Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist nun eröffnet.
Um die Verspätung aufzuholen, beginne ich ganz unmittelbar und rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Überprüfungsverhandlungen des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut; Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung; Tankerunfall vor den Shetland-Inseln.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat die Staatsministerin beim Bundesminister des Auswärtigen, Frau Ursula Seiler-Albring. — Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Paraphierung des Änderungsabkommens zum Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut wollen wir die Verhandlungen mit den Verbündeten, die in Deutschland Truppen stationiert haben — das sind Belgien, Frankreich, Großbritannien, Kanada, die Niederlande und die Vereinigten Staaten —, nach 16 Monaten abschließen.Das Zusatzabkommen wurde als Ergänzung zum NATO-Truppenstatut 1959 abgeschlossen und trat 1963 in Kraft. Seitdem hat sich ein erheblicher Änderungsbedarf angesammelt.Wir hatten den westlichen Verbündeten im Gefolge der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im September 1990 angekündigt, daß wir von unserem Recht nach Art. 82 des Zusatzabkommens Gebrauch machen würden, seine Überprüfung zu beantragen. Sie haben das akzeptiert. Unmittelbar danach begannen die Vorarbeiten mit den zuständigen Ressorts und den westlichen Bundesländern, die ebenfalls über 30 Jahre praktische Erfahrungen mit dem Zusatzabkommen verfügen.Im September 1991 wurden die Verhandlungen mit den Entsendestaaten eröffnet. Sie umfaßten neben der Überprüfung des Zusatzabkommens eine Reihe von Durchführungsabkommen, z. B. über die Genehmigung von Manövern und Übungen, über die Benutzung von Truppenübungsplätzen und über Fragen der Telekommunikation, sowie Begleitnoten und dasÜbereinkommen zur Außerkraftsetzung des Soltau/ Lüneburg-Abkommens.An den Verhandlungen waren neben dem Auswärtigen Amt zwölf Bundesressorts beteiligt. Die westlichen Bundesländer entsandten Vertreter von BadenWürttemberg, Bayern, Niedersachsen und RheinlandPfalz in die deutsche Delegation.Ich möchte feststellen, daß wir bei der Überprüfung des Zusatzabkommens auf wesentlichen Gebieten große Fortschritte erzielt haben, z. B. die Zustimmungsbedürftigkeit aller Land- und Luftübungen der Entsendestaaten außerhalb ihrer Liegenschaften, die grundsätzliche Geltung des deutschen Rechts auch auf den Liegenschaften, die den verbündeten Streitkräften zur ausschließlichen Benutzung überlassen sind, die Beachtung des Verbots der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland durch die Entsendestaaten, die Einschränkung von Sonderregelungen auf den Gebieten des Zivil- und Strafprozeßrechts und des Verkehrswesens, die aktive Mitwirkung der Entsendestaaten beim Umweltschutz, Sicherung der Anwendung des deutschen Umweltrechts, Angleichung des Arbeitsrechtes und Arbeitsschutzes an die Regelungen, die für die Bundeswehr gelten — auf dem Gebiet der anzuwendenden Mitbestimmungstatbestände des Bundespersonalvertretungsgesetzes wurden große Fortschritte erreicht —, die Aufnahme einer eigenständigen Kündigungsklausel für das Zusatzabkommen, z. B. deshalb, weil bisher eine Beendigung nur durch die politisch weitreichende Kündigung des NATO-Truppenstatuts oder des Aufenthaltsvertrags möglich war.Die Durchführungsabkommen werden die Belastungen für die betroffene Bevölkerung auf Grund der strengeren Maßnahmen für Sicherheit und Umweltschutz sowie gegen Schieß- und Fluglärm erheblich mindern. Die Übungen im Raum Soltau/Lüneburg werden bis zum 31. Juli 1994 gänzlich eingestellt.Wir wollen rechtzeitig zum Abschluß kommen, meine Damen und Herren, und deshalb wollen wir in den nächsten Tagen das Verhandlungsergebnis durch Paraphierung festhalten.Direkt nach Beendigung der Sitzung des Bundeskabinetts sind die Unterlagen mit Anschreiben an die Vorsitzenden der betroffenen Ausschüsse gegangen.
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11238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Staatsmlnisterin Ursula Seiler-AlbringIch möchte darauf hinweisen, daß in den nächsten Tagen noch versucht werden wird, an den verschiedenen Ausarbeitungen Verbesserungen in unserem Sinne zu erreichen. Deshalb — wenn ich mir dies hier erlauben darf, Frau Präsidentin — möchte ich anregen, daß eine weiterführende Befassung mit diesem Thema, wenn es geht, vielleicht in der nächsten Woche in den Ausschüssen oder auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages vorgenommen wird, um die möglicherweise zu erreichenden Verbesserungen dann auch tatsächlich erzielen zu können.Vielen Dank.
Danke schön, Frau Staatsministerin Seiler-Albring. — Als erster Fragesteller Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Frau Staatsminister, Sie haben natürlich für die Bundesregierung sicherlich das eingehend erläutert, was durchaus aus unserer Sicht als positiv und als substantielle Verbesserung anerkannt werden muß. Dafür, was Sie erreicht haben, zunächst herzlichen Dank. Aber von den 32 Mitbestimmungstatbeständen, die Sie in den neuen Abkommen Gott sei Dank haben verankern können, damit das bisherige Besatzungsrecht abgelöst wird und gemeinsam zu einem Recht umgearbeitet wird, das zwischen gleichberechtigten Partnern üblich und richtig ist, sind fünf gravierende Mitbestimmungstatbestände gegenwärtig natürlich nicht erfüllt: Einstellung, Kündigung, Höhergruppierung, neue Arbeitsmethoden und insbesondere Sozialplan. Sozialplan wird von uns deswegen besonders herausgehoben, weil mit dem Abzug der Streitkräfte, den wir ja alle wollen, bestimmte Probleme in ganz bestimmten Regionen auf die betroffenen Arbeitnehmer zukommen. Wenn wir gegenwärtig auch anerkennen, daß sie dieses alles erreicht haben, halten wir es doch für notwendig, daß über diese Fragen, die noch offen sind, die Bundesregierung zum nächstmöglichen Zeitpunkt erneut mit unseren alliierten Partnern verhandelt.
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung oder Erwartung.
Wenn das keine Frage war, kann ich vielleicht auch eine Feststellung zu der Nichtfrage machen.
Sie hatten ja gebeten, möglichst nicht großartig Fragen zu stellen. Wenn Sie es wünschen, ich habe zehn Fragen.
Herr Kollege Klejdzinski, ich kann Ihnen versichern, daß wir dazu grundsätzlich der gleichen Auffassung sind. Wie Sie richtig sagen, haben wir von 32 Mitbestimmungstatbeständen 27 regeln können. Wir sind mit Ihnen der Ansicht, daß die verbleibenden fünf von großer Wichtigkeit sind, müssen aber leider feststellen, daß es bis jetzt nicht gelungen war, mit einem unserer Verhandlungspartner hier zu einem entsprechenden Ergebnis zu kommen.
Aber wir haben, weil wir dies für außerordentlich wichtig halten, für die Revision, die nach dem 31. Dezember 1994 stattfindet, dieses bereits als Verhandlungsziel in unseren Plan aufgenommen und werden versuchen, entsprechend dem, was Sie hier dargestellt haben, einen Erfolg zu erreichen und auch noch diese letzten fünf Mitbestimmungstatbestände in unserem Sinne befriedigend zu regeln.
Danke.
Gibt es weitere Fragen zu diesem Komplex? — Das sehe ich nicht.
Dann rufe ich den Teil „Entwicklungspolitik der Bundesregierung" auf. Gibt es dazu Fragestellungen oder wird ein Kurzbericht gewünscht? — Das ist auch nicht der Fall.
Dann rufe ich auf: „Tankerunfall vor den Shetland-Inseln". Gibt es dazu Fragen?
Ich wollte noch einmal nachfragen, ob auch das Thema Lotspflicht bei der Diskussion im Kabinett eine Rolle gespielt hat.
Herr Kollege, ja.
Einen Augenblick, meine Damen und Herren. Hier sind zwei Dinge durcheinandergegangen. Einmal ist der Tagesordnungspunkt „Entwicklungspolitik" akustisch nicht übergekommen. Dazu sind bei den Kollegen Fragen. Aber jetzt müßten wir im Augenblick bei dem bleiben, wo wir gerade sind. War der Frageteil von Herrn Koppelin beendet?
Die Frage ist mit einem klaren Ja beantwortet worden. Aber es ist natürlich, sage ich mal aus meiner Sicht, für die Bundesregierung ein bißchen peinlich, nur ja zu sagen.
Sie wollen noch dazu Stellung nehmen? — Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, am Freitag wird im Bundesministerium für Verkehr eine Sitzung mit den Lotsverbänden stattfinden.
Als nächster zu diesem Komplex? — Bitte schön, Herr von Geldern.
Zu dem Thema „bessere Prävention von möglichen künftigen Tankerunfällen" habe ich die Frage, ob sich das Kabinett damit auseinandergesetzt hat, daß es sinnvoll sein könnte, eine deutsche und dann im zweiten Schritt eine europäische Küstenwache einzurichten, eine gemeinsame Coast Guard, die in der Lage ist, administrativ zu verhindern, daß bestimmte Schiffe überhaupt in europäische Gewässer kommen und europäische Häfen anlaufen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11239
Herr Kollege von Geldern, der Bundesminister für Verkehr hat an den zuständigen EG-Kommissar einen Brief geschrieben, in dem er eine Sonderkonferenz zu diesen Themen anregt. Wir gehen davon aus, daß in Zukunft die Routen von Tankern ähnlich der Regelung vorgeschrieben werden, die es in der Nordsee vor der deutschen Küste bereits seit langem gibt und die sich bewährt hat. Wir gehen auch davon aus, daß es innerhalb der EG eine Regelung geben muß, wonach bestimmte Tanker in den europäischen Häfen Sonderkontrollen unterworfen werden, und zwar die Tanker, die — ich vereinfache jetzt — den Schiffs-TÜV bei Firmen abgenommen haben, die international nicht unbedingt als zuverlässig anerkannt sind.
Danke. — Dazu möchte noch der Minister des Bundeskanzleramtes Stellung nehmen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht sollte ich dazu ergänzend noch etwas vortragen, wir hätten sonst morgen Gelegenheit gehabt, das in der Aktuellen Stunde darzulegen.
Wir haben auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers eine Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesverkehrsministers eingesetzt. In dieser Arbeitsgruppe sind der Wirtschaftsminister, der Finanzminister, der Umweltminister und der Arbeitsminister mit vertreten. Alle Gesichtspunkte, die in der heutigen Kabinettsdebatte natürlich nur kurz angerissen werden konnten, sollen in dieser Arbeitsgruppe, die unverzüglich mit der Arbeit beginnen wird, dann besprochen und mit einem festen Zeitplan versehen werden. Dann wird sicherlich in den zuständigen Ausschüssen dazu auch ein umfassender Bericht vorgelegt werden.
Kollege Schütz.
Ich frage die Bundesregierung: Hat sie neben der Erwägung, Arbeitsgruppen einzurichten und Briefe zu schreiben, schon an irgendeiner Stelle konkrete Schritte unternommen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, Sie kennen ja die Ergebnisse der Internationalen SeeschiffahrtsOrganisation vom letzten Jahr, die zu einem großen Teil auf Initiativen der Bundesregierung zurückzuführen sind. Es geht dabei z. B. um die Doppelhülle, es geht z. B. um Haftungsfragen. Es geht auch um die Eingrenzung der Lebensdauer von Tankern. Wir sind allerdings der Ansicht, daß man diese Regeln allesamt noch verbessern kann, und wir werden weitere Vorschläge dazu vorlegen.
Ist das erledigt?
Das sind alles Erwägungen, die wir alle schon kennen. Ich hatte gefragt: Gibt es jetzt nach dem Tankerunglück einen konkreten Akt
der Bundesregierung, wo sie außer Erwägungen, die ja schon Historie haben, etwas konkret veranlaßt hat?
Ich habe vorhin gesagt, daß wir noch in dieser Woche mit Lotsen tagen. Morgen wird unter den Ressorts ein Fragenkatalog für die Themen ausgearbeitet, die über die Neuregelungen der IMO hinausgehen. Es wurde bereits die EG- Kommission aufgefordert, hier tätig zu werden.
Ich will aber darüber hinausgehend sagen, was wir uns rein materiell vorstellen: Wir sind der Ansicht, daß erstens die vorhandenen Tanker besser kontrolliert werden müssen und daß in den Häfen der EG Sonderkontrollen stattfinden müssen, daß zweitens die Tanker soweit wie möglich von der Küste ferngehalten werden müssen.
— Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie lachen darüber. Diese Regelung haben Sie in Ihrer Regierungszeit eingeführt. Ich muß dazu sogar sagen: Diese Regelung hat sich bewährt.
Es geht darum, daß die Tanker 50 km vor der Küste geführt werden und daß die Lotsannahme erst dort stattfinden kann. Auch wenn wir 50 km weit in die Nordsee hinein kein Hoheitsrecht haben, ist doch die praktische Regelung so, daß die Lotsen die Schiffe dazu zwingen, diese „Vorschrift" einzuhalten.
Wir sind der Ansicht, daß drittens das Hoheitsgebiet von derzeit 3 auf 12 Seemeilen erweitert und eine ausschließliche Wirtschaftszone von ungefähr 200 km eingerichtet werden sollte.
Wir halten es viertens für erforderlich, daß das Schiffsmanagement weiter verbessert wird. Dies wird im Rahmen der IMO geschehen. Wir haben dazu bereits konkrete Vorstellungen entwickelt.
Fünftens sind wir der Ansicht, daß eine international einheitliche Arbeitssprache entwickelt wird. Auch hier arbeitet die IMO auf Grund unserer Vorstellungen.
Herr Kollege Jens.
Herr Staatssekretär, wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß der zeitliche Rahmen verkürzt wird, bis in der Nordsee endlich nur noch Schiffe mit doppeltem Boden fahren dürfen? Wann werden nur noch solche doppelbödigen Schiffe nach Ihrer Schätzung in der Nordsee verkehren?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Jens, der doppelte Boden ist ausnahmsweise einmal in Ordnung. Wir sind der Ansicht, daß die Fristen, die von der IMO beschlossen wurden — das war ein erster Fortschritt —, noch immer viel zu lang sind. Wir kommen bei manchen Tankern über das Jahr 2000 hinaus. Dies ist sowohl für die Meeresumwelt wie für die Küstenanwohner untragbar. Wir werden uns deshalb bei der
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11240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Dieter SchulteIMO dafür einsetzen, daß die Fristen weiter verkürzt werden.Wir halten es aber auch für denkbar, daß es innerhalb der EG Sonderregelungen gibt. Wir sind der Ansicht, daß wir nationale Alleingänge nicht versuchen sollten. Ich glaube, daß, völkerrechtlich gesehen, im Blick auf die internationale Seeschiffahrt der EG- Weg der richtige Weg ist. Deswegen hat sich Bundesminister Professor Krause an den EG-Kommissar gewandt.
Bitte, Herr Gansel.
Meine Frage geht wahrscheinlich mehr in das Wirtschaftsressort. Ich weiß gar nicht, wer da antwortet. Ich will mit dem Problem der Doppelbödigkeit nicht mehr Herrn Möllemann und noch nicht Herrn Rexrodt befassen. Meine Frage zielt darauf ab, ob die Bundesregierung in Zukunft bereit ist, den Bau von Tankschiffen unter deutscher Flagge oder auf deutschen Werften mit Doppelboden oder mit Doppelhüllen besonders zu fördern. Sie wissen, es gibt solche Bauten. Es gibt Firmen, die hervorragende Schiffe, sichere Schiffe gebaut haben. Aber die Werften, die diese Schiffe produzieren, arbeiten unter erschwerten Konkurrenzbedingungen, weil diese teureren Schiffe kaum öffentlich gefördert werden.
Wer antwortet? — Herr Staatssekretär.
Ich gehe davon aus, Herr Kollege Gansel, daß dieses Thema bei der Ressortarbeitsgruppe eine Rolle spielen wird. Aus diesem Grund wurde auch das Wirtschaftsministerium in diese Ressortarbeitsgruppe aufgenommen.
Sie wissen ja, daß es Fördertatbestände gibt. Wir haben ab Juli 1993 die Vorschrift für die Doppelhülle für neu zu bauende Tanker. Aber dies bedeutet natürlich noch nicht die Förderung, über die Sie sprechen.
Frau Abgeordnete Wetzel.
Herr Staatssekretär, haben bei den Kabinettsberatungen heute im Zusammenhang mit dem Tankerunfall auch Haftungsfragen, d. h. eine Verschärfung der Haftungsbedingungen, eine Rolle gespielt? Haben weiterhin konkrete Überlegungen eine Rolle gespielt, in welchen Richtungen man die Hafenstaatkontrollen ausweiten will, um wirklich endlich der unsicheren Billigtonnage an den Kragen zu gehen, damit dieser Unterbietungswettbewerb im Verhältnis zu seriöser Tonnage aufhört? Hat dabei auch eine Rolle gespielt, die Wirksamkeit der Klassifikationsgesellschaften einmal in Frage zu stellen? Inwieweit ist man bereit, auf europäischer Ebene Einfluß zu nehmen?
Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, ich habe vorhin fünf Punkte genannt, die die Bundesregierung in Angriff nehmen will. Dazu gehört z. B. die Frage nach den Klassifikationsgesellschaften. Ich habe das vorhin mit dem Begriff des Schiff-TÜVs umschrieben. Wir müssen davon ausgehen, daß nicht alle Klassifikationsgesellschaften dem Standard entsprechen, den wir verlangen müssen. Wir wollen aus diesem Grund in der EG eine Regelung erzielen, daß solche Schiffe, die diesen Standards nicht entsprechen oder bei denen der Verdacht besteht, daß Mängel vorhanden sein könnten, Sonderkontrollen unterzogen werden.
Zur Frage nach der Haftung. Es gibt aus dem Jahr 1992 zwei Protokolle, wo die Haftungssumme auf 450 Millionen DM erhöht wurde. Es wird einige unter uns geben, die sagen: Das reicht noch lange nicht aus. Aber der entscheidende Punkt ist, daß diese Haftung auch ohne Verschulden wirksam werden soll. Das ist etwas Neues. Das wird vor allem der Verschachtelung der Verantwortlichkeiten, die wir bei den letzten Tankerunfällen mehrfach festgestellt haben, entgegenwirken. Diese Protokolle sind noch nicht ratifiziert. Die Bundesregierung wird ohne jeden Verzug für die Ratifikation in der Bundesrepublik Deutschland sorgen.
Danke. — Herr von Geldern.
Herr Staatssekretär Schulte, trifft meine Information zu, daß bei allen schweren Tankerunfällen seit der „Torrey Canyon" von 1967 mit einer einzigen Ausnahme, wo es nachweislich einen Materialfehler gab, menschliches Versagen die Hauptursache war? Welche Schlußfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, daß es auf den Weltmeeren offensichtlich permanent Tanker gibt, die mit Besatzungen ausgestattet sind, die keine vernünftige Ausbildung haben, die sich schon sprachlich untereinander nicht verständigen können und die all die schönen Regeln, die die IMO gemacht hat, gar nicht kennen? Welche Schlußfolgerungen sind nach Auffassung der Bundesregierung aus diesem höchst bedenklichen Zustand zu ziehen?
Herr Staatssekretär.
Ich kann den ersten Teil Ihrer Frage — Sie sagten: Mit einer Ausnahme war überall menschliches Versagen die Ursache — so nicht beantworten. Manchmal ist es ja so, daß ein technischer Fehler am Anfang steht, daß dieser aber auf Grund fehlender Qualifikation der Mannschaften nicht behoben werden kann, so daß man wiederum darüber streiten kann: Was ist tatsächlich die Ursache?Aber es ist unbestreitbar, daß weit über drei Viertel der Unfälle durch menschliches Versagen verursacht sind. Aus diesem Grund habe ich vorhin als Punkt vier in unserem Fünf-Punkte-Katalog genannt, daß das
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Parl. Staatssekretär Dr. Dieter SchulteSchiffsmanagement verbessert werden soll, und als Punkt fünf, daß wir eine internationale Arbeitssprache bei der IMO durchsetzen wollen. Wir sind da Schrittmacher.Ich füge hinzu, daß wir national Regelungen in der Schiffbesetzungsverordnung haben, die z. B. für die Besatzung von Öltankern oder von Schiffen für den Transport gefährlicher Güter besondere Ausbildungsvorschriften beinhaltet. Dort, wo wir national etwas tun können, haben wir Vorsorge getroffen.Ich verweise im übrigen auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus der 12. Legislaturperiode in Drucksache 12/998, wo dazu im einzelnen Stellung genommen wurde.
Herr Kleinert.
