der Bittsteller herauskommen. Das ist ein unerhörter Erfolg, der uns Ostdeutsche in eine neue Lage bringt. Nach dem aufrechten Gang des Herbstes 1989 wurden wir wieder in die Knie gezwungen. Jetzt können wir wieder aufstehen. Das löst noch kein Problem, aber es hilft, Probleme zu lösen.
Der Solidarpakt wird daran gemessen werden, ob er die Entlassungswelle im Osten beendet, ob er Arbeitsplätze in den neuen und in den alten Ländern zu schaffen vermag. Der Solidarpakt wird so gut sein, wie der bedrohte, verängstigte einzelne ihn in unserem Lande wahrnimmt, das heißt Solidarität dadurch erfährt, daß sein Arbeitsplatz erhalten bleibt oder neue Arbeit für ihn da ist, und auch dadurch, daß sein Solidaritätsbeitrag seiner Leistungsfähigkeit entspricht. Wir alle taugen nichts, wenn diese Anstrengung um die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen uns nicht umtreibt, wenn wir darin keinen Erfolg haben. Und ohne soziale und menschliche Gerechtigkeit wird sich die deutsche Einheit in bittere Spaltung verwandeln.



Wolfgang Thierse
Die Solidarpakt-Verhandlungen waren so etwas wie ein großer Runder Tisch, und wenn ich an den NATO-Saal des Bundeskanzleramtes denke, sogar im wörtlichen Sinne. Er kam zwei Jahre zu spät, aber hoffentlich noch nicht zu spät. Wir haben viel erreicht; das gilt es jetzt umzusetzen. Was wir nicht erreicht haben, darüber werden wir politisch weiter zu streiten haben — über gerechte Lastenverteilung, über ökologische Reformen, über äußere und innere Sicherheit, über sozialen Frieden im Lande.
Ich danke fürs Zuhören.

(Lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214904900
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Herrn Abgeordneten Scharrenbroich das Wort.

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1214905000
Herr Kollege Thierse, da Sie einiges falsch gesagt und dazu keine Zwischenfrage zugelassen haben, möchte ich durch eine Kurzintervention richtigstellen:
Erstens. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden nicht gekürzt, sondern wir haben im ordentlichen Haushalt 1993 eine Steigerung von 9,3 auf 9,8 Milliarden DM. Dankenswerterweise ist von allen Seiten in den Solidarpakt-Verhandlungen festgestellt worden, daß die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um weitere 2 Milliarden DM angehoben wurden.
Zweitens. Die Sozialdemokraten haben nicht Sozialabbau verhindert, sie haben — außer einem Punkt — überhaupt nichts verhindert. Sie haben sich aber am Umbau des Sozialstaates beteiligt. Die Koalitionsfraktionen haben weder beim Wohngeld noch beim Erziehungsgeld noch beim Kindergeld Kürzungsvorschläge zum Solidarpakt vorgelegt. Wahrscheinlich deshalb, weil er weiß, daß überhaupt keine Veränderung stattgefunden hat, hat der Kollege Dreßler hier heute nicht geredet.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Nicht so vorschnell! Die Debatte ist noch nicht zu Ende!)

In einem Punkt, bei der Sozialhilfe, gab es eine Korrektur. Aber in den Koalitionsfraktionen bestand bereits die klare Meinung, daß wir hier durch Mißbrauchsbekämpfung die Gelder einsparen wollen. Wir hatten in der Unionsfraktion den einstimmigen Beschluß, daß wir Sozialhilfeempfänger im Rahmen der Zumutbarkeit zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten wollen.
Also, das, was Sie korrigiert haben, ist so minimal, daß Sie es besser unterlassen hätten, dies hier überhaupt zu erwähnen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214905100
Zu Ihrer Information, Herr Abgeordneter Scharrenbroich: Der Abgeordnete Rudolf Dreßler steht mit 30 Minuten bei mir auf der Rednerliste.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Dann muß ich ja hierbleiben! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Uns bleibt nichts erspart!)

Nun möchte ich dem Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt das Wort erteilen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214905200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ziele unserer Wirtschaftspolitik sind erstens die Überwindung der Rezession, zweitens die Beschleunigung des Aufschwungs im Osten und drittens die Sicherung des Standorts Deutschland.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl!)

Wenn ich über die Überwindung der Rezession spreche, Herr Kollege Klose, habe ich überhaupt keine Probleme, zuzugeben, daß dies auch bedeutet, die unerträglich hohe Arbeitslosigkeit zu überwinden. Dies zuzugeben ist keine Schande.
Es ist allerdings nicht akzeptabel, die Ursachen für diese Arbeitslosigkeit in Form einer Schuldabgabe in eine bestimmte Richtung zu drücken. Die Ursachen der Arbeitslosigkeit sind vielfältig. Ein Großteil der Arbeitslosigkeit ist langfristig angelegt. Es bedarf großer Anstrengungen, auch langfristig ausgerichteter Anstrengungen, um sie zu überwinden. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen.
Wenn wir diese Ziele — Rezessionsüberwindung, Aufschwung Ost und Standortsicherung — erreichen wollen, müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein, äußere Bedingungen und innere Bedingungen.
Auf die äußeren Bedingungen haben wir nur wenig, nur mittelbar Einfluß.
Wenn wir die inneren Bedingungen schaffen wollen, sind viele gefragt: die öffentlichen Hände, die Wirtschaft und die Arbeitnehmer. Weil sich Wirtschaft und Gewerkschaften an den Bedingungen orientieren, die die öffentlichen Hände setzen, deshalb war und ist ein öffentliches Konsolidierungsprogramm notwendig, ja unverzichtbar. Darüber hinaus müssen wir als einen Teil des Konsolidierungsprogramms den Solidarpakt ansehen.
Wir haben über diese Fragen — das ist bereits gesagt worden — viel zu lange debattiert. Vielleicht hätten wir den Solidarpakt nicht unter Dach und Fach gebracht, wenn uns nicht der Bürger in einer Kommunalwahl eine Lektion erteilt hätte.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Vor allem den Sozialdemokraten!)

Das hat sicherlich dazu beigetragen, daß die sozialdemokratische Seite die Haltung an den Tag gelegt hat, die dringend erforderlich war, um das Ganze unter Dach und Fach zu bringen.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: Sehr wahr!)

Das ist ein wichtiges Signal an die Bürger und an die Wirtschaft. Der Konsens wird in diesem Lande in dieser schwierigen Zeit erwartet, der Konsens zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Daß uns dies gelungen ist, ist ein Wert, der nicht hoch genug einzuschätzen ist.
Nun muß die Umsetzung erfolgen, auch die Umsetzung dessen, was die Wirtschaft angekündigt hat; denn die Wirtschaft ist Teil des Solidarpakts. Das gilt



Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
für die Investitionen, die angekündigt worden sind, die Einkaufsoffensive, die angekündigt worden ist, und die Aktivitäten im Bereich der Ausbildung und anderswo.
Die öffentlichen Hände haben alle verfügbaren Mittel mobilisiert, um konjunkturell etwas in Gang zu bringen. Das, was mit dem Solidarpakt oder mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm bewerkstelligt wird, ist ein einziges großes Konjunktur- und Zukunftsinvestitionsprogramm, Herr Kollege Thierse. Das ist das Programm, das Sie fordern. Dazu ist eine ungeheure Kraftanstrengung nötig.
Es muß sich aber auch ein bestimmtes Verhalten der Tarifpartner, in diesem Fall der Arbeitnehmer, der Gewerkschaften, anschließen. Die Lohnstückkosten im Osten liegen 60 % über den Lohnstückkosten im Westen.
Es ist doch keine Frage, daß Lohnsteigerungen, wie sie im Metallbereich ins Auge gefaßt worden sind, dazu führen, daß die Wettbewerbsposition der Unternehmen verschlechtert wird.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Man kann da rechnen, wie man will.

Ich habe immer viel Verständnis dafür, daß die Menschen, die dort arbeiten und die Teuerungsrate sehen, ihre individuellen Lebenswünsche befriedigt sehen möchten, und daß sie wollen, daß eine Angleichung an den Westen in absehbarer Zeit erfolgt. Das ist nachvollziehbar.
Aber wir können es doch rechnen, wie wir es wollen: Eine Lohnsteigerung von 26 % kommt unmittelbar auf die Unternehmen zu, verteuert die Produktion, verteuert die Dienstleistungserstellung. Die Unternehmen produzieren ohnehin zu teuer. Die Produktivität ist ohnehin zu gering. Eine solche Maßnahme verschlechtert die Wettbewerbsposition zusätzlich. Wer das nicht einsehen will, hat kein Verständnis für elementare ökonomische Vorgänge.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich bin im Interesse des wirtschaftlichen Aufschwungs dagegen, den Solidarpakt zu zerreden. Ich bin auch entschieden dagegen, nachbessern zu wollen. Er ist ein Kompromiß, bei dem viele eine Kröte zu schlucken hatten.
Auch mir paßt es nicht, daß Steuern überhaupt erhöht werden, jetzt und 1995. Nach der reinen Lehre ist die Erhöhung der Steuern in einer konjunkturellen Situation, wie wir sie gegenwärtig haben, das Verkehrteste, was man überhaupt machen kann.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Auch mir paßt es nicht, daß wir bei den Einsparungen eigentlich nur ein mäßiges Ergebnis erreicht haben, daß wir, wie man zugeben muß, wenn man ehrlich ist, bei den Einsparungen eigentlich versagt haben.
Auch mir paßt es nicht, daß wir beim Standortsicherungsgesetz noch nicht von der sogenannten Aufkommensneutralität weggekommen sind. Das heißt, es steht noch immer der Abbau der degressiven Abschreibung im Raum, die ungeheuer wichtig für diejenigen ist, die jetzt und heute, also konjunkturpolitisch antizyklisch, investieren wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Um das ein wenig auszugleichen, denken wir in meinem Hause über ein Programm zur zusätzlichen Förderung des Absatzes ostdeutscher Unternehmen nach, das einen Beitrag dazu leisten soll, daß der Markt für diese Unternehmen erhalten bleibt und neue Märkte geschaffen werden. Das eigentliche Problem für ostdeutsche Unternehmen ist die Tatsache, daß die Märkte verschwunden sind. Das sind die Kröten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Rudolf Dreßler [SPD]: Wann kommt denn da etwas? Wir haben doch übereinstimmend festgelegt, daß wir das prüfen wollen!)

— Daß wir prüfen wollen, wie wir von der Aufkommensneutralität wegkommen, ist richtig. Ich spreche mich ja dafür aus, daß wir davon wegkommen. Daß wir aber darüber hinaus finanzielle Probleme an anderer Stelle entstehen lassen, das ist keine Frage. Mein Votum geht dahin, daß wir die Degression der Abschreibung erhalten können.
Es gibt alles in allem also eine ganze Reihe von Kröten auch für uns. Aber ich bin froh, daß wir keine direkten Steuererhöhungen vor 1995,

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: „Erhöhungen der direkten Steuern" meinen Sie!)

keine Erhöhung der direkten Steuern vor 1995 — danke, Herr Kollege Klose — und keine Arbeitsmarktabgabe haben werden. Eine Arbeitsmarktabgabe wäre das Verkehrteste, ganz abgesehen von den juristischen Problemen in diesem Zusammenhang.
Ich bin froh, daß die Finanzausstattung der Länder geregelt ist, daß wir die Mittel für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur im Osten freigeschaufelt haben, daß die Mittel für die Erhaltung und Erneuerung der industriellen Kerne da sind. Ich bin froh, daß es einen erheblichen Anstoß für den Wohnungsbau in den neuen Bundesländern gibt.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Aber nur für die Privaten!)

Wir haben in diesem Zusammenhang die Kröte zu schlucken, daß wir gegenwärtig eine ganz erhebliche Steigerung der Nettoneuverschuldung haben. Aber ab 1995 ist eine Besserung, eine Verminderung der Neuverschuldung zu erwarten.
Im übrigen — Herr Kollege Klose, um das aufzugreifen, was Sie vorhin sagten — ist eine Nettoneuverschuldung in der gegenwärtigen Situation genau das, was konjunkturpolitisch erforderlich ist. Das Problem besteht nur darin, daß diese exorbitante Nettoneuverschuldung dazu führt, daß die Handlungsspielräume in den öffentlichen Haushalten in einer Art und Weise eingeschränkt werden, daß man keine Spielräume mehr für gestaltende Politik hat. Aber in konjunkturpolitischer Hinsicht ist das eine richtige Entscheidung.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.] — Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Sehr wahr!)




Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Alles in allem also ein großer Erfolg ist dieses Föderale Konsolidierungsprogramm, anknüpfend an Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der großen Finanzreform Ende der 70er Jahre getroffen worden sind.
Aber wir sind mit diesem Solidarpakt noch nicht über dem Berg. Äußere Bedingungen geben Anlaß zur Sorge. Der europäische Einigungsprozeß muß vorankommen, und bei GATT muß dringend etwas geschehen. Mich treibt es um, wenn ich daran denke, daß sich im Sommer die G 7 in Tokio wieder treffen werden und daß wir dann ein drittes Mal feststellen werden — alle miteinander —, daß es dringend erforderlich ist, daß wir endlich die Uruguay-Runde über die Bühne bringen und die GATT-Vereinbarungen zu Ende führen. Ein unerträglicher Vorgang!

(Beifall bei der F.D.P.)

In unserem Land beginnen viele Menschen, nicht nur die politische Klasse, sondern auch viele Menschen quer durch die Gesellschaft, zu verstehen, daß es mit der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes so nicht weitergehen kann und daß wir diese Wettbewerbsfähigkeit erhalten müssen. Der Bundeskanzler hat dazu Wesentliches gesagt.
Die Regulierung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens durch Vorschriften und Gesetze in einem Übermaß, die Schwerfälligkeit der Genehmigungsverfahren, die Erstarrung der Arbeitswelt, die Bildungsprobleme und vieles andere mehr — meine Damen und Herren, das wird nicht durch Knopfdruck zu lösen sein. Wir müssen daran stetig arbeiten.
Das Neue ist aber, daß die Menschen verstanden haben, daß man sich dem nicht verweigern kann. Ich habe den Eindruck, daß die meisten wissen, wo diese Aufgabe am besten aufgehoben ist, wo sie am besten erfüllt und erledigt wird, nämlich bei denen, die schon immer darauf geachtet haben, daß wir mit der Verschuldung verantwortlich umgehen müssen, und die darauf geachtet haben, daß eine Überregulierung des Lebens nicht stattfindet.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214905300
Herr Bundesminister, es tut mir leid, aber ich muß Sie unterbrechen. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie das rote Licht, daß ich Ihnen seit einiger Zeit zublinken lasse, nicht mißachten dürfen. Ich kann Ihnen das Wort nicht entziehen und Ihre Redezeit nicht beschränken; aber es geht auf Kosten der Zeit der folgenden Koalitionsredner.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214905400
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen. Ich bin der Auffassung, der Aufschwung wird greifen, auf Grund des Solidarpakts, auf Grund der Tatsache, daß wir Weichenstellungen zur Standortsicherung vornehmen. Daß dieser Aufschwung greift, ist wichtig, weil wir Aufgaben haben, die weit über unser Land und die Lösung der Probleme im Osten unseres Landes hinausgehen. Wir haben eine Verpflichtung in Richtung auf den Osten Europas. Dazu brauchen wir eine starke und leistungsfähige deutsche Wirtschaft. Die Bundesregierung wird ihre Politik daran orientieren.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Uwe Jens [SPD]: Was hat er denn nun gesagt? — Wolfgang Thiese [SPD]: Luft!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214905500
Ich erteile der Abgeordneten Frau Dr. Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1214905600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die mediengerecht inszenierte Erleichterung der Blockparteien über das gute Ergebnis der Solidarpaktverhandlungen kann die PDS/Linke Liste nicht teilen.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CSU/CSU]: Was für Parteien? Was für Parteien? Herr Präsident! Was für Parteien?)

Die Regierungskoalition hat sich mit ihrem Konzept des weiteren Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach oben durchgesetzt.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Müssen wir uns von der SED „Blockpartei" nennen lassen? — Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Können Sie sagen, was hier „Blockparteien" sind?)

Leider ist dabei auch unter der Hand aus der Gerechtigkeitslücke, die noch vor drei Wochen zum Standardrepertoire sozialdemokratischer Kommunalwahikämpferinnen und Kommunalwahlkämpfer gehörte, die Gerechtigkeitslüge geworden.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Was? „Lüge"?)

Der Solidarpakt, eine Bankrotterklärung der Regierungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P. wird damit leider auch noch von der SPD mitgetragen.
Zur Arbeitsmarktpolitik werden auch in Zukunft Beamte, Selbständige und Freiberufler keinen Beitrag leisten müssen. Über die auch von der PDS unterstützten SPD-Vorschläge zur Einführung einer Ergänzungsabgabe und/oder einer Arbeitsmarktabgabe wurde offenbar nicht einmal mehr verhandelt. Forderungen wie die auf Einführung einer Investitionshilfeabgabe der westdeutschen Unternehmen, die mittlerweile auch vom Vorsitzenden der IG-Metall unterstützt wird, oder die drastische Kürzung des Rüstungshaushalts waren natürlich tabu. Selbst der wieder vereinbarte Solidaritätszuschlag entbehrt jeder Sozialkomponente; denn eine Einkommensgrenze wurde nicht vereinbart.
Kaum hatte Rudolf Dreßler im Kanzleramt für den Solidarpakt votiert, da forderte er in einem Interview Nachbesserungen, ehe ihn Fraktionschef Klose mit der Bemerkung: „Es gibt kein Nachverhandeln; die SPD fordert es auch nicht!" kalt abduschte. Doch damit nicht genug. Auch der Vorsitzende der SPD belehrte den Sozialexperten der SPD-Bundestagsfraktion darüber, daß die dann auch von Dreßler erhobene Forderung nach einer Arbeitsmarktabgabe kein typisches Instrument der sozialen Gerechtigkeit sei. Herr Thierse hat jedoch die neueste Sprachregelung noch nicht mitbekommen; denn er fordert, die SPD müsse die abgelehnten Solidarpaktvorschläge,



Dr. Barbara Höll
zu denen er ausdrücklich die Arbeitsmarktabgabe zählt, wieder aufgreifen. Hier wäre es doch wünschenswert, wenn einiges etwas mehr klargestellt würde.
Der — ich zitiere — „organisatorisch desolate, inhaltlich zerstrittene Haufen", als der sich gegenwärtig nicht nur im Urteil des niedersächsischen Ministerpräsidenten die SPD präsentiert, gab auf der einen Seite Töne von sich, die einen Griff in die revolutionäre Phrasenkiste vermuten ließen — Herr Struck drohte sogar mit knallharter Opposition —, während auf der anderen Seite Herr Klose wiederholt erklären ließ, er werde seinen bisherigen Oppositionskurs nicht ändern.
Was ist denn nun das Wesen sozialdemokratischer Opposition? Im Anschluß an die im Kanzleramt am 12. März geführten Verhandlungen umschrieb der SPD-Vorsitzende das wie folgt: „Die SPD ist doch wie nie zuvor in der Geschichte von Oppositionen der Regierung riesenweit entgegengekommen. " Herr Engholm, der sich insgesamt auch noch das unsterbliche Verdienst erworben hat, die Worte „ein Stück weit" in die Hochsprache eingeführt zu haben, hatte jedoch noch am 25. Januar davon gesprochen, die Finanzierungsvorstellungen der Bundesregierung seien — so wörtlich — „so meilenweit, man muß fast sagen: myriadenhaft von den unseren entfernt, daß darüber zu diskutieren nicht lohnt". Was Opposition ist, das hat er eindrucksvoll beschrieben: Die Bundesregierung ändert ihre Politik nicht; also kommt ihr die SPD entgegen.
Es fällt zunehmend schwerer, zwischen der Bundesregierung und der SPD-Fraktion überhaupt noch einen meßbaren Unterschied festzustellen.

(Hans Eberhard Urbaniak [SPD]: Hören Sie zu, Frau Kollegin; dann finden Sie ihn!)

Damit trägt die SPD eben Mitverantwortung für die von der CDU/CSU und der F.D.P. initiierte unsoziale Politik.
Allerdings, im Kampf um die Lufthoheit an deutschnationalen Stammtischen

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Volk!)

hat die SPD dann zur Offensive geblasen und Handlungskompetenz bewiesen. Sie hat nämlich ohne Widerspruch akzeptiert, daß die Sozialhilfe für Asylbewerberinnen und Asylbewerber um 25 % gekürzt wird. Damit hat sie den grundlegenden Eingriff in das Sozialstaatsprinzip abgesegnet. Es ist nur logisch, daß sich die SPD anschließend noch einmal verschärft gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus ins Zeug gelegt hat.
Es trifft weiter nicht zu, daß, wie behauptet wird, von der SPD vereinbart worden ist, die Sozialhilfe ab 1994 um drei Prozentpunkte anzuheben.
Die PDS/Linke Liste hat einen Antrag vorgelegt, in dem wir die Einführung einer Investitionshilfeabgabe westdeutscher Unternehmen fordern. Dies ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Nach Abzug der Steuern vom Einkommen und Ertrag, insbesondere nach dem Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, betrug der Jahresüberschuß der westdeutschen Unternehmen 1989 82,6 Milliarden DM und stieg bis 1991 auf 95 Milliarden DM. Der Umsatz stieg von 1989 mit 4 300,9 Milliarden DM auf 4 675 Milliarden DM in 1991.
Unser Antrag stellt einen zunächst auf mindestens fünf Jahre befristeten Versuch dar, die nicht in Ostdeutschland investierenden Unternehmen in den alten Bundesländern durch Erhebung einer zweckgebundenen Abgabe an der Finanzierung des vordringlichen Investitionsbedarfs und der laufenden Betriebskosten zur Sanierung der privatisierten oder noch nicht privatisierten ostdeutschen Betriebe zu beteiligen.
Mein Kollege Bernd Henn wußte allerdings gestern zu berichten, daß die Koalitionsfraktionen im Wirtschaftsausschuß es dem SPD-Politiker Bury überlassen konnten, unter ihrem beifälligen schweigenden Nicken ihr Nein zu unserem Antrag auf Einführung eben dieser Investitionshilfeabgabe zu begründen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214905700
Ich erteile dem Abgeordneten Hans Peter Schmitz (Baesweiler) das Wort.

Hans Peter Schmitz (CDU):
Rede ID: ID1214905800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über das Föderale Konsolidierungsprogramm und den Solidarpakt sprechen, ist es ganz gut, sich an das zu erinnern — allerdings ist die Situation nicht vergleichbar —, was die Menschen Anfang 1950, zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland, gemacht haben. Am Anfang des Jahres 1950 standen die Deutschen vor einem Chaos: Sie hàtten den Krieg verloren; der Wiederaufbau mußte beginnen; 11 Millionen Flüchtlinge waren im Land; sie mußten integriert werden.
Was hat man gemacht? Man hat angepackt, nicht gejammert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Man hat den Lastenausgleich geschaffen.

Ich bin deswegen optimistisch, daß der gegenwärtigen Generation das gelingt, was die Generation unserer Eltern und die unserer Großeltern beim Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam geschafft haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mich stimmt auch optimistisch, daß in unserer Fraktionssitzung, in dieser Woche alle Ministerpräsidenten und Sprecher der Landtagsfraktionen gesagt haben: Wenn es so weitergeht, geht es aufwärts, Deshalb, so meine ich, sollten wir mehr in Optimismus als in Pessimismus machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ähnlich wie beim Wiederaufbau vor 43 Jahren stehen wir heute in der Bundesrepublik Deutschland vor einem Teilwiederaufbau. Mehr als drei Viertel unserer Bevölkerung leben in einem Teil Deutschlands, der sich nach wie vor in der Spitzengruppe der wohlhabenden Länder befindet. Aber 16 Millionen Deutsche sind durch eine sozialistische Diktatur daran gehindert worden, ihren eigenen Wohlstand zu schaf-



Hans Peter Schmitz (Baesweiler)

fen. Sie leiden bis heute, fast 48 Jahre nach Kriegsende, immer noch unter den Folgen der Politik der SED. Dies sollten wir nicht vergessen.
Anfang 1990, zu Beginn der deutschen Einheit, waren wir alle optimistisch.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig!)

Wir dachten, der wirtschaftliche Aufholprozeß in den jungen Bundesländern sei schneller zu schaffen. Aber wir mußten konstatieren, daß Last und Bürde größer waren, als wir vorher angenommen haben.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Der Zustand der Wirtschaft in der früheren DDR war trostlos. Die Wirtschaftssysteme im Osten brachen zusammen. Es kommt hinzu, daß wir uns augenblicklich im Westen nicht in einer konjunkturellen Hochlage befinden.
Daher sollten wir festhalten: Dieser Solidarpakt und dieses Föderale Konsolidierungsprogramm sind dringend erforderlich. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Sommer vorigen Jahres den Anstoß zum Solidarpakt und anschließend auch zum Förderalen Konsolidierungsprogramm gegeben.
Beides ist, meine ich, auch deswegen notwendig, um wieder Handlungsspielraum zu gewinnen. Sparsamkeit der öffentlichen Hände, Verbesserung der gesamten Infrastruktur, Lohnzurückhaltung, Begrenzung des Anstiegs der Sozialkosten — all dies gehört zusammen; das läßt sich nicht voneinander trennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hier setzen wir mit unserem Föderalen Konsolidierungsprogramm an. Es ist eine tragfähige Grundlage zur Bewältigung der Herausforderungen. Natürlich ist es ein Kompromiß. Niemand hat seine Maximalpositionen durchsetzen können.
Ich sage ganz pointiert: Wir müssen das gemeinsam tragen. Nachbessern geht nicht mehr. Ein Kompromiß wurde gefunden. Wir sollten alle zu ihm stehen und ihn akzeptieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich muß allerdings hinzufügen: Der Bund ist in diesen Verhandlungen bis an die äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten gegangen. Er trägt die Hauptlast des Kompromisses. Ich erinnere nur an die Übernahme der Erblasten in Höhe von 40 Milliarden DM jährlich und an die Entlastung der jungen Bundesländer bei den Wohnungsbauschulden.
Der Bund trägt auch den Löwenanteil beim Länderfinanzausgleich in Höhe von 41,5 Milliarden DM jährlich. Die westlichen Länder und Gemeinden tragen demgegenüber nur 16,8 Milliarden DM.
Wir müssen den westlichen Bundesländern sagen, daß sie dies nicht als Begründung dafür nehmen dürfen, sich zu entlasten, indem sie diese Belastungen an die Städte und Gemeinden weitergeben. Diesen Trick machen wir nicht mit. Ich kann die Städte und Gemeinden nur auffordern, nachdem der Bund-Länder-Finanzausgleich geregelt ist, auch einen LänderGemeinden-Finanzausgleich herbeizuführen, damit nicht das geschieht, was ich eben geschildert habe.
Dieses Föderale Konsolidierungsprogramm spricht für sich. Die Finanzkraft der jungen Länder wird nachträglich auf eine verbesserte Grundlage gestellt. In diesem Jahr fließen dem Fonds „Deutsche Einheit" zusätzlich 3,8 Milliarden DM zu; im nächsten Jahr werden es mindestens 8,9 Milliarden DM sein.
Herr Kollege Thierse, das haben Sie eben offenbar nicht ganz richtig verstanden: Bis jetzt gilt noch die Finanzierung der jungen Bundesländer im Rahmen des Fonds „Deutsche Einheit". 1995 beginnt der Bund-Länder-Finanzausgleich. Ich habe es nicht verstanden, wieso man das als gebückte Haltung bezeichnet. Das ist im Grunde genommen falsch. Ich hoffe, daß Sie es richtigstellen werden.

(Wolfgang Thierse [SPD]: Das war rückwärts bezogen! Der Zustand des Betteln-Müssens war gemeint!)

— Der Fonds „Deutsche Einheit " war kein Instrument, daß j emand hat betteln müssen. Dort, wo es notwendig war, haben wir nachgebessert, nicht nur auf Druck der Kollegen aus den Ländern, sondern auch aus eigener Einsicht. Sie müssen einmal nachschauen, Herr Kollege Thierse, wer den Fonds „Deutsche Einheit" wirklich finanziert hat. Sie können hier doch nicht die Tatsachen verdrehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist dort alles enthalten: die erhöhte Investitionszulage, das Wohnungsmodernisierungsprogramm, die Übergangsfinanzierung in bezug auf die Kultur, die Hilfen für industrienahe Forschung. Das muß man wissen. Enthalten sind auch andere bereits im Jahre 1993 ausgewiesene Aufbauhilfen. Zusätzlich ist das KfW-Zinsverbilligungsprogramm von 30 auf 60 Milliarden DM verdoppelt worden.
Zur Erhaltung der industriellen Kerne wird der Kreditrahmen der Treuhandanstalt erweitert. Die Mittel für Arbeitsförderungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden aufgestockt. Ich reihe das einmal bewußt hintereinander. Hinzu kommen die Maßnahmen der Privatisierung und der Deregulierung, um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen.
Ich freue mich darüber, daß die überwiegende Zahl der Äußerungen aus den Regierungen der jungen Bundesländer zeigt, daß dieses Programm Anerkennung findet. Man darf ja auch einmal gelobt werden. Ich finde es richtig, wenn das geschieht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es fällt dem Westen nicht leicht, die Belastungen zu tragen. Immerhin geht es um 5 % des Bruttosozialprodukts. Das ist ein spürbares Opfer, wie wir sagen müssen.
Ich sage ohne Schuldzuweisung, daß vielleicht auch das Standortsicherungsgesetz als ein wichtiges Element des Solidarpakts hätte eingeführt werden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber vielleicht war das nicht möglich. Ich plädiere dafür, daß wir es gleichzeitig behandeln. Dies dient sicher der Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft sowohl im Westen als auch im Osten. Wir brauchen das dringend.



Hans Peter Schmitz (Baesweiler)

Ich meine, wir brauchen unbedingt die im Standortsicherungsgesetz vorgesehene Senkung des Spitzensatzes bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer auf jeweils 44 %. Wir werden versuchen, eine Beschleunigung herbeizuführen, damit noch vor der Sommerpause die Verabschiedung erfolgen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben beobachten können, daß in den neuen Bundesländern Unternehmer im eigentlichen Sinne gefragt sind. Wir haben aber auch feststellen können, daß sich viele Existenzgründer und Investoren aus dem Westen erfolgreich so verhalten haben. Der Bundeskanzler hat dazu eine ganze Reihe von Beispielen genannt; ich brauche das nicht zu wiederholen.
Wenn wir jetzt mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm und gleichermaßen mit dem Solidarpakt die Chance ergreifen, die uns geboten ist, wenn wir es nicht zerreden lassen, sondern uns in diesem Zusammenhang aktiv einsetzen, haben wir, glaube ich, eine gute Chance, das, was uns unsere Eltern und Großeltern mit Lastenausgleich und Integration vorgemacht haben, gleichermaßen erfolgreich nachzuvollziehen. Ich hoffe, daß wir in diesen Fragen alle an einem Strang ziehen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214905900
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rudolf Dreßler das Wort.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214906000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich zu Beginn mit einigen Äußerungen, die heute morgen von seiten der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen eingebracht worden sind, um der Klarheit willen noch einmal auseinandersetzen.
Herr Schäuble, ich war doch ein wenig verblüfft, als Sie dem Haus heute morgen mitteilten, daß Sie bereits im Oktober so weit gewesen seien, Solidarpaktgespräche mit der Opposition zu führen, sie aber erst dann hätten aufnehmen können, als die SPD so weit gewesen sei.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Herr Engholm war doch beim Kanzler und hat gesagt, Sie seien nicht bereit!)

— Herr Schäuble, es ist völlig unstrittig, daß die SPD um einer Konzeption willen lange mit sich gerungen hat. Aber unstrittig ist auch, daß die Koalition — d. h. die, die sie tragen — im März einen Kabinettsbeschluß zustande gebracht hat und zwei Tage später die erste Lesung im Deutschen Bundestag stattfand. Das war nicht das Jahr 1992, sondern das Jahr 1993. Wenn Sie also im Oktober fertig gewesen wären, hätten Sie nach meiner Einschätzung mit Sicherheit nicht gezögert, das Hohe Haus, die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bevölkerung mit den Inhalten dessen, was Sie zu tun beabsichtigen, zu beschäftigen.
Es hatte schon Gründe bei Ihnen — genau wie bei uns —, daß Sie Zeit brauchten innerhalb Ihrer eigenen Fraktion — das wissen Sie besser als ich — und auch innerhalb der Koalition. Im übrigen ist das nichts Schändliches.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es hat lange gedauert!)

Nur, so zu tun, als ob Ihre Koalition im Oktober fertig gewesen wäre, und Deutschland auf die SPD gewartet hätte — Herr Schäuble, so sehr lieben Sie die Sozialdemokratische Partei nicht, daß Sie Deutschland fünf Monate auf die SPD warten lassen.
Die Wahrheit ist, daß die Bevölkerung auf uns alle, die wir in diesem Hohen Hause vertreten sind, gewartet hat: auf Ihre Koalition, auf Ihre Fraktion und richtigerweise auch auf uns.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann sollten Sie es uns nicht vorwerfen! Wenn wir uns darauf verständigen könnten!)

Das zweite: Der Bundeskanzler ist aus berechtigten Gründen unterwegs, aber ich möchte noch eine Bemerkung zu den Maschinenlaufzeiten machen. Meine Damen und Herren, kann es denn nicht einmal möglich sein, aus diesen Gräben, in die man sich hineingegraben hat, wieder herauszukommen, auch wenn das schwer ist? Man sollte doch wenigstens versuchen, Sachverhalte, die in deutschen Betrieben und Unternehmungen gegeben sind, also deutsche Tarifrealität, Unternehmensrealität, zur Kenntnis zu nehmen, um, darauf aufbauend, einige Dinge zu diskutieren.
Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel — Sie wissen wie ich, daß Sie die Liste dieser Beispiele verlängern können —: Opel in Bochum hat nach Auskunft der Europäischen Gemeinschaft die längste Maschinenlaufzeit eines Unternehmens in der Welt. Wir wissen aber auch, daß Opel Rüsselsheim, was diesen Punkt betrifft, fast beim Gegenteil liegt. Woran liegt das? Das liegt doch nicht an Tarifverträgen, an einer Gewerkschaft, sondern das liegt an der betrieblichen Organisation, für die in Deutschland Gott sei Dank nicht das Parlament und auch nicht die Bundesregierung Verantwortung tragen, sondern Unternehmensleitungen, Betriebsräte und, wenn Sie so wollen, mittelbar — manchmal auch unmittelbar — Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen.

(Beifall bei der SPD)

Der dritte Punkt. Wir haben heute morgen vielfach über Mißbrauch diskutiert. Nun sehe ich, daß seit dem Solidarpakt oder auch schon vier Wochen vorher Herr Blüm — bildlich gesprochen — Tag und Nacht unterwegs ist. Wie ein wildgewordener Handfeger hetzt er von Interview zu Interview und bekämpft den Mißbrauch in der Luft, auf dem Wasser und zu Lande.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wer von euch beiden mehr Interviews gegeben hat, ist nicht ganz klar!)

Das ist ja, soweit er seine gesetzliche Pflicht jetzt entdeckt zu haben glaubt, ganz in Ordnung; ich könnte auch sagen: überfällig. Gleichwohl frage ich mich: Wo sind denn eigentlich die Kämpfer, die, verbal mit uns übereinstimmend, das Stichwort Wirtschaftskriminalität aufgenommen haben? Wo sind diese denn eigentlich zur Zeit unterwegs? Ich muß



Rudolf Dreßler
Ihnen sagen, wir werden an diesem Punkt nicht lockerlassen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Haben Sie den Bundeskanzler angehört?)

Wenn das Bundeskriminalamt, wenn die Gewerkschaft der Polizei, wenn sich mit dieser Thematik beschäftigende Wissenschaftler uns ständig notieren — die Zahl kommt ja nicht von uns —, daß wir durch Wirtschaftskriminalität im Laufe eines Jahres eine geschätzte Summe zwischen 130 Milliarden und 150 Milliarden DM verlieren, dann würde ein Erfolg von 10 % bei der Bekämpfung mehr als 100 % Mißbrauch im Sozialhilfebereich ausmachen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Auf diesem Felde 10 % nicht zu erreichen wäre ein Offenbarungseid deutscher Politik, der Legislative wie der Exekutive; aber zunächst einmal der Exekutive, die dafür die Verantwortung trägt.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wer ist denn zuständig?)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214906100
Herr Abgeordneter Dreßler, würden Sie eine Frage des Abgeordneten Urbaniak beantworten?

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214906200
Bitte schön.

Hans-Eberhard Urbaniak (SPD):
Rede ID: ID1214906300
Herr Kollege Dreßler, Sie sprechen, was die Wirtschaftskriminalität angeht, von Verlusten bis zu 150 Milliarden DM, die dem Staat entstehen. Gibt es dafür, daß diese Summe so genannt werden kann, gesicherte Erkenntnisse, und kann man daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß die Bundesregierung dagegen auch eine Strategie entwickeln müßte, um diese hohen Verluste für uns alle tatsächlich zu vermeiden?

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214906400
Herr Urbaniak, die Zahlen, auf die sich unsere Annahmen beziehen, stammen logischerweise nicht aus der Politik. Ich habe die Absender genannt: Bundeskriminalamt, Gewerkschaft der Polizei, Wissenschaft etc. Da es sich um Mißbrauch handelt, sind es Dunkelziffern, und man ist auf Schätzungen angewiesen. Verblüffend ist jedenfalls die übereinstimmende Zahlenangabe der von mir genannten Absender.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Darin ist auch der Rauschgifthandel enthalten!)

Das Thema der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität — etwa im Baubereich, bei der Subventionsgewährung, beim Steuerbetrug — ist nicht neu. Es ist ein altes Thema. Ich habe allerdings nicht erkennen können, daß da, wo plötzlich die Bekämpfung des Mißbrauchs im Bereich des Sozialsektors erklärtes Koalitions- und Regierungsprogramm wurde, die ungleich höheren Schätzzahlen in dem anderen Bereich auch nur andeutungsweise in eine Konzeption der Koalition oder der Bundesregierung eingeflossen wären.
Hingegen haben wir es bei den Solidarpaktgesprächen zum Thema gemacht. Wir waren uns auch verbal einig, und es ist für mich unerheblich, ob die eine Seite größere Hoffnungen in eine Erfolgsquote setzt als die andere Seite. Entscheidend ist, daß mit dieser Politik Ernst gemacht wird. Wenn das Wort des Bundeskanzlers von heute morgen, daß er das nicht nur als Rhetorik betrachte, sondern auch als Aufgabe sehe, Bestand hat, müßten wir uns doch in der Bewertung dieses Sachverhaltes zumindest einig sein darin, daß wir es bekämpfen wollen, daß wir aufhören, nur auf diesem Sozialleistungsmißbrauch herumzureiten

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

und so zu tun, als ob das alles Deutschland retten würde.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214906500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäuble?

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214906600
Bitte.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1214906700
Herr Kollege Dreßler, Sie haben zu Recht gesagt, wir seien uns bei den Gesprächen einig gewesen, daß Mißbrauch in allen Bereichen bekämpft werden müsse. Sind Sie dann auch bereit zu bestätigen, daß erstens die Bekämpfung der Steuerhinterziehung Aufgabe der Steuerverwaltung und der Bundesländer ist und daß zweitens die Bekämpfung von Subventionsmißbrauch vor allen Dingen die Frage der Bekämpfung Organisierter Kriminalität sein wird? Können wir daraus die Hoffnung ableiten, daß Sie unserer Forderung nach Verbesserung der gesetzlichen Instrumentarien zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität in Zukunft positiver gegenüberstehen, als es bisher der Fall war?

(Beifall bei der CDU/CSU)


Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214906800
Herr Kollege Schäuble, ich fange mit dem letzten an: Wenn die Dinge nicht vermanscht werden und es, bezogen auf diesen Sektor, von Ihrer Seite Gespräche geben soll, die genau dieses erreichen, nehme ich an, daß unser Fraktionsvorsitzender, der ja neben Ihnen sitzt, morgen früh dazu bereit ist. Das kann gar nicht das Problem sein.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das wird Ihnen dann als Schmusekurs vorgehalten!)

— Herr Kollege Schäuble, damit das klar ist: Wenn wir gemeinsam ein Konzept erarbeiten können, um Subventionskriminalität und was es dazu alles in Deutschland gibt zu bekämpfen, lasse ich mir gerne einen Schmusekurs mit Ihnen vorwerfen. Das ist überhaupt keine Frage.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Schmude?)

— Schmusekurs.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214906900
Dies veranlaßt nun den Abgeordneten Büttner zu einer Zwischenfrage.




Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214907000
Ich möchte noch eine Bemerkung an Herrn Schäuble anschließen: Es gab ja während der Beratungen im Kanzleramt — Sie werden sich daran erinnern —, in die sich an dieser Stelle auch der Bundeskanzler sehr stark eingeschaltet hat, einen Dialog zwischen ihm und mir. Er war eher skeptisch, ich war eher optimistisch, was die Möglichkeiten betrifft. Aber davon abgesehen waren wir uns einig, es tun zu müssen. Dann kam der Punkt, von dem Sie sprachen; ich will das Stichwort Föderalismus nennen. Sie erinnern sich, daß ich gesagt habe: Herr Bundeskanzler, hier sitzen wir nun alle zusammen, und diejenigen, die es nicht wollen, können sich melden. Keiner fehlt am Tisch des NATO-Saals im Bundeskanzleramt. Es hat sich keiner gemeldet, Herr Kollege Schäuble. Deshalb darf ich davon ausgehen, daß sich die Runde in dieser Frage — hoffentlich — einig war.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wollen wir es hoffen!)

In diesem Falle darf ich einmal Schweigen als Zustimmung werten, obwohl das formaljuristisch, wie die Juristen sagen, nicht ganz sauber ist.
Bitte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214907100
Bitte schön, Herr Abgeordneter Büttner.

Hans Büttner (SPD):
Rede ID: ID1214907200
Herr Abgeordneter Dreßler, wie beurteilen Sie angesichts der Aussage des Bundeskanzlers heute früh, daß ein Umdenken notwendig sei, das Verhalten eines Bundesministers — und die Reaktion des Bundesarbeitsministers darauf —, das darin besteht, daß sich jemand, der noch nie auch nur einen Pfennig in eine Sozialkasse gezahlt hat, unter Ausnutzung aller Möglichkeiten — bis zur Überschreitung der Grenze der Legalität — aus dieser Sozialkasse mit erstaunlicher Konsequenz Subventionen in erheblichem Maße erschleicht und das dann hinterher auch noch rechtfertigt?

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Er wollte doch einer Arbeitnehmerin helfen!)


Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214907300
Ich betrachte ein solches Verhalten generell, egal um wen es geht, schlicht als schändlich.

(Beifall bei der SPD — Gunnar Uldall [CDU/ CSU]: Dann stimmt doch das Instrument nicht! Das soll doch den Arbeitslosen helfen! Dann schaffen Sie das Instrument doch ab!)

Wenn Sie gestatten, komme ich im Verlaufe meiner Ausführungen gerade auf diesen Punkt noch einmal zurück.
Meine Damen und Herren, ich habe diese Vorbemerkungen machen wollen, weil sie mir jedenfalls in der Diskussion wesentlich erschienen.
Ich glaube, heute morgen ist deutlich geworden, daß unser Land in einer ungewöhnlich schwierigen Lage ist. Ein weitgehend mißlungener Um- und Aufbau im Osten unseres Landes ist nun mit einer tiefen Rezession im Westen zusammengefallen. Überschuldete öffentliche Haushalte engen die politischen Handlungsmöglichkeiten aller Verantwortungsebenen zu einem Zeitpunkt ein, wo deren Erweiterung dringend geboten wäre.
Aber wir wollen heute die Vergangenheit nicht ganz vergessen. Alles dies ist nicht gleichsam ohne die Chance zu einer Gegenwehr über uns gekommen oder auf uns eingestürmt, sondern es ist das Ergebnis einer Politik, die sich im Laufen-Lassen, im Aussitzen der Probleme geübt hat, wo aktive Gestaltung notwendig gewesen wäre. Es ist letztlich das Ergebnis der Politik der Bundesregierung. Insoweit trägt sie dafür auch die Verantwortung.
Seit nunmehr über zehn Jahren verfügen CDU/CSU und F.D.P. in diesem Hause über eine klare Mehrheit. Sie haben sie nicht genutzt, um zu gestalten, um Perspektiven zu entwickeln oder um Gemeinsinn zu wecken, sondern um Illusionen zu nähren und — viel schlimmer — an den Egoismus des einzelnen zu appellieren.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Noch nie war die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, für dieses Gemeinwesen einzustehen und Opfer um der Wohlfahrt des gemeinsamen Ganzen willen in Kauf zu nehmen, so gering. Auch dafür trägt die Regierung durch ihre Politik die Verantwortung.
Wer auf politische Gestaltung verzichtet, wer gesellschaftspolitischen Ausgleich verwirft, wer die Wirtschaft sich selbst überläßt und das gar noch als Staatskunst ausgibt, wer einseitig auf die vermeintlichen Selbstheilungskräfte der Märkte setzt, der beschwört ein Klima in der Gesellschaft herauf, in dem Solidarität einfordern alles und Solidarität leisten nichts gilt. Wer diejenigen zu Solidarleistungen heranzieht, die der Solidarität eigentlich bedürfen, sie aber denjenigen erläßt, die sie eigentlich leisten müßten, der stellt die gesellschaftlichen Proportionen auf den Kopf.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Zu lange haben Bundeskanzler Kohl, der CSUVorsitzende Waigel und F.D.P.-Chef Graf Lambsdorff eine Politik betrieben, in der die Summierung der Egoismen der einzelnen zum Maßstab für das Gemeinwohl verbogen wurde. „Leistung muß sich wieder lohnen" war eine jener unsäglichen Parolen. Nach dieser Parole wurde dann der Krankenschwester die Mehrwertsteuer erhöht und dem Unternehmer die Vermögensteuer gesenkt; denn der war ja Leistungsträger. Was glauben Sie eigentlich, was damit im Bewußtsein der Menschen, etwa jener Krankenschwester, angerichtet wird, wenn man ihr bescheinigt, ihre Leistung sei eine, die sich nicht lohne, obwohl sie doch Tag für Tag nach kräftezehrender Arbeit todmüde ins Bett fällt? Ein Gemeinwesen, das sie so behandelt, verliert in ihren Augen den Anspruch auf aktive Unterstützung.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Politik der Regierung hat auf sozialen Ausgleich verzichtet. Schlimmer noch: Sie hat Ausgleichsmechanismen zerstört und viele Menschen vor den Kopf gestoßen. Wer Eigensucht prämiert, darf sich nicht



Rudolf Dreßler
wundern, wenn er zu deren Ausbreitung beiträgt. Eine Politik für das gemeinsame Ganze gibt es seit zehn Jahren nicht mehr. Statt dessen gibt es eine Politik der Befriedigung der einzelnen Klientelen, ganz wohl dosiert: einmal eine Belohnung für diese, einmal ein Zückerchen für jene Gruppe.
Ein funktionierender Solidarpakt aber hat Voraussetzungen. Die elementarste unter ihnen ist die Schaffung eines gesellschaftspolitischen Klimas, in dem Menschen bereit sind, aktiv Solidarität zu üben.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wohl wahr!)

Ein Solidarpakt lebt nicht von den Gesetzen, die ihn beschreiben, sondern vom Mittun der Menschen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Bereitschaft zum Mittun hat diese Koalition durch ihre Politik aufs höchste gefährdet.
Wenn einem finanziell wohlbestallten Bundesminister die Haushaltshilfe zu 70 % vom Arbeitsamt finanziert wird: Was, glauben wir eigentlich, fällt zum Thema Solidarität einer berufstätigen alleinstehenden Mutter ein, wenn sie von Pontius zu Pilatus laufen muß, um eine vor ihr selbst zu bezahlende Haushaltshilfe für die Betreuung ihrer kleinen Tochter zu gewinnen,

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist Solidarität!)

damit sie nicht nur ihre monatlichen 2 500 DM, sondern auch noch jene Beitragsgroschen erarbeiten kann, mit denen das Arbeitsamt dem Minister die Haushaltshilfe bezahlt?

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste —Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist der Skandal!)

Diese Mutter wird sich verhöhnt vorkommen, wenn das Wort Solidarität auch nur in den Mund genommen wird. Wenn sie dann auch noch mit der Bemerkung des Ministers konfrontiert wird, dies sei alles Rechtens, dann wird ihre naheliegende, gleichwohl gefährliche Schlußfolgerung sein: Wenn dies Rechtens ist, dann kann etwas mit unserem Recht nicht stimmen.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es!)

Ich frage die Koalition — und hätte heute morgen gerne auch Herrn Krause gefragt —: Merken Sie eigentlich gar nicht, was Sie in den Köpfen der Menschen anrichten, wenn Sie darüber einfach so zur Tagesordnung übergehen?

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und das noch durch den Bundesarbeitsminister entschuldigen lassen!)

Der Solidarpakt, über den wir heute debattieren, trifft gesellschaftspolitisch auf denkbar ungünstige Voraussetzungen, auf die Ergebnisse der unsolidarischen Politik der Vergangenheit. Die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten am 3. Oktober 1990 hätte noch einmal die Chance geboten, dieses Blatt zu wenden und die Freude über das historische Ereignis umzumünzen in die Einsicht für eine notwendige gemeinsame Kraftanstrengung. Aber auch diese Chance hat die Bundesregierung vertan. Allein um wahltaktischer Vorteile willen hat sie den Eindruck erweckt, der tatsächliche Einigungsprozeß sei ein Kinderspiel, binnen kurzem würden blühende Landschaften in Ostdeutschland entstehen. Statt auf blühende Landschaften treffen wir heute auf Industriebrachen, einen zusammengebrochenen Arbeitsmarkt und — viel, viel schlimmer — auf Menschen, deren Selbstbewußtsein ins Mark getroffen ist.
Soeben hat sich der Kollege Schmitz wieder herausgeredet. Er hat auf das Erbe von 40 Jahren kommunistischer Diktatur verwiesen. Das war es dann. Herr Schmitz, diese Erbschaft steht ohnehin fest, ist untilgbar.

(Zuruf von der CDU/CSU: Real existierender Sozialismus!)

Also, Herr Schmitz, besinnen auch Sie sich auf Ihre Verantwortung für die Situation in Ostdeutschland; denn sie ist ebenso nicht zu leugnen. Die von Ihnen mitgetragene Bundesregierung hat seit 1990 Fehler auf Fehler gehäuft und so die desolate Situation mit herbeigeführt.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Das begann unter Ihrem Beifall mit der Zurückweisung der Bereitschaft zur Zusammenarbeit auch dieses Teils des Parlaments vor zweieinhalb Jahren; schon vom Vorgänger von Herrn Klose, von Hans-Joachim Vogel immer wieder erklärt. Er nannte das damals Gemeinschaftsinitiative. Sie haben unter dem Beifall der Regierungsmitglieder hier die Erklärungen gehört, wir würden nicht gebraucht, man wolle das alleine machen, wir seien die Miesmacher. Nach zweieinhalb Jahren heißt das nun Solidarpakt. Da müssen Sie unsereinem schon zugestehen, daß er sich ganz genau damit auseinandersetzt.
Diese Zurückweisung der Bereitschaft des ganzen Bundestages, die Mitverantwortung für den Aufbau Ost zu übernehmen, über die falsche Eigentumsregelung bis hin zur verhängnisvollen Treuhandpolitik — das alles geht auf Ihr Konto. Da können Sie sich nicht mit Blick auf die Ulbrichts und die Honeckers davonstehlen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Erst seit diese Regierung überhaupt nicht mehr weiter wußte, seit sie fürchten mußte, daß der eingetretene Schaden noch größere Folgen haben werde, redete sie vom Solidarpakt und machte Gesprächsangebote an die SPD. Aber selbst dabei mache ich mir über ihre Motive überhaupt nichts vor.

(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ CSU]: Ich über Ihre auch nicht!)

Die fehlende Mehrheit der Koalition im Bundesrat hat bei der Änderung ihrer Haltung mehr nachgeholfen als eine mögliche Einsicht in staatspolitische Notwendigkeiten.
Die SPD jedenfalls hat Ihr Gesprächsangebot akzeptiert, und wir haben ein Gesprächsergebnis, eine Vereinbarung erzielt, die wir mittragen. Aller-



Rudolf Dreßler
dings werte ich dies nüchterner als die Vertreter der Koalition, vielleicht sogar als manche meiner eigenen Partei. Das, was vereinbart worden ist, liegt an der unteren Grenze des Notwendigen. Eine nationale Kraftanstrengung — das sage ich Ihnen — war das nach meiner Einschätzung nicht. Zur Erfüllung des Anspruches, einen Solidarpakt aufzustellen, fehlt bei dieser Einigung — wenn Sie sich endlich für das Erkennen der wirklichen Lage in Deutschland die Brille putzen, werden Sie das merken — eine ganze Menge.
Wir können das Ergebnis deshalb mittragen, weil drei wesentliche Forderungen durchgesetzt wurden, für die wir im wahrsten Sinne des Wortes im Wort standen.
Erstens. Einen abermaligen Einschnitt in das soziale Netz, Kürzungen von Sozialleistungen, wie von der Koalition ursprünglich geplant, wird es nicht geben.
Zweitens. Die Sanierung industrieller Kerne in Ostdeutschland — von der Koalition eigentlich gar nicht vorgesehen — kann in Angriff genommen werden, und zwar in diesem Jahr und nicht erst 1995.
Drittens. Ein Wohnungsbauprogramm Ost, ebenfalls von der Regierung nicht geplant, kann aufgelegt werden. Die Wohnungsbaugesellschaften werden endlich handlungsfähig, weil ihnen die drückende Last der Altschulden genommen wurde. Normalerweise müßte sich Frau Ministerin Schwaetzer jetzt in aller Form bei der Sozialdemokratie bedanken, daß sie sich mit wirklicher Freude ein großes Aufgabengebiet im Osten endlich vornehmen kann. Zunächst war es nicht mehrheitlich durchzusetzen, aber wir haben es geschafft.
Mit der von der Regierung ursprünglich geplanten Kürzung von Sozialleistungen wäre die Politik der sozialen Schieflage und der einseitigen Belastungen verschärft fortgeführt worden. Mit einer weithin unterlassenen oder nur zögerlich betriebenen Sanierung industrieller Kerne in Ostdeutschland wäre die wirtschaftliche Struktur dort vollends zerbrochen und der Arbeitsmarkt ruiniert worden. Beides war nicht zu verantworten. Beides vermieden zu haben ist ein Erfolg. Den hätte es ohne unsere Beteiligung allerdings nicht gegeben.

(Beifall bei der SPD)

Die Koalition redet nun fortwährend von einem Solidarpakt, wenn sie von der Vereinbarung mit der SPD spricht. Ich muß einmal fragen: Wer, bitte, sind eigentlich die Beteiligten? Mehrheit und Minderheit in diesem Haus, die Bundesländer. Ich frage mich, ob sich die Regierung eigentlich nie gefragt hat, ob das eigentlich reicht. Einen Solidarpakt zu schnüren ist doch nicht Aufgabe der Politik allein. Wo ist denn eigentlich die zentrale Einbeziehung der gesellschaftlichen Gruppen, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, des Handels, des Handwerks, der Industrie?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214907400
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie unterbreche. Der Abgeordnete Dr. Seifert fragt, ob sie eine Zwischenfrage beantworten.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214907500
Sofort.
Deren Mitgestalten und Mittun ist unverzichtbar, wenn es um einen Solidarpakt geht. Ich werde den Verdacht nach wie vor nicht los, daß Sie den Solidarpakt immer noch taktisch sehen.

(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ CSU]: Ihre Verdächtigungen weisen wir pauschal zurück!)

Taktisch, weil es Ihnen zuvörderst um politische Vorteile und letztlich nicht um das Los der Menschen geht, für die jedenfalls meine Fraktion angetreten ist.

(Beifall bei der SPD)

Bitte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214907600
Herr Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1214907700
Herr Kollege Dreßler, da Sie den Wohnungsbau so ausdrücklich hervorheben und die Ergebnisse auf diesem Gebiet als großen Erfolg bezeichnen: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es für einen Solidarpakt angemessen wäre, sehr viele Sozialwohnungen zu bauen und nicht allein den privaten Wohnungsbau zu fördern?

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214907800
Ich bin völlig Ihrer Meinung. Das gilt übrigens auch für den Westen und nicht nur für den Osten.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Einverstanden!)

— Völlig klar.
Wenn Sie sich die 20 Punkte ansehen, mit denen die SPD in die Verhandlungen gegangen ist, so sage ich Ihnen: Davon haben die Sozialdemokratische Partei und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion keinen Punkt aufgegeben. Wir haben nur einige Punkte nicht durchsetzen können, weil wir keine Mehrheit hatten. Aber das, was darin steht, ist morgen genauso aktuell, wie es das gestern war, und dafür wird diese Fraktion auch morgen weiter eintreten. Sie sind herzlich eingeladen mitzumachen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will ein Wort zu der ostdeutschen Lage in der Tarifpolitik sagen. Sie ist wohl in der Tat schwierig. Ich frage mich an dieser Stelle auch — denn es war während der Tagung im NATO-Saal des Kanzleramts klar, was dort los ist —: Wäre es nicht Aufgabe eines echten Solidarpaktes gewesen, den Tarifvertragsparteien durch eine klare ökonomische Perspektive zu helfen, die komplizierte Situation in eigener Verantwortung zu bestehen? So etwas geht aber nur, wenn die Tarifvertragsparteien am Solidarpakt mitwirken. Wo war die Einladung zur Mitwirkung?
Ich habe von der Regierung auch heute morgen nur ständiges Hineingerede in die Tarifautonomie vernommen. Ich sage Ihnen: Wenn Sie so weitermachen und die Tarifautonomie aufs Spiel setzen, die wir in Deutschland alle auf Gewerkschaftstagen parteiübergreifend in jeder Rede feiern, dann zerschlagen Sie



Rudolf Dreßler
mehr als nur einen von Ihnen ideologisch auf den Weg gebrachten Punkt.

(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ CSU]: Sie sehen doch Gespenster!)

Sie zerschlagen ein Stück des Erfolges Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.

(Beifall bei der SPD)

Ich kann Neugierige nur warnen, so weiterzumachen.

(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ CSU]: Reiner Popanz, den Sie aufbauen!)

Ich weigere mich, die mit der Koalition erzielte Einigung schönzureden. Die Wahrheit ist: Mehr als das Mindestmaß an Notwendigem war mit Ihnen zur Zeit nicht möglich. So eindeutig unsere Verpflichtung ist, das, was wir in Verhandlungen mit Ihnen erreicht haben, für die Menschen zu sichern und durchzusetzen — das werden wir auch weiter tun —, so unbestritten ist auf der anderen Seite unser Auftrag, weiter dafür zu streiten, daß die offengebliebenen Probleme gelöst werden.
Nun hat man selten Gelegenheit, im Deutschen Bundestag seine eigenen Interviews vorzulesen. Aber in diesem Falle, nachdem Sie es heute morgen mehrfach direkt oder indirekt angesprochen haben, will ich noch einmal darauf hinweisen, um was es eigentlich geht. Ich habe gesagt:
Wir konnten nicht alles, aber viel von dem durchsetzen, was wir seit Jahren gebetsmühlenartig fordern: Bund-Länder-Finanzausgleich, Sanierung industrieller Kerne und ökologischer Altlasten, aktive Wohnungsbaupolitik, Absatzförderung von Ost-Produkten und die Aufhebung des ABM-Stopps.
Die Frage, ob ich damit zufrieden wäre, habe ich beantwortet mit:
Nein, natürlich nicht. Der Solidarpakt ist in erster Linie ein Aufbauprogramm Ost.
— Deshalb sind wir auch angetreten. —
Es fehlt aber immer noch ein schlüssiges Konzept für den Westen.
Das wird wohl keiner von Ihnen leugnen. Dann habe ich gesagt, die Bundesregierung hat sich darin verweigert. Das ist heute wohl deutlich geworden.
Dann habe ich gesagt, daß es auch ein Ergebnis dieses Pakets sei, daß der Kanzler einfach nicht lernfähig sei. Er habe die große Chance verspielt, die wirtschaftliche Talfahrt in ganz Deutschland zu stoppen. Dann habe ich darüber hinaus erklärt:
Hier werden wir auch künftig Nachbesserungen fordern.
Davon nehme ich kein Wort zurück. Kein Wort!

(Beifall bei der SPD)

Sie werden über kurz oder lang wieder vor der gleichen Frage stehen, vor der Sie schon vor zwei, drei Monaten standen, nämlich mit der Opposition Gespräche — sei es hier, sei es in den Ausschüssen — aufzunehmen, um sich selbst aus dem Dilemma herauszureißen, in das Sie sich jetzt wieder durch die Verweigerung der ungeregelten Tatbestände gebracht haben. Sie haben eine große Chance verpaßt.
Meine Unterstellung ist — das will ich gerne einräumen —, daß das deshalb passiert ist, weil Sie sich in der Koalition zwischen CDU/CSU und F.D.P. in den letzten Jahren so zerrüttet haben, daß Sie zu dieser großen Kraftanstrengung der Überwindung der Rezession im Westen untereinander nicht fähig waren. Das dann aber auf der SPD abzuladen, lassen wir nicht durch. Es ist Ihr Problem, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD — Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie doch dem Standortsicherungsgesetz zu!)

Wir sind nicht Opposition um der Opposition willen, sondern wir haben einen Wählerauftrag. Gleichwohl haben wir mehrfach unter Beweis gestellt, daß wir uns übergeordneten staatspolitischen Notwendigkeiten nicht verweigern. Ich nenne nur die Rentenreform, ich nenne die Gesundheitsstrukturreform und jetzt das, was Sie Solidarpakt nennen oder was Solidarpákt genannt wird. Das wird auch in Zukunft bei anderen schwierigen Fragen so sein. Aber wir sind nicht der Hilfsmotor einer abgeschlafften Regierung. Wenn die Regierung nicht mehr weiter weiß, kann sie nicht ewig die Opposition zu Hilfe rufen. Dann muß sie eben abtreten. So ist das in der parlamentarischen Demokratie.

(Beifall bei der SPD)

Wer also glaubt, nach der mit der Koalition getroffenen Übereinkunft herrsche ab jetzt für die nächsten Jahre in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in der Haushaltspolitik, in der Politik für die neuen Bundesländer Friede, Freude, Eierkuchen zwischen Opposition und Regierung, der irrt. Die SPD hat keines ihrer Ziele aufgegeben, die sie in ihrem 20-Punkte-Katalog zum Solidarpakt aufgestellt hat, nur weil wir sie in Verhandlungen mit der Koalition nicht durchsetzen konnten.
Glauben Sie wirklich, wir hätten durch die Vereinbarung mit Ihnen etwa den politischen Löffel abgegeben? Ist denn etwa die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik durch die Vereinbarung mit der Koalition, d. h. mit der Mobilisierung von 2 Milliarden DM sozial gerechter geworden? Sie ist es nicht. Noch immer tragen Arbeiter und Angestellte die Lasten allein. Also bleiben wir bei unserer Forderung. Die von Ihnen selbst kreierte Gerechtigkeitslücke, die Sie schon vergessen, die Sie wieder eingegraben haben, werden wir nicht vergessen. Daran werden wir Sie ständig erinnern. Diese Gerechtigkeitslücke muß geschlossen werden.

(Beifall bei der SPD)

Ich frage auch: Hat sich in Sachen ökologische Sanierung jenseits der industriellen Kerne in Ostdeutschland etwa etwas getan? Sind Elbe, Saale und Unstrut sauberer geworden, oder kann deren Sanierung jetzt in Angriff genommen werden?

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Fahren Sie erst einmal dorthin!)




Rudolf Dreßler
Was ist mit den vergifteten Böden oder den Liegenschaften der abziehenden Sowjetarmee? Im Solidarpakt wäre Platz für Lösungen gewesen. Nichts davon ist vorgesehen. Deshalb bleiben wir bei unserer Forderung, durch ein zehnjähriges Zukunfts-InvestitionsProgramm mit jährlich 10 Milliarden DM diese ökologischen Aufgaben endlich anzupacken und auch zu lösen.
Ein weiteres Stichwort heißt Intensivierung der Arbeitsmarktpolitik. Die Koalition hat sich lediglich bereit erklärt, ihren letzten, mit der zehnten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes durchgeführten ABM-Abbau zu korrigieren. Von einer Intensivierung der Arbeitsmarktpolitik ist das weit entfernt. Das ist bei drohenden 4 Millionen Arbeitslosen bei weitem zuwenig. Deshalb bleiben wir bei unseren Vorschlägen zur Arbeitsmarktpolitik von der Einführung dreijähriger Einarbeitungszuschüsse für Langzeitarbeitslose bis zu garantierten Qualifizierungsmaßnahmen für jugendliche Arbeitslose.
„Der Solidarpakt als Grundlage für die Sicherung des Standortes Deutschland" hieß der Titel der Regierungserklärung. Ich fand ihn reichlich hochtrabend. Wo sind denn in diesem Solidarpakt eigentlich Maßnahmen zur Standortsicherung enthalten? Ich sehe keine.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja, waren Sie dabei, oder waren Sie nicht dabei?)

Massenarbeitslosigkeit, überschuldete öffentliche Haushalte, Krise in den Paradebranchen der deutschen Wirtschaft, dem Automobil- und dem Maschinenbau, Krise bei Kohle und Stahl — das alles sind wichtige Themen, die da hineingehört hätten. Herr Hinsken, Sie saßen nicht am Tisch. Sie haben wahrscheinlich Rauschverlust, wie man das in der Rhetorik sagt. Ich habe es schon dreimal erklärt: Ihre Koalition, Ihre Vertreter haben sich bei diesen Gesprächen zur Überwindung der Rezession im Westen versagt.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Unfug!)

Die Regierung hat sich entzogen, nicht die deutsche Sozialdemokratie. Wir wollen das hier einmal auf den Tisch legen!

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich frage mich auch, meine Damen und Herren, ob der Bundesfinanzminister eigentlich Vorsorge getroffen hat, wenn ich mir vergegenwärtige, daß die nächste Steuerschätzung rezessionsbedingte Steuerausfälle in zweistelliger Milliardenhöhe zum Tragen bringt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist keine neue Ankündigung; wir kennen das schon!)

Ich frage mich dann: Wie ist es denn eigentlich mit dem Solidarpakt und mit seinem Zahlenwerk? Was geschieht, wenn das Defizit im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit höher ist als ursprünglich veranschlagt, wie die Insider uns übermitteln? Fragen über Fragen, auf die Sie die Antworten bis heute verweigern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214907900
Herr Glos möchte eine Frage stellen, die Sie vielleicht beantworten können.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214908000
Sofort. — Statt dessen schimpfen Sie auf die Sozialdemokratie, weil wir uns in Kenntnis dessen, was auf die öffentlichen Haushalte zukommen kann, für Einnahmeverbesserungen des Staates vor 1995 entschieden haben. Wir machen das nicht — das ist vielfach gesagt worden —, weil Steuer- und Abgabenerhöhungen so eine wunderschöne Sache sind, sondern wir haben das gemacht, weil wir als Opposition die Verantwortung dafür übernommen haben, mit unbequemen Vorschlägen und unpopulären Maßnahmen das Staatsbudget zu sichern. Das haben wir als Opposition geleistet.

(Zuruf von der SPD: Eine Aufgabe der Regierung!)

Dafür haben wir uns von Ihnen beschimpfen lassen. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn Ihnen dieser Erinnerungsposten im Laufe der nächsten Monate immer hinterherläuft und Sie immer wieder einholt.

(Beifall bei der SPD)

Bitte.

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1214908100
Herr Kollege Dreßler, nachdem Sie die falsche Behauptung aufgestellt haben, die Regierung hätte sich der Bekämpfung der Rezession im Westen bei den Solidarpaktverhandlungen versagt, darf ich Sie fragen, ob Sie die von Ihnen geforderten Steuererhöhungen bereits 1993 und 1994 für ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Rezession halten würden, nachdem alle seriösen Wirtschaftswissenschaftler das Gegenteil behaupten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)


Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214908200
Unabhängig von der Frage, daß ich auch andere seriöse Wissenschaftler gelesen habe — es ist ja nicht nur der seriös, der zufällig einmal Ihrer Meinung ist —,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Na, na, na, na! Bitte Roß und Reiter nennen!)

sage ich Ihnen folgendes, und das habe ich in der ersten Lesung zum FKP von dieser Stelle aus auch gesagt: Herr Glos, Tatsache ist, daß meine Fraktion wollte, daß jeder Abgeordnete — auch Sie — ab 1. Juli dieses Jahres — hören Sie genau zu, Herr Glos, das ist unangenehm, aber jetzt haben Sie gefragt, und jetzt müssen Sie auch die Antwort zur Kenntnis nehmen —, daß Sie und ich, wir alle, ab 1. Juli eine Ergänzungsabgabe zahlen sollten. Das haben wir verlangt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Populistisch! Das wären ungeheure Beträge gewesen!)

Sie haben das abgelehnt. Das ist der erste Punkt.
Wenn Sie mir jetzt erklären wollen, daß diese Art von Steuer, Ergänzungsabgabe genannt, konjunkturempfindlich sei,

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, nur verfassungswidrig, und das wissen Sie auch!)

weil Herr Glos möglicherweise das Vergnügen hätte,
auf vier Tennisbälle zu verzichten, dann machen Sie



Rudolf Dreßler
sich lächerlich, Herr Glos. Sie machen sich lächerlich!

(Beifall bei der SPD)

Das hat mit Konjunktur überhaupt nichts zu tun, das ist eine Frage von Ideologie. Das ist eine Frage, ob Sie noch das soziale Empfinden haben, daß alle Schultern dieser Bevölkerung imstande sind, die deutsche Einheit zu finanzieren,

(Beifall bei der SPD)

nicht immer nur die untere Hälfte der Einkommensmilieus.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben das Verfassungsgerichtsurteil aber nicht gelesen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214908300
Herr Abgeordneter Glos bittet um eine Nachfrage.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214908400
Bitte schön.

Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1214908500
Verehrter Herr Dreßler, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich, wenn sich damit die Rezession hätte überwinden lassen, sehr gern die Ergänzungsabgabe gezahlt hätte? Es ist ja wohl lächerlich, mit diesen Beträgen zu arbeiten.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214908600
Unabhängig davon, daß ich nicht der Meinung bin, wir hätten sie damit überwunden, würde ich gern einmal zur Kenntnis nehmen, daß Sie einfach als Mitglied dieser Gesellschaft mit Ihrem Einkommen mit mir bereit wären, Ihren Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit zu leisten. Das würde ich gern einmal zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214908700
Herr Abgeordneter Dreßler, der Abgeordnete Hinsken möchte auch noch eine Frage stellen. Ich weiß nicht, ob Sie sie beantworten wollen.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214908800
Das ist auch einer, der es abgelehnt hat, seinen Solidarbeitrag zu leisten.

(Heiterkeit bei der SPD)


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1214908900
Herr Kollege Dreßler, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß niemand Sie daran hindert, den Betrag, den Sie gern spenden wollten, aber nicht abgezogen bekommen, anderweitig sozialen oder karitativen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen? Wären Sie bereit, mit gutem Beispiel voranzugehen und uns bei passender Gelegenheit darüber zu berichten, daß Sie auch so gehandelt haben, wie Sie es jetzt fordern?

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1214909000
Ja, Herr Hinsken, ich bin gern bereit, mit Ihnen in einen Wettstreit über dieses Tun einzutreten. Zwischen Ihnen — Plural, nicht Ihnen selbst, das kann ich nicht beurteilen —, zwischen einem Ihrer Kollegen, dessen Namen ich jetzt nicht nennen will, und mir besteht allerdings ein Unterschied: Ich mache das seit vielen, vielen Jahren regelmäßig mit den hier in Rede stehenden Verbesserungen. Ich habe darüber noch nicht ein einziges Mal die Deutsche Presseagentur unterrichtet, wie es jüngst einige Ihrer Kollegen tun. Wissen Sie, wenn man so etwas machen will, dann muß man das im Stillen machen; man tut es. Aber ich bin gern bereit, Ihnen persönlich diese Auskunft zu geben, wenn Sie mir versprechen, es nicht der dpa weiterzusagen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zum Schluß. Für die SPD gilt: Wir halten uns an die mit der Koalition getroffene Vereinbarung zum Solidarpakt, auch wenn wir große Lücken registrieren. Aber wir werden die Schließung dieser Lücken mit aller Entschiedenheit einfordern, getreu unseren Pflichten als Opposition. Die Sache und das Wohl der Menschen gebieten das. Wir werden an der Umsetzung und am näheren Inhalt, an der Ausgestaltung mitarbeiten.
Aber ich warne Neugierige: Sollte die Regierung versuchen, mit einer Heerschar von Bediensteten diese Vereinbarung zu relativieren, zu verändern oder gar in ihr Gegenteil zu verkehren, dann kann das politisch nur schiefgehen. Die Zusicherung des Kanzlers, in das Gesetz keine Bestimmungen aufzunehmen, die zwischen beiden Seiten politisch strittig sind, muß Bestand haben. Dieses Verfahren nimmt keiner Seite die Möglichkeit, die nicht einigungsfähigen Vorschläge getrennt vom Gesetz in Form eines parlamentarischen Wettbewerbs voranzutreiben.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird ihr Wort halten. Sie wird es tun, und ich hoffe, die Koalition tut es auch.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214909100
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Heribert Scharrenbroich das Wort.

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1214909200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Dreßler hatte zu Beginn seiner Rede aufgefordert, man solle aus den alten Schützengräben herauskommen. Aber was wir da gehört haben, das war ein Festmauern im Schlamm des alten Schützengrabens.

(Zuruf von der SPD: Ein böses Bild!)

Mein lieber Herr Kollege Dreßler, wir sollten stärker beherzigen, daß für die sozial Schwachen, für die Arbeitnehmer und insbesondere für die Arbeitslosen am allerwichtigsten ist, daß wir möglichst bald wieder einen Aufschwung bekommen. Das, was wir durch 1 % Wirtschaftswachstum erzielen, können wir durch noch so drastische Einsparungen im sozialen Netz nicht erreichen. 1 % Wirtschaftswachstum macht etwa 8 Milliarden DM Steuermehreinnahmen bei den öffentlichen Händen aus. Das werden wie niemals durch noch so drastische Einsparungen hereinholen.
Ich möchte noch auf die Behauptung eingehen, wir würden hier immer wieder Anschläge auf die Tarifautonomie machen. Ich glaube, es ist schon richtig, daß wir, nachdem jetzt die Politik, Bund und Länder, in den Verhandlungen zum Solidarpakt eine Vorgabe gemacht hat, was staatlicherseits zu machen ist, und nachdem die Gewerkschaften richtigerweise auch



Heribert Scharrenbroich
über das diskutiert haben, was wir im staatlichen und parlamentarischen Bereich gemacht haben, auch über die Tarifpolitik diskutieren. Natürlich! Da muß man schon zur Kenntnis nehmen, daß Tarifpolitik nicht nur Kostenbelastung bedeutet, sondern auch psychologisch einen hohen Stellenwert hat.
Deswegen ist es schon wichtig, daß man die Tariflandschaft in Ostdeutschland zur Kenntnis nimmt. Ich persönlich habe auch die Position vertreten, daß es gut ist, wenn die Arbeitnehmer drüben wissen, in wieviel Jahren sie wenigstens nominal den gleichen Lohn haben — nicht die gleichen Effektivlöhne, sondern die gleichen Tariflöhne — wie im Westen.
Aber ich glaube, daß auch Flexibilität notwendig ist. Deshalb meine ich schon, daß wir auch in eine Diskussion über von den Tarifpartnern ausgehandelte Tariföffnungsklauseln eintreten müssen. Ich meine, daß die im Augenblick in der Tarifpolitik in Ostdeutschland vorherrschende Unbeweglichkeit für den Bestand von Unternehmen problematisch ist. Sie ist auch problematisch für den Aufschwung, den wir in den neuen Bundesländern brauchen. Ich fände, es wäre gut, wenn wir hier aus den alten Schützengräben herauskämen, wie es der Kollege Dreßler gesagt hat.
Ich habe mich deshalb noch einmal gemeldet, weil ich meine, daß wir mehr Wirtschaftspolitik betreiben müßten. Ich glaube, daß das Standortsicherungsgesetz, das hier verschiedentlich angesprochen worden ist, der Beweis dafür wäre, ob auch die Sozialdemokraten bereit sind, aus ihren alten Schützengräben herauszukommen.
Ich denke, das Allerwichtigste von dem, was erreicht worden ist, ist, daß die Wirtschaft jetzt eine Planungssicherheit hat.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Wo hat sie denn Sicherheit?)

— Die Wirtschaft weiß jetzt, daß es 1993 und 1994 nicht zu Steuererhöhungen kommen wird. Sie weiß, was wir im Jahre 1995 durchführen werden.

(Rudolf Dreßler [SPD]: Das weiß sie nicht!)

— Natürlich, das ist beschlossen. Die Gerechtigkeit, lieber Kollege Dreßler, ist natürlich eine schöne Sache. Aber ich meine, daß sich die Sozialdemokraten durch zwei Fehlleistungen auszeichnen, die auch einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik im Wege stehen. Sie jammern erstens auf hohem Niveau, und sie sind zweitens — das ist das Gegenstück dazu — für eine Gerechtigkeit auf niedrigem Niveau. Beides ist schädlich für uns. Die Gerechtigkeit auf niedrigem Niveau hilft den Arbeitnehmern nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Sagen Sie das einmal dem Kollegen Ulf Fink!)

Die Arbeitnehmer interessiert, ob es eine Reallohnsteigerung gibt. Ob die Unternehmer dann noch mehr verdienen, interessiert die Arbeitnehmer zunächst gar nicht. Wichtig ist, daß sie eine Reallohnsteigerung erhalten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Deshalb ist die Politik, die wir jetzt in der Koalition betreiben, so wichtig, und deswegen möchte ich Sie bitten: Hören Sie auf, jetzt wieder ein Tremolo zu veranstalten, als ob dieser Solidarpakt nicht so umgesetzt wird, wie er ausgehandelt worden ist!
Was den Länderfinanzausgleich betrifft: Wenn es jetzt zu massiveren Hilfen für die neuen Bundesländer kommt, ist das nicht nur sozialdemokratische oder christdemokratische Politik, sondern eine Politik, beeinflußt durch die Bundesländer. Wenn ich richtig informiert bin, haben vier von den neuen Bundesländern christlich-demokratisch geführte Regierungen.

(Zuruf von der SPD: Noch!) — Dies wird auch noch länger so bleiben.


(Rudolf Dreßler [SPD]: Nein, nicht mehr lange!)

Ich sehe das sehr optimistisch.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sehe ich ganz anders! Sehr pessimistisch sehe ich das! — Gegenruf von der CDU/CSU: Warum drohen Sie den Ostdeutschen immer so?)

Ich freue mich, daß durch den Solidarpakt jetzt diese Klarheit geschaffen worden ist.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214909300
Ich erteile nunmehr der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Dr. Schwaetzer, das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1214909400
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße die Entschlossenheit aller Teilnehmer an den Solidarpaktverhandlungen, im Hinblick auf den Wohnungsbau im Osten der Konjunktur einen deutlichen Impuls zu verleihen. Herr Kollege Dreßler, ich kann mich hier nicht speziell bei den Solzialdemokraten bedanken, denn sie hatten es vermieden, einen wohnungspolitisch versierten Verhandlungsteilnehmer zu diesen Gesprächen mitzubringen. Aber ich freue mich natürlich, daß sie den Ergebnissen im Endeffekt zugestimmt haben. Das, was dort beschlossen worden ist, ist wirklich ein Durchbruch für die Mieter und die Eigentümer von Wohnungen in den östlichen Bundesländern.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir haben eine Altschuldenregelung für die Wohnungsunternehmen, für die Wohnungsgenossenschaften und für die Privaten gefunden, die es erlaubt, daß jetzt Investitionen in großem Umfang — wir erwarten Investitionen in Höhe von 20 bis 30 Milliarden DM auf Grund der Solidarpakt-Regelungen, für die jetzt die Basis gelegt worden ist — getätigt werden. Die Altschuldenregelung sorgt dafür, daß in den Erblastfonds ein großer Teil dessen eingestellt wird, was die Unternehmen, Genossenschaften und Privaten unzumutbar belastet hätte. Das heißt, wir alle tragen die Verantwortung, so wie es richtig ist.
Damit ist auch die Grundlage dafür gelegt worden, daß die Privatisierung des Wohnungsbestandes, wie



Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer
es im Einigungsvertrag vorgesehen ist, in großem Umfang in Gang kommt. Ich begrüße auch, daß es gelungen ist, die privaten Eigentümer nun endlich — übrigens entgegen den Wünschen vieler an dieser Diskussion Beteiligten — gleichberechtigt in diese Entscheidungen einzubeziehen. Damit ist endlich Gleichbehandlung sichergestellt.
Die Altschuldenregelung wird von milliardenschweren Wohnungsbauförderungsprogrammen flankiert, die in den nächsten Jahren in den östlichen Bundesländern die entscheidende Konjunkturspritze geben werden. Sie dienen ganz besonders dazu, den Neubau in Gang zu bringen, aber auch dazu, eine Verbesserung und Aufwertung der großen Plattenbausiedlungen in Angriff zu nehmen, die dringend notwendig ist, damit die Menschen ihre Wohnung auch tatsächlich zukünftig als Heimat empfinden und sie in dieser Weise nutzen können.
Wir haben darüber hinaus auch in der Besprechung mit den Bauministern der östlichen Bundesländer vom vergangenen Montag sichergestellt, daß es bis Mitte 1995 keine weiteren staatlich verordneten Mieterhöhungen geben wird.
Ich möchte an dieser Stelle auch daran erinnern, daß die Ministerpräsidenten der westlichen Bundesländer im Rahmen der Solidarpaktgespräche zugesagt haben, daß nun die verstärkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus West eine Aufgabe der westlichen Bundesländer selbst in ihrer eigenen Verantwortung ist, weil sie eine ausreichende Finanzausstattung dafür erhalten haben.
Diese Lander haben im übrigen die Solidarpaktverhandlungen — das ist eine in meinen Augen bedauerliche Anmerkung, die dazu zu machen ist — dazu genutzt, ihre eigenen finanziellen Interessen gegenüber anderen sachlichen Erwägungen und vor allen Dingen gegenüber den Erwägungen, die östlichen Bundesländer ausreichend mit Finanzmitteln auszustatten, sehr stark in den Vordergrund zu stellen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Zuruf von der F.D.P.: Leider wahr!)

Es ist völlig unumstritten, daß wir mehr Wohnungen in Ost und West brauchen. Wir brauchen sozialen Wohnungsbau, wir brauchen freifinanzierten Wohnungsbau, wir brauchen Eigentumswohnungen und Eigenheime. Wir müssen uns endlich abgewöhnen, meine Damen und Herren, dies immer gegeneinander auszuspielen. Wer sozialen Wohnungsbau fördert, muß gleichzeitig dafür sorgen, daß auch freifinanzierter Wohnungsbau gefördert wird und eine Eigenheimförderung betrieben werden kann.

(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das ist doch überhaupt kein Widerspruch! Das reden Sie sich doch nur ein!)

— Aber Sie tun immer so, als sei es ein Widerspruch.

(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das ist doch Quatsch!)

Lesen Sie doch einmal die Rede von Herrn Dreßler
nach. Worauf es ankommt, ist, daß Wohnraum bezahlbar ist und bleibt. Dafür muß das Wohngeld die
ausreichende soziale Flankierung sicherstellen. Deshalb möchte ich noch einmal deutlich unterstreichen, daß im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms das Wohngeld nicht gekürzt wird, wie es zunächst überlegt worden ist. Um sicherzustellen, daß hier der soziale Ausgleich weiterhin geleistet werden kann, ist von solchen Kürzungen Abstand genommen worden.
Meine Damen und Herren, ich habe im Laufe des Morgens noch einmal ganz lebendig den 9. November 1989 vor Augen gehabt, als wir nach der Meldung, daß die Mauer ein Loch hat und damit fällt, hier im Plenum zusammengekommen sind und miteinander „Einigkeit und Recht und Freiheit" gesungen haben. Ich denke, daß Recht und Freiheit in den vergangenen zwei Jahren in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland umfassend verwirklicht worden sind; Einigkeit noch nicht.
Die letzten zwei Jahre waren ein mühsames Finden der Realitäten in Gesamtdeutschland, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Politik. Sie waren von Enttäuschung auf allen Seiten gekennzeichnet.
Ich bin fest davon überzeugt, meine Damen und Herren, daß wir, wenn es uns gelingt, die Ergebnisse des Solidarpakts jetzt nicht zu zerreden, damit eine gute Grundlage und ein sicheres Fundament zu mehr Gemeinsamkeiten in ganz Deutschland geschaffen haben. Das ist dringend notwendig.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deshalb appelliere ich an Sie, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, die Sie eben Herrn Dreßler Beifall gespendet haben: Überlegen Sie es sich noch einmal. Es darf jetzt nicht zerredet werden, auch nicht durch nicht erfüllbare Forderungen. Ich frage mich: Haben Sie denn immer noch nicht begriffen, daß die Bürger wollen, daß wir Entscheidungen treffen, aber dann auch zu unseren Entscheidungen stehen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Haben Sie denn immer noch nicht die Lehren aus Ihrem Wahldesaster in Hessen gezogen, wo Sie die Quittung dafür bekommen haben, daß Sie einmal gefundene Kompromisse wieder in Frage gestellt haben?

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sind Sie denn ungeschoren davongekommen? — Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Sie sind der große Sieger?)

Insofern frage ich mich auch: Was soll denn eigentlich sein, wenn Sie fordern, daß die Bundesregierung abtreten soll? Wer soll es denn machen? Herr Engholm? Herr Klose? Herr Schröder? Herr Scharping?

(Zuruf von der CDU/CSU: Aufhören!)

Werden Sie sich doch erst einmal untereinander einig!
Eine letzte Bemerkung: Herr Dreßler hat mangelndes Engagement des einzelnen beklagt.

(Wolfgang Weiermann [SPD]: So ein Quatsch!)




Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer
Ich glaube, daß das etwas ist, was wir alle in unseren Gesprächen mit Bürgern immer wieder feststellen. Aber ich frage mich: Ist das denn ein Wunder, wenn er sich beim nächsten Satz hier hinstellt und die Leistungsbereitschaft der von den Sozialdemokraten so genannten Besserverdienenden immer wieder dif f a-miert und damit denen, die sich nicht zu den sogenannten Besserverdienenden zählen — und das sind wohl die allermeisten in der Bevölkerung —, suggeriert, ihnen würde ständig Unrecht geschehen? Ist es denn ein Wunder, daß dann die Leistungsbereitschaft sinkt?
Und, meine Damen und Herren, wer sind denn, bitte, die „Besserverdienenden"? Sind das die Facharbeiter, die Meister, die Handwerker?
Wann, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, begreifen Sie: Es gibt keine Gerechtigkeitslücke, aber eine Arbeitsmarktlücke in der Bundesrepublik Deutschland, und die Schließung dieser Arbeitsmarktlücke haben wir mit den Entscheidungen zum Solidarpakt auf eine sichere Grundlage gestellt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214909500
Frau Ministerin, bevor Ihre vorgesehene Redezeit abgelaufen ist: Sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Urbaniak zu beantworten?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1214909600
Aber gerne.

Hans-Eberhard Urbaniak (SPD):
Rede ID: ID1214909700
Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie den Kollegen Dreßler richtig verstanden haben, aber haben Sie nicht auch begriffen, daß er gemeint hat, daß diejenigen, die Sie als Leistungsträger hier personifiziert haben, auch in der Lage sind — ohne ihren Lebensstandard auch überhaupt nur einzuschränken —, die Ergänzungsabgabe und die Arbeitsmarktabgabe zu zahlen, um damit Arbeitslosigkeit zu bekämpfen?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1214909800
Aber Herr Urbaniak, warm endlich begreifen Sie, daß die Ergänzungsabgabe ab 1993 und die Arbeitsmarktabgabe ab 1993 Arbeitsplätze vernichtet und deshalb nicht geschaffen werden kann? Und wann endlich begreifen Sie, daß im Föderalen Konsolidierungsprogramm die notwendigen anpassenden Maßnahmen, d. h. die Maßnahmen, die notwendig sind, um die Leistungsfähigkeit des Staates an die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, so verteilt sind, daß diejenigen, die mehr tragen können, also die mit den höheren Einkommen, dies auch tun, während diejenigen, die weniger tragen können, also die mit den niedrigeren Einkommen, auch weniger belastet sind?
Das haben die Experten in Ihrer Fraktion genauso nachgerechnet wie die in den anderen Fraktionen auch. Ich denke, es wäre im Interesse der Konsensfähigkeit in unserer Gesellschaft wichtig, daß dies auch von Ihnen zur Kenntnis genommen würde und Sie nicht immer so tun würden, als sei es anders.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deshalb noch einmal mein Appell: Der Solidarpakt muß der Aufbruch zur Gemeinsamkeit werden, und ich wünsche mir, daß diese Debatte auch dazu beiträgt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214909900
Ich erteile nun der Abgeordneten Frau Bläss das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214910000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für mich als Sozialpolitikerin ist allein schon der Titel der heutigen Regierungserklärung eine Zumutung. Der Bundesregierung geht es zuallererst um die Sicherung des Standortes Deutschland, und zwar des Wirtschaftsstandortes. Die Sicherung der Beschäftigungs- und Lebenschancen der Menschen muß dahinter zurücktreten.

(Zuruf von der F.D.P.: So ein Quatsch!)

— Vielleicht hören Sie erst einmal zu. — Das Ganze nennt sich dann „Solidarpakt" .

(Zuruf von der F.D.P.: Das eine hängt mit dem anderen irgendwie zusammen, Frau Kollegin!)

Selten ist in den letzten Jahren mit einem Begriff soviel Schindluder getrieben worden wie hier. Solidarität in dem Sinne, daß endlich etwas gegen die tiefe soziale Ungerechtigkeit in diesem Land, gegen die seit Jahren durch die Regierungspolitik geförderte Umverteilung von unten nach oben getan wird, kommt in diesem ganzen Papier nicht vor.
An der sozialen Schieflage hat sich absolut nichts geändert. Kein Wunder also, daß sich trotz der medienwirksam verbreiteten Hochstimmung und Zuversicht inzwischen Ernüchterung und Kritik breitgemacht haben. Nachverhandlungen und Nachbesserungen werden auch von jenen gefordert, die mit am Verhandlungstisch saßen.
Eine genaue Betrachtung der Verhandlungsergebnisse macht allzu deutlich, daß entscheidende Fragen offengeblieben und die wenigsten Probleme wirklich gelöst worden sind.
Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler und einer der Verfasser des alternativen Wirtschaftsgutachtens, hält den Solidarpaktkompromiß für einen Flickenteppich, der nur geknüpft werden konnte, —

(Zuruf von der F.D.P.: Von der Bremer Universität, aus Bremen, das sagt alles!)

weil entscheidende Fragen einfach ausgeklammert blieben oder an Arbeitsgruppen delegiert wurden.
Auch die Arbeitgeberseite zeigt sich eher nörgelig, und da hilft Ihnen auch Ihr Standortgerede nichts. Die finden immer noch, daß die Kostenkrise ebensowenig angegangen sei wie die viel zu hohen Unternehmenssteuern. Statt dessen wird die Steuerschraube 1995 massiv angezogen.
Für uns ist bemerkenswert, daß der im Föderalen Konsolidierungsprogramm angekündigte rabiate soziale Kahlschlag zunächst nicht durchgesetzt werden konnte und daß eingeleitete Maßnahmen wie der von der Bundesanstalt für Arbeit verfügte Bewilligungsstopp für ABM rückgängig gemacht werden mußten.



Petra Bläss
Aber ein Grund zu überschäumender Freude ist das alles nicht. Sicher macht sich Erleichterung breit, wenn statt der angedrohten Kürzungen im ABM-Bereich zusätzliche 2 Milliarden DM bewilligt werden. Laut Expertinnen und Experten aber wären 6 Milliarden DM nötig, um eine weitere dramatische Zuspitzung auf dem Arbeitsmarkt noch 1993 einzudämmen.
Was wird mit den Sozialleistungen? Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und BAföG sollen nicht sofort gekürzt werden, sondern in diesem Bereich müssen bis 1996 mehr als 6 Milliarden DM durch intensivere Bekämpfung des Mißbrauchs eingespart werden. Strittig ist geblieben, was geschieht, wenn dieses Einsparvolumen nicht erreicht wird. Bundesarbeitsminister Blüm ist optimistisch. Mit Meldepflicht und schärferen Kontrollen will er, wie es heißt, den Ausbeutern des Sozialstaates beikommen. 800 Zöllner sollen die Bundesanstalt bei dieser Arbeit unterstützen. Für 400 Millionen DM wird unter dem Motto „illegal ist unsozial" eine große Mißbrauchskampagne in Gang gesetzt.

(Zuruf von der F.D.P.: Endlich!)

Erfolgsbilanzen über Nachforschungen einzelner Arbeitsamtsbezirke sollen den Eindruck erwecken, als seien Ausgaben für Sozialleistungen rasant einzusparen, wenn nur den — Zitat — „Betrügern das Handwerk gelegt" würde.

(Zuruf von der F.D.P.: So ist es!)

Auf diese Weise, meine Damen und Herren, werden — und das ist beabsichtigt —, Leistungsbezieherinnen und -bezieher in der öffentlichen Meinung pauschal verunglimpft und kriminalisiert.

(Zuruf von der F.D.P.: Das sagen Sie!)

Von der Bundesanstalt für Arbeit 1991 aufgedeckte Mißbrauchsfälle ergaben Überzahlungen, die gerade 1 % des Sozialleistungsaufkommens ausmachten.

(Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Das ist 1 % zuviel!)

Ganz besonders unerträglich ist der Angriff auf die zur Zeit geschätzten 4,2 Millionen Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher. Ihnen vorzuhalten, sie verfügten über ein höheres Einkommen als Erwerbstätige oder Arbeitslose, fällt zum einen auf jene zurück, die ständig dafür plädieren, das Lohnniveau zu drücken, und geht zum anderen an der Realität vorbei.
Es sind vor allem die Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher, die heute in Armut leben; denn es ist erwiesen, daß die Sozialhilfe bei den meisten nur bis zum 20. des Monats reicht, und niemand errechnet die Einsparungen, die dadurch entstehen, daß Anspruchsberechtigte aus Scham oder Unwissenheit auf den Weg zum Sozialamt verzichten. Expertenschätzungen gehen von 50 % aus.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214910100
Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Dr. Hitschler möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. — Bitte schön.

Ralf Walter (SPD):
Rede ID: ID1214910200
Frau Kollegin Bläss, würden Sie die Zurverfügungstellung von 3 364 DM im Monat, die meine Heimatstadt Zweibrücken für eine sozialhilfeberechtigte Familie mit drei minderjährigen Kindern monatlich aufbringt, unter Übernahme der Wohnkosten und der Wohnnebenkosten in Höhe von rund 1 000 DM, so daß dieser Familie ein Nettoeinkommen von 2 400 DM zur Verfügung steht, als ein „Leben in Armut" bezeichnen, wenn Sie das mit dem vergleichen, was einem Arbeitnehmer, einem Erwerbstätigen, nach Abzug seiner Sozialversicherungsbeiträge und seiner Steuern, die er zu zahlen hat, noch zum Leben verbleibt?

(Wolfgang Weiermann [SPD]: Aber ihr wollt doch, daß die noch weniger bekommen!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214910300
Ein Leben mit einer solchen Summe für eine Familie mit drei Kindern ist zum einen gewiß kein Leben in Saus und Braus, was Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern vielfach unterstellt wird.
Zum anderen ist es so, daß ich daran denken würde, wie es mit den niedrigen Lohngruppen aussieht. Es ist eine Aufgabe auch dieses Parlaments, darauf hinzuwirken, daß die niedrigen Lohngruppen angehoben werden, um z. B. solche Mißstände auszuräumen. Aber ich würde nicht bei denjenigen kürzen, die das niedrigste Einkommen haben.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Völlig richtig!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214910400
Herr Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1214910500
Wenn Sie die Zusatzfrage erlauben: Ich habe, Frau Bläss, nicht behauptet, daß das ein Leben in Saus und Braus ist, sondern ich habe Sie nur gefragt, ob Sie meinen, daß das ein Leben in Armut bedeutet, was Sie ja immer wieder behaupten.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214910600
Ich behaupte das, weil ich mich auf umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die seit zehn, zwanzig Jahren über das Ausmaß von Armut in der Bundesrepublik Deutschland angefertigt werden, bezogen habe. Es gibt sicher das eine oder andere Gegenbeispiel von Sozialhilfebezieherinnen und -beziehern; aber ich finde es einfach unerträglich, wenn man einen Einzelfall gegen viele Tausende, Hunderttausende Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger stellt. Ich denke, man sollte den wissenschaftlichen Untersuchungen — sie kommen wirklich von allen Seiten; ich denke vor allem an die Ergebnisse der Caritas-Armutsstudie, die im vergangenen Jahr herausgekommen ist — glauben, daß Armut in Deutschland tatsächlich existiert. Ich denke, wir als Parlament sind gefordert, dagegen anzugehen.

(Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Aber nicht bei den Sozialhilfeempfängern!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214910700
Frau Abgeordnete, würden Sie bitte in Ihrer Rede fortfahren.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214910800
Ich bin eh gleich fertig.



Petra Blass
Nicht nur die Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt hält die ganze Mißbrauchsdiskussion für aufgenötigt und verweist zu Recht auf die Notwendigkeit einer verstärkten Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und des Mißbrauchs von Steuergesetzen. Allein dadurch werden dem Staat jährlich zwischen 130 und 150 Milliarden DM entzogen. Schon eine geringe Erfolgsquote von 10 % erbrächte Beträge, die weit über das hinausgingen, was insgesamt in diesem Bereich eingespart werden soll. Ich denke, wir sollten beim Thema Mißbrauch wirklich an die Relationen denken.
Sich hier zu engagieren — die PDS/Linke Liste hat dazu zahlreiche Vorschläge gemacht — würde einem wirklichen Solidarpakt entsprechen.
Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214910900
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Paul Krüger das Wort.

Dr. Paul Krüger (CDU):
Rede ID: ID1214911000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einigung über den Solidarpakt ist besonders in den neuen Bundesländern mit großer Erleichterung aufgenommen worden. Für uns stand nicht nur ein Beweis der allgemeinen Handlungsfähigkeit der Politik auf dem Spiel. Vielmehr betrifft die Überwindung der katastrophalen Hinterlassenschaften von 40 Jahren Sozialismus die Menschen in den neuen Bundesländern wirklich existentiell, existentiell bezüglich der Arbeitsplätze, denn viele der Unternehmen sind nicht wettbewerbsfähig und somit sanierungsbedürftig, existentiell bezüglich des Wohnens, denn die Masse der Häuser und Wohnungen sind in einem schlechten, ja zum Teil katastrophalen Zustand und somit ebenfalls sanierungsbedürftig, existentiell bezüglich der Umweltaltlasten, bezüglich der Ent- und Versorgungseinrichtungen, bezüglich der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur und vieler anderer Bereiche — alles Folgen von Sozialismus, an deren Beseitigung wir noch lange zu arbeiten haben werden.
In dieser Situation ist die durch den Solidarpakt erwiesene Solidarität der alten Bundesrepublik mit den neuen Ländern geradezu lebensnotwendig. An dieser Stelle muß aber auch erwähnt werden, daß der Beitrag der alten Bundesländer hinter vielen Erwartungen zurückgeblieben ist. Wir wissen alle, welche Parteien in diesen Ländern in der Mehrzahl das Sagen haben.
Meine Damen und Herren, vieles hat sich in den jungen Bundesländern seit der Wende verändert; vieles bleibt noch zu tun. Gerade deshalb haben wir vor nunmehr genau sieben Monaten in unserem Erfurter Programm unsere konzeptionellen Vorstellungen in zwölf Punkten zusammengefaßt. Dazu gehören Strukturkonzepte als Mittel gegen Entindustrialisierung, die Ankurbelung des Konjunkturmotors Wohnungsbau, die Sicherung der Finanzausstattung der neuen Bundesländer und nicht zuletzt ein Pakt der Vernunft für den Aufbau Ost.

(Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Und mehr Arbeit!)

Lassen Sie mich einige Kernpunkte der seitdem erreichten Fortschritte hervorheben: die Entschuldung der Wohnungsgesellschaften, die umfangreichen Maßnahmen zur Wohnungsbauförderung, die Erweiterung des Kapitalhilfeprogramms, die 20%ige Investitionszulage zur Förderung des Mittelstandes, die kommunale Investitionspauschale zur Stärkung kommunaler Investitionen, die Aufstockung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", die Verstärkung der Mittel zur Förderung der industrienahen Forschung und nicht zuletzt die erhebliche Mittelaufstockung für die Übergangsfinanzierung der Kultur. Diese Liste ließe sich noch beliebig erweitern.
Ein wichtiger Punkt des Erfurter Programms wie auch des Solidarpaktes richtet sich auf die Sicherung und Erneuerung industrieller Kerne. Zu diesem Thema gehen die Meinungen häufig weit auseinander. Vielleicht liegt dies daran, daß der Begriff nicht ganz glücklich gewählt ist, macht er doch das Mißverständnis leicht, daß eine Konservierung nicht überlebensfähiger Strukturen gemeint sein könnte. Nicht viel hilfreicher ist übrigens auch die Mißdeutung der industriellen Kerne als soziale Stoßdämpfer gegen wirtschaftlich harte Entwicklungen. Viel wichtiger ist es, daß die enormen Mittel, die für die Sanierung von Treuhandunternehmen bereitgestellt wurden und werden, an Hand konkreter Unternehmenskonzepte eingesetzt werden, die sich auf zukunftsträchtige Produkte und auf neue Märkte richten.
Wichtige Aspekte in diesem Zusammenhang sind, daß die Unternehmenskonzepte neben den Maßnahmen zur Sanierung auch klare Aussagen zur Privatisierung beinhalten sollen — ein, wie ich meine, ganz entscheidender Punkt —, daß die Umstrukturierungszeiträume den Unternehmen den Aufbau neuer Märkte gestatten und einem qualifizierten Management Anreiz zur Betätigung bieten sollten, daß dem notwendig guten Management mehr Spielraum für die unternehmerischen Entscheidungen vor Ort eingeräumt werden muß, daß die Umstrukturierung neben der Sanierung von Kernunternehmen auch die Bildung neuer Unternehmen durch Ausgründung und Diversifizierung beinhaltet und somit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen muß. Erfolgreich Sanieren heißt nicht nur, Betriebe kurzfristig erfolgreich in die Privatwirtschaft zu entlassen, sondern auch, Voraussetzungen zu schaffen, damit sich Unternehmen auf längere Frist im Markt behaupten können. Dies ist nicht möglich ohne kontinuierliche Neu- und Weiterentwicklung von Produkten.
Nachdem der Personalbestand im F-und-E-nahen Bereich bereits von über 100 000 auf derzeit rund 20 000 geschrumpft ist, halte ich es nunmehr für eine unserer zentralen Aufgaben, das vorhandene Potential für die Zukunftssicherung unserer Unternehmen intensiver einzusetzen. Es ist jetzt an der Treuhandanstalt, den hier vorhandenen und durch den Solidarpakt erweiterten Handlungsspielraum konsequent zu



Dr.-Ing. Paul Krüger
nutzen. Im Rahmen des Treuhandausschusses werden wir diese Entwicklung sehr aufmerksam begleiten.
Eine verantwortungsvolle Politik besteht für mich übrigens auch darin, zu einem investitionsfreundlichen Klima in den neuen Bundesländern beizutragen. Wenn es stimmt, daß Wirtschaft zu 50 % Psychologie ist, dann ist jedes Stück übertriebene Dramatisierung der Situation und jede Schwarzmalerei, wie sie auch hier heute teilweise betrieben wurde, ein Beitrag zur Vernichtung von Arbeitsplätzen. Deswegen ist es gut, daß der Solidarpakt in einer ganzen Reihe von Bereichen zu Rahmenbedingungen geführt hat, die von Koalition und Teilen der Opposition gemeinsam akzeptiert werden. Ich hoffe, daß diese Tatsache ein Stück zusätzlichen Schwung in den Aufbruch in den neuen Bundesländern bringen wird. Ich hoffe ferner, daß dieser neue Schwung nicht wieder zerredet wird, wie das auch viele meiner Vorredner hoffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gelegentlich wurde heute die Kritik geäußert, daß viele der Maßnahmen zu spät kämen. Ich denke hier insbesondere an Herrn Thierse. Wenn die SPD Deutschland in die Einigung geführt hätte — eine zugegebenermaßen höchst irreale Hypothese —, hätte sie sicherlich noch im Jahr der Einigung die Infrastruktur in den neuen Bundesländern auf Westniveau angehoben, die Unternehmen zu erfolgreichen Wettbewerbern auf allen Westmärkten gemacht und den gesamten Wohnungsbestand saniert. Aber um wieder ernst zu werden: Sicherlich ist unbestreitbar, daß manches im Einigungsprozeß tatsächlich hätte schneller geschehen können, auch wenn der wirtschaftliche Niedergang in ganz Mittelost- und Osteuropa in dieser Geschwindigkeit nicht vorherzusehen war.
Die Gründe für solche Verzögerungen waren und sind sicherlich zum Teil hausgemacht. Ich denke beispielsweise an das Investitionsbeschleunigungsund das Wohnbaulandgesetz, welches unverständlicherweise erheblichen Verzögerungen ausgesetzt wird. Ich will mir an dieser Stelle die Bewertung ersparen, welche der in diesem Parlament vertretenen Parteien die Verantwortung für solche unnötigen Verzögerungen tragen. Wir wissen es alle.
In Wirklichkeit ist es nicht so, daß die Situation so schlecht wäre, wie sie häufig gemacht wird. Es ist ein interessantes Phänomen, daß in Meinungsumfragen in den neuen Bundesländern meist eine negative Einschätzung der wirtschaftlichen Gesamtlage überwiegt, daß aber dieselben Befragten regelmäßig die Entwicklung ihrer persönlichen wirtschaftlichen Situation zu einem überwiegenden Anteil als positiv beschreiben. Die meisten Menschen in den neuen Bundesländern sind demnach nicht unzufrieden; aber ein erheblicher Teil der Menschen ist verunsichert. Wer diese Verunsicherung durch überzogene Kritik befördert, ihr Vorschub leistet, der leistet dem Niedergang Vorschub. Wer zu Einsatz und Leistung motiviert, leistet einen Beitrag zum Aufbau.
Wenn hier einige Kollegen kritisiert haben, daß das alles noch viel zu wenig sei — ich denke insbesondere an Herrn Dreßler, der höhere Steuereinnahmen fordert —, dann möchte ich Herrn Dreßler daran erinnern oder ihn vielleicht fragen, ob er die Situation der Einkommensteueraufbringung in Deutschland kennt.
Denn 5 % aller Einkommensteuerzahler zahlen in Deutschland 40 % der Einkommensteuer. Weitere 25 % zahlen weitere 30 %. Im Ergebnis zahlen 30 % der Einkommensteuerzahler schon jetzt in Deutschland 70 % der Einkommensteuer. Das möge sich Herr Dreßler vor Augen führen. Ich kann hier nur mit Epikur sagen: Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug. Wir haben lange genug Sozialismus gehabt. Ich habe 39 Jahre im Sozialismus leben müssen. Ich kann Ihnen nur sagen, meine Damen und Herren, ich warne dringend davor, hier eine solche Tendenz einzuschlagen.
Der Solidarpakt löst gewiß nicht direkt alle Schwierigkeiten der jungen Bundesländer. Mit seinen mittelfristigen Festlegungen, z. B. zum Finanzausgleich, gibt er aber eine wichtige Hilfestellung für eine sinnvolle Einteilung der Kräfte auf den noch vor uns liegenden Etappen. Mit solchen kurzfristigen Verbesserungen, z. B. im Treuhand- und Wohnungsbaubereich, ist er ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. Diesen Weg werden wir erfolgreich gemeinsam weiter beschreiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214911100
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1214911200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es als erstes zu sagen: Der sogenannte Solidarpakt greift bei weitem zu kurz. Zusätzliche Finanzmittel, eine Umschichtung staatlicher Mittel sind notwendig, aber für den Osten nicht hinreichend. Es fehlt der entscheidende Ansatz, es fehlt der Eingriff in die private Investitionstätigkeit. 95 % der entscheidenden Ausrüstungsinvestitionen — das sind die Investitionen, die Produktionskapazitäten schaffen, die produktive Dauerarbeitsplätze schaffen können — werden nun einmal von den privaten Unternehmen getätigt — 95 %!
Zwei Drittel aller Forschungs- und Entwicklungsprojekte — das Ergebnis sind neue Produkte und neue Verfahren — laufen in den Unternehmen. Bei den marktnahen FuE-Projekten ist der Anteil noch erheblich größer. Auf alle diese Prozesse greift der Solidarpakt überhaupt nicht zu, weder direkt noch indirekt.
Hier liegt die wesentliche Ursache für die Dauermisere im Osten. Gerade etwa 6 % der privaten Investitionen gehen in den Osten. Bei den Ausrüstungsinvestitionen ist der Anteil des Ostens sogar noch geringer, und bei den Investitionen in hochmoderne Fertigungsanlagen ist der Anteil des Ostens noch einmal erheblich geringer.
Dieser Solidarpakt programmiert daher die Industriewüste im Osten, er programmiert dort eine Dauerarbeitslosigkeit bisher nicht gekannten Ausmaßes. Er programmiert Ausgrenzung, weiteren Sozialabbau, gesellschaftlichen Rückschritt. Er geht, weil er an den wirklichen Problemen des Ostens vorbeigeht, vor allem zu Lasten der Schwachen, der Frauen, der Kinder, der Behinderten.
Warum nutzt der Bundeskanzler, warum nutzt die Bundesregierung — die Frage habe ich schon früher



Dr. Ulrich Briefs
einmal aufgeworfen — ihre privilegierten Beziehungen zur Wirtschaft, insbesondere zur Großwirtschaft, die den überwiegenden Teil der Investitionen tätigt, nicht, um bindende Zusagen einzuholen für Investitionen im Osten, für die Erhaltung industrieller Kerne im Osten durch Umschichtung insbesondere von privaten Ausrüstungsinvestitionen in den Osten?
Wo ist der Solidarpakt, der die in unserem Wirtschaftssystem entscheidenden Handlungsträger, die Unternehmen, die Wirtschaft, die Wirtschaftsverbände aktiv einbezieht? Dieser Teil des Solidarpakts fehlt, fehlt völlig. Es fehlen die Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, insbesondere der vielen Großunternehmen, es fehlen politische Vorgaben der Bundesregierung für die Wirtschaft. Es fehlt eine zukunftsorientierte Konzeption für den Osten. Es fehlt überhaupt ein Leitbild für eine neue Wirtschaftsstruktur im Osten. Es fehlt insbesondere ein Konzept für den sozialen Ausgleich zwischen West und Ost. Es fehlt ein Konzept für eine zukünftige Öko-Region Ost.
Der Solidarpakt ist nicht nur in wesentlichen Aspekten unsozial und ungerecht. Er ist, auch vom eigenen beschränkten Anspruch her gesehen, bestenfalls Stückwerk. Er geht zumindest dicht an den Problemen des Ostens — nämlich eine neue ökologisch und sozial verantwortbare Infrastruktur und Wirtschaftsstruktur im Osten zu schaffen, dauerhafte und gesunde Arbeitsplätze zu schaffen, sozialen Fortschritt statt sozialen Rückschritt zu gewährleisten — vorbei. Die Forderung nach mehr Gerechtigkeit z. B. durch die Arbeitsmarktabgabe — Arbeitsmarktabgabe in Höhe von sage und schreibe gerade 2 % des Bruttoeinkommens — ist voll zu unterstützen. Sie wird von der Regierungskoalition nicht aufgegriffen.
Der Kollege Dreßler hat ja recht: Es muß nachverhandelt werden, und es muß insbesondere in der Richtung weiter verhandelt werden, daß unsere Systemtäter, die Unternehmen, die Unternehmer und die Wirtschaftsverbände, in die Pflicht genommen werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Sozialismus!)

— Das hat mit Sozialismus überhaupt nichts zu tun.
Es muß erreicht werden, daß bei der Fortschreibung der mittelfristigen Investitionsplanung der Unternehmen — das wird in weiten Bereichen im Sommer oder Herbst dieses Jahres erfolgen — eine entsprechende Ostquote festgelegt wird. Sie muß die fünf neuen Länder weit überproportional mit Investitionen und insbesondere mit den von mir angesprochenen Ausrüstungsinvestitionen bedenken. Dann kann auch der Staat mit seinen Infrastrukturinvestitionen und mit dem Ausbau der öffentlichen Verwaltung ergänzend und den Aufschwung verstärkend einsetzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Planwirtschaft, Planwirtschaft!)

Allerdings, das gebietet die Ehrlichkeit, das gebietet die Fairneß, wird das im Westen den bereits hohen Druck auf den Arbeitsmarkt noch erhöhen. Hier sind deshalb ebenso — auch diese Forderung ist ja nicht neu — industriepolitische Konzepte gefordert. Mehr als 7 Millionen Arbeitslose — soviel sind es inzwischen
in Wirklichkeit —, d. h. 25 Millionen betroffene Menschen im Osten und im Westen Deutschlands machen nun einmal besondere Anstrengungen erforderlich.
Ein wichtiger Teil — ich komme damit zu einem ganz anderen Punkt in diesem Zusammenhang — der Manövriermasse für solche industriepolitischen Konzepte im Osten wie im Westen ist vorhanden. Es ist der riesige Reichtum der Wirtschaft, der übrigens auch in diesen Jahren der Krise weiterwächst. Die Wirtschaft ist viel reicher als sie zugibt. „Deutsche Unternehmen rechnen sich arm. " Das stammt aus der „Süddeutschen Zeitung", die das schon vor Jahren in einem größeren Artikel geschrieben hat.
Die Siemens AG z. B. hat derzeit nicht nur liquide Mittel — wie nennen sie vagabundierendes Kapital — von sage und schreibe fast 20 Milliarden DM. 1974 waren es übrigens erst 2,4 Milliarden DM. Sie hat auch stille Reserven, gemessen am Börsenwert des Unternehmens — das sind Vermögenswerte, die nicht in den Bilanzen erscheinen — nach eigenen Angaben, Jahresabschluß 1991/92 — von über 15 Milliarden DM. Stille Reserven, Werte, die nicht in der Bilanz erscheinen, von über 15 Milliarden DM! Der BruttoCash-Flow der Wirtschaft liegt inzwischen bei etwa eintausend Milliarden DM im Jahr. Eintausend Milliarden DM im Jahr fließen der Wirtschaft für eigene Dispositionen zu. Und da soll es nichts zu verteilen geben, wie Herr Lambsdorff sagt, zugunsten von Arbeitsplätzen und Wohnungen, zugunsten der Armen, der Obdachlosen, der Schwachen in Ost und West? Es gibt eben Lügen, infame Lügen und Bilanzen.
Um es konkret auf einen Punkt zu bringen: Der § 248 HGB z. B. verbietet, daß die Werte, die bei der Siemens AG z. B. von den mehr als 30 000 Forschern und Entwicklern mit mehr als 6 Milliarden DM Investitionen in Forschung und Entwicklung geschaffen werden, auch nur mit einer einzigen müden Mark in der Bilanz erscheinen. Allein das schafft jedes Jahr stille Reserven im Werte von mehreren hundert Millionen DM. Übrigens, damit wir uns richtig verstehen: das ist völlig legal. Das hat nichts mit Bilanzfälschung oder so zu tun. Die kommt dann in bestimmten Situationen offenbar noch hinzu. Der Fall Moksel ist, wenn man diese Dimensionen sieht, ein Klacks, kann man sagen, also die offensichtlich kriminelle Erschwindelung von hohen Subventionen.
Die Schaffung „gläserner Taschen der reichen Wirtschaft" — eine alte Forderung der Gewerkschaften — bleibt geradezu als Jahrhundertaufgabe auf der Tagesordnung. Und dennoch: Wir wissen genug über die offenen und versteckten Reichtümer der Wirtschaft. Auch auf diese und gerade auf diese muß zurückgegriffen werden von einem Solidarpakt, der diesen Namen wirklich verdienen will.
Opfer müssen wir alle bringen. Aber ein Solidarpakt, der die Armen, mit den Asylbewerbern sogar die ärmsten der Armen, und die abhängig Beschäftigten schröpft und die Reichen und Superreichen ungeschoren läßt, ist seine eigene Karikatur, und das ist in diesem Fall jetzt so.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.




Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214911300
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Wort.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1214911400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle fest, daß ich weniger für die Berufspolitiker als für die Menschen außerhalb des Parlaments spreche und sprechen darf.

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das ist eine quantitative und keine qualitative Einschätzung!)

Solidaritätsgesetz, wie es früher hieß, Solidarpakt, wie es heute heißen soll, föderales Konsolidierungspaket oder -programm oder was auch immer, Nachtragshaushalt 1, Nachtragshaushalt 2, vielleicht noch Nachtragshaushalt 3, Standortsicherungsgesetz, Erb-lastenfonds, Investitionsbeschleunigungsgesetz, zusätzliche Absatzförderung und Zahlloses mehr: Wir erleben nicht nur eine Phase der Inflation unserer D-Mark, sondern wir erleben vor allen Dingen eine dramatische Inflation der Begriffe und der haltlosen Beteuerungen in der Politik. Heute hat jeder Minister sein eigenes Konzept, seine eigene Idee. Das Chaos ist perfekt.
Ist nicht der sogenannte Solidarpakt letztlich ein Zeichen der Hilflosigkeit, einer Vernebelungstaktik und des bewußten Bemühens, heillosem Aktionismus ein neues Mäntelchen umzuhängen? Längst brauchten wir in Wirklichkeit ein Wirtschaftssicherungsgesetz wie zu Ludwig Erhards Zeiten oder, ich würde sagen, noch besser ein Wirtschaftsbewahrungsgesetz, mit dem die unter den inflationierten Lasten in eine Rezession fallende deutsche Wirtschaft von dieser Politik bewahrt wird.
Ich teile nicht die Auffassung des Kollegen Schäuble, der seine Hoffnung allein auf Kohl — ich meine den Kanzler — setzt. Ich halte es für völlig sinnlos, die Hoffnung auf Kohl zu setzen, auch wenn darüber noch einige seiner Fraktionskollegen wahrscheinlich eine gewisse Aufklärung haben müßten und einen gewissen Emanzipationsprozeß durchlaufen sollten.
Ich teile auch nicht die Auffassung des Kollegen Klose, der von einer ruhenden Energie im Kanzler gesprochen hat. Ich halte ihn für politisch ungeeignet, allerdings für einen machtpolitisch hellwachen und leider mit allen Wassern gewaschenen Riesen. Sonst würde die Unionsfraktion nicht die klägliche Rolle spielen, die zu spielen sie leider verurteilt ist.
Was sie uns heute anbietet, ist in Wahrheit ein Solidarpakt der Politik gegen die Bürger, die überhaupt nicht gefragt wurden, die überhaupt nicht beteiligt sind, ein sogenannter Solidarpakt mit höheren Steuern, höheren Schulden und vor allem einer höheren Belastung des Bundes, der ihn zunehmend handlungsunfähig macht.
Dann ist schon bemerkenswert — Sie haben es vielleicht erlebt —, in welcher weinerlichen und klagenden Art sich der Herr Bundeskanzler hier hinstellt, so als ob er überhaupt nichts mit den Schulden, überhaupt nichts mit der Arbeitslosigkeit, überhaupt nichts mit der Rezession, der Inflation, der Rechtsunsicherheit in unserem Volk und dem mangelnden Vertrauen der Deutschen in sich selber zu tun hätte.
Da kommt die Spitze des Bundeskanzlers, wenn er sich hier hinstellt und sagt: „Ich mache keine Schuldzuweisung." Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, so einfach ist das: „Ich, der Bundeskanzler, habe mit all dem nichts zu tun. Aber ich habe heute einen großen Tag. Ich werde auch niemandem Schuld zuweisen. " Aber Herr Schäuble meint, der Bundeskanzler ist ein ehrenwerter Mann.
War es nicht der Herr Bundeskanzler, der am 13. Februar 1990 die Währungsunion ohne Einschränkung versprochen hat? War er es nicht, der von blühenden Landschaften in zwei oder drei Jahren gesprochen hat, als ihm die Menschen das geglaubt haben? Aber Wolfgang Schäuble ist der Auffassung, der Bundeskanzler ist ein ehrenwerter Mann.
Bei keinem Bundeskanzler hat sich das, was er für sich in seinen Reden in Anspruch nimmt, so auffallend von dem unterschieden, was die Taten waren.

(Zuruf von der SPD: Da hat er recht!)

Der Bundeskanzler spricht davon, es gehe darum, eine neue Aufbruchstimmung zu wecken. Ich frage Sie: Mit diesem Bundeskanzler? Wo soll denn die Aufbruchstimmung herkommen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Von wo überträgt sich denn bei ihm etwas, so daß Herr Schäuble meint, der Herr Bundeskanzler ist ein ehrenwerter Mann?
Der Herr Bundeskanzler hat uns auf Japan und Europa hingewiesen. Nun gut. Aber zeigt nicht gerade das Beispiel Japan, daß es ein Fehler war, sich nur auf die Strukturen der Europäischen Gemeinschaft zu verlassen? Die Protektion Europas hat uns doch davon abgehalten, uns rechtzeitig auf diese japanische Herausforderung einzustellen. Heute bitten wir die Japaner auf den Knien, sie mögen doch milde sein. Das bewirkt doch nur, daß wir völlig das Gesicht verlieren. Ich wiederhole das, so oft es möglich ist.
Dort, wo wir im Fernen Osten tatsächlich große Chancen für die deutsche Politik hätten, werden sie von dieser Bundesregierung nicht wahrgenommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nur um die 12,5 Milliarden DM Aufträge für die deutsche Werftindustrie, die wir dringend brauchen, 150 Millionen Arbeitsstunden für gesicherte Arbeitsplätze für eine notleidende Industrie, die der Herr Bundeskanzler glatt zurückweist! Nein, es geht um die Beteiligung an einem der größten Infrastrukturprojekte der Welt von 300 Milliarden Dollar innerhalb von sechs Jahren, an dem wir heute im kleinen China auf Taiwan beteiligt sein könnten. Dort werden wir auf Grund dieser Entscheidung einer Bundesregierung nicht beteiligt sein.

(Zuruf von der SPD: Da hat Herr Kohl wirklich einmal recht gehabt!)




Ortwin Lowack
Maastricht wird bei so vielen Fehlern nicht funktionieren. Dieses Herausstehlen aus der Verantwortung wird letztlich auch nicht funktionieren. Wir werden mit neuen Belastungen zu tun haben. Sie werden leider weitgehend Sachverstand und Kompetenz ausschalten. Dieser Bundestag hat mit Maastricht — ich muß das noch einmal sagen — nach Delors auf 80 % seiner Kompetenzen verzichtet, ohne daß auf der anderen Seite eine demokratische Einrichtung vorhanden ist, die hinterher noch die Politik kontrollieren kann.
Notwendig wäre eine große gemeinsame Kraftanstrengung der Deutschen. Notwendig wäre ein Konsolidierungskurs, wenn sich nicht die gewaltige Verschuldung des Staates zu einem strukturellen Wachstumshemmnis allererster Klasse entwickeln würde. 24 % bis 25 % wird bereits Ende 1994 die Zinslastquote an den Steuereinnahmen des Bundes betragen. Damit ist eine beständige zerstörerische und lähmende Inflation vorprogrammiert, wenn wir auf diesem Wege weitermachen würden. Nein, mit einem Zahlenwerk wie dem sogenannten Sozialpakt die Probleme Deutschlands lösen zu wollen, ist blanke Illusion.
Wenn sich eine Regierung nicht darum kümmert, den Rechtsstaat wiederherzustellen, den sie über Jahre hatte verkommen lassen, kann sie die Probleme nicht lösen. Wenn eine Regierung der Bevölkerung nicht erklärt, weshalb sie überhaupt Solidarität üben soll, und wenn sie es nicht fertigbringt, in einem wirklichen Akt der Solidarität alle gleichmäßig zu belasten — hier darf es keine Besitzstände geben —, wird sie die Probleme nicht lösen. Wenn eine Regierung nicht in der Lage ist, die kreativen Kräfte und die Leistungsbereitschaft in unserem Volk zu fördern, wird sie die Probleme erst recht nicht lösen.
Eine Politikverdrossenheit, die wir feststellen, ist längst eine Politikerverdrossenheit, oder sie hat hier ihren Ausgangspunkt. Sie ist zu einer Staats-, einer Gesellschaftsverdrossenheit und leider auch zu einer Selbstverdrossenheit geworden.
Wir müssen den umgekehrten Weg gehen. Wir brauchen mehr Menschen mit einem ruhigen Selbstbewußtsein, damit wir auch wieder zu einem Gemeinschaftsbewußtsein, einem Demokratiebewußtsein zurückkehren. Ein Solidarpakt dagegen, der ohne dieses Vertrauen in sich selbst und in uns aufbaut, ist sinnlos, ist teuer und ist Betrug an den Menschen, die der Politik anvertraut sind.
Danke.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214911500
Meine Damen und Herren, nachdem mir keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, kommen wir zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liegt Ihnen auf Drucksache 12/4617 vor. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? — Wer stimmt dagegen? – Dann ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt worden.
Ich komme nunmehr zu der Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste. Er liegt Ihnen auf Drucksache 12/4624 vor. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der Abgeordneten Dr. Briefs und Schulz ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt worden.
Meine Damen und Herren, wegen der Sondersitzung der SPD-Fraktion wird nunmehr die Sitzung unterbrochen.
Ich berufe den Bundestag auf voraussichtlich 16.00 Uhr wieder ein.

(Unterbrechung von 14.30 Uhr bis 16.00 Uhr)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1214911600
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wegen Überfüllung wird sie jedenfalls nicht wieder geschlossen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber die Qualität, Herr Präsident!)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 und Zusatzpunkt 1 auf:
4. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Übereinkommen vom 23. Oktober 1991 über Kambodscha
— Drucksache 12/4469 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 9 vom 6. November 1990 sowie zu dem Protokoll Nr. 10 vom 25. März 1992 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten — Drucksache 12/4474 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung der Gewerbeordnung und der Spielverordnung
— Drucksache 12/4488 — Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Rechtsausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. April 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Albanien über den zivilen Luftverkehr
— Drucksache 12/4472 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur



Vizepräsident Hans Klein
Änderung des Baugesetzbuchs (Mietwohnungssicherungsgesetz)

— Drucksache 12/4396 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
f) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Sofortmaßnahmen zur Durchsetzung friedlicher Verhandlungslösungen im ehemaligen Jugoslawien
— Drucksache 12/4192 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Rücknahme des Gesetzentwurfs über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin-Oebisfelde durch die Bundesregierung
— Drucksache 12/4480 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
h) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu dem ersten Bericht über die Anwendung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer
— Drucksache 12/4179 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Rechtsausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
EG-Ausschuß
ZP1 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache 12/4616 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß
Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 und Zusatzpunkt 2 auf:
5. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Obereinkommen vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im
Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen
— Drucksache 12/4071 —

(Erste Beratung 134. Sitzung) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 12/4537 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Günter Klein (Bremen)

b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkonunen vom 4. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amtshilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache 12/4072 — (Erste Beratung 134. Sitzung)

aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 12/4598 —
Berichterstattung:
Abgeordneter
Arne Börnsen (Ritterhude)

bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/4599 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth (Gießen)

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Rudolf Purps
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Reichsheimstättengesetzes
— Drucksache 12/3977 — (Erste Beratung 134. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (19. Ausschuß)

— Drucksache 12/4565 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Formanski Jürgen Sikora
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Jugendarbeitsschutz
— Drucksachen 12/2867 Nr. 2.17, 12/3721 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Fuchtel
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament



Vizepräsident Hans Klein
Entschließung zur Nachtarbeit und zur Aufkündigung des Übereinkommens 89 der Internationalen Arbeitsorganisation
— Drucksachen 12/2538, 12/4380 —
Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Weiler
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapitel 10 04 Titel 683 21 — Erstattungen bei der Ausfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet —— Drucksachen 12/4142, 12/4476 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid Hoth
Ernst Kastning
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 94 zu Petitionen — Drucksache 12/4531 —
ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 95 zu Petitionen — Drucksache 12/4625 —
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß)

Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
— Drucksache 12/4554 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singer
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 5a, zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zur Beseitigung der Doppelbesteuerung in bestimmten Fällen, Drucksachen 12/4071 und 12/4537. Ich rufe den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. —Wer stimmt dagegen? — Niemand. Wer enthält sich der Stimme? — Bei einer Stimmenthaltung ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir stimmen ab über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Königreich Norwegen, Drucksache 12/4072. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/4598, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Wer enthält sich der Stimme? — Dieser Gesetzentwurf ist wiederum bei einer Stimmenthaltung angenommen.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Reichsheimstättengesetzes, Drucksachen 12/3977 und 12/4565. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu einem Richtlinienvorschlag der EG zum Jugendarbeitsschutz, Drucksachen 12/2867 und 12/3721, ab. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe!
— Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur Nachtarbeit, Drucksachen 12/2538 und 12/4380. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 ab. Es handelt sich um Erstattungen bei der Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus den neuen Bundesländern. Die Beschlußempfehlung liegt Ihnen auf Drucksache 12/4476 vor. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/4531 und 12/4625. Das sind die Sammelübersichten 94 und 95. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme?
— Bei einer Stimmenthaltung sind die Beschlußempfehlungen angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens, Drucksache 12/4554. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
— Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Adolf Ostertag, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ablösung des Arbeitsförderungsgesetzes durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz
— Drucksache 12/4294 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß



Vizepräsident Hans Klein
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ottmar Schreiner das Wort.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1214911700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich um einen Antrag, der auf eine weitreichende Strukturreform der Tätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit abzielt.
Erstaunlicherweise hat heute morgen — jedenfalls meiner Erinnerung nach — der Bundeskanzler in seiner rund einstündigen Regierungserklärung kein einziges Wort zu dem Thema Arbeitslosigkeit verloren. Im Gegenzug wird von den Koalitionsfraktionen seit Wochen eine intensive Mißbrauchsdebatte geführt. Wenn sich die Koalitionsfraktionen mit dem Thema Arbeitslosigkeit auch nur halbwegs so beschäftigten, wie sie sich mit dem Thema Mißbrauch beschäftigen, wären wir möglicherweise auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ein gutes Stück weiter.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Eine unzutreffende Unterstellung!)

— Wir haben ja nichts dagegen, im Bereich der sozialen Inanspruchnahme dafür zù sorgen, daß sie möglichst integer erfolgen soll. Nur haben die Koalitionsfraktionen selbst die Spitzenexperten auf diesem Feld am Werk.
Ich sage Ihnen: Der eigentliche Skandal im Fall Krause — damit will ich das Thema schnell wieder verlassen, weil es zur Sache hier wenig beiträgt — besteht darin, daß der Industriearbeitnehmer in Rostock mit einem Monatseinkommen von vielleicht 1 400 DM über seine Arbeitslosenversicherungsbeiträge die Haushaltshilfe eines Bundesministers bezahlt. Das ist der eigentliche Skandal.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Das Beklagenswerte an der Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist die Tatsache, daß die Bundesregierung erkennbar über keinerlei konzeptionelle Ansätze verfügt. Weder wurde in den 80er Jahren noch wird in der gegenwärtigen Phase von der Regierung oder von den Koalitionsfraktionen das Thema Massenarbeitslosigkeit thematisiert.
Ich will Ihnen als ein Beispiel unter vielen aus einer Studie von Freiburger Wissenschaftlern zitieren. Im Handelsblatt vom 17. März dieses Jahres heißt es dazu:
Mit einem höheren, sich verfestigenden Niveau der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland ist nach Auffassung des Instituts für allgemeine Wirtschaftsforschung an der Universität Freiburg in den kommenden Jahren zu rechnen.
Nach dem Freiburger Modell ist in Westdeutschland für 1993 ein realer Rückgang des Bruttosozialprodukts um 1,5 % sowie am Jahresende eine Arbeitslosenzahl von 2,5 Millionen Personen zu erwarten. 1994 werde die Wirtschaftsentwicklung stagnieren und die Arbeitslosenzahl am
Jahresende 2,8 Millionen betragen. Dieser Bestand an Arbeitslosigkeit werde sich ab Mitte 1994 auf dem hohen Niveau einzupendeln beginnen. Es sei zu befürchten, daß sich damit eine neue Stufe der Entwicklung der Arbeitslosigkeit
etabliere.
Das ist ein kleiner Ausschnitt aus der wissenschaftlichen Erörterung des Themas. Sie konnten vor einigen Tagen in der Wochenzeitschrift Focus lesen, daß die Unterbeschäftigung in Deutschland Ende dieses Jahres auf insgesamt rund sieben Millionen Personen veranschlagt wird. Das heißt, es fehlen sieben Millionen reguläre Arbeitsplätze in Deutschland. Es wurde darauf hingewiesen, daß dies die höchste Quote seit der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre gewesen ist.
Dennoch, trotz der Parallele zu der Situation Anfang der dreißßiger Jahre mit allen bekannten politischen Folgewirkungen spielt das Thema Massenarbeitslosigkeit in den Überlegungen der Bundesregierung erkennbar keine Rolle. Ich halte es in der Tat für einen politischen Skandal allerersten Grades, daß Sie dieses für viele Menschen zentrale Thema in Ihrer eigenen Arbeit geradezu auf Null herunterreden.
Zweitens. Es geht nicht nur um das Schicksal der Betroffenen. Ebenfalls müßte diskutiert werden, welche gesellschaftlichen Auswirkungen das Thema Arbeitslosigkeit in Deutschland und anderswo hat. Nach meiner festen Überzeugung ist die Erwerbsarbeit nach wie vor der Faktor, der über das Schicksal des einzelnen in der Gesellschaft entscheidet, die ihn in die Gesellschaft integriert oder ihn an den Rand drängt. Wenn das aber so ist, dann muß die Gesellschaft ihre Erwerbsarbeit entweder anders organisieren oder andere Formen der sozialen Integration schaffen.
Ich halte sehr wenig von der über einige Zeit gängigen These, die Erwerbsarbeit würde an Bedeutung in der Gesellschaft verlieren. Ich glaube ganz im Gegenteil daran, daß die vieldiskutierten Individualisierungsschübe in unserer Gesellschaft wesentlich dazu beitragen, daß die Erwerbsarbeit für den einzelnen Menschen zusätzlich erheblich an Bedeutung gewinnen wird.
Ich will das in wenigen Sätzen zu erklären versuchen. Das, was unsere Gesellschaft zusammenhält, die Möglichkeit der einzelnen Individuen, ihre Vorstellungen von Selbstverwirklichung, von Selbsterfüllung zu realisieren, setzt in aller Regel die Teilhabe der Individuen an der Erwerbsarbeit voraus, weil sie die Voraussetzungen schafft, um die jeweils gewünschte Form der Selbstverwirklichung später realisieren zu können.
Wenn das aber so ist, wenn eine Gesellschaft den einzelnen über die Teilhabe an der Erwerbsarbeit integriert, dann ist eben die Teilhabe an der Arbeit das zivilisatorische Minimum einer Gesellschaft.
Ich will Oskar Negt zitieren, der bereits 1984 geschrieben hat:
Eine Gesellschaft, die dieses Minimum nicht
mehr anzubieten imstande ist, verspielt langfri-



Ottmar Schreiner
stig ihren moralischen Kredit, der für eine einigermaßen friedliche Konfliktregelung ihrer Interessenswidersprüche unabdingbar ist; unter solchen Verhältnissen wachsen Gewaltpotentiale sehr schnell.
Diese Ausführungen von Oskar Negt 1984 waren fast schon eine seherische Vorwegnahme dessen, was wir seit einigen Monaten und Jahren verstärkt in Deutschland zu beklagen haben.
In der Tat macht sich in beiden Teilen Deutschlands ein aggressives Klima breit — eine zunehmende Neigung zur Gewalt, die sich in dem organisierten Terror gegen Ausländer und in den Wahlerfolgen der Rechtsradikalen, aber auch in zunehmender Gewaltkriminalität, in aggressiven Umgangsformen und in einer generell gereizten Atmosphäre ausdrückt. Die Angst vor der Gewaltkriminalität — sei es in bezug auf die eigene Wohnung, sei es in bezug auf das Auto, sei es in den öffentlichen Verkehrsmitteln, sei es in bestimmten Stadtteilen oder in öffentlichen Parks — erinnert zumindest in den deutschen Großstädten bereits bedrohlich an amerikanische Verhältnisse. Es bahnt sich auch in Deutschland eine Gettoisierung von Arbeit und Wohlstand ganz nach dem Vorbild der USA an.
Ich glaube, wenn man dieses Thema bezogen auf seine sozialen Auswirkungen ernsthaft diskutieren will, muß man bei der Frage „Wie bekämpfen wir Kriminalität?" zuallererst darüber nachdenken, wie wir die soziale Desintegration von Millionen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland bekämpfen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Überall wird darüber geredet, wie man den sozialen Frieden in Deutschland erhalten kann. Wir alle wissen, daß der soziale Friede eine wesentliche Voraussetzung der Standortqualität in Deutschland ist. Wenn man darüber redet, dann muß man auch darüber reden, wie man die Millionen ausgegrenzter Personen wieder in die Erwerbsarbeit bringen kann. Wer diese Fragen ausklammert, läßt nicht nur die Arbeitslosen im Stich, sondern trägt wesentlich zur politischen Destabilisierung unserer Republik bei.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Drittens. Wir haben mit dem vorliegenden Antrag versucht, zumindest aus dem Bereich der Arbeitsmarktpolitik Bausteine in Richtung Vollbeschäftigung zu entwickeln. Ich sage wohlgemerkt „Bausteine", weil wir den Anspruch nicht überhöhen wollten.
In dem gegenwärtigen Arbeitsförderungsgesetz heißt es in § 2:
Die Maßnahmen nach diesem Gesetz haben insbesondere dazu beizutragen, daß weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften eintreten oder fortdauern .. .
Also: Die zentrale Aufgabe des Arbeitsförderungsgesetzes ist nach dem eigenen Selbstverständnis, dazu beizutragen, daß Arbeitslosigkeit vermieden wird. Von dieser Aufgabe ist weit und breit nichts mehr zu
sehen — angesichts der verheerenden Situation auf dem Arbeitsmarkt.
Dabei käme es gerade darauf an, das Arbeitsförderungsgesetz an die neuen, sich grundlegend verändernden Bedürfnisse in Deutschland anzupassen. Das Arbeitsförderungsgesetz ist zu einer Zeit entstanden, als das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland als überwunden galt. Das Arbeitsförderungsgesetz hat im wesentlichen zum Inhalt, individuelle Überbrückungshilfen für Menschen zu organisieren, die aus persönlichen Gründen aus der Erwerbsarbeit ausgeschieden sind. Wir haben es aber inzwischen mit einem verbreiteten und monatlich weiter anwachsenden Massenphänomen der Arbeitslosigkeit zu tun. Auf diese Situation, auf diese Entwicklung war das Arbeitsförderungsgesetz nicht vorbereitet.
Deshalb in aller Kürze die wesentlichen Elemente des Vorschlags der SPD; dabei lade ich Sie gern zu einer fairen Auseinandersetzung ein.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist aber neu! Für Fairneß sind wir immer! — Zuruf des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU] — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Wenn es Sie selber erstaunt, daß man Sie zu einem fairen Wettbewerb einlädt, dann braucht man das nicht weiter zu kommentieren. Jetzt werden die Meister hier vorne wach, nachdem sie ein Nickerchen gemacht haben.
Erstens. Wir wollen einen verbindlichen Regelmechanismus, der sicherstellen soll, daß über einen Zeitraum von vier Jahren in einer ersten Phase mindestens 50 % der Gesamtausgaben der Bundesanstalt für Arbeit in die aktive Arbeitsmarktpolitik fließen. Mares Ziel dieses ersten und obersten Regelungsvorschlags ist eine Prioritätenumkehr. Zur Stunde fließt der weitaus größte Teil dessen, was die Bundesanstalt für Arbeit zur Verfügung hat, in die Finanzierung von gesellschaftlich erzwungenem Nichtstun, also in die Finanzierung von Arbeitslosigkeit. Wir wollen einen grundlegenden Wechsel. Wir wollen dafür sorgen, daß der größere Teil der Ausgaben — das kann man dann ja sukzessive weiter nach oben ausdehnen — für die Förderung von Arbeit aufgewandt wird.
Zweitens. Wir wollen eine enge Verknüpfung mit den staatlichen Struktur- und Regionalpolitiken. Dies soll bewerkstelligen, daß bei den enormen infrastrukturellen Defiziten, insbesondere in Ostdeutschland, aber nicht nur in Ostdeutschland, über das Arbeitsförderungsgesetz Menschen eingesetzt werden können, die mit dazu beitragen, die vorhandenen Defizite abzuarbeiten.
Drittens. Eine wesentliche Schwäche des bislang geltenden Arbeitsförderungsgesetzes besteht darin, daß ausreichende Instrumente zur Schaffung von regulären Arbeitsplätzen fehlen. Niemand kann uns unterstellen, daß wir eine grenzenlose Aufblähung des zweiten Arbeitsmarkts wollen. Wir wollen mit dafür sorgen, daß die Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes eben auch zur Stabilisierung und Ausweitung des regulären, des ersten Arbeitsmarkts eingesetzt werden können. Deshalb enthält unser Antrag eine Reihe von wirtschaftsnahen Förderinstrumenten,



Ottmar Schreiner
wobei allerdings in Abgrenzung zur Wirtschaftspolitik als wesentliches Förderkriterium die Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze bzw. der zusätzlich eingestellten Arbeitslosen gilt.
Auf diesem Feld gäbe es auch angesichts der Entwicklung in Westdeutschland — Stichwort Stahlindustrie; Stichwort Entwicklung im Kohlebereich und in anderen krisenanfälligen Branchen — eine Menge sinnvoller Projekte zu betreiben.
Viertens. Wir wollen, daß die vom technologischen Wandel oder Strukturproblemen besonders betroffenen Betriebe eine Förderung der innerbetrieblichen Qualifizierung erhalten. Dieses Thema ist für mich von herausragender Bedeutung, weil wir über den Bewilligungsstopp bei den AB-Maßnahmen weitestgehend vergessen haben, daß die Bundesregierung faktisch einen Bewilligungsstopp auch bei den Fort-bildungs- und Umschulungsmaßnahmen in Gang gesetzt hat und hier flächendeckend die vorhandenen Qualifizierungsträger zusammenbrechen, was verheerende Konsequenzen hat.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Eine Kürzung um 25 % ist doch keine Streichung!)