Herr Staatssekretär, ist es nicht von besonderer Bedeutung, wie sich für die Reeder die Grundbelastung der noch unter deutscher Flagge fahrenden Schiffe ausnimmt? Spielt die ertragsunabhängige Besteuerung, sprich: Vermögensteuer bei der Art, wie Schiffe dieser Größenordnung in diesem Lande finanziert werden müssen, nicht eine besondere Rolle? Gibt es, ausgehend von solchen denkbaren Erwägungen, Gespräche zwischen Ihrem Hause und dem zuständigen Bundesminister der Finanzen über die Frage der Vermögensbesteuerung gerade in diesem hochsensiblen Bereich, statt daß man sich nur für punktuelle Beihilfen, z. B. für besondere bauliche Ausstattungen, interessiert?
Herr Kollege, auch wenn ich mein Gehalt nicht für die Steuerfragen beziehe,
besteht kein Zweifel daran, daß die Grundbelastung der deutschen Seeschiffahrt im Vergleich zur internationalen Konkurrenz sehr hoch ist. Der Bundesminister für Verkehr tritt aus diesem Grund dafür ein, daß auch steuerliche Verbesserungen geschaffen werden.
Eine Einigung konnte darüber zwar noch nicht konkret erzielt werden, aber es gibt konkrete Auswirkungen dergestalt, daß auch im jetzigen Haushalt Hilfen für die Reeder eingestellt wurden.
Ich bin dem Parlament dankbar, daß es dafür gesorgt hat, daß das, was zunächst von der Bundesregierung vorgesehen war, noch einmal verbessert wurde. Damit ist allerdings der Tatbestand, den Sie genannt haben, noch nicht ausgeräumt. Dies bleibt aus Sicht des Bundesministers für Verkehr auf der Tagesordnung.
Ich muß allerdings, Herr Kollege Kleinert, noch hinzufügen: Wir gehen davon aus, daß die Schiffe, die auf deutschen Werften gebaut werden, die unter deutscher Flagge fahren und die in unseren Schiffsregistern gemeldet sind, am ehesten dazu geeignet sind, die Folgen zu verhindern, über die wir gerade diskutieren.
Ich bitte um Verständnis, daß ich nach der Frage von Herrn Hirsch diesen Teil abschließe, zumal noch eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema kommt. Dies ist die Begründung dafür, daß wir mit der Frage von Herrn Hirsch hier abschließen, damit die anderen Fragen noch zum Zuge kommen.
Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, je sicherer ein Auto ausgestattet ist, um so riskanter fahren die Leute, weil sie glauben, es wird schon gutgehen. Je sicherer ein Schiff ausgerüstet ist, um so eher wird ein Kapitän bereit sein, aus ökonomischen Gründen auch eine riskante Route zu fahren, weil er glaubt, daß sein Schiff das hergibt.
Muß es deswegen nicht eine hohe Priorität haben, daß sich die Bundesregierung an Vereinbarungen beteiligt, bestimmte Routen für Tankerschiffe zu verbieten?
Wir sind der Ansicht, daß bestimmte Routen vorgeschrieben werden müssen. Dies ist ein Teil des Katalogs, den ich vorher vorgetragen habe. Wir wollen dies für den europäischen Bereich über die EG veranlassen.
Wir haben soeben akustische Schwierigkeiten gehabt. Deswegen bitte ich jetzt, daß noch einmal die Gelegenheit gegeben wird, Fragen zur Entwicklungspolitik zu stellen und Antworten zu erhalten.
Herr Hauchler, Sie haben das Wort.
Herr Minister, im Zusammenhang mit der Debatte heute im Kabinett über den entwicklungspolitischen Bericht haben sicher auch die Zusammenhänge zwischen Fluchtursachen und ihrer Bekämpfung durch entwicklungspolitische Maßnahmen und der wachsenden Zahl der Asylbewerber, die auch aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen, eine Rolle gespielt.
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um der wachsenden Not und der wachsenden Umweltzerstörung zu begegnen, um damit Fluchtursachen zu bekämpfen? Spielt dies bei der künftigen Etatentwicklung eine Rolle?
Eine zweite Frage in dem Zusammenhang: Hat sich das Bundeskabinett Ihrer Forderung angeschlossen, in Zukunft alle Asylbewerber, die aus „durchseuchten" Ländern kommen, einem Zwangs-AIDS-Test in Deutschland zu unterziehen?
Herr Minister Spranger.
Herr Kollege Hauchler, die Frage von Fluchtursachen und deren Bekämpfung ist ebenso wie die andere Frage im Bundeskabinett nicht diskutiert worden, weil der Ihnen auch schon vorher übermittelte Bericht in der Form, wie Sie ihn kennen, akzeptiert worden ist und deshalb eine größere Diskussion, vor allem zu den angesprochenen Fragen, im Bundeskabinett nicht stattfand.
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11242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Ich habe noch eine zweite Frage gestellt.
Ich habe in einer Antwort beide Fragen beantwortet.
Gibt es weitere Fragen zur Entwicklungspolitik? — Bitte, Herr Schuster.
Herr Minister, Sie wissen, daß in der entwicklungspolitischen Diskussion das Thema Nachhaltigkeit eine große Rolle spielt. Es geht um die Frage, ob das, was wir tun, sinnvoll und von Dauer ist. Meine Frage ist, ob das in dem Bericht zu diesem Thema eine Rolle spielt, ob Ergebnisse dazu vorliegen und welche Konsequenzen Sie daraus zu ziehen gedenken.
Ich glaube, daß dies ein ganz wichtiges Thema ist. In dem Bericht kommt auch in angemessener Weise zum Ausdruck, daß die Nachhaltigkeit ein entscheidendes Kriterium ist, und insbesondere wird auch die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer zur Herbeiführung dieser Nachhaltigkeit in breitem Umfange dargestellt.
Ich sehe keine weiteren Fragen zu diesem Komplex. Gibt es noch allgemeine Fragen? —
— Viele, aber keine speziellen. Dann schließe ich die Befragung der Bundesregierung. Ich danke den Mitgliedern der Regierung und rufe auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/4079 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Die Beantwortung erfolgt durch den Minister Friedrich Bohl.
Ich rufe die Frage des Abgeordneten Norbert Gansel auf:
Was hat den Bundeskanzler bewogen, in seinem Brief an den Parteivorsitzenden der F.D.P. vom 11. Januar 1993 auf die Rechtslage „für diese und künftige Kabinettsbildungen" hinzuweisen, und welche zeitlichen Abläufe und Entscheidungen ergeben sich daraus für die Besetzung von Ressorts, die durch Rücktritte frei geworden sind oder aus anderen Gründen neu besetzt werden sollen, in Anbetracht dringend fälliger wirtschaftspolitischer Entscheidung?
Herr Minister, bitte.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Gansel, zum ersten Teil Ihrer Frage: Die Beweggründe des Bundeskanzlers gehen aus dem Schreiben vom 11. Januar dieses Jahres an den Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei unmittelbar hervor.
Zum zweiten Teil der Frage: Es ist beabsichtigt, die Vereidigung der neuen Minister am Freitag, dem 22. Januar, hier im Deutschen Bundestag vorzunehmen.
Zusatzfrage.
Herr Bohl, da mir nicht bekannt ist, wie der Wortlaut des Briefes des Bundeskanzlers an den F.D.P.-Vorsitzenden Graf Lambsdorff ist, aus dem die Presse ja nur zitiert hat, daß der Bundeskanzler im Zusammenhang mit der Nominierung von Herrn Rexrodt für diese und für künftige Kabinettsbildungen auf die Rechtslage hingewiesen hat, möchte ich Sie fragen, was das denn bedeutet. Wenn diese Nominierung korrekt gewesen ist, dann bräuchte der Bundeskanzler doch nicht auf die Rechtslage hinzuweisen. Wenn aber die Nominierung inkorrekt war und die Rechtslage des Grundgesetzes nicht berücksichtigt wurde, dann kann der Bundeskanzler sich doch nicht einfach den Vorschlag zu eigen machen und an den Bundespräsidenten weitergeben.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege Gansel, der Brief des Bundeskanzlers an den Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei ist ja publiziert worden.
Wenn Sie ihn nicht haben lesen können, ist das gar kein Problem. Deshalb stehe ich Ihnen ja zur Auskunft zur Verfügung.
Das ist ja selbstverständlich. Ich darf Ihnen den Brief gerne insoweit vorlesen.Nach der Eingangsgrußformel beginnt der Brief wie folgt:Die Vorgänge um die Ernennung des Nachfolgers des zurückgetretenen Bundesministers für Wirtschaft geben mir dringend Anlaß zur Klarstellung des Verfahrens und der Zuständigkeiten, die verfassungsrechtlich eingehalten werden müssen. Gemäß Art. 64 des Grundgesetzes ernennt der Bundespräsident die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Diese Vorschrift steht nicht zur Disposition einzelner Parteien oder Fraktionen.Zwar entspricht es in einer Koalitionsregierung der gebotenen politischen Praxis, daß vor einer Ernennung zwischen den beteiligten Fraktionen und Parteien Gespräche über anstehende Sachfragen und Kandidaten stattfinden. Diese Praxis ändert jedoch nicht die verfassungsrechtliche Lage.Angesichts der Diskussion und des Verfahrens in den vergangenen Tagen weise ich für diese und künftige Kabinettsbildungen auf diese Rechtslage hin. Es ist selbstverständlich, daß ich die dem Bundeskanzler in der Verfassung zugeschriebenen Rechte wahrnehmen werde. Diese Klarstellung ist auch geboten wegen der inakzeptablen Äußerungen zu diesem Thema seitens des vorgeschlagenen Kandidaten für das Amt des Bundesministers für Wirtschaft.Dann folgen Hinweise, wer diese Briefe ebenfalls noch erhalten hat, und die Schlußgrußformel.
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Das Problem beginnt ja schon bei der Eingangsformel, denn eine Ernennung von Herrn Rexrodt hat ja noch gar nicht stattgefunden, sondern nur die Nominierung durch ein Gremium der F.D.P., das nach dem Parteiengesetz dazu gar nicht legitimiert ist — auch nicht nach der Satzung der F.D.P., denn die wäre sonst rechtswidrig.
Deshalb frage ich Sie, Herr Bohl, welche Rolle der Bundeskanzler denn eigentlich im Prozeß der Bestallung von F.D.P.- und CSU-Ministern im Bundeskabinett spielen will — ich gehe davon aus, daß er bei den CDU-Ministern mitreden darf —,
ob er sozusagen nur als Briefträger fungiert und die Entscheidung einer F.D.P.-Versammlung an den Bundespräsidenten übermittelt, der das dann, um mit Herrn Rexrodt zu sprechen, gefälligst zur Kenntnis nehmen muß und dadurch doch auch in eine sehr schwierige verfassungsrechtliche und politische Lage käme.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege Gansel, wenn Sie den Wortlaut des Satzes 1 nehmen, geht daraus doch eindeutig hervor, glaube ich, daß der Bundeskanzler damit die Vorgänge im Zusammenhang mit der noch vorzunehmenden Ernennung meint. Da bisher noch kein Wirtschaftsminister ernannt ist, ist der Gesamtzusammenhang, glaube ich, für jeden, der diesen Brief unvoreingenommen liest, ganz eindeutig.
Zweitens. Was die Verfassungslage angeht, so hat der Bundeskanzler in diesem Brief auf das, was offensichtlich auch zwischen uns völlig unstrittig ist, noch einmal hingewiesen.
Drittens hat der Bundeskanzler sicherlich, so wie auch seine Vorgänger im Amt, Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundeskanzler Willy Brandt, der gleichfalls in Koalitionsregierungen gelebt und gewirkt hat, die Möglichkeit, auf die Benennung durch sein Vorschlagsrecht Einfluß zu nehmen.
Nächste Frage, Herr Kollege Jens.
Herr Staatsminister, hat der Bundeskanzler denn eventuell Bedenken bei der Ernennung von Herrn Rexrodt dahin gehend, ob er — wie es so ungefähr in der Eidesformel heißt — auch dem Wohl der Allgemeinheit dient? Immerhin ist es jetzt der dritte Wirtschaftsminister, und nach diesem Fauxpas von Herrn Rexrodt müßte man doch vielleicht Bedenken haben.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege Jens, es ist ja Ihr gutes Recht, die Qualifikation irgendeines Bewerbers für irgendein Regierungsamt in Frage zu stellen oder zu kritisieren, aber was wir, auch im Hinblick auf die Wirkung in der Öffentlichkeit, zumindest in der Zukunft vermeiden sollten, ist, glaube ich, daß wir uns sozusagen in herabsetzender Weise über uns selbst und über Kollegen äußern. Ich will Ihnen freimütig bekennen, daß mich dieses in den letzten Tagen, zum Teil auch wechselseitig, doch gestört hat.
Ich wiederhole noch einmal, daß ich schon einen Unterschied darin sehe, ob ich jemandem hier in der Debatte im Bundestag oder in der Öffentlichkeit auch Fehler, fachliche Fehlleistungen, was auch immer Sie meinen, vorhalte oder ob ich jemanden als Persönlichkeit und in seiner persönlichen Reputation herabsetze.
Vor diesem Hintergrund glaube ich sagen zu dürfen, daß der Herr Bundeskanzler den vorgeschlagenen Bewerber der F.D.P. sehr wohl prüfen wird und danach pflichtgemäß seine Entscheidung fällen wird, die alle bei einer solchen Entscheidung zu bedenkenden Gesichtspunkte einschließt.
Herr Kollege Koppelin, Sie stellen die nächste Frage.
Herr Minister, darf ich auf Grund des Briefes des Bundeskanzlers fragen, wie der Bundeskanzler denn den Vorgang in den 60er Jahren beurteilt, als bei der Bildung der Großen Koalition innerhalb der CDU/CSU-Fraktion ein Kanzlerkandidat unter verschiedenen Bewerbern gewählt wurde, obwohl doch nur der Bundespräsident das Vorschlagsrecht für einen Kanzlerkandidaten hat?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Auch die damaligen Formen der Bildung der Bundesregierung standen sicherlich im Einklang mit dem Grundgesetz.
Herr Kollege Sperling.
Herr Staatsminister, auch wenn man zugibt, daß ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Verfassungswirklichkeit und Verfassungsrecht besteht, ist zu fragen: Ist denn Anlaß gegeben zu vermuten, daß die F.D.P., gerade weil es der Kandidat für das Amt des Wirtschaftsministers an Respekt für das Verfassungsrecht fehlen ließ, gebeten wird, ein anderes Verfahren zum Suchen eines anderen Kandidaten zu entwickeln, damit das Amt des Wirtschaftsministers nicht belastet wird, und zwar nicht etwa mit herabsetzenden Äußerungen zur Person des Kandidaten, sondern mit kritischen Äußerungen über dessen Verfassungsverständnis?Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege Sperling, man soll auch dabei, finde ich, die Proportionen und Dimensionen wahren. Es ist doch unverkennbar, daß Herr Kollege Rexrodt bei seiner Einlassung vor der Presse z. B. davon ausging, daß der Deutsche Bundestag die Nominierung oder Berufung oder wie auch immer noch einmal bestätigen müsse. Das war
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11244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Bundesminister Friedrich Bohlein Irrtum. Offensichtlich ging er von der Berliner Verfassungslage aus.
Nun muß ich Ihnen sagen, daß ich in diesem Hause auch Aussagen des Kollegen Vogel mitbekommen habe —ich gehörte dem Haus noch nicht an; ich werde Ihnen auch die Zitatstellen gern angeben —, bei denen er von der bayerischen Verfassung ausging und die nicht im Einklang mit dem Grundgesetz waren. Das passiert doch. Daraus würde ich zumindest kein solches Urteil fällen wollen, wie Sie es möglichweise insinuiert haben.
Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß er die Aussage von Herrn Rexrodt im Hinblick auf die Mitwirkung des Bundeskanzlers für inakzeptabel hält. Damit, finde ich, ist das Notwendige in diesem Zusammenhang gesagt. Ich kann nicht erkennen, daß sozusagen der Bewerber und das Verfahren hier in einen unzulässigen Zusammenhang gebracht werden.
Herr Kollege Schwanhold.
Herr Minister Bohl, wenn ich Ihre vorherige Antwort, nicht die letzte, sondern die davor, wörtlich nehme und sie an der Aussage messe, daß der nominierte Herr Rexrodt akzeptabel sei, und dies auf ein Zeugnis innerhalb der Wirtschaft beziehe, dann ist dies so ziemlich die schlimmste Abqualifizierung, die man einem Bewerber oder einem Stelleninhaber mitgeben kann.
Daran schließt sich meine Frage an, die ich mit einem Zitat von Herrn Grafen Lambsdorff eröffnen will, der von den sieben Flaschen gesprochen hat. Erste Frage: Hat er sich in der Zahl der Flaschen geirrt? Zweite Frage — —
Herr Kollege Schwanhold, Sie haben in der Fragestunde eine Frage,
und die soll kurz und präzise sein.
Gut. — Zu den Kriterien, die Sie erwähnt haben und nach denen der Kollege Gansel gefragt hat, haben Sie keine Antwort gegeben. Ich möchte gern wissen, welche Kriterien bei der Auswahl für die zusätzlich zu besetzenden Ministerien angesetzt werden und ob dabei gewährleistet ist, daß in Zukunft Fachleute das jeweilige Amt übernehmen.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Vielleicht darf ich noch einmal darauf hinweisen, daß es, wie ich finde, doch der Debatte, die Sie ja eh fest im Auge haben, vorbehalten bleiben sollte, die Diskussion über die politische Bewertung zu führen.
Sie verlangen von mir hier nach der Dringlichkeitsfrage Auskunft sozusagen über den Brief und über das, was damit zusammenhängt. Ich bin auch von der Geschäftsordnung her nicht in der Lage, glaube ich, bei der Beantwortung dieser Frage in der gewünschten Weise zu antworten, weil es um eine politische Bewertung geht, die man in der Debatte vornehmen kann. Das ist keine Sachfrage an die Bundesregierung.
Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß der Bundeskanzler bei dem Vorschlag, den er dem Bundespräsidenten für diesen oder jenen Ministerposten unterbreiten wird, mit Sicherheit geeignete und qualifizierte Kandidaten nominieren wird,
daß er dies selbstverständlich in eigener Verantwortung prüft und daß Sie nach meiner Einschätzung der Lage davon ausgehen können, daß die Koalition, also die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P., nicht nur die neuen Kabinettsmitglieder, sondern das gesamte neue Kabinett geschlossen politisch mittragen wird.
Nächste Frage, Herr Kollege Büchner.
Trifft es eigentlich zu, Herr Bundesminister, daß sich der Vorsitzende der F.D.P. beim Bundeskanzler für die Äußerungen von Herrn Rexrodt entschuldigt hat, und was hat Graf Lambsdorff zu seiner Entschuldigung angeführt?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Es ist nicht so, daß sich der Vorsitzende der F.D.P. in dieser Frage unmittelbar beim Bundeskanzler hat melden können, weil der Bundeskanzler an diesem Tage in Italien und sozusagen nicht unmittelbar erreichbar war. Graf Lambsdorff hat den Chef des Bundeskanzleramtes angerufen, der den Bundeskanzler in Italien fernmündlich über den Inhalt dieses Anrufs informierte.
Nächste Frage, Herr Kollege Schulz.
Herr Bundesminister, sind Sie mit uns der Auffassung, daß der erfolgreiche und dringend erforderliche Aufschwung Ost auch von einer guten und gedeihlichen Zusammenarbeit, vor allen Dingen einer abgestimmten Zusammenarbeit der Bundesminister für Finanzen und für Wirtschaft mit bestimmt wird, wie bewerten Sie und der Herr Bundeskanzler die Zusammenarbeit der beiden Häuser in der zurückliegenden Zeit, und was gedenkt der Herr Bundeskanzler künftig zu tun, um diese in der Öffentlichkeit hauptsächlich durch Konkurrenzdenken und Dissonanzen geprägte Atmosphäre zu verändern?
Verzeihung, Herr Bundesminister, ich darf noch einmal sagen: Sie alle wissen, daß die SPD-Fraktion die Aktuelle Stunde fest im Auge hat. Aber davon ganz abgesehen bitte ich, hier keine Fächerschüsse abzugeben, sondern Einzelfragen zu stellen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11245
Vizepräsident Hans KleinBitte, Herr Bundesminister.Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Präsident, ich bemühe mich, die Frage umfassend dadurch zu beantworten, daß ich auf folgendes hinweise. Die gute Zusammenarbeit zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium kommt allein schon dadurch zum Ausdruck, daß sich in einer Kabinettssitzung, ich glaube, im April letzten Jahres, der Bundesminister für Wirtschaft mit einem entsprechenden öffentlich wirkamen Präsident beim Bundesfinanzminister für die gute Zusammenarbeit bedankt hat.
Herr Kollege Peter.
Herr Bohl, haben Sie es angesichts der von Ihnen geschilderten guten Zustände in der Regierungskoalition überhaupt für erforderlich gehalten, daß der Bundeskanzler nach den Äußerungen des nominierten Kandidaten Rex-mann
— Rexrodt, Entschuldigung — überhaupt zu dem Mittel des dann der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Briefes an den Koalitionspartner gegriffen hat?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Ja.
Frau Kollegin Fischer.
Herr Minister, Abgeordnete Ihrer Fraktion aus den neuen Ländern haben an der Person des Herrn Rexrodt bezüglich seiner Arbeit in der Treuhand Kritik geübt. Will der Bundeskanzler bei der Neubesetzung des Wirtschaftsministeriums dies berücksichtigen?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Der Bundeskanzler hat diese Äußerungen zur Kenntnis genommen, und er wird seine Entscheidung fällen.
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast.
Wenn der Herr Bundeskanzler dem Bundespräsidenten einen von ihm ausgesuchten Minister zur Ernennung vorschlägt, legt er da auch fachliche Kriterien an, und, wenn ja, welche fachlichen Kriterien waren dies im Falle des Vorschlages des Kollegen Bötsch für das Postministerium?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Kollegin Sonntag, so, wie der zur Zeit noch in Marokko in Urlaub befindliche SPD-Vorsitzende Engholm bei der Berufung seiner Pressesprecherin bestimmte Kriterien angelegt hat, tut dies auch der Bundeskanzler bei seinen Personalvorschlägen.
Frau Kollegin Kolbe.
— Kein Dialog, bitte. Es gibt auch kein Nachfassen. Das Wort hat die Kollegin Kolbe.
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, ob es noch andere Minister gibt, die sich schämen, dieser Regierung anzugehören, wie es bei dem scheidenden Postminister Schwarz-Schilling der Fall ist? Ich könnte das verstehen.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Gleichlautende Erklärungen sind im Kabinett nicht abgegeben worden.
Kollege Fuhrmann.
Herr Minister, Sie werden entschuldigen, daß ich nachfrage, weil entweder ich eine Antwort von Ihnen darauf nicht verstanden habe oder sie möglicherweise von Ihnen noch nicht gegeben wurde: Ist das Verfahren, mit dem die F.D.P. den Kandidaten gekürt hat, bloß problematisch oder möglicherweise auch nicht verfassungsgemäß gewesen? Das wäre schon von Interesse.
Friedrich Bohl, Bundesminister: Die Verfassung steht nicht zur Disposition des Bundeskanzlers oder einer politischen Partei. Das Verfahren, das zur Ernennung eines Bundesministers für Wirtschaft führen wird, steht im Einklang mit dem Grundgesetz.
Frau Kollegin Mascher.
Herr Bundesminister, hat der in Aussicht genommene Postminister eine langjährige berufliche Erfahrung im Bereich der Post, so wie Frau Sonntag eine langjährige, qualifizierte Berufserfahrung als Journalistin hat?Friedrich Bohl, Bundesminister: Ich kann Ihnen im Moment leider nicht beantworten, welchen Kandidaten der Herr Bundeskanzler dem Bundespräsident zur Ernennung zum Postminister vorzuschlagen beabsichtigt.
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11246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Herr Kollege Toetemeyer.
Herr Bundesminister, angesichts Ihrer Antwort eben, daß Ihnen gleichlautende Erklärungen nicht bekannt seien, darf ich Sie fragen, ob der Bundesregierung bekannt ist, daß unser Kollege Würzbach, ehemaliger Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, folgendes ausgeführt hat:
Hinter den verschlossenen Türen des Kabinetts kann nicht mehr offen geredet werden, weil die Entscheidungen nicht mehr im Kabinett, sondern in Koalitionssälen getroffen werden.
Würden Sie trotz dieser Bemerkung Ihre vorherige Behauptung aufrechterhalten?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Ja, weil in Kabinettsrunden gleichlautende Erklärungen nicht abgegeben wurden.
Herr Kollege Walter.
Herr Minister, beabsichtigt der Bundeskanzler, auch das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung neu zu besetzen, nachdem öffentlich erklärt worden ist, daß das Sozialleistungssystem ausgerechnet von den Sozialhilfeempfängern ausgebeutet werde?
Verzeihung, Herr Kollege, es liegt eine bestimmte Frage vor; zu der werden Zusatzfragen gestellt. Dies ist jetzt keine allgemeine Befragung.
— Entschuldigung, Herr Gansel, so ist es. Diese Frage gehört nicht zu diesem Thema. Ich bin in der Zulassung all dieser Zusatzfragen schon sehr weit gegangen.
Frau Kollegin Schmidt.
Herr Bundesminister, können Sie Auskunft darüber geben, womit derzeit der geschäftsführende Wirtschaftsminister Möllemann beschäftigt ist?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Kollegin Schmidt, der Herr Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann, war heute morgen während der gesamten Kabinettssitzung anwesend. Er ist im Amt und im Dienst. Was er in dieser Stunde oder Sekunde tut, entzieht sich in der Tat meiner Kenntnis. Ich habe aber auch nicht die Dienst- oder Fachaufsicht für die Bundesminister.
Frau Kollegin Iwersen.
Herr Minister, können Sie uns erläutern, ob der Bennenung von Herrn Kinkel zum Vizekanzler eine Aussprache zwischen dem Bundeskanzler und seinem Außenminister vorausgegangen ist?
Friedrich Bohl, Bundesminister: Nein, es ist so, daß der Vorsitzende der F.D.P. dem Bundeskanzler — über mich, darf ich in diesem Falle sagen, um nichts Falsches zu sagen — hat mitteilen lassen, daß die F.D.P. Herrn Rexrodt zum Bundesminister für Wirtschaft und den Bundesaußenminister für die Position des Vizekanzlers vorschlägt. Diese Mitteilung ist an den Bundeskanzler gegangen, und der Bundeskanzler wird seine Entscheidungen fällen.
Kann ich davon ausgehen, daß damit das Fragebedürfnis der SPD-Fraktion ohnehin nicht befriedigt ist?
Herr Bundesminister Bohl, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Die Fragen 1 und 2 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung werden auf Wunsch des Fragestellers und Frage 3 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr wird auf Grund Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Beantwortung der Frage steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Joachim Günther zur Verfügung.
Ich rufe Frage 4 des Kollegen Claus Jäger auf:
Trifft es zu, daß die Bundesregierung beabsichtigt, in der Berliner Stadtmitte gelegene bundeseigene Gebäude, die gerade mit Millionenaufwand restauriert und für eine behördliche Nutzung hergerichtet worden sind oder werden, abreißen und durch Neubauten ersetzen zu lassen, und um welche Gebäude handelt es sich zutreffendenfalls?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Jäger, das Bundeskabinett hat am 17. Dezember 1992 ein Konzept für die Unterbringung der Bundesregierung in Berlin beschlossen. Darin hat es die Liegenschaften für die Bundesministerien in Berlin festgelegt. Zu den gegenwärtig dort befindlichen Gebäuden heißt es in dem Beschluß: „Es ist beabsichtigt, die in Frage kommenden Gebäude im Rahmen offener Wettbewerbe zur Disposition zu stellen. "Es bestand im Kabinett Einvernehmen, daß damit noch keine Entscheidung zu der Frage Abriß und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11247
Parl. Staatssekretär Joachim GüntherNeubau oder nicht getroffen worden ist, sondern daß darüber erst nach Durchführung der Wettbewerbe entschieden wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, nachdem nach Ihrer Antwort durchaus ein Hauch von Befriedigung bei mir aufkommt, möchte ich doch die Frage an Sie richten, ob damit allein schon die Gewähr gegeben ist, daß eine Verschwendung von Steuergeldern, die mit einem Abriß solcher mit hohem Aufwand ausgebauter Häuser verbunden wäre, nun endgültig gebannt ist.
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß nach Durchführung der Wettbewerbe und nach dem Entscheid darüber auch die kostengünstigsten Varianten gewählt werden.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn die Sache so aussieht, wie Sie sie soeben geschildert haben, möchte ich doch fragen, warum Ihr Haus dies, nachdem entsprechende Meldungen durch die Presse gingen und doch für erhebliches Aufsehen gesorgt haben, nicht sofort richtiggestellt und entsprechende, viel weitergehende Darstellungen nicht dementiert hat.
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Nach meinem Kenntnisstand ist der Beschluß zum damaligen Zeitpunkt bekanntgegeben worden; er ist auch in einer Presseerklärung der Ministerin mitgeteilt worden. Sicher nicht in allen Details, aber mit der heutigen Antwort müßte die Frage meines Erachtens beantwortet sein.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Janzen.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll erst nach einem Wettbewerb entschieden werden, ob ein Gebäude erhalten bleibt oder abgerissen wird. Nach meiner beruflichen Erfahrung ist es jedoch so, daß der Wettbewerb eine Programmstellung beinhaltet, aus der schon ersichtlich ist, ob es sich um einen Neubau oder um ein Umbauvorhaben handeln wird. Wie sehen Sie das?
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Bei den hier in Rede stehenden Gebäuden geht es um das Haus der Parlamentarier, vorrangig um das Haus der Ministerien an der Leipziger Straße. Beide Gebäude sind Ihnen sicher bekannt. Es besteht noch eine Unklarheit darüber, was die kostengünstigere Variante ist. Deshalb soll ein Wettbewerb durchgeführt werden, der es ermöglichen soll, über die Varianten zu entscheiden.
Danke sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Die Fragen 7, 8 und 9 sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Dr. Klaus Kübler auf:
Treffen Pressemeldungen zu, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die Türkei auf eine Liste sogenannter verfolgungsfreier Staaten zu setzen, um Flüchtlingen aus diesem Land ein vollständiges Asylverfahren verwehren zu können, und welche Begründung für ihre Entscheidung hat die Bundesregierung vor dem Hintergrund, daß in der Türkei auch nach neuesten Berichten von Amnesty International und Erkenntnissen des Europaparlamentes Folter und Mord an politisch Andersdenkenden und Kurden nachweislich stattfinden und im Jahre 1992 die Verwaltung und Gerichte in Deutschland etwa 20 Prozent aller türkischen Flüchtlinge als asylberechtigt anerkannt haben?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Dr. Kübler, die Antwort lautet wie folgt: Nach den Ergebnissen der Fraktionsverhandlungen zu Asyl und Zuwanderung am 6. Dezember 1992 ist vorgesehen, sogenannte sichere Herkunftsstaaten per Gesetz zu bestimmen. Zur Zeit prüft deshalb die Bundesregierung, welche Staaten in eine Liste sicherer Herkunftsstaaten aufgenommen werden können. Als solche kommen nur Staaten in Betracht, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß in diesen Staaten politische Verfolgung oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung nicht stattfindet. Darüber hinausgehende Pressemeldungen entbehren jeder Grundlage.
Es ist allein Aufgabe des Gesetzgebers, diese Staaten für diese Liste festzulegen. Bisher gibt es keine Entscheidung und auch keine Vorentscheidung in bezug auf die einzelnen Länder.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kübler.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, werden Sie an Ihren Überlegungen auch Nichtregierungsorganisationen — Amnesty International oder, je nachdem, World Watch oder andere Organisationen — beteiligen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Selbstverständlich werden alle Erkenntnisse herangezogen, die in irgendeiner Art aus seriösen Quellen zur Verfügung stehen.
Zweite Zusatzfrage.
Ich darf meine Frage zur Beteiligung präzisieren: In welcher Form soll die Beteiligung stattfinden?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Es ist meines Wissens ja festgelegt, daß nicht allein die Bundesregierung darüber bestimmt, sondern daß beispielsweise auch der Bundesrat bzw. — das liegt in der
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerNatur der Sache — auch die Bundestagsfraktionen am politischen Entscheidungsprozeß beteiligt sind. Die Regeln sind im einzelnen sicher noch nicht festgelegt, aber die Tatsache der Beteiligung steht fest.
Werden aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen weitere Zusatzfragen dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe nunmehr die Fragen aus dem Geschäftsbereich der Bundesministerin der Justiz auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke erschienen.
Ich rufe Frage 11 des Kollegen Dr. Norbert Rieder auf:
Da nach Pressemitteilungen das Amtsgericht Flensburg ein Urteil gefällt hat, dem zufolge die Anwesenheit von Behinderten in einem Urlaubshotel eine Minderung des Reisepreises für nichtbehinderte Urlaubsgäste rechtfertige, frage ich die Bundesregierung, wie sie diesen beurteilt?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär,
Herr Kollege, die Bundesregierung muß sich im Hinblick auf die verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit der Gerichte jeder kommentierenden Wertung einer gerichtlichen Entscheidung enthalten. Dies gilt selbst dann, wenn ein ergangenes Urteil allgemein auf Unverständnis stößt.
Die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde gilt für Nichtbehinderte und Behinderte gleichermaßen. Die Bundesregierung hat daher in der Vergangenheit stets verdeutlicht, daß die Eingliederung der Behinderten auf allen Gebieten des Lebens, also auch in Freizeit und Urlaub, in weitestmöglichem Umfang verwirklicht werden muß. Sie wird auch künftig mit allem Nachdruck für eine umfassende Integration der Behinderten eintreten.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg aller Bemühungen um eine Eingliederung der Behinderten ist, daß Vor- und Fehlurteile in der Öffentlichkeit abgebaut werden. Dieses Ziel kann nur durch einen ständig werbenden Prozeß, der auf Bewußtseinsänderung abzielt, erreicht werden.
Auf Grund der Berichterstattung über das Urteil des Amtsgerichts Flensburg sind bei der Bundesregierung zahlreiche Zuschriften aus der Bevölkerung eingegangen, die von einem engagierten Verständnis für die Belange der Behinderten in weiten Teilen unserer Bevölkerung und Gesellschaft zeugen. Um die Integration der Behinderten sollten aber alle Teile unserer Gesellschaft bemüht sein.
Bestrebungen, Behinderte am normalen Alltags- und Urlaubsleben teilhaben zu lassen, sowie jegliches Engagement für die Belange der Behinderten sind auf das nachdrücklichste zu unterstützen. Behinderte sind keine Menschen zweiter Klasse, sondern ebenso wertvolle Menschen wie die nichtbehinderten Mitbürger.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Büchner.
Herr Staatssekretär, auch wenn sich die Bundesregierung der Kommentierung eines Urteils zu enthalten hat, so möchte ich Sie doch fragen, ob Sie die Gesetze für in Ordnung halten, auf deren Grundlage ein solches Urteil gesprochen werden kann.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist der Inhalt der Antwort auf die Frage 12. Der Kollege hat diese Zusatzfrage schon im Auge gehabt.
Herr Kollege Koppelin.
Herr Staatssekretär, auch wenn Sie das Urteil nicht kommentieren — wofür ich Verständnis habe —, könnten Sie doch die entsprechende Presseerklärung des Gerichtes in Flensburg kommentieren, in der u. a. steht, daß durch dieses Urteil den Behinderten kein Schaden entstanden sei. Teilen Sie diese Auffassung? Ich jedenfalls nicht.
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Koppelin, Presseerklärungen ergehen auf Grund eines Urteils. In der von Ihnen angesprochenen Presseerklärung wird ja von einem Tatbestand und den Urteilsgründen berichtet. Deswegen werde ich auch zur Presseerklärung keine Stellungnahme abgeben. Wenn Sie mir aufmerksam zugehört hätten, hätte sich Ihre Frage erledigt.
Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, Ihre vorhin gemachte — durchaus positive — Aussage, daß Behinderte keine Menschen zweiter Klasse sind, dahin gehend zu ergänzen, daß die Bundesregierung sogar ausdrücklich erklärt, nach Ihrer Auffassung bringen Ferienorte, an denen Behinderte ihren Urlaub verbringen, keinerlei Minderung der Lebensqualität für irgendeinen anderen Urlauber mit sich?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Ja.
Dann rufe ich die Frage 12 auf, die ebenfalls der Kollege Dr. Norbert Rieder gestellt hat:Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, gegebenenfalls durch Gesetzesänderung in Zukunft solche Urteile unmöglich zu machen?Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Benachteiligungen, denen behinderte Menschen in vielen Lebensbereichen ausgesetzt sind, sind nicht die Folge unzureichenden rechtlichen Schutzes. Die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde gilt auch für die behinderten Menschen. Zudem wird durch den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz dem berechtigten Anliegen der Behinderten auf Nichtdiskriminierung Rechnung getragen.Einfachgesetzliche Begriffe, z. B. der zur Minderung des Reisepreises berechtigende „Fehler" oder „Mangel" im Sinne des reisevertraglichen Gewährleistungsrechts, müssen im Lichte der objektiven Wertordnung der Grundrechte ausgelegt werden. Die Bundesregierung hält die richtige Anwendung des geltenden Rechts für das adäquate rechtliche Mittel,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11249
Parl. Staatssekretär Rainer Funkeum Diskriminierungen behinderter Mitbürger zu verhindern. Spezielle gesetzliche Neuregelungen wie etwa ein Antidiskriminierungsgesetz zum Schutz der Behinderten erscheinen der Bundesregierung nicht erforderlich.
Herr Kollege Rieder, eine Zusatzfrage.
Das Urteil in Flensburg hat gezeigt, daß der Rechtsrahmen offensichtlich nicht ausreicht, die Diskriminierung auszuschließen. Vielmehr habe ich den Eindruck, daß durch dieses Urteil in Flensburg das, was Sie bei der Beantwortung meiner ersten Frage sehr positiv herausgestellt haben, nämlich daß wir alle an uns arbeiten müssen, um Diskriminierungen auszuschließen, ins Gegenteil verkehrt wird. Denn diejenigen, die sich an dieses Urteil in Flensburg halten, werden in Zukunft an allen Urlaubsorten nach Behinderten ausschauen, um eine Minderung des Urlaubspreises zu bekommen. Glauben Sie, daß das ohne Änderung der Rechtslage verändert werden kann?
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Ja. Ich habe Ihnen eben dargelegt, daß die Rechtsanwendung auch unter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes — Art. 3 — und der Unantastbarkeit der Menschenwürde — Art. 1 des Grundgesetzes — vorgenommen werden muß. Das heißt, das Bürgerliche Gesetzbuch bzw. die Vorschriften über Pauschalreisen sind unter Berücksichtigung des Grundgesetzes auszulegen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Der Parlamentarische Staatssekretär, unser Kollege Dr. Erich Riedl, ist zur Beantwortung erschienen.
Für die Fragen 14 und 15 ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Steffen Kampeter auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den von einigen Elektrizitätsversorgungsunternehmen durch Aufkauf mittelständischer Entsorgungsunternehmen vorangetriebenen Konzentrationsprozeß im Abfallwirtschaftsbereich unter wettbewerbspolitischen Gesichtspunkten, und sieht sie kartellrechtlichen Handlungsbedarf?
Dies ist die letzte Frage, die heute beantwortet wird.
Herr Präsident, fast hätte ich mich erschrocken; denn ich dachte schon, Sie sagen, dies wäre mein letzter Auftritt auf der Regierungsbank.
Das gehört in den Bereich der Dringlichkeitsfrage vom Beginn dieser Fragestunde.
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Dieser Kelch ist interessanterweise an mir vorübergegangen.
Herr Kollege Kampeter, nach Erkenntnissen des Bundeskartellamtes besteht im Abfallwirtschaftsbereich seit einiger Zeit ein erheblicher Konzentrationsprozeß. Das ist zum Teil auf die erforderlichen hohen umweltschutzrechtlichen Anforderungen zurückzuführen. Umweltgerechte Abfallentsorgung erfordert heute hohe Investitionen, die kleine und mittelständische Unternehmen vor finanzielle Probleme stellen. Das läßt einen gewissen Konzentrationsprozeß, bei dem große, finanzkräftige und leistungsstarke Unternehmen eine führende Rolle spielen, weiter erwarten.
Hinzu kommt, daß der auf Grund der in Aussicht genommenen Rücknahmeverpflichtungen und Verwertungspflichten stark wachsende Markt, der bereits eine Umsatzgröße von rund — man höre und staune —7 Milliarden DM erreicht hat, Großunternehmen naturgemäß anzieht. Dabei handelt es sich vor allem um in Trägerschaft von Ländern und Kommunen stehende Energieversorgungsunternehmen wie z. B. die RWE, VEW und das Badenwerk.
Der Großteil der Übernahmen und Beteiligungen ist fusionskontrollpflichtig. Das Bundeskartellamt beobachtet den Konzentrationsprozeß sehr aufmerksam. Angesichts des bereits erreichten Konzentrationsniveaus sieht das Bundeskartellamt künftige Zusammenschlußvorhaben der marktstärksten Unternehmen sehr kritisch.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kampeter.