— Es ist ein faktischer Stopp. Es finden so gut wie keine Neubewilligungen im Bereich der Qualifizierungsmaßnahmen mehr statt.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Herr Kollege Louven, wenn Sie die Wirklichkeit Ihres Wahlkreises nicht kennen, wäre Ihnen zu empfehlen, gelegentlich eine Stippvisite in Ihrem eigenen Wahlkreis zu unternehmen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann geht mir das nicht von der Zeit ab. Bitte sehr, stellen Sie sich an das Mikrophon! Stellen Sie mir eine anständige Frage! Dann kriegen Sie eine vernünftige Antwort.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Ich habe gar nichts gesagt! — Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Der Schreiner ist völlig auf dem Holzweg!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1214911800
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie auf die Zwischenrufe in der Weise eingehen, dann ist das natürlich Ihre Entscheidung.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Der ist doch glücklich! — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Der kann doch gar nicht anders! — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das gehört zum Schreiner dazu!)

Inzwischen will der Kollege Louven eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1214911900
Ja. Vizepräsident Hans Klein: Bitte schön.

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1214912000
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie mich schon direkt ansprechen: Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich hier schweigend gesessen habe, um Ihnen zuzuhören?

(Zuruf von der CDU/CSU: Und keine Zwischenrufe gemacht habe!)

— Ich habe keinerlei Zwischenrufe gemacht. Vielleicht können Sie das von den Stenographen bestätigt bekommen.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1214912100
Herr Kollege Louven, dann müssen Sie über die erstaunliche Fähigkeit der Bauchrednerei verfügen, die Sie zudem dazu veranlaßt, Ihre eigenen Bauchreden akustisch nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Fähigkeit! Vielleicht teilen Sie mir bei Gelegenheit mit, ob man sich das anarbeiten kann. Denn das kann zu ganz vergnüglichen Ereignissen führen.
Ich will im Zusammenhang mit dem Qualifizierungsstopp den auch von Ihnen sehr geschätzten Ministerpräsidenten Biedenkopf zitieren. Im „Zwikkauer Tageblatt" hieß es:
In seinen Worten maß Biedenkopf der Qualifikation als Investition in die Zukunft außerordentliche Bedeutung bei.
Wörtlich zitiert ihn die Zeitung:
„Sie ist keine Beschäftigungstherapie, sondern sichert das Bestehen im weltweiten Wettbewerb. "
Wir sind geradezu in der absurden Situation, Herr Kollege Louven, daß die Bundesregierung gegenwärtig durch Untätigkeit dazu beiträgt, daß wir ein Millionenheer von Langzeitarbeitslosen aufbauen, die in Zukunft nur noch unter äußerst schwierigen Bedingungen für den regulären Arbeitsmarkt zurückzugewinnen sind, während uns auf der anderen Seite alle Leute, die mit der demographischen Entwicklung zu tun haben, signalisieren, daß wir spätestens um die Jahrtausendwende, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt kommen, in etlichen Branchen einen großen Fehlbedarf haben. Wenn Sie jetzt zulassen, daß Millionen von Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, die wir spätestens um die Jahrtausendwende im ersten Arbeitsmarkt dringendst brauchen, langzeitarbeitslos werden, daß ihre Qualifikationen verlorengehen, daß ihr individuelles Arbeitsvermögen verfällt, dann tragen Sie nicht nur zum schlimmen Schicksal dieser Leute bei, sondern auch dazu, daß die Standortqualität in Deutschland massiv gefährdet und beeinträchtigt wird. Das zur Frage der Qualifizierung.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Fünfter Punkt. Wir wollen natürlich an den bewährten individuellen Hilfen für bestimmte Fördergruppen festhalten. Wir wollen, daß die Frauenförderung in den Zielen des ASFG ausdrücklich verankert wird. Durch eine verbindliche Vorschrift soll sichergestellt werden, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit bei den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik berücksichtigt werden.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)




Ottmar Schreiner
Wir wollen eine sozial gerechte Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik; Stichwort: Gerechtigkeitslücke. Schließlich wollen wir dafür sorgen, daß die Arbeit der Bundesanstalt für Arbeit deutlich effizienter wird. Wir sind der festen Überzeugung, daß die Arbeitsweise der Bundesanstalt kopflastig ist, daß eine stärkere Dezentralisierung, daß eine stärkere Kompetenz- und Zuständigkeitszuweisung an die regionalen Arbeitsämter insgesamt dazu beitragen könnte, daß die Funktion und Effizienz der Bundesanstalt für Arbeit deutlich an Wert gewinnt.
Ich fordere Sie sehr herzlich auf, meine Damen und Herren von der Koalition, mit uns diesen Antrag zu diskutieren. Ich kündige jetzt schon an, daß wir im Gefolge dieses Antrags einen Gesetzentwurf präsentieren werden.
Nochmals: Nicht der Sozialstaat in Deutschland ist zu teuer. Zu teuer ist die Arbeitslosigkeit mit ihren verheerenden sozialen, gesellschaftlichen und finanziellen Folgen. Tragen Sie mit dazu bei, daß wir dagegen wirksam und aktiv vorgehen.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1214912200
Ich erteile der Kollegin Gerda Hasselfeldt das Wort.

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1214912300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zweifellos stehen wir angesichts der gewaltigen Erblast des Sozialismus und angesichts weltwirtschatlicher Auswirkungen auf unsere Konjunktur in einer nicht einfachen arbeitsmarktpolitischen Situation.

(Renate Rennebach [SPD]: Ihre Standardfloskeln sind hinreichend bekannt!)

Nun muß man sich fragen: Liegt die Lösung des Problems in einem neuen Arbeitsförderungsrecht, liegt die Lösung des Problems gar in einem Recht, wie es von der SPD in diesem Antrag vorgeschlagen wird?

(Zurufe von der SPD: Ja!)

Meine Antwort darauf ist eindeutig: Nein, im Gegenteil.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das geltende Arbeitsförderungsgesetz hat sich bewährt. Auf dieser Grundlage war es möglich, einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen,

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Eine hohe Arbeitslosigkeit zu erreichen!)

die Beschäftigungsstruktur zu verbessern und das Wachstum der Wirtschaft zu fördern. Es wäre unredlich, meine Damen und Herren, diese Erfolge zu verschweigen oder gar zu schmälern.

(Beifall bei der CDU/CSU — Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: 1,8 Millionen Arbeitslose im Westen!)

Wir werden in diesem Jahr etwas über 50 Milliarden DM für die aktive Arbeitsmarktpolitik ausgeben.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Für Krauses Putzhilfe!)

Das ist mehr als die Hälfte des Haushaltsvolumens der Bundesanstalt für Arbeit. Im Jahre 1982 waren es 18%.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Das ist falsch!)

Allein in den vergangenen zwei Jahren konnten mit diesen aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen jeweils etwa zwei Millionen Menschen vor Arbeitslosigkeit bewahrt werden.

(Adolf Ostertag [SPD]: Wie viele sind arbeitslos geworden?)

Diese zwei Millionen Menschen wurden nicht irgendwo abgestellt, sondern sie wurden durch aktive arbeitsmarktpolitische Leistungen wie Einarbeitungszuschuß, Eingliederungshilfe, Qualifizierungsmaßnahmen oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an Dauerarbeitsplätze herangeführt. Das war eine gewaltige Leistung, die den Menschen unmittelbar und auch der Beschäftigungsstruktur insgesamt zugute kam.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Deshalb bauen Sie alles ab!)

Das geltende Arbeitsförderungsrecht — auch das sollten wir nicht vergessen — hat sich gerade auch nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft und beim Zusammenwachsen unseres Landes bewährt. Wie würde es in den neuen Ländern aussehen, meine Damen und Herren, wenn nicht Hunderttausenden von Menschen durch gerade diese Instrumente geholfen worden wäre?

(Ottmar Schreiner [SPD]: Wem erzählen Sie das? — Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das hat die SPD eingeführt!)

Wie würde es ohne diese Instrumentarien des Arbeitsförderungsgesetzes aussehen?

(Ottmar Schreiner [SPD]: Warum bauen Sie das ab? Was ist das für eine Logik?)

Das war durch diese Grundlage möglich. — Es wird doch nicht abgebaut.

(Günther Heyenn [SPD]: Wie bitte?)

Das Arbeitsförderungsgesetz muß sinnvoll eingesetzt werden. Es muß auf die entsprechenden individuellen und regionalen Bedingungen eingegangen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Offensichtlich haben die Sozialdemokraten vom Zusammenbruch des Sozialismus und von den Ursachen für so viel menschliches Leid wenig gelernt. Sonst würden Sie einen solchen Antrag nicht vorlegen.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie scheinen gar nichts gelernt zu haben, sonst würden Sie nicht einen solchen Stuß reden! — Julius Louven [CDU/CSU]: Büttner, nehmen Sie das zurück! Seien Sie ein bißchen charmant!)




Gerda Hasselfeldt
Waren es nicht staatliche Bevormundung und übermäßige staatliche Reglementierung, waren es nicht Unterdrückung von Eigeninitiative und Eigenverantwortung, waren es nicht die Arbeitsplätze ohne Produktivität, die Wirtschaft ohne Wettbewerbsfähigkeit, die symptomatisch für den Sozialismus waren? Das Ergebnis sehen wir heute. Wir alle müßten daraus lernen.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Deshalb brauchen wir sieben Millionen Arbeitslose, oder was? So ein Unsinn!)

Die Bürger haben mit völlig unzulänglichen Lebensbedingungen dafür bezahlen müssen. Meine Damen und Herren, das waren die Ursachen. Das sollten Sie nicht vergessen. Sie sind mit Ihrem Antrag auf dem besten Weg, genau die Fehler, die damals gemacht worden sind, zu wiederholen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Ottmar Schreiner [SPD]: Lesen Sie die katholische Soziallehre, was die dazu sagt! Das ist ja unglaublich! — Gerd Andres [SPD]: Moskau läßt grüßen!)

Denn gerade im vorliegenden Antrag wird in der bekannten sozialdemokratischen Gewohnheit staatliches Eingreifen vor unternehmerisches Handeln gestellt. Es wird reglementiert und quotiert, was nur irgendwie möglich ist.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Worüber reden Sie eigentlich?)

Beispielsweise wollen Sie ein festes Regelverhältnis zwischen aktiven arbeitsmarktpolitischen Leistungen und Lohnersatzleistungen, die Frauenquote bei den Leistungen

(Ottmar Schreiner [SPD]: Sind Sie gegen Frauen? Wollen Sie die Frauen abschaffen?)

— ich sage dazu noch etwas —, den Rechtsanspruch auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Einführung des neuen Instruments der sozialen Betriebe.
Meine Damen und Herren, all das sind völlig überflüssige Reglementierungen, völlig überflüssige Eingriffe des Staates, die jede Art von Eigeninitiative unterbinden und nicht das, was wir brauchen, fördern, nämlich Eigeninitiatve und Eigenverantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Gerd Andres [SPD]: Wie schauerlich! — Günther Heyenn [SPD]: Sieben Millionen Arbeitslose! — Zuruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD])

— Herr Schreiner, es würde Ihnen besserten, wenn Sie ein bißchen zuhören und nicht immer dazwischenquatschen.

(Zuruf der Abg. Regina Kolbe [SPD] — Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wer kläfft denn da?)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1214912400
Darf ich einen Moment unterbrechen! — Meine Damen und Herren, eine gewisse Lebendigkeit und ein Echo auf den Redner beleben die Debatte. Der Kollege Schreiner hat vorhin auf einen einzigen Zwischenruf mit Pause reagiert.

(Günther Heyenn [SPD]: Er ist sensibel! Das zeichnet ihn aus!)

Jetzt haben wir einen Zwischenrufchor. Vielleicht könnten wir das so weit mildern, daß die Rednerin noch zu hören ist. Wie gesagt: nichts gegen die Lebendigkeit. — Bitte fahren Sie fort.

(Gerd Andres [SPD]: Das war gerade so schauerlich, Herr Präsident!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214912500
Herr Präsident, vielen Dank. Ich habe natürlich Verständnis dafür, daß die Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokraten meine Ausführungen nicht so gerne hören und sie durch Zwischenrufe unterbinden wollen.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]:Wir sind nur schmerzempfindlich!)

Aber ich kann es Ihnen nicht ersparen. Wir sollten miteinander in aller Ernsthaftigkeit über diese Vorschläge diskutieren.

(Günther Heyenn [SPD]: Nichts dazugelernt!)

Wir alle sind uns darüber im klaren und sicher auch einig, daß die Bedeutung eines Arbeitsplatzes für jeden Menschen sehr wichtig ist. Wir müssen uns aber fragen: Was kann Arbeitsmarktpolitik überhaupt leisten, und was kann sie nicht leisten? Sie kann durch Qualifizierungsangebote und durch andere Hilfen individuelle und strukturelle Erleichterungen bringen. Sie kann und sie muß meines Erachtens eine Brücke zu wettbewerbsfähigen Dauerarbeitsplätzen sein.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Darauf kommt es an! Ganz genau!)

Aber die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen, wie es der vorliegende Antrag fordert, meine Damen und Herren, kann Arbeitsmarktpolitik nicht leisten. Das ist Aufgabe der Wirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Ottmar Schreiner [SPD]: Das hat der Krause doch auch versucht!)

— Herr Schreiner, hören Sie doch mit diesem Geplänkel auf, das mit der Sache überhaupt nichts zu tun hat!

(Julius Louven [CDU/CSU]: Herr Präsident, der Schreiner schüchtert die Rednerin ein!)

Die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Wirtschaft muß natürlich durch eine vernünftige Politik flankiert werden, eine Politik, die nicht nur vom Bund, sondern in gleicher Weise von Ländern, Kommunen und Tarifparteien zu verantworten ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn wir wollen, meine Damen und Herren — ich gehe davon aus, daß wir dies alle wollen —, daß Dauerarbeitsplätze in unserem Land geschaffen und erhalten werden, dann müssen wir auch gemeinsam dafür sorgen, daß unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig



Gerda Hasselteld
bleibt und daß die Investitionen bei uns und nicht woanders stattfinden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hier ist nicht staatlicher Dirigismus gefragt, sondern sind die Wirtschafts- und Strukturpolitik, die Finanzpolitik, die Bildungs- und Forschungspolitik

(Zuruf von der CDU/CSU: Und die Länder!)

genauso gefragt wie beispielsweise die Verantwortung der Länder, der Kommunen und der Tarifparteien.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten eine Fülle von Initiativen auf den Weg gebracht, die geeignet sind, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken und damit Arbeitsplätze dauerhaft zu sichern. Dies, meine Damen und Herren, ist der richtige Weg, nicht aber staatliche Allzuständigkeit. Wir haben es doch erlebt, wohin es führt, wenn der Staat zu viele Aufgaben an sich zieht. Das Ergebnis haben wir gesehen. Deshalb müssen auch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente so eingesetzt werden, daß sie nicht Ersatz für Eigeninitiative der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Alle Wege der SPD führen nach Moskau! — Gegenruf von der CDU/CSU: Wenn Sie das sagen!)

Dies ist z. B. auch bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen so. Mit dem von Ihnen geforderten Rechtsanspruch auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und dem sogenannten Instrument der sozialen Betriebe, meine Damen und Herren, schaffen Sie einen neuen, relativ großen öffentlich finanzierten zweiten Arbeitsmarkt.

(Günther Heyenn [SPD]: Oh wie furchtbar!)

Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß Sie damit jede Bemühung des einzelnen um einen und in einem Dauerarbeitsplatz überflüssig machen, daß Sie mit diesem staatlich organisierten, aus Beitragsmitteln und Steuergeldern finanzierten zweiten Arbeitsmarkt im übrigen auch die Prinzipien der Marktwirtschaft verlassen?

(Zurufe von der SPD: Die Soziale Marktwirtschaft! — Sind Sie sicher, wovon Sie reden?)

Mich wundert dieses nicht sehr angesichts der grundsätzlichen Einstellung der Sozialdemokraten zu unserem Wirtschaftssystem. Ich dachte allerdings, daß Sie aus den Erfahrungen der letzten zwei, drei Jahre ein bißchen mehr gelernt haben.

(Günther Heyenn [SPD]: Haben Sie aus Ihren Erfahrungen gelernt?)

Das, was Sie in einigen Punkten Ihres Antrags fordern, insbesondere beim Rechtsanspruch auf ABM und bei dem neuen Instrument der sozialen Betriebe, meine Damen und Herren, ist nichts anderes als ein Arbeitsmarktsozialismus, und dafür bekommen Sie unsere Zustimmung mit Sicherheit nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will den hohen sozial- und den arbeitsmarktpolitischen Stellenwert von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen überhaupt nicht leugnen. Die Bundesregierung und die Bundesanstalt für Arbeit tragen diesem ja auch durch die Erhöhung der Haushaltsmittel der Bundesanstalt im Arbeitsbeschaffungsmaßnahmenbereich Rechnung: im letzten Jahr 9,4, in diesem Jahr 9,9 Milliarden, zusätzlich 2,2 Milliarden im Solidarpakt, dazu das neue Instrument Arbeitsförderung im Osten, wonach der Träger im Bereich Umweltsanierung, Jugend- und Sozialarbeit für jeden Arbeitslosen, den sie einstellen, einen Zuschuß in Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe bekommen. Damit wird den Besonderheiten im Osten Rechnung getragen. Und damit wird auch die Situation der Frauen verbessert.

(Günther Heyenn [SPD]: Das ist doch weniger als bei Krause! Das sind 63 %, bei Krause sind es 70 %!)

Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich halte nichts davon, wie Sie es in Ihrem Antrag vorhaben, z. B. feste Quoten für arbeitsmarktpolitische Leistungen an Frauen entsprechend ihrem Anteil an Arbeitslosen vorzusehen. Warum muß denn alles reglementiert werden? Den Frauen ist mit Sicherheit wesentlich mehr geholfen, wenn die Entscheidung für die eine oder andere Maßnahme auf Grund ihrer individuellen Situation getroffen wird und nicht von pauschalen geschlechtsspezifischen Arbeitslosenquoten abhängig ist.
Meine Damen und Herren, das Aufarbeiten der Scherben des Sozialismus,

(Zuruf von der SPD)

— ja, weil ich mir auch der Schwierigkeit dieser Aufgabe bewußt bin und weil ich mir auch darüber im klaren bin, welche Ursachen dazu geführt haben, wozu Sie nicht in der Lage sind bzw. gar nicht bereit sind, darüber nachzudenken —, der Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft mit dauerhaften Arbeitsplätzen — ich betone: mit dauerhaften Arbeitsplätzen — in den neuen Ländern, aber auch die Sicherung der Arbeitsplätze im Westen angesichts der weltweit schwierigeren Wettbewerbslage, stellt uns vor neue Herausforderungen; das ist gar keine Frage. Aber dies, meine Damen und Herren, rechtfertigt nicht einen Arbeitsmarktsozialismus, wie er im vorliegenden Antrag zum Ausdruck kommt. Gefragt ist nicht die Allzuständigkeit des Staates, sondern die Verantwortung von uns allen. Lassen Sie uns diese Verantwortung gemeinsam wahrnehmen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1214912600
Frau Kollegin Dr. Gisela Babel, Sie haben das Wort.

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1214912700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat ein Konzept vorgelegt, das das Arbeitsförderungsgesetz ablösen soll. Es ist eine Fleißarbeit: viele Seiten, viele Sätze, Analyse der vergangenen 20 Jahre Arbeitsmarktpolitik. Eigenartig defensiv verteidigt sie die Tarifpolitik der Arbeitszeitverkürzung und meint, diese Politik habe dazu geführt, daß die Zahl der Erwerbstätigen in den 80er Jahren angestiegen ist, nicht etwa die erfolgrei-



Dr. Gisela Babel
che Wirtschafts- und Finanzpolitik von CDU/CSU und F.D.P.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Volkswirtschaft: 6!)

Nach wie vor konstatiert die SPD Arbeitslosigkeit. Und sie ist auch nicht zu leugnen. Nach wie vor konstatiert die SPD aber auch den seltsamen Tatbestand, daß bei uns in manchen Branchen Arbeitskräftemangel herrscht. Über die Fehlsteuerung in unserem Bildungs- und Ausbildungswesen verliert sie kein Wort. Nach Hinweis auf bessere Zahlen im Ausland — niedrige Arbeitslosenzahlen —, was für die SPD ein Indiz für bessere Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, nicht aber vielleicht für eine erfolgreichere Volkswirtschaft ist, kehrt sie schließlich zu ihrem alten Lied zurück: Das Ziel der Vollbeschäftigung sei zu erreichen durch die Finanzierung der Arbeit. Es ist die immer wieder vorgebrachte These, den Verlust von Arbeitsplätzen könne der Staat ausgleichen durch solidarisch finanzierte Beschäftigung und Qualifizierung. Meine Damen und Herren, das ist ein Kinderglaube.

(Beifall bei der F.D.P.)

Zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft setzen Sie die ABM-Wirtschaft. Eine gigantische Quasi-Wirtschaft. Im Osten gibt es Beispiele, die Mega-ABM, wonach durch die Schließung von Produktionsstätten 15 000 ABM entstanden sind. Ich sage nicht, daß die F.D.P. die flankierenden Maßnahmen von AB und Qualifikation, besonders letztere, nicht für notwendig hielte. Ich halte sie für sozial unverzichtbar. Aber ich teile nicht Ihre Grundauffassung, daß Ihr neues Arbeits- und Strukturförderungsgesetz einen brauchbaren Beitrag zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen ist, jedenfalls nicht in der Wirtschaft, allenfalls im öffentlichen Dienst. Gerade Schweden, das Sie auch anführen, bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit durch ein Ausweiten des öffentlichen Dienstes in den Ruin führt. Dort hat man allerdings jetzt die Kraft und die Courage zur Umkehr.
In Ihren Vorschlägen finden sich einige besonders bedenkliche und, wie ich auch zugebe, auch neue Punkte. Zunächst wollten Sie sogenannte soziale Betriebe für schwer vermittelbare Arbeitslose zur Förderung arbeitsmarktpolitischer Projekte einrichten. Das haben Sie in Anführungsstriche gesetzt, und die Anführungsstriche sollen wohl heißen, daß Sie selbst nicht so ganz wissen, was das sein soll. Im Grunde handelt es sich jedoch um auf fünf Jahre befristete Dauer-ABM. Die ABM in ihrer ursprünglichen Funktion, nämlich daß sie eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt bilden soll, entgleitet völlig.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Bilden muß!)

Es geht noch weiter: Für Langzeitarbeitslose, für Menschen bis 25 Jahre, soll bereits nach einem Jahr ein Rechtsanspruch auf eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme geschaffen werden.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Arbeitslose junge Menschen?)

Der Lohnkostenzuschuß soll 100 % betragen. Die Maßnahme soll so lange andauern, bis der Teilnehmer wieder einen Anspruch auf Lohnersatzleistung erwirbt.

(Zuruf von der SPD: Stichwort: Lichtenhagen!)

— Herr Vorsitzender, ich komme gegen diese wilden Männer der SPD nicht an.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist aber ein Kompliment!)

Das wollen Sie längerfristig — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1214912800
Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Erstens habe ich natürlich nicht den Eindruck, daß Sie dagegen nicht ankommen.
Zweitens würde ich gern folgende Bemerkung machen: Es gab in früheren Zeiten, die noch nicht so lange zurückliegen, eine Beschwerde darüber, daß es immer dann besonders laut ist, wenn Kolleginnen sprechen. Ich finde, es wäre eigentlich ganz chevaleresk, wenn wir im Falle von Reden von Kolleginnen die Lautstärke der Zwischenrufe ein bißchen mindern würden. — Bitte fahren Sie fort.

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1214912900
Der Lohnkostenzuschuß soll also 100 % betragen, und die Maßnahme soll so lange andauern, bis die Teilnehmer wieder einen Anspruch auf Lohnersatzleistungen erwerben.
Sie wollen das längerfristig mit einer aus Bundesmitteln finanzierten Grundsicherung verknüpfen. Sie soll so weit aufgestockt werden, daß Sozialhilfe nicht mehr in Anspruch genommen wird. Die soziale Grundsicherung soll auch noch Arbeitslosen zustehen, die nie einen Beitrag eingezahlt haben.
Die F.D.P. lehnt diese Vorschläge als unbrauchbar und Augenwischerei ab.

(Beifall bei der F.D.P.)

Sie gehen schlicht in die völlig falsche Richtung. Sie sprechen von Gerechtigkeitslücke; das ist aber falsch. Wir haben eine Arbeitsplatzlücke. Die aber schließen wir doch nicht dauerhaft, indem wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente immer weiter ausdehnen

(Zurufe von der SPD: Sondern?)

und eine Heerschar von Menschen sozial so absichern, daß ihnen jeder Anreiz genommen wird, selber die Initiative zu ergreifen und einen Arbeitsplatz zu suchen.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Aber das lernen Sozialdemokraten nie, Frau Kollegin!)

Das ist völlig unsinnig, einmal ganz abgesehen davon, daß das auch unbezahlbar wäre.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, bauen die soziale Sicherung sogar junger Menschen in einer Art und Weise auf, die jede Eigeninitiative, jeden Ehrgeiz, der für eine funktionierende Wirtschaft nun einmal lebenswichtig ist, im Keime erstickt.
Warum soll denn jemand in den niedrigen Lohngruppen arbeiten, wenn er durch den Staat eine



Dr. Gisela Babel
Rundumversorgung gewährleistet bekommt? Warum sollte er Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit erbringen, wenn jedem eine steuerfinanzierte Grundsicherung auch ohne Beiträge gewährleistet ist?
Eine Rundumversorgung macht Menschen auch nicht zufrieden.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wer bekommt die denn?)

Arbeitslose wollen in der Regel einen Arbeitsplatz. Sie wollen nicht eine Versorgung durch den Staat.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Nun ein Wort zu den Kosten; Sie haben dazu ein Kapitel Finanzierung, immerhin anderthalb Seiten Ihres Antrags. Auf die Fakten, die den Leser Ihres Antrags wirklich interessieren, kommen Sie aber nicht zu sprechen. Was kostet eigentlich die ganze Veranstaltung, und wie werden die Kosten finanziert?

(Ottmar Schreiner [SPD]: Ja, wie wohl?)

Zu der Höhe der Kosten kein Wort, zur Finanzierung keine konkreten Angaben.
Aber es wird natürlich wieder die Forderung nach einer Arbeitsmarktabgabe für Beamte, Selbständige und Abgeordnete erhoben,

(Ottmar Schreiner [SPD]: Wir wollen solidarisch sein!)

obwohl sich die SPD in den Verhandlungen zum Solidarpakt damit nicht durchgesetzt hat.
Nun kenne ich den Kollegen Dreßler, der landauf, landab immer mit derselben Forderung kommt, man möge ihm doch endlich seine Diäten kürzen und damit Arbeitsmarktpolitik finanzieren.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aber heimlich auf Geschäftsführerebene höhere Diäten verlangen!)

Ich denke, der Weg dahin würde vielleicht erleichtert, wenn in der SPD ein Konsens darüber herrschte, daß man die Anpassung der Diäten in den nächsten Jahren nicht mehr vornimmt. Ich habe von einer solchen Initiative von Ihnen noch nichts gehört.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Warten Sie erst einmal ab!)

Ich finde ansonsten nur noch den lapidaren Hinweis, daß bei Arbeitsmarktpolitik von einer hohen Selbstfinanzierungsquote ausgegangen wird. Das soll wohl heißen: Die Finanzierung von Arbeit ist billiger als die von Arbeitslosigkeit. Das behaupten Sie zwar immer wieder, aber es ist erwiesenermaßen falsch. Gerade ABM ist mit einem enormen Finanzierungsaufwand verbunden.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Das ist gerade falsch! Das sagt sogar der Arbeitsminister Blüm anders! Er sagt, das ist nicht teurer als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit!)

— Herr Schreiner, gerade ABM ist mit einem enormen Finanzierungsaufwand verbunden. Der kommt in der durch ABM ausgezahlten Lohnsumme allein nicht zum Ausdruck.
Daß Sie jetzt der Finanzierung einer Arbeitsmarktpolitik, einer Mammutveranstaltung, das Wort reden, ist unsinnig. Die Höhe der Kosten bei der Realisierung des Antrags erwähnen Sie mit keinem Wort. Sie behaupten aber mit einer altbekannten Floskel, die Sache werde sich schon selbst tragen. Das ist Augenwischerei. Das kauft Ihnen nicht nur hier keiner ab. Auch die Bürger wissen, was los ist und daß es so jedenfalls nicht geht.
Noch eine Kleinigkeit: Gerade wurde unter Ihrer maßgeblichen Beteiligung der Solidarpakt ausgehandelt. Darin wurde auch die Arbeitsmarktpolitik mit 2 Milliarden DM mehr für ABM bedacht. An dieses Verhandlungsergebnis wollen wir uns halten. Ich gehe davon aus, daß auch Sie das wollen. Wieso bringen Sie dann diesen Antrag ein? Auch das können sich seriöse Verhandlungspartner eigentlich nicht leisten.
Sie behaupten ständig, wir hätten uns aus der aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückgezogen. Aber die Zahlen und Fakten sprechen eine andere Sprache. Bei ABM beispielsweise hatten wir 9,9 Milliarden DM eingeplant, jetzt kommen die 2 Milliarden DM vom Solidarpakt dazu.
Wir haben damit eine absolute Rekordmarke erreicht: 350 000 Teilnehmer im Osten werden gefördert, zuzüglich 70 000 Sonder-ABM Umwelt und soziale Dienste plus 70 000 ABM-Teilnehmer im Westen.
Ich bin überzeugt, wenn wir von diesem Paket nur eine Mark zurücknähmen, würden Sie dennoch vom Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik reden.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Weil es so ist!)

Genau diese Art von Übertreibungen und Worthülsen können die Wähler nicht mehr aushalten, und das nährt die Politikverdrossenheit.
Weiter werden Fortbildung und Umschulung auch in diesem Jahr auf hohem Niveau gefördert. In den alten Bundesländern haben wir derzeit einen Bestand von fast 380 000 Teilnehmern, rund 20 000 Neueintritte allein im Februar. In den neuen Bundesländern haben wir einen Bestand von fast 420 000 Teilnehmern, rund 31 000 Neueintritte allein im Februar dieses Jahres.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was sagt die SPD nun?)

Davon waren 66 % vor ihrem Eintritt in die Maßnahme arbeitslos. Das sind Zahlen, die wir nicht zu verstekken brauchen.
Arbeitsmarktpolitik ist sicher wichtig — in einem gigantischen Ausmaß wird sie von uns finanziert —, aber wir verzichten nicht auf die Zielgerichtetheit der Arbeitsmarktpolitik, nämlich auf den ersten Arbeitsmarkt.
In der gegenwärtigen Situation dürfen wir unser Augenmerk nicht nur darauf richten, daß Arbeitslosigkeit durch staatliche Maßnahmen beseitigt wird. Vielmehr müssen wir uns darauf konzentrieren, bestehende arbeitsmarktpolitische Instrumente effizienter zu gestalten — davon haben auch Sie gesprochen —, um den Arbeitslosen möglichst rasch den Weg vom



Dr. Gisela Babel
zweiten in den ersten Arbeitsmarkt zu ebnen. Wie könnte dies geschehen?
Erstens brauchen wird eine grundlegende Reform der Instrumente der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Dies erscheint mir gerade in den neuen Bundesländern unabdingbar. Im Zuge einer solchen Reform brauchen wir vor allem eine Aufgabenverlagerung bei den ABM.
Bislang werden über ABM viele Dinge erledigt, die eigentlich von den Kommunen und Ländern selber wahrgenommen werden müßten. Da fehlt das Geld, mit dem sie reguläre Arbeitnehmer bezahlten könnten.
Solange diese Aufgaben über ABM besorgt werden, haben wir Verzerrungen. Die Finanzierung stimmt nicht, weil gesamtgesellschaftliche Aufgaben von denen, die die Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit zahlen, finanziert werden. Das wird von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, immer als Gerechtigkeitslücke angeprangert.
Das Problem lösen wir aber nicht über eine Arbeitsmarktabgabe, sondern über eine richtige Aufgabenverlagerung auf die Schultern der Kommunen. Die Steuerfinanzierung ergibt sich dann von selbst, einhergehend mit einer — das wäre dann sicher wichtig — Senkung des Beitrags für die Bundesanstalt.
Außerdem ist die Bundesanstalt für Arbeit durch die Wahrnehmung kommunaler Aufgaben nach der Treuhandanstalt zum größten Arbeitgeber in den neuen Bundesländern geworden. Wir müssen uns das einmal vor Augen halten, was wir uns im Sinne der Privatisierung hier leisten.

(Ottmar Schreiner [SPD]: So schlecht ist Ihre Politik!)

Auf Dauer kann die Bundesanstalt das aber aus personellen und organisatorischen Gründen nicht bleiben.
Die Ergebnisse sehen wir an der verfehlten ABMPolitik, die in diesem Jahr zu einer völligen Mittelbindung in zwei Monaten geführt hat. Ein effektives Controlling angesichts dieser Mammutaufgabe ist nicht gegeben.
Zweitens. Es werden über ABM Maßnahmen gefördert, mit denen die Träger in direkte Konkurrenz zu kleinen und mittleren Handwerksbetrieben treten und diese mit ihren günstigen Kostenkalkulationen unterbieten.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das wird immer behauptet, und das stimmt nicht! Das wird durch Wiederholung auch nicht besser!)

Es ist nun wirklich eine Zweckentfremdung von ABM, wenn der staatlich geförderte zweite Arbeitsmarkt den ersten Arbeitsmarkt durch Aufträge konkurrierend verdrängt.

(Beifall bei der F.D.P.)

Drittens. Wir müssen zu ABM-spezifischen Tarifen kommen. Das ist eine alte Forderung der F.D.P., die ihre Gültigkeit behält.

(Zuruf von der SPD: Aber nicht richtig ist!)

Die mit der 10. Novellierung des AFG gefundene Lösung der Bezuschussung von 80 % der Arbeitszeit ist nur die zweitbeste Lösung, da sie zu Schwarzarbeit geradezu einlädt. Es muß ein Anreiz geschaffen werden, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Die ABM-Tarife müssen daher niedriger sein als die regulären Entgelte. Hierdurch würde auch die tarifpolitische Lage bei den ABM insgesamt ein bißchen ausgedehnt.
Es kann doch nicht sein, daß sich die Tarifpartner in den neuen Ländern auf, wie wir alle wissen, völlig unverhältnismäßige Lohnsteigerungen einigen, die dann die Bundesanstalt für Arbeit auch noch nachvollziehen muß. Im Ergebnis können dadurch viel weniger Menschen über ABM gefördert werden, als dies bei vernünftigem Lohnanstieg und bei vernünftiger Tarifgestaltung der ABM möglich und geboten wäre.

(Zuruf von der F.D.P.: Wichtiger Hinweis!)

Ich begrüße daher den Wunsch von Minister Blüm, bei den zusätzlich zu bewilligenden ABM — auf Grund der zwei Milliarden DM des Solidarpakts — eine Lohnabsenkung vorzunehmen. Er denkt an eine Deckelung, eine Höchstgrenze für ABM bei 2 500 DM. Mir erscheint dies eigentlich immer noch zuviel. Man könnte auch eine Höchstgrenze von 2 000 DM annehmen, weil wir der Meinung sind, daß wir mit diesen Mitteln dann sehr viel mehr helfen können. Ich möchte einmal wissen, wie Sie auf diese Vorschläge reagieren.

(Zurufe von der SPD)

Auch über die Einstufungskriterien bei ABM müßten wir nachdenken. Hier ist eine unglaubliche Streuung unter den verschiedenen Trägern zu verzeichnen, die eine einheitliche Linie dringend gebietet. Möglicherweise kann der mit der 10. Novellierung des AFG eingebrachte § 249h als Einstieg in die grundsätzliche Reform in den neuen Bundesländern dienen.
Die Träger müssen stärker in die Eigenverantwortung genommen werden. Das hat auch der ganze Vorgang um den Bewilligungsstopp für ABM zum Ausdruck gebracht. Eigenverantwortung, meine Damen und Herren, ist noch immer die beste Garantie für einen effizienten und systemgerechten Einsatz der Mittel für ABM.

(Zuruf von der F.D.P.: Und Kontrolle! — Beifall bei der F.D.P.)

— Und Kontrolle.
Sicher sind auch innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit Defizite vorhanden, die es zu analysieren und zu beseitigen gilt. Die Notbremse des Bewilligungsstops für ABM hat deutlich gemacht, daß in diesen schwierigen Zeiten ein Frühwarnsystem der Bundesanstalt fehlt, das Fehlentwicklungen rechtzeitig anzeigt.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Richtig! — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, ich frage mich, was wir als Haushaltsgesetzgeber noch zu tun haben, wenn die Mittel, über deren Höhe wir noch streiten, schon von vornherein durch die Zusagen der Bundesanstalt gebunden sind und wir feststellen, daß wir nur noch



Dr. Gisela Babel
nachlegen können, daß die Konditionen nicht mehr gültig sind.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ein Armutszeugnis für die Selbstverwaltung!)

Das kann wohl nicht der Sinn einer parlamentarischen Demokratie und ihres Haushaltsrechts sein.

(Zuruf von der SPD: Es muß doch Haushaltsklarheit walten!)

Es muß auch Sorge dafür getragen werden, daß Selbständigkeit und Kreativität der Mitarbeiter der Bundesanstalt vor Ort nicht eingeschränkt werden. Bürger- und Praxisnähe müssen gewährleistet bleiben.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Arbeitsmarktpolitik — in der sicher auch manches schiefläuft; die vergangenen Wochen haben es uns gezeigt — kann nicht dadurch vom Kopf auf die Füße gestellt werden, daß man nur eine Schatzkiste aufmacht, mit vielen teuren neuen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen füllt und diese Gaben verteilt.
Eine Reform der Arbeitsmarktpolitik erfordert ein genaues Analysieren der Schwachstellen. Jede Reform muß sich konzeptionell an der Maxime orientieren: schnellstmögliche Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt! Die soziale Flankierung von Arbeitslosigkeit ist selbstverständlich, darf aber nicht über das nötige Maß hinausgehen.
Diese Mühe einer Analyse, meine Damen und Herren von der Opposition, haben Sie sich nicht gemacht. Sie verteilen Leistungen, auch wenn Vorleistungen nicht erbracht worden sind, und gefährden so den Bestand der sozialen Sicherungssysteme. Als Motto Ihres Antrags kann man das englische Wort „OPM" — „other people's money"; zu deutsch: das Geld anderer Leute — wählen. Sie geben mit vollen Händen das Geld des Steuerzahlers und das Geld des Beitragszahlers der Bundesanstalt aus. Das kann wohl nicht die richtige Lösung sein.
Die F.D.P. lehnt diesen Antrag ab.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1214913000
Meine Damen und Herren, wir debattieren auf der Grundlage des Antrags der SPD-Fraktion ein Problem, das wir in dieser Dimension seit Überwindung der Nachkriegsnot in unserem Land nicht gekannt haben. Gleichwohl sollten wir — ich sage das ohne Pathos — unser Herz nicht vor der Tatsache verschließen, daß es Menschen auf der Welt gibt, deren Probleme noch wesentlich größer sind. Auf der Diplomatentribüne hat eine Delegation der bolivianisch-deutschen Freundschaftsgruppe im bolivianischen Parlament Platz genommen. Diese Kollegen vertreten ein potentiell reiches und aktuell ungewöhnlich armes Land. Ich grüße Sie mit großer Sympathie im Namen des Deutschen Bundestages.

(Beifall im ganzen Hause)

Als nächste hat die Kollegin Petra Bläss das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214913100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den von der SPD in den
Bundestag eingebrachten Antrag zur Ablösung des AFG durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz finde ich sehr interessant. Gleichwohl frage ich mich natürlich, wie Sie diesen Spagat eigentlich hinbekommen, einerseits einen Solidarpaktkompromiß mit auszuhandeln, der immerhin bis 1996 gelten soll und bei dem die Arbeitsmarktpolitik völlig hinten herunterfällt, und andererseits diesen Antrag vorzulegen, der dem in seinem Ansatz völlig widerspricht.
Ich finde in dem vorgelegten Vorschlag eine Menge Punkte, die ich teile und die ich für dringend notwendig und von daher auch für unterstützungswert halte.
Ich will mir aber auch nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, daß eine Reihe der Vorschläge auch im bestehenden AFG hätten realisiert werden können, so z. B. die Zielgruppenförderung bzw. die spezielle Förderung von Frauen. Bei der Diskussion um die 10. Novelle des AFG habe ich durch die von unserer Gruppe vorgelegten Änderungsanträge, etwa zur Aufhebung der geschlechtsspezifischen Benachteiligung von Frauen im AFG, Vorstöße in genau diese Richtung gemacht, denen leider auch die SPD nicht zugestimmt hatte.
Ich stimme der Beschreibung des Ausmaßes der Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zu und halte es auch für einen Skandal, daß Jahr für Jahr knapp 40 Milliarden DM zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit im Haushalt bereitgestellt werden müssen. In den Arbeitsmarktdebatten, von denen es in den letzten Monaten hier im Hause nicht wenige gab, habe ich deshalb auch immer dafür plädiert, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Ich vermisse aber eine Analyse der seit Jahren bestehenden Beschäftigungskrise, weil ich denke, daß Vollbeschäftigung als Staatsziel, wie es gefordert wird, von den Ursachen ausgehen muß, die die Problemlösung bisher verhinderten. Ich habe große Zweifel daran, daß Vollbeschäftigung allein auf der Ebene der Arbeitsmarktpolitik und der Beschäftigungsförderung zu realisieren ist. Ohne einen grundlegenden Umbau der Gesellschaft, ohne die Schaffung von sinnvoller und ökologisch vertretbarer Produktion, ohne einen funktionellen Ausbau des öffentlichen und des Dienstleistungssektors in neuen Größenordnungen und ohne radikale Arbeitszeitverkürzung, abgestimmt auf die regionalen und strukturellen Besonderheiten, ist Vollbeschäftigung nicht machbar.
Ich bin für Vollbeschäftigung als Staatsziel und möchte damit — anders, als im Antrag vorgeschlagen — durchaus das individuelle Recht auf einen Arbeitsplatz verbunden wissen; aber ich glaube, das gelingt nur, wenn neben der strikten Umverteilung vorhandener Arbeit auch eine Neubewertung von Arbeit in dem Sinne vorgenommen wird, daß bisher ehrenamtlich und unentgeltlich geleistete Arbeit bezahlt wird. Das gilt für die überwiegend von Frauen geleistete Kindererziehungs- und Familienarbeit ebenso wie für Pflegetätigkeiten.
Als Beitragszeiten für Lohnersatzleistungen soll diese Arbeit ja auch nach dem Anliegen des Antrags



Petra Bläss
gewertet werden. Auch das hatten wir bereits bei der 10. AFG-Novelle vorgeschlagen.
Richtig gut an dem Antrag finde ich die Untersetzung des Vollbeschäftigungsziels durch konkrete Alternativen zur bisherigen Politik. Damit meine ich die auf regionalen Ausgleich bezogenen ebenso wie die, die sich auf Zielgruppen richten.
Ich teile die Auffassung, daß aktive Förderungsinstrumente Vorrang vor Lohnersatzleistungen haben sollen, und bin selbstverständlich dafür, daß die einzusetzenden Mittel vor allem der Schaffung von Dauerarbeitsplätzen dienen und deshalb wirtschaftsnah sein sollen.
Den neuen Ansatz in dem Antrag kann ich allerdings nicht so recht erkennen. Lohn- und Sachkostenzuschüsse für Projekte, deren Träger z. B. gemeinnützige Vereine sind, gibt es heute schon. Diese Förderung auf Beschäftigungsgesellschaften und Kommunen auszudehnen, halte ich gerade angesichts der Entwicklung in Ostdeutschland und der Schwierigkeiten mit den zunehmend knapper werdenden ABMMitteln für sinnvoll.
Einarbeitungszuschüsse bei Einstellung auf unbefristete Stellen gab es auch schon länger. Sie auch nach den Interessen der Arbeitgeber zu zahlen, finde ich nicht so revolutionär. Revolutionärer fände ich, hier eine Regelung aufzunehmen, die der Wiedereingliederung von Frauen nach der Familienphase, die häufig nicht als Arbeitslose gelten, dient. Aber unabhängig davon unterstütze ich das Anliegen natürlich.
Gleiches gilt für die Forderung nach einem Überbrückungsgeld und nach Sachkostenzuschüssen als Starthilfe für Existenzgründerinnen und Existenzgründer und für die Förderung betrieblicher Anpassungsqualifikation.
Neu wäre gewesen, wenn die soeben aufgezählten Instrumente der Beschäftigungsförderung ausdrücklich auf die Förderung von Frauen zugeschnitten worden wären. So hätte ich mir vorstellen können, daß Projekte im öffentlichen Interesse zur Strukturverbesserung — und das heißt ja wohl auch Infrastruktur — ausdrücklich auch solche sein müssen, in denen Frauen Beschäftigung finden.
Gerade weil der Antrag wirtschaftsnah ausgerichtet ist, wäre hier eine Forderung am Platz, wonach die Vergabe von Wirtschaftsförderungsmitteln an die verbindliche Bereitstellung von Frauenarbeitsplätzen geknüpft wird. Notwendig wären aber ebenso Maßnahmen, die der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit zugute kommen. Dazu gehört z. B. die Forderung, daß jede Arbeitsstunde sozialversicherungspflichtig ist. Damit würde die unsägliche Praxis der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse beseitigt.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Auch die besondere Förderung zur Wiedereingliederung von Frauen nach der Familienphase muß stärker in den Blick genommen werden.
Ich weiß natürlich, daß unter dem Stichwort „Zielgruppenförderung" in Ihrem Antrag den Frauen ein Abschnitt zur Förderung ihrer beruflichen Gleichstellung gewidmet ist und hier verbindliche Quotenregelungen vorgeschlagen werden. Das findet meine Unterstützung. Auch hier möchte ich aber noch einmal auf unseren Antrag zum Abbau geschlechtsspezifischer Benachteiligung von Frauen im Arbeitsförderungsgesetz verweisen. Darin haben wir die verbindliche Festlegung von Quoten und die positive Diskriminierung von Frauen insbesondere bei der Vergabe qualitativ gleichwertiger Fördermaßnahmen vorgeschlagen.
Im übrigen ist das Problem der Anerkennung von Kindererziehungszeiten und Zeiten der ehrenamtlichen Pflege als Anwartschaften begründende auch im Arbeitsförderungsgesetz zu lösen. Wir hatten vorgeschlagen, hier so zu verfahren wie bei Wehrpflichtigen und Zivildienstleistenden.
Trotzdem bin ich froh, daß dieser Gedanke in dem vorgelegten Antrag wieder aufgegriffen wurde, weil gerade damit der Tatsache Rechnung getragen wird, daß Frauen nach wie vor die Familienarbeit zugewiesen wird, sie also nicht selten ein halbes Arbeitsleben mit Tätigkeiten zubringen, die keinerlei eigenen Anspruch auf soziale Leistungen begründen — eine Ursache dafür, daß trotz der wachsenden Verarmung von Jugendlichen heute immer noch davon gesprochen wird, daß Armut weiblich ist. Bei den Rentenbezieherinnen trifft das ja auch eindeutig zu.
Ich würde es im übrigen begrüßen, wenn in dem SPD-Antrag über die bloße Anerkennung der Familien- und Pflegetätigkeiten als Beitragszeiten für die Arbeitslosenversicherung hinausgegangen würde.

(V o r s i t z : Vizepräsident Helmuth Becker)

In dem von der PDS/Linke Liste eingebrachten Pflegeassistenzgesetz ebenso wie in unserem Gesetzentwurf zur sozialen Grundsicherung fordern wir eine Neubewertung von Arbeit, die Wege eröffnet, für solche Tätigkeiten endlich Arbeitsplätze mit angemessener Bezahlung zur Verfügung zu stellen oder einen materiellen Ausgleich über Steuern und andere Umverteilungsregelungen zu schaffen.
Die im Antrag vorgeschlagene soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit als Element einer sozialen Grundsicherung halte ich für einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Mir gefällt vor allem die beabsichtigte Ausweitung von Grundsicherungsleistungen auf Schul- und Hochschulabgängerinnen und -abgänger. Die PDS/Linke Liste wird noch im Frühjahr einen Gesetzentwurf zur sozialen Grundsicherung einbringen und hofft dabei auf Ihre Unterstützung, z. B. auch für eine elternunabhängige steuerfinanzierte Förderung von Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden.
Dennoch stört mich an dem vorliegenden Gesetzentwurf der Tenor, als wäre mit einer auf regionale Unterschiede und zielgruppenspezifische Problemlagen zugeschnittenen Arbeitsmarktpolitik die gegenwärtige dramatische Beschäftigungslage einzudämmen; dies auch angesichts der Tatsache, daß uns die schweren beschäftigungspolitischen Einbrüche erst noch bevorstehen. Ich nenne nur Stahl, Kohle, Automobilindustrie, Textil und Maschinenbau.



Petra Blass
Meine Damen und Herren, ich denke, ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz kann helfen, die Folgen von Fehlentwicklungen abzumildern — nicht mehr, aber auch nicht weniger. Deshalb unterstützen wir diesen Antrag.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214913200
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Horst Günther.

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1214913300
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Arbeitsförderungsgesetz hat sich bewährt. Im dritten Jahr nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft über Ostdeutschland und der Wiedergewinnung der deutschen Einheit

(Zuruf von der SPD: Der Standardsatz!)

ist die Arbeitsmarktpolitik noch immer der Hauptstützpfeiler des Dammes gegen die Hoffnungslosigkeit. Ich will an dieser Stelle einmal ein herzliches Wort des Dankes allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsverwaltung sagen, die in unermüdlicher Arbeit daran mitgewirkt haben, den Menschen zu helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern stiegen von 19,3 Milliarden DM im Jahre 1991 auf rund 36 Milliarden DM im laufenden Jahr. Durch diesen massiven Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente haben wir in den vergangenen zwei Jahren jeweils rund 2 Millionen Menschen vor dem Schicksal der Arbeitslosigkeit bewahrt. — Die Kollegin Hasselfeldt hat soeben in ihrer guten Rede bereits darauf hingewiesen. —

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Die Rede war wirklich hervorragend! — Widerspruch bei der SPD)

Das ist der Erfolg unserer Arbeitsmarktpolitik, und sie wird mit voller Kraft gefahren. In diesem Jahr geben wir über 50 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik aus.
Wir haben die aktive Arbeitsmarktpolitik in einem Umfang mobilisiert, wie er weder in der alten Bundesrepublik noch in den neuen Bundesländern je erreicht wurde. Die Ausgaben für diese Politik machen in diesem Jahr über die Hälfte des Haushaltsvolumens der Bundesanstalt für Arbeit aus; 1982 waren es weniger als ein Fünftel.
Insgesamt 14,3 Milliarden DM sind in diesem Jahr für Altersübergangsgeld und Vorruhestandsleistungen veranschlagt. Damit ist Vorsorge für jahresdurchschnittlich rund 740 000 Bezieher von Altersübergangsgeld und Vorruhestandsleistungen getroffen worden.

(Günther Heyenn [SPD]: Deshalb haben Sie es auch eingestellt!)

Zur Qualifizierung, meine Damen und Herren: Die entscheidende Chance des Wirtschaftsstandorts Deutschland liegt in der Produktion wettbewerbsfähiger Produkte. Diese lassen sich nur mit qualifizierten Arbeitnehmern herstellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Deshalb investieren wir mit voller Kraft in Qualifizierungsmaßnahmen.
Rund 300 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern können im Jahresdurchschnitt an Maßnahmen der beruflichen Fortbildung und Umschulung teilnehmen. Hierfür stehen 14,8 Milliarden DM bereit. Zusätzlich geben wir noch knapp zweieinhalb Milliarden DM für berufliche Ausbildung aus.
Besondere Zeiten, meine Kolleginnen und Kollegen, erfordern natürlich auch besondere Maßnahmen: Arbeit finanzieren, statt Arbeitslosigkeit passiv verwalten; deshalb gibt es Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Für dieses Jahr sind im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit 9,9 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorgesehen, dav on 7,7 Milliarden DM für die neuen Bundesländer.
Dieser Betrag war bereits im Februar vollständig gebunden. Deshalb hat der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit einen vorläufigen Bewilligungsstopp für neue Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung ausgesprochen. Dieser Bewilligungsstopp bedeutet keinesfalls, daß irgendwelche im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit eingestellten Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gekürzt worden sind, wie es einige Mitglieder auch dieses Hohen Hauses öffentlich verbreitet haben.

(Günther Heyenn [SPD]: Aber das reicht nicht aus, um das Niveau zu halten!)

— Kollege Heyenn, darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Faktum ist: 9,9 Milliarden DM standen zur Verfügung. Diese 9,9 Milliarden DM sind gebunden, keine einzige Mark wurde gekürzt.
Der Bewilligungsstopp ist dadurch verursacht, daß in den letzten Monaten des vergangenen Jahres noch überproportionale Bindungen eingegangen wurden, die den freien Handlungsspielraum für das Jahr 1993 sehr eingeengt haben.

(Zuruf von der SPD: Für Putzfrauen! — Weiterer Zuruf von der SPD: Aber das Geld wird doch zurückgezahlt, das muß doch wieder da sein!)

Dies bedeutet aber nicht, daß nun die gesamte ABM-Struktur zusammengebrochen wäre, denn es sind ja für dieses Jahr bereits eine Vielzahl von Neubewilligungen ausgesprochen worden, die zum Teil noch wirksam werden.

(Günther Heyenn [SPD]: Aber nur „zum Teil" ! Warum nur „zum Teil"?)




Parl. Staatssekretär Horst Günther
— Weil einige schon begonnen haben, Herr Kollege Heyenn. Wenn ich gesagt hätte, daß sie alle noch wirksam werden, hätten Sie gesagt:

(Günther Heyenn [SPD]: Ich helfe Ihnen nur, sich klar auszudrücken!)

Die haben zum Teil doch schon begonnen! So, wie ich es gesagt habe, ist es doch richtig. Die Neubewilligungen werden zum Teil noch wirksam; einige sind bereits ab Januar wirksam geworden. Das wissen Sie auch ganz genau; danach brauchen Sie gar nicht zu fragen.
Gleichwohl hat die Mittelbindung des vergangenen Jahres Auswirkungen auf die prognostizierte jahresdurchschnittliche Teilnehmerzahl in den neuen Ländern. Die Bundesregierung war davon ausgegangen, hier mit den vorhandenen Mitteln jahresdurchschnittlich 350 000 ABM-Beschäftigte fördern zu können. Diesen Berechnungen lagen die geänderten Förderkonditionen der 10. AFG-Novelle, also 80 % oder angemessen niedrigeres Entgeld, zugrunde.
Die Bewilligungen, die im vergangenen Jahr ausgesprochen worden sind, orientieren sich aber noch fast alle an den alten Bedingungen, die die Bundesanstalt für Arbeit finanziell wesentlich stärker belasten.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Versagen der Selbstverwaltung!)

Deshalb geht der Präsident der Bundesanstalt davon aus, daß mit dem für die neuen Länder zur Verfügung stehenden Betrag jahresdurchschnittlich nur noch bis zu 300 000 ABM-Beschäftigte gefördert werden können. Die Arbeitsminister der Länder gehen in einer absoluten Negativrechnung von nur 230 000 aus.
Obschon dies eine Entwicklung ist, die nicht von der Bundesregierung zu verantworten ist, haben wir auch hier wieder zu unserer hohen Verantwortung gegenüber den Arbeitslosen und deren Familien gestanden.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Blüm sei Dank!)

Es kann nicht angehen, daß die Arbeitslosen Leidtragende einer Mittelbindungspraxis werden, bei der sich einige Träger im vergangenen Jahr noch schnell zu Lasten der Allgemeinheit auf der Grundlage günstigerer Konditionen „bedient" haben. Deshalb hat sich die Bundesregierung in den Solidarpaktverhandlungen auch bereit erklärt, für die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Jahre 1993 zusätzlich 2 Milliarden DM bereitzustellen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214913400
Herr Kollege Günther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner? — Bitte, Herr Kollege!

Hans Büttner (SPD):
Rede ID: ID1214913500
Herr Kollege Günther, sind Sie bereit, zuzugestehen, daß der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr wohl ausschließlich von der Bundesregierung zu verantworten ist? Denn die Selbstverwaltung hat es abgelehnt, diesen Haushalt zu beschließen;

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist schon schlimm genug!)

er wurde qua Verordnung des Bundesarbeitsministers in Kraft gesetzt.

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1214913600
Das ist richtig, Kollege Büttner. Aber das bezieht sich nur auf die Gesamthöhe der Mittel, nicht auf die Mittelanbindung und die Verteilung in den einzelnen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das ist Sache der Selbstverwaltung. Die hat zu verantworten, wenn die Mittel in solcher Weise bereits 1992 gebunden sind. Wir haben lediglich die Höhe vorgegeben und in die Verfügung Maßgaben eingebaut, die nicht eingehalten worden sind.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214913700
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Weng? — Bitte, Kollege Weng.

Dr. Wolfgang Weng (FDP):
Rede ID: ID1214913800
Herr Staatssekretär, geben Sie mir recht, daß der von Ihnen geschilderte Vorgang aus dem Vorjahr, bei dem Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter die Vertreter der Bundesregierung überstimmt haben, ein eklatantes Versagen der Selbstverwaltung darstellt?

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1214913900
Es ist richtig, Herr Kollege Weng, daß in dem zuständigen Ausschuß unsere Forderung, die neuen Maßnahmen bereits nach neuen Konditionen durchzuführen oder die Verträge entsprechend abzuschließen, vom Vorstand, soweit ich das weiß, abgelehnt worden ist, so daß nach alten Konditionen verfahren wurde.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Hört! Hört!) Das ist richtig.


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214914000
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Heyenn?

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1214914100
Ja, die letzte.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1214914200
Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Staatssekretär, daß Sie soeben gesagt haben, in dieser Frage hätten sich auch die Arbeitgeber falsch verhalten und damit bei der Arbeitsmarktpolitik versagt? Können Sie mir bestätigen, daß mit diesen zusätzlichen Mitteln aus dem Solidarpakt für AB-Maßnahmen in Höhe von 2 Milliarden DM bei AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern nicht einmal das Niveau des vergangenen Jahres gehalten werden kann?

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1214914300
Zu dem soeben von mir zitierten Vorstandsbeschluß, Kollege Heyenn, kann ich Ihnen sagen, daß dieser Beschluß gegen eine Stimme — nämlich die des Vertreters des Bundesarbeitsministers — gefaßt worden ist.
Zu der zweiten Frage: Das kann ich Ihnen nicht bestätigen; denn wir müssen ABM und den neuen § 249h AFG zusammen sehen, auf den ich im Zuge meiner Ausführungen gleich noch zurückkommen werde.



Parl. Staatssekretär Horst Günther
Meine Damen und Herren, von diesen so eben von mir skizzierten 2 Milliarden DM, die zusätzlich über den Solidarpakt bereitstehen, fließen 1,76 Milliarden DM in die neuen Länder; 240 Millionen DM werden den alten Ländern zur Verfügung gestellt. Damit ist es möglich, auch in diesem Jahr wieder auf hohem Niveau in Ost und West zusätzliche Neueintritte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zuzulassen. Dies trägt auch der schwierigen wirtschaftlichen Situation Rechnung.
Die Bundesregierung hat alles daran gesetzt, diesen Teil des Solidarpaktes schnellstmöglich umzusetzen. Die erforderliche Verwaltungsvereinbarung mit der Bundesanstalt ist unterschriftsreif. Nachdem gestern der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages der überplanmäßigen Bereitstellung der Mittel dankenswerterweise zugestimmt hat und auch die letzten Zweifelsfragen mit der Selbstverwaltung der Bundesanstalt ausgeräumt werden konnten, wird die Vereinbarung heute oder morgen unterschrieben. Damit können schon in den nächsten Tagen wieder Neueintritte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewilligt werden.
Die Verwaltungsvereinbarung regelt ganz exakt die Aufteilung der Mittel in den neuen Ländern. Die Länder haben sich auf einen Verteilungsschlüssel geeinigt, der den Anteil der Arbeitslosen des Bundeslandes an den Arbeitslosen insgesamt, die Zahl der bereits vorhandenen ABM-Beschäftigten und die unterschiedlichen Möglichkeiten bei der Inanspruchnahme des § 249h AFG berücksichtigt.
Die Verteilung der Mittel auf die alten Bundesländer wird von der Bundesanstalt für Arbeit vorgenommen. Hier erfolgt eine Orientierung am Arbeitsmarktindikator für ABM-Bewilligungen aus dem Haushalt der BA.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Es wird gehandelt im Ministerium!)

Dies soll jedoch nicht schematisch und nach dem „Gießkannenprinzip" erfolgen. Vielmehr soll bei der Verteilung auf die Arbeitsämter vor allem die Arbeitsmarktentlastung durch bereits in der Vergangenheit bewilligte ABM berücksichtigt werden. Dies bedeutet im Klartext, daß hier vor allem Problemregionen bedacht werden sollen, die in der Vergangenheit unter Umständen weniger gut mit ABM-Mitteln ausgestattet worden sind als andere.
Eine wichtige Regelung der Verwaltungsvereinbarung ist, daß für die ABM-Entlohnung eine Obergrenze von 2 500 DM festgesetzt wird. Damit soll verschiedentlich festgestellten Auswüchsen entgegengewirkt werden und zugleich eine möglichst effiziente Verwendung der Mittel sichergestellt werden.
Das Arbeitsförderungsgesetz hat sich nicht nur bewährt, es ist auch ein guter Rahmen für Innovationen. Um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken, beschreiten wir völlig neue Wege in der Arbeitsmarktpolitik. Seit Jahresbeginn steht das neue Instrument der Arbeitsförderung Ost zur Verfügung, der § 249h AFG. Träger aus dem Bereich der Umweltsanierung, der freien Jugend- und Sozialarbeit bekommen für jeden Arbeitslosen, den sie einstellen, einen pauschalierten Lohnkostenzuschuß in Höhe des eingesparten Arbeitslosengeldes bzw. der eingesparten Arbeitslosenhilfe.

(Zuruf der Abg. Renate Rennebach [SPD])

Für das neue Instrument sind im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit 770 Millionen DM eingesetzt. Aber das ist kein Limit, weil Deckungsfähigkeit zu anderen Haushaltstiteln besteht.
Soeben ist hier in einem Zuruf eine Frage gestellt worden; ich weiß nicht, von wem.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Von Frau Rennebach!)

— Schönen Dank. — Dazu darf ich sagen: Die neuen Länder haben alle in ihren Haushalten Gelder — in unterschiedlicher Höhe — eingestellt. Ich kann Ihnen die Zahlen nachliefern; ich habe sie nicht alle im Kopf. In Berlin ist es allerdings besonders wenig, Frau Kollegin Rennebach.
Durch die Arbeitsförderung Ost im Bereich der sozialen Dienste und der Jugendhilfe werden vor allem Frauen Beschäftigung finden. Der Bereich Umweltsanierung hilft vor allem in den ökologisch schwer belasteten Chemie- und Braunkohleregionen der ehemaligen DDR, die heute von der wirtschaftlichen Umstrukturierung auf dem Arbeitsmarkt besonders hart betroffen sind.
Im Nachtragshaushalt werden noch einmal bis zu 150 Millionen DM zur Kofinanzierung dieser Maßnahmen nach § 249h AFG speziell für Jugendarbeit und soziale Dienste eingestellt, weil es hier leider noch an der nötigen Mitteleinstellung — zumindest in der Höhe, wie sie nötig wird — der Länder und Träger hapert. Die neuen Länder haben in ihren Haushalten zwar 750 Millionen DM zur Kofinanzierung eingestellt. Dieses Geld dient aber primär der Finanzierung von Umweltsanierungsprojekten, so daß im Bereich der sozialen Dienste und der Jugendhilfe noch ein größerer Handlungsbedarf besteht.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit geht davon aus, daß mindestens 70 000 Menschen in diesem Jahr in Maßnahmen nach § 249 h AFG beschäftigt werden können. Wenn Sie das alles zusammenzählen, Kollege Heyenn, dann kommen Sie auf die gleiche Zahl von Fördermöglichkeiten wie im Jahre 1992. Danach hatten Sie soeben gefragt.
Das Arbeitsförderungsgesetz soll in erster Linie vor und nicht bei Arbeitslosigkeit schützen. Es beruhigt mich, wenn die Opposition in ihrem Antrag nicht all dies bestens Bewährte über Bord werfen will. Die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen aber, wie es der vorliegende Antrag fordert, kann Arbeitsmarktpolitik nicht leisten. Dies wäre der Ersatz einer staatlichen Planwirtschaft durch eine ABM-Gesellschaft, die wir auf keinen Fall wollen. Aktive Arbeitsmarktpolitik kann nur die Brücke hin zu wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen sein, die von der Wirtschaft geschaffen werden müssen.
Die Rahmenbedingungen haben eine vernünftige Wirtschafts- und Strukturpolitik des Bundes und der Länder zu setzen. Hier gibt es allerdings noch viel zu tun. Das fängt an bei dem Gestrüpp von 233 verschiedenen Fördermöglichkeiten, die es für Investitionen in



Parl. Staatssekretär Horst Günther
den neuen Bundesländern gibt und die niemand mehr durchschaut, außer einigen Subventionshaien, die aber nicht investieren, sondern nur absahnen wollen. Weiter geht es mit dem Dschungel der Genehmigungsvorschriften, die so kompliziert und ausgefeilt sind, daß Verfahren jahrelang dahinplätschern. In dieser Zeit gibt es keine neuen Arbeitsplätze; es wird nichts produziert, außer einigen Aktenordnern Papier. Wir müssen unserer Wirtschaft durch sinnvolle Rechtsvereinfachungen wieder mehr Luft zum Atmen geben. Sonst ist es kein Wunder, wenn neue Betriebe eher im Ausland angesiedelt werden als hier bei uns.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch die Tarifvertragsparteien, meine Damen und Herren, sind zur Zurückhaltung aufgefordert. Wir alle müssen in dieser schwierigen Zeit das Machbare von dem Wünschenswerten unterscheiden.
Der soziale Friede ist eines unserer wichtigsten Produktionsverfahren. Diesen kann man sowohl durch überzogene Lohnforderungen wie auch durch den Versuch, das bewährte Tarifrecht zu zerschlagen, zerstören. Ich appelliere deshalb an die Tarifpartner, heute nicht ohne Not mit dem Feuer zu spielen.
Meine Damen und Herren, was wir in der Sozialen Marktwirtschaft nach wie vor brauchen, ist die Kooperation zwischen unternehmerischer und gewerkschaftlicher Verantwortung sowie staatlichem Handeln. Was die Politik tun kann, sind immer nur flankierende Maßnahmen. Der Staat kann nicht alles machen. Wohin es führt, wenn er es versucht, das haben wir im Sozialismus gesehen.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!)

Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Strukturpolitik können nur Partner, nicht Ersatz unternehmerischen Handelns sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ihre Effizienz ist auch nicht allein dadurch zu steigern, daß man Elemente dieser drei Komponenten staatlichen Handelns in einem Gesetz vereint.
Wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern zu schaffen, das kann nur unter dem Vorzeichen einer stärkeren Investitionsbereitschaft der Wirtschaft gelingen.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und einer Strukturpolitik!)

— Für Strukturpolitik bin ich auch sehr, Herr Kollege Büttner, und dafür sind die Länder zuständig.
Insgesamt wurden im vergangenen Jahr in den neuen Bundesländern 113 Milliarden DM investiert 36 Milliarden DM investierten westdeutsche, 24 Milliarden ostdeutsche und ausländische Unternehmen. Größter Investor mit einem Investitionsvolumen in Höhe von 40 Milliarden DM war jedoch nach wie vor die öffentliche Hand. — Alle Angaben: Statistisches Bundesamt.
Hier, meine Damen und Herren, liegt das Problem: Die Wirtschaft muß einen größeren Beitrag als bisher zum Aufbau im Osten leisten. Deshalb muß das im Solidarpakt Vereinbarte nun rasch umgesetzt werden.
Die Unternehmen müssen ihre Zusagen einhalten und das Investitionsvolumen in den neuen Bundesländern deutlich erhöhen.
Die gigantische Aufgabe, den Aufbau in den neuen Bundesländern zu vollenden, können wir nur bewältigen, wenn wir alle gemeinsam — Wirtschaft, Länder, Kommunen, Treuhand, Bundesregierung, Bundestag — an einem Strang ziehen. Meine Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns noch etwas kräftiger ziehen als bisher!
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214914400
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Adolf — genannt „Adi" — Ostertag das Wort.

Adolf Ostertag (SPD):
Rede ID: ID1214914500
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Arbeitsmarktpolitik ist seit über zehn Jahren in schlechten Händen, mit schlimmen Folgen für Millionen von Menschen.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Und die Prognose lautet: noch mehr Arbeitslose in Ost und West, Zusammenbruch ganzer Branchen; es droht die Verödung vieler Regionen, und das — wie Sie wissen — nicht nur in Ostdeutschland.
Sie haben sicherlich die Debatte heute morgen verfolgt und mitbekommen, wie die Schwierigkeiten aussehen.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: Jawohl, Herr Gewerkschaftssekretär!)

Aber diese Bundesregierung schaut hilflos und tatenlos zu. Wenn es nach Ihnen, Frau Hasselfeldt und Frau Babel, ginge, würde es noch viel schlimmer, als der Herr Staatssekretär gesagt hat. Dann täte diese Regierung künftig noch weniger, denn Sie wollen sich ja anscheinend von einer ganzen Reihe von Maßnahmen verabschieden, die es bis jetzt noch gibt.
Aber die Menschen in der Bundesrepublik wollen, daß gehandelt wird, und zwar intensiver, als es in der Vergangenheit geschehen ist. Die. Demonstration morgen, wenn 100 000 in Bonn auf dem Hofgarten sind, wird Ihnen hinter die Ohren schreiben, was eigentlich arbeitsmarktpolitisch notwendig ist.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Julius Louven [CDU/CSU]: Hoffentlich hören wir auch, was die Lander zu tun haben!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214914600
Es ist schon zynisch und dokumentiert Perspektivlosigkeit, wenn der Bundesarbeitsminister an diesem Pult am 7. Mai 1992 bei einer arbeitsmarktpolitischen Debatte dazu aufgefordert hat — Zitat —: „Laßt uns einen Wettbewerb veranstalten, wie wir am besten helfen können."
Wo sind denn Ihre Ideen? Sie haben hier einen „Zahlenfriedhof" veröffentlicht und Rechtfertigung betrieben. Wo ist denn Ihre Hilfe angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt? Sie erschöpfen



Adolf Ostertag
sich im Schröpfen der Arbeitslosen. Hoffnungen auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Fortbildungs-
und Umschulungskurse haben Sie zerschlagen! Ihr Engagement in der Arbeitsmarktpolitik liest sich letzten Endes wie ein Demontagekatalog.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Klassenkampf!)

Das Instrumentarium der Arbeitsförderung wurde von Ihnen systematisch Stück für Stück demontiert.
Was diese Regierung jetzt macht, ist nicht neu. Bereits mit dem Haushaltskonsolidierungsgesetz von 1983 wurden gravierende Kürzungen beim Arbeitslosengeld vorgenommen. Mit der 9. Novelle 1988 ging es weiter. Der Rechtsanspruch auf Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen wurde in Kann-Leistungen umgewandelt. Arbeitslosengeldkürzungen bei Krankheit kamen noch hinzu, und die zuvor einmal erhöhten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden wieder zurückgefahren. Das ist Ihre Hü-und-HottPolitik.
Diese Politik mit der Abrißbirne haben Sie mit der 10. Novelle konsequent weitergeführt. Seit 1. Januar 1993 gelten die Kürzungen, die heute morgen schon hinlänglich geschildert worden sind. Ich kann es mir schenken, das zu wiederholen.
Es ist also, meine Damen und Herren, seit zehn Jahren nachweisbar: Diese Bundesregierung zog sich zunehmend aus der Verantwortung zurück — stop and go, hü und hott war ihre Politik. Viele Träger, die auf sich selbst gestellt sind, stehen jetzt vor dem Aus. Die berufliche Weiterbildung ist in ihrer Substanz gefährdet, wie man allenthalben nachlesen kann. Da, wo eine qualitative Ausweitung erforderlich wäre, wird diese unter dem Vorwand der Haushaltszwänge abgelehnt.
Tatsache ist doch, meine Damen und Herren, daß damit gerade im Zusammenhang mit der letzten Novelle und den Entscheidungen der letzten Wochen die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der Finanz- und Wirtschaftspolitik untergeordnet worden ist. Ausgerechnet in einer Zeit, in der das vorhandene Instrumentarium weiter ausgebaut werden müßte, demontieren Sie es und schicken somit noch mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit. Inzwischen ist in dieser Republik jeder zehnte ohne Arbeitsplatz.
Auch das immer wiederkehrende Argument, Herr Günther, die Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik seien noch nie so hoch und die Zahl der Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sei noch nie so groß gewesen, ist schon lange überholt. 1993 greifen ja Ihre Gesetzeseinschnitte und Haushaltskürzungen bei der Bundesanstalt. Wenn die Statistiken im nächsten Jahr vorliegen, werden wir sie mit dem vergleichen, was Sie soeben hier gesagt haben. Ich glaube, Sie wissen selbst, daß die Maßnahmen insgesamt zurückgefahren werden; denn die Kürzungen von über 10 Milliarden DM lassen auch gar nichts anderes zu. Es wäre auch etwas Neues, wenn man mit weniger Geld mehr machen könnte, außer man geht bei den Lohnersatzleistungen in der Tat noch unter die Armutsgrenze.
Wir wissen, 1992 hatten wir eine Arbeitslosigkeit wie nie zuvor. 1993 wird sie weiter wachsen, in
Westdeutschland um ca. 450 000 in Ostdeutschland um ca. 200 000, so daß wir am Jahresende ca. 3,8 Millionen Arbeitslose haben werden.

(Günther Heyenn [SPD]: Registrierte!)

Das sind keine Horrormeldungen, sondern Zahlen der Deutschen Bank, und ich glaube, die ist für Sie seriös genug.
Hans Katzer, damals CDU-Minister, verwies in der ersten parlamentarischen Beratung des AFG am 13. Dezember 1967 darauf, daß die Aufgaben der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik nicht isoliert zu sehen seien. Ich zitiere ihn, weil ich glaube, daß sich diese Koalition die Worte von damals hinter die Ohren schreiben müßte. Er sagte:
Sie stehen mit drei anderen großen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen in einem engen sachbezogenen Zusammenhang: erstens mit einer aktiven Konjunkturpolitik, die auf einen hohen Beschäftigungsgrad ausgerichtet ist, zweitens mit einer Strukturpolitik, die wirtschaftlichen Wandlungen gerecht zu werden versucht und Anpassungen erleichtern will, drittens mit einer modernen Bildungspolitik, die allen Schichten neue Chancen im gesellschaftlichen Status und Fortkommen erschließen will.
Verglichen mit dem Anspruch, der heute hier formuliert wurde, oder dem, was der Bundesarbeitsminister in den letzten zehn Jahren gemacht hat, kann ich nur sagen, daß in diesen zehn Jahren aus der Arbeitsmarktpolitik ein Scherbenhaufen geworden ist.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, wollen die Ziele des AFG von 1969 aufgreifen und fortschreiben. Durch Entscheidungskompetenzen vor Ort wollen wir die Umsetzung erleichtern und beschleunigen. Wir wollen bewährte Instrumente beibehalten und zusätzliche hinzufügen und damit vor allem die aktive Arbeitsförderung vorantreiben.
Immerhin hat sich das AFG insoweit bewährt, als es durch seine wichtigen Instrumente — Förderung der beruflichen Bildung, Kurzarbeitergeld, AB-Maßnahmen — jährlich Hunderttausenden von Menschen das Schicksal der Arbeitslosigkeit ersparen konnte. Trotz einer zeitlichen Entlastung des Arbeitsmarktes und einer sozialen Abfederung der von Arbeitslosigkeit Betroffenen konnte die Massenarbeitslosigkeit jedoch nur partiell bekämpft werden; denn das AFG, das in den 60er Jahren unter ganz anderen Bedingungen zustande gekommen ist, konnte natürlich die Probleme von heute in der Form nicht bewältigen. Das ist ja auch der Hintergrund und der Ansatz für unseren Antrag. Deswegen haben wir gemeinsam mit Gewerkschaftern, mit Wissenschaftlern und Arbeitsmarktpraktikern an einem Konzept zur Vollbeschäftigungspolitik, an dem Entwurf eines Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes, gearbeitet.
Frau Babel, wegen der Solidarpaktdiskussion und auch der Beschlüsse — zu denen wir stehen; das ist auch heute betont worden — stellen wir die parlamentarische Arbeit natürlich nicht ein,

(Beifall bei der SPD)




Adolf Ostertag
sondern wir messen uns an den Zielsetzungen des AFG, die nicht eingelöst worden sind. Sie sind nicht eingelöst worden; ich hoffe, ich habe das soeben deutlich gemacht.
Ich bin der Meinung, die Politik muß verstetigt und verbessert werden. Dazu sind wir da; letzten Endes deswegen wurden wir gewählt. Daher werden wir zu dem Antrag, über den wir heute diskutieren, einen Gesetzentwurf vorlegen. Wir werden uns auseinandersetzen. Wir werden sehen, welche Ideen Sie über das hinaus, was Sie heute gesagt haben, nämlich mit der Abrißbirne an das Ganze heranzugehen, einbringen. Von Arbeitsmarktsozialismus zu reden ist geradezu lächerlich oder eigentlich sehr entlarvend, wenn man es so deutlich sagt wie hier Frau Hasselfeldt.
Ziele und Eckpunkte unseres Antrags sind schon genannt worden. Ich möchte einige unterstreichen. Wir wollen Vollbeschäftigung in der Tat als Eckpfeiler für soziale Gerechtigkeit und inneren Frieden. Das hängt unmittelbar miteinander zusammen. Eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik trägt eben mit dazu bei, das Sozialstaatsangebot des Grundgesetzes auszufüllen. Wenn das Arbeitsmarktsozialismus ist, Frau Hasselfeldt, dann muß ich sagen: Gute Nacht mit Ihren Ansichten.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen Arbeitsmarktpolitik nicht mehr nur als bloßes individuelles Reparaturinstrument sehen, das die in einer Marktwirtschaft nicht mehr vermeidbaren Risiken der Arbeitslosigkeit sozialverträglich und vielleicht auch protestvermeidend abfedert. Arbeitsmarktpolitik muß nach unserer Meinung mit Wirtschafts- und regionaler Strukturpolitik stärker verzahnt werden, wenn sie eben gestaltende, beschäftigungswirksame und auf Vollbeschäftigung hin orientierte Politik sein will. Arbeitsmarktpolitik muß deshalb in regionale Entwicklungs- und Handlungskonzepte eingebunden werden. Sie muß vor Ort alle relevanten Akteure der Arbeitsmarktpolitik an einen Tisch bringen. Ich glaube, das sind sehr wichtige Vorschläge zur Regionalisierung der Probleme, die wir aktuell diskutieren.
Im Mittelpunkt aktiver Arbeitsmarktpolitik hat die Sicherung von bestehenden Beschäftigungsverhältnissen zu stehen — ich glaube, da gibt es viel Übereinstimmung —, ebenso die Verbesserung der individuellen Arbeitsmarktposition, insbesondere von Un- und Angelernten, die noch in Beschäftigungsverhältnissen stehen. Dabei muß das bisherige Schwergewicht von den passiven Ausgaben auf die aktiven Förderinstrumente verlagert werden. Unser ASFG sieht deshalb einen Regelmechanismus vor, der hier schon geschildert worden ist.
Wir wollen wirtschaftsnahe Förderinstrumente schaffen und damit Dauerarbeitsplätze erhalten. Sie gelten in erster Linie für Projekte von öffentlichem Interesse zur Strukturverbesserung, für kleinere und mittlere Betriebe, für Existenzgründer und vom technischen Wandel oder von Strukturproblemen besonders betroffene Unternehmen. Damit wird die bisher ausschließlich individuelle Förderung durch Projektmaßnahmen sinnvoll ergänzt. Die Förderung von arbeitsmarktpolitischen Zielgruppen wie ältere Arbeitslose, benachteiligte Personen, Langzeitarbeitslose und besonders Frauen muß stärker als bisher einbezogen werden, denn in erster Linie sind sie die Opfer der Massenarbeitslosigkeit geworden.

(Beifall bei der SPD)

Als neues Instrument ist eine langfristig angelegte, maximal fünf Jahre dauernde Förderung von arbeitsmarktpolitischen Projekten, insbesondere von sozialen Betrieben, geplant. Ich glaube, dies ist nötiger denn je. Gerade durch die Entwicklung im sozialpolitischen Bereich, das Wegbrechen der Einrichtungen, die wir dazu haben, wird das deutlich unterstrichen.
Wir wollen die Bundesanstalt für Arbeit zu einer Dienstleistungsbehörde umgestalten, die stärker dezentral arbeitet und sich sowohl an der Nachfrage nach Arbeitskräften durch die Betriebe als auch an den Bedürfnissen der Arbeitsuchenden orientiert. Im Gegensatz zur Bundesregierung, die die Arbeitsämter zunehmend zu Stempelbuden degradiert, wollen wir den Landesarbeitsämtern und örtlichen Arbeitsämtern eigenständige Kompetenzen verleihen. Wir wollen weg von einer an zentraler Weisungs- und Finanzhoheit ausgerichteten Arbeitsverwaltung und hin zu mehr regionaler Verantwortlichkeit.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Das hört sich gut an; aber dann können wir auf die Landesarbeitsämter auch noch verzichten!)

— Vielleicht, Herr Louven, haben Sie in den letzten Tagen gelesen, was die Arbeitgeber dazu gesagt haben. Es gibt einige Positionen, in denen wir mit den Arbeitgebern übereinstimmen. Wir meinen aber nicht, daß die Landesarbeitsämter entmachtet werden sollen, sondern wir wollen sie stärken, wir wollen ihnen mehr Kompetenzen geben, um vor allem regionale strukturpolitische Projekte und Maßnahmen durchzuführen.
Nehmen Sie das Beispiel Nordrhein-Westfalen mit den Stahlproblemen und den Kohleproblemen der Vergangenheit, oder nehmen Sie die Textilindustrie. Ich glaube, es gibt für alle Regionen, für alle Länder viele Bereiche, die man aufzählen könnte, um zu zeigen, daß es wichtig ist, dezentraler zu arbeiten. Dazu muß eine Länderkoordination vorhanden sein und vor allen Dingen eine Stärkung der Arbeitsämter vor Ort erfolgen.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Ich stimme Ihnen zu: Vor Ort stärken und auf Landesarbeitsämter verzichten!)

— Dieser Meinung sind wir nicht. Wir wollen lieber ein bißchen bei der Bundesanstalt einsparen und die Landesarbeitsämter stärken.
Zu der Frage, wer das alles bezahlen soll, weise ich darauf hin, daß wir auf Grund heutiger Erfahrungen sagen können, daß sich aktive Arbeitsmarktpolitik weitgehend bezahlt. Frau Babel, auf das, was Sie vorhin sagten, muß ich antworten: Lesen Sie die Publikation des Bundesarbeitsministers, lesen Sie die Untersuchungen des IAB aus Nürnberg! Dort wird dezidiert nachgewiesen, daß sich aktive Arbeits-



Adolf Ostertag
marktpolitik selbst finanziert und nicht subventioniert werden muß.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Waren Sie bei der Anhörung dabei?)

— Natürlich war ich dabei. Auch da hat das IAB in dieser Richtung argumentiert und sogar Zahlen vorgelegt,

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Absolute!)

— absolute Zahlen. Wenn Sie noch die gesellschaftlichen Folgekosten, die mit der Arbeitslosigkeit verbunden sind und nicht genau bezifferbar sind, hinzunehmen,

(Dr. Alexander Warrikoff [CDU/CSU]: Luftblasen!)

dann wird es am deutlichsten.

(Günther Heyenn [SPD]: Frau Babel, bitte nachlesen, Sie haben nicht zugehört! — Gegenruf der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Nachdenken!)

Daß Arbeitsmarktpolitik im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt, ist, glaube ich, klar. Deshalb müssen sich alle gesellschaftlichen Gruppen an einer soliden und dauerhaften Finanzierung beteiligen. Wie wichtig eine zügige Umsetzung unserer Forderungen ist, zeigt sich nicht nur im Osten, sondern auch am Beispiel der bedrohten Stahlstandorte und der Textilindustrie. Hätten wir das ASFG schon heute, könnten Projekte im öffentlichen Interesse zur Strukturverbesserung, zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen und auch sozialverträgliche Übergänge verwirklicht werden. Das Geld wäre in der aktiven Arbeitsmarkt- und Strukturförderung allemal besser aufgehoben als bei bloßen Lohnersatzleistungen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Bei den jetzt anstehenden Beratungen wird sich zeigen, ob Sie in der Lage sind, unseren Beitrag zum Wettbewerb der Ideen — ich erinnere noch einmal an das Wort des Arbeitsministers — aufzunehmen, oder ob Ihre ideologische Brille weiterhin den Blick für das arbeitsmarktpolitisch notwendige Umdenken vernebelt.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214914700
Das Wort erhält unser Herr Kollege Dr. Alexander Warrikoff.

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1214914800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD will das Arbeitsförderungsgesetz, das gute alte AFG, abschaffen.

(Barbara Weiler [SPD]: Weiterentwickeln!) Sie haben überhaupt keinen Sinn für Tradition.


(Günther Heyenn [SPD]: Sie zeichnet das aus, Herr Kollege!)

1969 haben Sie an diesem wichtigen Gesetz maßgeblich mitgewirkt. Es ist ein sehr erfolgreiches Gesetz
geworden, und ist immer noch ein erfolgreiches
Gesetz. Es packt die großen Aufgaben des Arbeitsmarktes an, Arbeitslosigkeit zu verhindern und,

(Günther Heyenn [SPD]: Seit der 10. Novelle nicht mehr!)

wenn sie eintritt, zu beseitigen und jemand, der arbeitslos wird, wirtschaftlich abzusichern.
Dieses Gesetz, das AFG, gibt Millionen Menschen Sicherheit. Es ist eines der Pfeiler unseres Sozialstaats, und es ist ein Werkzeug in den Händen der Arbeitsverwaltung. Es hat in den vergangenen Jahren keinen Rost angesetzt. Wir haben zehn Novellen. Die letzte erfolgte vor kurzem; in ihr wurden neue Instrumente entwickelt, die von meinen Vorrednern bereits vorgestellt wurden.
Das AFG ist in der Tat ein kompliziertes Gesetz. Das liegt daran, daß es maßgeschneidert ist. Es will nicht alle Fälle gleich behandeln; es will differenzieren. Daher kommt man an Komplikationen nicht vorbei. Es bietet Lösungen von der Lehrlingsausbildung bis hin zu Hilfen für Spätaussiedler.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Es ist in einer gewaltigen Anstrengung gelungen, dieses komplizierte Gesetz in den neuen Ländern einzuführen, den neuen Ländern, in denen wir den Menschen außerordentlich viele Änderungen zumuten mußten.
Nachdem das dank der Anstrengung der Arbeitsverwaltung, dank aber auch der Anstrengung der Menschen, die davon betroffen sind und jetzt verstehen, um was es geht, nun gelungen ist, kommt die SPD und sagt: Jetzt wollen wir etwas Neues machen.

(V o r s i t z : Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Ich meine, wir sollten uns mit Änderungen zurückhalten, die nicht wirklich notwendig sind. Gerade in dem Umbruch, den wir drüben, in den neuen Ländern, erleben, leistet dieses Gesetz einen ganz außerordentlichen Beitrag zur Arbeitsmarktsituation.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Krause!)

— Das ist krauses Zeug, Herr Büttner. Wenn wir tatsächlich diese Diskussion führen würden, würden wir automatisch mit einer Verunsicherung der Menschen beginnen. Man wüßte nicht mehr, was dann noch gilt, was sich ändert, was neu hinzukommt. Das würde nicht nur in den alten Ländern zu Unsicherheit führen, sondern, wie gesagt, ganz besonders auch in den neuen Ländern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214914900
Herr Abgeordneter Warrikoff, wären Sie so nett, eine Frage der Abgeordneten Frau Weiler zu beantworten?

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1214915000
Bitte sehr.

Barbara Weiler (SPD):
Rede ID: ID1214915100
Herr Kollege Warrikoff, ich freue mich sehr, Ihre grundsätzliche Lobpreisung des AFG zu hören. Aber können Sie sich erinnern, daß wir, die SPD-Bundestagsfraktion, im letzten Jahr eine Große Anfrage zu dem Stand und den Perspektiven der Arbeitsförderung gestellt haben? Bei der Beantwortung dieser Großen Anfrage hat die Regierung, der BMA, sehr wohl festgestellt, daß Weiterentwick-



Barbara Weiler
lungen des Arbeitsförderungsgesetzes notwendig sind und daß u. a. auch die Situation der arbeitslosen Frauen im jetzigen AFG nicht ausreichend berücksichtigt ist. Wieso unterstellen Sie hier, daß das AFG nun nicht weiterentwickelt werden sollte?

(Julius Louven [CDU/CSU]: Wir haben es doch weiterentwickelt!)


Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1214915200
Frau Kollegin Weiler, ich habe gesagt, daß das AFG keinen Rost angesetzt hat und natürlich auch in Zukunft keinen Rost ansetzen darf. Das heißt, wir werden ununterbrochen vernünftige Änderungen vollziehen, aber nicht das ganze Ding wegwerfen, was Sie ja wollen. Sie wollen ja alles ersetzen, Sie wollen es ja über Bord werfen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! — Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ihr macht Bonsaipolitik!)

Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur um diese Verfahrensfragen, die wir jetzt haben, um die Beunruhigung der Öffentlichkeit durch ein neues arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium, sondern es geht auch um die sachlichen Inhalte. Es ist interessant, einen Blick darauf zu werfen. Sie sagen, daß Sie mit Ihrem neuen ASFG, wie es heißen soll, ein wirtschaftsnahes Förderinstrumentarium schaffen wollen. Sie sagen gleichzeitig, daß im Gegensatz zum AFG auch das Interesse der Arbeitgeber — das zitiere ich wörtlich — „Grundlage der Förderung" sein soll.
An dieser Stelle können wir uns mit Ihnen nicht vereinbaren. Wir sind sehr für eine Förderung der Arbeitgeber, damit Arbeitsplätze entstehen. Wir sind aber der Ansicht, daß die Arbeitgeber nicht im Bereich des Sozialrechts gefördert werden sollen, sondern im Bereich des Wirtschaftsrechts.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Siehe Krause! Bei Krause waren Sie anderer Meiflung!)

Wir sind über die Vorstellungen verwundert, das über Sozialrecht, über beitragsgezahlten Sachen zu fördern. Die Fördermechanismen, von denen Sie sprechen, müssen zielgerecht im Interesse der Arbeitnehmer liegen. Ich kann mich nur sehr wundern, wenn Sie hier immer noch, obwohl ich Sie darauf hingewiesen habe, deutlich sagen, Sie wollen im Rahmen des Arbeits- und Sozialrechts die Arbeitgeber fördern. Das ist grotesk.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214915300
Das provoziert nun wiederum eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner. Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Hans Büttner (SPD):
Rede ID: ID1214915400
Herr Kollege Warrikoff, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß gerade der Vorschlag unseres ASFG darauf zielt, alle Arbeitsförderungsmaßnahmen verstetigt über Steuermittel zu fördern, um der Politik entgegenzuwirken, die diese Regierung in den letzten Jahren getragen hat, nämlich alles nur noch aus Beitragsgeldern zu bezahlen und den Staat völlig aus der Finanzierung herauszutrennen?

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1214915500
Herr Kollege Büttner, darauf, wie Sie das finanzieren wollen, werde ich zurückkommen. Um einen Teil der Antwort vorwegzunehmen: Ihr Vorschlag betrifft nicht Steuermittel, sondern etwas anderes. Ich würde Ihnen dringend empfehlen — noch haben Sie ja ein paar Minuten —, Ihren Antrag einmal zu lesen.
Der Kern der Sache ist also, daß Sie — ich kann das im Rahmen der Zeit hier ja nur prinzipiell ansprechen — insgesamt den zweiten Arbeitsmarkt ganz wesentlich ausweiten wollen und dort alle möglichen Programme fördern möchten.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Nur, wenn nötig!)

Dabei wollen Sie auch bei dem klassischen Instrumentarium des zweiten Arbeitsmarktes, das wir ja bejahen, bei den Arbeitsmaßnahmen, kräftig drauflegen. Damit komme ich zu einem Kernpunkt unserer Kritik.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Statt zwei Millionen Arbeitslosen!)

Sie wollen bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einen Rechtsanspruch einführen. Das heißt, jeder, der zwei Jahre arbeitslos war — wenn er weniger als 25 Jahre alt ist, nach einem Jahr — soll einen Rechtsanspruch haben. Und zwar soll er Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen so lange bekommen, bis er die Voraussetzung für neues Arbeitslosengeld, wieder für zwei Jahre, erfüllt; dann geht er zurück zur Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Was Ihnen da vorschwebt, ist offenbar eine Karriere im Rahmen der ABM, ein ABM-Beamter auf Lebenszeit.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ach Gott, Herr Warrikoff!)

— Doch, das machen Sie. In dem Augenblick, in dem Sie einen Rechtsanspruch einführen, öffnen Sie diese Tür. Wir halten das nicht für verantwortbar.

(Günther Heyenn [SPD]: Sie hätten den Entwurf lesen sollen!)

— Ich habe den Entwurf im Gegensatz zu Herrn Büttner gelesen. —

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ich habe ihn mitverfaßt!)

Das Ganze ist ungeeignet, weil Sie bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen prinzipiell nicht den bezahlen lassen, für den die Arbeit geleistet wird, also den jeweiligen Arbeitgeber. Vielmehr verlagern Sie die Kosten von dem, für den gearbeitet wird — wer immer das auch sein mag —, auf die Allgemeinheit, insbesondere den Beitragszahler. Das heißt, sie halten auf Dauer Arbeitsplätze mit Anspruch aufrecht, für die der jeweilige Arbeitgeber nicht bereit ist, etwas zu zahlen. Damit können wir uns nicht einverstanden erklären.
Jetzt komme ich zur Frage der Finanzierung, Herr Büttner. Sie haben — darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen — sich nicht die Mühe gemacht, zu sagen, was das kostet. Immerhin haben Sie gesagt, wer das bezahlen soll. Da ich schon geahnt habe, daß das eine große Rolle spielt, erlaube ich mir, das



Dr. Alexander Warrikoff
vorzulesen. Es müssen natürlich die Beitragszahler bezahlen. Ich zitiere den SPD-Antrag wörtlich:
Die Beitragshöhe ist dem Finanzrahmen anzupassen, so daß keine Haushaltsdefizite entstehen.
Das heißt: Unabhängig davon, wieviel Geld ausgegeben wird, die Beitragszahler müssen es bezahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das steht da. Ganz große Klasse! Dann fügen Sie noch hinzu: Bei schwerer Arbeitsmarktlage müssen die Steuerzahler noch etwas dazuzahlen. Bloß, diese schwere Arbeitsmarktlage wird überhaupt nie eintreten, weil ja alle Leute vom Arbeitsmarkt in ABM-Stellen sind, die vorher von den Beitragszahlern bezahlt worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben eine Welt aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ja, das ist Ihr Konzept; hier steht es wortwörtlich. So ist es, jawohl.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das steht eben nicht drin, Herr Warrikoff!)

Aber auch die Steuerzahler als solche bleiben nicht ungeschoren. Sie haben sich ja eine ganz tolle Sache ausgedacht, nämlich die soziale Grundsicherung. Das habe ich wirklich dreimal gelesen. Es gibt ja Sachen von der SPD, die ich mehrmals lesen muß,

(Günther Heyenn [SPD]: Man muß sie genießen! )

erstens, weil es mir so viel Freude bereitet, und zweitens, weil ich eine Glaubwürdigkeitslücke sehe.
Es steht allen Ernstes in Ihrem Antrag, es soll mit der sozialen Grundsicherung vermieden werden, daß jemand in Sozialhilfe kommt. Vor allem soll vermieden werden, daß jemand aus der Arbeitslosigkeit in Sozialhilfe kommt. Dann erweitern Sie das auf Schiller und Hochschüler und eröffnen nunmehr die Karriere von Schülern, Fachhochschülern und Hochschülern, die nach ihrem Abschluß in die soziale Grundsicherung auf Lebenszeit eintreten.

(Zuruf von der F.D.P.: Endlich!)

Ich will das schnell sagen. Das ist so; es hat doch keinen Zweck, das zu bestreiten; das ist Ihr Vorschlag. Das ist eine tolle Karriere, die Sie da in Aussicht stellen.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wirr, kann ich da nur sagen!)

Selbstverständlich ist das eine falsche Sache. Das bedarf gar nicht der weiteren Ausführung. Die Richtung ist einfach falsch. Es muß dazu kommen, daß die Wirtschaft Arbeitsplätze schafft, aber nicht dazu, daß mit Hilfe von Beitragszahlern ständig Arbeitsplätze geschaffen werden, die andere Leute finanzieren. Wenn Sie das machen, öffnen Sie doch geradezu ein Tor für die Cleveren, ständig nach irgendwelchen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu suchen, die sie nicht selbst bezahlen müssen.

(Zurufe von der SPD: Krause!)

Es hat doch gar keinen Zweck, darüber nachzudenken, wie ich Geld für Arbeiten beschaffen kann, die
ich ausgeführt haben will, wenn ich gleichzeitig ABM mit Rechtsanspruch habe, wo ich anderen, nämlich den Beitragszahlern, das ganze Ding um den Hals hängen kann. Wie man auf solche Sache überhaupt kommen kann!

(Zuruf von der F.D.P.: Sozialdemokraten!)

Das heißt, Sie eröffnen die Perspektive auf eine ganz goldene Zeit, völlig ohne jede Arbeitslosigkeit, bestehend aus lauter Leuten in ABM.

(Zuruf von der F.D.P.: Mit Rechtsanspruch!)

— Mit Rechtsanspruch, jawohl. — Meine Damen und Herren, es bedarf nach diesen Bemerkungen keiner weiteren Hinweise, daß wir große Schwierigkeiten haben, diese ganze Sache überhaupt zu verstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Günther Heyenn [SPD]: Das war etwas für die „Stachelschweine" ! Politisch war das nicht!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214915600
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Renate Jäger das Wort.

Renate Jäger (SPD):
Rede ID: ID1214915700
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Warrikoff, Sie sind mir nicht böse, wenn ich auf die vielen Irrtümer Ihrerseits

(Dr. Alexander Warrikoff [CDU/CSU]: Ich hoffe, Sie haben den Anfang gelesen!)

hier zu Beginn jetzt nicht eingehe.

(Zurufe von der CDU/CSU: Schade! — Günther Heyenn [SPD]: Sie hat recht: Das lohnt doch nicht!)

Ich möchte mit einem Zitat beginnen, das Sie vielleicht etwas verwundert. Die Überzeugung ist ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge, heißt es bei dem alten chinesischen Philosophen Laotse. Sie läßt nämlich veränderte Bedingungen außer Betracht. Die Bewegung in den Prozessen in und um uns erfordert auch die Bewegung unseres Geistes, unserer Phantasie und unserer Verantwortlichkeit. Eine festgefahrene Überzeugung hemmt die Bewegung.
Die alte chinesische Weisheit von der Gegenbewegung ist auf die Veränderung und Entwicklung von Auffassungen gerichtet, auf die Suche nach neuen Perspektiven und Blickwinkeln. Für uns als Politiker ist eine laufende Überprüfung von Konventionen und Tabus die erste Voraussetzung für wirksame politische Wege und Lösungsansätze.
Indem wir heute im Bundestag die Eckpunkte für ein neu zu schaffendes Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorlegen, versuchen wir, den veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt Rechnung zu tragen. Wir sind davon ausgegangen, Bewährtes zu erhalten und Neues zu entwickeln. Besonders die Behandlung von Frauen entspricht schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Der Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes ist nach 40 Jahren
bei weitem nicht verwirklicht. Frauen sind in der
Arbeits- und Berufswelt nach wie vor benachteiligt.



Renate Jager
Diesem Teil unserer Gesellschaft möchte ich mich hier besonders widmen.
Wir haben deshalb in den Zielen des ASFG die Frauenförderung ausdrücklich verankert. Bei uns heißt es eben: Frauen müssen dem Anteil gemäß berücksichtigt werden. Die Sollvorschrift des geltenden AFG reicht uns hierfür nicht.
Durch den Wegfall der 41-a-Maßnahmen nach der 10. Novelle zum AFG werden Frauen direkt benachteiligt, besonders solche, die nach einer Familienphase in das Berufsleben zurückkehren wollen.
Ähnlich negativ wirken sich die jüngsten Sparmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit aus. Sie bedeuten nicht nur einen ABM-Stopp, sondern quasi auch einen Fortbildungs- und Umschulungsstopp. Herr Schreiner hat bereits auf folgendes hingewiesen — ich will es nicht weiter ausführen —: Nach den Mitteilungen aus den Arbeitsämtern kann die Bundesanstalt für Arbeit nur noch solche Maßnahmen bewilligen, bei denen eine 90- bis 95 %ige Garantie für eine Übernahme in ein Arbeitsverhältnis gegeben ist. Eine breiter angelegte Ausbildungspalette ist derzeit nicht möglich.
Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft äußerte in ihrer neuesten Stellungnahme zur AFG-geförderten Weiterbildung vom 17. März ebenfalls ihre Besorgnis, daß die geförderte berufliche Weiterbildung in ihrer Substanz gefährdet ist.
Auch in dem Entwurf einer Anordnung der Bundesanstalt zur Fortbildung und Umschulung vom 17. März finden sich nicht genügend frauenbezogene Maßnahmen. Frauen sind und bleiben offensichtlich nach wie vor vielfach in kurzzeitigen Qualifizierungsmaßnahmen, während ihr Anteil an weiterführenden Maßnahmen gering ist und bleibt.

(Renate Rennebach [SPD]: Das findet Frau Hasselfeldt wohl schön!)

Wir streben mit unserem Antrag an, daß die Arbeitsämter solche Förderungsmaßnahmen für Frauen anbieten, die in Qualität und Umfang gegenüber denen der Männer gleichwertig sind. Dazu gehören auch Maßnahmen in frauenuntypischen und technischen oder in solchen Berufen, die einen Aufstieg in qualifizierte und leitende Funktionen fördern. Da Frauenbeauftragte in den Arbeitsämtern hierbei eine besonders wichtige Funktion innehaben sollten, müssen ihre Rolle sowie ihre Kompetenzen neu definiert werden.
Wir verlangen weiter, daß auch Frauen und Männer, die wegen Kindererziehung oder Pflege einen diskontinuierlichen Berufsverlauf haben — mehrheitlich sind es Frauen —, diese Berufsausfallzeiten als Beitragszeiten zur Arbeitslosenversicherung angerechnet bekommen.
Notwendig sind diese Maßnahmen, weil Frauen nach wie vor überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind. In den neuen Ländern stellen Frauen das Doppelte bis zu zwei Drittel der Arbeitslosen.
Trotz dieser negativen Bilanz in Ost und West sind Frauen an den Maßnahmen des AFG unterdurchschnittlich beteiligt.
Auch unsere vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit dienen der konkreten Frauenförderung, da Frauen in der Regel länger arbeitslos sind als Männer.
Wir sehen uns mit unseren Forderungen zu dem neuen ASFG in einer Reihe mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, insbesondere mit den Gewerkschaften, aber auch mit den Kirchen, den Bildungsträgern und mit den Wohlfahrtsverbänden.
Sogar der Bundeswirtschaftsminister äußerte sich am 18. März anläßlich der Übergabe des Buches „Frauen als Wirtschaftsfaktor im vereinten Deutschland" sehr positiv zum Thema „Zukunftsorientierte Politik für Frauen" . Im Prinzip sind all diese Forderungen in den Tagesnachrichten des BMWi vom 22. März nachzulesen, die wir für frauenpolitische Maßnahmen empfehlen und die von ihm auch benannt wurden.
Fast möchte man sagen: Oh wie schön! Doch dann kommt der Hammer, denn am Ende seiner Ausführungen heißt es: „Dies muß ohne staatliche Bevormundung und ohne Zwang geschehen. " Dies sagt der Minister, obwohl er weiß, daß die Wirtschaft von sich aus diesen Forderungen nicht nachkommt und von sich aus das nicht tut.
Ich nehme doch an, daß Herr Rexrodt die diesbezüglichen Untersuchungsergebnisse des Instituts der Deutschen Wirtschaft kennt. Dort wird ausgesagt, daß nur 35 % der Unternehmen mit mindestens 51 Beschäftigten einen Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf leisten und daß lediglich in weniger als 10 % der Unternehmen Frauenförderpläne existieren.
Diese starre Überzeugung, der Staat könne der Privatwirtschaft keine Vorschriften machen, verschleiert die Sicht auf die Realität und verhindert verantwortungsvolle Politik.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Während die Bundesrepublik die Vorgaben des Staates mit „sozialistischer Planwirtschaft" abtut — Frau Hasselfeldt hat das heute noch einmal deutlich bewiesen —, übersieht sie, daß staatliche Vorgaben und Quotierungen den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft nicht entgegenstehen, sondern das soziale Wesensmerkmal der Marktwirtschaft näher konkretisieren.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Wissen Sie nicht, Frau Hasselfeldt, daß beispielsweise die 2. EG-Richtlinie gebietet, Frauen so lange zu fördern, bis Männer und Frauen in der Arbeitswelt gleichbehandelt werden?
Grundsätzlich kennen zwar alle EG-Staaten Frauenförderungspläne, aber nur Frankreich läßt positive Maßnahmen gesetzlich zu. Alle anderen Staaten kennen nur freiwillige Frauenförderungsmaßnahmen; so auch die Bundesrepublik Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, wir können in den Beratungen ein Stück der von mir eingangs erwähnten chinesischen Weisheit der Gegenbewegung praktizieren.



Renate Jager
Wenn die Kollegen von der Koalition unseren Vorstellungen nicht folgen können — Frau Babel hat bereits Ablehnung signalisiert —, dann mache ich Ihnen den Vorschlag: Bringen Sie bessere Ideen zur Schaffung von Arbeit und zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen! Aber bleiben Sie um Himmels willen oder, besser gesagt, um der Menschen willen in diesem Land nicht in den alten Konventionen stecken, die den veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gerecht werden!
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214915800
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Büttner das Wort.

Hans Büttner (SPD):
Rede ID: ID1214915900
Der Abgeordnete Warrikoff hat vorhin unter Mißbrauch dieses Podiums zu einem schlechten kabarettistischen Beitrag behauptet,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

in unserem Antrag forderten wir, daß die Finanzierung des AFG durch Beitragsmittel auch die Arbeitsmarktpolitik finanzieren sollte. Das ist nachweislich falsch, Herr Warrikoff. Wenn Sie den Antrag genau gelesen hätten, was Sie wieder einmal nicht getan haben, wüßten Sie, daß über Beitragsmittel zunächst nur die Kosten für Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld und Strukturanpassungsgeld bezahlt werden sollen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Alexander Warrikoff [CDU/ CSU]: Und den Rest der Steuerzahler!)

— Das ist wesentlich weniger. Der Rest soll durch eine Abgabe aller bezahlt werden, damit die Menschen eben nicht arbeitslos auf der Straße sitzen, sondern damit sie endlich Arbeit bekommen. Es ist wesentlich sozialer, Herr Warrikoff, Menschen Arbeit zu geben, als sie in Arbeitslosigkeit verharren zu lassen. Wenn das Ihr Konzept und Ihr kabarettistischer Beitrag dazu ist, dann muß ich mich fragen, wieviel soziale Verantwortung Sie eigentlich in diesem Land für Menschen, die aus der Arbeitswelt herausgedrängt sind, noch aufzubringen bereit und in der Lage sind.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Julius Louven [CDU/CSU]: Donnerwetter!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214916000
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Warrikoff das Wort.

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1214916100
Wenn Sie meinen Beitrag, der Sie mit Recht erregt hat,

(Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: Ich bin bereit, ein Valium-Zäpfchen mitzubringen!)

weil ich die grotesken Schwächen Ihres Gesetzentwurfs angesprochen habe, als kabarettistisch bezeichnen, dann möchte ich, um auf gleichem Niveau zu
sein, Ihren Beitrag als niveaulos und vor allem als kenntnisarm bezeichnen.

(Renate Rennebach [SPD]: Bleiben Sie doch bei der „prawda"!)

Sie haben das Wort ergriffen, um mir zu erklären, daß die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik nicht von den Beitragszahlern bezahlt werden.

(Zurufe von der SPD)

— Das habe ich nicht gesagt.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das haben Sie gesagt!)

— Ich wiederhole: daß die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik nach Ihrem Antrag — ich lese es Ihnen auch noch einmal vor, wenn Sie wollen — von den Beitragszahlern aufgebracht werden,

(Günther Heyenn [SPD]: Aber bitte in zwei Minuten!)

und in schwierigen Zeiten auch die Steuerzahler hinzugebeten werden.

(Renate Rennebach [SPD]: Was meinen Sie, was wir in zehn Jahren zahlen, wenn Ihre Politik so weitergeht!)

„Die Beitragshöhe ist" — ich zitiere wörtlich —„grundsätzlich dem Finanzbedarf anzupassen, so daß keine Haushaltsdefizite entstehen." Das wollen Sie über Beiträge finanzieren?

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aber nicht die aktive Arbeitsmarktpolitik!)

— Ja, aber natürlich wollen Sie das. Darf ich einmal hören, wie Sie die Arbeitsmarktpolitik finanzieren wollen? Wie wollen Sie die Arbeitsmarktpolitik finanzieren?

(Zuruf des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD])

Herr Kollege Büttner, es gibt nur zwei Methoden, die Arbeitsmarktpolitik zu finanzieren. Die eine ist die über Beiträge, die andere die über Steuern. Sie sagen auf die Frage Beiträge nein und auf die Frage Steuern nein. Dann werden Sie vermutlich Geld drucken. Aber auf diesem Niveau bin ich nicht bereit, mit Ihnen zu reden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Putzen Sie doch mal Ihre Brille und lesen Sie genau!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214916200
Nun wollen wir in der normalen Rednerreihenfolge fortfahren. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer.

Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1214916300
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Wogen wieder glätten und dem Kollegen Warrikoff sagen: Der Kollege Hans Büttner ist sonst ein lieber, netter Kerl, außerhalb des Plenarsaals. Aber offensichtlich tut ihm das Plenum nicht gut.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Es tut mir sehr gut!)

— Na, ich weiß nicht so recht.



Dr. Peter Ramsauer
Ich möchte dem Kollegen Hans Büttner vor allem darauf hinweisen — das betrifft das Lesen des Antrags —, daß nicht von einer Ergänzung des Arbeitsförderungsgesetzes die Rede ist — so wie du das vorhin behauptet hast —, sondern ausdrücklich von einer Ablösung. Und ablösen heißt ersetzen, so wie man z. B., liebe Freunde von der SPD, einen Kanzlerkandidaten ablöst, also ersetzt. Ganz klar.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und wie man eine Regierung ablöst! — Günther Heyenn [SPD]: Und einen Kanzler!)

Mit dem Antrag auf Vorlage eines Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes verfolgt die SPD die zwar ehrenhafte Absicht, für das Arbeitsmarktgeschehen wirkungsvollere Instrumente und Mechanismen zu entwickeln. Ich räume auch ein, daß im einzelnen durchaus überlegenswerte Ansätze erkennbar sind.

(Günther Heyenn [SPD]: Die hat Herr Warrikoff nicht gefunden!)

Ich werde dies an einigen Beispielen darlegen.
Insgesamt erliegt die SPD mit ihren Vorschlägen jedoch der für sie so typischen Versuchung, einerseits in einer aufgeblähten Allzuständigkeit öffentlicher Hände die Lösung schwieriger, aber überwiegend wirtschaftspolitisch bedingter Probleme zu vermuten und andererseits das einseitige Anspruchsverhalten des einzelnen gegenüber diesen öffentlichen Händen immer weiter ins Absurde zu führen.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie beginnen Ihren Antrag mit der Feststellung, daß das Vollbeschäftigungsziel des AFG seit 1975 ständig verfehlt wurde. Sie hätten schreiben sollen: bis 1983; denn in der Tat hat die Bundesregierung unter Helmut Kohl nach dem Scheitern der SPD-Regierung auch auf dem Arbeitsmarkt einen Scherbenhaufen übernommen, der in den 80er Jahren zielstrebig und unter bewährter Anwendung des Arbeitsförderungsgesetzes aufgeräumt worden ist, um dann die Beschäftigung in Deutschland auf eine historische Rekordhöhe zu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der CDU/CSU)

— So ist es.
Nicht ohne Grund haben die Medien schließlich von einer Idealsituation gesprochen, nachdem auch die anderen drei Eckpfeiler des magischen Vierecks in hervorragender Weise in Zusammenhang gebracht worden sind: die Stabilität des Geldwerts, das Wirtschaftswachstum und auch der Außenhandel, von dem die SPD in ihren letzten Regierungsjahren nur hätte träumen können.

(Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich rede jetzt noch ganz kurz weiter; dann kann der Kollege Büttner das Gesagte auch noch in seine Zwischenfrage hineinpacken.
Der SPD-Antrag beklagt weiter, daß die Arbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der 80er Jahre nur — heißt es — um ca. 600 000 Personen abgenommen hat. Viel wesentlicher wäre übrigens der Hinweis gewesen, daß in dieser Zeit die Beschäftigung um 3 Millionen Arbeitsplätze zugenommen hat. Das lassen wir uns nicht zerreden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen wollte ich dem Kollegen Ostertag auch sagen: der Arbeitsmarkt war in guten Händen. Ich glaube, meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie diese Erfolge in Ihrer Regierungszeit gehabt hätten, hätten Sie überall im Lande Jubelfeiern abgehalten.
Jetzt die Zwischenfrage.

Hans Büttner (SPD):
Rede ID: ID1214916400
Herr Kollege Ramsauer, genau das ist ja das Problem einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik: daß es in Zeiten einer zehnjährigen Hochkonjunktur erstmals in der Geschichte dieses Landes und auch vergleichbarer Industrienationen die Politik eben nicht fertiggebracht hat, diese struktur- und personenbedingte Arbeitslosigkeit auf einer Rekordhöhe abzubauen, sondern es zugelassen hat, daß sie sich weiter verfestigt. Bei der nächsten Krise, die voraussehbar war, mußte das natürlich zur Massenarbeitslosigkeit in ungeheurem Ausmaße führen. Sind Sie bereit, zu akzeptieren, daß genau das eine Änderung von Arbeitsmarktpolitik erforderlich machen würde?

Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1214916500
Nein, lieber Hans Büttner, dazu bin ich nicht bereit; denn ich habe gesagt, um 3 Millionen Arbeitsplätze hat die Beschäftigung seit 1983 zugenommen. Eine hervorragende Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik ist hier betrieben worden. Lesen Sie bitte den SPD-Antrag noch einmal genau nach. Da ist schon aufgeführt, welche anderen intervenierenden Variablen dazugekommen sind, die ein noch stärkeres Absinken des Arbeitslosenbestandes verhindert haben.
Meine Damen und Herren, die heutige Arbeitsmarktsituation, gerade in den neuen Bundesländern, ist in keiner Weise mit der abgleitenden Entwicklung in den letzten Regierungsjahren von Bundeskanzler Schmidt zu vergleichen. Dies muß wohl auch die SPD in ihrem Antrag einräumen. Die geradezu revolutionäre Umwälzung der ehemaligen DDR-Wirtschaft mußte zwangsläufig zu einer zeitweiligen, wenn auch nach wie vor viel zu hohen Arbeitslosigkeit führen.
Zu Recht weist die SPD in ihrem Antrag aber auch darauf hin, daß demgegenüber auf Teilarbeitsmärkten in den neuen Ländern die Arbeitskräftenachfrage bereits nicht mehr zu decken ist und Fachkräftemangel herrscht.

(Regina Kolbe [SPD]: Was?)

Überhaupt kann man über den einen oder anderen Vorschlag der SPD durchaus reden, Frau Rennebach. Die Förderung von Projekten im öffentlichen Interesse, etwa im Umweltbereich, oder die Förderung kleinerer und mittlerer Betriebe und Existenzgründer mit Einarbeitungszuschüssen sind durchaus erwägenswerte Ansätze und waren zum Teil auch schon Gegenstand der 10. AFG-Novelle im letzten Jahr. Um so weniger verstehe ich es, daß sich die SPD letztes Jahr bei dieser Novelle so wenig kooperativ gezeigt hat. Für solche Verbesserungen brauchen wir aber kein völlig neues Gesetz.



Dr. Peter Ramsauer
Überlegenswert ist auch der Vorschlag, die Bundesanstalt für Arbeit umzugestalten und in die Bereiche Arbeitsvermittlung, Arbeitsmarktpolitik und den reinen Versicherungsbereich aufzuspalten. Das würde sicherlich zu mehr Flexibilität und Wirksamkeit und vielleicht tatsächlich auch zu einer gerechteren Verteilung der Lasten führen.
In diesem Zusammenhang liegt die SPD aber ein weiteres Mal hartnäckig und unbelehrbar falsch mit ihrer Behauptung, daß die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen die gesamtgesellschaftlichen Leistungen allein finanzieren. Ich möchte wissen, wie lange es noch dauert, bis sich auch bei der SPD die Erkenntnis durchsetzt, daß 50 % aller Sozialversicherungsbeiträge bis hinauf zur Bundesanstalt für Arbeit von Arbeitgeberseite zu bezahlen ist. Wenn das einmal erkannt würde, wäre das Märchen von der Gerechtigkeitslücke endlich erledigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, diese wenigen positiven Ansätze des Antrages können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihm ein Anspruch verliehen wird, dem er nie und nimmer gerecht werden kann. Tiefgreifende strukturelle Veränderungen etwa können auch durch einen noch so gutgemeinten SPDVorschlag nicht auf Dauer tragfähig aufgefangen werden. Daß heißt, ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz kann nie und nimmer ein Mammutreparaturprogramm für gescheiterte andere Politiken sein. Tiefgreifende wirtschaftspolitische Versäumnisse wie bei Kohle und Stahl können nicht durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz kompensiert werden.

(Beifall des Abg. Bernd Heim [PDS/Linke Liste])

— Klatschen Sie nicht zu früh; SPD-Landesminister und Ministerpräsidenten tragen da viel Schuld.
Die beste Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik ist deshalb eine solide und vorausschauende Wirtschaftspolitik. Sie kann im Strukturwandel durchaus schmerzhaft sein, ist aber langfristig erfolgreicher und letztlich das geringere Übel als die heute vielerorts spürbaren Folgen politisch verursachter Strukturverkrustungen. Ein Musterbeispiel für eine solche hervorragende, langfristig angelegte Politik ist der Freistaat Bayern.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

— Da haben Sie von der SPD gut lachen, weil Sie dort bei Ihren Wahlergebnissen natürlich ein historisches Tief nach dem anderen landen. Die Genossen tun mir langsam leid.

(Zurufe von der SPD)

— Regen Sie sich doch nicht so auf! Es ist doch alles gar nicht so schlimm.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214916600
Meine Damen und Herren, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Dr. Ramsauer das Wort hat und nicht Sie alle zusammen.

Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1214916700
Mein Damen und Herren, daneben müssen sich auch andere politische
Teilbereiche bewähren. Was nutzt etwa das Herumdoktem mit einem Arbeits- und Strukturförderungsgesetz, wenn vorher mit einer verpfuschten Bildungspolitik junge Menschen für den Arbeitsmarkt geradezu untauglich gemacht werden?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das Kind ist schon im Brunnen, wenn z. B., wie ich es jetzt in meinem ländlichen Wahlkreis erlebt habe, ein junger diplomierter Japanologe mit Selbstverständlichkeit einen sicheren Arbeitsplatz erwartet. Es kann doch wohl nicht der richtige Weg sein, wenn zuerst ein Zuviel an Hochschulabgängern am Arbeitsmarkt vorbei produziert wird und dann die Arbeitsmarktpolitik dafür herhalten muß, diese Leute für den Arbeitsmarkt wieder tauglich zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch die Umweltpolitik muß Augenmaß bewahren. Wenn sie Arbeitsplätze buchstäblich verjagt, können diese durch keine Arbeitsmarktpolitik mehr zurückgeholt werden, wie beispielsweise letztes Jahr in München passiert, als ein 18 ha großes ehemaliges Bundesbahngelände nur deshalb nicht zu einem Gewerbegebiet umgenutzt wurde, weil dort plötzlich eine 2 mm große Käferart, der sogenannte Ufersandzwergahlenläufer, entdeckt worden ist.
Schließlich kann auch kein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz gutmachen, was eine überzogene Tarifpolitik ohne Rücksicht darauf anrichten kann, was sich im näheren oder ferneren Ausland vollzieht. Man braucht gar nicht so weit zu gehen: Die Tarifpolitik von seiten der Gewerkschaften beim Metallstreit in den neuen Ländern — jawohl, Frau Kollegin Rennebach — vermag eben nicht zu erkennen, was wirtschaftlich leistbar ist.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214916800
Herr Dr. Ramsauer, die Abgeordnete Frau Weiler wollte eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.

Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1214916900
Sie sieht aus, als ob sie gehen wollte; aber gerne.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214917000
Bitte sehr.

Barbara Weiler (SPD):
Rede ID: ID1214917100
Nein, keine Sorge.
Herr Kollege Ramsauer, sollen wir Ihre Ausführungen zu dem Japanologen als Plädoyer verstehen, daß Sie gegen die freie Berufs- und Ausbildungswahl sind?

(Julius Louven [CDU/CSU]: Du lieber Gott!)


Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1214917200
Frau Weiler, ganz und gar nicht. Da gerade so viele junge Menschen auf der Besuchertribüne sitzen — das begrüße ich außerordentlich —, möchte ich die Gelegenheit nutzen, jeder jungen Studentin und jedem jungen Studenten zuzurufen, sich ihr Berufsziel ganz genau und kühl zu überlegen.

(Regina Kolbe [SPD]: Sie haben doch eben kritisiert, daß dafür ausgebildet wird!)




Dr. Peter Ramsauer
— Ich betrachte die Frage damit als beantwortet.
Aus all diesen Gründen liegt der SPD-Entwurf verkehrt — hören Sie genau zu; ich komme jetzt auf Ihren Antrag zurück —, wenn er Arbeits- und Strukturförderung zum wesentlichen Instrument einer Vollbeschäftigungspolitik hochstilisiert. Damit wird ein ideologischer Grundzug dieses Gesetzentwurfs deutlich: eine Totalisierung des Sozialstaats, die ordnungspolitisch auf gar keinen Fall hingenommen werden kann. Ich meine etwa die Einbindung in Scheinbeschäftigungen und Maßnahmenkreisläufe.
Das Recht auf Arbeit soll in dem geforderten Gesetzentwurf erstmals, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, zu einem individuellen Recht ausgebaut werden, nämlich zu dem Recht auf eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Diese soll wenigstens so lange dauern, bis der Teilnehmer wieder einen Anspruch auf die Leistungen nach dem ASFG erwirbt, womit der Versorgungskreislauf geschlossen wäre: sozusagen von einer Versorgung in die nächste.
Sie von der SPD sagen, damit könne man das Recht auf Arbeit zumindest insoweit verwirklichen, als keiner auf Dauer vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wird. Ich sage: Wir würden damit die gleiche Art von Scheinbeschäftigung einführen wie in unglückseliger DDR-Vergangenheit. Im übrigen wäre hier zu fragen, wie Sie es von der SPD angesichts dieses neuen Rechts auf Arbeit eigentlich mit der daraus wohl zwangsläufig folgenden Pflicht zur Arbeitsaufnahme halten. Davon haben Sie nichts gesagt.
Meine Damen und Herren, geradezu ins Kraut schießt der Antrag schließlich mit den Vorschlägen, sogenannte soziale Betriebe einzurichten und letztlich eine ganze Trägerlandschaft mit Projektträgern aufzubauen.
In das Konzept paßt auch noch der Vorschlag, die Arbeitslosenhilfe künftig auf unbegrenzte Dauer zu zahlen und aus Bundesmitteln eine neu einzuführende soziale Grundsicherung zu finanzieren.
Eine Arbeitsmarktpolitik mit solchem ideologischen Strickmuster ist für mich weder vertretbar noch nachvollziehbar. Sie kann die grundlegenden Probleme nicht lösen. Mit einer Totalisierung des Sozialstaats läßt sich keine wirkliche Vollbeschäftigung erreichen.
Wenn wir den Antrag heute an die Ausschüsse überweisen, schlage ich deshalb vor, daß wir in den Beratungen die von mir skizzierten durchaus — wenn auch leider wenigen — positiven Elemente herausgreifen und gegebenenfalls bei einer weiteren AFG-Novelle berücksichtigen, bei der sich die SPD dann kooperativer als in der Vergangenheit beteiligen kann. Wir brauchen kein neues Gesetz

(Julius Louven [CDU/CSU]: Jetzt geht Frau Weiler wirklich!)

— jetzt geht sie wirklich; ich wollte Sie nicht verjagen —; das AFG hat sich im Prinzip hervorragend bewährt, auch in diesen schwierigen Zeiten.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214917300
Als letztern Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1214917400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Ramsauer, das war locker, das war jovial. Aber Ihre Rede war geprägt von einer abgrundtiefen sozialen Kälte. Ich finde es ganz schlimm, daß das bei einer solchen Problematik in dieser Form in diesem Haus so geäußert werden kann.
Zur Sache: Das Vorhaben der SPD ist rundheraus zu unterstützen. Die derzeitige Krise, der Zusammenbruch der Industrie im Osten und längerfristige, zum Teil säkulare Entwicklungen wie der Einsatz neuer Technologien haben die Arbeitslosigkeit im wiedervereinigten Deutschland auf eine vor wenigen Jahren noch unvorstellbare Höhe schnellen lassen. Inzwischen sind im Grunde über 7 Millionen Menschen in Deutschland, Herr Raumsauer, ohne Arbeit oder in AB-Maßnahmen, Umschulungsmaßnahmen oder ähnlichem. Deutschland liegt in Europa, was die Arbeitslosigkeit betrifft, inzwischen mit an der Spitze. Die beiden anderen großen führenden Industrieländer der Triade, die USA und Japan, haben eine erheblich niedrigere Arbeitslosigkeitsquote als Deutschland.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Was haben die für Löhne?)

Die Sockelarbeitslosigkeit, d. h. die statistisch erfaßbare Dauerarbeitslosigkeit, droht auf 3 Millionen und mehr zu steigen. Die Arbeitslosigkeit, die Pest des 20. Jahrhunderts, die bereits einmal dieses Land in eine verheerende politische Krise hat treiben lassen, vergiftet das Leben von immer mehr Menschen. Zirka 25 Millionen Menschen sind in Deutschland derzeit direkt oder indirekt von Arbeitslosigkeit betroffen. Diese Pest des 20. Jahrhunderts vergiftet zunehmend das gesellschaftliche und politische Leben. Sie belastet uns heute, und sie belastet morgen noch mehr die Generation nach uns.
Der davon ausgehende Problemdruck macht in der Arbeitsmarktpolitik das berühmte Klotzen statt des von dieser Bundesregierung gewohnten Kleckerns notwendig. Auch insofern entspricht der vorliegende Antrag dem heutigen Problemdruck.
Ich möchte aber auf ein paar weiterführende Aspekte kommen. Auf lange Sicht brauchen wir jedoch erheblich mehr; denn der Umbruch im Beschäftigungssystem und am Arbeitsmarkt geht insbesondere mit neuen Technologien weiter. Wir brauchen auf lange Sicht Ansätze einer neuen Arbeitspolitik, die Arbeitszeitverkürzungen, Veränderungen an den Arbeitsplätzen und in der Arbeitszeit mit einer menschenwürdigen Versorgung von arbeitslosen Menschen — denn sie wird es auch dann geben — kombiniert.
Dazu gehört eine Arbeitszeitpolitik, die neben den üblichen Arbeitszeitverkürzungsformen wie kürzere wöchentliche Arbeitszeit und frühzeitigeres Ausscheiden aus dem Arbeitsleben so etwas wie Arbeitszeitverkürzungen in der Arbeitszeit vorsieht. Das heißt, ein immer größerer Teil der zukünftig abgebauten notwendigen Arbeitszeit ist im Arbeitsprozeß



Dr. Ulrich Briefs
anders zu verwenden: für Weiterbildung, für Druckabbau und Maßnahmen der Entintensivierung, insbesondere aber für demokratische Mitbestimmung am Arbeitsplatz und im Betrieb.
Vergessen wir nicht: Nicht einmal die Hälfte der Arbeiter und auch nur zwei Drittel der Angestellten erreichen das normale Rentenalter im Betrieb. Sie sind vorher ausgelaugt, verschlissen, verbraucht, kaputtgemacht. Die berühmten Managerkrankheiten, HerzKreislauf-Erkrankungen und Magengeschwüre, sind bei Produktionsarbeitern, insbesondere bei Schicht- und Nachtarbeitern, weitaus häufiger als bei Managern.
Diese Arbeitszeitverkürzung in der Arbeitszeit, diese Form der Humanisierung der Arbeit, in Ansätzen inzwischen von den Gewerkschaften aufgegriffen und in die Tarifpolitik aufgenommen, ist eine der deutlich vorwärtsweisenden Richtungen der Arbeitspolitik von morgen. Sie führt allerdings in eine Richtung, die die Herrschenden in den Betrieben und in der Gesellschaft, natürlich insbesondere die Rechten in diesem Haus nicht wollen, nicht wollen können. Sie führt zur Mit- und Selbstbestimmung der abhängig Beschäftigten am Arbeitsplatz, im Betrieb. Sie führt zur wirklichen Infragestellung von Hierarchie und der nach wie vor militärähnlichen Disziplin in den Betrieben. Sie führt zur Emanzipation von jahrhundertealter Unterdrückung, Abhängigkeit und Entfremdung. Sie kann dazu beitragen, daß der demokratische Sektor dieser Gesellschaft nicht weiterhin vor den Werktoren endet.
Dennoch, auch damit wird Arbeitslosigkeit nicht zum Verschwinden gebracht werden können. Für die vielen Menschen, die auch in der Zukunft arbeitslos sein werden, muß daher eine allgemeine Grundsicherung, ein Gundeinkommen eingeführt werden. Sage niemand, das überfordere unser Wirtschaftssystem. Eine Grundsicherung auf dem Niveau von 1 600 DM pro Kopf und Monat für jeden und jede — und das im Umfang von 25 % der deutschen Bevölkerung; das wären 20 Millionen Menschen — kostet beim derzeitigen Stand des Bruttosozialprodukts ca. 12 % des Bruttosozialprodukts. Das ist viel, aber es ist zugleich dennoch nur ein kleinerer Teil des Reichtums, der der Wirtschaft aus der laufenden Wirtschaftstätigkeit jährlich zuwächst.
Diese Gesellschaft ist also produktiv und reich genug, um eine menschlichere Produktion und zugleich eine voll der Würde des Menschen entsprechende Sicherung der auch dann noch Arbeitslosen zu erlauben.
Diese Strategie der Umverteilung von Arbeit und Reichtum in dieser Gesellschaft nimmt zugleich einen Großteil des Drucks zu immer mehr Produktion um der Produktion willen weg und ist deshalb auch ökologisch ausgesprochen sinnvoll. Was fehlt, ist der politische Wille, sich von den Zwangsmechanismen des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftssystems zu lösen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214917500
Herr Dr. Briefs, ich bitte Sie, auf das rote Licht zu schauen.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1214917600
Herr Präsident, ich bin bei meinem letzten Halbsatz.
Was fehlt, Herr Präsident, ist der politische Wille, sich von den Zwangsmechanismen des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftssystems zu lösen im Interesse der arbeitenden und der arbeitslosen Menschen und im Interesse gerade auch des Überlebens auf diesem Planeten.
Herr Präsident, ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214917700
Meine Damen und Herren, damit Sie diese angeregte Diskussion im Ausschuß fortsetzen können, empfiehlt Ihnen der Ältestenrat die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4294 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr (Tarifaufhebungsgesetz — TAufhG)

— Drucksachen 12/3701, 12/4231 — (Erste Beratung 120. und 143. Situng)

a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß)

— Drucksache 12/4595 —
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rolf Niese
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/4596 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Waltemathe Wilfried Bohlsen
Werner Zywietz
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Dreiviertelstunde vor. —Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile dem Abgeordneten Helmut Rode das Wort.

Helmut Rode (CDU):
Rede ID: ID1214917800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. haben dieses Tarifaufhebungsgesetz eingebracht. Der Verkehrsausschuß hat sich in mehreren Sitzungen sehr engagiert um die Einzelheiten und um die Inhalte gekümmert und die vorliegende Fassung einstimmig beschlossen.
Es geht dabei um die schrittweise Anpassung der nationalen Verkehrsmarktordnung an entsprechende EG-Regelungen. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Tarife beim nationalen Binnenschiffs-, Eisenbahn- und Straßengüterverkehr aufzuheben.
Weiterer Inhalt ist die Umwandlung der BAG in eine Bundesoberbehörde als wirksames Kontrollinstrument zur Beobachtung des Marktes, der Zuverlässig-



Helmut Rode (Wietzen)

keit der Unternehmen, der sicherheits- und umweltrelevanten Vorschriften, der Lenk- und Ruhezeiten des Fahrpersonals und auch besonders der Beförderung gefährlicher Güter.
Dazu wird ausdrücklich festgelegt, das neue Bundesamt für Güterverkehr solle die Entwickung des Verkehrsmarktes beobachten um — wie es wörtlich heißt — „die Funktionsfähigkeit des mittelständisch strukturierten Verkehrsmarktes zu erhalten, ruinöse Konkurrenz mit dauerhaften Dumping-Frachten zu vermeiden und Ansätze zu struktureller Überkapazität rechtzeitig zu erkennen". Als Begründung werden nicht auszuschließende Marktverwerfungen infolge dieses Tarifaufhebungsgesetzes genannt, denen es vorzubeugen gelte.
Hierzu ein Beispiel: Wenn der Bundesrat fordert, es dürfe auf nachfrageschwachen Strecken und in verkehrsfernen Regionen nicht zu Preissteigerungen kommen und solchen negativen Auswirkungen müsse im Interesse gleichartiger Lebensbedingungen entgegengewirkt werden, dann nehmen wir diese Sorge sehr ernst, obwohl die Bundesregierung recht hat, wenn sie entgegnet, das würde wahrscheinlich nicht passieren. Dennoch ist dies ein gutes Beispiel, wie Marktbeobachtung der BAG greifen soll, damit keine Nachteile im gesamten Wirtschaftsgefüge, besonders aber nicht im ländlichen Raum passieren.
In außergewöhnlich scharfer Form wird in der Beschlußvorlage angeprangert, daß trotz der Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag im Ministerrat kein Fortschritt bei der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im Straßengüterverkehr erreicht wurde. Dieser vertragswidrige Zustand — wie ich es nenne —, der das deutsche Gewerbe in seiner Existenz bedroht, muß schnellstmöglich beseitigt werden.
Dann fordert der Ausschuß eindringlich, daß im Hinblick auf die vielen Lastwagen europäischer Nachbarstaaten, die deutsches Gebiet befahren, die gleichen konsequenten Sicherheits- und Umweltstandards einzurichten und zu kontrollieren seien. Und dazu müsse ein einheitlicher europäischer Bußgeldrahmen eingeführt und auch angewendet werden. Der Vollzug sei gegebenenfalls durch Klage vor dem Europäischen Gerichtshof durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Sorge der CDU/CSU-Fraktion über die marktverdrägenden Wettbewerbsverzerrungen, die Benachteiligung deutscher Unternehmen, über den dramatischen Preisverfall und über die rapide Zunahme der Leerfahrten, besonders im internationalen Verkehr, ist berechtigt. Dennoch bekennt sich meine Fraktion zur Vereinheitlichung und Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes. Dieser Beschluß zur Aufhebung der Tarife nun auch im nationalen Bereich versteht sich als eine Vorleistung zur hoffentlich alsbald kommenden europäischen Fiskalharmonisierung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bitte um Nachsicht, wenn ich das Wort Lkw öfter in den Mund nehme als das Wort Binnenschiff oder Bahn. Natürlich geht es um die Tarifaufhebung bei allen Verkehrsträgern, aber der Güterverkehr auf der Straße steht weithin besonders im Rampenlicht des Geschehens. Auch will ich der morgigen Debatte über die Bahnreform nicht vorgreifen. Ich habe mich allerdings schon gefragt, vielleicht wäre ich doch besser Eigner eines schönen Binnenschiffes geworden als nur „Kapitän der Landstraße" und könnte mir dieses Wasserwerk und den Langen Eugen von der Wasserseite aus ansehen. Vielleicht wäre dann etwas ganz anderes aus mir geworden.

(Heiterkeit)

Auch ich sehe dieses Gesetz als Vorleistung an, der auf europäischer Ebene weitere Harmonsierungsschritte folgen müssen. Notfalls sollte vor dem Europäischen Gerichtshof eine Untätigkeitsklage gegen den Ministerrat erhoben werden, wenn dieser es in geradezu fahrlässiger Weise unterläßt, entgegen seinen seit dem Jahre 1985 vielfach dokumentierten Beteuerungen, parallel zur Liberalisierung der Märkte auch die Wettbewerbsbedingungen zu harmonisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ministerrat und Kommission sind gefordert, dem unerträglichen Egoismus einzelner Mitgliedstaaten Grenzen zu setzen, damit der Gemeinsame Markt keine Illusion bleibt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Auf das deutsche Güterverkehrsgewerbe kommen mit diesem Gesetz tiefgreifende Auswirkungen zu. 1919 hatte der Staat noch Verordnungen von Kraftfahrzeuglinien zum Schutz von Eisenbahn und Reichspost erlassen. 1931 wurden z. B. die Notverordnung „Überlandverkehr mit Kraftfahrzeugen" und die Konzessionierung für alle entgeltlichen Beförderungen über die Entfernung von 50 km und der sogenannte „Reichskraftwagentarif" als verbindlich kontrollierte Preisvorschrift eingeführt.
Das wird nun alles geändert nach 60 Jahren. Es ist zu verstehen, wenn das Gewerbe seinen Unmut zeigt und sich einem scheinbaren unüberwindbaren Berg von zukünftigen Problemen ausgesetzt sieht, besonders wenn es auch noch bei den derzeitigen Wettbewerbsverzerrungen bleiben sollte.
Ich will ganz offen meine persönliche Einschätzung wagen und geben. Tarifaufhebung heißt ja nicht, daß wir unsere Fuhrleute und Binnenschiffer nicht mehr benötigen und die deutschen Fahrzeuge aus der Wirtschaft verbannen wollen. Ich bin von der Leistungsfähigkeit unseres Güterverkehrsgewerbes überzeugt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bei gleichen Bedingungen sind die Inhalte der Sozialen Marktwirtschaft auch eine Chance für das Gewerbe. Ich behaupte, daß Flexibilität, Wettbewerb, Leistungsbereitschaft, Kreativität, Rationalisierung und Logistik alles Trümpfe sind, mit denen unsere Unternehmer gut umgehen können. Schließlich sind im Gesetz Barrieren eingebaut, um die Leistungsfähigkeit des Verkehrsgewerbes zu erhalten und einen drohenden ruinösen Wettbewerb, wie z. B. in Frankreich, zu verhindern.