Herr Staatssekretär, wenn ich die Wirtschaftsseiten der heutigen Zeitungen aufschlage, lese ich über ein weiteres Segment des Abfallwirtschaftsmarktes, der sich besonderer kartellrechtlicher Aufmerksamkeit erfreut, nämlich über die Frage, ob das Duale System in der derzeitigen Form wettbewerbsrechtlich zu halten ist. Beabsichtigt das Wirtschaftsministerium — auch im Rückblick auf den vorher genannten Konzentrationsprozeß — hier kartellrechtliche Maßnahmen?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, wenn Sie mir gestatten, daß ich das Wort „kartellrechtliche Maßnahmen" in „kartellrechtliches Nachdenken" übersetze, kann ich Ihre Frage mit Ja beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie bereit sind, darüber nachzudenken: Wäre es nicht auch denkbar, daß das Bundeswirtschaftsministerium das Kartellamt oder die Monopolkommission bittet, die wettbewerblichen Strukturen auf dem Abfallentsorgungsmarkt umfassend wissenschaftlich
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11250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Steffen Kampeterzu untersuchen, um so dazu beizutragen, daß eventuelle wettbewerbspolitische Entscheidungen in diesem Bereich gründlich und wissenschaftlich fundiert vorbereitet werden?Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Ich greife diese Anregung sehr gerne auf. Allerdings wäre ich mit dem Begriff „wissenschaftliche Untersuchung" etwas vorsichtig. Denn wir haben sowohl bei uns im Hause bis zur Spitze hinauf als auch beim Bundeskartellamt wissenschaftlichen Sachverstand. Ich würde zunächst einmal die Eruierungen von dieser Seite abwarten und dann überlegen, ob wir noch externen wissenschaftlichen Sachverstand heranziehen sollten. Jedenfalls ist Ihre Anregung sehr nützlich. Ich werde sie dem Herrn Bundesminister weitergeben.
Ich bin jetzt versucht, Herr Kollege, Ihnen zu sagen: angesichts dieser Sachlage. Aber das steht mir nicht zu.
Es gibt keine weitere Zusatzfrage. Ich bedanke mich für die Beantwortung der Frage.
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, es war mir ein Vergnügen.
Die Fragen 17, 18, 20, 21 und 22 werden auf Wunsch der Fragesteller, die Frage 19 nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wenn ich die Dinge richtig sehe, gibt es Wortmeldungen zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident, wie das bei Ihnen zu erwarten war, ist das genau richtig: Es gibt eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung.
— Nein, das habe ich noch nie gemacht.
Herr Präsident, ich beantrage für die SPD-Bundestagsfraktion, daß eine Aktuelle Stunde gemäß Anlage 5 der Geschäftsordnung, den Richtlinien für die Aktuelle Stunde, stattfindet, da die Beantwortung der Dringlichkeitsfrage über die unsäglichen Umstände der Kabinettsumbildung durch den Bundesminister Bohl, wie zu erwarten — Sie, Herr Präsident, hatten es auch schon selbst angesprochen— , unzureichend war.
Die SPD-Bundestagsfraktion beantragt, diese Aktuelle Stunde sofort durchzuführen.
Sie haben mich zu einer Richtigstellung herausgefordert, Herr Kollege Struck. Da mir bekannt war, daß die Fraktion der SPD dies beabsichtigt und unter allen Umständen erklären wird, sie finde die Beantwortung unzureichend, habe ich diese Bemerkung gemacht, nicht deshalb, weil ich
die Beantwortung für unzureichend gehalten habe — im Gegenteil.
— Auch Beifallsäußerungen nutzen der Amtsführung nichts.
Ich rufe also auf: Aktuelle Stunde
Brief des Bundeskanzlers an den Parteivorsitzenden der F.D.P. vom 11. Januar 1993
Dieses Verlangen der SPD-Fraktion entspricht Nr. 1 b der Richtlinien für die Aktuelle Stunde. Die Aussprache muß unmittelbar nach Schluß der Fragestunde stattfinden.
Ich eröffne diese Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Klose.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Schadenfreude ist wahrlich kein Anlaß. Das Land befindet sich in einer Krise. Die ökonomischen Schwierigkeiten nehmen zu. Die Berliner Sachverständigen warnen vor einer Katastrophe. Das ist vielleicht übertrieben, aber Kassandra war schon immer etwas schrill und wenig beliebt; im Kern hat sie allerdings häufig recht behalten.Bedrohlich ist die wachsende Arbeitslosigkeit im Osten wie im Westen. Die Verarmungsprozesse nehmen zu, die Wohnungsnot ist bedrückend.Was nicht erst heute, sondern schon vor Monaten hätte geschehen müssen, geschieht noch immer nicht; keinerlei Vorstellungen zur Ankurbelung der Wirtschaft — nichts außer Worten zur Entwicklung im Osten, wo die Lage besonders schwierig ist.Zu den Worten gehört die Absicht des Kanzlers, Kernbereiche der Industrie im Osten zu erhalten. Na endlich, möchte man sagen und fragend hinzufügen: welche denn und wie?
Stimmungen, meine Damen und Herren, sollten nicht überschätzt werden, Stimmungen werden gemacht. Wenn aber die Stimmungslage nicht nur zur Resignation, sondern nach rechtsaußen tendiert, offen, brutal und ohne jede Schamschwelle, dann ist Gefahr im Verzuge, dann muß gehandelt werden.
Die Regierung müßte handeln, meine Damen und Herren. Aber gibt es die noch?
Es gibt sie vor den Kameras. Auf der Handlungsebene findet sie nicht statt oder löst sich auf. Ein Minister scheidet freiwillig aus dem Kabinett aus, weil er sich schämt, Mitglied dieser Regierung zu sein, ein anderer muß gehen. Bei einer dritten Person, einer Ministerin, wird diskutiert, ob sie gehen sollte oder nicht,
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Hans-Ulrich Klosewas im übrigen weniger eine Frage des Stils als vielmehr eine der Sachkompetenz zu sein scheint.Der Kollege Schäuble regt sich darüber auf, daß wir darüber diskutieren, und nennt das würdelos. Nein, nein, würdelos ist nicht das, was wir hier sagen, sondern was Sie in den vergangenen Wochen in der Bundesrepublik Deutschland praktiziert haben.
Ich weiß nicht, über welche Personalien der Bundeskanzler derzeit nachdenkt. Vielleicht über den Herrn Minister Riesenhuber. Der hätte zwar nach eigenen Worten noch Lust weiterzumachen, weiß aber nicht so genau, ob er soll, weil niemand mit ihm geredet hat. Es wird nur über ihn geredet, und der Kanzler läßt das zu, weil er offenbar nicht anders kann, weil es so zu sein scheint, daß Minister über ihn und die Verfassung hinweg gemacht werden — der Kanzler als Notar von Parteipersonalien. Das findet der Kanzler zwar ungehörig, lese ich in den Zeitungen, aber das hindert ihn nicht, stramm zu tun, was von ihm erwartet wird: den neuen Wirtschaftsminister zur Ernennung vorzuschlagen.Das immerhin ist dann eine Tat. Und noch eine: Die Koalition hat sich einmal mehr versichert, sie werde bis 1994 beisammen bleiben. Wie kommentiert das nicht die „Frankfurter Rundschau", sondern die „Frankfurter Allgemeine Zeitung":Die Koalition wird sich also weiterschleppen, mit sinkender Lösungskompetenz bei wachsendem Problemdruck. Keine rosigen Aussichten.
In Art. 65 unseres Grundgesetzes heißt es:
Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.In den Normalfällen des Parlamentarismus weiß jeder von uns, was diese Richtlinienkompetenz bedeutet. Heute aber haben wir den Ausnahmefall: eine Regierung, die nicht regiert, die am Ende ist. Für diesen Ausnahmefall muß ich das Grundgesetz wie folgt interpretieren: Auch wenn der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik nicht bestimmt, weil er die Richtung nicht kennt, weil er keine Linie hat und weil er sein Kabinett mit Kompetenz nicht auszustatten vermag, trägt er dafür die politische Verantwortung. Das ist meine Feststellung.
Es wäre am Herrn Bundeskanzler, die Konsequenzen zu ziehen. Zur Schadenfreue besteht, wie gesagt, kein Anlaß.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute hatte die SPD ja eine große Inszenierung geplant. Nun habenwir eben erlebt: Der erste Teil ist danebengegangen,
d. h. die Luft, konkret: die Fragen sind ihr ausgegangen.Daß der SPD-Fraktionsvorsitzende gestern in einer neuneinhalbstündigen Fraktionssitzung — man höre: in einer neuneinhalbstündigen Fraktionssitzung — zur Durchführung dieser Aktuellen Stunde gezwungen worden ist, ist auch eine Tatsache.
Meine Damen und Herren, zu durchsichtig ist halt der Versuch, von den Kalamitäten abzulenken, in denen sich die SPD in vielen Sachfragen befindet.
Sie ist entscheidungsunfähig durch ihre Parteitagsbeschlüsse. Es ist immer das gleiche Spiel: Zerstritten innerhalb der Partei, versucht man, mit polemischen Angriffen gegenüber der Regierung und der Koalition davon abzulenken.
In den Sachfragen hinkt die SPD den notwendigen Entscheidungen hinterher und versucht, mit fadenscheinigen Argumenten zu verschleiern, daß sie letztlich immer weiter ins Hintertreffen gerät.
Das wird besonders deutlich beim Thema Asyl. Seitens der SPD werden der gemeinsam gefundene Asylkompromiß und seine schnelle Umsetzung ständig behindert: durch Verweigerungen einerseits, weil es den zuständigen Kollegen der SPD anscheinend wichtiger war, ruhige Urlaubstage zu verbringen, statt an einer schnellen Umsetzung der Asylvereinbarung mitzuwirken;
durch künstliche und haltlose Verbalattacken andererseits. Querschüsse gegen den Bundesinnenminister sollen den Asylfahrplan durchkreuzen.Das ist ein taktisches Manöver, das sich nicht nur gegen die Bundesregierung richtet, es richtet sich auch gegen diejenigen, die von seiten der SPD den Asylkompromiß mit ausgehandelt haben, also auch gegen Sie, Herr SPD-Fraktionsvorsitzender Klose.Wenn Frau Däubler-Gmelin heute eine gründliche Überarbeitung des Asylkompromisses fordert, dann kann dies nur bedeuten, daß sie dem SPD-Verhandlungsführer und der Mehrheit der Fraktion, die ja zugestimmt hat, Versagen vorwirft. Einen deutlicheren Ausdruck, meine Damen und Herren, kann dieser Zwist in der SPD eigentlich gar nicht finden.Ich finde, daneben muß auch berücksichtigt werden — dies ist an sich sogar noch schlimmer; denn über die internen Auseinandersetzungen der SPD könnte man ja zur Tagesordnung übergehen —:
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11252 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Dr. Jürgen RüttgersDas Schlimme ist, daß die SPD mit dieser Haltung die deutsche Verhandlungsposition in den schwierigen Gesprächen mit Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik behindert. Diese Verhandlungen sind ja von der SPD immer gefordert worden.Meine Damen und Herren, wir werden von seiten der Koalition diesen Eiertanz nicht mitmachen. Wenn die SPD nicht dazu beiträgt, die Gesetzentwürfe schnell fertigzustellen, wird die Koalition ihre Entwürfe in den Bundestag einbringen.Das zweite Thema, nämlich der Solidarpakt, macht die Situation ebenso deutlich. Tatsache ist, daß sich Bundesregierung und Koalitionsfraktionen in intensiven Gesprächen um einvernehmliche Lösungen bemühen. Auf saarländischen Schreibmaschinen werden irgendwelche Steinbruchlisten veröffentlicht, in dem Versuch, diese Gespräche zu stören. Was wir brauchen — das weiß hier jeder, dem es um die Wirtschaft in den neuen Bundesländern ernst ist —, sind schnelle Einigungen, sind Einigungen darüber, wo auch Einschnitte gemacht werden müssen, um den Aufschwung in den neuen Bundesländern zu finanzieren.Ich finde, Ihnen in der SPD muß es schon in den Ohren klingen, wenn der SPD-Finanzminister Schleußer und die SPD-Finanzministerin Simonis an einem Konzept für den Solidarpakt mitarbeiten, der saarländische Ministerpräsident aber versucht, ein Ergebnis zu verhindern. Regierungsfähig, meine Damen und Herren, ist man so nicht.
Auch das dritte Thema ist eigentlich ein schlimmes Beispiel für die Politikunfähigkeit der SPD, das Thema des Einsatzes der Bundeswehr, Ich will jetzt einmal weglassen, was von dieser Desavouierung des UNO-Generalsekretärs zu halten ist, dem man einerseits erklärt, man suche nach einer Lösung, auf der anderen Seite aber dann sofort wieder über dpa bekanntgibt, daß man wieder neue Parteitagsbeschlüsse braucht.
Die Koalition, meine Damen und Herren, hat heute eine klare Position für die Teilnahme von Soldaten der Bundeswehr an Bündnissen und UN-Einsätzen verabredet. Soeben haben wir unsere Sonderfraktionssitzung beendet und dem Vorschlag einer Klarstellung in der Verfassung zugestimmt.
Dies zeigt, meine Damen und Herren, den ganzen Unterschied zur SPD. Ich finde, spätestens seit heute ist auch das letzte Alibi für das Versteck- und Schwarzer-Peter-Spiel der SPD aufgelöst.Die Vorwürfe der SPD an die Bundesregierung sind falsch, haltlos und bewußt kompromittierend.
In übler Manier wird versucht, auch die Integrität vonMitgliedern der Bundesregierung zu verletzen. Washier zum Teil aus der SPD zu hören war, ist beschämend.
Wenn diese Maßstäbe gelten, meine Damen und Herren, dann müssen Herr Lafontaine, Frau Brusis und Herr Stolpe sofort zurücktreten.
Wer so redet, ist unglaubwürdig und trägt nicht dazu bei, daß Politikverdrossenheit aufgearbeitet wird.
Herr Kollege Dr. Solms, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klose, ich bestätige Ihnen, daß die Republik in einer schwierigen Phase ist,
daß es schwierige Entscheidungen gibt, die wir zu fällen haben, und daß wir Grundsatzpositionen neu zu ordnen haben, bei denen wir das Zusammenwirken der demokratischen Parteien in diesem Hause und im Bundesrat brauchen.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an das Thema Asylrecht, an das Thema Einsatz auch deutscher Truppen außerhalb des Bündnisgebietes oder an das Thema Wirtschafts- und Sozialpolitik, Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung in den neuen Bundesländern, finanzielle Stabilität in allen öffentlichen Haushalten. All das bedarf des Zusammenwirkens aller demokratischen Parteien. Denn Sie haben die Mehrheit im Bundesrat und wir im Bundestag. Wir müssen dabei also ganz entschieden zusammenwirken, insbesondere auch in den Fragen, bei denen es um eine Verfassungsänderung geht.Daß Sie in dieser Situation nun das offenkundige Versprechen von Herrn Rexrodt bzw. den Versprecher von Herrn Rexrodt nutzen,
um uns eine Aktuelle Stunde aufzuzwingen, halte ich nicht nur für peinlich, sondern nahezu für billig.
Meine Damen und Herren, lassen wir doch diese gegenseitigen Sticheleien! Erstens hat sich Herr Rexrodt umgehend dafür entschuldigt und bestätigt, daß er sich versprochen hat. Zweitens stehen wir natürlich hinter der Verfassung. Wir sind natürlich genau wie Sie der Meinung — und tragen dies auch —, daß allein dem Bundeskanzler das Vorschlagsrecht für die Ernennung von Ministern durch den Bundespräsidenten zusteht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11253
Dr. Hermann Otto SolmsAber — und das ist eine ganz andere Frage —: Wie wird denn dieser Vorschlag erarbeitet, meine Damen und Herren? Dazu gibt es, da das in der Verfassung nicht geregelt ist, eine bewährte Verfassungspraxis seit 1949. Denn seitdem hat es — mit Ausnahme einer Legislaturperiode, nämlich der von 1957 bis 1961 — immer Koalitionsregierungen gegeben. Es war in Koalitionsregierungen immer üblich, daß die einzelnen Koalitionspartner dem jeweiligen Bundeskanzler natürlich die Persönlichkeiten zur Benennung vorgeschlagen haben,
die die Ressorts besetzen sollten, die auf die einzelnen Koalitionspartner entfallen sind.
Die Frage, wie die einzelnen Fraktionen oder Parteien diesen Vorschlag erarbeiten, ist eine Sache, die diese jeweils selbst zu entscheiden haben.
Ich kritisiere nicht, wie das andere tun. Wir haben dafür im Laufe der Geschichte unterschiedliche Verfahren gehabt. Bei uns ist das Verfahren gegenwärtig ein höchst demokratisches Verfahren, nämlich Auswahl und Wahl durch das Gremium Bundesvorstand und Bundestagsfraktion gemeinsam.Auch die anderen Fraktionen haben unterschiedliche Verfahren praktiziert. Ich erinnere beispielsweise an die Wahl des Bundeskanzlerkandidaten 1966 innerhalb der CDU/CSU-Fraktion. Damals gab es vier Kandidaten; bei uns gab es jetzt nur drei. Und da ging es um den Bundeskanzler, um eine noch wichtigere Position; das ist auch nicht bestritten worden. Natürlich hat der Bundespräsident dann den Kanzlerkandidaten vorgeschlagen, von dem er erwartet hat, daß er die Aussicht hat, die Mehrheit im Hause zu gewinnen. Das ist ja auch seine Aufgabe.Ich erinnere beispielsweise daran, wie Ihr früherer Bundeskanzler Helmut Schmidt seine Persönlichkeiten benannt hat. Da hat es vorher keine Abstimmungen gegeben. Jeder kann werten, wie er das für richtig hält. Wir halten ein demokratisches Verfahren für das richtigere Verfahren; denn es ist in einem Parlament der Königsweg, ein demokratisches Verfahren vorzunehmen.
Ich weiß natürlich, daß viele Kolleginnen und Kollegen ein bißchen neidisch nach uns gucken;
denn sie würden auch gerne wählen.
Aber das ist nun Ihre Entscheidung. Wir sind nur für unser Verfahren verantwortlich.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In letzter Zeit häufen sich Vorkommnisse, an denen der bedenkliche Stand unserer politischen Kultur abgelesen werden kann. Ein Minister muß seinen Posten verlassen, weil er sich moralisch diskreditiert hat. Mehr als eine Woche füllt dieser recht alltägliche Vorgang die Spalten der maßgebenden Zeitungen, die Kommentare unserer Medien. Zur gleichen Zeit wird eine Verfassungsbeschwerde in ihren Rechten gekränkter Rentner mit der Begründung abgewiesen, diesen über 80- und 90jährigen sei ja wohl der Rechtsweg über die Sozialgerichte zumutbar. Kein Wort, kein Kommentar zu den schlaflosen Nächten, zu der Bitternis der Kränkung einer solchen Form der Abweisung. Ein Beispiel für unsere Art politischer Kultur.Das nächste folgte auf dem Fuße: Der Generalsekretär der Vereinten Nationen erweist unserem Lande die Ehre seines Besuches. Die Bundesregierung hat ihm nichts zu sagen darüber, was denn der deutsche Beitrag zu einer Friedensverfassung dieses von Selbstzerstörung bedrohten Planeten sein könne. Warum hatte sie nichts zu sagen? — Weil sich zwei Parteien nicht einig waren. Das ist unsere Art politischer Kultur.Das letzte Beispiel, das ich erwähnen will, ist das trivialste, aber auch das bestürzendste: Ein Mitglied der Regierung schreibt ungeniert Werbetexte für eine ganz bestimmte Firma und versendet private Kündigungsschreiben auf amtlichen Kopfbögen mit dem Bundesadler. Auf die öffentliche Kritik an diesen Vorgängen antworten Parteivorsitzender und Bundeskanzler mit witzigen oder brummigen Bemerkungen des Inhalts, das sei doch allgemein üblich. Das also ist unsere politische Kultur: daß die Höchstverantwortlichen unseres Staates die gleichen Werbechampions wie unsere buntgefleckten Sportler sind,
nur mit dem Unterschied, daß sie die Logos ihrer Geschäftsfreunde nicht im Knopfloch, sondern dezent in der Briefmappe tragen.