Helmut Rode (Wietzen)

Wir müssen auch die Besonderheiten des Verkehrsmarktes bedenken. Die Leistungen von Lkw und Binnenschiff sind nicht speicherbar. Die Forderungen der verladenden Wirtschaft führen leichthin zur Unpaarigkeit der Verkehrsströme, und sie führen damit zu Leerfahrten. Wir werden auch damit rechnen müssen, daß zur Vermeidung von Leerfahrten und bei fallenden Gewinnmargen der Lkw der Bahn Transporte wegnehmen wird. Die Tarifaufhebung wird diese Entwicklung beschleunigen und einer sinnvollen Aufgabenteilung der Verkehrsträger entgegenwirken. Leider, sage ich dazu.
Anders aber als in der weiteren Wirtschaft führt im Gütertransport mehr Wettbewerb nicht zu mehr Wachstum. Wir wissen, daß bisher unser Gewerbe im Hinblick auf die Einhaltung der geforderten Standards einsame Spitze in Europa ist. Das alles können wir nicht in Frage stellen. Auch sollten unsere Unternehmen wegen der bekannten Wettbewerbsverzerrungen nicht ausflaggen müssen.
Fast möchte man fragen: Warum dann diese Tarifaufhebung? Zum einen hat im Mai 1985 der Europäische Gerichtshof den Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft wegen Untätigkeit in Sachen Liberalisierung des Verkehrs verurteilt. Dann steht die Klage eines deutschen Spediteurs an, der die „internationale Freiheit" sofort auch im nationalen Bereich haben möchte.
Das ist Grund genug für uns, hier tätig zu werden und dem Gewerbe wenigstens durch unsere Aktivitäten eine Übergangsfrist bis 1994 zu verschaffen. Schließlich ist dieses Gesetz schlicht und einfach eine der vielen Auswirkungen des Zusammenschlusses der verschiedenen europäischen Staaten, die mit Mehrheit volle Dienstleistungsfreiheit und den freien Strom von Warenlieferungen in ganz Europa beschlossen haben.
Meine Damen und Herren, wir brauchen gerade im Transitland Bundesrepublik Deutschland ein leistungsfähiges Transportgewerbe. Jedes Aufblühen von Wirtschaft und die Belebung der wirtschaftlichen Kräfte ist ohne eine leistungsfähige Verkehrswirtschaft nicht denkbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Entwicklungsstand der Gesellschaft, die Lebensbedingungen sowie die Chancen der Bürger und auch der Betriebe stehen im gleichen engen Zusammenhang.
Man wird auch bei einem solchen Gesetz, welches eine jahrzehntelang geübte und vom Staat vorgeschriebene Praxis ändert, daran erinnern dürfen, wie sehr der Lkw zu Notzeiten oftmals einziger rettender Strohhalm war. Ich erinnere mich, daß die 50-km-Zone für Wochen aufgehoben wurde, als es darum ging, in einem schlimmen Winter jede Menge Koks und Kohle aus dem Ruhrgebiet zu holen. Da wurde Jagd gemacht auf jeden Tankwagen, der bei zugefrorenen Kanälen Tag und Nacht Mineralöle transportierte.
Es zeigte sich z. B. bei der Wiedervereinigung, daß der gut ausgerüstete Lkw schnell und flexibel helfen konnte. Das alles sollten wir nicht einfach so vergessen. Wir dürfen uns dieses Faustpfand für Zeiten der
Not in diesem oder jenem Bereich nicht nehmen lassen.
Ich denke auch, daß die Marktbeobachtung, daß die BAG, daß die eingebrachten Barrieren helfen werden, daß dort nichts Schlimmes geschieht. Deshalb ist es eben die wichtigste Aufgabe des Bundesamtes, über die Marktbeobachtungssysteme die Steuerung und Beeinflussung verkehrspolitischer, sicherheitsrelevanter und umweltpolitischer Ziele zu ermöglichen. Wörtlich heißt es in der Begründung zum Gesetzestext:
Die Früherkennung und Abwehr von Fehlentwicklungen ist insbesondere notwendig wegen der begrenzten Infrastruktur.
Dinge, wie „just in time" machen auch mir viel Kummer. Nur das Wissen, daß die Schiene den Lkw von der Kapazität her zur Zeit noch nicht und technisch und ökonomisch auch sonst nicht überall ersetzen kann, ließen uns immer wieder den besonderen Akzent auf die Einhaltung der von uns und von den mitberatenden Ausschüssen geforderten Sicherheits- und Umweltverträglichkeitsstandards setzen. Zum Beispiel sagten wir: Das umweltbewußte Transportmittel darf in unserer Wirtschaft kein Stiefkind sein.
Besondere Aufmerksamkeit schenkte der Ausschuß den Fehlentwicklungen in den USA und Frankreich, die durch überzogene Liberalisierung entstanden waren. Frankreich hat die Wiedereinführung marktordnender Maßnahmen mit einem Gesetz bereits zu Anfang 1993 eingeleitet.
Aus der Sorge, daß wichtige Umwelt- und Sicherheitsstandards wegfallen könnten, enthält der Gesetzestext einen Passus, der den funktionsfähigen Wettbewerb sichern soll. Ruinöse Konkurrenz und Monopolisierung sollen gleichermaßen verhindert werden.
Es wäre schlimm, meine Damen und Herren, wenn wir bei Bundesbahn und Verkehrsgewerbe alsbald finanziell nachbessern müssen, weil durch überzogene Deregulierung der Verkehrswirtschaft hier ein neuer großer Subventionstopf geöffnet werden muß, wie es allerdings im italienischen Kraftverkehr schon gang und gäbe ist.
Meine Damen und Herren, mit dem Ende der Tarifbindung im Transportgewerbe erbringt die Bundesrepublik eine Vorleistung zur Deregulierung auf dem europäischen Verkehrssektor, ohne daß die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen auf EG-Ebene vorangekommen wäre. Bisher bauten wir Europa ziemlich hehr und selbstlos ganz oben hoch in den Wolken. Oftmals lachten sich unsere Nachbarn eins ins Fäustchen und machten weiter unten im mittelständischen Bereich — wie wir bei uns sagen würden: dort, wo die Musik spielt — das Geschäft.
Da kann ich z. B. auf die Erklärung des holländischen Forschungsinstituts NEA hinweisen. Dort hat man errechnet, daß bei der Einführung von Tempobegrenzern an Lkw die tradtionsgemäß besonders in Deutschland schnell fahrenden Holländer und Belgier gegenüber den stark von Prüf- und Kontrollstandards in Schach gehaltenen Deutschen mit erheblich erhöhten Lohnkosten rechnen müßten. Das würde bei



Helmut Rode (Wietzen)

Einhalten von 80 Stundenkilometern etwa 10 % Steigerung bei den Fahrzeiten und Sozialkosten ausmachen. Meine Damen und Herren, das würde doch bedeuten, daß sich die Nachbarn durch das Nichteinhalten der Sozialvorschriften und durch Vernachlässigung der unerläßlichen Standards Kostenvorteile erschleichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich freue mich deshalb darüber, daß viele Kollegen von den Umwelt- und Sicherheitsstandards des deutschen Lkw überzeugt sind und deutlich sagen: Wir wollen Lkw mit schlechteren Standards auf unseren Straßen dann nicht auch noch finanziell subventionieren.
Ich bin für eine europäische Kraftfahrzeugsteuer auf hohem Niveau. Wenn allerdings eine europäische Lösung ausbleibt, dann muß die von der Koalition in Drucksache 12/2281 geforderte Herabsetzung der Kraftfahrzeugsteuer für den deutschen Lkw auf nationaler Ebene kommen.
Wir werden auch damit rechnen müssen, daß die Ungleichheiten in einem Europa ohne Grenzen, die hauptsächlich zu Lasten des deutschen Gewerbes und des deutschen Autofahrers gehen, dem Europagedanken Schaden zufügen können. Eine Erhöhung der Mineralölsteuer lediglich in der Bundesrepublik würde z. B. von vielen Menschen als weitere einseitige Subvention ausländischer Fahrzeuge gesehen werden. Dabei finde ich die Formulierung „ausländischer Lkw" unpassend. Ich will den europäischen Lkw zu gleichen Standards.
Meine Damen und Herren, mein Schlußgedanke: Verkehrsminister Günther Krause hat den Boden für eine Annäherung der diffizilen Standpunkte auf Ministerebene gut beackert. Nun scheint mir der Zeitpunkt gekommen, daß die entscheidende Streckenführung zur Fiskalharmonisierung und zur Beseitigung weiterer Verzerrungen zum persönlichen Anliegen des Bundeskanzlers werden muß. Ich erinnere an seine Zusage vom März 1987, „daß mit der Liberalisierung des Binnenmarktes Zug um Zug auch die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen einhergehen müsse".
Ich habe mich gefreut, daß der Herr Bundeskanzler heute in seiner Regierungserklärung gesagt hat, daß sich der Transitverkehr durch unser Land an den von ihm verursachten Wegekosten der Autobahn beteiligen müsse. Es müßten die Wettbewerbsverzerrungen beseitigt werden. Er halte es nicht für hinnehmbar, daß in den Niederlanden nur 3 370 DM Kraftfahrzeugsteuern,

(Zuruf von der SPD: Und was tut er auf EG-Ebene dagegen?)

bei uns dagegen 10 500 DM gezahlt würden.

(Zuruf von der SPD: Wie oft haben Sie das schon gesagt?)

— Das war die Wahrheit, und diesen Feststellungen stimme ich vorbehaltlos zu. Angesichts dieser Aussage und angesichts der Marktverzerrungen und des Ausflaggens deutscher Unternehmen, die große Steuerausfälle nach sich ziehen werden, ist der Bundeskanzler gefordert, dieses Thema mit nach Kopenhagen zu nehmen und dort zu einem erfolgreichen Abschluß zu führen,

(Zuruf von der SPD: Das haben wir schon vor Edinburgh gesagt!)

wozu ich ihm sehr viel Glück wünsche.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214917900
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Rolf Niese das Wort.

Dr. Rolf Niese (SPD):
Rede ID: ID1214918000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Tarifaufhebungsgesetz zustimmen.
Die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes ab 1993 führt im Verkehrsbereich bei der Beförderung zwischen den Mitgliedstaaten zur Aufhebung der mengenmäßigen Begrenzung, nachdem verbindliche Beförderungstarife bereits 1990 aufgehoben wurden. Vor dem Europäischen Gerichtshof findet zur Zeit ein Verfahren mit dem Ziel statt, festzustellen, ob das deutsche Tarifrecht mit europäischem Recht vereinbar ist. Von den Experten wird die Unvereinbarkeitsfeststellung erwartet.
Aus diesem Grunde macht es Sinn, da wohl eh politischer Handlungsbedarf für das deutsche Parlament entsteht, schon jetzt über die Tarifaufhebung zu entscheiden, die dann zum 1. Januar 1994 in Kraft treten soll.
Dennoch setzen hier meine Kritik und auch meine Besorgnis an. Ein weiterer Schritt der Liberalisierung wird unternommen, aber in Richtung Harmonisierung wird kein wesentlicher Schritt voran gemacht, es sei denn, man hält z. B. die technische Richtlinie, wonach die Ausrichtung eines Nebelschlußlichtes nach hinten zu erfolgen hat — wohin denn sonst, frage ich mich —,

(Heiterkeit)

bereits für einen grandiosen Harmonisierungsfortschritt.

(Beifall im ganzen Hause)

So ist es — und jetzt muß ich wirklich auf mein Manuskript gucken — nachzulesen im Vorschlag der EG-Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften über Zugmaschinen auf Rädern

(Heiterkeit)

im Abschnitt über den Anbau von Beleuchtungs- und Lichtsignaleinrichtungen bei der Betriebserlaubnis von Zugmaschinen. Diese Richtlinie ist 450 Seiten stark. Ich erwarte ja als nächsten Vorschlag der Harmonisierung, daß die technischen Ausmaße der Mittelschraube an der Vorderkante der Hinterachse vereinheitlicht werden.

(Beifall bei der SPD)

Nein — um wieder ernsthaft zu werden —, als Hauptproblem stellt sich heraus, daß es in der Europäischen Gemeinschaft keine gerechte und sachgerechte, alle Güterverkehrsunternehmen gleich treffende Anlastung der Wegekosten gibt. Auch der



Dr. Rolf Niese
Verkehrsministerrat hat sich am 15. März 1993 wieder ohne Ergebnis vertagt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Skandal!)

Die Wettbewerbsverzerrungen zuungunsten des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes sind mittlerweile existenzbedrohend. Hier bahnt sich eine sogenannte Ausflaggungswelle dadurch an, daß deutsche Unternehmer ihren Betriebssitz ins europäische Ausland verlagern. Zu befürchten ist ein Beschäftigungseinbruch größeren Ausmaßes, und das in mittelständischen Betrieben. Das ist das Besorgniserregende daran.

(Zustimmung bei der SPD und der CDU/ CSU)

Wenn es nun unserem Verkehrsminister wieder und wieder nicht gelingt, auf europäischer Ebene die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen voranzubringen und den Widerstand vor allen Dingen der Holländer zu brechen, so muß der Bundeskanzler endlich seiner Verantwortung gerecht werden, die Angelegenheit zur Chefsache machen

(Zuruf von der CDU/CSU: Das macht er ständig!)

und auf dem nächsten Europagipfel zur Sprache bringen.

(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)

Der Kanzler steht im übrigen auch beim Bundesverband des Deutschen Güterfernverkehrs und seinem Präsidenten Klemens Weber im Wort, und dies bereits seit 1986, denn damals — im August — hat Kohl in einem Brief an Klemens Weber geschrieben:
Zugleich möchte ich Ihnen erneut versichern, daß für mich ein fester Zusammenhang zwischen der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen und der Schaffung eines europäischen Verkehrsmarktes besteht. Gemeinsam mit dem Bundesverkehrsminister gehe ich davon aus, daß nach den Beschlüssen des EG-Verkehrsministerrats vom 14. November 1985 und vom 30. Juni 1986 die Verwirklichung des gemeinsamen Verkehrsmarktes und der Abbau der Wettbewerbsverzerrungen Hand in Hand gehen müssen. Der Übergang in einen europäischen Verkehrsmarkt ist von einer Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen abhängig.

(Elke Ferner [SPD]: Und was hat er getan?)

Ich bin der Meinung, der Kanzler darf jetzt das Problem nicht weiter vor sich herschieben,

(Zuruf von der SPD: Nicht aussitzen!) sondern muß endlich handeln!


(Beifall bei der SPD)

Die Lkws von Güterverkehrsbetrieben aus anderen EG-Ländern können mit dem Fassungsvermögen ihrer Tanks mittlerweile über 3 000 Kilometer zurücklegen und benutzen daher die deutschen Straßen und Autobahnen im Gegensatz zu den inländischen Lkws zum Nulltarif. Der deutsche Steuerzahler subventioniert jede Fahrt eines ausländischen Lkws — im Durchschnitt gerechnet — mit 180 DM. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Ziel, in Deutschland mehr Gütertransporte von der Straße auf die Schiene zu verlagern, um den drohenden Verkehrsinfakt zu vermeiden und die ökologische Belastung zu verringern, nicht erreichbar.
Aber nicht nur die fortbestehenden Wettbewerbsnachteile des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes in der Europäischen Gemeinschaft geben zu Kritik Anlaß, sondern auch die Wettbewerbsungleichheit zwischen den Verkehrsträgern auf dem deutschen Verkehrsmarkt.

(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)

Es gibt keine sachgerechte Anlastung der Wegekosten inklusive der sogenannten externen Kosten. Es gibt keine rechtliche Gleichstellung von Straße und Schiene. Wir haben ein Bundesfernstraßenausbaugesetz; wir haben kein Schienewegeausbaugesetz.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir jetzt!)

— Ja, jetzt. Machen Sie es auch! Halten Sie Ihre Zusage ein! Wir kommen ja zum Schwur.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Machen wir!)

Es gibt keine entschiedene Förderung des kombinierten Verkehrs. Sie haben in den letzten Jahren bei den Haushaltsberatungen unsere entsprechenden Anträge zur Aufstockung der Fördermittel für den kombinierten Verkehr kontinuierlich abgelehnt.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Wir haben zum erstenmal Zweckbindung gemacht!)

Wir müssen endlich zu einer nach ökonomischen und ökologischen Kriterien entwickelten Aufgabenteilung bei der Güterbeförderung zwischen den Verkehrsträgern Straße, Schiene, Wasser und Luft kommen. Wenn die Koalition hier nicht bald ihre Verzögerungspolitik aufgibt, werden wir den Verkehrskollaps unabwendbar machen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, werden dann aber auch die politische Verantwortung dafür tragen müssen.

(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)

In diesem Zusammenhang ist die dramatisch steigende Zahl von Lkw-Leerfahrten von Bedeutung. Kollege Rode ist bereits ein wenig darauf eingegangen. Hierdurch werden — das ist eigentlich das Entscheidende — neben der Umweltbelastung, die hervorgerufen wird, vorhandene Kapazitäten unserer Verkehrsinfrastruktur vergeudet. Aber die Bundesregierung sieht hierin anscheinend überhaupt kein Problem, denn der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme ja darum gebeten, daß die Bundesregierung im weiteren Gesetzgebungsverfahren die Auswirkungen auf die Umwelt darzulegen hat. Die Bundesregierung stellt dazu in ihrer Gegenäußerung fest: Das Gesetz wird nicht zu negativen Auswirkungen auf die Umwelt führen.

(Elke Ferner [SPD]: Prima!)

Zur Begründung wird als entscheidender Punkt angeführt — ich zitiere —:
Im Verlauf der bisherigen schrittweisen Deregulierung im grenzüberschreitenden Verkehr ist der



Dr. Rolf Niese
Anteil der Leereinfahrten in die Bundesrepublik an der Gesamtzahl der Einfahrten seit 1987 von 34,2 % auf 32,2 % gesunken.

(Elke Ferner [SPD]: Ein toller Erfolg!)

Da sagt sich natürlich jeder: Er hat abgenommen. Aber diese Aussage ist natürlich nichtssagend, ja, ich sage sogar, irreführend,

(Zuruf von der SPD: So ist es! — Zuruf von der CDU/CSU: Kann man auch nicht sagen!)

wenn nicht gleichzeitig die Entwicklung der absoluten Zahlen der Gesamteinfahrten dargestellt wird. Selbst bei sinkendem prozentualen Anteil der Leerfahrten kann nämlich die absolute Zahl steigen, und das ist entscheidend für die Beurteilung der Auswirkungen auf die Umwelt.

(Beifall bei der SPD)

Um es konkret anzugeben: 1987 hatten wir 6,75 Millionen Gesamteinfahrten im grenzüberschreitenden Verkehr, davon 2,3 Millionen Leerfahrten. Das sind diese ca. 34 %. 1991 hatten wir 9,7 Millionen Gesamteinfahrten bei 3,1 Millionen Leereinfahrten. Das sind die ca. 32 %. Also: Bei sinkendem prozentualen Anteil hatten wir eine Steigerung um sage und schreibe 800 000 Leerfahrten.

(Zustimmung bei der SPD)

Nachdem ich dies gelesen und mir die Zahlen herausgesucht hatte, ist mir natürlich der alte Spruch eingefallen: Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.

(Heiterkeit — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist von Churchill!)

Im Laufe der Beratungen des Gesetzentwurfes hat den Verkehrsausschuß eine Vielzahl unterschiedlicher Stellungnahmen erreicht, die anzeigen, welche Erwartungen, aber auch welche Befürchtungen die Gesetzesänderung hervorruft. Diese Sorgen müssen ernstgenommen werden. Der Verkehrsausschuß war sich in seinen Beratungen einig, folgender Problematik besonderes Augenmerk zu schenken.
Die Erfahrungen der Franzosen mit der Liberalisierung der Frachttarife im Güterverkehrsgewerbe sind mehr als ernüchternd. Schon bald stellte sich nach der Liberalisierung der Frachttarife ein ruinöser Wettbewerb für viele Partikulare und mittlere Betriebe ein. Die Reaktionen und Blockaden der französischen Lkw-Fahrer sind uns allen noch in guter Erinnerung. Die Französische Nationalversammlung hat daher per Gesetz die Notbremse gezogen.
Der Verkehrsausschuß hat auch auf Grund dieser Tatsache einstimmig beschlossen — nachzulesen in Ziffer 4 unserer Beschlußempfehlung —, daß die Bundesregierung bis zum 30. Juni 1993 einen Bericht darüber vorzulegen hat, auf welche Weise auf der Grundlage der genannten französischen Regelung vergleichbare Krisenbewältigungsmaßnahmen ergriffen werden können.
Lassen Sie mich abschließend auf zwei weitere Punkte eingehen, die bei der Beratung im Verkehrsausschuß eine Rolle gespielt haben.
Erstens nenne ich die Bestimmung in • 55 Abs. 3 Satz 1, daß das zukünftige Bundesamt für Güterverkehr bei Straßenkontrollen festgestellte erhebliche Verstöße den zuständigen Behörden übermittelt. Hiergegen hat das Güterkraftverkehrsgewerbe Bedenken angemeldet, und zwar mit der Begründung, daß diese Vorschrift nur deutsche, nicht aber Unternehmen aus den übrigen EG-Staaten trifft und damit zu weiteren Wettbewerbsnachteilen führt. Das mag zwar richtig sein — man muß dieses Argument anerkennen —; jedoch gibt es zwar Gleichheit im Recht, aber wir als Gesetzgeber können keine Gleichheit im Unrecht herstellen. Das ist nicht machbar.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Es kommt — und das ist wesentlich — bei diesem Punkt darauf an, die schwarzen Schafe des Gewerbes herauszufinden, und es ist meiner Meinung nach auch im wohlverstandenen Interesse des Gewerbes, daß die schwarzen Schafe herausgefischt werden.
Zweitens. Der Bundesrat hat sich gegen eine Kompetenzerweiterung beim Bundesamt für Güterverkehr gewandt, z. B. gegen das Anhalterecht für Omnibusse. Die SPD-Fraktion ist dem nicht gefolgt und steht damit im Dissens auch zu den von uns geführten Landesregierungen. Dies ist hier natürlich offen anzumerken. Es nützt ja nichts, daran vorbeizureden. Aber auf Grund der Lkw-Unfälle und Busunglücke in jüngerer Zeit halten wir verstärkte Kontrollen für äußerst wichtig. Da ist es gut, wenn neben den Landesbehörden mit der bisherigen Bundesanstalt für Güterfernverkehr oder dann dem zukünftigen Bundesamt für Güterverkehr eine weitere kompetente Behörde Kontrollaufgaben wahrnimmt.
Zusammengefaßt noch einmal: Die SPD-Fraktion stimmt dem Tarifaufhebungsgesetz zu, verlangt aber von der Bundesregierung, endlich die Harmonisierung des EG-Verkehrsmarktes mit allem Nachdruck voranzubringen. In Zukunft werden wir uns weiteren Liberalisierungen ohne gleichzeitige Harmonisierung widersetzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch!) Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214918100
Das Wort erteile ich nunmehr dem Abgeordneten Horst Friedrich.

Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1214918200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Rolf Niese, man könnte diese Vergleiche mit der Statistik, die man selber gefälscht hat, weiterziehen. Ich erinnere mich da an Tegtmeier, der zur Bilanz gesagt hat: Da steht ja links und rechts das gleiche; da muß einer dran gedreht haben.

(Heiterkeit)

Mit dem heute anstehenden Tarifaufhebungsgesetz, meine sehr verehrten Damen und Herren, gehen wir einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Anpassung unserer nationalen Marktordnung an die Regelungen der Europäischen Gemeinschaft.



Horst Friedrich
Wie ist die Ausgangslage? Im Zuge der Verwirklichung des EG-Binnenmarktes bestehen seit 1990 im grenzüberschreitenden Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten keine Tarife mehr. Mit Vollendung des EG-Binnenmarktes ist zudem die Kontingentierung im grenzüberschreitenden Verkehr entfallen. Dieser Verflechtung der internationalen Märkte müssen wir durch die Aufhebung der Tarife im Güterverkehr auf nationaler Ebene Rechnung tragen, bevor der EuGH dies qua Urteil macht.
Was muß also geschehen? Es muß eine Deregulierung der bisherigen Wettbewerbsbedingungen in Deutschland stattfinden. Als Eckpunkte dieser veränderten Marktordnung sind festzuhalten:
Erstens. Die nationalen Tarife im Binnenschiffsverkehr und im Straßengüterverkehr sind unverzüglich aufzuheben. Die Tarife im Eisenbahngüterverkehr müssen nach der erfolgreichen Durchführung der Bahnreform ebenfalls aufgehoben werden. Bis dahin sind in einer Übergangsfrist Höchsttarife festzulegen.
Zweitens. An den bestehenden Beförderungsbedingungen ist unverändert festzuhalten.
Drittens. Die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr ist — aus unserer Sicht mit deutlich verringertem Personalbestand — als oberste Bundesbehörde, als Bundesamt für Güterverkehr, BAG, fortzuführen. Die Aufgabenstellung — eine verkehrsträgerübergreifende Marktbeobachtung und die Einhaltung der Verkehrssicherheitsvorschriften — ist zu definieren. Die Anstalt ist darauf auszurichten.
Welche Rahmenbedingungen brauchen wir dafür? — Die angestrebte Deregulierung des Güterfernverkehrs darf verkehrspolitisch nicht isoliert stattfinden. Unabdingbare Voraussetzung für die Aufhebung der Tarife ist aus unserer Sicht die Harmonisierung der europäischen Wettbewerbsbedingungen — sehr oft hier bereits gefordert.
Die Abschaffung der Tarife darf keinesfalls zu einer weiteren Benachteiligung des deutschen Güterverkehrsgewerbes führen; sie muß im Gegenteil zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen in Europa und zur Erhaltung dieses Wirtschaftszweiges in Deutschland beitragen.
Wie ist nun dieses sehr einfach gesagte Ziel zu erreichen? Für die F.D.P.-Bundestagsfraktion kann dieser Effekt nur eintreten, wenn eine zeitbezogene Autobahnbenutzungsgebühr für LKW, also die bereits zitierte Vignette, umgehend eingeführt wird. Dies muß aber für die deutschen LKW mit einer deutlichen Absenkung der Kfz-Steuer verbunden sein; denn die derzeitige Benachteiligung des deutschen Gütertransportgewerbes bei der Kfz-Steuer — schätzungsweise, überschlägig gerechnet, 10 % Kosten im Gewerbe insgesamt — stellt einen nicht mehr länger hinnehmbaren Wettbewerbsnachteil im europäischen Vergleich dar.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wer, meine Damen und Herren, den Trend zum „Ausflaggen" bei den deutschen LKW stoppen will, der muß hier auf europäischer Ebene Flagge zeigen. Sonst klappt es nicht. Ein weiteres tatenloses Beklagen der Situation bringt uns beim LKW in eine Situation, wie wir sie bei der Schiffahrt bereits kennen und ebenfalls beklagen.
Es gibt erste Überlegungen, die darauf hinauslaufen, daß von den schätzungsweise 75 000 LKW in Deutschland ca. 10 % stillgelegt werden, was „Pi mal Fensterkreuz" 8 000 Arbeitsplätze kosten wird. Jeder abgemeldete Lastzug in Deutschland vermindert die Einnahmen des Staates um ca. 80 000 DM pro Jahr.

(Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])

— Ich glaube, das sollte man als Verkehrspolitiker hier ganz deutlich aufzeigen.

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wie lange regieren Sie denn schon?)

Der Rückzug des deutschen Gütertransportgewerbes mit seinen im internationalen Vergleich hohen sozialen und technischen Standards führt unausweichlich zu einer deutlichen Verschlechterung der Verkehrssicherheit auf unseren Straßen. Billig-LKW entsprechen nun einmal nicht unseren Vorstellungen von Sicherheitsstandards und bieten sicher nicht die Mindestanforderungen, die wir an die Arbeitsbedingungen, an die Ausbildung und an die Bezahlung des Personals stellen. Derartige Bedingungen können wir uns in Deutschland nicht zuletzt aus verkehrssicherheitstechnischen Gründen auf unserem dicht befahrenen Straßennetz einfach nicht erlauben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für die Binnenschiffahrt, meine Damen und Herren, wurde in diesem Gesetzeswerk eine Regelung gefunden, eine sehr antiquierte Bestimmung zu den Lade- und Löschzeiten und damit in Konsequenz auch für die Liegegelder aufzuheben. Aber auch hier ist im Interesse des deutschen Gewerbes darauf hinzuweisen, daß in Europa eine Angleichung stattfinden muß. Ich erinnere hier nur an die „Tour-de-rôle"-Regelungen in Holland.
Wie können wir diese Zielvorstellungen umsetzen? Wir treten erstens für schärfere Kontrollen durch die Polizei zur Verbesserung der Verkehrssicherheit ein. Wo dies nicht ausreicht, muß sichergestellt werden, daß die BAG entsprechend unterstützt wird, so daß entsprechende Verkehrskontrollen durchgeführt werden können.
Zweitens. Es wird immer deutlicher und ist auch schon gesagt worden: Liberalisierung ohne Harmonisierung hat in Europa keine Chance. Dazu gehört aber auch, daß sich unsere europäischen Nachbarn ebenfalls diesem Wettbewerb stellen. Die Weigerung einiger unserer Nachbarn in Europa — z. B. sich an den Wegekosten zu beteiligen — kann von uns nicht länger hingenommen werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Europa darf kein Naturschutzpark für holländische LKW mit dem Ziel werden, daß deutsche LKW unter Naturschutz gestellt werden müssen, weil sie sonst aussterben. Wir fordern, daß die verschiedenen

Horst Friedrich
Aspekte der werkehrlichen Zukunft in Europa als gemeinsames Paket behandelt werden.

(Elke Ferner [SPD]: Dann müssen Sie endlich einmal etwas tun! Diese Regierung sitzt doch im Verkehrsministerrat der EG!)

— Das Prinzip des „do ut des", liebe Kollegin Ferner, muß auch in diesem Bereich gelten. Wer sich dieser Diskussion verweigert, muß sich vorwerfen lassen
— ich sage das sehr deutlich —, daß er den EG-Binnenmarkt nicht uneingeschränkt bejaht und letztendlich europafeindlichen Kräften Vorschub leistet. Darum hat der Bundesverkehrsminister unsere volle Unterstützung bei seinen Bemühungen auf europäischer Ebene.

(Elke Ferner [SPD]: Nur hat er leider sehr wenig Erfolg!)

Wenn er mit seinen Bemühungen weiterhin an den nationalen Egoismen einiger anderer Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft scheitert, dann fordern wir den Bundeskanzler auf, die Verkehrspolitik zum Thema des nächsten Gipfels zu machen. Die Zeit zum Reden ist vorbei. Es muß nun endlich seitens der Politik gehandelt werden, wenn man nicht das Handeln auf der Straße provozieren will.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Eine starke Rede! Nur die Taten fehlen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214918300
Da mir die beiden Gruppen keine Redner gemeldet haben, kann ich den Parlamentarischen Staatssekretär Manfred Carstens bitten, das Wort zu ergreifen.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1214918400
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Tarifaufhebungsgesetz handelt es sich um ein Gesetz, welches für einen Teilbereich der deutschen Wirtschaft große Bedeutung hat. Ich freue mich darüber, daß es hierüber großes Einvernehmen im gesamten Deutschen Bundestag gibt.
Die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes seit Januar dieses Jahres hat im Verkehrsbereich zur Aufhebung der mengenmäßigen Begrenzung im grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr zwischen den Mitgliedstaaten geführt. Verbindliche Beförderungstarife waren hier — also im grenzüberschreitenden Verkehr — bereits 1990 aufgehoben worden.
In die fortschreitende Liberalisierung des Straßengüterverkehrs soll jetzt auch die Abwicklung des Binnenverkehrs in den Mitgliedstaaten einbezogen werden. Unser aller Sinnen und Trachten ist es, dies bei Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Transportgewerbes zu schaffen.
Dabei stellen die Beförderungsentgelte einen wichtigen Teil dar. In Zukunft wird es heißen: Die freie Preisbildung ist für die Schaffung eines freien Verkehrsmarkts unerläßlich. Dies kann nicht auf den Straßengüterverkehr beschränkt werden. Die Verkehrsträger Eisenbahn und Binnenschiff müssen einbezogen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht deshalb vor, die Tarife beim nationalen Binnenschiffs-, Eisenbahn- und Straßengüterverkehr aufzuheben. Die nationalen Kontingente für den Straßengüterfernverkehr bleiben zunächst erhalten. Meine Damen und Herren, das ist eine Kurzdarstellung des wesentlichsten Teils des Gesetzentwurfs, dem wir ja allesamt im Deutschen Bundestag zustimmen wollen.
Die Auswirkungen dieses Gesetzes sind genau zu beobachten; denn es ist das Ziel, die Funktionsfähigkeit des mittelständisch strukturierten Verkehrsmarkts zu erhalten und ruinöse Konkurrenz mit dauerhaften Dumpingfrachten zu vermeiden. Dazu müssen u. a. Ansätze zu struktureller Überkapazität rechtzeitig erkannt werden.
Informationsbedarf besteht jedoch nicht nur beim Straßengüterverkehr, sondern bei allen Verkehrsträgern im Hinblick auf die Vorbereitung verkehrspolitischer Entscheidungen, die Früherkennung der jeweiligen Marktentwicklung sowie die Einschätzung der Wettbewerbsposition der Verkehrsunternehmer. Die Einführung dieser für die Verkehrswirtschaft und die Verkehrspolitik unerläßlichen Marktbeobachtung ist Bestandteil des Gesetzentwurfs.
Wir brauchen auch in dem neuen Ordnungsrahmen ein wirksames Kontrollinstrument. Die bisherige Bundesanstalt für den Güterfernverkehr soll deshalb in eine Bundesoberbehörde beim Bundesministerium für Verkehr übergeleitet werden. Das ist ein einmütiger Wunsch der Länder und eine zwangsläufige Folge der Aufhebung der Tarife beim Straßengüterverkehr, deren Überwachung bisher vorrangig im Interesse des Gewerbes erfolgt.
Die Umwandlung in eine Bundesoberbehörde ermöglicht zugleich eine bessere Überwachung der Zuverlässigkeit der Unternehmen, indem sicherheits- und umweltrelevante Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten des Fahrpersonals und über die Beförderung gefährlicher Güter bei in- und ausländischen Kraftfahrzeugen intensiver kontrolliert und Verstöße tatsächlich geahndet werden. Das Gesetz enthält deshalb auch neue Rechtsgrundlagen für die Kontrolle von Omnibussen.
Mit dem Ihnen vorliegenden Gesetz, meine Damen und Herren, tritt eine weitere Liberalisierung im Verkehrswesen ein. Einige der Vorredner haben bereits auf die Problematik hingewiesen. Es ist in der Tat eine erhebliche weitere Liberalisierung. Trotzdem sind im europäischen Rahmen noch viele Aufgaben zu lösen, um von einer umfassenden europäischen Verkehrspolitik sprechen zu können. Das gilt insbesondere für die Fiskalharmonisierung, die so rasch wie möglich verwirklicht werden muß. Es ist eines der wichtigsten Ziele der deutschen Verkehrspolitik, die Rahmenbedingungen für eine gerechte Anlastung der Wegekosten im Straßengüterverkehr zwischen den EG-Ländern zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auf die Notwendigkeit wurde hingewiesen. Ich hoffe,
daß es uns gelingt, hierzu im ersten Halbjahr 1993



Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
noch Wichtiges durchzusetzen. Aber das ist der Wunsch aller hier im Hause.
Des weiteren — das möchte ich noch angesprochen haben — steht das Tour-de-rôle-Verfahren zur Bereinigung an, welches von den Ländern Niederlande, Belgien und Frankreich praktiziert wird. Die Bundesregierung wird diesen Punkt genauestens im Auge behalten und auf einer schnellstmöglichen Klärung bestehen. Konsequenzen werden gegebenenfalls nicht ausgeschlossen. Ich sage das hier mit allem Nachdruck.
Auf eines möchte ich abschließend noch besonderen Wert legen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen. Die EG-Regelungen haben nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland zu gelten, sondern in allen EG-Ländern, damit es zu einem echten und fairen Wettbewerb in der EG kommen kann.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214918500
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr. Gesetzentwurf und Beschlußempfehlung liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/3701 und 12/4595 vor. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der Gesetzentwurf in zweiter Lesung angenommen.
Wir kommen nunmehr zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —Damit ist das Gesetz mit der gleichen Mehrheit in der dritten Lesung angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4595 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 12/4231 für erledigt zu erklären. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Entschließung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Entschließung bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einstimmig angenommen worden.
Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr die Annahme einer weiteren Entschließung. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen ist auch dieser Teil der Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 3 zur Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu ihrem unter Verschluß gehaltenen Gutachten zum Ausbau von Saale- und Elbe-Staustufen
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat diese Aktuelle Stunde beantragt.
Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1214918600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schäuble hat es heute vormittag ausdrücklich betont: Die CDU/CSU lehnt es ab, die formulierte Staatszielbestimmung Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen, weil damit die Investitionstätigkeit der Wirtschaft eingeschränkt werden könnte. Worauf das hinausläuft und was das bedeutet, zeigen die ehrgeizigen Baupläne des Verkehrsministers. Geradezu gespenstische Projekte, deren Dimensionen uns bislang in diesem Ausmaß gar nicht bewußt gewesen sind, sind uns vor kurzem aufgefallen. Es geht um die Staustufe in der Saale bei Klein Rosenburg. Diese Staustufe soll Großschiffen mit einem Tiefgang von 2,50 Meter freie Fahrt auf der Saale gestatten. 220 Millionen DM soll dieses Vorhaben kosten. Es ist als vordringlicher Bedarf eingestuft.
Es ist bis heute ein gut gehütetes Geheimnis der Bundesregierung, auf welchem Weg diese Großschiffe zur Saale vordringen sollen. Schließt man für die Schiffahrt Schiene, Straße und Luftweg aus, so bleibt nur die Elbe als Verkehrsweg. Doch die Elbe führt nur an hundert Tagen im Jahr ausreichend Wasser, um Schiffe mit 2,50 Meter Tiefgang aufnehmen zu können. Welcher Privatunternehmer baut eine teure Anlage, die er nur jeden vierten Tag auslasten kann? Wenn hier keine Investitionsruine von 220 Millionen DM gebaut werden soll, dann werden der Saale-Staustufe Staustufen in der Elbe bis Magdeburg folgen.
Der Trick des Verkehrsministers ist durchsichtig: Er will die Elbe durch den Baueinstieg an der Saale kanalisieren. Doch dieses Vorhaben ist reine Geldverschwendung. Es ist wirtschaftlich unsinnig. Es ist verkehrspolitisch mehr als fragwürdig. Es ist ökologisch verheerend. Es ist regionalwirtschaftlich kontraproduktiv und stößt bei der Bevölkerung und bei Politikern von Sachsen-Anhalt und Sachsen auf Widerstand.

(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Das wissen Sie? Wilde Behauptung! — Renate Blank [CDU/ CSU]: Panikmache!)

— Sowohl der Umweltminister als auch der Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt haben in der Aktuellen Stunde des Landtags betont, daß sie von diesem Projekt nichts halten,

(Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Ich habe das Protokoll hier! Es steht nichts drin!)

daß sie sich der Auffassung der GRÜNEN anschließen. Ich weiß das von den vielen Bürgerinitiativen, die sich dort gegen den Ausbau wenden, weil hier eine der wertvollsten Kulturlandschaften zerstört wird,



Werner Schulz (Berlin)

eine Auenlandschaft, die in Deutschland einmalig ist. Wenn Sie wissen, wie Ihre Flüsse aussehen — Sie wissen genau, was Sie in Westdeutschland alles kaputtgemacht haben — und wie dort die Uferregionen betoniert worden sind — —

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Es gibt auch erhaltenswerte Dinge im Osten Deutschlands. Es ist nicht nur Marodes übriggeblieben. Dort gibt es Kulturlandschaften wie die Wörlitzer Parklandschaft. Das geht kaputt, wenn Sie so etwas bauen.
Der Sinn ist völlig fragwürdig, weil es überhaupt keinen wirtschaftlichen Nutzen gibt. Denn das Gutachten, das Sie unter Verschluß halten — dafür gibt es offenbar schlechte Gründe —, weist aus, daß einer Investitionssumme von 1,5 Milliarden DM lediglich ein Nutzen von 500 Millionen DM gegenübersteht. Der Clou des Ganzen ist: Die Investitionssumme muß in zehn Jahren aufgebracht werden, während sich der Nutzen erst in achtzig Jahren einstellt.

(Heinz-Günter Bargfrede [CDU/CSU]: Quatsch!)

— Sie vertreten wahrscheinlich die Binnenschiffahrtslobby. Ich kann mir ganz gut vorstellen, warum Sie hier „Quatsch" einwerfen. Es gibt ganz unterschiedliche Interessen, z. B. die Interessen, die Hamburg vertritt. Es will, wie es so schön heißt, sein Hinterland ausbauen, um diese Binnenschiffahrt möglich zu machen.
Was bei diesen Flußbegradigungen, bei den Durchstichen, die erforderlich sind, kaputtgeht,

(Renate Blank [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung!)

hat der Westen deutlich vorgemacht. Wenn wir eine Chance haben,

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ihre Vision ist die Elbe, in der nur Arbeitslose baden!)

dann die, die ökologischen Fehler Westdeutschlands nicht zu wiederholen. Was im Osten Deutschlands noch vorhanden ist, sollten wir bewahren und schützen. Das öffentlich zu machen ist hier meine Aufgabe. Ich hoffe, daß Sie außer „Quatsch" zu sagen noch etwas anderes in dieser Diskussion beizutragen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214918700
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Clemens Schwalbe das Wort.

Clemens Schwalbe (CDU):
Rede ID: ID1214918800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN rhetorisch so spannend aufgemachte Thema eines geheimnisvollen „unter Verschluß gehaltenen Gutachtens" ist weit weniger aufregend und revolutionär, als es der Titel dieser Aktuellen Stunde vermuten läßt.

(Zuruf von der SPD: Trotzdem ist er nicht herausgegeben worden!)

Ich habe mich gefragt, wo der Sinn dieser Aktuellen Stunde liegt, die nach der Geschäftsordnung § 106 bei
— ich zitiere — „allgemeinem aktuellen Interesse" einberufen wird. Sie offenbart sich eher als Unsinn, da erstens exakt zu diesem Thema bereits eine Anfrage von Ihnen gestellt wurde, zweitens wir in der parlamentarischen Beratung des Bundesverkehrswegeplanes sind, dessen Bestandteile hier angesprochene Projekte sind, und drittens Sie diese Aktuelle Stunde als Neuauflage der Debatte vom 13. März im Landtag Sachsen-Anhalt als propagandistische Lautmalerei neu aufleben lassen wollten, weil Sie sich dort mit Ihren Auffassungen auch nicht haben durchsetzen können.
Ziel Ihrer Veranstaltung ist es, von Anfang an alles abzulehnen, um in der Konsequenz zu erreichen, daß der Ausbau von Saale und Elbe nicht einmal als Planungsaufgabe in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen wird.

(Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, weil das Unsinn ist!)

Sie demonstrieren damit erneut, was die meisten von uns bereits wissen: Jede Form von Fortschritt und Sicherung

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Naturzerstörung!)

des Wirtschafts- und damit Arbeitsplatzstandortes Deutschland wird von Ihnen rundweg abgelehnt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie sind gegen den innerdeutschen Flugverkehr, Sie sind gegen Schnellstraßen, gegen jeglichen Straßenneubau

(Zuruf von der CDU/CSU: Und gegen die Schiene auch!)

— das will ich gerade sagen —, zugleich lassen Sie aber keine Alternativen zu, indem Sie gegen neue Strecken der Bundesbahn demonstrieren, gegen Transrapid sind und schließlich auch noch gegen Wasserstraßen.

(Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt auch noch andere Alternativen!)

Dies hat übrigens Minister Daehre Ihrer Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt in oben genannter Debatte ebenfalls vorhalten müssen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat es sich mit der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes zur Aufgabe gemacht, die unabdingbare Mobilität einer Wirtschaftsnation umweltgerecht und sozial verträglich in einem umfassenden Gesamtkonzept zu meistern. Gerade die Binnenschiffahrt ist ein umweltfreundliches Verkehrsmittel, dessen Chancen wir insbesondere in den neuen Bundesländern ergreifen und nutzen wollen.
Wenn Sie in einem Gutachten vom Ausbau von Saale- und Elbestaustufen sprechen, sollten Sie bedenken, daß es sich lediglich um eine einzige Staustufe handelt. Die Saale ist von Leuna bis Calbe auf einer Gesamtlänge von 106 km staugeregelt. Nur das untere Reststück bis zur Elbmündung ist nicht staugeregelt. Der Grund dafür ist einzig und allein,



Clemens Schwalbe
daß diese Staustufe bei Klein Rosenburg durch den Zweiten Weltkrieg nicht mehr gebaut werden konnte. Das alles wird also von Ihnen als eine Art „Geheimprojekt" der Bundesregierung unterschwellig dargestellt.
Die Bürger und Bürgerinnen der neuen Bundesländer, insbesondere wir Sachsen-Anhaltiner, haben jetzt ein Recht darauf, daß nach über 60 Jahren Schubladentiefschlaf zumindest eine Überprüfung der Realisierung des Projektes unter den heutigen hohen Bedingungen des Umweltschutzes angedacht und — wenn möglich — in die Tat umgesetzt wird. Noch nie gab es auf nationaler und europäischer Ebene derart hohe Umweltschutzstandards. Davon wollen und können wir alle profitieren.
Die Aufnahme in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes sowie die Realisierung der Schiffbarkeit bis Leuna bzw. Leipzig über den Saale-Elster-Kanal im weiteren Bedarf ist doch Ausdruck des politischen Willens, diese Wasserstraße neu zu erschließen. Damit ergeht die Möglichkeit, ein Raumordnungsverfahren und entsprechende Umweltverträglichkeitsanalysen durchzuführen. Lassen Sie uns doch erst einmal den tatsächlichen Zusammenhang von Ökonomie und Ökologie prüfen. Sollte hierbei herauskommen, daß der sogenannte „SaaleMaß-Kahn" — ich benutze das Wort extra, weil das den Einheimischen bekannt ist —, den Ihre Kollegin Heidecker im sachsen-anhaltinischen Landtag sicherlich versehentlich laut Protokoll mit 51 km Länge angegeben hat — sie meinte sicherlich Meter —, sich als wirtschaftlicher erweist als das Euroschiff, so bin ich persönlich der Letzte, der einer Neuauflage dieses einheimischen Schiffbaus entgegenstünde.
Aber nur, weil Sie für Ihre Ideen keine Mehrheit finden, sollten Sie nicht generell mit Unterstellungen arbeiten, wie Sie es in der Gestaltung Ihrer Fragen in der Kleinen Anfrage deutlich offenbaren. Mit Katastrophenszenarien kommen wir nicht weiter und können wir keine Aufgaben lösen.
Letzter Satz: Also lassen Sie uns lieber gemeinsam an den Ausbau und die Wiedereinführung dieser Wasserverkehrswege gehen, auch wenn unser Verständnis von Umwelt- und Verkehrspolitik ein anderes ist als das Ihre.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214918900
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dietmar Schütz das Wort.

Dietmar Schütz (SPD):
Rede ID: ID1214919000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beantragte Aktuelle Stunde hat eigentlich die gar nicht aktuelle, sondern vielmehr permanente Weigerung des Verkehrsministers zum Gegenstand, die technischen Gutachten zum ElbeSaale-Ausbau aus der Hand zu geben. Die Gründe der Verweigerung sind, Herr Staatssekretär Carstens, an den Haaren herbeigezogen und uns Abgeordneten gegenüber eigentlich frech.
Es handle sich, so wurde uns gesagt, um verwaltungsinterne Unterlagen fachtechnischer Art, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, zudem stünden Datenschutzgründe einer Veröffentlichung entgegen. Gleichwohl wird aber aus diesen Entscheidungsgründen uns gegenüber zitiert. Z. B. wurde im Juni vorigen Jahres mir gegenüber auf eine Anfrage aus dem Gutachten der Planco-Consulting GmbH zitiert, ohne daß dieses Gutachten zugänglich gemacht worden ist. Also ist diese Sache, die DIE GRÜNEN angesprochen haben, durchaus berechtigt.
Diese Art der vordemokratischen Kabinettspolitik rächt sich, weil dann die Glaubwürdigkeit und die Seriosität der Aussagen des Bundes für den ElbeSaale-Ausbau auf dem Spiel stehen. Das Ergebnis des uns trotzdem zugegangenen Gutachtens zum Elbeausbau ist eindeutig. Schon aus ökonomischen Gründen lohnt sich ein Staustufenausbau der Elbe nicht. Eine Staustufenlösung hätte ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von nur 0,2. Das ist klar.
Die ökologischen Gründe sind noch deutlicher. Das wissen wir auch. Der Bau von Staustufen würde das gesamte Ökosystem Elbe irreparabel schädigen. Zahlreiche seltene Tier- und Pflanzenarten, deren Existenz von den Schwankungen des Wasserstandes abhängig ist, würden ausgerottet. Die letzten großen Flußauenlandschaften Mitteleuropas, die einerseits durch Ausweisung eines Biosphärenreservates geschützt werden sollen, wären auf diese Weise unwiderruflich zerstört.
Die Bundesregierung — und deswegen schütteln Sie auch immer wieder mit dem Kopf — hat auch immer erklärt, daß sie einen Elb-Staustufenausbau aus wirtschaftlichen und ökologischen Gründen für unsinnig hält und sie ihn deshalb nicht will. Das will ich noch einmal betonen. Wir stimmen an dieser Stelle — hoffentlich weiterhin — vollkommen überein. Wenn dann aber das Ergebnis dieser Studie, die genau diese Position untermauert, nicht veröffentlicht wird, fragt man sich allerdings: Was soll diese Geheimniskrämerei? Die Antwort ist auch hier eindeutig. Das Gutachten belegt an Hand einer Kosten-Nutzen-Analyse für den Saaleausbau, daß der schonendere Ausbau der Saale ohne eine Staustufe bei Rosenburg und mit einer Abladetiefe von 2 m ein hervorragendes gesamtwirtschaftliches Ergebnis mit einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von 13,1 ergibt. Demgegenüber ergibt ein Ausbau mit einer Schleuse und Staustufe bei Rosenburg und einer daraus resultierenden Abladetiefe von 2,50 m lediglich ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von 5,3. Ökonomisch ist also der schonendere Ausbau wesentlich vernünftiger.
Leider haben wir unsere nachhaltigen Bedenken aus ökologischer Sicht gegenüber dem tiefeingreifenden Saaleausbau von 2,50 m Abladetiefe und mit einer Staustufenregelung bisher nicht mit wirtschaftlichen Gründen stützen können. Dies wäre mit dem geheimgehaltenen Gutachten wesentlich leichter gewesen. Das sollten wir jetzt auch tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir sollten also besser mit diesen Argumenten versehen werden, damit wir eindeutig gegen den Staustufenausbau bei Rosenburg Stellung beziehen können.



Dietmar Schütz
Es ist doch überhaupt nicht einzusehen, daß wir hier eine Abladetiefe von 2,50 m bei Rosenburg bekommen, wo wir mit jedem Schiff, das weiter fährt, in den Ausbaubereich der Elbe mit 2 m Abladetiefe hereinfahren. Was soll denn das Ganze? Also noch einmal eindeutig: Wir brauchen nur eine Abladetiefe von 2 m, weil wir auch über die Saale hinaus die Elbe befahren wollen und diesen Dominoeffekt, wenn wir denn eine Staustufenregelung mit 2,50 m Abladetiefe bekommen, in die Elbe hinein möglicherweise erkennen. Deswegen lassen Sie bitte diese Sache und bleiben Sie bei 2 m. Dann sind wir uns hier weiterhin einig, und vielleicht können wir dann auch Akzeptanz für die Baumaßnahme bekommen. Das ist eigentlich das, was wir erreichen wollen. Zu dieser Position sollten Sie sich hier bekennen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214919100
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Sigrid Hoth.

Dr. Sigrid Hoth (FDP):
Rede ID: ID1214919200
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kenne natürlich kein geheimes Gutachten und kann deshalb auch nicht darüber reden, will aber meinen Standpunkt und den der F.D.P., insbesondere den aus Sachsen-Anhalt, zum Thema Ausbau der Schiffahrtslinien Elbe und Saale darstellen.
Wir wollen den Verkehrsträger Binnenschiffahrt weit stärker nutzen als bisher. Binnenschiffahrt ist wesentlich umweltverträglicher als Güterverkehr auf der Straße, kann in der Regel kostengünstiger erschlossen werden und ist sicherer.
Außerdem bedeutet gerade in Sachsen-Anhalt die stärkere Nutzung der Schiffahrtswege auch einen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung insbesondere in den kleinen Binnenhäfen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die F.D.P. in Sachsen-Anhalt, die sowohl den Umwelt- als auch den Wirtschaftsminister stellt, hat schon frühzeitig klare Positionen bezogen, die sich bei der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes und in der Stellungnahme des Landes Sachsen-Anhalt dazu widerspiegeln.
Wir begrüßen den notwendigen Ausbau des Wasserstraßenkreuzes bei Magdeburg in der Trogbrükkenvariante

(Dietmar Schütz [SPD]: Wir auch!)

— ich freue mich —, und wir halten eine Stromregulierung der Elbe mit Wiederherstellung und Ergänzung der Regulierungsbauwerke und damit eine Tauchtiefenverbesserung um etwa 20 cm, also das Projekt W 6, für notwendig und auch ökologisch und ökonomisch für vertretbar.
Auch zum Ausbau der Saale, also Projekt W 7, liegt meiner Ansicht nach eine ebenfalls eindeutige Stellungnahme vor: Dem Saaleausbau wird nur zugestimmt unter der Maßgabe, daß eine Beeinträchtigung der Elbauengebiete, insbesondere des Biosphärenreservates Mittlere Elbe mit seinem Kerngebiet Steckby-Lödderitzer Forst, völlig auszuschließen ist.
Durch das Umweltministerium des Landes Sachsen-Anhalt wurde mir gestern mitgeteilt, daß es nach jetzigem Kenntnisstand in der Saale aus ökologischen und ökonomischen Gründen keine Staustufen geben sollte, da Staustufen in der Saale nur Sinn hätten, wenn die Elbe ebenfalls Staustufen bekommen würde.

(Dietmar Schütz [SPD]: Da sind wir uns einig!)

Dieses, liebe Kolleginnen und Kollegen, lehnt die F.D.P. in Sachsen-Anhalt nach heutigem Kenntnisstand nach wie vor ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da jedoch — dies muß ich hinzufügen — die vorbereitenden Planungsarbeiten von seiten des Bundes noch nicht abgeschlossen sind, also weder die genaue technische Ausführung des Saale-Ausbaus

(Unruhe)

— ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zuhören würden —,

(Dietmar Schütz [SPD]: Ich stimme Ihnen ja zu!)

noch das Planfeststellungsverfahren, noch die Umweltverträglichkeitsprüfung vorliegen, ist es meiner Ansicht nach nicht korrekt, jetzt schon eine abschließende Bewertung des Projektes Saaleausbau von irgend jemandem zu verlangen. Auch der Umweltminister in Sachsen-Anhalt kann deshalb noch keine abschließende Bewertung vornehmen.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1214919300
Mir ist mitgeteilt worden, daß sich Herr Krause in Sachsen-Anhalt für eine Beschiffung der Elbe mit Europaschiffen ausgesprochen haben soll. Europaschiffe brauchen nach meinen Informationen jedoch einen Tiefgang von etwa 3 m. Dieser ist aber in der Elbe an vielen Tagen im Jahr nicht zu erreichen. Ist dies nicht ein Widerspruch, und wie wollen Sie diesen Widerspruch lösen?
Schließen Sie sich meiner Ansicht an, daß beim Bau bzw. Ausbau von Verkehrswegen weitestmöglich die Anpassung an die Natur gesucht werden sollte und nicht umgekehrt?
Ich halte es für unbedingt notwendig, die Entwicklung von Schiffen zu unterstützen, die auch bei den spezifischen Wasserverhältnissen der Elbe ganzjährig betriebswirtschaftlich eingesetzt werden können.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich war deshalb erstaunt darüber, daß mir im Herbst vorigen Jahres durch den Parlamentarischen Staatssekretär Neumann im Bundesministerium für Forschung und Technologie auf meine Anfrage hin mitgeteilt wurde, daß der Entwicklungsvorschlag der Roßlauer Schiffswerft GmbH, einer sachsen-anhaltinischen Binnenwerft, für ein solches besonders flach-



Dr. Sigrid Hoth
gängiges Elbefrachtschiff nicht förderungswürdig ist, da — ich zitiere —
dies eine werftübliche Entwicklungsaufgabe ist und technische Fortschritte nicht erkennbar sind.
Gleichzeitig wird aber im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie im Rahmen des Verbundvorhabens VEBIS seit langem die Entwicklung flachgängiger Schiffstechnik vorangetrieben.
Als dieser Verbund am 11. März 1993 in Dresden auch vor Praktikern seine bisherige Forschung vorstellte, die nach eigenen Angaben „auf halbem Wege" ist und bisher ohne jegliche praktische Beteiligung durchgeführt wurde, äußerten einige Teilnehmer Kritik.
Der Rolllauer Schiffswerft GmbH ist plötzlich eine Förderung in Höhe von 800 000 DM durch den Projektleiter für ihr bereits erwähntes und seit langem fertiges Elbeschiffprojekt zugesagt worden. Davon wiederum wußte das Bundesministerium für Forschung und Technologie bis heute morgen nichts.
Als Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt und als Mitglied des Haushaltsausschusses erwarte ich deshalb, daß der Bundesminister für Forschung und Technologie im Haushaltsausschuß über diese Angelegenheit informiert.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU, bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214919400
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Renate Blank das Wort.

Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1214919500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollte eine Aktuelle Stunde zum Thema Binnenschiffahrt. Also diskutieren wir zum Thema Binnenschiffahrt.
Die Binnenschiffahrt ist ein besonders umweltfreundliches Verkehrsmittel, und sie kann zur Bewältigung des wachsenden Güterverkehrs und zur CO2Reduzierung beitragen.
Der Bestand an Binnenwasserstraßen in den neuen Ländern umfaßt rund 2 300 km. Allerdings liegt der Anteil am binnenländischen Güterverkehr in den neuen Ländern nur bei 3 %, während er in den alten Ländern 23 % beträgt — genausoviel wie der Anteil beim Güterverkehr auf der Schiene. Es gilt, den Zuwachs an Güterverkehr auf die umweltfreundliche und sichere Binnenschiffahrt zu verlagern.
Der Erhaltungsstand und der Ausbaustandard der Wasserstraßen in den neuen Ländern entspricht in wesentlichen Teilen nicht den Anforderungen eines gut ausgebauten Wasserstraßennetzes. Auch auf großen Abschnitten der Elbe hat die unzureichende Unterhaltung der Strombauwerke, insbesondere der Buhnen, in den letzten Jahrzehnten zu einer Verminderung der Abladetiefe für die Schiffahrt geführt.
Im Gegensatz zu Rhein und Donau besitzt die Elbe kein Quellgebiet im Hochgebirge. Sie wird daher im Sommer nicht wenigstens teilweise von Schmelzwässern gespeist und ist allein auf die Niederschläge in ihrem und ihrer Nebenflüsse Einzugsgebiet angewiesen. Dadurch hat die Schiffahrt in Niedrigwasserzeiten, die bei der Elbe teilweise bis zu sechs Monaten andauern können, Schwierigkeiten. Dies ist nicht im Sinne einer ganzjährigen Schiffbarkeit und einer dauerhaften Verlagerung von Gütern auf die Wasserstraßen.
Die Schiffbarkeit des Elbstromes ist ein interessantes Kapitel des Verkehrswasserbaus, insbesondere auf dem 730 km langen Weg zwischen Melnik und Hamburg. Wenn die Tschechei die weiteren Stauwerke, wie bisher geplant, realisiert, wird es auf der gestauten Elbe bis zur Grenze Deutschlands keine Tiefgangsbeschränkungen mehr geben.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wunderbar!)

Anders dagegen ist es auf der deutschen Elbe-strecke. Aus der statistischen Erfassung aller Tauchtiefen wird ersichtlich, daß eine Vollschiffigkeit von 2,5 m Tauchtiefe durchschnittlich nur zu ca. 30 % des Navigationsjahres vorhanden ist. Dies ist zuwenig; auch ein Reiseverkehr ist dann nicht mehr möglich.
Ich spreche aus eigener Erfahrung — Kollege Schulz, wahrscheinlich haben Sie sich das noch nicht angesehen —; denn bei einer Bereisung, geplant von Bad Schandau bis Magdeburg, war vor Torgau Schluß. Dies trägt nicht zur Freude der Flußkreuzfahrtreisenden bei. Zum wirtschaftlichen Aufschwung der neuen Bundesländer gehört insbesondere in diesem schönen Gebiet auch die Touristikbranche.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zur Verbesserung der Schiffahrtsverhältnisse der Elbe sind Baumaßnahmen zur Stromregulierung mit Wiederherstellung und partieller Ergänzung der Regulierungsbauwerke, insbesondere Buhnen und Deckwerke, in den Entwurf des Bundesverkehrswegeplans mit 500 Millionen DM als vordringlicher Bedarf eingeordnet. Für die Saale, die bereits staugeregelt ist — bis auf einen Abschnitt —, sind die möglichen Verbesserungen für den Schiffsverkehr mit einem Investitionsaufwand von ca. 220 Millionen DM ebenfalls als hochwirtschaftliche Maßnahme eingestellt.
Von einem Einstieg in eine durchgehende Stauregelung der Elbe kann wirklich keine Rede sein.

(Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, sie ist notwendig!)

Eine ökologisch vertretbare Stromregulierung zerstört Fauna und Flora nicht.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Geplante Radwege an der Elbe, insbesondere im Biosphärenreservat, richten wesentlich mehr Schaden an Fauna und Flora an als eine Stromregulierung.

(Susanne Kastner [SPD]: Das kann doch nicht wahr sein!)

Das Verkehrssystem Wasserstraße hat noch freie Kapazitäten. Die Binnenschiffahrt kann sich durch



Renate Blank
entsprechende Investitionen in die Wasserstraßen unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten leistungsfähig gestalten. Das Binnenschiff besticht durch seine große Zuverlässigkeit. Es gibt keine Staus auf dem Wasser. Viele Güter müssen zwar rechtzeitig, aber nicht brandeilig beim Empfänger eintreffen. Just in time bedeutet zuverlässig und zur rechten Zeit, und diese Anforderung erfüllt das Binnenschiff.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, schaffen wir die Voraussetzungen für eine ganzjährige Nutzung der Elbe.

(Beifall bei der CDU/CSU — Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ahoi, Kollegin!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1214919600
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Susanne Kastner das Wort.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1214919700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die neuen Bundesländer sind wegen der fehlenden Grundwasservorkommen wesentlich stärker als die alten auf ihre Flüsse als Trinkwasserlieferant angewiesen. Verehrte Frau Kollegin, das ist auch ein Aspekt, den wir heute diskutieren. Die Situation hat sich in den vergangenen Jahren dahin gehend verändert, daß die Versorgungsunternehmen, um die Bevölkerung noch mit einigermaßen genießbarem Wasser beliefern zu können, verstärkt auf Uferfiltrate zurückgreifen müssen. Dabei wird Flußwasser nach einer Bodenpassage, die es zum Teil reinigt, entnommen. Dies ist der wichtigste Grund, warum die Trinkwasserversorgung in den neuen Bundesländern von einer Sanierung — verehrte Frau Kollegin, von einer Sanierung — abhängig ist.
Die Uferfiltratwerke an der oberen Elbe und der Saale bedürfen dringend einer Sanierung und eines umwelttechnischen Ausbaus. Statt darüber nachzudenken, wie wir diesen Mangel umgehend beseitigen können, hat Herr Krause — der heute leider nicht anwesend ist — unter dem Schlagwort „Wasserstraßenausbau ist ökologisch sinnvoll" nichts Besseres zu tun, als durch den geplanten Bau der Staustufe Klein Rosenburg an der Saale seine eigene Aussage ad absurdum zu führen. Statt darüber nachzudenken, wie eine Entschlammung in der Saale durchgeführt werden kann, plant er ein Staustufenprojekt mit einem enormen Finanzbedarf ohne den entsprechenden wirtschaftlichen Nutzen.
Nun ist uns ja bekannt, daß Herrn Krauses Blick oftmals sehr eingeengt ist und Erkenntnisse sich bei ihm, wenn überhaupt, etwas später einstellen.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wenn überhaupt!)

Aus diesem Grund möchte ich von dieser Stelle aus darauf aufmerksam machen, daß allein im oberen Elbtal fast 50 % des benötigten Trinkwassers aus der Elbe gewonnen werden.
Greenpeace hat vor zwei Jahren in einem Bericht über die Trinkwassersituation in den neuen Bundesländern folgende Tatsachen aufgelistet,

(Renate Blank [CDU/CSU]: Sie werden es nicht glauben, ich habe die Elbe mit Ihrem Kollegen bereist!)

— ja, verehrte Frau Kollegin, wir von der Arbeitsgruppe Umwelt auch —, die Herrn Krause noch einmal ins Gedächtnis gerufen werden sollten: Ein geplanter Ausbau führt zu grundsätzlichen Veränderungen des Flusses und der Auen. Feuchtgebiete, die von einem natürlich wechselnden Wasserstand abhängig sind, würden verschwinden.
Die stark verminderte Fließgeschwindigkeit des Wassers würde der jetzigen Tier- und Pflanzenwelt ihre Lebensgrundlage entziehen, und die Selbstreinigungskraft der Flüsse würde abnehmen. Als Trinkwasserlieferant würden die Flüsse ihre Funktion einfach nicht mehr wahrnehmen können.
In den letzten Jahren hat sich in unserer Gesellschaft zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt — Gott sei Dank —, daß nahezu alle Bauvorhaben, also auch Wasserbauprojekte, neben den erwünschten positiven Wirkungen auch negative Aspekte aufweisen. Deshalb brauchen wir neben der ökonomischen Projektbewertung auch eine Beurteilung der ökologischen und der sozialen Folgewirkungen. Auch das, verehrte Frau Kollegin, bitte ich zu bedenken.

(Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

Nun weiß ich auch, daß Klein Rosenburg nur ein Nebenkriegsschauplatz ist, über den es sich kaum lohnen würde zu diskutieren. Aber Sie wissen ebensogut wie wir, daß der Bau dieser Staustufe ohne nachfolgenden Elbeausbau — dieser dann mit bis zu 17 Staustufen — ökonomisch keinen Sinn macht.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Das wollen wir auch nicht!)

Mittelfristig legen Sie mit dem Bau dieser Staustufe den weiteren Ausbau von Saale und Elbe fest,

(Zuruf von der F.D.P.: Das sagen Sie!)

und dies muß jetzt schon verhindert werden. Mit dieser Maßnahme, verehrter Herr Kollege, entsteht nämlich die Gefahr, daß die gemeinsame Erklärung von Bundesregierung und Koalitionsfraktionen, den Elbeausbau nicht zu tätigen, von der ich sehr wohl weiß, unterlaufen wird.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Sie sollten sich bei Ihrem Kollegen erkundigen!)

— Ich weiß, daß es nach dem Bundesverkehrswegeplan bis jetzt nicht feststeht; aber es bringt sonst keinen Sinn, und es wird passieren, und deshalb warne ich davor. Deshalb sage ich im Interesse der Trinkwasserversorgung und des Gewässer- und Naturschutzes, Herr Krause sollte dieses Projekt doch lieber zurückstellen; er sollte lieber eine Sanierung von Saale und Elbe vornehmen. Die angesetzten 220 Millionen DM wären ein guter Ansatz, um zunächst einmal die Altlasten zu beseitigen.



Susanne Kastner Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214919800
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Klaus Röhl.

Dr. Klaus Röhl (FDP):
Rede ID: ID1214919900
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei dieser Aktuellen Stunde auf Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Thema „Haltung der Bundesregierung zu ihrem unter Verschluß gehaltenen Gutachten zum Ausbau von Saale- und Elbe-Staustufen" zeigt sich wieder gleich in mehrfacher Hinsicht das charakteristische Denk- und Arbeitsverhalten der Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Da wird zuerst lauthals und langanhaltend gefordert, den Lastverkehr, besonders den Schwerlastverkehr, von der Straße auf das umweltfreundliche, energiesparende Binnenschiff zu verlagern; aber wenn solche Projekte in Angriff genommen werden sollen, vertritt man vehement die Meinung, es möge alles beim alten bleiben, nichts solle verändert werden. Das heißt im Klartext: Es kann keine Verlagerung stattfinden.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch an das Projekt „Südumfahrung Stendal" erinnern.

(Lachen und Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dort hat man sich beschwert, daß Gutachten und Bewertung vorzeitig in die Öffentlichkeit gelangten, und es wurden nachhaltig Abänderungen gefordert. Im Gegensatz dazu mokiert man sich heute in dem vorliegenden Fall darüber, daß Gutachten in korrekter Weise und dem Datenschutz entsprechend unter Verschluß gehalten werden. In der Medizin werden solche Verhaltensweisen schizophren genannt.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Doch es wird noch viel kurioser. Im Bundesverkehrswegeplan 1992 steht eindeutig — er gilt bis ins Jahr 2012, und er liegt den Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ebenso vor wie uns —, daß an der Elbe nur Stromregulierungbauwerke, d. h. Buhnen, Sohlschwellen, Deck- und Leitwerke, wiederhergestellt und ergänzt werden sollen. Zur Errichtung von Elbe-Staustufen ist im Bundesverkehrswegeplan nichts, aber auch gar nichts enthalten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sollte doch jemals die Rede davon sein, dann kommt überhaupt nur eine Teilstaustufe an der Magdeburger Felsenstrecke in Betracht; aber auch diese ist nicht im Bundesverkehrswegeplan enthalten.

(Susanne Kastner [SPD]: Vielleicht hat Herr Krause das doch noch vor!)

Schauen wir aber auf die gesamtwirtschaftliche und werkehrliche Bewertung dieser Stromregulierung der Elbe im Bundesverkehrswegeplan, so erkennen wir ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von 9,3, d. h. eine sehr hohe volkswirtschaftliche Bedeutung. Ich frage mich hier: Wie gründlich haben sich die Kollegen vom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eigentlich diesen Bundesverkehrswegeplan angesehen?

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kritisch haben wir ihn angesehen!)

Kommen wir zur Saale. Hier ist der Ausbau der Saale, einer schon vorhandenen Schiffahrtsstrecke, von der Mündung in die Elbe bis Halle-Trotha in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen worden. Dabei soll, wie schon gesagt, eine Abladetiefe von 2,50 m erreicht werden, und es ist der Bau der durch den Zweiten Weltkrieg nicht mehr ausgeführten Staustufe Klein Rosenburg vorgesehen. Gesamtwirtschaftlich und verkehrlich gesehen ergibt sich hier ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von 5,3; das ist auch schon gesagt worden. Es ist also wiederum ein Projekt von sehr hohem volkswirtschaftlichen Wert.
Im Bundesverkehrswegeplan werden weiterhin Aussagen zúr Ökologie und Risikoanalyse zu diesem Projekt gemacht. Resultat: Es wird festgestellt, daß ein ökologisch tragbarer, konfliktarmer Ausbau möglich ist.
Nun weiß jeder, der sich ernsthaft mit dem Bundesverkehrswegeplan beschäftigt hat, daß die Untersuchungen zu diesem Plan Voruntersuchungen sind, die eine politische Entscheidung für oder gegen das Projekt ermöglichen sollen. Diese Voruntersuchungen dürfen aus Datenschutzgründen, auf die unsere Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch immer größten Wert legen, nicht veröffentlicht werden. So ist es doch; sonst schreien Sie doch immer, daß nicht alles veröffentlicht werden soll.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bringen alles durcheinander!)

Erst nach einem grundsätzlich positiven Entscheid im Rahmen des Bundesverkehrswegeplanes über ein Projekt erfolgen die vertiefenden, umfassenden Untersuchungen und Planungen, die dann der Öffentlichkeit zur Kenntnisnahme und Kritik vorgelegt werden. Sie wissen auch, wie die Verfahrensweise ist. All diese Umstände, Fakten und Verfahren sind auch den Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekannt.
Es stellt sich für uns also hier die Frage, ob durch diese Aktuelle Stunde nicht einfach eine voreilige und oberflächliche Vorverurteilung eines für den Aufschwung in den neuen Bundesländern notwendigen Projektes erreicht werden soll, aus Gründen, die sich aus der widersprüchlichen Haltung vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu den Projekten der Binnenschiffahrt generell ergeben. Vielleicht ist doch die Vermutung eines gespaltenen Denkens und Bewußtseins zu diesen Problemen bei den Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die einzig mögliche Erklärung zu dieser Angelegenheit.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214920000
Meine Damen und Herren, nun erhält unser Kollege Rudolf Horst Meinl das Wort.




Rudolf Meinl (CDU):
Rede ID: ID1214920100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Hintergrund für diese Aktuelle Stunde ist wieder einmal, daß die Bundesregierung und ihre Handlungen diskriminiert werden sollen.

(Zurufe von der SPD)

Weil die Saale vielleicht zuwenig Aufmerksamkeit erreichen könnte, werden gleich noch Elbe-Staustufen wider besseres Wissen mit angehangen.
Zwar hat der Minister für Verkehrswesen der ehemaligen Tschechoslowakei um einen weitergehenden Ausbau mit Staustufen gebeten, aber bereits am 21. Juli 1992 hat der damals im Bundesverkehrsministerium tätige Parlamentarische Staatssekretär Gröbl hier erklärt, daß ein durchgehender Staustufenausbau der Bundeswasserstraße Elbe unwirtschaftlich ist und abgelehnt wird. Das ist der heutige Stand im Bundesverkehrswegeplan.
Die Elbe bietet jedoch für die Schiffahrt als umweltfreundlicher, sicherer und wirtschaftlicher Verkehrsträger günstige Möglichkeiten, die es zu aktivieren gilt. Der Ausbau der Saale ist auf diese geplanten Schiffahrtsbedingungen der Elbe abgestimmt.
Im Ergebnis der Untersuchungen für den Bundesverkehrswegeplan 1992 zeigte sich, daß ein durchgehender Staustufenausbau der Elbe aus den erwähnten wirtschaftlichen Gründen nicht vertretbar ist. Mein Kollege Dr. Röhl hat bereits darauf hingewiesen: Stromregelnde Maßnahmen — das sind Wiederherstellung und Ergänzung von Buhnen, Deck- und Leitwerken sowie Sohlschwellen im Flußlauf — sind erforderlich für eine optimale Nutzung als Binnenwasserstraße, insbesondere auch zur Verbesserung der Wassertiefen.
Diese Maßnahmen haben einen hohen verkehrswirtschaftlichen Nutzen. Das belegt das hier als geheimes Dokument benannte Gutachten der Planco Consulting GmbH. Dieses Vorhaben ist deshalb mit einem Investitionsvolumen von rund 500 Millionen DM als vordringlicher Bedarf eingeordnet.
Die Uferbauwerke und -befestigungen sind übrigens auch wegen militärischer Nutzung durch die NVA und die UdSSR-Streitkräfte insbesondere in den Räumen Wittenberg und Riesa stark beschädigt worden.
Gegenwärtig werden auch Modellversuche durchgeführt mit dem Ziel, eine Stabilisierung der Flußsohle zu erreichen und damit die — zum derzeitigen Nachteil der Elbauen — vorhandene Grundwasserabsenkung zum Stillstand zu bringen. Die Arbeiten werden durch ein landschaftspflegerisches Begleitprogramm ergänzt.
Hinsichtlich durchgängiger Wassertiefen ist nach jetzigem Erkenntnisstand, wenn überhaupt, ein Teilaufstau nur in der Magdeburger Felsstrecke, am sogenannten Domfelsen, erforderlich. Das wurde bereits gesagt. Dieser Teilaufstau würde jedoch nur bei geringem Wasserstand wirken und wäre auf kurze Staustrecken beschränkt.
Bei den erforderlichen Planfeststellungsverfahren sind die für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen Behörden gemäß den gesetzlichen Regelungen beteiligt.
Der Ausbau der Elbe zu einer verbesserten internationalen Binnenwasserstraße entspricht den Zielstellungen für einen wirtschaftlichen Verkehr unter ökologischen Bedingungen. Ein Forschungsvorhaben für ein Flachschiff mit geringem Tiefgang ordnet sich hier ein und bietet bei Verwirklichung gute Voraussetzungen für den Schwergutverkehr.
Der Ausbau der Binnenhäfen als Schnittpunkt mit anderen Verkehrsträgern — ein Güterverteilzentrum in Dresden ist angedacht — folgt als logische Ergänzung. Damit erfolgt eine Angleichung der Schiffahrtsbedingungen bei Elbe und Rhein. Wir werden es nicht zulassen, daß Deutschland eine Käseglocke übergestülpt bekommt und die Bevölkerung zum Aussiedeln in die umliegenden Länder aufgefordert wird.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214920200
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Reinhard Weis (Stendal).

Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1214920300
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Teil des geplanten Projekts 17 der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit" berührt auch meinen Bundestagswahlkreis. Mir sind deshalb die örtlichen Verhältnisse vertraut, und ich weiß, daß es erhebliche Einwände der Anwohner gegen dieses Projekt gibt. Gemeint ist die Elbe-Havel-Wasserstraße. Hier gibt es Parallelen; deshalb spreche ich dieses Beispiel an.
Die erwähnten Einwände waren für mich der Grund, Anfragen an die Bundesregierung zu richten, auf die ich noch zu sprechen komme.
Zwei Aspekte stehen bei den Sorgen der Bürger im Mittelpunkt: erstens die geplanten oder notwendigen ökologischen Eingriffe, zweitens der ökonomische Nutzen. Zum zweiten Punkt, den wirtschaftlichen Erwägungen, gibt es die Befürchtungen, daß das Bundesverkehrsministerium wider besseres Wissen handelt. Auch für diesen Abschnitt soll es eine Studie des Planco-Instituts geben, aus der hervorgehe, daß das Kosten-Nutzen-Verhältnis miserabel und die ökonomische Begründung deshalb fragwürdig sei. Ich habe daher durch schriftliche Fragen an das Bundesministerium für Verkehr Aufklärung gesucht, warum dieses Gutachten nicht eingesehen werden kann.
Die Antwort ist vorgestern auf meinen Tisch gekommen. Herr Staatssekretär Dr. Knittel bestätigte mir, daß das Gutachten nicht zur Veröffentlichung bestimmt sei, weil es verwaltungsinterne und fachtechnische Inhalte habe, die darüber hinaus auch aus Datenschutzgründen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt seien.

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört! — Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die Bundesregierung ist an Korrektheit nicht zu überbieten!)

Diese Auskünfte erhärten natürlich bestehende
Bedenken und Vorurteile. Ich will an eine ganz



Reinhard Weis (Stendal)

spezielle Erfahrung erinnern, die die Erklärung des Herrn Staatssekretärs für mich absurd erscheinen läßt.
Gerade in diesen Tagen mutet der Bundesverkehrsminister allen Abgeordneten zu, eine Fülle von fachtechnischen Fragen bei einer einzigen verkehrspolitischen Entscheidung mit Ja oder Nein zu beantworten. Ich spreche von dem 700-Seiten-Gesetz zur Südumfahrung Stendal, das hier schon einmal angesprochen wurde und das auch meinen Wahlkreis betrifft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das kann doch jeder lesen! — Gegenruf von der SPD: Keiner liest es, weil es so dick ist!)

Bei diesem Gesetzentwurf hatte die Bundesregierung keine Hemmungen, in der ersten Veröffentlichung problematisches Datenmaterial breit unter die Leute zu streuen und uns Abgeordnete mit einer unfaßbaren Fülle von verwaltungsinternen Details zu überschütten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt machen wir es anders, und nun ist es wieder nicht richtig!)

Weshalb also jetzt diese Zugeknöpftheit?
Das Verkehrsministerium kann mir das PlancoGutachten gern so zur Verfügung stellen, daß der Datenschutz gewahrt bleibt. Ich habe kein Interesse an personenbezogenen Daten, wie sie in der Bundesratsfassung des Maßnahmegesetzes zur Südumfahrung Stendal verbreitet wurden. Mich interessiert die fachliche Basis der Pläne des Bundesverkehrsministeriums.
Alles, was ich heute ohne die Informationen aus dem Bundesverkehrsministerium an Details zu den Planungen an den Wasserstraßen Elbe, Saale und Havel weiß, kenne ich nur aus Gesprächen mit meiner Kollegin Wetzel, der offensichtlich der geforderte Einblick in die Unterlagen gewährt wurde. Warum erhalte ich eine abschlägige Antwort, wenn den Abgeordneten der Zugang offensichtlich doch gegeben ist? Das Ministerium muß sich die kritische Frage gefallen lassen, ob nicht eine falsche Informationspolitik und eine falsche Informationspraxis die Ursachen für Mißverständnisse und Mißstimmungen sind.
Meine Damen und Herren, wir kommen um eine Neuorientierung in der Verkehrspolitik nicht herum. Gerade die mittelfristige und langfristige Verkehrsplanung verlangt, daß sie ganzheitlich, also gleichzeitig als Umwelt- und als Wirtschaftspolitik verstanden wird. Dies aber geschieht nicht durch die Normierung von Wassertiefen, für die es vielleicht bessere Alternativen gibt, und durch ökologische Ausgleichsmaßnahmen, die nur die Folgen ökologischer Zerstörung mindern, nicht aber ihre Ursachen verhindern.
Die berechtigte Sorge der Umweltschützer besteht darin, daß mit dem Saalestau bei Klein Rosenburg ein Sachzwang aufgebaut wird, der — wenn auch noch nicht im jetzt vorliegenden Bundesverkehrswege-plan — eventuell zu einer Fortführung solcher Bauten auch in der Elbe führen wird. Hierzu fehlt eine unmißverständliche Aussage des Bundesverkehrsministeriums. Es wird so getan, als könnten mit ökologischen Ausgleichsmaßnahmen alle Beeinträchtigungen aufgefangen werden.
Mit welchen ökologischen Ausgleichsmaßnahmen wollen Sie die sichere Zerstörung der letzten großräumigen Flußauenlandschaften und des Biosphärenreservats an der Elbe überhaupt kompensieren?

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1214920400
Sorgen Sie dafür, daß die Entscheidungen Ihres Ministeriums nicht nur für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages durchschaubar und nachvollziehbar werden, wenn Sie auf Zustimmung hoffen wollen. Gehen Sie auch frühzeitig auf die Sorgen vor Ort ein, und beweisen Sie durch die vorgelegten Projekte, daß auch Verkehrsplanung mit vorbeugendem Umweltschutz vereinbar ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214920500
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, unserem Kollegen Manfred Carstens.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1214920600
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es geht in diesem Zusammenhang sicherlich um wichtige Fragen. Ich bin sicher, daß nach einer sachlichen Darstellung des Ganzen alle Beteiligten werden einsehen müssen, das man so vorgehen muß, wie die Bundesregierung es plant und wie der Bundestag zu entscheiden vorhat.
Als erstes möchte ich sagen, daß es kein geheimes Gutachten gibt. Ich habe es hier in der Hand. Es ist nicht unter Verschluß, sondern im Deutschen Bundestag zu sehen. Nur gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen Nichtveröffentlichen und Einsichtnehmenkönnen. Eine Abgeordnete ist unter uns, die das schon eingesehen hat und dies sicherlich wird bestätigen können. Wenn jemand im Bundesverkehrsministerium Einsicht nehmen will, kann das jederzeit geschehen.
Aber es besteht ein großer Unterschied zu einer Veröffentlichung. In dem Gutachten stehen Dinge, die man nicht veröffentlichen sollte, weil sie vertraulichen Charakter haben, z. B. kalkulatorische Vorlagen für die Binnenschiffahrt. Wir haben zugesagt, sie nicht zu veröffentlichen, also haben wir es auch nicht getan. Aber Einsicht nehmen können Sie schon.

(Susanne Kastner [SPD]: Dann hätten Sie es doch sagen können! Was ist das für ein Umgang!)

Wenn das, was von meinem Kollegen, Staatssekretär Dr. Knittel, zitiert wurde, genau überprüft wird, dann ergibt sich, daß es stimmt.
Er hat gesagt, es sei nicht zu veröffentlichen. Die Einsichtnahme sage ich Ihnen zu.
Um schon einmal einen Vorgriff darauf zu nehmen, was Sie, Herr Weis, besonders interessiert: Das Projekt 17 der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit" hat insgesamt einen Nutzen-Kosten-Faktor von 6,2. Bezogen auf den Oder-Havel-Kanal — da geht es noch um



Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
ein paar Teilstrecken — bei 2,20 m Tiefe handelt es sich jeweils um einen Nutzen-Kosten-Faktor von 2,8. Das können Sie aber auch einsehen. Sie sind herzlich eingeladen. Ich kann nicht zusagen, daß ich dabei bin; aber besondere Wünsche werden bei uns bestmöglich erfüllt.
Ich möchte nun aber den Ausbau der Saale in aller Sachlichkeit darstellen. Nach dem Bundesverkehrswegeplan soll die Saale für den modernen Binnenschiffsverkehr zur Verbesserung der dortigen strukturschwachen Region bis Halle geöffnet werden. Von der Elbe bis Leuna — das ist noch ein Stück weiter als Halle — ist die Saale eine dem allgemeinen Verkehr dienende Bundeswasserstraße und bereits mit 12 Staustufen geregelt. Lediglich im Mündungsbereich ist kriegsbedingt die letzte Staustufe, Klein Rosenburg, nicht fertiggestellt worden. Das hat ein anderer Redner schon zum Ausdruck gebracht. Hier liegt auch ein wesentlicher Engpaß für die SaaleSchiffahrt. Die knapp 90 km lange Saale bis Halle — um sie geht es hier — ist heute auf über drei Viertel ihrer Länge ein ausgebauter Wasserweg mit fünf großen Staustufen mit Schleusen von 103 m Länge und 12 m Breite.
Die geplanten Maßnahmen an der Saale umfassen einen Neubau der Staustufe Klein Rosenburg, Baggerungen, Abgrabungen und Modernisierung der anderen Schleusen mit einem investiven Nachholbedarf von rund 220 Millionen DM. Eine gründliche Umweltverträglichkeitsuntersuchung ist Bestandteil der Planungen und des späteren Planfeststellungsverfahrens. Der Ausbau der Saale für bis zu 2,50 m tiefgehende Schiffe steht nicht im Widerspruch zu den geplanten Schiffahrtsbedingungen der Elbe. Insbesondere resultiert hieraus keine Notwendigkeit, die Elbe oberhalb von Magdeburg mit Staustufen auszustatten.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wo ist denn Herr Schütz geblieben? Der müßte das hören!)

Grundlage für den Saaleausbau sind die Verkehrsprognosen zum Bundesverkehrswegeplan, um das Projekt in der Verkehrsentwicklung nicht zu überschätzen. Ich möchte das noch einmal deutlich sagen. Um auf der sicheren Seite zu liegen, wurde die prognostizierte Verkehrsmenge um rund ein Drittel auf 5,2 Millionen t pro Jahr, davon 2,8 Millionen t in Hauptverkehrsrichtung, reduziert. Mit diesen vorsichtigen Annahmen hat die Firma Planco Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen für einen Ausbau der Saale mit 2,50 m Tiefe durchgeführt. Unter Berücksichtigung der zu erwartenden Schiffahrtsverhältnisse auf der nicht staugeregelten Elbe ergeben sich durch den Einsatz größerer, besser ausgelasteter und damit wirtschaftlich verkehrender Schiffe Transportkostenersparnisse von rund 4 DM pro Tonne.
Auf der Kostenseite wurden alle Maßnahmen einschließlich der Kosten für die Umweltverträglichkeit berücksichtigt. Die geschätzte Investition von 220 Millionen DM enthält neben den reinen Ausbaukosten von 140 Millionen DM auch 80 Millionen DM für auf jeden Fall notwendige Bestandssicherungsmaßnahmen. Die Kosten für die Bestandssicherung gehen nicht in die Bewertung ein.
Der Saaleausbau ist mit einem Nutzen-KostenVerhältnis von 5,3 eine hochwirtschaftliche Maßnahme und daher in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenommen worden. Mit dem Projekt können wirtschaftliche Impulse für die Region gegeben, Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden.
Auf die Frage der Kollegin Dr. Hoth möchte ich sagen: Bei dem auch geplanten Elbeausbau — er steht im Bundesverkehrswegeplan — gehen wir im Jahresdurchschnitt von einer etwa hälftigen Ausnutzungszeit aus, was die 2,50 m Fahrtiefe auf der Elbe angeht. Die Elbe soll nicht mit Staustufen versehen werden. Im Vergleich der letzten zehn Jahre gehen wir in Verbindung mit dem vorgesehenen Ausbauvorhaben von einer für das halbe Jahr möglichen Ausnutzung von 2,50 m Tiefe aus. Das liegt auch diesen Berechnungen zugrunde.
Bei den umfangreichen Untersuchungsunterlagen, die dem Bundesverkehrswegeplan zugrunde liegen und zu denen auch das Planco-Gutachten gehört, handelt es sich um verwaltungsinterne Unterlagen fachtechnischer Art, die nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen und geeignet sind. Diese Unterlagen enthalten u. a. — ich habe es eben gesagt — vertrauliche betriebswirtschaftliche Daten der Binnenschiffahrt.
Ich will das nicht weiter ausführen. Ich habe angeboten, daß man im Bundesverkehrsministerium dieses Gutachten einsehen kann. Nachdem das so dargestellt ist, sieht jeder Mann und jede Frau ein, daß man sich über einen solchen Vorgang wirklich nicht aufregen sollte. Er ist angetan, sich darüber zu freuen, daß die Bundesregierung mit der Unterstützung des Deutschen Bundestages darangeht, die Saale bis Halle auszubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214920700
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Heinz-Günter Bargfrede.

Heinz-Günter Bargfrede (CDU):
Rede ID: ID1214920800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedauere, daß wir diese Debatte nicht im Verkehrsausschuß führen, wo sie hingehört, wo man die Probleme in einer wirklichen Beratung ansprechen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dort würden wir mit den Problemen sehr viel weiterkommen.
Ich möchte mich auf drei wesentliche Punkte beschränken, auf wirtschaftliche und umweltpolitische Gesichtspunkte, und außerdem möchte ich das Verfahren noch einmal ansprechen.
Meine Damen und Herren, gut ausgebaute Verkehrswege sind die unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß es zu einem durchgreifenden wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern kommen kann. Wer den Ausbau von Verkehrswegen verhindert, verhindert damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze und den Erhalt bestehender Arbeitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)




Heinz-Günter Bargfrede
40 Jahre SED-Herrschaft haben eben auch hinsichtlich der Verkehrsinfrastruktur eine verheerende Erblast hinterlassen. Wir haben hier in kurzer Zeit Enormes geleistet; aber es bleibt in den neuen Bundesländern noch unheimlich viel zu tun. Wenn man dort unterwegs ist, merkt man das praktisch bei jedem Kilometer. Wir müßten gleichzeitig und in kürzester Zeit unheimlich viele Verkehrswege bauen und ausbauen. Das können wir finanziell und kapazitätsmäßig beim besten Willen nicht schaffen.
Deshalb ist es für jede Region ein ganz wichtiges Signal und ein großer Vorteil, wenn jetzt eine bedeutende Maßnahme in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenommen wird. Im vordringlichen Bedarf sind jetzt für den sanften Ausbau der Elbe 520 Millionen DM vorgesehen, für den Ausbau der Saale 220 Millionen DM. Das sind zusammen 740 Millionen DM Bundesmittel, die für die neuen Bundesländer eine enorme Entwicklungschance bedeuten.
Erfahrungsgemäß werden übrigens beim Bau von Verkehrswegen etwa 60 % der Aufträge an örtliche Bauunternehmer vergeben. Ich nehme an, bei Wasserstraßen ist das ähnlich. Das wären in diesem Fall etwa 450 Millionen DM, die während der Bauzeit Arbeit und Brot für die dortige Region bedeuten würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ermittelte Kosten-Nutzen-Verhältnis von 5,3 bei der Saale und von 9,3 bei der Elbe zeigt eindeutig, daß diese Maßnahmen aus wirtschaftlichen Gründen unbedingt erforderlich sind. Meine Damen und Herren, man kann Arbeitslosigkeit vor allem in den neuen Bundesländern eben nicht nur mit AB-Maßnahmen bekämpfen. Im Gegenteil: Damit AB-Maßnahmen auf Dauer finanzierbar sind, brauchen wir eine florierende Wirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine florierende Wirtschaft braucht funktionstüchtige Verkehrswege, gerade in den neuen Bundesländern.
Punkt zwei: Umweltgesichtspunkte. Die Maßnahmen, die wir hier angesprochen haben, sind gerade aus Umweltgesichtspunkten heraus unbedingt erforderlich und wünschenswert. Damit Mobilität auf unseren Verkehrswegen in Zukunft umweltgerecht gestaltet werden kann und damit auch die erwarteten enormen Verkehrszuwächse umweltfreundlich aufgefangen werden können, brauchen wir erheblich verstärkte Investitionen in die umweltfreundlichen Verkehrswege Schiene und vor allen Dingen Wasser. Die Wasserstraße ist unser umweltfreundlichster Verkehrsweg überhaupt.
Die vorgelegten gesamt- und verkehrswirtschaftlichen Bewertungen haben auch hinsichtlich der Umweltauswirkungen unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte sowohl bei der Saale — das wird in DM ausgedrückt — mit 0,1 Millionen DM pro Jahr wie auch bei der Elbe mit 0,4 Millionen DM pro Jahr unter dem Strich positive Umwelteffekte ergeben. Der Hauptgrund liegt darin, daß mit diesen Maßnahmen erhebliche Gütermengen von der Straße auf den
Wasserweg verlagert werden. Das ist gut für unsere Umwelt.
Hinsichtlich der Behandlung der Unterlagen — damit komme ich zu Punkt drei — kann ich eine übertriebene oder unangemessene Geheimhaltung durch die Bundesregierung nicht erkennen. Im Zusammenhang mit der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplans sind sicher mehrere hundert solcher interner Untersuchungen zur gesamtwirtschaftlichen Bewertung einzelner Maßnahmen in Auftrag gegeben worden. Es ist richtig und korrekt, daß in diesen Fällen überall gleich verfahren wird und diese Unterlagen aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht veröffentlicht werden. Was wir für unsere Unterlagen benötigen, haben wir erhalten. Das ist doch entscheidend. Entscheidend ist auch, daß nach der Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplans die planungsrechtlichen Verfahren laufen, in denen Alternativen hinsichtlich Umweltgesichtspunkten untersucht werden, in denen auch die Träger öffentlicher Belange die Möglichkeit haben, Einspruch zu erheben, Anregungen zu geben und Einfluß zu nehmen.
Meine Damen und Herren, ich möchte uns alle bitten, diese beiden Maßnahmen in den Bundesverkehrswegeplan, und zwar in dem vorgelegten Bedarf, aufzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214920900
Meine Damen und Herren, zur Geschäftslage: Nachdem der Kollege Bargfrede gerade gesprochen hat, liegen mir jetzt noch zwei Wortmeldungen vor. Dann ist die Aktuelle Stunde beendet. Wir kommen dann zum nächsten Thema, nämlich der Großen Anfrage der Fraktion der SPD zur Lage der Frauen- und Mädchenhäuser.
Nun erteile ich unserer Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel das Wort.

Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1214921000
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Besuchertribüne! Herr Carstens, ich denke, Sie haben das Thema schon wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Es wäre mir sonst ein Anliegen gewesen, genau dies zu tun.
Wir haben heute eine Aktuelle Stunde zu einem eigentlich überhaupt nicht aktuellen Thema; denn in den nächsten vier bis sechs Wochen beschäftigen wir uns in der Einzelberatung mit genau diesen Projekten, die wir heute im Grunde vorgezogen beraten. Ich denke, auf Grundlage dieses Sachstandes sollten wir auch diskutieren.
Frau Blank, Sie haben, so glaube ich, Ihrer Fraktion einen Bärendienst erwiesen. Sie hätten sich gerade als Binnenschiffahrtspolitische Sprecherin und als Gesamtberichterstatterin für den Verkehrswegeplan die Mühe machen sollen, in die Unterlagen wirklich einmal hineinzugucken.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir nachher Ihre Rede nachlesen, kann das
außerordentlich peinlich werden, weil gerade solche
unüberlegten Aussagen dazu dienen, Mißtrauen her-



Dr. Margrit Wetzel
vorzurufen. Ich mache weiß Gott gerne Oppositionsarbeit.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das merkt man!)

— Für diese Legislaturperiode. — Aber dieses Mißtrauen ist in diesem Falle gerade dem Verkehrsministerium gegenüber nicht angebracht. Wenn wir in die Unterlagen für die Fortschreibung des Verkehrswegeplans gucken, stellen wir hinsichtlich der beiden Maßnahmen, um die es hier geht, fest: Zum einen handelt es sich um Strombaumaßnahmen an der Elbe in Höhe von 500 Millionen DM. Herr Carstens hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es hier darum geht, Stromregulierungen vorzunehmen,

(Renate Blank [CDU/CSU]: Das wurde von mir ausgeführt!)

alte Regulierungsbauwerke wiederherzurichten und dabei umweltpolitisch ausgesprochen sinnvolle Maßnahmen, nämlich die Sohlenstabilisierung, durchzuführen. Das ist eine auch ökologisch ganz wichtige Geschichte, damit uns die Auewälder in den Randbereichen nicht austrocknen.
Das heißt: Hier ist das Ministerium absolut lernfähig.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Das waren meine Ausführungen, Frau Kollegin!)

Alle uns zugänglichen Unterlagen

(Zuruf des Abg. Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU])

— lassen Sie mich doch einmal ausreden; ich sage doch nichts, was Ihren Widerspruch erwecken sollte — zeigen eindeutig: An Staustufen in der Elbe ist nicht gedacht.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig! Sehr schön! Prima!)

Bei einem Kosten-Nutzen-Faktor von 0,3 — auch in dem fraglichen Bereich — steht das außerhalb jeglicher Diskussion.

(Beifall des Abg. Peter Conradi [SPD] — Renate Blank [CDU/CSU]: Sie haben mir nicht zugehört!)

Es ist ganz leicht zu überprüfen: Die Strombaumaßnahmen betragen im vordringlichen Bedarf 500 Millionen DM; es gibt keine Maßnahmen im weiteren Bedarf. Das heißt: Für die nächsten 20 Jahre werden wir hier eindeutige Beschlüsse fassen.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Sie hätten mir hier besser zuhören müssen!)

Ähnlich verhält es sich — zum zweiten — mit der Staustufe der Saale. Wenn ein Fluß auf 90 km Länge zu drei Viertel auf zweieinhalb Meter Tiefe schiffbar ist, dann müssen wir als Verkehrspolitiker in jedem Fall seriös prüfen — wenn wir Verkehrsverlagerung auf umweltfreundliche Verkehrsträger auch nur annähernd ernst meinen —, ob wir das Nadelöhr entsprechend herrichten wollen.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Genau das wurde gesagt!)

Ob wir in den Einzelberatungen dann dazu kommen, die Maßnahme zu unterstützen, eine Ablade-tiefe von zwei Metern mit einem Kosten-NutzenFaktor von 13,1 — das ist phänomenal — zu schaffen, oder ob wir uns dafür entscheiden, die Staustufe mit einer Abladetiefe von zweieinhalb Metern Tiefe zu bauen, wird Ergebnis unserer vernünftigen Beratungen sein. Diesen Beratungsergebnissen will ich an dieser Stelle — das gebietet einfach der Anstand, auch den Kollegen in den Beratungen gegenüber — nicht vorgreifen. Wir haben in der Arbeitsgruppe —vermutlich wie auch Sie — noch keine abschließende Meinung. Das aber wird spätestens in vier bis sechs Wochen der Fall sein. Dann gibt es eindeutige Äußerungen dazu.
Aber noch eine Bemerkung zum Verfahren. Nachdem wir jetzt vom Corpus delicti gesprochen haben, nun einmal zum Opus delicti: Daß angeblich etwas unter Verschluß und geheimgehalten wird, ist — Entschuldigung — absoluter Quatsch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bin nicht die zuständige Berichterstatterin. Wie die Kollegen aus dem Verkehrsausschuß wissen, ist das bei uns Carl Ewen. Der ist heute leider verhindert, konnte nicht selbst reden. Ich habe ihn über diese Maßnahmen befragt; er wußte bestens Bescheid. Ich habe, weil ich mich ja innerhalb kürzester Zeit sachkundig machen mußte, dann im Ministerium angerufen und darum gebeten, in die fraglichen Unterlagen einsehen zu dürfen. Ich habe beste Informationen bekommen und kann mich an dieser Stelle nur dafür bedanken. Es war überhaupt kein Thema, daß ich irgendwelche Unterlagen nicht sehen durfte. Das ist, so denke ich, ein Kennzeichen einer seriösen Behandlung, wie wir sie im allgemeinen auch sonst, wenn es um Sachinformationen geht, erfahren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, daß damit einige Mißverständnisse ausgeräumt sind.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. — Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ CSU]: Das war Ihre eindeutig beste Rede bisher!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214921100
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat jetzt unser Kollege Dr. Harald Kahl das Wort.

Dr. Harald Kahl (CDU):
Rede ID: ID1214921200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für diese Aktuelle Stunde haben die Kolleginnen und Kollegen vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN offensichtlich von ihren Kollegen in Sachsen-Anhalt abgeschrieben,

(Dr. Nils Diederich [SPD]: Das nennt man Rationalisierung!)

und zwar aus dem Antrag vom 11. März. Aber auch ihnen wird hier das gleiche Schicksal wie in Sachsen-Anhalt widerfahren, nämlich daß dieser Antrag nicht auf Verständnis stößt.
Meine Damen und Herren, der am 15. Juli 1992 vom Bundeskabinett beschlossene Bundesverkehrswegeplan, der Grundlage für den Ausbau der Verkehrswege des Bundes bis zum Jahre 2010 ist, hat vor dem



Dr. Harald Kahl
Hintergrund der Herstellung der Einheit Deutschlands und des politischen wie ökonomischen Zusammenwachsens Europas das Ziel, für den Wirtschaftsstandort Deutschland die notwendige Mobilität zu gewährleisten. Erklärtes Ziel dabei ist, daß im Rahmen des Gesamtverkehrskonzeptes umweltfreundlichen Verkehrsträgern wie der Schiene und Wasserstraßen Vorrang eingeräumt wird.
Mit dem notwendigen Ausbau der kostengünstigen, umweltfreundlichen und sicheren Binnenschiffahrt in den neuen Bundesländern werden einerseits Kapazitätsreserven genutzt und zum anderen günstige Rahmenbedingungen für die Wettbewerbsfähigkeit der neuen Bundesländer geschaffen. Daher hat das Bundeskabinett auf der Grundlage des hier zur Aussprache stehenden Gutachtens der Firma Planco Consulting, Essen, aus den Jahren 1991 und 1992 beschlossen, die beiden als hochwirtschaftlich eingestuften Vorhaben — Strombaumaßnahmen an der Bundeswasserstraße Elbe und Ausbau der Bundeswasserstraße Saale — in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans 1992 aufzunehmen.
Die Gründe dafür, daß dieses Gutachten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, liegen auf der Hand:
Erstens. Das Gutachten ist eine verwaltungsinterne Unterlage, die sich u. a. mit den fachtechnischen Fragen der beiden Projekte auseinandersetzt. Verwaltungsinterne Unterlagen werden, wie Sie wissen, grundsätzlich nicht veröffentlicht.
Zweitens. Abgesehen davon verbieten es auch Gründe des Datenschutzes, die Bewertungsunterlagen zu veröffentlichen.
Drittens. Das Gutachten diente dazu, festzustellen,
welche Projekte in den Bundesverkehrswegeplan
1992 aufgenommen werden sollen. Es war also ein
reines Instrument der Vorplanung für die Bundesregierung. Der Bundesverkehrswegeplan kann deshalb
Entscheidungen und Genehmigungen auf den nachfolgenden Planungsstufen nicht vorwegnehmen oder
ersetzen. Über die Ausbauvorhaben wird vielmehr in
den jeweiligen Genehmigungsverfahren entschieden. Eine Beteiligung der Öffentlichkeit macht ja erst
Vorplanungen
einen Sinn, wenn schon konkrete Vorplanungen der Projekte existieren.
Daher kann von einem unter Verschluß gehaltenen Gutachten keine Rede sein. Vielmehr ist dieses Gutachten — ich wiederhole es — eine Diskussionsgrundlage, von der aus die weiteren Beratungen und Planungen durchgeführt werden.
Obwohl bereits das Planco-Gutachten zu dem Ergebnis kam, daß die Projekte an Saale und Elbe konfliktarm und ökologisch tragbar sind, möchte ich einige Umweltaspekte daraus aufgreifen, an Hand deren sich beweisen läßt, daß die Bundesregierung bereits in der Vorplanungsphase dieser Projekte darum bemüht war, die wirtschaftliche Effizienz dieser Ausbaumaßnahmen unter Beachtung aller technischen Lösungsmöglichkeiten und die größtmögliche Umweltverträglichkeit zu verbinden. Um die möglichen Negativwirkungen der geplanten Saalestau-stufe Klein Rosenburg, die die ganzjährige Wasserspiegelanhebung auf 2,50 m zum Ziel hat, für die Umwelt so gering wie möglich zu halten, wurde das
Stauwehr dieser Stufe als bewegliches Wehr konzipiert. Damit wird eine in der Saale ohnehin kaum auftretende Sohlerosion auch nach diesem Projekt nicht zu erwarten sein.
Eine Aufstauung der Elbe wird es bis jetzt nicht geben. Nach ersten Untersuchungen der Bundesanstalt für Wasserbau und Gewässerkunde lassen alle bisherigen Gutachten darauf schließen, daß die bisher beschlossenen stromregelnden Maßnahmen, Buhnen, Deck- und Leitwerke sowie Sohlschwellen auch hier ausreichen, um die vorgesehene Anhebung des Wasserspiegels zu erreichen.
Meine Kolleginnen und Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ich frage Sie: Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß Sie mit Ihrer Politik der Verunsicherung und Verweigerung den Menschen in den neuen Bundesländern, namentlich in dieser strukturschwachen Region, einen Bärendienst erweisen? Was die Menschen brauchen, ist Hoffnung, und diese kann Ihnen nur durch einen ökonomischen Aufschwung vermittelt werden. Er ist letztlich auch die Grundlage dafür, daß in den neuen Bundesländern eine ökologische Gesundung erfolgt.
Aus diesem Grund — das muß ich Ihnen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen — halte ich diese Aktuelle Stunde für wenig hilfreich und damit auch für überflüssig.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214921300
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Hanna Wolf, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Lage der Frauen- und Mädchenhäuser und gesetzgeberischer Handlungsbedarf
— Drucksachen 12/2243, 12/3909 —
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserer Frau Kollegin Dr. Edith Niehuis das Wort.

Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1214921400
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Große Anfrage zur Lage der Frauen- und Mädchenhäuser eingebracht, weil die Bundesregierung auf dem besten Wege war, diesen nach wie vor wichtigen gesellschaftlichen Einrichtungen ihre Aufmerksamkeit zu entziehen. Nach dem ersten Frauenhausbericht 1983 und dem zweiten 1988 verweigerte die CDU/CSU- und F.D.P.-Mehrheit hier im Hause unserer Forderung nach einem weiteren Bericht für das Jahr 1992 ihre Zustimmung. Weil wir aber nicht wollen, daß der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung die Frauenhäuser aus dem Blick



Dr. Edith Niehuis
verlieren, haben wir die Große Anfrage gestellt, und ich denke, das war gut so.
Wenn wir heute die Situation der Frauenhäuser debattieren, dann sollten wir nicht vergessen, daß es die Frauenbewegung war, die Mitte der 70er Jahre die ersten Frauenhäuser errichtet hat, und daß es nach wie vor die engagierten Frauen sind, die weitere Frauenhäuser errichten, so daß wir 324 an der Zahl haben. Mit Blick auf die letzten zwei Jahre möchte ich dabei insbesondere die Frauen in den neuen Bundesländern erwähnen, die nach dem Zusammenbruch der DDR nicht mehr zugelassen haben, daß die Gewalt gegen Frauen weiterhin weggelogen wird, sondern anfingen, Gewalt gegen Frauen öffentlich zu machen und Frauenhäuser zu gründen.
Mittlerweile gibt es 92 Frauenhäuser in den neuen Bundesländern. Das ist eine Leistung, auf die die Frauen stolz sein können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Zu einer solchen Debatte gehört, denke ich, auch, zu sagen, daß es eine politische Verantwortung gibt, diesen Frauenhäusern eine Zukunft zu geben. Ich freue mich, daß Frau Ministerin Merkel jetzt da ist. Denn es reicht in der Tat nicht aus, für die Frauenhäuser Ost 1991 eine bescheidene Anschubfinanzierung zu machen und dann diese Frauenhäuser zu gefährden. Das Ansinnen der Bundesregierung, einen Bewilligungsstopp für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchzusetzen, hätte das Aus für so manches neue Frauenhaus in den neuen Bundesländern bedeutet. In Sachsen z. B. werden fast alle Frauenhausmitarbeiterinnen über ABM finanziert, in Brandenburg alle, in Mecklenburg-Vorpommern 80 % usw. Das heißt, die Frauenhäuser in den neuen Bundesländern sind existentiell auf AB-Maßnahmen angewiesen. Eine Zerschlagung dieses arbeitsmarktpolitischen Instruments, wie die Bundesregierung es vorgesehen hatte, hätte die Frauenhäuser in den neuen Bundesländern zerstört. Gegen solch ein Platt-machen der Frauenhäuser, denke ich, hätten Sie als Frauenministerin heftig protestieren müssen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darum sollten wir alle gemeinsam den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten danken, daß sie die Bundesregierung hier gestoppt haben.
In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf das deutliche Bestreben der Bundesregierung, die Sozialhilfesätze zu kürzen, Kann-Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz in Frage zu stellen. Ich erinnere Sie daran, daß eine wichtige Säule der Frauenhausfinanzierung das Bundessozialhilfegesetz ist. Wenn Sie nicht aufhören, die Leistungen nach diesem Gesetz Zug um Zug in Frage zu stellen, dann werden Sie am Schluß auch die ganze Frauenhausfinanzierung in Ost und West gefährden, und dies werden wir nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wer die Hausaufgaben bezüglich der Frauenhausfinanzierung so schlecht macht wie Sie, Frau Ministerin Merkel

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Was?)

— ja, durch die Maßnahmen, bei denen sie nicht aufpaßt —, der sollte nicht mit den Fingern auf die Bundesländer zeigen und sagen: Ich brauche ein Bundesgesetz, und die Länder sollen einmal finanzieren. Wenn Sie mit einem Finger auf die Länder zeigen, dann, so bin ich ganz sicher, werden in dieser Sache 16 Finger anklagend auf Sie zurückweisen.
Grundsätzlich hat sich die Frauenhausfinanzierung im Vergleich zur Anfangszeit natürlich erheblich verbessert, allerdings nicht überall. Nicht überall werden die Frauenhäuser gleichermaßen und ausreichend finanziert. So ist es auch zu erklären, daß der Ruf nach einer bundesgesetzlichen Regelung eher aus den östlichen Bundesländern kommt als aus den westlichen, die vielfach eigene Förderrichtlinien haben oder auch über ein Frauenhausfinanzierungsgesetz auf Länderebene nachdenken.
Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge lehnt in seinen zweiten Empfehlungen 1988 eine bundesgesetzliche Regelung ab und plädiert neben einer institutionellen Förderung durch die Länder für Vereinbarungen zwischen den örtlichen Trägern der Sozialhilfe und den Trägern der Frauenhäuser. Es macht keinen Sinn, gegen den Willen der Betroffenen ein Bundesgesetz zu fordern, solange wir davon ausgehen können, daß die Frauenhausfinanzierung anderweitig geregelt ist. Allerdings ist es keine zufriedenstellende Regelung, wenn die Frauenhäuser auf Kann-Leistungen und freiwillige Zuschüsse angewiesen sind, um die sie je nach Haushaltslage Jahr für Jahr bangen müssen. Sollte sich in Zukunft der Verlust dieser Leistungen angesichts schwieriger Haushaltslagen herausstellen, werden wir die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Regelung neu diskutieren müssen, denn Frauenhausfinanzierung ist eine öffentliche Aufgabe, und darauf werden wir bestehen.
Die Frauenhausfinanzierung ist eine öffentliche Aufgabe, weil Gewalt gegen Frauen nicht ein individuelles Problem einer einzigen Frau ist, sondern ein gesellschaftliches Problem, ein Strukturproblem unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Gewalt von Männern gegenüber Frauen wie auch Kindern hat etwas zu tun mit der hierarchischen Struktur unserer Gesellschaft und insbesondere mit dem Machtgefälle von Männern gegenüber Frauen und Kindern. Denn Mißbrauch setzt stets Macht voraus. Wenn wir nach 16 Jahren Existenz von Frauenhäusern nach wie vor von steigendem Bedarf und Überbelegungen hören, wenn wir die Notwendigkeit von Mädchenhäusern und Frauen-Nachttaxen sehen, dann müssen wir uns, denke ich, auch die kritische Frage stellen, was wir eigentlich tun, damit diese Gewalt endlich aufhört.
Wir haben gelernt, die Gewalt gegen Frauen offen zu benennen und mit ihren Opfern praktische Solidarität zu üben, indem wir z. B. Frauenhäuser einrichten.



Dr. Edith Niehuis
Aber laufen wir nicht zugleich Gefahr, uns mit Gewalt gegen Frauen einzurichten? Was wird getan, um auch Frauen wie Männern ihre grundgesetzlich garantierten Rechte auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit zu gewähren? Es muß doch endlich einmal Schluß sein mit der Resignation, die schon Frauengenerationen vor uns hatten, wenn sie meinten, Männer seien nun einmal so, dagegen sei kein Kraut gewachsen. Kolleginnen und Kollegen, es wird dringend Zeit, daß wir dieses Kraut wachsen lassen, um Frauen vor Gewalt zu schützen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele denken in diesem Zusammenhang an eine Verschärfung des Strafrechts bzw. an wirkungsvollere Anwendung des Strafrechts durch Polizei und Justiz, andere an eine sozialpädogogische Betreuung bzw. therapeutische Beratung der Täter. Sicherlich wäre es sinnvoll, wenn nicht die Frau mit ihren Kindern die Wohnung verlassen müßte, sondern der gewalttätige Mann.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Maßnahmen haben ihre Wirkungskraft, sie haben aber auch eine begrenzte Wirkungskraft, weil sie die allem zugrunde liegende Ursache eben auch nicht bekämpfen. Die Ursache der Gewalt gegen Frauen liegt in dem Machtgefälle von Männern gegenüber Frauen, also in der geduldeten Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft.
Wenn wir also wollen, daß unsere Töchter und Enkelinnen endlich vor der männlichen Gewalt geschützt werden, dann müssen wir heute Ernst machen mit der Gleichstellung von Frauen und Männern. Hier gibt es so unendlich viel zu tun.
Schon in der letzten Legislaturperiode hat die SPD-Fraktion den Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes eingebracht. Damals wurde es von den Mehrheitsfraktionen abgelehnt, ohne daß hier etwas ähnliches auf den Tisch gelegt wurde. Dann hätte man denken können, die Bundesregierung hat zu Beginn der Legislaturperiode gelernt und wird ein Gleichberechtigungsgesetz vorlegen. Aber mittlerweile, nach zwei Jahren, denke ich, die Bundesregierung wird dieses Gesetz so lange zurückhalten und bearbeiten, bis es zahnlos und wirkungslos geworden ist.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies, denke ich, ist kein Zufall, sondern politische Absicht. Ich wünschte mir so sehr eine Frauenministerin, die den Mut hat, dies in der Öffentlichkeit zu bekennen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aus aktuellem Anlaß erinnere ich in diesem Zusammenhang an die Diskussion des Art. 3 des Grundgesetzes. Nach über 40 Jahren Erfahrung mit „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" sind CDU/CSU und F.D.P. nicht in der Lage, hier eine anständige Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes vorzulegen. Ganz im Gegenteil, sie halten uns Sozialdemokratinnen davon ab, endlich eine vernünftige Ergänzung des Grundgesetzes vorzunehmen.

(Christina Schenk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Wir brauchen einen deutlichen Gleichstellungsauftrag und die Möglichkeit, durch Frauenförderung der Bevorzugung von Männern endlich etwas entgegenzusetzen. Das ist die sogenannte Kompensationsklausel.
Wenn ich daran denke, wie Sie jetzt noch versuchen, eine weibliche Verfassungsrichterin zu verhindern, dann muß ich sagen: Das ist der Höhepunkt des Skandals.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der SPD: Mit welchen Methoden vor allen Dingen!)

Ich erwähne dies ganz bewußt in dieser Debatte über Frauenhaus und Gewalt gegen Frauen, weil ich denke: Wer sich weigert, die Gleichstellung von Frauen und Männern aktiv zu fördern, muß wissen, daß er damit weiterhin den Nährboden für Gewalt gegen Frauen hegt und pflegt. Daran sollten Sie denken, wenn es irgendwann hier im Hause heißt, eine Zweidrittelmehrheit für eine Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes zu bekommen. Wir werden dann sehen, wer Ernst macht mit der Gleichstellung.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214921500
Unsere nächste Rednerin ist Frau Kollegin Ilse Falk.

Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1214921600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich komme wieder zum Thema zurück. In den 324 Frauenhäusern der Bundesländer, für die der Bundesregierung Daten zur Großen Anfrage der SPD vorliegen, steht den angegebenen 4 374 Frauenhausplätzen fast die vierfache Anzahl aufgenommener Frauen gegenüber. Mit diesen Frauen zusammen wurden 13 344 Kinder aufgenommen.
Diese Zahlen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen, gehen aus der Antwort der Bundesregierung zur Lage der Frauen- und Mädchenhäuser hervor. Hier drückt sich in nüchternen Zahlen allein der quantitative Bedarf aus, ohne indes etwas über das menschliche Leid zu sagen, das sich dahinter verbirgt. Zunehmende psychische und physische Gewalt in Ehen, Partnerschaften und Familien durch Ehemänner, Lebensgefährten, Söhne, Brüder und Eltern führt zu steigendem Schutzbedürfnis der betroffenen Frauen mit ihren Kindern.
Mangelndes Unrechtsbewußtsein läßt Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung zu und wird uns schließlich auch immer häufiger im wahrsten Sinne des Wortes als solches vor Augen geführt. Hier liegt ein Grund für die erhöhte Zahl aufgenommener Frauen und Kinder.



Ilse Falk
Zum zweiten ist nach den Aussagen der Frauenhausträger auf Grund der schwierigen Situation auf dem Wohnungsmarkt eine immer längere Verweildauer zu verzeichnen. Ich brauche Sie nicht zu fragen, wer die begehrte Zwei- bis Dreizimmerwohnung auf dem freien Markt zugesprochen bekommt, der unabhängige Mann mit geregeltem Einkommen und guter Position oder die alleinstehende, alleinerziehende Frau mit einem oder zwei Kindern und bestenfalls mit einer ungeregelten Nebenbeschäftigung, die Frau, die noch dazu gerade aus dem Frauenhaus kommt und sicher in der Bewältigung der aktuellen Lebenssituation mehr Fragen als Antworten weiß.
Im Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 1992 sind Regelungen enthalten, die Frauen mit Kindern in Notsituationen bei der Suche nach einem geeigneten Wohnraum vorrangig berücksichtigen. Die Länder wurden auf diese Notwendigkeiten hingewiesen. Darüber hinaus prüft das Bundesministerium Frauen und Jugend zur Zeit die Handhabung des § 1361 b BGB in der Praxis, nach dem der mißhandelten Frau und ihren Kindern die eheliche Wohnung durch richterlichen Beschluß zugewiesen werden kann. Das Ziel dieser Vorschrift ist, den Opfern anstatt dem Täter die gewohnte Umgebung zu erhalten, so wie auch Sie es angesprochen haben, wobei unbedingt der notwendige Schutz gewährleistet sein muß.
Ich möchte an dieser Stelle eines deutlich betonen: Frauen, die in einer für sie aussichtslosen Lage mit ihren Kindern in den Schutzraum eines Frauenhauses fliehen, sind keine Emanzen auf dem Selbstfindungstrip. Sie sind Opfer von zum Teil langjähriger Gewalt durch Ehemänner und Partner. Die Verzweiflung, die Ängste und Sorgen um sich selbst und die Kinder führen zu einem Schritt, der oft genug erst den Anfang eines langandauernden Bewußtseins- und Heilungsprozesses bedeutet.
Daß auch für Mädchen ein solcher Schutzraum dringend nötig ist, konnte in der Antwort nicht mit Zahlen belegt werden, da statistisches Material hierzu durch die Zuweisung des Schutzes von Mädchen zur Jugendhilfe kaum vorliegt. Derzeit bestehen in den Bundesländern 17 Mädchenhäuser. Zum Teil werden mißhandelte Mädchen aber auch in Frauenhäusern mit aufgenommen und betreut. Das weitgehend anders gelagerte Problem des therapeutischen Zugangs bei sexuellem Mißbrauch erfordert erheblich längere Aufenthalte der betroffenen Mädchen in Schutzhäusern. Dies muß bei der Einrichtung neuer Mädchenhäuser bedacht werden.
Vor wenigen Wochen besuchte ich ein Mädchenwohnheim im Erziehungsverein Neukirchen-Vluyn. Im Gespräch mit Mitarbeitern und dem Leiter wurde deutlich, daß das Thema Gewalt in der Familie oder sexueller Mißbrauch immer noch vielfach totgeschwiegen wird. Obwohl die meisten Täter nächste oder nahe Verwandte oder Bekannte sind und aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen, ist nach wie vor die vorherrschende Meinung, daß es sich um ein Problem von Randgruppen oder abnormen Einzeltätern handelt.
Die besonders positive Arbeit dieses Hauses konnten wir an Beispielen vielfacher Angebote von Freizeitgestaltung erleben, die vielleicht zum erstenmal Freude erfahren ließen und wichtiger Bestandteil einer umfassenden psychologisch-pädagogischen Betreuung sind.
In diesen Häusern werden grundlegende Hilfe und Orientierung für den weiteren Lebensweg junger Mädchen und Frauen gegeben. Der so häufig durch Gewalterfahrung vorgegebene Weg ins soziale Abseits kann damit eine andere Richtung bekommen. Darüber hinaus leisten die meisten Schutzhäuser in bezug auf die Nachbetreuung und Beratung der betroffenen Frauen und Mädchen wichtige Arbeit.
Die Einrichtung von weiteren, in den alten und neuen Bundesländern erforderlichen Mädchenhäusern sollte deshalb dringend bei den Planungen der Jugendhilfe Berücksichtigung finden. — Ich sehe, die Uhr ist bereits auf Null angekommen. Ich muß ein bißchen kürzen.
Ich werde nun noch kurz ein Wort zu dem uns vorliegenden Entschließungsantrag sagen, der gestern sehr kurzfristig auf den Tisch kam. In diesem Entschließungsantrag wird der Weg zu einer verbindlichen gesetzlichen Verankerung der Frauenhausarbeit in keiner Weise konkretisiert. Er nimmt alte, von den Ländern und auch den Frauenhausträgern abgelehnte Forderungen, beispielsweise zur Finanzierung, wieder auf. Autonom getragene Einrichtungen im Vergleich zu den von Vereinen und Verbänden getragenen in ihrer Arbeit anders zu fördern bedeutet nicht nur Ungerechtigkeit, sondern auch Einmischung.
Aus diesen Gründen lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214921700
Meine Damen und Herren, ich erteile j etzt das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Sigrid Semper.

Dr. Sigrid Semper (FDP):
Rede ID: ID1214921800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Vorhandensein dieser von meiner Vorgängerin zahlenmäßig genannten Frauenhäuser hat dazu beigetragen, daß Gewalt gegen Frauen und Kinder öffentlichgemacht wurde. Seit einigen Jahren finden auch Mädchen, die von ihren Vätern, Brüdern oder anderen männlichen Verwandten sexuell mißbraucht werden, Zuflucht in sogenannten Mädchenwohngruppen.
Für uns Politiker aus den neuen Bundesländern ist das öffentliche Thematisieren von Gewalt gegen Frauen und Mädchen neu. Ich möchte nicht leugnen, daß in der DDR Ehefrauen und Partnerinnen unter der Gewalt von Ehemännern und Partnern zu leiden hatten. Seit der Öffnung der Grenzen sind in den neuen Bundesländern 92 Frauenhäuser gegründet worden. Ich war aber enttäuscht und betroffen, daß viele Frauenhäuser nicht namentlich genannt werden können oder der Ort nicht bekanntgemacht werden kann aus Angst, daß den Frauen doch wieder Gewalt angetan wird.
Die Gründe, weswegen Männer ihre Ehefrauen oder Partnerinnen quälen oder sexuell mißbrauchen, sind vielfältig. Durch plötzliche Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, persönliche Unzufriedenheit, familiäre



Dr. Sigrid Semper
oder berufliche Schwierigkeiten können Situationen entstehen, in denen viele Männer nur noch mit Aggressivität und brachialer Gewalt reagieren.
In den alten Bundesländern hat man sich über die Jahre an die Existenz dieser Zufluchtstätten gewöhnt. Die Gewalt gegen Frauen ist jedoch nicht geringer geworden. Es ist sicherlich richtig, daß es auch Ehemänner gibt, die Opfer ihrer gewalttätigen Ehefrauen sind. Aber zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt: Gewalt gegenüber Frauen und Kindern ist ein Merkmal unserer Gesellschaft.
In ein Frauenhaus flüchten mißhandelte Frauen in ihrer Verzweifelung, um sich und ihre Kinder vor den lebensbedrohenden Brutalitäten in der Familie zu schützen. Dort finden sie und ihre Kinder häufig zum erstenmal seit Jahren Ruhe und Sicherheit.
Um es deutlich zu sagen: Frauen, die mit ihren Kindern die gemeinsame Wohnung verlassen, stehen vor dem Nichts, vor einer unbekannten Zukunft. Diese Frauen sind durch die erlittenen Demütigungen und Verletzungen verängstigt und eingeschüchtert. Sie müssen mit der neuen Situation zurechtkommen, sind gezwungen, für sich und ihre Kinder die weiteren Schritte in ein anderes Leben ohne Ehemann oder Partner zu planen. Diese Frauen müssen lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, die ganze Verantwortung für sich und ihre Kinder allein zu übernehmen. Sie brauchen dabei Unterstützung, Hilfe und ermutigenden Zuspruch, die ihnen die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses geben können.
Die Bundesregierung hat Frauenhäuser im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Modellprojekte finanziell gefördert und unterstützt. Damit hat sie einen wichtigen Beitrag geleistet. Jetzt stehen Länder und Kommunen in der Verantwortung.
Es hat sich gezeigt, daß die finanzielle Unterstützung der Frauenhäuser von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich ausfällt. In den neuen Bundesländern fehlen zum größten Teil bis heute Förderrichtlinien der Länder. Es ist jedoch notwendig, daß diese Einrichtungen zum Schutz von Frauen und Kindern langfristig finanziell abgesichert sind. Dazu gehört, daß die auf zwei Jahre begrenzten ABMStellen in unbefristete Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Aber von den Kommunen und Ländern!)

Dafür möchte ich mich einsetzen.

(Beifall im ganzen Hause)

In den Bundesländern ist eine fachgerechte Ausbildung der Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern zu Sozialarbeiterinnen noch nicht geregelt. Deshalb appelliere ich an die betreffenden Ministerien in den neuen Bundesländern, das Ausbildungskonzept, das der Verband der Frauenhäuser vorgelegt hat, umzusetzen. Es stellt sich aber auch die Frage, warum die Opfer von häuslicher Gewalt ihre Wohnung und ihr soziales Umfeld verlassen müssen, warum Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden, um dieser Gewalt zu entgehen, während die Täter unbehelligt und unbestraft in der gemeinsamen Wohnung und gewohnten Umgebung bleiben können.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Das kann man wohl sagen!)

Der amerikanische Staat Oregon z. B. verfügt über ein umfassendes Gesetzessystem, um Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Die Polizei ist verpflichtet, einen Ehemann zu verhaften, der seine Frau prügelt. Er wird durch eine richterliche Anordnung verpflichtet, seine Familie in Ruhe zu lassen. Kommt es zu einem Prozeß wegen Körperverletzung, ist der Staatsanwalt verpflichtet, die Ehefrau zu vertreten.
Ich begrüße sehr, daß in den Leitlinien zur kommunalen Frauenpolitik der F.D.P. die Forderung aufgenommen worden ist, gewalttätige Männer aus der häuslichen Umgebung zu entfernen. Es ist außerdem zu überlegen, ob Frauenhäuser nicht durch eine Bannmeile zu schützen sind.
Ziel aller Bemühungen muß sein, Gewalt gegen Frauen und Mädchen abzubauen. Es muß eine Selbstverständlichkeit für jeden werden, daß Frauen und Mädchen ein natürliches Recht auf Achtung der persönlichen Würde und Unversehrtheit der Person haben. Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, werden Frauen- und Mädchenhäuser überflüssig sein.

(Beifall im ganzen Hause)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214921900
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unsere Frau Kollegin Petra Bläss.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214922000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während noch im Dezember 1991 Frau Ministerin Merkel erklärte, Frauenhäuser seien „unentbehrlich für mißhandelte Frauen, die sich und ihre Kinder sonst nicht in Sicherheit bringen könnten" , müssen in den letzten Wochen immer mehr Zufluchtswohnungen und Schutzräume für Frauen geschlossen werden. Obwohl die Bundesregierung seit Jahren die zunehmende Gewalt gegen Frauen und Mädchen öffentlich beklagt, entzieht sie in aller Stille durch Sparmaßnahmen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den Einrichtungen, die die Opfer solcher Gewalt betreuen könnten, die materielle und finanzielle Basis.
Gerade in den neuen Bundesländern arbeiten in derartigen Einrichtungen fast ausschließlich ABMKräfte. Ein Großteil dieser Stellen läuft in diesem Jahr aus. Eine Verlängerung oder gar die Umwandlung der ABM in feste Stellen ist nicht in Sicht.
Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind die Mitarbeiterinnen in den autonomen Frauenhäusern. Aus der uns vorliegenden Antwort der Bundesregierung, die eher eine ministerielle Bankrotterklärung ist, geht hervor, daß die Hälfte aller Frauen- und Mädchenhäuser autonom, d. h. ohne öffentlichen Träger, selbstverständlich arbeiten und daher auf die Förderung durch Bund und Länder angewiesen sind.
Die Bedingungen, unter denen diese Projekte seit Jahren arbeiten müssen, sagen mehr über den wirklichen Stellenwert von Frauen- und Mädchenhäusern



Petra Bläss
aus als die nicht signifikante Erhebung der Bundesregierung.
Autonome Frauen- und Mädchenhäuser verstehen sich selbst als feministische Projekte, d. h., ihrem Ansatz liegt eine Gesellschaftsanalyse zugrunde, die die Strukturen, in denen wir leben, als patriarchale erkennt.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Das freut die Caritas aber, wenn sie das hört!)

Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird als Teil der alltäglichen strukturellen Gewalt verstanden und bekämpft. Das offiziell gern zum privaten Problem der Betroffenen erklärte Thema Gewalt erhält damit seine tatsächliche politische Dimension zurück. Aus dieser Analyse ergibt sich für die Mitarbeiterinnen der Frauen- und Mädchenhäuser eine klare Parteinahme für die von Gewalt betroffenen Frauen.
Bund und Länder gehen bei der Beurteilung der Förderfähigkeit der Frauenhäuser von einem anderen Ansatz aus. Staatliche Fördermittel werden nur selektiv und auch immer nur zeitlich begrenzt bewilligt. Während die psychosoziale Betreuung in der Regel als förderfähig eingestuft wird und Stellen für Fachfrauen bewilligt werden, muß politische und präventive Arbeit in den Selbsthilfegruppen ehrenamtlich geleistet werden. Hinzu kommt, daß die Bedingungen für die Arbeit von Frauenhäusern von Bundesland zu Bundesland verschieden sind. Einheitliche Förderkriterien, insbesondere die Finanzierung aller Personal- und Sachkosten sowie die kostenlose Unterbringung der Betroffenen, sind erforderlich, um endlich die Chancenungleichheit für die Frauen zu beenden.
Um es auf einen Nenner zu bringen: Das Problem der Gewalt gegen Frauen und Mädchen, das ein gesamtgesellschaftliches ist, kann nicht allein durch psychologische Beratung und ohne Kosten gelöst werden. Dies wäre seiner Dimension nicht angemessen. Die immer wieder als Begründung verwendete Formel „Es ist kein Geld da" ist in Wirklichkeit kein Argument. Schließlich liegt es an den Politikerinnen und Politikern, zu entscheiden, wofür das verfügbare Geld eingesetzt wird. Und wenn die Kapazitäten für die Aufnahme von immer mehr Frauen und Kindern schwierig zu schaffen sind, wäre es angebracht, Alternativen zu suchen.
Bisher mußten in der Regel die Opfer der Gewalt ihre gewohnte Umgebung, den Freundeskreis, die Kita oder die Schule verlassen und in Frauenhäusern für einen kürzeren oder längeren Übergangszeitraum Aufnahme suchen. Sie wurden ohne eigene Schuld in ihrer Bewegungsfreiheit und ihren Persönlichkeitsrechten entscheidend eingeschränkt, während die Täter wie gewohnt weiterlebten.
Um diese Ungerechtigkeit zu beenden, sollten Männerhäuser eingerichtet werden. In ihnen sollten die Täter unter psychologischer Betreuung lernen, gewaltfreie Beziehungen aufzubauen. Dies wäre sicher in präventiver Hinsicht wirksamer und noch dazu billiger als die gegenwärtige Verfahrensweise.
Ich freue mich sehr, daß hier im Haus Übereinstimmung zu diesem Punkt herrscht.
Die Voraussetzung, um solche Alternativen zu schaffen, wäre eine Konzeption der Bundesregierung, die das Problem der Gewalt gegen Frauen in seiner ganzen Komplexität in Angriff nimmt; aber genau daran mangelt es offensichtlich.
Ich möchte meine Unterstützung für den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekunden, weil er ein richtiger Schritt in die richtige Richtung ist.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214922100
Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Christina Schenk.