Sie haben also ein gutes Recht, alle mit Fingern aufeinander zu zeigen.Woher diese Art politischer Kultur kommt, dazu hat der Herr Bundeskanzler in seinem an den F.D.P.- Vorsitzenden gerichteten Brief zwei bemerkenswerte Wahrheiten gesagt: Das Ernennungsrecht des Bundespräsidenten und das Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers stünden nicht zur Disposition einzelner Parteien oder Fraktionen. Man kann nur sagen: Wie wahr! Natürlich steht das alles nicht zur Disposition einer einzelnen Partei, weil die deutschen Parteien zusammen das ganze Grundgesetz samt seinen Grundrechten als ihre alleinige Dispositionsmasse betrachten.Die Absprachepraktik der Parteien ändere nicht die verfassungsrechtliche Lage, sagt der Herr Bundeskanzler. Abermals ins Schwarze getroffen. Sie ändert nicht, aber sie widerspricht der verfassungsrechtlichen Lage, die den Parteien nur ein Mitwirkungsrecht
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11254 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Dr. Wolfgang Ullmannim politischen Willensbildungsprozeß zuspricht, jedoch nicht die Alleinherrschaft über ihn.Meine Damen und Herren von der Koalition, was gedenken Sie den Bürgern und Bürgerinnen zu antworten, die Sie danach fragen, wie lang das noch so weitergehen soll mit einem Personal- und Postentauschspiel, in dem immer größere Teile der Gesellschaft etwas wie politische Willensbildung schlechterdings nicht mehr zu erkennen vermögen.Oder werden Sie danach gar nicht gefragt? Ich jedenfalls werde fortwährend in Berlin und anderswo auf der Straße angesprochen und muß diese Frage beantworten.Es kann so nicht weitergehen. Das muß ich von hier aus sagen. Darum appelliere ich an Sie alle, meine Damen und Herren: Lassen Sie uns die zweite Hälfte dieser Legislaturperiode eröffnen und auch durchstehen, indem wir Schritte tun, die der deutschen Öffentlichkeit zeigen, daß wir in einer andere Richtung gehen wollen! Lassen Sie uns neue Regelungen zur Diätenfrage finden und eine Regelung des Verbots der Abgeordnetenbestechung, die der Öffentlichkeit zeigt, wie ernst wir in dieser Sache über unsere eigene Glaubwürdigkeit denken!
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja. Entschuldigen Sie. Ich bin sofort fertig. Ich muß aber noch eines sagen.
Lassen Sie uns der Öffentlichkeit zeigen, was eine Regierung kann, indem sie nach Berlin kommt, nicht um dort Baupläne teils aufwendiger, teils rückständiger Art zu begutachten, sondern um dort zu arbeiten, wo man sehen kann, was geschehen muß, damit wir nicht ein Parteienerbhof werden, —
Herr Kollege!
— entschuldigen Sie —, sondern eine lebendige Demokratie bleiben!
Bei Fünf-Minuten-Reden ist eine Minute, die überzogen wird, eine Menge.
Ich erteile das Wort dem Stellvertreter des Hessischen Ministerpräsidenten, dem Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten, Staatsminister Joseph Fischer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Herr Präsident, für die umfängliche, ausführliche und präzise Vorstellung.
Meine Damen und Herren, wenn man der heutigen Debatte zuhört, vor allem Ihrem Beitrag, Herr Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion,
dann muß man sich natürlich fragen,
wie und wieweit Sie bereit sind, die Realität in diesem Land wahrzunehmen.
Ich rate Ihnen dringend die letzte Rede, die Ihr Parteifreund, der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, im Bundesrat gehalten hat, zur Lektüre an.
Aus den Ländern schaut man zunehmend verwundert und entsetzt auf Bonn. Deswegen habe ich mich hier zu Wort gemeldet.,,Politikverdrossenheit" ist das Wort des Jahres 1992 hier in Deutschland geworden. Nachdem ich Ihre Form von Politikverdrängung und Verdrängung haarsträubender Zustände heute hier mitbekommen habe, Herr Rüttgers, muß ich sagen: Das wird vermutlich das Wort des Jahres auch 1993 bleiben.
Denn das, was wir gegenwärtig in der Frage des Zustandes der Bundesregierung und dessen, was sie an Politik vorgibt, erleben, geht allmählich über Politikverdrossenheit hinaus und birgt die Gefahr in sich, daß es zu einer Systemverdrossenheit kommt, was ich sehr schlimm fände.
— Nein, das hätte ich überhaupt nicht gern, sondern das Gegenteil hätte ich gern.
Ich bin der letzte, der etwas gegen eine harte, faire Konfrontation in der Sache hat.
Aber bei dem, was Sie gegenwärtig an Politikverdrossenheit produzieren und was Sie gleichzeitig in dem vergeblichen Bemühen gravierende politische Fehler zuzudecken, an katastrophalen Vorschlägen von der Spitze her produzieren, kann ich Ihnen nur sagen:
Da fürchte ich, daß aus Politikverdrossenheit Systemverdrossenheit wird. Wer glaubt, eine vermurkste Einheitspolitik, für die der Bundeskanzler die Verantwortung hat, auf den Knochen der Ärmsten der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11255
Staatsminister Joseph Fischer
Armen, der Sozialhilfeempfänger, finanzieren zu können,
der betreibt eine Politik, die letzten Endes die Rechtsradikalen, die Schönhubers und andere stärken wird. Das kann man doch allen Ernstes nicht wollen.Wer sieht, wie auf der einen Seite eine Bundesbauministerin als Privatperson auf offiziellem Papier Entmietung betreibt, und auf der anderen Seite die Augen vor den katastrophalen Zuständen bei Mieten und Wohnungsnot in Ballungsgebieten, mehr und mehr aber auch auf dem flachen Land, verschließt und nicht sieht, daß hierin eine der Hauptgefahren und auch enormer sozialer Sprengstoff liegt, der scheint offensichtlich schon gewaltig an Realitätsverlust zu leiden.
Wir erleben eine Entindustrialisierung in den neuen Bundesländern, in den jungen Bundesländern — egal, wie Sie die nennen wollen —, die zu schlimmen Konsequenzen führen wird.Wir erleben demgegenüber gleichzeitig ein Possenspiel unter dem Gesichtspunkt: Wie finanzieren wir die Einheit? Da wurde der Solidarbeitrag eingeführt. Nach einem Jahr wurde er abgeschafft, obwohl alle im Regierungslager hinter vorgehaltener Hand sagten: Es ist Blödsinn, ihn abzuschaffen. — Jetzt soll er wieder eingeführt werden. Welche Politikklugheit steckt denn dahinter?Wir haben erlebt, daß, als von Subventionsabbau gesprochen wurde, mit dem Rücktritt gedroht wurde. Wäre Herr Möllemann deswegen zurückgetreten, so würde er vermutlich in Ehren wiederkommen.
Statt dessen hat der auf die Technologielücke bei der Chipproduktion gesetzt, nicht wahr
— mit den Konsequenzen, die wir erleben konnten.
— Nein, nein. Es mag ja sein, daß ich etwas von Kartoffelchips verstehe. Wenn man die ißt, mein verehrter Herr, muß man zumindest nicht zurücktreten. Das wollen wir ja mal festhalten.
Ich werde mitnichten hier jetzt irgendwelche Herstellernamen nennen, obwohl sie mir auf der Zunge liegen. Auch dies werde ich nicht tun.Das alles ist im Grund genommen überhaupt nicht zum Lachen, auch wenn es mehr zur Posse gerät: diese Kabinettsumbildung.Die Kritik, verehrter Herr Kollege Solms, geht doch nicht allen Ernstes in der Öffentlichkeit darum, daß eine Regierungsfraktion nicht das Auswahl- und Vorschlagsrecht hätte. Warum aber ist dieses Verfahren in Verruf geraten, verehrter Herr Kollege Solms? Darf ich Sie an die Genscher-Nachfolge oder an die „Bild" -Zeitungs-Schlagzeile erinnern, die es damals gab? Ich erspare mir, sie hier zu zitieren.
Darf ich Sie vielleicht erinnern, daß es etwas mit den ausgewählten Kandidaten zu tun hat?
Liegt es vielleicht daran, daß die Kritik nicht am Verfahren dergestalt stattfindet, daß der F.D.P. vorgeworfen wird, daß sie ein demokratisches Verfahren gewählt hat, sondern daß ihr vorgeworfen wird, daß sie im Festhalten an einem Erbhof offensichtlich nicht in der Lage ist, qualifizierte Kandidaten in diesem Verfahren vorzuschlagen.
Das alles kann man gleich an die CSU weitergeben, nicht wahr.
— Bitte schön: Da wundert man sich, wenn man in einem Bundesland Verantwortung trägt, daß nach wie vor der Bundesfinanzminister offensichtlich als die größte Errungenschaft konservativer, solider ausgabenbegrenzender Finanzpolitik gilt, während er in Wirklichkeit als der größte Schuldenmajor in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen wird.
Und der neue Postminister — um das einmal klarzumachen —, zeichnet sich ja durch eine unglaubliche Kompetenz in diesem Gebiet aus. Da ist er ja bisher aufgefallen. Ich nehmen an, er weiß, welche Briefmarke er wohin kleben muß.
Aber ansonsten wird man bei dem Kollegen Bötsch schwerlich eine Beziehung zu dem komplexen Problem Bundespost feststellen können.
Ich sage Ihnen auch aus der Sicht der Länder: Natürlich haben wir ein großes Interesse daran, daß die zweite Stufe der Postreform nicht in Dilettantismus versinkt, sondern daß diese zweite Stufe der Postreform zu tragfähigen Kompromissen geführt wird.Das alles sind Dinge, die Sie offensichtlich verdrängen zu können glauben.
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11256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Staatsminister Joseph Fischer
Hinter dem Ganzen steht meines Erachtens zunehmend ein Ausblenden dessen, was hier im Land tatsächlich vor sich geht.Die schlimmen, die tragischen Ereignisse, dieser gewaltsame Ausbruch des Rechtsradikalismus müssen doch das letzte Warnsignal für die Koalition gewesen sein, daß es so nicht weitergehen kann.Ich weise Sie auf dem Hintergrund der Lage in Gemeinden und Ländern nochmals darauf hin, in welcher Situation wir sind. Wenn Sie jetzt glauben, die Einheit und die Haushaltsfinanzierung nach der Methode der F.D.P. betreiben zu können, nämlich im wesentlichen die unteren Einkommensgruppen dafür bezahlen zu lassen, dann säen Sie hier in Deutschland eine Zwietracht, die zu schlimmen Konsequenzen führen wird.
Und die dürfen wir auf keinen Fall zulassen, meine Damen und Herren.Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie: Es kann nicht angehen, daß nur die sozial Schwachen für die politischen Fehler der Regierung Kohl/Möllemann bezahlen müssen. Das kann doch allen Ernstes nicht wahr sein. Das ist unter demokratischen Gesichtspunkten nachgerade eine selbstmörderische Strategie, die Sie nicht einschlagen dürfen. Deswegen wird es jetzt darauf ankommen, daß Sie nicht länger die Realität in diesem Lande ausblenden.Wenn man sich die Vorschläge im Zusammenhang mit der Kabinettsumbildung anschaut, spricht eigentlich relativ wenig dafür, daß Sie dies tun. Daher, Herr Kollege Rüttgers, finde ich Ihren Beitrag heute schon verräterisch, wie Sie angesichts einer Krise der Regierung glaubten, die Sozialdemokraten wieder mit dem Knüppel „Asyl" bearbeiten zu müssen.
Sie haben kein Wort dazu gesagt, daß die Kritik an der Akzeptanzkrise Ihrer Wirtschaftspolitik letztendlich aus den Reihen der Wirtschaft kommt. Es waren doch nicht Zeitungen, die den Sozialdemokraten oder dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahestehen, sondern es waren konservative Wirtschaftsblätter, die kein gutes Haar mehr an der Wirtschaftspolitik und am Wirtschaftsminister gelassen haben.
Das war doch auch der eigentliche Grund des Rücktritts! Der eigentliche Grund des Rücktritts war diese liefe Krise des Vertrauens in die wirtschaftliche Kompetenz dieser Bundesregierung seitens ihrer eigenen Klientel, seitens der deutschen Wirtschaft. Und dazu sagen Sie kein Wort!Was uns auch und gerade im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik und den zukünftigen schweren Entscheidungen, die Bund, Länder und Gemeinden betreffen, interessieren würde, wäre in der Tat, ob Sie glauben, mit diesem Vorschlag die Akzeptanzkrise beheben zu können. Daß er sehr umstritten ist, kann man verschiedenen Blättern, aber auch Äußerungen innerhalb der Koalition entnehmen. Wie Sie gegenwärtig schauen, sind Sie eher vom Gegenteil überzeugt, verehrter Herr, nämlich davon, daß es mit dieser Akzeptanzkrise weitergehen wird.
Aber da hört es auf mit dem Spaß, denn das heißt, daß es weitergehen wird mit der Entindustrialisierung im Osten, mit der galoppierenden Staatsverschuldung, mit Mietpreisexplosion und dramatisch sich zuspitzender Wohnungsnot. Das alles wird dies heißen.Deswegen möchte ich nochmals an Sie appellieren, nicht länger die Realität in diesem Lande auszublenden. Die Politik, die Sie zu verantworten haben, treibt dazu, daß dieses Land aus dem Ruder läuft, und das hat schlimme Konsequenzen.Ich möchte Sie auffordern, endlich die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Struck.
Frau Präsidentin! Der Vertreter des Bundesrates, Herr Minister Joseph Fischer, hat eben mehr Redezeit, als in einer Aktuellen Stunde vorgesehen ist, gebraucht.
Ich beantrage deshalb gemäß Anlage 5 Ziffer 7 unserer Geschäftsordnung, den § 44 Abs. 3 der Geschäftsordnung anzuwenden und damit eine allgemeine Aussprache zu eröffnen.
Meine sehr geehrten Herren und Damen! Darf ich um ein kleines bißchen Ruhe bitten. Es trifft zu, daß Herr Staatsminister Fischer länger als zehn Minuten, nämlich zwölf Minuten, gesprochen hat.
Nach der hier gestoppten Zeit waren es zwölf Minuten und zehn Sekunden, Herr Abgeordneter.Die Fraktion der SPD hat nach den Richtlinien für die Aktuelle Stunde in Verbindung mit § 44 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung verlangt, daß über diese Ausführungen die Aussprache eröffnet wird.Ich schließe damit die Aktuelle Stunde und eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11257
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Hans-Ulrich Klose, hat eingangs der soeben abgeschlossenen Aktuellen Stunde die Frage gestellt: Wo ist die Bundesregierung?
Ich schaue nach rechts und stelle erstens folgendes fest, meine Damen und Herren: Der Deutsche Bundestag diskutiert über die Geschehnisse in Deutschland, über Skandale in der Bundesregierung, und diese bringt es fertig, mit keinem auf Dauer amtierenden Minister dieser Debatte zu folgen, sondern mit einer Reihe von Staatssekretären, von denen der CDU-Abgeordnete Ost uns über die Presse wissen ließ, daß von ihnen die Hälfte überflüssig sei, meine Damen und Herren.
Zweitens. Der CDU-Abgeordnete Rüttgers bringt es fertig, in einer Debatte über die Politik der Bundesregierung fünf Minuten über die SPD zu reden. Warum? Weil selbst dem CDU-Abgeordneten Rüttgers über seine Bundesregierung nichts mehr einfällt, meine Damen und Herren.
Drittens. Herr Kollege Solms, Sie haben uns soeben erklärt, es gehe bei Herrn Rexrodt um einen Versprecher. Ich darf Sie fragen: Wenn es um einen Versprecher ging, hätte es doch dem Koalitionspartner F.D.P. möglich sein müssen, dem Bundeskanzler diese sie berührende Situation in einem einfachen mündlichen Gespräch deutlich zu machen. Ich frage Sie: Was animiert denn nun den Bundeskanzler, wenn das alles so einfach ist, wenn das der parlamentarische Königsweg ist, Ihrem Parteivorsitzenden einen Brief zu schreiben, weil er sich veranlaßt sieht, die F.D.P. an die Verfassungslage zu erinnern?
Sind Sie nicht auf die Idee gekommen, daß Ihre Fraktion sich hier möglicherweise jenseits der Bildung einer Meinung Dinge geleistet hat, die sich ein Bundeskanzler nicht mehr bieten lassen konnte? Wenn dann die Opposition im Deutschen Bundestag ein solches Verfahren, gegen das sich der Regierungschef öffentlich brieflich zur Wehr setzt, parlamentarisch aufarbeiten will und keiner von dieser Regierung es nötig hat, dem zu folgen, dann muß ich Ihnen sagen: Das ist wirklich ein Verfall parlamentarischer Sitten, meine Damen und Herren.
Ich will das mit unverdächtigen Zeitzeugen belegen. Der der CDU/CSU nun wirklich nahestehende Journalist Peter Boenisch
beruft sich in seiner Kommentierung des Zustandes der Bundesregierung in diesen Tagen auf die der CDU nahestehende — so Boenisch — FAZ. Er läßt uns folgendes wissen: Wenn einer in einer regierungsfreundlichen Zeitung — nämlich der FAZ — auf Seite 1 gleich dreimal auf die Bundesregierung eindrischt, dann ist das wie Fliegeralarm im Regierungsviertel!
Meine Damen und Herren, es gibt zur Zeit keine Zeitung in Deutschland, die sich nicht wegen Ihres Zustands Sorgen um das Land macht. Und diese großen Koalitionsfraktionen kommen hierhin und erklären uns, es gebe keine Probleme. Sind Sie eigentlich nicht mehr in der Lage zu empfinden, was die Menschen, damit auch die parlamentarische Opposition und die Vertreter des Art. 5 unserer Verfassung, die Journalisten, in Deutschland bewegt?
Wie weit sind Sie eigentlich abgehoben, daß Sie dafür kein Gespür mehr entwickeln können?
Meine Damen und Herren, Massenentlassungen, Kurzarbeit, Massenarbeitslosigkeit sind die am häufigsten benutzten Vokabeln, mit denen man zur Jahreswende die Lage am Arbeitsmarkt charakterisierte. „Entindustrialisierung" hieß das Stichwort zur Beschreibung der Lage in Ostdeutschland — Ergebnis einer Politik, die die Bundesregierung den Menschen als „Aufschwung Ost" weismachen will. Mit dem Wort „Chaos" beschreibt nicht nur die Fachwelt die Finanz-und Steuerpolitik der Koalition. Die Menschen empfinden sie als sozial ungerecht und einseitig.Es gibt kein Themenfeld mehr, bei dessen Charakterisierung der regierungsamtlichen Politik selbst die der Koalition nahestehende Presse nicht zu ähnlich dramatischen Worten greift.Es ist doch offenkundig, daß die Bundesregierung am Ende ist. Es ist offenkundig, daß sie gestaltungsunfähig ist. Sie löst nicht mehr die Probleme, sondern wird von den Problemen getrieben.Die Koalition — so schrieb die „Süddeutsche Zeitung" bereits vor einigen Wochen — ist zerrüttet bis ins Mark. Gegenseitiges Mißtrauen ist die vorherrschende Haltung in diesem Kabinett. Die drei Koalitionsparteien beschwören Solidarität, statt sie zu praktizieren.Der überfällige Rücktritt des Bundeswirtschaftsministers war für mich nur der traurige Höhepunkt einer seit langem zu beobachtenden Entwicklung. Es ging ja nicht mehr allein um Herrn Möllemann; es ging, wie Herr Fischer richtig gesagt hat, um die Qualität und um das, was sich dahinter verbirgt. Die Sache mit Herrn Möllemann war, so gesehen, nicht nur ein Name, sondern es war ein Symbol der Politik dieser Regierung. Oder man könnte es auch wie Robert Leicht in der „Zeit" treffend ausdrücken: „Karrieren als Höhenflüge in der Thermik selbsterzeugter Winde".
Meine Damen und Herren, längst geht es nicht mehr darum, bei der Besetzung von Ministerämtern die
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11258 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Rudolf Dreßlerbeste Frau oder den besten Mann zu finden. In den Koalitionsfraktionen herrscht vielmehr Beutementalität. Die Partei, die in Kungelrunden einen Posten erbeutet hat, verteidigt ihn mit Klauen und Zähnen, selbst wenn sie ihn gar nicht angemessen besetzen kann. Wen wundert's, wenn in dieser Regierung politische Nonvaleurs den Ton angeben!Ich sage Ihnen: Zu Zeiten Ludwig Erhards und Karl Schillers hätte es jeder Wirtschaftsfachmann als Ehre angesehen, zu deren Nachfolger ins Wirtschaftsministerium berufen zu werden. In Zeiten der Bangemänner, der Hauss- und Möllemänner dient es als Ausweis der Seriosität, einen solchen Ruf abgelehnt zu haben!
Deshalb braucht unser Land endlich einen neuen Anfang. Es wäre gut, wenn Sie den Weg dafür freimachen und Ihr Mandat an die zurückgeben würden, die es Ihnen anvertraut haben.
Als nächstes hat Bundesminister Bohl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte wird ja sehr wortreich geführt. Von Herrn Staatsminister Fischer ist gesagt worden, daß sein Verzehr an Kartoffelchips bisher noch nicht dazu geführt habe, daß er zurückgetreten sei. Das mag sein. Aber, wenn ich mir diese Anmerkung erlauben darf, Herr Kollege Fischer — man kann das ja von dem Platz dort etwas besser sehen —: Sie müßten zwar vielleicht nicht zurücktreten, wenn Sie hier vorn stehen, aberSie standen in vergangenen Zeiten auch schon näher am Rednerpult, wenn Sie hier gesprochen haben.
Herr Fischer, das sollte eine gewisse Auflockerung in die Debatte bringen. Wenn das nicht gelungen sein sollte, dann bitte ich um Nachsicht.
Herr Kollege Fischer, ich wollte Sie heute besonders loben, als Sie hier zum Rednerpult schritten. In Ihrem Buch „Die Linke nach dem Sozialismus", in Hamburg im Jahre 1992 erschienen, haben Sie geschrieben:Der Konsumkapitalismus ist die realisierte und bisher erfolgreichste Utopie der Moderne von der Machbarkeit der Welt, und ohne jeden Zweifel war er gegenüber dem moralisierenden Sozialismus die intelligentere Variante.Ich wollte sagen, daß das doch ein großer Schritt nach vorn bei Ihnen ist. Mit dem, was Sie hier gesagt haben, haben Sie mich allerdings doch wieder ein wenig enttäuscht, weil das, was Sie hier ausgeführt haben, eigentlich doch nicht der Wirklichkeit entsprach, insbesondere nicht dem, was in Ihrem eigenen Land Hessen, auf das Sie hin und wieder abgehoben haben, politische Wirklichkeit ist. Wenn Sie sagen, Sie hätten wegen der großen Sorgen, die die Länder sich machen, heute hier das Wort ergriffen, dann scheint es doch eher so zu sein, daß Sie gar nicht im Lande Hessen bleiben wollen. Sie haben doch angekündigt, im Jahr 1994 für den Bundestag zu kandidieren. Das ist ein Teil der Aktion zur Rückkehr in den Deutschen Bundestag. Also, bitte, bleiben Sie doch bei der Wahrheit!
Zu dem, was Sie jetzt zum Haushalt gesagt haben, muß ich Ihnen sagen: Wie können Sie hier beklagen, daß die Haushaltslage des Bundes so sei, wie sie ist, wenn Bund und Länder im Finanzplanungsrat besprochen haben, daß der Bundeshaushalt um 2,5 % und die Länderhaushalte um 3 % steigen sollen, aber in dem Land, in dem Sie Verantwortung tragen, die Zuwachsrate nicht 3 %, sondern 5,8 % beträgt? Bevor man also hier Vorwürfe erhebt, sollte man doch erst einmal die eigenen Schulaufgaben machen!
Das zweite: Sie haben hier so großartig geäußert, man müsse gegen den Rechtsradikalismus vorgehen, es müsse hier entschiedener durchgegriffen werden. Herr Kollege Fischer, das ist sehr richtig. Nur frage ich mich dann, warum z. B. der Verfassungsschutz im Lande Hessen so ausgedünnt wurde wie geschehen. Sie müssen doch dann erst einmal die Voraussetzungen dafür schaffen, daß der Rechtsradikalismus vom Verfassungsschutz auch entschieden angegangen werden kann.
Wenn Sie den Verfassungsschutz so ausdünnen, haben Sie keine Berechtigung, sich hier heute so hinzustellen.
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Bundesminister Friedrich BohlIch muß Ihnen auch sagen — auch das will ich Ihnen nicht ersparen —: Wenn Sie von Qualifikationen von Bewerbern für Ämter sprechen und davon reden, nun müsse Sorge dafür getragen werden, daß immer nur die Besten eingestellt werden und auch keine Vetternwirtschaft betrieben wird, dann stimme ich dem zu. Aber daß z. B. die Berufung des ehemaligen Kollegen Kleinert in den Verantwortungsbereich Ihres Landes diesen Kriterien entspricht, wird keiner behaupten können.
Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen.
— Herr Duve, es kommt doch nicht auf den Kehlkopf an, sondern auf den Kopf!
Meine Damen und Herren, es ist — —
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gansel?
Im Moment nicht; wenn ich etwas weiter bin, komme ich gern darauf zurück.
Meine Damen und Herren, es ist ja ganz offensichtlich gestern von der SPD nach einer quälenden Fraktionssitzung dies, was nun heute veranstaltet wird, geplant worden. Es ist ja vorher schon durchgesickert, daß Herr Fischer länger sprechen würde. All das war ja durchaus geplant.
Wenn das so ist, dann werden Sie uns sicherlich abnehmen — —
Darf ich um ein kleines bißchen Ruhe bitten?
— und uns sicherlich auch nicht verwehren, auf diesen Sachverhalt hinzuweisen und zu bezweifeln, daß Ihr Anliegen, das Sie hier vortragen, wirklich ehrlich gemeint ist.Was die Vorwürfe, die z. B. Kollege Ullmann hier vorgetragen hat, anbelangt, möchte ich doch folgendes sagen.Punkt 1: Er behauptet, wir hätten bei dem Besuch des Generalsekretärs der UNO nicht deutlichgemacht, was diese Bundesregierung z. B. für Somalia tun will. Er stellt eine wahrheitswidrige Behauptung auf, um sich anschließend moralisch darüber zu entrüsten, daß diese Bundesregierung nicht bereit sei, gegen das, was in dieser Welt an Schlimmem geschieht, auch ihren hilfreichen Beitrag zu leisten. Es ist schlicht und einfach die Unwahrheit, und das verrät natürlich Methode, die Methode, die Sie hier betreiben.Es ist so, daß diese Bundesregierung vor Weihnachten einen Beschluß gefaßt hat, in dem niedergelegt ist, daß wir den Vereinten Nationen für die Aufgaben in Somalia ein Kontingent von 1 500 Soldaten anbieten. Dieses Angebot ist von der UNO geprüft und angenommen worden. Das, was Sie gesagt haben, stimmt also einfach gar nicht. Das Gegenteil ist der Fall.Das zweite, was Sie gesagt haben, ist, die Bundesregierung, der Bundeskanzler hätten sinngemäß gesagt, daß das, was an Bewerbungs- oder Empfehlungsschreiben oder was auch immer in der Welt ist, sozusagen nicht korrekt sei, aber es sei allgemein üblich, und damit sei es gut. Auch das ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen.Richtig ist, daß der Bundeskanzler und andere darauf hingewiesen haben, daß es sich bei dem, was hier angesprochen wird, um übliche Verfahren und Schreiben handelt. Aber die erste Behauptung, die Sie aufgestellt haben, das verstoße gegen Verhaltensrichtlinien oder sei strafbar oder moralisch zu verwerfen, stimmt einfach nicht. Warum operieren Sie in dieser doch so anfechtbaren Weise? Auch das macht deutlich, daß es Ihnen eigentlich gar nicht um die Sache geht, sondern Sie hier Klamauk machen wollen.
Wenn wir das Schreiben, das z. B. der Ministerpräsident Lafontaine verwandt und das bei dem Untersuchungsausschuß im Saarländischen Landtag eine Rolle gespielt hat, als Maßstab heranziehen, dann muß ich ganz offen sagen, daß das sicherlich weit über das hinausgeht, was Sie in den letzten Tagen hier attackieren.
Ich muß Ihnen auch sagen: Es ist der Bundesbauministerin nach meiner festen Überzeugung hier gar nichts vorzuwerfen.
Sie hat sich in geeigneter Weise darum bemüht, für Investitionen im Baubereich — um die geht es ja — zu werben. Wenn sie in dem Schreiben ausführt,
die Germania kann Hilfe leisten, und wenn die deutsche Sprache noch einigermaßen die Grundlage für unsere Kommunikation ist, dann kann man ihr daraus wirklich keinen Strick drehen.
Ich muß sagen, ich finde es wirklich sehr, sehr merkwürdig, daß Sie sich hier aufknöpfen.
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11260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Bundesminister Friedrich BohlWenn man sieht — der Bundeskanzler hat ja schon darauf hingewiesen —, wie in anderer Weise durch Mitglieder der SPD z. B. für die Neue Heimat geworben wurde, dann muß ich ganz einfach sagen: Was Sie hier an Empörung praktizieren, ist schlicht und einfach scheinheilig.
Herr Minister, sind jetzt Zwischenfragen möglich? — Der Herr Kollege Büttner hätte eine Zwischenfrage.
Ich würde nun gerne erst die Zwischenfrage des Kollegen Gansel beantworten.
Ja. — Kollege Gansel.
Das ist gut, denn meine Zwischenfrage paßt in allen Phasen Ihrer Rede. Sind Ihre schwachen Ausführungen, für die Sie ja deshalb keine Entschuldigung haben, weil Sie behaupten, Sie hätten schon gewußt, wie das jetzt ablaufen würde,
dadurch zu erklären, daß Sie versuchen, die Zeit zu überbrücken, bis ein amtierender Bundesminister der Bundesregierung zu uns kommen kann?
Herr Kollege Gansel, ich will nicht unbescheiden sein, aber zu Ihnen spricht ein amtierender Bundesminister.
— Herr Kollege Dreßler, bitte, ich bin da wirklich ohne jede Eitelkeit, aber wenn Sie dem Redner absprechen, Bundesminister zu sein, und das, verehrter Herr Dreßler, durch verschiedene Zwischenfragen noch einmal tim, dann sind Sie nicht informiert. Es ist eigentlich schade, daß Sie eine Regierung attackieren, deren exakte Zusammensetzung Sie noch nicht einmal kennen. Das ist eigentlich sehr zu bedauern.
Herr Minister, ist jetzt auch noch die zweite Zwischenfrage vom Kollegen Büttner von Ihnen zugelassen? — Bitte, Kollege Büttner.
Herr Staatsminister, darf ich aus Ihren bisherigen Ausführungen schließen, daß Sie das Wort „Würde" nur noch als Konjunktiv kennen?
Ich muß gestehen, ich habe die Frage einfach akustisch nicht verstanden.
Herr Kollege Büttner, ich habe es auch nur halb verstanden. Würden Sie die Frage bitte wiederholen?
Darf ich aus Ihren bisherigen Äußerungen schließen, daß Sie das Wort „Würde" nur noch als Konjunktiv kennen?
Ich komme zu dem nächsten Punkt, den ich mir hier vorgenommen habe. Kollege Dreßler, ich muß Ihnen sagen, es ist doch eigentlich schon merkwürdig, wenn Sie hier behaupten, hier habe niemand den Ernst der Lage dargelegt. Kollege Solms hat hier ausdrücklich ausgeführt, daß er Herrn Klose bestätige, daß es sich um schwere Zeiten handle und daß wir dazu auch als Parlament und als Regierung gemeinsam gefordert sind. Er hat die Einladung zum Solidarpakt gerade auch aus dieser Erkenntnis heraus begründet.Da muß ich sagen, daß es einfach nicht korrekt ist, hier falsche Prämissen aufzubauen, um dann dagegenzuschlagen. Das nennt man in der Tat „einen Türken aufbauen" .Wenn Sie, Herr Kollege Dreßler, in bewährter Manier hier davon sprechen, daß die Attacke auf den Sozialstaat erfolge, dann muß ich Ihnen sagen: Es wird ja ganz vernünftig über diese Frage gesprochen, wo Einsparungen möglich sind, auch darüber, wo sie notwendig sind. Natürlich kann man dann in der Gewichtung und Wertung zu unterschiedlichen Auffassungen kommen. Aber es ist doch im bisherigen Verlauf der Gespräche so gewesen, daß man ganz vernünftig zusammengesessen und geprüft und abgewogen hat. Warum müssen wir denn solche Diskussionen von vornherein tabuisieren? Das ist doch das, was die Menschen draußen im Lande verzweifeln läßt — daß Schaukämpfe stattfinden, daß nicht an der Sache orientiert gemeinsam gearbeitet wird.
Das ist doch das Problem.
Nun muß ich hier noch einmal folgendes sagen, weil ja offensichtlich die heutige Debatte letztlich dazu dienen soll, daß wir generell über die Politik der Bundesregierung sprechen. Diese Bundesregierung will, daß wir zunächst möglichst zügig den Asylkompromiß hier im Deutschen Bundestag und anschließend im Bundesrat verabschieden. Der Bundesinnenminister hat dazu Formulierungsvorschläge auf der Grundlage des erzielten Kompromisses vorgelegt. Wenn Sie die Gespräche, die wir dazu erbitten, aus welchen Gründen auch immer nicht aufnehmen können, wird es eben eine Vorlage auf der Grundlage des gefundenen Asylkompromisses geben, die dem Hause zugeleitet wird.Wenn Sie kritisieren und sich darüber empören, daß irgend jemand heute nicht hier sei,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11261
Bundesminister Friedrich Bohldann frage ich mich, Herr Dreßler: Warum stand z. B. am 29. Dezember oder am 6. Januar, als wir Einladungen für Gespräche über die Umsetzung des Asylkompromisses ausgesprochen hatte, niemand von Ihrer Partei hier in Bonn für solche Gespräche zur Verfügung? Haben Sie den Urlaub höher gestellt als die Lösung von Sachfragen?
Das muß man doch auch einmal aussprechen.
Es wird also darum gehen, den Asylkompromiß, den wir mit Ihnen gefunden haben, jetzt schnell umzusetzen. Wenn von Ihnen — ich glaube, es war der Kollege Fischer — davon gesprochen wird, daß wir alles tun müssen, damit wir den Rechtsradikalen die Sache abgraben, dann müssen Sie eben an dieser Stelle auch helfen und dürfen die Dinge nicht treiben lassen. Das ist doch der entscheidende Punkt.
Das Zweite, um das es dieser Regierung geht, ist, daß möglichst schnell die Frage des Einsatzes der Bundeswehr geklärt wird. Dazu hatte ich vorhin schon bei den Ausführungen von Herrn Kollegen Ullmann etwas gesagt. Es hat heute in beiden Fraktionen — CDU/CSU und F.D.P. — eine Einigung gegeben. Wir werden dies umsetzen. Auch hier kommt es auf Sie an. Wir brauchen eine Verfassungsänderung, um diese Verfassungsklarstellung vorzunehmen. Sie sind eingeladen, daran mitzuwirken, damit die von Ihnen selbst beklagte Unsicherheit möglichst schnell beseitigt wird. Also: Auch in diesem Bereich handelt die Bundesregierung.Der dritte Punkt: Solidarpakt. Wir haben die Gespräche über den Solidarpakt begonnen. Es haben Gespräche mit den Gewerkschaften, mit den Wirtschaftsverbänden, aber auch mit der SPD und den Ländern stattgefunden. Es hat dazu klare Verabredungen gegeben. Diese Verabredungen halten wir auch ein.Im Rahmen der Solidarpakt-Gespräche ist die Sicherung der industriellen Kerne ein gemeinsames Anliegen von Gewerkschaften, Wirtschaft und Bundesregierung gewesen. Das ist von Herrn Wirtschaftsminister Möllemann im Kreise der versammelten Gewerkschafter vorgetragen worden, und es hat — vielleicht nicht in jeder Facette, aber im Prinzip — die Zustimmung der Gewerkschaften gefunden. Also ist dieser Bereich doch durchaus in einer Weise auf den Weg gebracht, mit der Sie zufrieden sein dürften. Jede Aufregung dazu ist völlig fehl am Platze.Meine Damen und Herren, so könnte ich jetzt Punkt für Punkt durchsprechen. Wir können uns über jeden Punkt, der ansteht, unterhalten. Ich bin der festen Überzeugung: Die Bürger draußen wollen, daß wir diese großen Herausforderungen gemeinsam lösen. Jedermann weiß doch, daß die Bundesregierung allein nicht in der Lage ist, den wirtschaftlichen Aufschwung in den alten und in den neuen Ländern zu ermöglichen, sondern daß dazu die Mitwirkung der Länder und der Kommunen erforderlich ist und daß die Tarifpolitik eine große Rolle spielt. Deshalb muß esdoch möglich sein, daß man sich darüber verständigt und miteinander spricht.Sie müssen davon ausgehen, daß die Koalition Ihnen in der nächsten Woche sozusagen ihr Gerüst des Solidarpakts präsentiert. Dann haben Sie die Möglichkeit, dazu ja oder nein zu sagen. Dann wollen wir sehen, inwieweit Sie bereit sind, an dieser großen Aufgabe mitzuwirken; dann kommt die Nagelprobe.
Ich glaube, daß wir deshalb nicht gut daran tun, das neue Jahr hier im Deutschen Bundestag sozusagen mit Klamauk zu beginnen.
Sie haben, Herr Kollege Klose, aber auch Kollege Dreßler, davon gesprochen, daß diese Regierung Ihr Vertrauen nicht habe.
Das hatte sie früher auch nicht; das kann uns nicht weiter erschrecken. Aber Sie dürfen wirklich davon ausgehen, daß diese Regierung auch nach der Regierungsumbildung mit Sicherheit, wie ich vorhin in der Regierungsbefragung schon sagte, das Vertrauen der Koalition von CDU/CSU und F.D.P. hat, daß diese Regierung und diese Koalition alles tun werden, im Interesse der Menschen in Deutschland den wirtschaftlichen Aufschwung bei Wahrung der sozialen Sicherheit erfolgreich zu betreiben, und daß diese erfolgreiche Politik eine gute Grundlage dafür ist, daß wir auch das Jahr 1994 als Koalition gut bestehen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Karl-Heinz Spilker.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß erst einmal tief durchatmen,
denn vor lauter Zuhören — —
— Lieber Herr Struck, das überlasse ich im Zweifel Ihnen.Zunächst einmal möchte ich auf einiges zurückkommen, was hier ausgetauscht wurde. Wenn ich mit Herrn Ullmann beginne, dann eigentlich deshalb, weil er sich so große Sorgen um dieses Parlament, um die Diäten, um die Problematik der Gesetzgebung, wegen Bestechung usw. macht. Herr Ullmann, ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die nach draußen gezielte
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11262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Karl-Heinz SpilkerBehandlung des so schönen Themas der Diäten sollten Sie hier einmal weglassen,
denn die, die Sie jetzt sehen und die Sie hören, stellen nach diesen Stunden der Debatte über einen Brief mit Recht die Frage, für was wir hier arbeiten, für was wir hier eingesetzt werden und für was wir unsere Zeit hier aufwenden.
Da habe ich nun ganz große Zweifel. Ich bin auch nicht hierher gegangen, um eine allgemeine Aussprache mitzugestalten oder mitzuführen, sondern ich bin hierher gegangen, um die Fragestunde mitzumachen. Als ich Herrn Fischer sah, habe ich mir gedacht: Jetzt bleibst du einmal vorsichtshalber hier; denn ich wußte ja gar nicht, ob er das schon realisieren wollte, was er vor einigen Wochen in Zeitungen bekanntgemacht hat, nämlich wieder zurück nach Bonn zu kommen. Er ist offensichtlich mit dem, was er in Hessen tut, gar nicht zufrieden.
Er will wieder zurückkommen, wenn auch in einer anderen Formation,
um seinen alten GRÜNEN die Rückkehr in dieses Haus zu ermöglichen. Das ist sein gutes Recht.
Aber schon heute hier anzukommen wird doch wohl einen anderen Grund haben, nämlich wahrscheinlich auf Bestellung seiner von ihm gewünschten künftigen Partner hier als, sagen wir einmal, Libero für diese Debatte aufzutreten, gut geplant und getreu seinen Fähigkeiten, die auf demagogischem Gebiet liegen; das müssen wir anerkennen.
So kam er dann auch als — so würde man beim Sport sagen — vorgezogener Libero hierher, mit all den Gefahren, wenn man das nicht so richtig kann wie der Beckenbauer, die damit verbunden sind. Da gibt es auch Gegentore, wenn man hinten zu viel öffnet.
Lieber Herr Fischer, Sie können sich darauf verlassen: Dazu ist unsere Fraktion immer geeignet gewesen. Auch wenn sie in dem einen oder anderen Fall vielleicht nicht so besonders zur Defensive vorbereitet ist, so haben wir doch in der Offensive eigentlich die besseren Erfolge gehabt. Das sollten Sie von mir, einem alten Hasen, zur Kenntnis nehmen.
— Gegen Gansel, oder?
— Lieber Herr Struck, ich habe Ihnen beim Aufzählen von Toren andere Fähigkeiten zugetraut. Aber wir beide wollen darüber nicht streiten, auch weil wir die Veranlagung, in der Fußballmannschaft des Bundestages zu spielen, nicht haben. Auch deshalb will Herr Fischer vielleicht zurückkommen. Da ist er natürlich zu Hause; das muß ich ehrlich sagen, und ich gönne ihm das.Jetzt aber müssen wir mit unserem Thema fertig werden, meine Damen und Herren, mit einem Brief. Wir reden über einen Brief
— das war der Ausgangspunkt; das können Sie mir nicht ausreden —, über den eigentlich alles gesagt worden ist,
einmal von dem, der ihn ausgelöst hat. Das war ohne Zweifel Herr Rexrodt, der sich entschuldigt hat. Damit ist die Sache, wie Herr Solms auch sagte, klargestellt. Wir reden über einen Brief des Bundeskanzlers, über den es nicht viel zu reden gibt.