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1214922200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema ist viel zu wichtig, als daß man es ein weiteres Mal mit einem Bericht oder mit der nichtssagenden Abfrage der Statisik abtun dürfte. Es wird Zeit, daß über Frauenhäuser hier in diesem Hohen Hause Tacheles geredet wird.
Gewalt gegen Frauen und Kinder, insbesondere Mädchen, ist ein gesellschaftliches Phänomen. Der Frauenhausbewegung, die es in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 70er Jahre gibt und die nun auch in Ostdeutschland entstanden ist und sich dort entwickelt, kommt das Verdienst zu, diesen Tatbestand öffentlichgemacht und Strategien zu seiner Bekämpfung entwickelt zu haben.
Vorher, also vor dem Entstehen der autonomen Frauenhausbewegung, war das Problem der massenhaften Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich ignoriert, zur Privatsache erklärt und totgeschwiegen worden.
Wenn ich bedenke, daß die Vergewaltigung in der Ehe heute sowohl im Westen als auch im Osten noch immer offiziell erlaubt ist, dann muß ich feststellen, daß sich der offizielle Teil dieser Republik, sprich: die Regierung und die sie tragenden Parteien, keinen Schritt nach vorn bewegt hat und Frauen alle Entwicklungen in diesem Bereich ihrer eigenen Aktivität, dem Mut und der Tatkraft ihrer Bewegungen zu verdanken haben.
Das mindeste, was vom etablierten Politikbetrieb, sprich: vom Bundestag und von der Bundesregierung, in dieser Situation erwartet werden kann, wäre die Anerkennung der Arbeit der Frauenhausbewegung und endlich ihre ausreichende finanzielle Unterstützung unter voller Wahrung der Autonomie der jeweiligen Gruppen und Einrichtungen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Meine Damen und Herren, deshalb bringen wir heute zu dieser Debatte einen Entschließungsantrag ein, der an den Frauenausschuß überwiesen werden soll. Dort wird sich zeigen, ob die Parteien bereit sind, mehr zu tun, als nur Deklamationen über dieses Thema von sich zu geben, und dort wird sich zeigen, ob sie bereit sind, in Zusammenarbeit mit Vertreterinnen der Frauenhäuser verschiedener Trägerinnen, z. B. durch eine Anhörung, ernsthaft an einem Modell



Christina Schenk
zu arbeiten, mit dessen Hilfe die Arbeit der Frauenhäuser finanziell abgesichert werden kann.
Insofern, Frau Kollegin Falk, habe ich den Eindruck, daß Sie unseren Antrag noch nicht gelesen haben. Aber Sie haben im Ausschuß dann noch Gelegenheit und Zeit, darüber zu debattieren.
Unser Antrag hat zwei Kernpunkte: Einmal soll die Finanzierung der Frauenhäuser auf eine solide Grundlage gestellt werden, und zweitens soll die Respektierung der Autonomie der Frauenhäuser eine gesetzliche Grundlage bekommen.
Dieser Antrag umfaßt auch noch einen dritten Punkt, das ist der wohnungspolitische Bereich. In diesem muß sich dringend etwas ändern. Über die Maßnahmen hinaus, die zur Beseitigung der Wohnungsnot getroffen werden müssen, müssen besondere Maßnahmen zur Lösung der Wohnungssorgen von Frauenhausbewohnerinnen ergriffen werden.
Im Rahmen des Schwangerenhilfegesetzes beschloß dieser Bundestag erst kürzlich, das schwangere Frauen bei der Vergabe von Sozialwohnungen bevorzugt werden müssen. Ich meine, es ist überhaupt nicht einzusehen, daß diese Bevorzugung nicht ebenso Frauen zugute kommen soll, die vor der Gewalt ihrer Männer mit ihren Kindern in ein Frauenhaus fliehen müssen. Wer diese Forderung ablehnt, nachdem er der Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes im Schwangerenhilfegesetz zugestimmt hat, gibt damit zu, daß es ihm nicht um die Kinder geht, zumindest nicht um die bereits geborenen.
Ich meine zum Schluß: Die Diskussion im Ausschuß wird zeigen, ob und inwieweit die Fraktionen des Deutschen Bundestages tatsächlich etwas zur Konsolidierung der insgesamt noch immer beklagenswerten Situation der Frauenhäuser zu tun bereit sind.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, zum Schluß dieser Debatte erteile ich das Wort der Bundesministerin für Frauen und Jugend, unserer Kollegin Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1214922300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über die Große Anfrage zum Thema Frauenhäuser. Wir haben seitens der Bundesregierung diese Gelegenheit genutzt, einen Überblick über die Zahl der Frauenhäuser und der Situation in ihnen zu gewinnen.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es 324 Frauenhäuser, davon 92 in den neuen Bundesländern. Die Pluralität der Träger bei den Frauenhäusern ist groß und gewahrt: Etwa die Hälfte der Frauenhäuser befindet sich in autonomer Trägerschaft, die andere Hälfte in Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände.
Wir haben zur Verbesserung der Situation der Frauenhäuser in den neuen Bundesländern seitens der Bundesregierung eine Anschubfinanzierung für 47 Frauenhäuser gewährt. Es sind eine Reihe von Mitteln im Zusammenhang mit dem Programm „Aufschwung Ost" geflossen, und wir werden auch in diesem Jahr — ich werde das als Frauenministerin sehr intensiv tun — im Rahmen der kommunalen Investitionspauschale, die zur Verfügung steht und die in den Kreisen und Gemeinden Flexibilität beim Ausbau von gemeinnützigen Einrichtungen eröffnet, darauf achten, daß gerade auch Frauenhäusern diese Mittel zugute kommen.
Denn eines zeigt diese Anfrage ganz deutlich: Die Situation der Frauenhäuser in den alten und in den neuen Bundesländern — nicht nur in den neuen Bundesländern — ist an vielen Stellen besorgniserregend. Das wirft kein besonders gutes Licht auf die gesamte Gesellschaft. Denn an dieser Stelle zeigt sich — und da muß ich, was ganz selten geschieht, Frau Bläss zustimmen —, daß die Gesellschaft darüber entscheiden muß, wofür sie ihr Geld ausgibt.
Nach 40 Jahren Bundesrepublik ist diese Bilanz nicht sehr positiv. Das hat schon etwas damit zu tun, daß an vielen Stellen versucht wird, das Thema Gewalt in unserer Gesellschaft — insbesondere Gewalt gegen Frauen— zu verdrängen, zu verschweigen und nicht anzusprechen. Dieses Verdrängen und Verschweigen geht durch alle Bereiche unserer Gesellschaft. Ich glaube, das Bundesfrauenministerium hat in den letzten 10 Jahren an vielen Stellen versucht, erst einmal ganz bewußt auf das Problem aufmerksam zu machen.
Wir haben Beratungsstellen als Modellprojekte gefördert. Es sind verschiedene Frauenprojekte gefördert worden. Es sind Forschungsaufgaben vergeben worden. Wir haben jetzt zur Zeit wieder ein Forschungsprojekt in Freiburg, in dem vergewaltigte Frauen betreut werden. Wir haben Beratungsstellen für ausländische Frauen. Wir haben eine Reihe von Modellprojekten im Zusammenhang mit dem sexuellen Mißbrauch von Kindern.
Trotzdem muß ich Ihnen an dieser Stelle ganz klar sagen: Egal, wo ich hinreise, ob es eine SPD-regierte Kommune, eine CDU-regierte Kommune ist, es macht mich an vielen Stellen betroffen, unter welchen Bedingungen Beratung für Frauen und für Mädchen stattfindet. Es ist nämlich nicht nur in den neuen Bundesländern so, daß die Arbeit in Frauenhäusern schwerpunktmäßig auf der Basis von ABM-Beschäftigung erfolgt, auch in den alten Bundesländern haben wir immer wieder eine schwierige Situation, wenn Frauen für Frauen auf ausgesprochen unsicherer Basis tätig werden.
Deshalb werden wir im Anschluß an unsere Kampagne „Keine Gewalt gegen Kinder" in diesem Jahr auch noch eine Kampagne „Keine Gewalt gegen Frauen" beginnen. Wir haben dazu in einer Vorbereitungsgruppe bereits bestimmte Maßstäbe festgelegt, mit denen wir auch die Pluralität der Träger berücksichtigt und versucht haben, hier eine gemeinsame Basis herzustellen.
Frau Niehuis hat heute gesagt, daß ein Frauenhausrahmengesetz aus ihrer Sicht nunmehr hinfällig geworden sei. Ich meine, daß der Auftrag, gleiche Lebensbedingungen für die Menschen in der Bundesrepublik im Zuge von Rahmengesetzgebungen zu schaffen, so wie es im Kinder- und Jugendhilfegesetz



Bundesministerin Dr. Angela Merkel
geschieht, grundsätzlich auch ein Frauenhausrahmengesetz mit einschließt.
Inzwischen haben sich die Dinge aber offensichtlich so entwickelt, daß es keinen Bedarf hierfür gibt. Das darf jedoch auf keinen Fall ein Plädoyer dafür sein, daß für die Frauenhäuser nicht mehr getan werden muß.
Ich gebe auch all denen recht, die gesagt haben, eines der zentralen Probleme ist die Wohnungssituation von Frauen. Wir werden versuchen, bei der Wohnungszuweisung im Zusammenhang mit Scheidung und Trennung bessere Regelungen zu treffen, die die Zuweisung einer Wohnung für betroffene Frauen garantieren; denn es ist eben heute so, daß die Verweildauer in den Frauenhäusern ständig zunimmt. Und das hat etwas mit der Wohnungssituation in diesem Lande zu tun.
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle sagen, daß gerade die Debatte um Art. 3 gezeigt hat — Frau Niehuis, Sie haben von einem anständigen Vorschlag gesprochen, und hier bin ich mit Ihnen der Meinung, daß wir einen anständigen Vorschlag, einen sachgerechten Vorschlag vorbereiten sollten —, daß wir seit 40 Jahren in dieser Republik dafür kämpfen, daß Frauenförderung als eine notwendige Maßnahme anerkannt wird.
Ich plädiere an Sie, dazu beizutragen, daß wir hier, da dieses Ziel erstmalig möglich zu sein scheint, eine vernünftige und sinnvolle Basis finden, um eine zielgerichtete Regelung für die Frauen mehrheitsfähig zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der Mehrheitsfähigkeit in unserer Gesellschaft geht es mit Blick auf das Grundgesetz um eine Zweidrittelmehrheit, für die wir kämpfen müssen. Ich würde sagen: Gerade das Thema „Keine Gewalt gegen Frauen" muß uns veranlassen, Frauenförderung hier ganz klar festzuschreiben.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214922400
Meine Damen und Herren, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat beantragt, ihren Entschließungsantrag auf Drucksache 12/4623 an den Ausschuß für Frauen und Jugend zu überweisen. Besteht Übereinstimmung, daß wir so verfahren? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Perspektiven für Frauen im ländlichen Raum in den neuen Bundesländern
— Drucksachen 12/2360, 12/3910 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserer Frau Kollegin Petra Bläss das Wort. Aber bitte die Redezeit einhalten!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214922500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Acht Monate benötigte die Bundesregierung, um meine Anfrage zu den Perspektiven von Frauen im ländlichen Raum in den neuen Bundesländern zu beantworten. In Erwartung gründlicher Recherchen bin ich nun mit einem Ergebnis konfrontiert, das nicht nur mich enttäuscht. Auch die von mir um Stellungnahmen gebetenen Fachfrauen aus der ostdeutschen Landwirtschaft waren bestürzt und empört darüber, wieviel Ignoranz und Unkenntnis es in Bonn über ihre wirkliche Situation gibt.
Die Antwort der Bundesregierung zeichnet sich nicht nur dadurch aus, daß sie von Widersprüchen nur so strotzt. Immer da, wo es um die Erwerbssituation von Landfrauen und ihre geschlechtstypische Verdrängung bzw. Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt geht, liegen der Bundesregierung keine statistischen Angaben und verwertbaren konkreten Zahlen vor. Wenn ich darüber hinaus lese, wie oft auf die Zuständigkeit von Ländern und Kommunen verwiesen wird, bestätigt mich das in der Auffassung, daß sich die Bundesregierung kaum für die Auswirkungen ihrer Wirtschafts- und Agrarpolitik auf Frauen verantwortlich zu fühlen scheint. Eines der Hauptprobleme ist für mich dabei, daß massenweise Lebens- und Berufsbiographien von Frauen und damit ihre unter viel Mühen und großen Mehrfachbelastungen erbrachten Leistungen entwertet und diffamiert werden. Dies zeigt sich ansatzweise auch in der vorliegenden Drucksache.
Auf die Frage nach den beruflichen Perspektiven der Frauen aus der Landwirtschaft, die sich nicht auf die mehr als fragwürdige Wiedereinrichtung bäuerlicher Familienbetriebe einlassen wollen, wird mit einem Verweis auf ihr offensichtlich individuell kaum vorhandenes Qualifizierungpotential geantwortet. Grundlage dieser unzulässigen Verallgemeinerungen ist die vom BMFJ herausgegebene Expertise „Erwerbschancen für Frauen aus landwirtschaftlichen Berufen und ländlichen Regionen in den neuen Bundesländern", die entweder dilettantisch ausgewertet oder bewußt falsch interpretiert wurde.
So behauptet die Bundesregierung, daß ein Viertel der oben genannten arbeitslosen oder in ABM beschäftigten Frauen keinen Berufsabschluß hat oder daß sie überwiegend als sogenannte Handarbeitskräfte beschäftigt waren. Ich sage deshalb so ausdrücklich „sie behauptet", weil die Daten zum Berufsabschluß arbeitsloser Landwirtinnen nur in zwei der fünf untersuchten Arbeitsamtskreise vergleichbar und in einem nicht vergleichbar erhoben wurden; weil die entsprechenden Daten aus Mecklenburg-Vorpommern als Problemregion und aus Sachsen als bevölkerungsreichstem neuen Bundesland fehlen und damit die ermittelten Zahlen alles andere als repräsentativ sind; weil die Aussagen über die sogenannten Handarbeitskräfte auf der unkritischen Wiedergabe politisch motivierter Klischees basieren und nicht auf wissenschaftlichen Untersuchungen; weil Interviews mit handarbeitenden Frauen zu Arbeitsinhalten, wie sie z. B. innerhalb der vom Wissenschafts-



Petra Bläss
ministerium herausgegebenen Studie „Berufliche Weiterbildung für Frauen in den neuen Ländern" durchgeführt wurden, durchaus verschiedenartige Entwicklungspotentiale sichtbar werden ließen; weil verschwiegen wird, daß mehr als zwei Drittel der Frauen ohne Berufsabschluß weit über 40 Jahre alt sind und die Frauen nicht einbezogen wurden, die sich in Fortbildung und Umschulung befinden.
Da diese Frauen, die zweifellos jünger sind und deshalb auch bessere Qualifikationen haben, zahlenmäßig nicht erfaßt und schon gar nicht befragt wurden, kann ich auch mit der Aussage über das geringe Interesse an den vorwiegend im EDV- und bürotechnischen Bereich angebotenen Qualifizierungsmaßnahmen wenig anfangen. Warum wurde hier nicht auf die kritische Einschätzung in besagter Expertise Bezug genommen, nach der es nicht genügend Maßnahmen für Frauen aus der Landwirtschaft gibt, insbesondere solche, die sich an den Voraussetzungen und beruflichen Interessen, Wünschen und Fähigkeiten der Frauen mit landwirtschaftlicher Vorbildung orientieren? Diese wünschen nämlich vor allem handwerkliche Qualifizierung. Doch diese Qualifizierungsdomäne soll wohl nur Männern vorbehalten bleiben, wie es die von den Bildungsträgern offerierten Qualifizierungsabschlüsse belegen.
Meine Damen und Herren, wenn die These aufgestellt wird, daß in weiten Teilen fast 70 % der Frauen keinen Führerschein haben, wird es ganz und gar abenteuerlich, ja unverschämt. Die „weiten Teile", die die Bundesregierung zu dieser Schlußfolgerung für die gesamten neuen Bundesländer verleiteten, beziehen sich nicht auf die fünf Untersuchungsregionen der Expertise, sondern einzig und allein auf den Landkreis Nordhausen. 372 befragte — ehemals in der Landwirtschaft arbeitende — arbeitslose Frauen repräsentativ für über 300 000 Frauen zu nehmen, halte ich für äußerst fragwürdig.
Auch die als problematisch eingeschätzte Weiterbildungsbereitschaft, einschließlich der Begründung, daß viele Frauen keine Möglichkeit sehen, zum Zwecke der Umschulung ihren Wohnort zu verlassen, erscheint mir nicht nur recht simpel, sondern auch viel zu einseitig zu sein, insbesondere dann, wenn ich diese Aussage mit der von Bildungsminister Ortleb vergleiche, der im September 1992 in der Universität Potsdam grundsätzlich feststellte, daß für die Mehrzahl der Frauen aus den neuen Bundesländern Weiterbildung selbstverständlicher Bestandteil ihrer Berufsbiographie war und daß eine aktuelle Umfrage die besonders hohe Weiterbildungsbereitschaft der Frauen bestätigt, die größtenteils sogar weiterbildungsaktiver als Männer seien. Wieso soll das auf die Frauen aus der Landwirtschaft und in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländer nicht zutreffen?
Fakt ist, daß der Anteil der in der Landwirtschaft der DDR arbeitenden Frauen mit Berufsabschluß mit 91 % höher war als derjenigen in der Industrie, daß ca. 30 000 Frauen einen Hoch- und Fachschulabschluß haben, daß viele Facharbeiterinnen der Tierproduktion oder Agraringenieurinnen bei der Bodenbestandsführung schon vor der Wende gelernt hatten, Computer zu bedienen und anzuwenden, daß es nicht außergewöhnlich war, daß Frauen in Landwirtschaftsbetrieben auf zwei oder mehrere Berufsabschlüsse verweisen konnten, daß Frauen in der DDR-Landwirtschaft ihre Fähigkeiten, sich auf veränderte Bedingungen relativ schnell einstellen zu können, auch im Bereich der beruflichen Bildung mehr als einmal beweisen mußten und daß grundlegende Umbrüche der Produktionsstrukturen sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder dazu zwangen, sich auf gänzlich veränderte Arbeitsbedingungen und die daraus resultierenden wachsenden beruflichen Anforderungen einzustellen.
Bäuerinnen, Arbeiterinnen und Angestellte der ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe haben ihre berufliche Mobilität in ihrem Berufsleben mehr als einmal unter Beweis gestellt. Nur wer von den Landfrauen im Osten wenig weiß, kann diese heute anmahnen. Sie verfügen über eine hohe Weiterbildungs- und Umschulungsbereitschaft, die sie gewiß gern realisieren würden, wenn sie denn eine berufliche Perspektive hätten. Ich denke da an die Frauen, die als Geschäftsführerinnen von landwirtschaftlichen Großbetrieben sehr schnell gezeigt haben, daß sie sich sehr wohl auch in der Marktwirtschaft zu behaupten wissen. Das beweisen aber auch nicht zuletzt die Frauen, die durch ihre engagierte Arbeit in den verschiedenen — allerdings an ABM-Bewilligungen gebundenen — Projekten vielgestaltige Möglichkeiten alternativer Erwerbsarbeit für Frauen auch im ländlichen Raum entwickeln.
Meine Damen und Herren, in der Landwirtschaft der neuen Bundesländer können Frauenarbeitsplätze nur dann erfolgreich langfristig erhalten werden, wenn die Agrarpolitiker bei der Ausgestaltung des Förderinstrumentariums stärker als bisher berücksichtigen, daß die übergroße Mehrheit der weiblichen Beschäftigten nicht in bäuerlichen Familienbetrieben, sondern freiwillig in Agrargenossenschaften und Kapitalgesellschaften arbeitet.
Das bedeutet, daß die bisher in der Landwirtschaft angesiedelten Förderungsprogramme der Bundesregierung, die auf die bäuerliche Familie als Unternehmer und den landwirtschaftlichen Familienbetrieb mit durchschnittlich 30 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche ausgerichtet sind, für die neuen Bundesländer modifiziert werden müssen, weil die meisten Landwirtinnen und Landwirte in den neuen Bundesländern durch die Größe und die Rechtsform ihrer Betriebe deutlich benachteiligt werden.
Ich fordere deshalb nachdrücklich von den Agrarpolitikern und der Bundesregierung, die noch vorhandenen Frauenarbeitsplätze in der Landwirtschaft als oftmals einzige Erwerbsalternative im ländlichen Raum der neuen Bundesländer durch die gleichberechtigte Förderung aller landwirtschaftlichen Betriebsformen langfristig zu sichern.
Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214922600
Nunmehr erteile ich der Kollegin Claudia Nolte das Wort.




Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1214922700
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Große Anfrage, über die wir heute debattieren, trägt zu Recht die Überschrift „Perspektiven für Frauen im ländlichen Raum in den neuen Bundesländern" . Denn trotz der Erblast einer 40jährigen sozialistischen Wirtschaftspolitik der SED gibt es heute auch in den jungen Bundesländern Chancen für den ländlichen Raum.
Daß der notwendige wirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß Frauen im ländlichen Raum und hier vor allem Ältere und Alleinerziehende besonders trifft, ist unbestritten. Frauen sind häufig in Wirtschaftsbereichen tätig, die in besonderem Maße von Arbeitsplatzabbau betroffen sind. Sie haben oft weniger qualifizierte Arbeitsplätze und sind deshalb in einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbssituation einem erhöhten Rationalisierungsdruck ausgesetzt.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage zeigt aber, welch vielfältige Maßnahmen für Frauen im ländlichen Raum in Gang gesetzt wurden. So hat der Bund von Juni 1991 bis Februar diesen Jahres für fast 70 000 Frauen aus den neuen Bundesländern Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft, Landschafts- und Gartenbau finanziert. Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen wurden von weit über einer Million Frauen in den vergangenen beiden Jahren genutzt. Wenn man bedenkt, daß ein verhältnismäßig hoher Anteil der arbeitslosen oder in ABM beschäftigten Frauen aus der Landwirtschaft keinen beruflichen Abschluß haben, wird deutlich, wie wichtig diese Qualifizierungsmaßnahmen sind.
Dazu kommen die ergänzenden Sonderprogramme der Länder. So fördert z. B. Thüringen die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für Landfrauen, die eine eigene Existenz im Rahmen der Aktion „Urlaub auf dem Bauernhof" oder „Ferien auf dem Lande" schaffen wollen, bis zu 90 %. Als weiterer Schritt werden der Aufbau und die Ausstattung von Gästezimmern und Ferienwohnungen sowie die Schaffung von Freizeitmöglichkeiten finanziell unterstützt.
Insbesondere zur Sicherung der Ausbildungschancen hat die Bundesanstalt für Arbeit 1991 über 37 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze gefördert. Weitere 20 700 wurden 1992 eingerichtet. Die berufliche Mobilität von Auszubildenden, die während der Ausbildung außerhalb des Elternhauses wohnen, wird ebenfalls unterstützt.
Zu über 40 % wurden die durch das Sonderprogramm zur Förderung der Berufsausbildung in Kleinunternehmen geschaffenen Ausbildungsplätze von Frauen besetzt. Es ist meines Erachtens ein großer Erfolg, daß alle Bewerberinnen und Bewerber einen Ausbildungsplatz erhielten. Ich möchte an dieser Stelle den Unternehmen für ihre Bemühungen ganz herzlich danken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch die Einstellungshilfen der Länder bei der Schaffung von Freizeit- und Teilzeit-Beschäftigungsplätzen für ältere Frauen und Alleinerziehende flankieren die vielfältigen Bemühungen der Bundesregierung.
Unzufrieden bin ich insbesondere mit dem geringen Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen. So suchten im Januar 1993 rund 52 000 Frauen eine Teilzeitarbeit. Dem standen insgesamt nur 3 900 Teilzeitstellenangebote gegenüber. Auf Grund ihrer familiären Aufgaben und Verpflichtungen sind es aber insbesondere Frauen, die häufig Teilzeitarbeitsplätze suchen.
Das Programm „Dorferneuerung", für das Bund und Länder 1992 allein für die neuen Länder 190 Millionen DM bereitgestellt haben, gibt ebenfalls einen positiven Impuls für den Arbeitsmarkt im ländlichen Raum. Gemeinden und Bürger investieren zudem erfahrungsgemäß in Folgevorhaben noch ein Mehrfaches der öffentlichen Förderung.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Vor allem die mittelständischen Betriebe dort erfahren eine deutliche Auftragssteigerung durch dieses Förderprogramm.
Eines ist klar: 20 % arbeitslose Frauen in den neuen Bundesländern stellen eine Herausforderung dar. Der Bund steht ebenso wie die Länder und auch die Europäische Gemeinschaft in der Pflicht, diesen Frauen neue Einkommens- und Erwerbsmöglichkeiten aufzuzeigen. Das heißt, die bestehenden Fördermöglichkeiten müssen voll ausgeschöpft und miteinander verknüpft werden.
Es wird oft davon gesprochen, Frauen seien die Verliererinnen der Einheit. Dieser Satz wird durch häufiges Wiederholen nicht wahrer.

(Brigitte Adler [SPD]: Gewinnerinnen sind sie aber auch nicht! — Christina Schenk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Satz kann gar nicht noch wahrer werden!)

Aus meinem Südthüringer Wahlkreis kenne ich viele engagierte Frauen, die die Möglichkeiten der Marktwirtschaft nutzen und zeigen, was sie leisten können. Laut Agrarbericht 1993 existieren 17 700 landwirtschaftliche Betriebe in den neuen Bundesländern. Davon werden 18 % von Frauen geleitet. Der Anteil ist damit deutlich höher als in den alten Bundesländern, wo nur 8 % der Betriebsinhaber Frauen sind. Ebenso sind Frauen auch in anderen Branchen selbständig geworden. Mehr als 40 % aller Unternehmen in den neuen Ländern werden von Frauen gegründet.
Wichtig und erfreulich ist es doch, daß Frauen selbst die Initiative ergreifen. Und es sind gerade die Frauen, die motiviert sind, die Chancen, die ihnen die Marktwirtschaft und die freiheitliche Gesellschaft bieten, engagiert und in Eigeninitiative zu nutzen. Bei diesem Bemühen werden wir sie, soweit es geht, unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214922800
Nun hat die Kollegin Angelika Barbe das Wort.

Angelika Barbe (SPD):
Rede ID: ID1214922900
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Folgender Satz meiner Mutter



Angelika Barbe
hat mich geprägt: „Mädel", sagte sie, „lerne bloß einen eigenen Beruf, damit du unabhängig bist."

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Dasselbe sage ich meinen Töchtern, Frau Kollegin!)

Denn ich bin auf dem Land groß geworden, in einem kleinen Dorf in der Mark Brandenburg, und ich habe erlebt, wie die Frauen dort ein Leben lang hart arbeiten mußten. Sie haben die Kinder erzogen und den Garten bewirtschaftet und das individuelle Schwein gefüttert und nebenbei ein Gewächshaus betrieben. Sie waren zu 90 % erwerbstätig in der LPG oder der GPG des Dorfes. Erst seit den 70er Jahren konnte so manche Landfamilie Urlaub machen, als das landwirtschaftliche Risiko auf viele Schultern verteilt war.
Diesen Frauen, die jetzt unverschuldet arbeitslos wurden oder mit Kleinstrenten für lebenslanges Arbeiten in den Vorruhestand und Ruhestand abgedrängt wurden, habe ich es zu verdanken, daß ich lernen und studieren konnte. Denn sie gaben mir das Selbstbewußtsein, es zu tun.
Die Durchschnittsrente der Frauen in Brandenburg liegt bei 761 DM, die der Männer bei 1 000 DM. Das Wort Gerechtigkeit klingt in den Ohren benachteiligter ostdeutscher Frauen wie eine leere Hülse. Wir, ihre Töchter, die hier politisch für ihre Rechte und die Rechte unserer Töchter streiten, stehen ohnmächtig vor dem Machtblock derjenigen, die skrupellos ihre Interessen auf Kosten der Benachteiligten durchsetzen. Das ist eine schlimme Moral, die uns in Deutschland einander nicht näherbringen wird.
Da ich mit vielen Antworten der Bundesregierung zu dieser Anfrage nicht einverstanden bin, habe ich Studien gelesen und andere Antworten gefunden, die ich Ihnen nicht vorenthalten will. Schade, daß vom Landwirtschaftsministerium niemand hier ist, aber auch gar niemand.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vom Oktober bis Dezember 1991 erstellte die Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft in Zusammenarbeit mit Partnern der Agrarwissenschaftlichen Fakultäten Halle, Leipzig und Rostock sowie der Hochschule Bernburg eine Erhebung in 1 018 ländlichen Haushalten. Folgende Informationen sind für Sie sicherlich sinnvoll und interessant: Die berufliche Situation der Personen in den befragten Haushalten hat sich seit der Einheit stark verändert. Überdurchschnittlich stark betroffen vom Arbeitsplatzabbau sind — dreimal dürfen Sie raten — landwirtschaftliche Arbeitskräfte, ältere Personen, niedriger Qualifizierte und natürlich Frauen. Eindeutig wurde bei der Befragung die Erwerbstätigkeit einem Hausfrauendasein vorgezogen, wobei Frauen mehr Teilzeitarbeit verlangten. Männer und jüngere Frauen zeigten sich optimistisch bei der Einschätzung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Frauen stehen beruflicher Selbständigkeit ablehnender gegenüber als Männer.
Es wurden auch Aussagen zum subjektiven Wohlbefinden im ländlichen Raum gemacht. Die größte Unzufriedenheit war bei der Versorgung mit Freizeiteinrichtungen, etwa Sportanlagen und Kinos, vorhanden; denn bis auf Videoshops gibt es nichts anderes auf dem Dorfe.
Sie waren mit den Verdienstmöglichkeiten am Wohnort unzufrieden, mit den beschränkten Einkaufsmöglichkeiten, mit dem unzureichenden Zustand des Straßennetzes. Dort muß unbedingt die Infrastruktur verbessert werden.
Bei der Untersuchung des Nettoeinkommens nach Geschlecht stellte sich heraus, daß Frauen im Durchschnitt ein wesentlich niedrigeres Einkommen als Männer erreichen. Auch bei Vollzeiterwerbstätigen ist das Nettoeinkommen der Frau niedriger als das der Männer. Das durchschnittliche Arbeitslosengeld beträgt 500 DM.
Undifferenzierte Aussagen, Frauen seien nicht mobil genug, stimmen nicht. Ich nenne das Auswertungsergebnis: Vor der Wende war in der DDR für einen Großteil der Bevölkerung im ländlichen Raum der Wohnort auch der Ort der Erwerbstätigkeit. Das hat sich grundlegend geändert. Jüngere Menschen haben eine höhere Mobilität als ältere. Die Bereitschaft zum Tagespendeln war — ganz interessant — bei 52 % der Männer und 52 % der Frauen in der Altersgruppe unter 25 Jahren vorhanden. Zum Wochenendpendeln waren allerdings keine Frauen bereit; nur Männer. Die Gründe kennen wir: Familie, traditionelle Geschlechterrolle.
Aber Frauen zeigten eine stärkere Umzugsbereitschaft als Männer, wenn sie wegen des Arbeitsplatzes umziehen oder sich verändern wollten. Sie sagten: „Dann, bitte schön, mit der Familie. Dann können wir alles unter einen Hut bringen. " Je höher die berufliche Qualifikation war, um so eher waren Menschen auch bereit, Belastungen durch räumliche Mobilität für den Arbeitsplatz in Kauf zu nehmen.
Dazu gehört aber auch die Fahrerlaubnis. Auch da gab es Ergebnisse. 93 % der Männer hatten eine Fahrerlaubnis, 60 % der Frauen. Und Frauen verfügen natürlich über weniger Autos als Männer. Für Frauen ist es auch auf Grund ihrer beruflichen Qualifikation schwieriger, räumlich mobil zu sein; damit haben sie schlechtere Voraussetzungen am bestehenden Arbeitsmarkt.
Außerdem verlassen die jüngeren Menschen die ostdeutschen Länder; wenn wir nichts tun, werden nur noch Ältere und Frauen mit kleinen Kindern zurückbleiben. Für mich ist das besonders schmerzlich, weil wir damals auch mit der Gründung der SDP in der DDR etwas dafür tun wollten, daß Menschen bleiben können. Wir haben es vor allem für unsere Kinder getan, die jetzt aus Existenzgründen im Westen ihr Glück suchen müssen.
Nach der Selbsteinschätzung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt befragt, sahen 30 % der unter 25jährigen schlechte oder sehr schlechte Perspektiven für die nächsten drei Jahre. Das sollte uns sehr nachdenklich machen. Bei den 25- bis 45jährigen waren es sogar 37 %. Das ist alarmierend. Hier besteht Handlungsbedarf. Die Situation ist erschreckend.
Zur Analyse der Arbeitsmarktsituation in Brandenburg habe ich die neuesten Zahlen auf dem Tisch: Im



Angelika Barbe
Februar 1993 betrug die Arbeitslosenquote bei den Frauen 19,4 %. Der Anteil der Frauen an den Arbeitslosen lag bei 62,8 % im Januar. Extremwerte: in Zossen 70 %, in Lübbenau 69 %, in Prenzlau 53 %.
Solange es keine Quotierung bei den ABM geben wird, wird der Frauenanteil an ABM immer unter der Quote der Frauen an der Arbeitslosigkeit bleiben. Das zeigt sich auch in Brandenburg: Im Februar 1993 gingen 47 % der ABM an Frauen.
Die Aussage von Jochen Pfeiffer aus dem Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vor einem Jahr auf einer Tagung in Potsdam will ich Ihnen nicht vorenthalten. Er sagte:
Die Lebens- und Arbeitssituation von Frauen auf dem Lande wird in hohem Maße von folgendem abhängen: von den betrieblichen Strukturen, von der sozialen Infrastruktur, von der Wirtschaftskraft auf dem Lande. Denn die Familienbetriebe, das sind nur 10 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Genossenschaften, GmbHs bewirtschaften 90 % der Landfläche. Die Überlebensfähigkeit der Unternehmen wird abhängen von der Verfügbarkeit der Produktionsfaktoren Boden und Kapital und von den Rechten, die in Bonn und Brüssel bestimmt werden.
Langfristige Pacht oder der Kauf von Treuhandflächen wären wichtige Voraussetzungen. Die agrarpolitischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik und der EG orientieren sich am Familienbetrieb. Es kommt aber darauf an, allen Betriebs- und Rechtsformen gleiche Chancen einzuräumen.
Frauen, die auf dem Lande Projekte erarbeiten, klagen darüber, daß immer wieder Hürden in der Bürokratie auftauchen und sie bei der Beantragung staatlicher Unterstützungen große Schwierigkeiten haben. Das ist überall und täglich zu finden. Der Kampf mit der Treuhand um Wirtschaftsgebäude und Bodenflächen behindert den Aufbau von Projekten auf dem Lande.
Die Rahmenbedingungen für Existenzgründungen müssen erst einmal da sein, Frau Nolte, bevor wir über die Erfolge reden können. Eine langfristige Sicherung der noch vorhandenen Frauenarbeitsplätze in der Landwirtschaft durch die gleichberechtigte Förderung aller landwirtschaftlichen Betriebsformen ist wichtig. Immobilien und Land sollten von der Treuhand vorrangig den Menschen zur Gründung neuer beruflicher Existenzen zur Verfügung gestellt werden, die weder Eigentum noch Finanzierungsmöglichkeiten haben.
Welche Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen im ländlichen Bereich? Welche politischen Entscheidungen sind nötig? Der Dienstleistungsbereich in der Landwirtschaft wäre eine Möglichkeit. Dazu gehören alle Bereiche, die früher den LPGs zugeordnet waren, z. B. Bau, Buchhaltung, Agrarverwaltung. Da ist eine Quotierung von Frauenarbeitsplätzen nötig.
Großbetriebe werden von Frauen vorgezogen, weil sie dort Sozialversicherungsschutz, eigenen Rentenanspruch, eigenes Einkommen, Urlaub und geregelte Arbeitszeit haben. Das ist ganz klar und verständlich.
Aber wir müssen auch alternative Arbeitsplätze schaffen. Wie ist das möglich?
Erstens. Durch Übereignung, Pacht von Boden, durch Projekte.
Zweitens. Durch Bewilligung von ABM für mindestens zwei Jahre, um die Chancen zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen zu erhöhen.
Drittens. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sollten in der Umgebung der Menschen im ländlichen Raum sein.
Viertens. Fortbildung und Umschulung sollten auf der Qualifikation aufbauen und keine Dequalifizierung zulassen.
Fünftens. Kleine Seminargruppen vor Ort sollten unterstützt werden, damit weite Fahrtstrecken entfallen.
Sechstens. Die Wissenschaft muß einbezogen werden.
Siebtens. Investitionen müssen den Boden dafür bereitmachen. Andere Investitionen der öffentlichen Hand müssen für Infrastrukturprogramme ausgegeben werden, damit endlich private Investoren dort investieren.
Achtens. Wir brauchen auch andere Kriterien für die Vergabe von Fördermitteln.
Ich appelliere noch einmal an Sie: Machen Sie den Weg frei für eine Arbeitsmarktabgabe! 4,5 Milliarden DM würden wir in die Kasse der Bundesanstalt für Arbeit einspeisen können, wenn wir bereit wären, wir selber als Abgeordnete und auch Beamte und Selbständige, diese Abgabe zu zahlen.
Hildegard Maria Nickel, eine ostdeutsche Frauenforscherin, wies darauf hin, daß es soziale Unterschiede zwischen Frauen im Osten geben wird. Frau Nolte, ich möchte nicht die soziale Schere. Ich möchte, daß wir uns mit den Frauen solidarisieren, nicht aber die Konkurrenz zwischen den Frauen um die soziale Sicherheit.
Frauen kämpfen mit dem Mittel der Sterilisation um ihren Arbeitsplatz. Verstärkt werden Frauen in die nicht bezahlte, nicht anerkannte Familienarbeit mit Kindererziehung und Altenpflege zurückgedrängt. Die Armut wird zur realen Gefahr.
Ich zitiere noch einige Sätze aus der Erklärung der Konferenz der Bischöfe vom 4. März 1993. Sie haben sich folgendermaßen geäußert:
Argumente der Besitzstandswahrung und die Verfolgung einseitiger Gruppeninteressen führen in dieser Ausnahmesituation
— gemeint ist die deutsche Einigung —
nicht weiter. Von einer Mentalität des Nimmwas-du-kriegen-kannst werden wir uns trennen müssen. Andererseits gebietet die Solidarität die Unterstützung derjenigen, die sich nicht allein helfen können.
Zum Schluß will ich Ihnen ein Erlebnis nicht vorenthalten. Ich lernte eine junge Frau kennen, deren Mann unbedingt Kinder will. Sie ist unter der Bedingung einverstanden, daß er den Erziehungsurlaub nimmt. Seit drei Jahren überlegt er und überlegt und



Angelika Barbe
überlegt. Inzwischen macht sie sich selbständig. Ihr bleibt nichts anderes übrig als eine individuelle Bewältigungsstrategie.
Solange Politik keine strukturelle Änderung wie z. B. durch eine Verfassungsänderung der Art. 3 und 6 bewirkt, durch Gleichberechtigungsgesetze, durch einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind, so lange wird unseren Töchtern nichts anderes übrigbleiben, als ihren Männern die Gretchenfrage zu stellen: „Wie hältst du es mit der Kindererziehung?", und dies besonders im ländlichen Raum.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214923000
Frau Kollegin Lisa Peters, Sie haben das Wort.

Lisa Peters (FDP):
Rede ID: ID1214923100
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Herren! Meine Damen! Hier ist heute ein sehr sensibles Thema angesprochen. Es sind viele Fragen gestellt worden, und die Bundesregierung hat Antworten gegeben. Doch ich denke, vieles ist Theorie.
Der ländliche Raum, ob im Osten oder im Westen, unterscheidet sich vom Ballungsraum. Die Lebensgestaltung ist eine andere; die Möglichkeiten scheinen eingegrenzter zu sein. Frauen, so scheint es auf den ersten Blick, haben weniger Chancen. Die Strukturen sind anders und offerieren nicht so viele Möglichkeiten.
In den neuen Ländern sind große Gebiete landwirtschaftlich geprägt. Dies gilt besonders für Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Der Landwirtschaft wurde eine herausragende Rolle zugeschrieben; angegliedert waren viele Bereiche. Das ist hier schon erwähnt worden. Für Frauen in der ehemaligen DDR gab es hier viele Arbeitsmöglichkeiten.
Frauen — das war selbstverständlich — waren berufstätig, wollten arbeiten, mußten arbeiten und konnten arbeiten. Für alle Frauen wurde ein Arbeitsplatzangebot in der Nähe des Wohnortes geschaffen. Eine große Mobilität bestand nicht und war auch nicht erforderlich; so ist jedenfalls meine Kenntnis. Andere gewerbliche Betriebsstrukturen fehlten im ländlichen Raum weitgehend. Sie wurden auch nicht eingeplant.
Nach der Wiedervereinigung brachen alle Strukturen zusammen. Die Frauen traf das besonders hart. Das ist hier schon erwähnt worden. Die Arbeitsplätze in der Land- und Forstwirtschaft sind zu zwei Dritteln weggefallen. Der Umstrukturierungsprozeß ist in vollem Gange. Marktwirtschaft muß nach meiner Ansicht erst gelernt werden, muß erfahren werden. Es gibt erhebliche Belastungen. Die Frauen sind überall, aber besonders im ländlichen Raum, von hoher Arbeitslosigkeit betroffen.

(Angelika Barbe [SPD]: Das ist leider wahr!)

— Sie merken ja, ich habe ganz gute Kenntnisse,
glaube ich, auch wenn ich aus dem Westen komme.
Sie fühlen sich ausgegrenzt, alleingelassen. Es gibt harte persönliche Schicksale. Noch so gut gemeinte Maßnahmen greifen oft nicht. Besonders fehlen soziale Kontakte, die vorher ausreichend gegeben waren, die gewünscht sind, die das Leben wertvoller machen.
Die Fragen nach den Perspektiven drei Jahre nach der Wiedervereinigung mußten, denke ich, gestellt werden.
Ich komme aus dem ländlichen Raum, ich bin Bäuerin. Ich habe bisher nur in der Landwirtschaft gearbeitet, mich seit über 30 Jahren aber auch im beruflichen Bereich und in der Landfrauenarbeit sehr mit den Strukturen des ländlichen Raumes beschäftigt, immer an Verbesserungen mitgearbeitet und, denke ich, für Frauen eine ganze Menge geschaffen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich kenne praktisch alle Schwierigkeiten und Hindernisse, weiß aber auch, daß man sie bewältigen kann und bewältigen muß. Dies geht nicht ohne Hilfe. Es ist sehr viel Kraft nötig. Man muß Eigeninitiative entwickeln. Programme der Länder und des Bundes können nur unterstützen.
Ich möchte den Frauen und meinen Berufskolleginnen zurufen und sie ermutigen: Nehmen Sie alle Ihre Chancen wahr!
Ich meine, es ist nie zu spät, auch für ältere Frauen, noch Perspektiven zu haben. Sie müssen Ziele haben. Mir ist klar, daß vieles schwieriger geworden ist. Frauen haben oft keinen Führerschein, stand in dieser Antwort. Aber das ist ja heute ein bißchen aufgeholt.

(Angelika Barbe [SPD]: Sie haben vor allem kein Auto!)

Doch sie sind weniger beweglich geworden, weil ja auch die Verkehrsmittel dort im ländlichen Raum nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen, weil die Kinderbetreuungszeiten reduziert worden sind und weil neue Arbeitsplätze in ländlichem Raum besonders für Frauen erst ganz langsam erstellt werden.
Aber hier — das muß ich einfach einmal sagen — sind die Kommunen, die Gemeinden und die Städte, gefragt. Bei der Ansiedlung muß es auch um Frauenarbeitsplätze gehen; sie müssen Berücksichtigung finden.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Richtig!)

Frauen sollen und müssen erkennen, daß sie eine solide und umfassende Ausbildung haben müssen

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Jawohl!)

und daß das die beste Gewähr für einen lebenslangen Arbeitsplatz ist. Deshalb denke ich — ich habe zwei Töchter —: Wir als Frauen müssen uns eifrig dafür einsetzen, daß unsere Töchter — das ist hier gesagt worden — gut ausgebildet werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich gehe aber auch davon aus — das ist ja im Westen bei uns so üblich —, daß man nicht in seiner näheren



Lisa Peters
Umgebung bleiben kann, sondern einen Ausbildungsplatz auch weiter entfernt annehmen muß. Bei uns in der ländlichen Hauswirtschaft und in der Landwirtschaft ist es üblich; wir machen uns das geradezu zur Richtschnur, damit wir auch andere Regionen kennenlernen.
Frauen im ländlichen Raum müssen mitreden; sie müssen zusammenstehen; sie müssen gemeinsam Projekte angehen; sie müssen ihrem Leben einen Sinn geben. Dafür gibt es viel Unterstützung; das belegen auch die gegebenen Antworten. Aber die Initiative — so ist es leider — müssen sie selbst entwickeln. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulungsmöglichkeiten, Qualifizierung, Weiterbildung — ich kann nur ermutigen, die Angebote anzunehmen. Doch ich denke, das wird schon gemacht. Dies sollte auch dann angenommen werden, wenn im Anschluß eine Weiterbeschäftigung nicht unbedingt gegeben ist.
Wir kommen nicht umhin, täglich neu dazuzulernen. Wir Frauen müssen uns bewähren. Das ist ein hartes Stück Arbeit, macht viel Mühe, ist aber nie langweilig.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Gute Beratung muß heraus- und abgefordert werden. Sie steht in der Regel zur Verfügung.
Viele Frauen in den neuen Ländern machen sich selbständig. Hier gibt es viele Programme — das ist schon gesagt worden — und große finanzielle Unterstützung. Natürlich muß man gut planen. Man muß aber die Chancen und Perspektiven nutzen; sie sind vorhanden. Es freut mich — und das ging aus der Antwort auf die Anfrage hervor —, daß gerade Frauen in den neuen Ländern diese Möglichkeit wesentlich mehr annehmen — ich bin gleich fertig, Herr Präsident — als wir in unseren Ländern.
In dem gesamten Reisebereich, im Fremdenverkehr bieten sich große Chancen. Hier können wir noch mit Wachstum rechnen. Vor Ort muß eine gesunde und in die Zukunft weisende Infrastruktur aufgebaut werden. Frauen sind hier gefragt; auf ihre Mithilfe können wir nicht verzichten.
Im nächsten Jahr finden Kommunalwahlen statt. Schon jetzt sollten Frauen diese Wahlen im Auge haben. Sie sollten kandidieren und mitwirken.

(Angelika Barbe [SPD]: Das ist richtig!)

Die Politiker und Politikerinnen bestimmen, wie unsere Dörfer und unser ländlicher Raum in Zukunft aussehen, auch im Osten. Ich möchte da einfach Mut machen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! — Angelika Barbe [SPD]: Mut haben die Frauen ja!)

Ohne Ideen gibt es keine Zukunft.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Programme und finanzielle Mittel allein bewirken nichts. Hier ist Hilfe nur immer Selbsthilfe. Ich mache den Frauen ausdrücklich Mut,

(Zuruf von der SPD: Wozu?)

ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ich denke,
Hilfen sind geboten, Beschlüsse sind da. Der Solidarpakt wird auch noch ein bißchen regeln. Aber die Erfahrungen aus 45 Jahren Berufsleben und langer ehrenamtlicher Arbeit haben mir die Erkenntnis gebracht, daß es am Ende auf die Bereitschaft der einzelnen Frau ankommt, die immer ein Risiko eingeht, die aber vieles schaffen kann. Ich möchte ausdrücklich sagen: Mut dazu! Wir müssen auch einmal neue Ufer sehen. Wir können nicht nur immer das, was wir irgendwo gelesen haben, in Schwarzmalerei weiterbetreiben. — Also: Helfen, anpacken und etwas tun!
Danke schön.

(Beifall im ganzen Hause — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wat mut, dat mut!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214923200
Frau Kollegin Peters, die Lampe hier kann ich Ihnen nicht ersparen; aber ich kann Sie weiterreden lassen, ohne daß ich Sie unterbreche, und das haben wir ja auch gemacht.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Die CSU hat „Zugabe" gerufen, Herr Präsident!)

Anderthalb Minuten war die Zugabe wert.
Ich erteile nun unserer Frau Kollegin Christina Schenk das Wort.

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1214923300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den guten Rat, daß es allein an der Sichtweise und vor allem an dem Mut liegt, muß ich erst einmal verdauen. Wir wissen also: Es kann alles so bleiben im Osten; wir haben kein Problem. Das kenne ich schon von früher.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie drehen unserer Kollegin das Wort im Munde herum!)

Zur Anfrage: Die unerträglich selbstherrliche, arrogante und ignorante Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage nach den Perspektiven für Frauen im ländlichen Raum in den neuen Bundesländern ist ein weiterer Beleg dafür,

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Diese Schimpfkanonade müssen Sie auch noch ablesen!)

daß die Bundesregierung erstens nicht willens ist, die wirklichen Ursachen des jetzigen Desasters in Ostdeutschland zu benennen, und sich zweitens nach wie vor weigert, die Verantwortung für die unmittelbaren Folgen ihrer Politik zu übernehmen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Eine solche Haltung verkennt den Handlungsbedarf und ist folglich auch nicht fähig oder — noch schlimmer — nicht willens, auf kreative Weise nach Handlungsalternativen zu suchen, die den Dimensionen der Probleme im Osten gerecht werden könnten.
Im Osten hat inzwischen die Anpassung der ostdeutschen Landwirtschaft an die völlig zu Unrecht zum Standard erhobenen westdeutschen Verhältnisse zur Beseitigung eines ganzen Berufsstandes und zur Zerstörung dörflicher Lebenskultur geführt. Was den Menschen im Osten nun als Perspektive verkauft



Christina Schenk
werden soll, ist das auch im europäischen Rahmen bereits überlebte Produktionsmodell des auch im Westen — das wissen Sie, meine Damen und Herren — nur hochsubventioniert überlebensfähigen bäuerlichen Familienbetriebs.
Es gibt mehrere Gründe dafür, warum diese Betriebsform im Osten nicht angenommen wird. Es sind u. a. der Verlust an sozialer Sicherheit, den die genossenschaftliche Arbeit bietet, an erster Stelle, die selbsterlebten Vorteile gemeinschaftlichen Wirtschaftens an zweiter Stelle, weshalb vor allem auch für Frauen der Weg der sogenannten Wiedereinrichtung eines bäuerlichen Familienbetriebs nicht attraktiv ist und daher kaum in Betracht gezogen wird. Das, was den Frauen da als zukunftsträchtiger Arbeitsplatz in der Landwirtschaft angepriesen wird, bedeutet für sie in Wirklichkeit einen Rückschritt um Jahrzehnte.
Die Arbeit in den Landwirtschaftsbetrieben der DDR ermöglichte es den Frauen, mit einer qualifizierten Arbeit eigenes Geld zu verdienen, im Krankheitsfall Lohnfortzahlung zu erhalten, über geregelte Arbeitszeiten sowie Urlaub zu verfügen und einen eigenen Rentenanspruch zu erwerben. Das bedeutet ein Maß an Eigenständigkeit, von dem mithelfende Ehefrauen im Modell „Bäuerlicher Familienbetrieb" in den Altbundesländern nur träumen können. Eine Politik, die den Anspruch vorgibt, Frauen im ländlichen Raum eine Perspektive eröffnen zu wollen, kann dem nur gerecht werden,

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wollen Sie den alten Zustand wieder haben?)

indem sie endlich tragfähige Wirtschaftskonzepte für die ostdeutschen Bundesländer entwickelt und die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft. Dazu gehört erstens, die überwiegend in der Betriebsform der Agrargenossenschaften und Kapitalgesellschaften noch vorhandenen Frauenarbeitsplätze durch die gleichberechtigte Förderung aller landwirtschaftlichen Betriebsformen zu sichern; zweitens, Weiterbildungsangebote für Frauen im ländlichen Raum zu entwickeln, die an das vorhandene Potential an Berufserfahrung, Qualifikation sowie an territorial sinnvolle Aufgabenbereiche anknüpfen; drittens die Schaffung stabiler Rahmenbedingungen für Kreativität und Engagement von Frauen in Projekten.
Meine Damen und Herren, es muß endlich Schluß sein mit einer Politik, die nichts anderes im Sinn hat, als Frauen zurück an den Kochtopf zu delegieren oder ihnen gerade einmal den entwürdigenden Status von Hilfskräften einzuräumen, um auf diese perfide Weise die inzwischen katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt im Osten zu entschärfen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Was haben Sie denn für eine verschobene Sicht der Dinge?)

Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, zum Schluß dieser Debatte hat wiederum das Wort die Bundesministerin für Frauen und Jugend, unsere Kollegin Dr. Angela Merkel.

(Siegfried Vergin [SPD]: Templin ist auch ein Landgebiet!)


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1214923400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat: Templin ist auch ein Landgebiet. Deshalb finde ich es auch sehr wichtig, daß wir heute über die Frauen im ländlichen Raum sprechen.
Herr Präsident, ich werde Ihnen die Minute, die uns Frau Peters durch eine bodenständige Rede genommen hat, gerne wiedergeben, weil ich dies so sachkundig und aus dem Leben gegriffen überhaupt nicht tun kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Bravo, Frau Peters!)

Ich glaube, daß die Bundesregierung mit der Beantwortung der Großen Anfrage und außerdem auch mit unserer Expertise über die Situation in fünf Landkreisen — in jedem neuen Bundesland in einem Landkreis — einen Beitrag dazu geleistet hat, auf die Probleme der Frauen im ländlichen Raum aufmerksam zu machen.
Wir hatten in der früheren DDR 12 % Beschäftigte in der Landwirtschaft. Frau Schenk und Frau Bläss, die Reduzierung auf 3 % ist Rationalisierungsgründen geschuldet und hat nichts damit zu tun, daß etwa die Bundesregierung in ihrer Politik nach der deutschen Einheit im landwirtschaftlichen Bereich versagt hätte. Die Bundesregierung ist auch in keiner Weise dafür verantwortlich, daß Frauen in der Landwirtschaft in der früheren DDR, wenn sie auf der Kartoffelvollerntemaschine oder an anderen Stellen gearbeitet haben, einen erbärmlich niedrigen Lohn hatten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sicher konnten sie vieles durch Sachleistungen kompensieren, aber im arbeitsmarktpolitischen Bereich sind deshalb heute Benachteiligungen gegeben.
Die Bundesregierung kann auch nichts dafür, daß Frauen — es ist leider so — weniger mobil sind, daß sie früher den Trabant des Mannes oder den Lada, wenn es hoch kam, nicht fahren durften, weil dies eben das Prunkstück der Familie war und man zwölf Jahre darauf gewartet hatte,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

und daß sie, wenn sie schon die Fahrerlaubnis haben, dann eben keine Fahrpraxis haben.
Die Bundesregierung kann auch nichts dafür, daß unter den Pendlern — das ist eine schwierige Lage — eben nur ein Viertel Frauen sein können, weil die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch in der früheren DDR so geregelt war, daß die Mutter für die Familie neben der Erwerbstätigkeit verantwortlich war. Deshalb, denke ich, ist es ausgesprochen wichtig, daß das, was heute an verschiedenen Stellen schon gesagt wurde — daß Rahmenbedingungen im ländlichen Raum geschaffen werden und daß Frauen ihre Chancen dabei erhalten müssen —, weiter Grundlage unserer Arbeit ist.
Es ist natürlich so, daß der Ausbau der Infrastrukturmaßnahmen — Straßenbau und Telefonausbau — natürlich vor allem auch Menschen im ländlichen Raum und damit auch Frauen zugute kommt. Hier hat die Bundesregierung in den letzten drei Jahren so viel



Bundesministerin Dr. Angela Merkel
geleistet, wie in 40 Jahren DDR im Bereich der Telekommunikation nicht zustande gekommen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Insofern müssen wir, glaube ich — das war ja auch das Plädoyer von Frau Peters — sehr differenziert vorgehen.
Ich möchte an dieser Stelle dem Landfrauenverband stellvertretend für viele Fraueninitiativen ganz herzlich dafür danken, daß sie mit großem Engagement genau das tun, was notwendig ist, nämlich den Frauen Mut zu machen, ihre Dinge in die Hand zu nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Selbstverständlich — auch darüber sind wir uns einig — muß und wird die Politik sie dabei unterstützen.
Wir haben Beratungsstellen gerade im ländlichen Raum eingerichtet. Wir haben dafür gesorgt, daß arbeitsmarktpolitische Maßnahmen durch eine Änderung des § 2 des Arbeitsförderungsgesetzes Frauen besser zugute kommen. Wenn ich mir anschaue, wo die großen ABM-Projekte liegen, dann sind sie eben nicht im ländlichen Raum. Hier müssen wir verstärkt auf eine ausgewogene regionale Verteilung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten achten.
Wir haben in vielen Teilen — auch mit Unterstützung der Länder — unbürokratische Lösungen gefunden, um die Mobilitätsschwäche der Frauen zu verbessern. Um diese auszugleichen, um gerade hier zu helfen, damit Frauen weiter Fortbildungsmaßnahmen besuchen können, handeln wir. Ich habe solche Maßnahmen besucht. Ich muß sagen: Nur weil die Frauen miteinander kommunizieren, weil sie sich gegenseitig Mut machen, können sie die Möglichkeiten überhaupt nutzen. Das halte ich für ausgesprochen wichtig.
Einen letzten Punkt, den ich auch für sehr dringend halte, möchte ich noch nennen. Das ist die Ausbildung von Mädchen, und auch hier gerade im ländlichen Raum. Es ist in der Tat so, daß bei der Berufsausbildung Mädchen mit 60 % an den überbetrieblichen bzw. außerbetrieblichen Maßnahmen beteiligt sind. Ich vermute einmal, daß dies im ländlichen Raum noch extremer ist.
Hier ist es eine der wichtigen Aufgaben, auch in diesem Ausbildungsjahr erstens sicherzustellen, daß alle Mädchen einen Berufsausbildungsplatz bekommen, daß zweitens möglichst viele betriebliche Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen werden und daß wir drittens Fortbildungs-, Umschulungs- und Bildungsträger in den ländlichen Raum bekommen, die die Perspektiven auch wirklich erarbeiten. Die liegen im touristischen Bereich. Die liegen im forst- und umweltpolitischen Bereich.
Da muß ich leider sagen, daß am Anfang viele Fortbildungsmaßnahmen in eine falsche Richtung gelaufen sind. Das ist auch eine Sache, die im ländlichen Bereich Enttäuschungen hervorgerufen hat. Ich glaube, Mecklenburg-Vorpommern hat jetzt an die 500 Juristinnen — im ländlichen Bereich nicht gerade das Dringlichste — umgeschult. Deshalb ist es richtig und wichtig, daß wir heute mehr als vor zwei Jahren darüber nachdenken, wo wir die arbeitsmarktpolitischen Gelder ausgeben, so daß sie wirklich den Frauen im ländlichen Bereich zugute kommen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1214923500
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte des Kindes für die Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/4168 —
Überweisung svorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Gisela Babel, Angelika Barbe und weiterer Abgeordneter
Kinderbericht der Bundesregierung
— Drucksache 12/4388 —Üerweisungsvorschlag:
Ausschuß für Frauen und Jugend (federführend) Ausschuß für Familie und Senioren
Rechtsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Debattenzeit von einer Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Sissy Geiger.

Dr. Sissy Geiger (CDU):
Rede ID: ID1214923600
Meine sehr verehrten Herren und Damen! Herr Präsident! Sie erleben jetzt eine absolute Weltpremiere. Dies ist nämlich meine allererste Rede. Ich bitte Sie um mildernde Umstände, weil ich natürlich ein bißchen aufgeregt bin.

(Beifall)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder sind die schwächsten und schutzwürdigsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Die Kinderkommission versteht sich als ihre Interessenvertretung, ihre Lobby, und sie bedient sich einer neuen Form der Zusammenarbeit, die Fraktionsbarrieren überwindet, da für Beschlüsse der Kommission das Konsensprinzip gilt und die Sprecherfunktion rotierend wechselt.
Diese Kommission hat nun einen Bericht vorgelegt, der hier und heute zwar nicht Gegenstand der Beratung ist, auf den sich aber der Maßnahmenkatalog der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte des Kindes für die Bundesrepublik Deutschland genau bezieht. Ich werde noch darauf eingehen.
Wenn von einem Teil der Abgeordneten nun ein eigener Kinderbericht gefordert wird, so kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß dies einer



Dr. Sissy Geiger (Darmstadt)

Resignation gleichkommt. Ein eigener Bericht über die Situation der Kinder in der Bundesrepublik — und das alle zwei Jahre — erscheint mir als der falsche Ansatz.
Was würde bei diesem Bericht herauskommen? Wir würden erfahren, daß das Leben vieler Kinder zu wünschen übrigläßt. Das ist ja auch kein Wunder bei ca. 40 % Scheidungswaisen in der Bundesrepublik. Zirka 60 % aller Ehen in München sind geschieden. Zirka 50 % aller Ehen in den westdeutschen Großstädten sind ebenfalls geschieden. Aber das ist doch nicht die Norm.
Wenn wir beginnen, das Leben der deutschen Kinder isoliert zu betrachten, dann hieße das doch auch, daß wir nicht mehr an die elementare Kraft der Familie glauben, sondern sie preisgeben würden. Das käme einer Resignation gleich.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Leben eines Kindes kann aber nur im Zusammenhang mit seiner Herkunft verstanden werden. Seine besonderen Fähigkeiten und auch seine Schwächen erklären sich aus dem Elternhaus. Wenn man nun versuchte, das „deutsche Kind" unter der Lupe zu analysieren, käme ein Rumpfbericht zustande. Er wäre aus dem Zusammenhang gerissen, denn Vater, Mutter, Geschwister usw. fehlten, eben die Familie.
Der Beschluß des Deutschen Bundestages vom 14. November 1991 besagt: Erstens. Die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes ist endlich zustande gekommen. Es geht um die Bekräftigung der Menschenrechte. Zweitens. Die Bundesregierung soll prüfen, welche Gesetze nun daraufhin abgeklopft und eventuell verändert werden müssen. Bis Ende der 12. Legislaturperiode soll sie eine Novellierung des elterlichen Sorgerechts vorlegen.
Nach Prüfung des Übereinkommens durch die Bundesregierung, ob das alte Recht der Änderung bedarf, steht nun fest: Erstens. Keine Änderung ist nötig. Zweitens. Begründet werden völkerrechtliche Verpflichtungen.

(Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Das ist die Meinung der Bundesregierung!)

Diese werden als Impuls für innerstaatliche Reformen verstanden, zumal in Art. 3 Abs. 2 des Übereinkommens den „Vertragsstaaten ganz allein zur Pflicht gemacht wird, dem Kind den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind, und zu diesem Zweck alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen zu treffen". Es wäre aber sicher richtig, wenn der Jugendbericht um den Bereich der Kinder ergänzt werden könnte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was ist im Laufe der Legislaturperiode geplant oder schon in Angriff genommen, z. B. vom Bundesjustizministerium — ich möchte nur ein paar Beispiele nennen; wenn ich alles aufzählen würde, würde meine Redezeit nicht ausreichen —: erstens die Reform des Kindschaftsrechts, zweitens das Betreuungsgesetz für Volljährige, das noch um eine Neuordnung des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Minderjährige ergänzt werden muß, usw.
Besonders allerdings liegt mir die Verjährungsfrist bei Sexualdelikten am Herzen. Die strafrechtliche Verfolgung dieser Delikte, die meistens an Kindern lange vor deren Pubertät von Menschen aus dem engsten Umfeld begangen werden, ist oft schon verjährt, ehe sie zur Anzeige gebracht werden. Auch hier ist die Neuregelung schon in der parlamentarischen Beratung.
Spektakuläre Fälle von Kinderhandel in jüngster Zeit geben Anlaß — traurig genug —, möglicherweise einen neuen Straftatbestand des gewinnorientierten Kinderhandels einzuführen.
Das Bundesministerium für Frauen und Jugend hat auch einiges unternommen, z. B. den Rechtsanspruch von Kindern vom dritten Lebensjahr an auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt. Hier, meine Damen und Herren, bedarf es unserer gemeinsamen Anstrengung, daß zumindest diejenigen einen Kindergartenplatz bekommen, deren Väter oder Mütter alleinerziehend oder noch in der Ausbildung sind.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vor allem brauchen wir eine finanzielle Beteiligung des Bundes!)

Im übrigen fände ich es sehr bedauerlich, wenn sich die Länder auf den finanziellen Standpunkt zurückzögen, anstatt kreative Möglichkeiten anzubieten,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

z. B. für die Errichtung privater Kinderbetreuungseinrichtungen oder eine Änderung der Bauvorschriften für eben diese. Zum Beispiel gibt es in Hessen eine Vorschrift, wonach in Krabbelstuben für Wickelkinder nach Geschlecht getrennte Toiletten vorgehalten werden müssen.
Das Bundesministerium für Familie und Senioren sorgt ebenfalls für die Rechte des Kindes. Weitere Reformen gibt es durch das Bundesministerium der Justiz. Es gibt Maßnahmen des Bundesministeriums des Innern, die geistig-politische Auseinandersetzung betreffend. Das Bundesministerium für Forschung und Technologie hält fast 40 Forschungsvorhaben auf dem Gebiet der kinder- und jugendrelevanten Forschung bereit, besonders im medizinischen Bereich.
Der Antrag der Damen und Herren Albowitz bis Würfel ist eigentlich überholt. Denn die vorhin aufgezählten Maßnahmen der einzelnen Ministerien zeigen, daß dem Wunsch der obengenannten Abgeordneten Rechnung getragen wurde.

(Margot von Renesse [SPD]: Ist das Ironie?)

Von den einzelnen Ministerien ist einiges aufgegriffen worden, zwar nicht unbedingt sehr koordiniert, eher etwas chaotisch. Übrigens kann man Kinder auch nicht als Objekte bezeichnen, wie es in dem Antrag steht. Kinder sind nämlich Menschen.
Ich kann auch nicht einsehen, meine Damen und Herren, daß man Kinder isoliert betrachten soll und daß daher ein eigener Bericht notwendig ist. Kinder gehören in die Familie. Deswegen sollten wir die Familie stärken. Den Kindern soll darin mehr Gewicht gegeben werden. Kinder brauchen die familiäre Geborgenheit, das Nest, in dem sie sich in Ruhe entwickeln können. Denn Menschenkinder sind Nesthocker. Sie brauchen Eltern, die sie lieben, die sie vom



Dr. Sissy Geiger (Darmstadt)

ersten Moment ihres Lebens an ernst nehmen, die sie zur Freiheit erziehen — die sich aber an der Freiheit der anderen messen lassen muß —, und sie brauchen Eltern, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind, die man ihnen aber auch nicht abnehmen kann. Dazu gehören auch die Väter, meine Herren Abgeordneten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn die Kinder einmal aus dem Nest fallen sollten, dann sollten es die Eltern machen wie die Adler: unter dem Nest kreisen, um die Jungen vor dem Sturz ins Bodenlose zu bewahren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, die Frau Kollegin hat ihre Redezeit ungefähr eingehalten. Ich kann sie zu dieser ersten Rede nur beglückwünschen. So aufgeregt war sie gar nicht. So sah es wenigstens aus meiner Perspektive aus.
Ich erteile nun unserem Kollegen Wilhelm Schmidt das Wort.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt)


Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214923700
Frau Präsidentin! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einiges scheint die Kollegin Geiger an der ganzen Atmosphäre, die wir heute mit den beiden Anträgen und dem Bericht verfolgen, mißverstanden zu haben; wohlgemerkt: inhaltlich. Ansonsten gratuliere ich Ihnen ausdrücklich zu Ihrer ersten Rede hier im Hause. Ich denke, das ist tatsächlich nicht ganz einfach. Wir spüren es selbst dann noch, wenn wir zum wiederholten Male an diesem Pult stehen.
Ich will zunächst mit einigen wenigen Sätzen auf die UNO-Konvention eingehen. Ich wäre Ihnen, Frau Geiger, und denen, die Sie zu der Meinung, die Sie zum Ausdruck gebracht haben, verführt haben — möchte ich fast sagen —, dankbar, wenn sie zuhören, weil sich dann einiges klärt und sich vielleicht Ihre Auffassung noch ändern läßt. Ich wäre jedenfalls sehr dankbar dafür. Sie werden merken: Wir haben große Unterschiede in der Sache.
Der Bundeskanzler hat heute morgen von riesigen Umbrüchen in diesem Land, aber auch in Europa, zumal in Osteuropa, gesprochen. Als wir Ende 1991 die UNO-Konvention in diesem Hause ratifiziert haben, war von diesen Umbrüchen schon eine Menge zu spüren. Trotzdem haben wir sie offensichtlich nicht ernst genommen. Sonst würden mehr Aktivitäten und Handlungen in der Kinderpolitik vorgenommen worden sein, als das bisher zu verspüren ist.
Schon 1990 konnte oder mußte ich im „Evangelischen Pressedienst" schreiben, daß die Kinder nicht die Verlierer der deutschen Einheit sein dürfen. Ich frage Sie alle, was daraus geworden ist. Wir sind jetzt fast drei Jahre weiter. Es zeichnen sich dramatische Verhältnisse ab.
Heute titelt eine Wochenzeitung, daß in Deutschland die „Enteignung der Kindheit" stattfindet. Konsumorientierung, maßlose Werbeaktivitäten, gewaltorientierte und menschenverachtende Medieneinflüsse, immer weniger Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten, ein unwahrscheinlich eingeschränktes Wohnumfeld, Bildungsstreß, Gewalt gegen Kinder, tagtäglich die Frage, ob wir die Verkehrs- und Umweltgefahren, mit denen gerade Kinder konfrontiert sind, noch beherrschen können, sind eher mit großer Skepsis zu bewerten. Dazu kommen die riesigen sozialen Probleme.
All das kommt in einem enormen Maße gerade auf Kinder zu. Darum kann ich überhaupt nicht verstehen, wenn Sie hier so tun, als wenn das durch ein einigermaßen stabiles familiäres Umfeld aufgefangen werden könnte, noch dazu, wenn Sie gleichzeitig sagen, daß dieses familiäre Umfeld in dem Maße, wie es notwendig wäre, überhaupt nicht mehr vorhanden ist.

(Beifall bei der SPD — Ilse Falk [CDU/CSU]: Deshalb müssen die Familien gestärkt werden!)

— Man kann das aber doch nicht schönreden, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Die Situation ist nun einmal so, daß die Belastungen besonders groß sind. Auch ich wünsche mir viel stärkere Familienverbände. Aber sie sind nun einmal nicht da. Sie haben es mit Ihren statistischen Erhebungen selber angedeutet.

(Ilse Falk [CDU/CSU]: Deswegen müssen wir dafür etwas tun!)

Deswegen finde ich es völlig unverständlich und geradezu ignorant, was die Bundesregierung in ihrem Bericht zur UNO-Konvention hineingeschrieben hat. Es ist unglaublich, wie oberflächlich dieser Bericht abgefaßt ist, wie wenig er sich auf den Inhalt dieser Konvention bezieht und rückkoppelt, wie wenig er dazu beiträgt, die tatsächliche Situation ins Verhältnis zu dem zu setzen, was die UNO-Konvention an Inhalten von uns fordert. Wir haben sie schließlich ratifiziert. Sie ist seit 5. April 1992 in unserem Lande gültig. Wir müssen sie als Realität in der Kinder- und Jugendpolitik und in der Familienpolitik nehmen und umsetzen.
Ich bin sicher, daß wir über das in diesem Bericht zum Ausdruck kommende Selbstlob der Bundesregierung, über eine unverbindliche Aufzählung normaler und schon lange geltender Sozialregelungen und vor allem über die Unzahl von Ankündigungen, die längst noch nicht umgesetzt worden sind, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Meine Kollegin Frau von Renesse wird Einzelheiten dazu noch zum Ausdruck bringen.
Ich will nur einen typischen Fall nennen. Zum Beispiel sagen Sie in diesem Bericht — Herr Funke, Sie sind ja vermutlich der Vertreter des federführenden Ministeriums in dieser Frage —, daß Sie Informationsbroschüren als ganz wichtige jugend- und kinderpolitische Maßnahme empfinden, in denen zum Abbau von Gewalt im allgemeinen täglichen Leben, insbesondere im Schulbereich, aufgefordert wird. Kein einziger Satz darüber, wie denn die aktuelle und tatsächliche Situation der ausländischen Flüchtlingskinder bei uns in diesem Lande aussieht. Kein einziger Satz darüber, wie restriktiv wir im Ausländerrecht



Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

mit denen umgehen, die als Kinder der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei uns in diesem Lande leben. Dies ist nicht nur ignorant. Das ist schon schlimm. Das tut uns weh. Dies kommt deswegen überhaupt nicht im entferntesten dem Anspruch dieser Kinderkonvention nach, den wir alle sehen.
Ich muß Ihnen von daher auch vorwerfen, daß das, was die Kinderfachverbände in den letzten Wochen nach Kenntnis dieses Berichtes zum Ausdruck gebracht haben, tatsächlich eine kleinkarierte Erbsenzählerei — so heißt es vielfach — ohne kinderpolitische Perspektive ist. Ich schließe mich dieser Bewertung ausdrücklich an.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo also ist denn die ernsthafte und differenzierte Auseinandersetzung dieser Regierung mit den einzelnen Vorgaben dieser Konvention? Die Vorbehaltserklärung, über die wir schon bei der Ratifizierung ausführlich debattiert haben, war ja ein außenpolitischer Flop ohnegleichen. Sie erinnern sich, daß Sie in dieser Vorbehaltserklärung zum Ausdruck gebracht haben, daß die Bundesregierung nicht im entferntesten daran denke, ausländerrechtliche Bestimmungen, asylrechtliche Bestimmungen, Fragen des Kindschaftsrechts, insbesondere des Sorge- und Umgangrechts, auch nur einer Prüfung zu unterziehen, obwohl die Konvention dies eigentlich von ihr fordert. Ja, glauben Sie denn eigentlich, daß dies international betrachtet — wir sind mit dieser Konvention in die Völkergemeinschaft einbezogen — einfach so hingenommen wird?
Glauben Sie denn nicht auch, wenn wir beispielsweise demnächst den Bericht bei der UNO und bei der dafür eingerichteten besonderen Kommission abzuliefern haben, daß wir sie geradezu auf die Umstände, denen wir uns nicht zuwenden wollen, also auf unsere inneren Nachteile, auf unsere nationalen Rechtsnachteile stupsen und daß wir sie von daher geradezu mit einem Elfmeter versehen? Sie brauchen gar nicht erst lange zu sehen und nachzuprüfen, wo sie denn in Deutschland beispielsweise ihren Bericht anzusetzen haben.
Dies ist ganz böse. Das kann ich Ihnen nur sagen. Das wird auch von der Kinderkommission insgesamt nicht hingenommen. Für meine Fraktion — das kann ich eindeutig und nachdrücklich sagen — findet dies in keiner Weise unsere Unterstützung.
Wenn man den Umgang der Bundesregierung mit dieser Konvention und mit dieser Materie ins Kalkül zieht, wird die Initiative der Bundestagskinderkommission und der jetzt noch 105 Antragstellerinnen und Antragsteller noch mehr verständlich, nun erst einmal einen speziellen Kinderbericht zu fordern. Die von mir im Zusammenhang mit der UNO-Konvention gerückte Haltung der Regierung rührt nach meiner Überzeugung auch aus den großen Defiziten her, die sich schon bei den Informationsgrundlagen ergeben. Die an einigen Stellen geäußerte Skepsis, daß durch einen solchen besonderen Bericht die Kinderpolitik ausgelagert wird, kann ich nicht teilen; sonst wären auch schon seit vielen Jahren die üblichen Jugendberichte etwas Besonderes dieser Art gewesen, und dann wären die wohl auch nicht sinnvoll gewesen.
Den Antragstellerinnen und Antragstellern war es wichtig, daß mit dem Kinderbericht eine gesicherte Grundlage für eine auf die speziellen Kinderinteressen gerichtete allgemeine politische Diskussion geführt werden kann. Das ist es doch, woran es hier mangelt. Sie sind doch gar nicht in der Lage, eine fundierte Diskussion über die eigentlichen und im wesentlichen vorhandenen Hintergründe kinderpolitischer Informationen zu führen.
Ich sage Ihnen, daß dies auch dem entspricht, was wir im Kinder- und Jugendhilfegesetz mit der Jugendhilfeplanung ins Gespräch gebracht haben und was dort gilt. Es ist doch nachgerade wichtig, daß wir auf der Basis von sinnvollen Informationen ein planvolles Vorgehen miteinander versuchen zu verabreden und durchzuführen. Gerade in diesem Bereich wäre das ganz besonders wichtig.
Bewußt hat die Kinderkommission für diesen ersten Bericht mit dem Themenkatalog nahezu die ganze Bandbreite der kinderpolitischen Aufgaben aufgeführt. In der Drucksache 12/4388 wird klar, daß es sowohl um die schon angesprochenen besonderen eigenen Rechte der Kinder als auch um die zahllosen anderen Problembereiche gehen muß, denen Kinder in der modernen Industriegesellschaft ausgesetzt sind.
Daß in dieser Liste die Entwicklungshilfe und die Hilfe für Kinder in Krisengebieten nicht aufgenommen sind, muß man verstehen. Das kann die UNO-Konvention abdecken. Dazu brauchen wir nicht den nationalen Kinderbericht zu bemühen.
Natürlich soll die Lage der Kinder in den ostdeutschen Bundesländern besonders beleuchtet werden. Immer wieder wird die Bundestagskinderkommission gerade mit den erheblich schwierigeren Belastungen konfrontiert, denen die Kinder in den neuen Ländern ausgesetzt sind. Mehrere Informationsbesuche vor Ort haben uns dies bestätigt, ob das die Kindertageseinrichtungen, die Freizeiteinrichtungen oder andere Einrichtungen sind. Darüber haben wir übrigens schon in diesem Hause am 13. Juni 1991 auf Antrag der SPD debattiert. Und was ist seither geschehen? Nichts als ein Verschiebebahnhof finanzpolitischer Leistungen. Ansonsten sind wir nicht viel weitergekommen.
Ich will Sie auch an dieser Stelle ausdrücklich auffordern, im Rahmen der Verfassungsdiskussion die Möglichkeit zu untersuchen, ob Kinderrechte im Grundgesetz aufgenommen werden können.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen dies ganz dringend im Interesse der Kinder und der Familien. Kinder dürfen nicht nur die Träger abgeleiteter Rechte ihrer Eltern oder der Familien sein. Sie müssen auch als Träger eigener Rechte in unserer Gesellschaft akzeptiert werden.
Meine eindringliche Aufforderung, meine Damen und Herren, geht also an Sie alle, im Rahmen der Ausschußberatungen, die nun folgen werden, dieses ernst zu nehmen, die großen Benachteiligungen,



Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

denen Kinder in unsrer Gesellschaft ausgesetzt sind, aufzuarbeiten und sie in einem speziellen Kinderbericht auch umzusetzen, den wir dann zur Grundlage für eine ausführliche kinderpolitische Debatte in diesem Hause machen können. Dies kann alles heute nur ein Anfang gewesen sein. Alles andere wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen müssen.
Ich hoffe, daß wir auf dem Wege zu einer kinderfreundlicheren Gesellschaft sind. So wie es aussieht, habe ich ein bißchen Bedenken, ob sich insbesondere die Regierungskoalition dieser Verantwortung gewachsen zeigt.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214923800
Als nächster hat das Wort der Kollege Norbert Eimer.