— Der Kanzler sieht das nicht anders. Im übrigen ist es nicht meine Aufgabe, hier für den Kanzler zu stehen.
Aber ich muß Ihnen eines sagen: Was Sie hier reden, was Sie hier künstlich über Richtlinienpolitik herbeireden, das wissen die, die auf der anderen Seite dieses Hauses sitzen, genauso wie Sie. Es steht nämlich in der Verfassung. Das sind keine Neuigkeiten und auch keine Bewertungen, die es lohnen, hier stundenlang immer wieder von neuem ausgetauscht zu werden wie im ersten Semester an der Universität oder wie im achten Schuljahr in einer normalen Schulausbildung.
Wenn Sie sich dann hier ganz besonders Herrn Rüttgers vornehmen,
den Sie wahrscheinlich gar nicht oder nur wenig kennen und den ich sehr lange kenne und schätze, dann möchte ich eigentlich sagen: Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie sich vorgenommen haben.
— Lieber Herr Vogel, ich will Sie nicht an alte Münchener Zeiten erinnern,
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Karl-Heinz Spilkersondern beschäftige mich im Moment mit hessischen Realitäten.
— Wenn ich Ihnen darauf allgemein eine Antwort gebe, dann die: Sie wollen in einer bestimmten Formation 1994 gemeinsam hier antreten. Das haben Sie sich schon oft vorgenommen, und ich habe Ihnen von dieser Stelle schon oft auch persönlich gesagt: Sie werden sich hier zwar mit dem Mund Chancen erreden, aber die Realitäten, die Sie sich wünschen, werden Sie nicht schaffen, weil Sie dafür nicht die richtigen Voraussetzungen mitbringen.
Das Bild, das Sie hier mit dieser künstlichen Diskussion — es ist ja eine künstliche, herbeigeredete Diskussion — abgeben, bringt Sie diesem Ziel mit Sicherheit nicht näher.Herr Dreßler, ich hätte Sie fast vergessen. Sie wissen, daß ich Sie sehr schätze. Ich hoffe nicht, daß das für Sie eine Beleidigung ist.
— Das haben Sie mir mit Ihrer berühmten spitzen Zunge eben zwar nicht bewiesen, aber immerhin möchte ich Ihnen einen Rat geben. Ich habe, wie Sie wissen, bei Ihnen Freunde, die von mir manchmal auch einen Rat haben wollen. Auch ich hole mir manchmal einen Rat, weil ich es einfach als richtigen Stil empfinde, daß man sich gegenseitig Wahrheiten sagt, ohne daß das Fernsehen dabei ist und ohne daß Reporter in jeder Menge dabeistehen. Ich möchte Ihnen dies sagen, gerade in Anbetracht Ihrer Arbeit bei der Gesundheitsreform. Wenn man sich in bestimmten Grundsatzfragen verweigert, etwa beim Asyl
— einen Moment: ich rede von der Realisierung,
und dann wird Ihr Zwischenruf wohl etwas schwächer —, etwa beim Einsatz der Bundeswehr,
bei Fragen des Finanzausgleichs — ich könnte das jetzt beliebig erweitern, möchte das aber aus guten Gründen nicht —, dann kritisieren Sie eine regierende Partei oder eine Koalition bitte nicht in der Form, daß Sie sagen: Es geht nichts, es läuft nichts, es geschieht nichts.
Diese Legitimation — Herr Ullmann, das gilt für Siegenauso — haben Sie nicht. Die haben Sie verwirkt,weil Sie sich in jeder Stunde, wo es notwendig ist, oder schon im Vorfeld verweigern.
Wir wissen wie Sie, daß wir allein Verfassungsänderungen nicht machen können. Das wissen wir schon lange, das ist nichts Neues. Wir wissen wie Sie, daß wir zu vielen Fragen den Bundesrat brauchen und daß wir dort nicht die Mehrheit haben. Ist das denn ein Grund, mit extremen Forderungen — um alles kaputtzumachen, so muß ich schon sagen — einen Weg zu versperren, den wir gemeinsam gehen müssen, um unseren Bürgern zu helfen, doch nicht, um uns selbst in den Mittelpunkt zu stellen?
Das ist etwas, was ich nicht begreifen kann und will.Nun bin ich ja schon einige Zeit in diesem Hause; es sind weit mehr als 20 Jahre. Es tut mir aufrichtig leid, und ich habe dafür auch kein Verständnis, auch kein moralisches Verständnis, wenn Sie sich aus parteipolitischen Gründen, aus Gründen der Optik — fast hätte ich gesagt: der Reklame — in einem Punkt verweigern und damit anderen Menschen wehtun. Ich möchte das in diesem Augenblick nicht auf bestimmte außenpolitische Gegebenheiten erweitern, weil ich dann sagen würde, daß wir uns verweigern und damit zusehen, wie andere Menschen umgebracht werden. Das möchte ich jetzt nicht vertiefen. Da muß doch nicht der Generalsekretär der UNO hierher kommen. Das sollten wir doch selbst wissen. Das können wir auch hier in dieser Diskussion austauschen, nachdem sie nach meiner Meinung, was den Ausgangspunkt betrifft, mißbraucht worden ist.Meine Damen und Herren, das war das, was ich Ihnen sagen wollte. Ich will die Redezeit weder überschreiten noch ausnutzen. Aber das habe ich auf dem Herzen. Es wäre gut, wenn es uns gelänge, darüber einmal nachzudenken. Aber eines geht sicherlich nicht, Herr Fischer — falls Sie in Ihrem Gespräch auf der Bundesratsbank gelegentlich eine Pause machen sollten —: Wir können, wenn wir etwas kritisieren, nicht ununterbrochen in eine Richtung dieses Hauses zeigen, vor allen Dingen, wenn man Gast in diesem Hause ist. Ich meine, auch wenn man hier voll mitdiskutiert, sollte man sich so verhalten und nicht eine Eins in Demagogie schreiben wollen. Das sollten wir vermeiden.
Als nächster hat Herr Bundesminister Möllemann das Wort.
— Mir ist gerade gesagt worden, daß Herr Möllemann unmittelbar danach sprechen will.
— Entschuldigung! Dann spricht zuerst Herr Sperling.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß es Ihnen, die Sie die Mehr-
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Dr. Dietrich Sperlingheit in diesem Hause haben, nicht um die Res publica, sondern um die Public Relations geht, das führen Sie uns zur Zeit vor.
Mit den Reden vom agierenden Vizekanzler Bohl und von Herrn Spilker so den Problemen auszuweichen, die Sie dem Land bereiten — nicht wir, Sie! —, das ist außerordentlich erstaunlich.Ich bin froh, daß der amtierende Vizekanzler hier noch das Wort ergreifen will. Ich hoffe, er wird zu dem Zustand der Wirtschaft unseres Landes sprechen, wie er ihn zu verantworten hat, und seinem Nachfolger deutlich machen, welche Probleme gelöst werden müssen. Das Problem ist nicht so sehr die rechtliche Verfassung unseres Landes, unser Grundgesetz. Ob es durch Verfahren verletzt wurde oder nicht, halte ich für nicht so sehr bedeutsam, obwohl auch das ein Störfaktor ist. Bedeutsam ist die Verfassung der Wirtschaft, der Gesellschaft unseres Landes, und die haben Sie allerdings in einen Zustand hineinregiert, dem Sie beredt durch Ausweichen Ausdruck geben.Wenn Sie, Herr Bohl, gewußt haben, daß diese Stunde hier so ablaufen wird, wie können Sie dann aus einem Kanzleramt mit einem solchen Stab so unvorbereitet hierher kommen?
Wenn Sie, Herr Spilker, nach Ihren eigenen Aussagen — bei Ihnen unterstelle ich, daß das stimmt — völlig unvorbereitet hier antreten, dann frage ich nach dem Zustand der Fraktionsführung durch Herrn Rüttgers. Wie kann der Sie eine Stunde lang hier sitzen lassen, ohne Ihnen zu sagen „Da kommt was! "?
— Das ist sicherlich Ihre Sache. Ich sage nur: Das Siechtum ist längst von der Regierung auf Herrn Rüttgers übergegangen.
Die Kleiderordnung haben Sie auch dargestellt. Der agierende Vizekanzler spricht vor dem amtierenden Vizekanzler. Der agierende Vize ist Herr Bohl. Ich sehe so die Funktionen. Der sprach hier für den Kanzler, obgleich der amtierende Vizekanzler noch da war. Die Kleiderordnung ist hier auch deutlich geworden. Und wir sollten auch festhalten, daß dies so ist.
Was ist nun das Problem? Sie wollen uns mit den Worten beruhigen, da sei ein Versprecher wiedergutgemacht worden. Ehrlicherweise hat Herr Bohl gesagt, der Brief des Kanzlers an den Parteivorsitzenden der F.D.P., mit Durchschlag an die anderen Parteivorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden sei nötig gewesen. In der Tat, der war nötig, um klarzumachen, daß, liebe Kollegen von der Pünktchenpartei, die Verfassung mehr Respekt verdient, als Ihreangeblich demokratischen Wahlversammlungen dies ausgewiesen haben.
Sie haben uns für die Nachfolge von Herrn Möllemann einen Kandidaten beschert —
— Sie können es auch „vorgeschlagen" nennen; Sie haben uns einen Kandidaten beschert —,
der sich, unmittelbar nachdem er durch Ihre Verfahrensweise gewählt worden war, als Nachfolger von Herrn Möllemann qualifiziert hat, und zwar mit einer Großkotzigkeit, die in der Tat vom Vorgänger genauso hätte kommen können.
Deswegen wiederhole ich das, was „Die Zeit" dazu geschrieben hat. Ich gebe zu, daß diese Gefahr für uns alle besteht, aber bei Ihnen ist sie ungemein ausgeprägt: Ihnen geht es nicht mehr um die Res publica, um die public affairs.
Sie bereiten dem Land öffentliche Affären. Das ist etwas ganz anderes. Und würden Sie den Zustand des Landes energisch angehen, um ihn zu verbessern, dann hätten wir vermutlich nicht jenes Gerangel, das sie uns darbieten.
Der Kanzler hat das begonnen, was die britische Queen gerade beendet hat: ein fürchterliches Jahr.
Er ist im Verhältnis zu seinem neuen Wirtschaftsminister bereits für das Guinness-Buch der Rekorde reif geworden. So schnell ist noch nie ein Minister abgemahnt worden. Noch bevor er dem Bundespräsidenten zur Ernennung vorgeschlagen werden konnte, mußte der Kanzler ihn bereits abmahnen. Dies ist ein unglaublicher Zustand oder, um des Kanzlers Worte zu benutzen, ein unerträglicher Zustand. Man muß sich fragen, wie lange eigentlich das deutsche Volk sich diesen Zustand leisten will.
Ich füge hinzu: Der neue Mann im Wirtschaftsministerium hat von uns keine Schonung zu erwarten. Dazu war er zu vollmundig, noch bevor er sein Amt antrat.
Und dazu ist der Zustand der Wirtschaft, den er übernimmt, auch zu dramatisch.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11265
Dr. Dietrich SperlingDa sind die Arbeitslosenzahlen, da ist die Staatsverschuldung. Schlagen Sie dazu die heutigen Berichte in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen auf. Da ist das rasante Sinken der Außenhandelsüberschüsse. Das ist im innerdeutschen Handel, wenn man das so nennen darf — schauen Sie in die „Süddeutsche Zeitung" von heute —, die Tatsache, daß das Fließen von Gütern und Dienstleistungen aus Ost nach West in Deutschland nach wie vor zurückgeht, während von West nach Ost der Transfer zunimmt und sich damit die Wirtschaftskraftverteilung zwischen den beiden deutschen Teilen weiterhin zu ungunsten des östlichen Teils verändert.Dafür ist nun auch der kommende Wirtschaftsminister mit verantwortlich. Denn erstaunlicherweise hatte er zuvor eine Funktion bei der Treuhand, die ihn mitverantwortlich macht für den Zustand Ostdeutschlands. Er hat aus meiner Sicht kein Pardon zu erwarten. Er war vorher Politiker, bevor er TreuhandVorstandsmitglied wurde. Es gab Verfahren genug für einen solchen Politiker wie Rexrodt, dafür zu sorgen, daß sich seine Partei mit den Gegebenheiten in Ostdeutschland realistisch auseinandersetzt. Nirgendwo in der wirtschaftspolitischen Debatte der F.D.P. war eine Spur von Rexrodt als jemandem zu erkennen, der das Problem der Entindustrialisierung Ostdeutschlands ernst genommen hätte, nirgendwo!
Die Hypothek, die er damit in die Bundesregierung einbringt, ist eine, die ihn sofort in Zerwürfnissen mit den CDU-Kollegen aus Ostdeutschland bringen muß, wenn man die denn ernst nehmen soll. Und ich nehme die Kollegen ernst, die Gott sei Dank den Kanzler gezwungen haben, die Industriekerne in Ostdeutschland retten zu wollen. Aber dies nun ausgerechnet mit einem Mann zu machen, der vorher das Gegenteil betrieben hat, finde ich schon ein starkes Stück.
Sie können auch weiter das durchgehen, wofür Herr Rexrodt gestanden hat. Er wird aus Herrn Möllemanns Fehlern gelernt haben. Er stand immer für Subventionsabbau. Ich gehe nicht davon aus, daß Herr Rexrodt Herrn Möllemanns Fehler nachmacht
und im Hinblick auf Subventionsabbau mit einer Rücktrittserklärung beginnt, bevor er das Amt antritt.
— Ich schäme mich manchmal, das gebe ich gerne zu.
Aber schlimmer als meine Worte ist der Zustand, den Sie verschweigen.
Wenn Sie den Zustand, den Sie verschweigen, der von den Wirtschaftswissenschaftlern und den Kommentatoren in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen beschrieben wird, zur Kenntnis nehmen würden,
dann würden Sie erkennen: Die schreiben vom Niedergang im Westen und von anhaltender Krise im Osten, und nirgendwo ist erkennbar, daß es bei Ihnen eine Wirtschaftspolitik gibt, die sich diesem Problem ernsthaft stellt.
Statt dessen berufen Sie jemanden zum Wirtschaftsminister — er wird es ja werden —, der sich, als er Finanzsenator in Berlin war, auch den Ruf sozialer Härte und Gespürlosigkeit erworben hat. Am Ende stand ein F.D.P.-Wähleranteil in Berlin von 3,9 %. Pünktchendamen und Pünktchenherren, Sie gehen einen schweren Gang!
Herr Abgeordneter, würden Sie bitte zum Schluß kommen.
Die Wahrheit ist nicht das höchste Gut dieser Regierung.
Ich hätte nicht gedacht, Frau Schwaetzer heute erwähnen zu sollen.
Herr Abgeordneter, ich weiß nicht, ob Sie mich verstanden haben. Würden Sie bitte zum Ende kommen, und würden Sie vorher trotzdem noch eine Zwischenfrage des Kollegen von der F.D.P. gestatten?
Ja, ich würde gerne die Zwischenfrage zulassen, aber ich würde danach gerne auch noch etwas sagen.
Ich glaube, meine Fraktion würde mir dies auch gestatten.
Dann muß die Fraktion Ihnen mehr Redezeit geben, die dann bei anderen abgerechnet wird. — Herr Abgeordneter, Sie dürfen Ihre Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege, finden Sie es eigentlich in Ordnung, daß Sie sich in Ihrer Rede so lange über Herrn Rexrodt auslassen, obwohl Herr Rexrodt dieses Parlament überhaupt noch nicht mit einem Schritt betreten hat?
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11266 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Nachdem Herr Rexrodt sich so vollmundig geirrt hat über die Möglichkeiten dieses Parlaments und über die Rückendeckung, die ihm dieses Parlament auch gegen einen unwilligen Kanzler geben würde, ist, glaube ich, über diesen Mann zu reden. Da wir wissen müssen, wofür er denn steht, sollte ihm und dem deutschen Volk bekannt sein, daß es eine sehr skeptische Einschätzung gibt — und dafür eine gute Berechtigung.
Nun bitte ich noch um zwei Minuten.
Die bekommen Sie.
Herr Möllemann ist nicht so sehr über Vetterleswirtschaft gestürzt als über die Tatsache, daß er bestimmte Vorgänge im Ministerium so hin und her „aufklären" mußte. Frau Schwaetzer ist, fürchte ich, in derselben peinlichen Lage. Sie hat sich für ihre gütigen Worte zugunsten einer Münchener Firma, „Germania" mit Namen, auf einen Dienst „Kapital-Markt intern" berufen, der zu Entsprechendem berechtige.
Das Check-Ergebnis von „Kapital-Markt intern" zur Firma Germania lautet wie folgt — es tut mir leid, daß für die Firma dabei keine Werbung herauskommt; ich zitiere „Kapital-Markt intern" —:
Check-Ergebnis: Positiv bewerten wir die erstklassige Lage des Objektes sowie die Berücksichtigung von Agio und Damnum in Investitions- und Finanzierungsplan.
Kritisch sehen wir dagegen: Hohe Kosten, keine Skizzierung der Leistungsverträge mit Angabe der Leistungsentgeltempfänger, zu pauschale Angaben über Funktionsträgergebühren und Vorkosten, unerklärliche Mietsteigerungssprünge nach den ersten beiden Jahren um 17 % bzw. 14 %, unsinniger Ansatz von „Mietnebenkosten und Sonstige" auf der Einnahmenseite der Wirtschaftlichkeitsrechnung, magere Ausschüttungen. Außerdem: Wenn das Geld nicht reicht, können die Komplementäre das Gesellschaftskapital durch Aufnahme weiterer Kommanditisten ohne weiteres um gut 1,5 Millionen DM erhöhen; damit „verändern sich für alle Gesellschafter die Prognoseeckdaten" .
So geht dies weiter.
Fazit: Der Emissionsprospekt ist lückenhaft, die baurechtliche Situation noch ungeklärt, die kapitalmäßigen und personellen Verflechtungen sind gefährlich. Ob „der bestmögliche Schutz vor Risiken ... in der fachkundigen Führung des Unternehmens" durch die Herren Gädeke und Landsberg liegt, ist zumindest fraglich. Allerdings, bei aller Kritik: Es gibt schlimmere „Selbstbedienungsläden" .
— Nun gut. Das muß man dann aber in der Privatwirtschaft nicht noch nachmachen.
Schließlich: Da gab es ein anderes Projekt:
„Kapital-Markt intern" hatte dieses Projekt gecheckt und war zu dem niederschmetternden Ergebnis gekommen: „Dieser Risiko-Fonds ist eine Zumutung für Anleger und Anlageberater! "
Das ist die Berufungsgrundlage der Wohnungsbauministerin für ihr gütiges Vorwort gewesen.
Herr Abgeordneter, jetzt müßten Sie aber bitte zum Schluß kommen.
Sie hat es nicht gecheckt. Sie beruft sich zu diesem gütigen Vorwort auf eine Unterlage, die ihr unrecht gibt. Auch sie hat, fürchte ich, die Wahrheit verfehlt.
Das Wort hat nun Herr Bundesminister Möllemann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Herr Klose, hat die eigentlich für andere Themen vorgesehene Debatte in seinem Einleitungsbeitrag auf die schwierige Lage der Wirtschaft in Ostdeutschland und Westdeutschland umgewidmet. Er kann an der Debatte darüber, die er für so wichtig hält, selbst leider nicht teilnehmen und rügt durch seine Stellvertreter die Abwesenheit anderer, die genausowenig wußten, daß dies das Thema sein würde. Er hat nicht erwähnt, daß wir just für morgen eine Debatte zu diesem Thema verabredet haben. Wir werden morgen dazu zu sprechen haben. Deswegen an dieser Stelle nur zwei Bemerkungen zu diesem Thema.Erstens. Ich halte es nicht für in Ordnung, daß wir wenige Wochen vor Weihnachten in einem Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des DGB, dem Vorsitzenden der IG Metall, dem Vorsitzenden der IG Chemie, unserem Kollegen Rappe, und der Vorsitzenden der ÖTV auf der einen Seite sowie der Bundesregierung auf der anderen Seite ein Konzept verabredet haben, das jetzt in den neuen Ländern mit Unterstützung der Gewerkschaften, der Wirtschaftsverbände und der Bundesregierung umgesetzt werden soll, nämlich zur Erhaltung der industriellen Kerne, und daß Sie so tun, als müßten Sie dieses Problem jetzt neu angehen. Wir haben das verabredet. Ihre eigenen Kollegen waren beteiligt. Es hat viel Zeit und Kraft gekostet, sich auf dieses in einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht unproblematische Modell zu verständigen. Wir sollten das jetzt, finde ich, umsetzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11267
Bundesminister Jürgen W. MöllemannZweitens. Ich finde es nicht in Ordnung, wie Sie hier mit meinem designierten Nachfolger umgehen —
nicht nur, daß es stillos ist, einen Mann zu attackieren, der nicht anwesend und noch nicht einmal vereidigt ist. Ich finde, den Disput mit Günter Rexrodt können Sie hinreichend führen, wenn er anwesend sein wird.