Norbert Eimer (FDP):
Rede ID: ID1214923900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einen Bericht über dieses wichtige Thema zu dieser Uhrzeit zu debattieren, halte ich für eine Zumutung.

(Beifall im ganzen Hause — Ina Albowitz [F.D.P.]: Das liegt an der SPD!)

— Ich bitte, sich etwas mit dem Beifall zurückzuhalten, sonst langt meine Redezeit nicht. — Leider haben auch die Kollegen aus den großen Parteien meinem Vorschlag nicht zugestimmt, das von der Tagesordnung heute abzusetzen und darüber zu einer günstigeren Zeit zu diskutieren.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist Schuld der SPD!)

— Wir alle sind selber daran schuld, wenn wir uns das gefallen lassen.
Der vorgelegte Bericht der Bundesregierung zeigt IL eindrucksvoller Weise, was diese Bundesregierung, die einzelnen Ministerien für die Belange der Kinder getan haben bzw. was sie zu tun beabsichtigen. Das kann sich sehen lassen. Aber das ist natürlich, Herr Kollege Schmidt, noch lange nicht genug.
Es war allerdings auch nicht das, was ich von einem derartigen Bericht erwartet habe. Ich meine, es wäre besser gewesen, die Gliederung dieses Berichts nicht nach den Tätigkeitsbereichen der einzelnen Ministerien vorzunehmen, sondern die einzelnen Artikel der UNO-Kinderkonvention als Ordnungskriterien zu nehmen. Ich möchte gerne wissen, was die Konvention von den Unterzeichnerstaaten fordert, was ist davon bereits erfüllt — das wird bei uns das meiste sein — und wo haben die Regierung und das Parlament der Bundesrepublik Deutschland noch eine Hausaufgabe zu erfüllen? Das geht aber bei dieser Gliederung nicht oder nur nach sehr mühseliger Suche aus dem Bericht hervor.
Ich will nur ein Beispiel nennen: Art. 35 betrifft Entführung, Handel und Verkauf von Kindern. Zu Handel und Verkauf nimmt das Bundesjustizministerium Stellung. Zu dem Problem der Entführungen ist im Bericht dagegen nichts enthalten, da sich offensichtlich niemand dafür zuständig fühlt. Vielleicht kann uns die Bundesregierung noch einen weiteren Bericht nach einem anderen Gliederungsprinzip nachschieben, nämlich nach den einzelnen Artikeln der Konvention.
Den größten und auch den wichtigsten Teil nimmt der Bericht der Bundesjustizministerin ein. Dieser Teil des Berichts lehnt sich am engsten an die UN-Kinderkonvention an. Aber auch hier verkauft sich die Bundesregierung unter Wert. Seit die Minister Kinkel und Leutheusser-Schnarrenberger die Aufgaben in andere Hände gelegt haben, sind die Beratungen weiter fortgeschritten. Es wird engagierter daran gearbeitet, als es im Bericht der Bundesregierung deutlich wird.
Hier hat die Kinderkommission — und damit auch das Parlament, natürlich mit kräftiger Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts — etwas in Gang gebracht, das wohl eine der größten Reformen in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland werden wird. Ich habe mir sagen lassen, ca. 7 000 Paragraphen — ich wiederhole: 7 000 Paragraphen — werden durch diese Reform tangiert werden, d. h. das gesamte Kindschaftsrecht.
Die einzelnen Punkte anzusprechen, will ich mir hier ersparen. Das ist im Bericht nachlesbar, und dazu hören wir Kompetentes aus dem Ministerium.
Grundsätzlich ist zu begrüßen, daß nicht mehr nur vom Interesse der Eltern oder von abstrakten Ordnungsprinzipien ausgegangen wird, sondern auch von den Rechten des Kindes. Kinder sind nicht beliebige Dispositionsmasse. Sie sind Menschen mit eigenen Menschenrechten — mit allen Menschenrechten! — und vor allem mit einer zerbrechlichen Seele, auf die die Gesetze mehr Rücksicht nehmen müssen, als sie es bisher getan haben. Genau dies ist der Sinn der Reform.
Ich möchte vor allem den beteiligten Beamten im Ministerium danken. Die Vorträge im Ausschuß für Familie und Senioren haben quer über alle Fraktionen hinweg Beifall gefunden.
Ich weiß um die Kompliziertheit der Materie und um die Vielzahl der betroffenen Gesetze. Ich weiß, daß, wenn der Gesetzgebungsprozeß seriös abgewickelt werden soll und die Gesetze auf Dauer halten sollen, nicht alle in Angriff genommenen Maßnahmen in dieser Legislaturperiode zu Ende geführt werden können.
Es wäre hilfreich, wenn zusätzlich zu den vorgelegten Informationen weitere bekannt würden und ein ungefährer Zeitplan aufgestellt würde, was noch andiskutiert, aber erst in der nächsten Legislaturperiode fertig wird und was wir noch in dieser Legislaturperiode schaffen können; denn ich glaube, wir können auch in dieser Legislaturperiode noch einige Gesetze verabschieden.
Ich habe eine weitere Bitte. Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist es heute schon in vielen Fällen möglich, Not und Leid der Kinder, der Eltern und der Großeltern zu vermeiden, wenn Gerichte und Jugendämter mehr von den gegebenen Möglichkeiten Gebrauch machen würden. Deswegen meine Bitte an das Ministerium: Informieren Sie Anwälte, Jugendämter, Berater und andere Betroffene, was die UN-Kinderkonvention und die Urteile



Norbert Eimer (Fürth)

des Verfassungsgerichts schon jetzt zulassen oder sogar von uns verlangen und was die Regierung und wohl auch das gesamte Parlament zu tun beabsichtigen. Wenn die Richter es nicht als eine Einmischung betrachten würden, wäre es gut, ihnen das ebenfalls mitzuteilen.
Ich muß einige Punkte überspringen, die im Bericht aufgeführt sind und die ich gerne angesprochen hätte. Zum Schluß möchte ich in aller Kürze noch einen Satz zu dem geforderten Kinderbericht sagen — im Detail wird wohl mein Kollege Werner, der Mitunterzeichner ist, dazu noch etwas sagen —: Wir wollen keinen langen Bericht; auch die bisherigen sind zu lang. Wir wollen ihn im Zusammenhang mit dem Familienbericht. Aber die Kinder müssen ein eigenes Thema werden. Ich verstehe die Mehrheit der Union nicht, daß sie sich hier sperrt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich habe den Verdacht, daß dies mit Kompetenzrangeleien zwischen den Ministerien zusammenhängt.
Ich hoffe aber, daß die Kinder in Zukunft einen besseren Stellenwert in unserer Gesellschaft haben werden. Dafür setzt sich die Kinderkommission ein. Das muß auch das Ergebnis der Verbesserungen im Sorgerecht sein, über das zur Zeit beraten wird.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214924000
Nun hat die Kollegin Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1214924100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Modalitäten der heutigen kinderpolitischen Debatte, d. h. der Zeitpunkt, die gemeinsame Beratung des ersten Berichtes der Bundesregierung zur Umsetzung der UNO-Kinderkonvention und des fraktionsübergreifenden Antrages zur Vorlage eines Kinderberichtes sowie insbesondere der Inhalt des vorgelegten Berichtes, sprechen leider für sich. Sie sind ein Armutszeugnis für die Kinderpolitik der Bundesrepublik Deutschland und haben dementsprechend bereits im Vorfeld der heutigen Debatte Diskussionen in der Öffentlichkeit ausgelöst.
Der vorgelegte Bericht scheint im Ergebnis nur Produkt einer Nötigung zu sein. Entsprechend dem Beschluß des Parlaments zur Ratifizierung der UNOKinderkonvention ergab sich nun einmal die Pflicht der Vorlage einer Überprüfung notwendiger, sich aus der Konvention ergebender Veränderungen innerdeutschen Rechts.
Nach dem Jäger-und-Sammler-Prinzip scheint die Bundesregierung daraufhin alle Ministerien beauftragt zu haben, zu überprüfen, inwieweit innerhalb der von ihnen zu verantwortenden Bereiche Kinder in irgendeiner Weise eventuell tangiert werden. Und siehe da, tatsächlich wurden sieben Ministerien fündig.
Warum gerade diese sieben Ministerien sich tatsächlich aufrafften, in erster Linie Absichtserklärungen abzugeben, die dann mehr oder weniger detailliert begründet werden, ist aus der vorgelegten Drucksache nicht zu erkennen. Der Bericht ist eine Aufzählung von 41 Maßnahmen. Es fehlt nicht nur jegliche innere Systematik; selbst der Bezug zur Kinderrechts-konvention ist nur in drei Punkten hergestellt.
Die einfache Wiederholung der mit Art. 3 in der Konvention anerkannten Pflicht aller Vertragsstaaten, also auch Deutschlands, dem Kind den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind, genügt nicht. Dies würde eine kritische Betrachtung der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse nach Art. 3 Abs. 1 der Konvention voraussetzen.
Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Welche politischen Entscheidungen — ob sie das Wohnungswesen, die Umweltpolitik, die Verkehrspolitik oder andere betreffen — beziehen sich nicht auch auf das Leben und das Wohl der Kinder? Das Wohl der Kinder als Maßstab, als Mindeststandard für alle in der Gesellschaft gegebenen Gesetze, Normen und Verhältnisse wäre zwingend notwendig. Auf Grund des Messens an diesem Standard wäre eine Überprüfung der vorhandenen Gesetzlichkeit eine Ausgangsbasis für sich daraus ergebende notwendige Änderungen.
Kinder müssen heute und hier unter den gegebenen Bedingungen leben, Kinder, die auf Grund ihrer psychischen und physischen Entwicklung erst nach und nach ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen und Ansprüche selber artikulieren können und zu ihrer Durchsetzung immer noch auf die Hilfe und Unterstützung von Erwachsenen angewiesen sind.
Unsere Kinder, die heute hier leben, werden als Erwachsene die Welt so übernehmen müssen, wie wir sie ihnen hinterlassen. Das ist eine Erfahrung, die Kinder und Jugendliche bereits in ihrem Kindsein bedrückt. Das zeigt sich in der Entwicklung ihrer Wertvorstellungen, in Umweltängsten von Kindern und in ihren Reaktionen wie „null Bock" oder scheinbar unmotivierter Gewalt.
Eine Überprüfung des innerstaatlichen Rechts auf der Grundlage der Anerkennung der Rechte von Kindern müßte meines Erachtens von der Anerkennung des Subjektseins von Kindern und der notwendigen Ausgestaltung der Unantastbarkeit ihrer Menschenwürde, insbesondere des Rechts der Kinder auf Schutz und Förderung ihrer Entwicklung, ausgehen. Dies ist eine Aufgabe von Verfassungsrang.
Besieht man sich daraufhin den Bericht, so zeigt es sich, daß dies in keiner Weise Basis vorhandener Gesetzlichkeiten ist. So wird das Kinder- und Jugendhilfegesetz sehr schnell im Bericht abgehandelt, aber überhaupt nicht die Frage gestellt, inwieweit das in ihm angelegte Verständnis von Kindern und Jugendlichen als Erziehungsobjekten und von Eltern als Erziehungssubjekten überdacht werden müßte.



Dr. Barbara Höll
Die Reform des Kindschaftsrechts, die vom Parlament ausdrücklich als notwendige, bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode zu erledigende Pflichtaufgabe gesehen wurde, wird durch das Justizministerium unter Hinweis auf die sehr umfassenden notwendigen Gesetzesänderungen einer sich damit befassenden Arbeitsgruppe übertragen. Da die Arbeitsgruppe bereits mehrmals tagte, schließt das Ministerium mit der frohen Hoffnung, daß bis zum Ende der Legislaturperiode Formulierungen für Gesetzesvorschriften vorliegen werden. Schon heute läßt sich jedoch absehen, daß eine tatsächliche, umfassende Reform des Kindschaftsrechtes in dieser Legislaturperiode nicht mehr vom Parlament verabschiedet wird.
Doch bereits die Begründung der Notwendigkeit der Reform läßt für mich viele Fragen offen. Sie ergibt sich nämlich nur aus der erforderlichen weiteren Angleichung der Rechtsstellung der ehelichen und der nichtehelichen Kinder. Ich frage die Bundesregierung: Wieso geht es nur um eine weitere Angleichung, nicht um eine Rechtsgleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern? Wieso geht es nur um eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls im Rahmen des Kindschaftsrechts und nicht um einen Neuansatz, das Kindeswohl zum Ausgangspunkt für ein neues Kindschaftsrecht zu nehmen?
Betrachtet man in dem Bericht weiter die Frage der Vormundschaft und der Pflegschaft für Minderjährige, so wird zwar ehrlich gesagt, daß die dafür geltenden gesetzlichen Grundlagen im Prinzip seit Beginn des Jahrhunderts unverändert geblieben sind; die Darlegung endet jedoch nur mit dem Hinweis, daß die begonnene Reform fortgesetzt werden muß. Aber von einem tatsächlichen Neuansatz des Kindschaftsrechts wird nicht gesprochen.
Betrachtet man dann das Problem der Ausübung von Rechten durch Kinder, so ist es schon erstaunlich, warum das Justizministerium dazu nur auf Initiativen im Rahmen der Schaffung eines europäischen Vertragswerkes hinweisen kann, sich jedoch nicht selbst die Frage stellt, inwieweit es vielleicht unabhängig oder als Vorreiter im europäischen Rahmen die Gestaltung der Ausübung von Rechten durch Kinder festlegen sollte. Bisher gibt es z. B. nur vier Kinderbeauftragte in Landesregierungen.
An mehreren Stellen wird der Bericht von Fragen durchzogen, die sich aus der Vereinigung der beiden deutschen Staaten für Kinder ergeben.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214924200
Frau Kollegin Höll, alle haben jetzt eine Minute überzogen. Mehr sollte es nicht werden.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1214924300
Ich schließe dann. — Erstaunlicherweise wird hier teilweise sogar noch mit Halbwahrheiten gearbeitet.
Ich denke, die Bundesregierung, die viele Probleme nicht angesprochen hat, sollte diesen Bericht zurückziehen und einen tatsächlich neuen erarbeiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214924400
Nun hat Kollege Konrad Weiß das Wort.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1214924500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute nachmittag ist in einem der deutschen Sender ein Film von mir wiederholt worden, den ich vor einigen Jahren gedreht habe, ein Film über Janusz Korczak. Im Zentrum dieses Films mit dem Titel „Ich bin klein, aber wichtig" standen die Rechte der Kinder, stand das Recht des Kindes, das Janusz Korczak als einer der allerersten schon vor 60 Jahren formuliert hat.
Wenn ich mir die Berichte, über die wir heute hier sprechen, ansehe, so finde ich, daß Welten zwischen diesen Auffassungen von Korczak, einem großen Pädagogen, und dem, was ich schon als kalte Bürokratie bezeichnen will und was uns hier vorgelegt worden ist, liegen.
Ein großer Wurf ist der Bundesregierung mit diesen Berichten wahrlich nicht gelungen. Eher lieblos wird aufgelistet, was unter dem Stichwort „K wie Kind" in den Ministerien aufzutreiben war. Grundzüge oder gar die überzeugende Konzeption einer gestaltenden Kinderpolitik sind nicht zu erkennen.
Die Kinderkonvention wird offenbar noch immer als lästige Pflicht, nicht aber als Chance aufgefaßt. Ganz offenbar gibt es für die Bundesregierung Wichtigeres in Deutschland als Kinder, z. B. Autobahnen oder AWACS-Abenteuer.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)

Das Bundesministerium der Justiz arbeitet immerhin — das erkenne ich ausdrücklich an — an den Reformen, die mit der Unterzeichnung der Kinderkonvention notwendig geworden sind, auch wenn das zügiger vorangehen könnte.
Noch immer ist das unsägliche und altväterliche Züchtigungsrecht nicht verschwunden; noch sind die Strafvorschriften gegen Kinderpornographie und gegen Mißbrauch von Kindern durch Sextourismus nicht verschärft, obwohl doch wir alle, wie ich annehme, in diesen Fragen politisch übereinstimmen. Auch die Reform des Kindschaftsrechtes kommt nicht recht voran.
Ich finde, wir alle und vor allem die Bundesregierung sollten die Rechte der Kinder und die Pflichten aus der Kinderkonvention ernster nehmen.

(Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.]: Bei uns im Ausschuß ist sehr intensiv berichtet worden! Wir arbeiten sehr fleißig daran!)

— Ich habe ja gesagt, daß ich die Arbeiten der Justizministerin ausdrücklich würdige; aber ich denke, um der Notwendigkeiten dieser Reform willen könnte da wirklich zügiger gearbeitet werden.
Ich will bei der Analyse des Berichtes über die UNO-Konvention und ihre Umsetzung vier Bereiche kritisch hervorheben:
Erstens. Noch immer ist die Bundesregierung nicht der Pflicht nachgekommen, die aus Art. 42 der Konvention erwächst, nämlich die Konvention durch geeignete und wirksame Maßnahmen bei Erwachsenen und auch bei Kindern bekannt zu machen. Interessierte müssen sich nach wie vor an private Vereine und Institutionen wenden, wenn sie die Konvention in einer für Kinder geeigneten oder kom-



Konrad Weiß (Berlin)

mentierten Ausgabe erhalten wollen. Wann wird die Bundesregierung den Text in kindgemäßer Form publizieren und die in Deutschland lebenden Kinder z. B. durch Poster oder Fernsehspots über ihre Rechte aufklären?

(Beifall bei der SPD — Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.]: Es gibt ein solches Papier in Nordrhein-Westfalen!)

— Ja, aber das ist kein Papier der Bundesregierung. Dieses Papier ist wunderbar; das habe ich auch schon einmal ausdrücklich gewürdigt.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214924600
Darf ich einmal fragen, was das jetzt wird?

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1214924700
Eine Ausschußberatung!

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214924800
Wunderbar! Könnten wir das dann vielleicht in den Ausschuß verlagern? Die Vorlagen werden nämlich überwiesen. — Danke. Herr Kollege, Sie haben weiter das Wort.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1214924900
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Zweitens. Die Bundesregierung mißachtet fortgesetzt und gröblich die Verpflichtungen, die ihr mit den Art. 2, 20 und 22 der Konvention auferlegt sind. Diese Artikel sollen den besonderen Schutz von Flüchtlingskindern, Ausländerkindern und solchen, die von ihren Familien getrennt leben müssen, gewährleisten. In der gesamten Asyldebatte ist diese bindende Verpflichtung aus der Kinderkonvention völlig außer acht gelassen worden, ganz zu schweigen von dem, was schon heute gang und gäbe ist. So sind mir Fälle bekannt geworden, in denen Mütter von Flüchtlingskindern ausgewiesen oder Ausländerfamilien durch Ausweisung eines Elternteils getrennt wurden. Es ist doch geradezu zynisch, wenn einem drei Monate alten Kind das Bleiben erlaubt wird, die Mutter aber abgeschoben werden soll. So geschehen in Brandenburg! Es ist eine Schande, wenn in Deutschland unbegleitete Flüchtlingskinder in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden, wenn kaum ein Flüchtlings- oder Asylbewerberkind ein ausreichendes Bildungsangebot erhält oder wenn immer mehr ausländische Kinder aus Angst vor fremdenfeindlichen Ausschreitungen der Schule fernbleiben. In all diesen Punkten verstößt die Bundesrepublik Deutschland fortwährend und eklatant gegen die UNOKonvention.
Drittens. Art. 24 verpflichtet die Bundesregierung, den Kindern das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit zu gewähren. Gerade Kinder werden jedoch durch die zunehmende Umweltverschmutzung belastet. Fast jedes dritte Kind in Deutschland leidet unter Hautallergien; Atemwegserkrankungen sind an der Tagesordnung, und Krebs ist mittlerweile in manchen Gegenden die zweithäufigste Todesursache bei Kindem.
Viertens und letztens. Mit Art. 17 der Kinderkonvention haben wir uns verpflichtet, kindgemäße Medien und Kultur für Kinder zu fördern. Die Programme der Hörfunk- und Fernsehanstalten, sowohl der öffentlich-rechtlichen wie der privaten, werden nur zu einem geringen Teil gemäß dem Anspruch der Kinderkonvention genutzt. Die Förderung von Kinderfilm und Kinderfernsehen, Kinderbuch und Kindermusik, Kindertheater und Kinderclubs ist ganz und gar ungenügend. Besonders in Ostdeutschland sind vorhandene Strukturen durch die hemmungslose Kommerzialisierung zerstört worden. Kunst und Kultur für Kinder sind dort zum unbezahlbaren Luxus geworden.
Kaum etwas von all dem habe ich im Bericht der Bundesregierung gefunden. Sinn eines solchen Berichtes kann doch nicht blinde Lobhudelei sein. Ich jedenfalls hätte mir eine kritische Analyse erwartet, die uns und die Bundesregierung zum Handeln befähigt hätte.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214925000
Nun hat der Kollege Klaus Riegert das Wort.

Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1214925100
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Eimer, interessant war für mich Ihre Feststellung, daß, wenn Herr Kinkel und Frau Leutheusser-Schnarrenberger etwas abgeben, es dann besser wird. Nicht klar ist mir jedoch, wie das, wenn Sie keinen langen Bericht wollen, aber, wie Herr Schmidt ausgeführt hat, alle Problemstellungen umfassend angesprochen sein sollen, funktionieren soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die mit dem vorliegenden Antrag verbundene Aufforderung an die Bundesregierung, alle zwei Jahre einen gesonderten Kinderbericht neben dem Familienbericht vorzulegen, leistet Bestrebungen Vorschub, die Institutionen Ehe und Familie in Frage zu stellen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Quatsch!)

Wenn anstelle einer Gesamtbetrachtung der Familie Themen wie Kinder und Familie, Kinder und Familienumfeld, Fragen des Sorgerechts in einem eigenständigen Bericht behandelt werden, dann werden einzelne Familienmitglieder aus dem Familienverbund herausgelöst und Auflösungstendenzen der Familie begünstigt.
Daß die Sozialdemokraten Kinder als Objekte elterlicher Fremdbestimmung sehen, Rechte der Kinder in Kampfrechte gegen Eltern ummünzen, hat Tradition.

(Zuruf von der SPD: Eine Unverschämtheit!)

Ich erinnere an den zweiten SPD-Familienbericht. Dort heißt es u. a. — ich zitiere —:
Die Eltern verfügen praktisch über alle Mittel, die hinsichtlich der Bedürfnislage der Kinder wichtig sind, haben also die Machtinstrumente in der Hand, mit denen sie das Verhalten der Kinder steuern können. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob und in welchem Maße die Eltern dieses Machtmittel gegen die Kinder einsetzen.



Klaus Riegert
Zu den wichtigsten Antworten gehört der Hinweis, daß das elterliche Verhalten in dieser Hinsicht gesellschaftlich kaum kontrolliert werden kann. Die private Verfassung des Familienraumes hindert genaue Transparenz und schnelle Interventionen.
Der interfraktionelle Antrag formuliert dies in der Begründung vorsichtiger:
Notwendig ist, Kinder nicht langer primär als Objekte familiärer und staatlicher Politik zu betrachten, sondern als eigene heranwachsende Personen anzuerkennen. Dazu ist erforderlich, den Kindern nicht nur eigene Rechte und Rechtsansprüche einzuräumen, sondern diese auch durchzusetzen.
Daß F.D.P.-Kollegen diesen Antrag mittragen können, verwundert mich nicht, waren sie doch in der sozialliberalen Koalition für diesen zitierten zweiten Familienbericht mitverantwortlich.

(Lachen bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: Das paßt nicht in Ihr Weltbild! — Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.]: Dafür ist nicht das Parlament zuständig, sondern die Regierung!)

Daß allerdings Unionskollegen diesen Antrag unterstützen, ist um so erstaunlicher.
Im Mittelpunkt der Politik der Bundesregierung und der überwältigenden Mehrheit der CDU/CSU steht die ganze Familie, nicht einzelne Familienmitglieder, nicht einzelne Ansprüche. Wir wissen uns dabei im Einklang mit dem Grundgesetz,

(Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.]: Sie wollen uns diese Koalition vermiesen!)

das die Familie als soziales Beziehungsgeflecht zwischen verheirateten Eltern und ihren minderjährigen Kindern und als gesellschaftliche Institution in Art. 6 unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht, siehe Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Richtig!)

Der Vorrang der Eltern, ihre Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit bei der Pflege und der Erziehung der Kinder wird garantiert.
Kinder sind ein konstitutiver Bestandteil der Familie. Die Familie ist trotz ihrer Bedrohung von innen und außen unersetzlich; ja, durch die vielfältige Gefährdung wird ihr Wert um so deutlicher erkennbar und um so nachhaltiger unterstrichen.
Die Familie bildet die seelischen und charakterlichen Qualitäten, die keine Institution der Gesellschaft, auch nicht Schule und Kirche, bewirken können, bei ihren Mitgliedern aus. Die Familie ist für das Kind das erste Vorbild und Prägemuster für gesellschaftliche Beziehungen, Autorität und Solidarität, Austausch und Teilen, Konflikte und Versöhnung.
Die Lebenswelt der Kinder und der Verlauf der Kindheit werden ganz wesentlich durch die Lebenswelt der Familie geprägt. Deshalb kann Kindheit auch nur im familiären Zusammenhang hinreichend gedeutet, interpretiert und beschrieben werden. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise wird den Interessen der Familie in ihrer Gesamtheit gerecht.
Die Wechselbeziehung zwischen Kindheit und Familie ist keine Einbahnstraße. Eltern beeinflussen das Leben der Kinder; aber auch Kinder verändern — die meisten von Ihnen hier sind selbst Mütter oder Väter — Lebens- und Verhaltensweisen von Eltern. Unser Festhalten an der Familie ist kein konservativer ideologischer Schwulst. Als Vater zweier Kinder weiß ich, wovon ich rede.

(Lachen bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: Ganz sicher?)

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die hohe Wertschätzung der Familie bei der Bevölkerung. Durchschnittlich 83 % der 18- bis 55jährigen in den alten Bundesländern und 89 % in den neuen Bundesländern stimmen der Aussage überwiegend zu: Ehe bedeutet Sicherheit und Geborgenheit. 94 % der Frauen und Männer in diesem Alter in den alten Bundesländern und 99 % in den neuen Bundesländern stimmen der Aussage überwiegend zu: Kinder machen das Leben intensiver und erfüllter. Allen Unkenrufen zum Trotz: Die Familie hat Zukunft!

(Beifall bei der CDU/CSU — Ina Albowitz [F.D.P.]: Dafür bin auch ich! — Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur wissen das die Unken nicht!)

Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, die Situation der Kinder in einem gesonderten Kinderbericht neben dem Familienbericht abzuhandeln. Befund und Analyse sind nur im familiären Zusammenhang hinreichend aufzuarbeiten und somit im Familienbericht darzustellen.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Eine heile Familie hätten wir gern! Leider ist das nicht die Wirklichkeit!)

Darüber hinaus eröffnet der Jugendbericht zusätzlich die Möglichkeit, die Lage von Kindern in Familie und Gesellschaft zu erfassen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214925200
Herr Kollege Riegert, lassen Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Weyel zu? Es wird Ihnen nicht auf die Redezeit angerechnet.

Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1214925300
Bitte schön.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1214925400
Es irritiert mich etwas, daß Sie am Anfang Ihrer Rede betont haben, daß Kinder eigenständige Personen sind, während Sie sie jetzt im zweiten Teil sozusagen als Teil der Familie werten. Besteht da nicht ein Widerspruch?

(Zuruf von der CDU/CSU: Man kann auch innerhalb der Familie eigenständig sein!)


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1214925500
Wenn man meine Rede im gesamten Zusammenhang würdigt, ist das kein Widerspruch, sondern schlüssig. Das werden Sie bei meinen weiteren Ausführungen bemerken.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214925600
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eimer?




Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1214925700
Herr Eimer, bitte schön.

Norbert Eimer (FDP):
Rede ID: ID1214925800
Herr Kollege, ich glaube, wir reden von unterschiedlichen Vorstellungen. In der Begründung zu diesem Kinderbericht heißt es ausdrücklich, daß dieser in Verbindung mit dem Familienbericht steht, weil wir natürlich nicht die Einheit von Kindern und Familie zerstören wollen. Ich habe den Eindruck, daß einige hier im Hause den Antrag und die Begründung nicht gelesen haben.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1214925900
Ich habe den Antrag so verstanden, daß damit die Forderung nach einem eigenständigen Kinderbericht erhoben wird. Das wird von uns klar abgelehnt, Herr Eimer.
Ich fasse zusammen: Forderungen, die Situation von Kindern, Familie und Gesellschaft stärker, als bisher im Familien- und im Jugendbericht geschehen, zu berücksichtigen, sind berechtigt. Ich teile sie. Aber die isolierte Betrachtung einzelner Mitglieder eines Familienverbandes begünstigt Auflösungstendenzen in der Familie. Sie widerspricht unserer ganzheitlichen Betrachtungsweise der Familie.
Sowohl im Familienbericht als auch im Jugendbericht der Bundesregierung sollte deshalb ein eigenständiger Abschnitt die Situation der Kinder aufarbeiten. Die Forderung nach einem gesonderten Kinderbericht der Bundesregierung neben dem Familienbericht wird daher von meiner Fraktion abgelehnt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Ina Albowitz [F.D.P.]: Sie haben den Bericht auch nicht gelesen, Herr Kollege!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214926000
Nun hat die Kollegin Margot von Renesse das Wort.

Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1214926100
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich bin versucht, meine Rede mit den Worten zu beginnen: Mein Gott, Herr Kollege, für wen predigen Sie eigentlich?

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Glauben Sie denn immer noch an das furchtbare Bild des Sozialdemokraten, der mit Vampirzähnen auf die Familien und die Kinder losgeht, um sie zu fressen und aufzulösen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Manchmal hat man den Eindruck, als wäre es so! — Ina Albowitz [F.D.P.]: So schrecklich seit ihr auch nicht!)

Ich denke, allmählich sollte sich auch bei Ihnen herumgesprochen haben — zumal seit der Zeit, seit Ihre Regierung Familienberichte verfassen läßt —, daß diese Familienberichte — und damit auch der dritte Familienbericht — von Wissenschaftlern und von keinem einzigen Mitglied der Regierung verfaßt werden. Deshalb ist es nicht angebracht, mit Zitaten aus Familienberichten die jeweilige Regierung selbst anzugreifen.
Soviel zum Formalen. Im übrigen komme ich auf das Thema der Verbindung von Kindern und Familie zurück. Nur eine kleine Zwischenbemerkung, Herr
Riegert: Ich habe doppelt so viele Kinder wie Sie; deswegen weiß ich doppelt so gut wie Sie, wovon ich rede.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU — Ina Albowitz [F.D.P.]: Er lernt es noch!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214926200
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riegert?

Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1214926300
Gern.

Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1214926400
Frau von Renesse, sind Sie mit mir der Meinung, daß der Kollege Schmidt vorhin genau den Familienbericht der Bundesregierung zum Anlaß genommen hat, die Bundesregierung anzugreifen? Insofern verstehe ich Ihre Äußerung dazu nicht.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, ich habe den Bericht zur UNO-Konvention gemeint!)


Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1214926500
Entschuldigen Sie, ich glaube, wir reden von zwei verschiedenen Dingen. Sie sprachen vom dritten Familienbericht und zitierten ihn auszugsweise. Diese Familienberichte werden — das gilt zukünftig vielleicht auch für einen Kinderbericht — im Auftrag der Regierung von Wissenschaftlern erstellt. Das, was wir hier vorliegen haben, ist eine Stellungnahme der Regierung zu ihren Maßnahmen. Deshalb steht dies unter der Verantwortung der Regierung selbst. Das muß man einfach wissen.

(Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Er ist lernfähig und lernwillig! — Ina Albowitz [F.D.P.]: Er ist noch jung!)

Meine Damen und Herren, es ist richtig, was die Bundesregierung ausgeführt hat: Die UNO-Kinderkonvention ist in dieser Form — schon gar nicht mit den Vorbehalten — kein unmittelbar anwendbares Recht. Sie ist ein Impuls, eine Aufforderung zum Handeln.
Ich möchte, wie Herr Schmidt angekündigt hat, auf einige Punkte zu sprechen kommen. Da ist zunächst die Erklärung der Bundesjustizministerin zu einem neuen Kindschaftsrecht. Der Auftrag des Bundestages geht genau in diese Richtung. Ich möchte an dieser Stelle eine Warnung aussprechen: bitte nicht einzelne kärgliche Novellen, auch nicht die Angleichung des innerdeutschen Rechts als pure Novelle in sich. Das wäre angesichts der Tatsache, daß das Kindschaftsrecht veraltet ist, gerade so, als wollte man in ein total vermorschtes Haus eine neue Wand einziehen. Dann wird alles schief und krumm, denn alles gehört zusammen.
Wir wissen — nicht zuletzt aus den Briefen, die uns erreichen, aber auch aus vielerlei privater Tätigkeit —, wie das gegenwärtige Kindschaftsrecht mit der vermehrten Berührung von Menschen mit ihm — z. B. durch Trennung und Scheidung — brennende Bitterkeiten auslöst, nämlich oft den Verlust an Lebenssinn, bei Kindern den Verlust an Liebesfähigkeit und an Selbstwertgefühl.



Margot von Renesse
Das alles haben wir grundlegend anzugehen, wie der Bundestag es gefordert hat. Dies erwarten wir. Unsere Vorstellungen zu einem neuen Kindschaftsrecht haben wir inzwischen eingebracht. Ich hoffe, daß der Bundestag diese Gelegenheit nutzt, seine Vorstellungen im einzelnen zu markieren, daß er also nicht nur auf das wartet, was das Justizministerum mit einer noch so Achtung gebietenden Kommission dazu vorschlagen wird.
Zum Wohl des Kindes gehört nach der Kinderrechtskonvention, Herr Riegert, auch sein soziales und wirtschaftliches Schicksal in seiner Familie. Deswegen halte ich es für richtig, daß die Regierung im Abschnitt 32 vorträgt, was sie im Bereich des Familienlastenausgleichs getan hat. Meine Damen und Herren, ich kann einfach nicht umhin, diese Darlegungen der Bundesregierung zur Ausdehnung des Familienlastenausgleichs, die man immer wieder liest, mit dem ungeheuren Selbstlob, das darin steckt, auf das Verhalten unterhaltspflichtiger und unterhaltsflüchtiger Väter zurückzubeziehen, die immer nur gerade den Betrag zahlen, zu dem sie vollstreckbar verurteilt worden sind. Genau das ist der Fakt.
Das Bundesverfassungsgericht, mit dessen Hilfe, wie Sie sagten, Herr Eimer, manches auf den Weg gebracht wurde, hat ja nicht so sehr geholfen, sondern hat auf die Finger geklopft. Es hat schlichte Verfassungswidrigkeiten festgestellt, auf die zu reagieren die Bundesregierung gezwungen war. Wir wissen aus den Darlegungen des Bundesfinanzministeriums zum Existenzminimum, daß heruntergerechnet wurde, was nur irgend ging. Mich erinnert das fatal an die Unterhaltsprozesse.
Von einer Familienförderung, Herr Riegert, von einer Förderung dieses Systems, das für die wirtschaftliche Gegenwart und Zukunft von Kindern wichtig ist, kann man da nichts spüren, schon gar kein Engagement, sondern die Devise lautet: sparen, sparen, sparen, möglichst auf Kosten der Familien. Beispiele dafür gibt es in letzter Zeit leider immer mehr. Gott sei Dank, so hoffe ich, ist vom Tisch, daß man bei diesen Leistungen, die verfassungsfest sind, so klein sie sind, auch noch Einschränkungen wollte. Ungeheuerlich, so ein Vorgang, und ein Aufschrei hätte von der Familienministerin kommen müssen!

(Beifall bei der SPD)

Nein, Sie sorgt für die Familien wie eine Mutter, vor allem für die Kinderreichen, Frau Männle, für die kinderreichen Familien, unter Mißbrauch des Wortes „Mißbrauch".
Mit dem Abstandsgebot wird hantiert, daß die kinderreichen Familien geradezu der Ruin des Staates sind; denn ihnen in erster Linie abzuziehen, was sie an Sozialhilfemöglichkeiten hätten, das war Anliegen dieser Regierung. Ich hoffe, das ist vom Tisch. Wir werden sonst darüber zu reden haben. Ich hoffe, wir haben alle Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker der CDU und der CSU auf unserer Seite, wenn es darum geht, dies abzuwehren, was im übrigen auch dem Art. 6 widerspricht — eine Vorschrift, die Sie zitiert haben.

(Beifall bei der SPD)

Die Kärglichkeit des Familienlastenausgleichs führt zwangsläufig dazu, daß in großen Verbrauchsgemeinschaften bei kleinen Einkommen das Einkommen der Familie unter das Sozialhilfeniveau sinken muß. Wenn man als Familienrichter die Mängelfälle betrachtet, mit denen die Straßen gepflastert sind, dann sieht man: Es handelt sich fast ausschließlich um die Fälle von Trennung und Scheidung, in denen Kinder zu versorgen sind. So erklärt sich auch das eigentümliche Paradoxon, das nie genannt wird, das ich aber einmal nennen möchte: Die Bundesregierung vermerkt es als eine Großtat, daß die Unterhaltsleistungen für Kinder — Regelunterhaltsverordnung usw. — heraufgesetzt worden sind. Wenn man es kennt, wie das Spiel läuft, weiß man, daß auch die Selbstbehalte automatisch in den Tabellen hochgesetzt werden. Das Ergebnis ist sehr häufig, daß bei heraufgesetzten Unterhaltswerten der tatsächlich gezahlte Unterhalt sinkt.
Woran liegt das? Das liegt an den zu knappen Familientransfers. Die kindbezogenen Leistungen an die Familie, Herr Riegert, sind nicht das Papier wert, auf dem sie formuliert sind. Sie sind so gering, daß von einem horizontalen Familienlastenausgleich zwischen denen, die keine Kinder haben, und denen, die Kinder haben, praktisch nicht die Rede sein kann. Ich weiß sehr gut, wovon ich rede. Die Unterhaltszahlungen meines Mannes und auch meine an unsere Kinder sind steuerlich und überhaupt im Leistungsbereich wenig wert. Aber jetzt baue ich ein Haus, und das wird gut, denn der Düwel schiet immer, wie man weiß, auf den größten Haufen.
Aber Kinder zu haben, Herr Werner, und zwar zahlreiche, das ist für Vater Staat keine große Leistung. Die fördert er kaum.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist nicht wahr! Das wissen Sie auch!)

Ich denke, daß hier eine Menge geschehen muß, damit wir wirklich überhaupt erst einen gerechten Familienlastenausgleich entwickeln. Das, was bisher existiert, ist ein Bettel. Da werden wir zeigen müssen, ob uns die Familie etwas wert ist und was sie uns wert ist — außer schönen Reden.
Herr Weiß hat schon auf den Artikel hingewiesen, in dem auch die Medienpolitik eine Rolle spielt. Es liegt mir sehr daran, darauf zurückzukommen. Es hat in letzter Zeit eine Diskussion begonnen, die sich sehr um die Zunahme von Gewaltdarstellungen im Fernsehen dreht und mit Recht daran Anstoß nimmt. Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, sind Sie da nicht in der Rolle von Zauberlehrlingen, die die Geister, die sie riefen, nun bekämpfen wollen?

(Beifall bei der SPD)

Längst haben die großen Medienzaren das große Geld mit den voyeuristischen Bedürfnissen von Menschen gemacht, von Menschen, die es gibt, trotz aller Erklärungen nach außen. Keiner will das für sich wahrhaben. Das große Geld, das dort gemacht wird, hat längst die Macht ergriffen, und wir versuchen, mit Richtlinien hinterherzukommen. Der WDR und die ARD haben vierfache Filter, um dieses Maß an Gewalt



Margot von Renesse
einzudämmen. Wenn wir jetzt im Rechtsausschuß darüber sprechen, meinen wird dies.

(Zuruf der Abg. Ina Albowitz [F.D.P.])

Ich möchte sie im Augenblick nicht nennen, weil ich nicht auch noch Reklame dafür machen will. Was wir im Rechtsausschuß im diesem Zusammenhang besonders vorhatten, war nicht die ARD, sondern das waren ganz andere Sendungen. Ich möchte sie bewußt hier nicht beim Namen nennen. Sehen Sie sich die Protokolle an, dann werden Sie feststellen, wovon die Rede ist.
Daß sich diese Schraube nach unten dreht und daß die Einschaltquoten die Dienstleistung, das Wirtschaftsgut „elektronisches Medium", inzwischen beherrschen, ist von Ihnen nicht nur herbeigeführt worden, sondern noch zusätzlich dadurch gefördert worden, daß seit 1984 das Grünbuch, das auf Initiative der CDU entstanden ist, die Möglichkeit ausgedehnt hat, daß die EG, die ausschließlich für den Güter-, Dienstleistungs- und Warenverkehr zuständig ist, nun auch dort Kompetenzen erwirbt. Ich sage Ihnen voraus: Wenn es um die Möglichkeit geht, Geld zu machen, wird man mit allen Möglichkeiten von Strafrecht, von Richtlinien nur fahrenden Zügen hinterherlaufen. Und diese Entwicklung haben Sie eingeleitet, und das bleibt Ihr Verschulden gegenüber Kindern.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich möchte noch einmal auf die Richtlinien zurückkommen, die in der UNO-Konvention über die Ausländer genannt sind. Weil es so schön formuliert ist, möchte ich mit Erlaubnis der Präsidentin den Art. 2 vorlesen:
Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem in ihrer Hoheitsgewalt stehendem Kind ohne jede Diskriminierung, unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder Weltanschauung, der nationalen Herkunft oder sozialen Herkunft, des Vermögens usw.
Ich denke, Sie sollten sich an diese Vorschrift gerade, wenn wir demnächst im Ausschuß über das Asylbewerberleistungsgesetz zu sprechen haben, erinnern.
Meine Damen und Herren, in der Tat: Kinder brauchen Eltern, und Eltern und Kinder brauchen eine elterlich gesonnene Gesellschaft. Von der sind wir noch sehr weit entfernt.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214926600
Nun hat die Kollegin Susanne Rahard-Vahldieck das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1214926700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich die Redebeiträge der Kollegin von Renesse oder des Kollegen Weiß anhört, muß man den Eindruck haben, wir lebten in einem absolut kinder- und familienfeindlichen Land.

(Zuruf von der SPD: Genauso ist es!)

Dieses Land könnte um einiges kinderfreundlicher sein, das bestreitet keiner von uns. Wenn ich mich aber erinnere, was in früheren Zeiten, in der Zeit bis 1982, an Kinderfreundlichkeit, an kinderfreundlicher Politik von der Partei und der Fraktion geleistet worden ist, in deren Namen Sie jetzt diese Bundesregierung geißeln, dann muß ich sagen: Damals war nischt! Heute könnte zwar vielleicht mehr sein, aber wir sind auf dem richtigen Weg. Damals war nischt!
Das Sparen auf Kosten der Familie, das Sie, Frau von Renesse angesprochen haben — Sie wissen doch, Geld ist knapp. Abstandsgebot ist sicherlich auch Ihnen ein Begriff. Daß es nicht gut sein kann, daß Familien, in denen gearbeitet wird, weniger nach Hause bringen als Familien, in denen nur Sozialhilfe bezogen wird, darüber müssen wir uns auch im klaren sein. Wir müssen zu neuen Regelungen kommen. Wir brauchen auch neue Regelungen im Familienlastenausgleich. Wir sind doch auf dem Wege. Tun Sie doch nicht so, als täten wir in dem Bereich nichts! Zu Ihrer Zeit war es auch nicht besser.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214926800
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU):
Rede ID: ID1214926900
Wenn es nicht angerechnet wird, bitte.

Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1214927000
Frau Kollegin RahardtVahldieck, glauben Sie, daß es immer noch möglich ist, nach einer so langen Zeit, in der Sie an der Regierung sind, und nach etlichen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts den Vergleich mit einer Regierung zu ziehen, die 1982 aus der Regierungsverantwortung ausgeschieden ist, und nachdem Sie nach der Regierungsübernahme durch Ihre Koalition, die jetzt regiert, als erstes von den damals so geringen Familienleistungen ungefähr 10 Milliarden gestrichen haben?

(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)


Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU):
Rede ID: ID1214927100
Liebe Frau von Renesse, das stimmt ja so nun nicht. Im übrigen muß ich sagen: Die Situation der Familie war damals, vorsichtig formuliert, nicht besser als heute.
Wenn es die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind, die offenbar nötig sind, um uns auf den richtigen Weg zu bringen: Wir folgen ihnen wenigstens. Daß es sie damals noch nicht gab, ist doch kein Verdienst Ihrer Politik. Mir ist nicht klar, was Sie damit ausdrücken wollen.
Auch dem Kollegen Weiß, der zu Kinder- und Familienfreundlichkeit in der Gesellschaft gesprochen hat, gebe ich da völlig recht: Wir müssen noch viel tun. Wenn Sie aber sagen, diese Regierung habe Energie für Autobahnen — darüber wollen wir nicht reden — oder für AWACS-Abenteuer, dann sage ich: Wenn wir uns in Sachen AWACS Gedanken machen, dann liegt es nicht daran, daß wir Abenteuer suchen, sondern daran, daß wir die Situation gerade der Kinder in Bosnien und Herzegowina vor Augen haben. Dieses Engagement und unsere Versuche, dem gerecht zu werden, als Abenteuer zu kennzeich-



Susanne Rahardt-Vahldieck
nen, ist gerade in der Debatte zur Frage Kinder nicht der richtige Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214927200
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1214927300
Danke schön.
Frau Kollegin, da Sie über die Fragen des Familienlastenausgleichs und letztendlich die Leistungen des Staates gesprochen haben, würde ich gern Ihre Meinung zu zwei Äußerungen aus der Anhörung für Familie und Senioren hören. Es handelt sich zum einen um die Äußerung von Herrn Professor Lampert, daß es im ökonomischen Bereich Schätzungen gibt, die den ökonomischen Wert der Versorgung und Erziehung von drei Kindern in der Familie auf 1,5 Millionen DM beziffern. Davon werden durch staatliche Leistungen nach geltendem Recht nicht mehr als 15 % abgedeckt. Die Vielzahl der Leistungen, etwa 200, ist für den Normalverbraucher unübersichtlich und wird deshalb häufig aus Unkenntnis nicht genutzt. Das möchte ich gern zu Ihrer Einordnung bemerken, wieviel der Staat für die Unterstützung von Kindern und Familien tut.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: In erster Linie ist die Familie für die Kinder da und nicht der Staat!)

Dann würde ich gern noch — —

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214927400
Frau Kollegin Höll, ich glaube, das wird im Ausschuß noch einmal beraten. Das ist allen bekannt? — Wunderbar. Dann bitte ich Sie, mit Ihrer Antwort fortzufahren.

Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU):
Rede ID: ID1214927500
Ich glaube, Frau Kollegin Hö11, ich hatte deutlich gemacht, daß wir alle der Auffassung sind — ich glaube, das ist wirklich fraktionsübergreifend —, daß noch mehr für Kinder und Familien getan werden muß. Wogegen ich mich wehre, ist die Behauptung, die jetzt aus Kreisen der Opposition kommt, wir hätten seit Jahren nicht genug getan und ritten die Familien in den Ruin. Wir werden selbstverständlich in den Ausschüssen über alle diese Forderungen reden. Das ist sehr wichtig und richtig. Aber die Vorwürfe, die von Ihnen erhoben werden, halte ich für völlig unangemessen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt gehen wir weiter: Der Kollege Schmidt hat die Frage Verfassung angesprochen. Das ist ein interessantes Thema. Nur, glauben Sie denn im Ernst, daß die Aufnahme der Passage über Kinder in die Verfassung aktuell etwas für Kinder in diesem Moment bringt? Das ist doch eine völlige Verlagerung des Themas. Wir müssen für Kinder gesetzlich mehr tun, auch für die Familien. Das wissen wir. Wir bemühen uns redlichst, soweit das in der jetzigen finanzpolitischen Situation irgendwie geht, das zu machen. Aber jetzt zu behaupten, wir nehmen die Kinder in die Verfassung, und dann wird alles besser, das ist doch eine völlige Schieflage, das ist doch der Versuch einer vereinfachten Schuldzuweisung, den ich nicht zu akzeptieren bereit bin.
Jetzt das Thema Medien und Gewalt: Sie wissen genauso gut wie ich, wenn Sie ein bißchen die Presse verfolgt haben, daß nicht nur unsere Ministerin in diesem Bereich, sondern auch der Rechtsausschuß und wer auch immer, gerade auch Mitglieder unserer Fraktion, sich sehr intensiv mit diesen Fragen befaßt haben.

(Zuruf von der SPD: Neuerdings!)

— Was heißt denn „neuerdings"? Dieses Thema ist weiß Gott kein absolut neues.
Ich sage dazu: Wenn Sie das alles wegen des Privatfernsehens auf uns schieben, so sollten Sie sich einmal die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten angucken, was da auch an Gewalt oder kinderverderbenden Sachen angeboten wird. Das auf die Privatsender zu schieben ist doch einfach unredlich. Da müssen wir zu einer allgemeinen Regelung kommen, die wir in Anbetracht der Presse- und Informationsfreiheit, die wir haben, nicht absolut übers Knie brechen können. Das wissen Sie auch genauso gut wie ich.

(Zurufe von der SPD)

Was die Frage Kinderbericht angeht: Ich teile nicht völlig die Auffassung des Kollegen Riegert, daß die gesonderte Aufnahme von Kindern die Familie zerstöre. Ich glaube, das ist auch etwas mißverstanden worden. Ich meine aber — und da gebe ich dem Kollegen Schmidt recht, und das ist auch der Hintergrund der Verfassungsdiskussion —, daß die Kinder verstärkt als eigenständige Wesen in der Politik auftauchen sollten, nicht nur als Erziehungsobjekte, sondern als Subjekte. Dafür brauchen wir aber nicht unbedingt einen eigenen Kinderbericht. Man kann im Zusammenhang mit dem Familienbericht einen Kinderbericht machen, man kann einen Jugend- und Kinderbericht machen. Völlig klar ist aber eines: Wir müssen davon wegkommen, daß Kinder nur als Erziehungsobjekte und untergeordnete Teile der Familie angesehen werden. Es sind selbständige Persönlichkeiten. Das muß auch nach außen stärker als bisher zum Ausdruck kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will für den Fall, daß meine Zeit noch langt — wahrscheinlich tut sie es nicht —, kurz in mein Manuskript schauen: Wichtig wäre die Reform des Kindschaftsrechts. Ich wäre der Bundesregierung dankbar, wenn es noch etwas zügiger als bisher vorbereitet werden könnte.
Die Regelung der grenzüberschreitenden Adoption ist wichtig, gerade jetzt für die Bürgerkriegsfälle, die wir haben.
Zur Kinderpornographie bin ich der Meinung, daß auch die Bundesregierung sich noch etwas bewegen könnte, was den Strafrahmen angeht.
Zum Kindersextourismus meine ich, daß die Veränderung des § 5 Ziff. 8, d. h. der Schutz ausländischer Kinder, nicht auf das Jugendschutzrecht verschoben werden sollte, dessen Vereinheitlichung noch länger



Susanne Rahardt-Vahldieck
dauern kann, sondern ich meine schon, daß dies im Zusammenhang mit Kinderpornographie und Verjährung von sexuellen Mißbrauchsstraftaten geregelt werden könnte. So schwierig ist das nicht, daß es nicht damit im Zusammenhang ginge.
Darüber hinaus halte ich es für sehr gut, daß die Teile, die insbesondere Mädchen betreffen, weiter verstärkt worden sind. Das gilt insbesondere für den Bereich des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft.
Wenn man sich das hier anguckt, so meine ich, daß in den letzten Jahren unheimlich viel angeleiert worden ist. Unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß es noch stärker und zügiger durchgeführt wird. Aber auch in diesem Falle sage ich, daß die Bundesregierung auf dem richtigen Wege ist. Das Parlament muß sie unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube, wir erweisen den Kindern überhaupt keinen Dienst, wenn wir im Zusammenhang mit Kinderunterrichtung, Kinderbericht mit so allgemeinen Themen anfangen wie mit dem Privatfernsehen und dann mit irgendwelchen allgemeinen Sprüchen über die allgemeine Weltlage aufhören, sondern da sollten wir uns wirklich auf die Kinder konzentrieren. Die Bundesregierung macht es richtig, wir unterstützen sie, und dann haben wir für die Kinder etwas getan.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214927600
Zuerst hat zu einer Kurzinformation der Kollege Eimer das Wort.

Norbert Eimer (FDP):
Rede ID: ID1214927700
Frau Präsidentin! Ich habe mich deswegen dazu gemeldet, weil ich etwas klarstellen will, was Frau von Renesse gesagt hat. Eine der ersten Maßnahmen dieser Bundesregierung war eine Steuerreform, und die erste Stufe hat den Familien nicht etwa 10 Milliarden DM weggenommen, sondern 10 Milliarden DM mehr für die Familien gegeben. Ich weiß das deswegen so genau, weil ich zu diesem Thema gesprochen und als einziger dieser Koalition nicht zugestimmt habe, und zwar deswegen, weil mir das zu kompliziert geregelt, zu bürokratisch war. Aber Tatsache ist, daß diese Regierung 10 Milliarden DM mehr ausgegeben und nicht gestrichen hat.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214927800
Zur Erwiderung in Form einer Kurzintervention hat die Kollegin Margot von Renesse das Wort.

Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1214927900
Lieber Herr Kollege Eimer, ich beziehe mich auf eine sehr präzise Ausrechnung der Deutschen Liga für das Kind, die Mitte der 80er Jahre für den jetzt in Frage kommenden Zeitraum erstellt wurde. Sie hat alles zusammengerechnet, was familienbezogene Leistung war, auch wenn sie nicht aus dem Familienressort kam und auch nicht ausschließlich Steuerrecht umfaßte, so BAföG und etliche andere Leistungen, die nicht über das Familienressort kamen, die aber Familien kumulativ trafen. Da kam es zu einer Berechnung, die sogar 10 Milliarden DM übertraf. Nach allem, was ich damals selber und in meinem Umfeld erlebt habe — Sie wissen, ich war damals noch als Familienrichterin tätig —, war sofort spürbar, wie die Mangelfälle in den Familien enorm zunahmen. Das hat ausgesprochene Not in die Familien gebracht.

(Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.]: Sie verwechseln zwei Sachen!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214928000
Noch eine Kurzinformation gibt es nicht. Nun hat Herr Staatssekretär Funke das Wort.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1214928100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst Ihnen, Frau Geiger, herzlichen Dank für Ihre Rede und insbesondere dafür, daß Sie darauf hingewiesen haben, daß Kinder der schwächste Teil unserer Bevölkerung sind und daß wir alles tun müssen, um diesem schwächsten Teil der Bevölkerung zu helfen.
Ich habe mich natürlich auch über Ihr Lob für die Regierung gefreut. Ihre Bemerkung, daß der Bericht zwischen den Gremien etwas chaotisch abgestimmt sei, entspricht natürlich nicht den Tatsachen. Das weise ich mit großer Entschiedenheit zurück.

(Zurufe von der SPD — Gudrun Weyel [SPD]: Meinen Sie nicht, daß das auch für alte Menschen zutrifft?)

— Das ist völlig richtig, Frau Weyel, das wollte ich damit auch nicht bestreiten.
Ich weiß, daß insbesondere bei den älteren Teilen der Bevölkerung — auch in der Bundesrepublik, in einem der reichsten Länder der Welt — sehr viel Not herrscht, daß will ich nicht bestreiten. Aber die Kinder können sich noch gar nicht wehren, häufig können sich wenigstens die älteren Menschen noch wehren.
Aber lassen Sie mich zu unserem Thema kommen. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes ist, daß kann man wirklich sagen, ein Meilenstein in der Entwicklung des internationalen Rechts. Erstmals ist es gelungen, die elementaren Rechte der Kinder in einem Abkommen zu kodifzieren, das anders als frühere Kinderdeklarationen völkerrechtlich bindendes Recht schafft. Außerdem beansprucht es universale Geltung, indem es allen Staaten zur Annahme offensteht. Insgesamt haben über 130 Staaten der Welt, darunter als einer der ersten natürlich auch die Bundesrepublik Deutschland, dieses Abkommen ratifiziert.
Der internationale Wettlauf um die Ratifizierung der Kinderkonvention zeigt deutlich die hohen Erwartungen, die alle Welt in dieses Abkommen setzt. Soweit sie dahin gehen, daß man annimmt, die Kinderkonvention ändere unmittelbar innerstaatliches Recht oder zwänge den Gesetzgeber direkt zu Korrekturen, ist ihnen entgegenzutreten; darüber haben wir anläßlich der Ratifizierung der Kinderkonvention gesprochen. Dessen bedarf es wenigstens in der Bundesrepublik Deutschland auch nicht. Ich meine,



Parl. Staatssekretär Rainer Funke
daß wir mit den Pflichten in der Kinderkonvention durchaus konform sind.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist die unzulässige Auslegung, die sich durch Ihren ganzen Bericht zieht!)

Sicher ist, daß die Kinderkonvention auch in der Bundesrepublik schon jetzt sehr bedeutsame Reformimpulse gesetzt hat, die sich auch in dem Bericht der Bundesregierung widerspiegeln. Sicher ist auch, daß die anstehenden Gesetzesänderungen sämtlich im Geist der Kinderkonvention vorgenommen werden, und Sie haben die Möglichkeit, hier im Plenum daran mitzuwirken.
Frau von Renesse hat zu Recht darauf hingewiesen, daß wir zu einer umfassenden Reform des Bürgerlichen Gesetzbuchs hinsichtlich des Kindschaftsrechts kommen müssen. Wir arbeiten — das kann ich versichern — wirklich intensiv an diesem Recht. Herr Eimer hat zu Recht darauf hingewiesen, daß zahlreiche Bestimmungen des BGB, aber auch Nebengesetze geändert werden müssen, und das kann nicht von heute auf morgen gehen. Es ist nicht nur eine schlichte Gesetzesarbeit, sondern hier spiegeln sich auch gesellschaftliche Veränderungen wider. Die Expertenarbeitsgruppe, die das Bundesjustizministerium eingesetzt hat, arbeitet wirklich intensiv an dem Kindschaftsrecht.
Wir wollen versuchen, das Kindschaftsrecht möglichst in seiner Gesamtheit hier ins Plenum zu bringen, und zwar so, daß wir noch am Ende der Legislaturperiode einen entsprechenden Vorschlag vorlegen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.])

Nein, wir wollen vier Teile aus diesem Kindschaftsrecht noch in dieser Legislaturperiode sogar vorwegnehmen. Zunächst einmal wollen wir die gesetzliche Amtspflegschaft, die derzeit in den alten Bundesländern— anders als in den neuen — bei der Geburt eines nichtehelichen Kindes automatisch eintritt, ändern, weil dies zur Folge hat, daß das Jugendamt und nicht die Mutter insbesondere für die Vaterschaftsfeststellung und die Geltendmachung von Unterhalt zuständig ist.

(Zustimmung des Abg. Herbert Werner [Ulm] [CDU/CSU])

Nach meinem Verständnis dürfte es hier genügen, den Müttern die Hilfe des Jugendamts lediglich anzubieten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die zweite noch für diese Legislaturperiode angestrebte Gesetzesänderung betrifft § 1631 Abs. 2 BGB, die „entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen". Auch das wollen wir noch in dieser Legislaturperiode verabschieden.
Das dritte Vorhaben betrifft den Kindesunterhalt. Im geltenden Unterhaltsrecht gibt es immer noch Unterschiede zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern, insbesondere in der Ausgestaltung einer Mindestunterhaltssicherung und der Anpassung der
Unterhaltsrenten an die Veränderung der Lebenshaltungskosten. Nach dem derzeitigen Stand der Überlegungen sollen künftig für alle Kinder gleiche Mindestbedarfssätze festgelegt werden, deren Höhe altersmäßig gestaffelt ist und die an eine indexierte Größe angeknüpft sind. Sie haben vielleicht gelesen, daß die Bundesbank inzwischen ihr Okay dazu gegeben hat. Die Bundesbank muß gefragt werden, weil nach dem Währungsgesetz Indexierungen sonst nicht zulässig sind.
Schließlich soll in dieser Legislaturperiode auch das Erbrecht für eheliche und nichteheliche Kinder vereinheitlicht werden. Vor allem sollen nichteheliche Kinder künftig in vollem Umfang erbberechtigt sein und nicht auf einen sogenannten Erbersatzanspruch verwiesen werden. Auch einen vorzeitigen Erbausgleich soll es dann nicht mehr geben.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214928200
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Frau von Renesse?

Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1214928300
Sie sagten „schließlich". Was ist mit Betreuungsunterhalt bei nichtehelichen Kindern, und was ist mit obligatorischen Sorgerechtsverfahren bei Scheidung?

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1214928400
Wir werden diese Fragen im gesamten Kindschaftsrecht mit regeln, Frau Kollegin von Renesse. Gerade bei diesen Fragen handelt es sich um sehr komplexe Bereiche. Wenn wir die vorab regeln würden, würden wir Vorentscheidungen für das gesamte Kindschaftsrecht treffen; das wollen wir vermeiden. Wir wollen aus dem Gesamtpaket nur das herauslösen, was wirklich in sich lösbar ist. Wenn Sie da Anregungen haben, sind wir gerne bereit —

(Margot von Renesse [SPD]: Also eine Teilung!)

— Nein. Ich sagte doch, Frau von Renesse, wir wollen das Kindschaftsrecht grundsätzlich in toto verabschieden, wir wollen aber vier besonders dringende Punkte herausnehmen, damit sie noch in dieser Legislaturperiode zum Wohle auch des Kindes entschieden werden können. Ich habe die Hoffnung, daß durch die Verabschiedung dieser Einzelvorhaben Bausteine für ein zeitgemäßes Kindschaftsrecht geschaffen werden können, das endgültig freilich erst durch die gleichzeitig intensiv betriebene Gesamtreform zu verwirklichen sein wird.
Ich möchte mich abschließend beim Kollegen Schmidt und bei Herrn Eimer für die Anregungen bedanken. Dies gilt auch für die Frage hinsichtlich der ausländischen Kinder. Wir werden diese Anregungen in einem nächsten Bericht oder auch in dem Ausschuß selbst oder auch in einem anderen Gespräch, wie Sie wollen, gern aufnehmen. Ich halte dies in der Tat für einen wichtigen Punkt. Ihre Anregungen hinsichtlich der Broschüre sind breits berücksichtigt. In der nächsten Auflage werden Sie sehen, daß die kritisierten Punkte beseitigt worden sind.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.




Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214928500
Nun hat das Wort zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung der Kollege Herbert Werner.

Herbert Werner (CDU):
Rede ID: ID1214928600
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem offenbar die Unterzeichnung des Antrags zum Kinderbericht dazu führte, daß für mich keine Redezeit mehr übrigblieb, habe ich diesen Weg gewählt, um hier doch einiges zu sagen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.])

Es ist, meine Damen und Herren, zweifelsohne nicht so, daß wir, die wir uns in der Kinderkommission, Frau Kollegin Geiger, nicht zum erstenmal mit Zwischenberichten befassen, sondern seit vielen Jahren mit der UNO-Konvention, aber auch mit allen Fragen des die Kinder betreffenden Rechts befassen, einen solchen Antrag wie den zur Schaffung eines eigenen Kinderberichts aus heiterem Himmel heraus unterzeichnet haben. Denn wer sieht, was wir hier aufgelistet haben, wird feststellen, daß dies alles etwa als Zwischenpassage oder als regelmäßiger Anhang zu den sonstigen Familienberichten, die jeweils individuelle Schwerpunkte haben, gar nicht auf diese Weise machbar ist.
Gerade in Anbetracht des Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands erscheint es mir und den Mitunterzeichnern besonders vordringlich, eben auf die schwächsten Glieder in der Gesellschaft hinzuweisen sowie darauf, wie sich deren Lebenswelt zu verändern, ich hoffe, aufeinander zuzubewegen und anzugleichen beginnt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies kann man aber nicht, indem man einfach einen Anhang da oder dort macht.

(Angelika Barbe [SPD]: Scheibchenweise!)

Im übrigen ist das, was hier in diesem Antrag drinsteht, nicht ohne Wissen der zuständigen Ressorts hineingekommen. Ich möchte das nur andeuten. Ich meine deswegen, daß wir uns noch einmal alle miteinander in den Beratungen überlegen sollten, ob es nicht doch praktisch wäre, diesen Weg zu gehen.
Ich möchte aber gleichzeitig auch folgendes sagen: Ich kann nicht akzeptieren, daß hier ein Gegensatz zwischen Elternrecht auf der einen Seite und Kindesrecht auf der anderen Seite aufgetan wird. Wer es ernst meint mit der Familie als Ganzem, wer das Kind auch als Trager originärer Rechte ansieht, der wird diesen Gegensatz nicht finden, meine Damen und Herren, sondern der wird tatsächlich alles daransetzen, daß auch die Bedeutung des Kindes, und zwar nicht nur als Rechtsobjekt, sondern gegebenenfalls auch durch die Erwähnung als Rechtsträger und Subjekt, Aufnahme in die Verfassung findet. Man dient der Familie am besten, indem man jedem ihrer Mitglieder gerecht wird!

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ich bin dafür, daß Frauenrechte erwähnt werden; aber dann möchte ich auch Kinderrechte zumindest in Andeutung mit aufgenommen wissen.
Noch ein Weiteres: In Anbetracht des Generationenkonflikts, der sich heute schon im sozialpolitischen Bereich vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung abzeichnet, gebe ich einfach einmal den Gedanken, der nicht von mir stammt, zu bedenken, ob wir im Rahmen der Verfassungsdiskussion nicht einmal über die stellvertretende Abgabe von Stimmen für Kinder bei Wahlen diskutieren sollten.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Denn wir haben den grotesken Zustand, daß in weiten Teilen jene über die zukünftigen Belastungen der Kinder mit entscheiden, die selber gar keine Kinder haben, aber von den Kindern der anderen, über deren Familienlastenausgleich sie in weiten Teilen die Entscheidung mit herbeiführen, eines Tages unterhalten und gepflegt werden müssen. Deswegen, meine Damen und Herren, habe ich es mir abgewöhnt, Familienpolitik in engen Fraktionsgrenzen zu betrachten.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich bin der Auffassung, daß wir in der Tat die Familie auch und gerade vor dem Hintergrund der UNOKonvention als ein Ganzes — wirklich als ein Ganzes — ernst nehmen sollten.
Noch ein Wort zu dieser UNO-Konvention. Hier, Herr Kollege Weiß, möchte ich doch auch sagen, daß manches an der Kritik, die Sie vorgetragen haben, berechtigt, aber das meiste nicht berechtigt war. Wenn Sie die Konvention genau durchlesen, werden Sie feststellen, daß zwar entscheidende Impulse für die Umsetzung ins innerstaatliche Recht gegeben werden, daß sich aber eine Vielzahl dieser Impulse bei uns bereits in den verschiedenen Rechtswerken wiederfinden. Es ist doch klargeworden — auch durch die Ausführungen des Vertreters des BMJ —, daß wir miteinander gemeinsam in eine Richtung gehen wollen, die wiederum hier vorgegeben ist: Wir wollen das Kind im Rechtsverfahren besserstellen und uneheliche und eheliche Kinder gleichbehandeln, denn zwischen ihnen gibt es aus ihrer Würde heraus keinen Unterschied.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Wir wollen in verschiedenen Bereichen des Rechts die ledigen Mütter mit den verheirateten gleichstellen. Wir müssen das Kindschaftsrecht und Sorgerecht neu gliedern. Dies alles ist enthalten, sogar in unserem Umweltrecht. In besonders stringentem Maße ist dort die Berücksichtigung der Kinder vorgesehen, Herr Weiß.
Damit möchte ich zum Schluß kommen und darauf hinweisen: Wir können über Rechtsveränderungen



Herbert Werner (Ulm)

hier reden, soviel wir wollen; wenn es uns aber nicht gelingt, draußen vor Ort durch das gute Beispiel das Bewußtsein zu verändern, meine Damen und Herren, so daß wir tatsächlich eine kinderfreundliche Gesellschaft werden, dann wird alles Reden hier in diesem Staat hohl und leer bleiben.
Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1214928700
Ich möchte betonen, daß dieses absolut und ganz und gar keine Erklärung zur Aussprache nach § 30 und dennoch eine notwendige Rede war.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Ina Albowitz [F.D.P.]: Sogar eine gute, Frau Präsidentin!)

— Ja, ich habe das angedeutet — mit der gebotenen Zurückhaltung, die ich als Präsidentin üben muß.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache 12/4168 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Der Antrag der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Gisela Babel, Angelika Barbe und weiterer Abgeordneter — weiblicher und männlicher natürlich — auf Drucksache 12/4388 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den Ausschuß für Familie und Senioren sowie an den Rechtsausschuß überwiesen werden.
Sind Sie mit all dem, was ich Ihnen hier vorgetragen habe, zu dieser späten Stunde einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 und den Zusatzpunkt 4 auf:
12. a) Erste Beratung des von der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
— Drucksache 12/4297 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, Ingrid Köppe, weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsrechts
— Drucksache 12/4348 — Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
ZP4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
— Drucksache 12/4611 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Nun könnte ich Redner aufrufen. Aber es ist der Wunsch geäußert worden, die Reden zu Protokoll zu geben. Sind Sie auch damit einverstanden?

(Zustimmung) — Ich bin begeistert.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/4611, 12/4297 und 12/4348 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu irgendwelche anderweitigen Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 26. März 1993, den Geburtstag meines jüngsten Sohnes, 9 Uhr ein und wünsche Ihnen eine gute Nacht.

(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) Die Sitzung ist geschlossen.