Ich finde es aber auch nicht in Ordnung, Herr Kollege Sperling, seine derzeitige Aufgabe in der Treuhandanstalt oder die Tatsache, daß er sie wahrnimmt, als ein ihn von vornherein diskreditierendes Faktum vorzutragen. Wissen Sie denn, wie und durch wen die Auswahl der Vorstandsmitglieder in der Treuhandanstalt erfolgt? Wollen wir jetzt allen Ernstes darüber reden, welche Sozialdemokraten dort tätig sind, und sind sie damit diskreditiert?
Wollen wir darüber sprechen, daß mit Zustimmung der Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsgremien Einvernehmen über die Besetzung der Funktionen erfolgt ist? Finden Sie es wirklich in Ordnung, so vorzugehen, oder setzen Sie ganz einfach plump auf das bedauerlicherweise vorhandene Mißtrauen vieler Bürger in den neuen Ländern gegenüber der Treuhandanstalt
und wollen damit einen angehenden Minister von vornherein diskreditieren?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sperling?
Frau Präsidentin, da ich bei Ihnen sicher bin, daß in dieser Zeit die Uhr nicht weiterläuft, gern.
Selbstverständlich.
Herr amtierender Wirtschaftsminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich nicht davon gesprochen habe, daß der Arbeitsplatz Treuhand jemanden diskreditiert, sondern daß mein Vertrauen zu Herrn Rexrodt deswegen geschmälert ist, weil ich in der früheren wirtschaftspolitischen Debatte um die Zustände in Ostdeutschland keine Spur von Sensibilität entdeckt habe, die aus Herrn Rexrodts Mund zu Ihnen gelangt wäre? Das ist das, was ihn diskreditieren würde.
Lieber Herr Sperling, ich bin, glaube ich, nicht ganz so lange hier wie Sie, aber 20 Jahre nun auch. Nun stehen Sie doch mindestens zu Ihrer Argumentation von vor fünf Minuten.
Sie haben hier doch gesagt, die Rolle Rexrodts bei der Treuhand diskreditiere ihn. Wissen Sie eigentlich, wer für Industriepolitik in der Treuhandanstalt zuständig ist? Der Sozialdemokrat Schucht. Seien Sie doch nicht so unfair und unsolide und diskreditieren einen Freidemokraten für die Politik Ihres Parteigenossen. Das ist nicht in Ordnung.
Herr Möllemann, Herr Sperling hat den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Nein, das lohnt nicht bei dem Beitrag, den er jetzt gerade geleistet hat. Ich möchte zu den wichtigeren Themen kommen.
Das zweite, das hier angesprochen ist: Es ist wohl wahr — wir werden morgen ja darüber zu sprechen haben daß die weltweite Rezession jetzt auch unser Land erreicht hat. Aber wir werden auch darüber zu reden haben, was denn die Gründe dafür sind, daß wir nach zehn Jahren ununterbrochenen wirtschaftlichen Wachstums jetzt eine solche Krise haben — weil das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen in den letzten drei, vier Jahren permanent überfordert worden ist.
Sie kommen daher, die Sie permanent dazu beigetragen haben, die Sie alle Appelle an die Vernunft zurückgewiesen haben, die Sie die Kosten mit in die Höhe getrieben haben,
die Sie die Überforderung mit bewerkstelligt haben, und stellen sich als wirtschaftliche Ratgeber hin. Meine Güte, wie weit muß es mit der großen Sozialdemokratischen Partei kommen, daß sie den Vorsitzenden ihrer eigenen Fraktion am Ende seiner Rede kaum mit Applaus bedenkt, aber die abenteuerlichen Thesen eines Joschka Fischer hier bejubelt! Abenteuerlich!
Herr Dreßler, Sie haben es für nötig gehalten, mich in einer sehr persönlichen Weise mit der Verwendung von Begriffen anzusprechen, die ich — das werden Sie mir nicht nachsagen können — hier unter Kollegen nie verwandt habe. Ich möchte darauf einen Moment eingehen.Ich habe vor einigen Tagen, weil ich Fehler gemacht habe, Fehler in meinem Zuständigkeitsbereich hinzunehmen hatte — aber entscheidender war, daß ich selbst Fehler gemacht habe —, mir Fehlverhalten vorzuwerfen habe sowohl in der Sache — ich hätte den Brief besser nicht geschrieben — als auch in der Art und Weise der Behandlung — es wäre besser gewesen, ich hätte den Sachverhalt schneller aufgeklärt und meinen Fehler dann öffentlich präsentiert —, daraus die Konsequenz gezogen und trete zurück.
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11268 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Bundesminister Jürgen W. MöllemannIch bitte Sie herzlich, das zu respektieren. Ich bitte Sie auch, ganz ruhig zu überlegen, ob Sie in Ihrem Verantwortungsbereich in vergleichbaren oder gar gewichtigeren Fällen die gleichen Konsequenzen verlangen. Das möchte ich doch sagen.
Die Wortspiele von Herrn Sperling sind ja nun wirklich unwesentlich. Ich werde meine Aufgabe bis zum 22. Januar wahrnehmen und dann, wie auch Sie, als Abgeordneter meine Arbeit tun und mich darum kümmern, gestützt auf 20 Jahre Erfahrung und Wissen, daß die hier eingeforderten Kriterien allseits eingehalten werden.Ich möchte jetzt gerne auf das eingehen, was mich in den letzten Stunden verblüfft hat. Da wird eine Debatte mit dem Stichwort angestoßen: Wir wollen gegen den Politikverdruß vorgehen. -Ich rate uns einmal an, daß wir das, was hier in den letzten anderthalb Stunden gelaufen ist, ganz ruhig nachlesen. Dann sagen Sie mir hinterher — natürlich werden Sie nur auf uns zeigen —, ob Sie glauben, daß irgendein Beitrag der letzten 50 Minuten dazu angetan gewesen sein könnte, etwas zu bewirken.Wie ist das eigentlich, Herr Dreßler, wie fühlen Sie sich, wenn sich ein Sprecher der Sozialdemokratischen Partei ausgerechnet auf Herrn Boenisch als Zeugen und die ,,Bild"-Zeitung beruft, auf einen überführten Steuerbetrüger, der jetzt in einer Zeitung Moralvorlesungen hält?
— Der Mann mußte deswegen sein Amt als Regierungssprecher aufgeben, weil er dem Staat nicht die Steuern gegeben hat. Sie als Sozialdemokraten berufen sich auf diesen Mann. Das finde ich bemerkenswert.
Was haben Sie bisher über die „Bild"-Zeitung gesagt?
Herr Minister, es gibt jetzt den Wunsch nach vielen, vielen Zwischenfragen.
Nein, ich möchte gerne mit meinen Überlegungen fortfahren.
— Ich möchte gerne meine Überlegungen fortsetzen.
— Herr Gansel, weil Sie da stehen, kommen Sie mir gerade recht.
— Nein, nein. Herr Gansel, Sie kommen mir gerade recht. Wo ist eigentlich die Glaubwürdigkeit, die Sie hier angemahnt haben?
Wo ist die Glaubwürdigkeit im Blick auf Fragen der Verantwortung, wenn Sie einen Moment an Ihren stellvertretenden Bundesvorsitzenden Oskar Lafontaine denken? Wo waren Sie in seiner Sache, Herr Dreßler, bei der Konsequenz, die Sie mir abverlangen und die ich ja gezogen habe, und wo sind Sie jetzt?
Der Sachverhalt ist doch unverändert bekannt. Er ist Ihr stellvertretender Parteivorsitzender, unverändert.Wie ist es, Herr Kollege Gansel, mit folgendem Sachverhalt und der Plausibilität Ihrer Politik?
— Nein, Sie dürfen im Moment überhaupt nichts. Sie müssen mir jetzt zuhören.
Wie ist es mit der Plausibilität Ihrer Politik und Ihres Verhaltens, Herr Gansel? Bleiben Sie ruhig da, ich wollte Sie konkret ansprechen.Wir reden einige Wochen lang im Ausschuß — u. a. im Wirtschaftsausschuß — über ein Problem, zu dem ich eine Entscheidung vorbereiten soll.
Es geht um die Situation der Werften — auch in Ihrem Bundesland. Wir sprechen über die Frage, ob die Bundesregierung die Genehmigung zum Export von U-Booten an Taiwan erteilen soll. Kollegen im Wirtschaftsausschuß, auch solche, die in Aufsichtsgremien von an diesen Projekten interessierten Firmen tätig sind, raten an: Darüber könne man durchaus ein verständiges Gespräch führen.
Bei der Vorbereitung der Entscheidung kommt dann am Abend, nach einer Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder, der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Schröder, zu mir und sagt: Herr Bundesminister für Wirtschaft, ich bin durch die Ministerpräsidenten der Küstenländer beauftragt — ich habe gebeten: Können Sie mir die noch einmal nennen? Und damit ich jetzt nicht einen auslasse: Dazu gehörte u. a. der SPD-Vorsitzende Engholm —, Ihnen zu sagen, daß wir es gerne hätten, wenn die Bundesregierung diese Kriegswaffenexporte genehmigen würde,
aber, sagt er, wir hätten es nicht so gerne, wenn dieSPD als Partei dafür in Anpruch genommen würde.
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Bundesminister Jürgen W. MöllemannDas ist Heuchelei, meine Damen und Herren, die Sie betreiben.
Dann stellen Sie sich hierher und glauben, als moralische Lehrmeister auftreten zu können.
Ich kann Ihnen sagen: Ich habe mich in den letzten 14 Tagen wirklich geärgert, daß ich diese Fehler gemacht habe. Ich bedaure sie — auch hier vor diesem Parlament.
Aber ich ärgere mich auch darüber, mit welcher Maßlosigkeit bestimmte Medien
eine Kampagne gefahren haben und mit welcher Unredlichkeit Sie hier operieren.Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Norbert Gansel.
Herr Möllemann, ich will Ihnen meinen Respekt dafür sagen, daß Sie nach Ihrem Rücktritt nicht kneifen, sondern sich hier hinstellen und kämpfen. Aber man kann sich auch verkämpfen. Ich hatte mich zu einer Zwischenfrage gemeldet, als Sie meinem Kollegen Dreßler vorwarfen, er würde hier einen Steuerbetrüger zitieren, nämlich Herrn Boenisch, den Kommentator der ,,Bild"-Zeitung, den ehemaligen Staatssekretär Ihrer Bundesregierung, den ehemaligen Bundespressesprecher.
Ich will nichts über Formalbeleidigungen sagen. Sie können sich auf Tatsachen berufen. Aber das hat Sie doch nie davon abgehalten, Ihren Parteivorsitzenden Graf Lambsdorff zu zitieren, der sich des gleichen Vergehens schuldig gemacht hat und bestraft worden ist. Ist das Ihre Glaubwürdigkeit?
Wenn Sie von Waffenexportgeschäften reden, so wissen Sie, welche einschlägigen Erfahrungen wir Ihnen dabei vorhalten können. Wenn von U-Booten gesprochen wird, dann ist es in der Tat so, daß es eine Lappalie ist, deretwegen Sie zurücktreten mußten oder die man Frau Schwaetzer vorwirft, wenn im Bundeskanzleramt im Zusammenhang mit dem Verkauf von U-Booten an Südafrika über Millionen von Schmiergeldern gesprochen worden ist, ja sogar Aktennotizen angefertigt und in den Reißwolf geworfen worden sind, bevor der Untersuchungsausschuß
des Bundestages darankommen konnte. — Herr Bohl weiß, wovon ich spreche.
Aber bei dem U-Bootgeschäft mit Taiwan ist der Sachverhalt der, daß die Ministerpräsidenten der Küstenländer darauf hingewiesen haben, daß diese Entscheidung Sache des Bundeswirtschaftsministers und des Bundessicherheitsrates ist
und daß die politische Verantwortung nicht auf die Küstenländer abgeschoben werden kann. Einen entsprechenden Brief haben Sie erhalten.
Der Kollege Schröder kann zu dem, was Sie hier frei zitieren, nicht Stellung nehmen.
Tatsache ist aber, daß die Bundesregierung zu diesem Geschäft weder pro noch contra bisher Stellung nehmen konnte, weil es einen Konflikt zwischen dem Bundeswirtschaftsminister in spe a. D. Möllemann und dem amtierenden Außenminister Kinkel und künftigen F.D.P.-Vorsitzenden gibt. Es gibt also Unklarheit in Ihrer eigenen Regierung.
Herr Kollege Gansel, Sie müssen bei Ihrer Kurzintervention zum Schluß kommen. Es sind schon mehr als zwei Minuten. Sie müssen die zwei Minuten aber korrekt einhalten, und die sind nun — entschuldigen Sie bitte — vorbei.
Das reicht auch. Danke sehr.
Zu einer Erwiderung auf diese Kurzintervention hat der Kollege Möllemann das Wort.
Frau Präsidentin! Mir scheint, daß mein Hinweis auf die Vorgehensweise der Ministerpräsidenten Schröder, Engholm und weiterer Sie doch sehr getroffen hat.
— Das ist keine Behauptung, sondern die Beschreibung eines Sachverhalts. Welchen Sinn macht es denn, Herr Gansel, wenn an einem Abend der Begegnung der Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler Herr Schröder mit mir so spricht und dann den Bundeskanzler um ein Gespräch bittet,
um ihm diesen Wunsch der Ministerpräsidenten der Küstenländer vorzutragen?
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11270 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Bundesminister Jürgen W. Möllemann— Ja, reden Sie ruhig so daher. Sie können mir nach meiner Entscheidung weitere Kränkungen mit dieser Art der Auseinandersetzung nicht zufügen. Ich habe hier den Sachverhalt dargestellt, wie er ist. Sie werden ja dann sicher schnell hören, was die Ministerpräsidenten Ihnen gegenüber — denn sie gehören Ihrer Partei an — zu erklären haben.Das zweite: Sie wissen sehr genau, Herr Kollege Gansel, daß der Vergleich, den Sie in dem anderen Punkt gezogen haben, genauso nicht in Ordnung ist. Wir haben hier sehr streitige Debatten über die Aufarbeitung der sogenannten Parteispendenaffäre geführt, und wir wissen, mit welcher Unredlichkeit — angesichts der eine Zeitlang gängigen Parteienfinanzierungspraxis — auch diese Debatte geführt worden ist. Niemand, aber auch niemand hat dem Grafen Lambsdorff jemals vorgeworfen, zu seinem eigenen Vorteil gehandelt, in die eigene Tasche gewirtschaftet, von seinem Einkommen keine Steuern bezahlt zu haben.
Das aber war just der Vorwurf, der in dem anderen Fall gemacht wurde.Ich bitte Sie sehr herzlich, das jetzt nicht absichtsvoll weiter zu vermischen.Ich danke Ihnen.
Als nächstes hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann,
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines wundert mich ja sehr — das muß ich wieder mal an die rechte Seite gerichtet sagen —, nämlich daß Sie alle so ahnungslos waren. Ich als Mitglied einer Mini-Gruppe wußte genau, was auf uns zukommt. Ich kann das also wirklich nicht verstehen.
Ich wußte freilich nicht, welche Vorwürfe mir Herr Spilker und Herr Bohl machen würden. Auf die werde ich jetzt eingehen.
Ja, lieber Herr Kollege Spilker, wenn wir hier eine parlamentarische Debatte führen und nicht eine Plauderei veranstalten, wie der Herr Kanzleramtsminister wahrscheinlich angenommen hat,
dann muß die Opposition den Leuten auf der Regierungsbank doch sagen, was im Lande über sie geredet wird, wenn sie es denn nicht von alleine kapieren.
Nun, lieber Herr Bohl, Sie haben mir, fürchte ich, nicht genau zugehört. Ich habe gesagt: Die Bundesregierung hat keinen Beitrag zu einer Friedensverfassung, die wir jetzt brauchen, geleistet. Und da erzählen Sie mir diese Geschichte von den 1 500 Soldaten für Somalia, für deren Entsendung Sie erst heute den Weg geöffnet haben, über den schon monatelang geredet worden ist.
Aber er war wegen Ihrer Verweigerung — Herr Spilker, das muß ich Ihnen nun sagen — nicht möglich.
Ich habe die Friedensagenda von Herrn Ghali gelesen. Dann kann ich nur sagen: Als deutscher Parlamentarier schäme ich mich dafür, daß ein großes und starkes und reiches Land wie das unsere mit diesem Soldaten-Vorschlag kommt und nichts anderes zu sagen hat. — Herr Ghali hat eine Liste von ganz anderen Forderungen aufgestellt.
Herr Kollege Ullmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege Ullmann. — Ist Ihnen nicht bekannt, daß der Beschluß der Bundesregierung, Soldaten zum humanitären Einsatz nach Somalia zu schicken, nach richtiger Auffassung der Bundesregierung mit der derzeitigen Verfassungslage völlig in Einklang steht
und daß das, was wir heute früh beschlossen haben, etwas anderes ist, nämlich Kampfeinsätze unter dem Dach der Vereinten Nationen endlich zu ermöglichen?
Dann, denke ich, ist der Streit zwischen uns gegenstandslos. Vom BÜNDNIS 90 gibt es einen Entwurf, der in eine ganz ähnliche Richtung geht.
Dann wiederum aber weiß ich nicht, was Herr Kollege Spilker uns für Verweigerungshaltungen vorwirft.Die Streitfrage, denke ich, bestand ja eben in dieser Sache, und das ist heute erledigt worden.Ich darf fortfahren. — Herr Kanzleramtsminister, dem, was Sie zum Verhalten von Frau Ministerin Schwaetzer gesagt haben, brauche ich nichts hinzuzufügen. — Ich fand: Das ist genau das Problem, das ich angegriffen habe. Ich sehe die Schwierigkeit darin, daß Sie das nicht als Problem empfinden.Sie haben uns ja vorhin ermahnt, uns nicht gegenseitig falsche Vorwürfe zu machen. Na gut, ich folge dem gerne. Nur: Das Problem ist doch, daß der Öffentlichkeit genau das Bild gezeigt wird, nämlich daß einer dem anderen dauernd Vorwürfe macht. Ich kann es eben nicht als so harmlos ansehen wie Sie.Nun will ich zu dem Hauptpunkt kommen. Das ist jener Brief, über den wir hier sprechen. — Der Brief ist wirklich ein Problem,
nämlich daß der Herr Bundeskanzler in Zusammenhang mit der Kabinettsumbildung seine ganze Tätigkeit darauf beschränkt, einen Brief zu schreiben, in dem er eine Selbstverständlichkeit festhält, die allen bekannt ist; Herr Rexrodt mag in einem aufregenden
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Dr. Wolfgang UllmannAugenblick vielleicht nicht daran gedacht haben; das kann ja sein. Aber der Punkt ist doch ein ganz anderer.Nun muß ich mich zu meinem Leidwesen selbst zitieren. Ich habe vor Weihnachten gesagt: Die Lage in unserem Land ist so, daß ich eigentlich nur drei Möglichkeiten sehe: Erstens. Der Herr Bundeskanzler bildet sein Kabinett so um, daß die deutsche Öffentlichkeit hinterher weiß: Die Regierung ist handlungsfähig. — Dann kamen noch zwei andere Möglichkeiten, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche.Nun ist eine Kabinettsumbildung in einer Form im Gange, die der gesamten deutschen Öffentlichkeit das Bild vermittelt: Der Herr Bundeskanzler ist nicht einmal mehr in der Lage, seine Kompetenz und seine Richtlinienkompetenz in diesem kleinsten Umfang seiner Vollmachten und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen.
Das Problem ist also, daß wir einen Bundeskanzler haben, der der ganzen deutschen Öffentlichkeit das Bild vermittelt, daß er nicht fähig ist, seine Richtlinienkompetenz so wahrzunehmen, wie es unser Land braucht.Nun kann ich nur schließen mit dem Hinweis auf die Bürger, die pausenlos auf den Straßen marschieren, die Lichterketten bilden und die in ganz bewundernswerter Weise in Privatinitiativen die Probleme angehen, die die Flüchtlinge aufwerfen. Und was für ein Bild bietet die Bundesregierung diesen Bürgern? — Herr Spilker, wenn Sie uns auffordern zusammenzuarbeiten: Na gut, das ist richtig, das unterschreibe ich sofort. Aber wir können das doch nur tun, wenn wir eine Bundesregierung haben, die in ihrem Teil das tut, wozu sie da ist. Daß dem so ist, sieht aber niemand von uns mehr, und auch die Leute im Lande sehen das nicht mehr. Deswegen müssen wir über diesen Brief diskutieren, der ein Bild für diese Hilflosigkeit ist.Nun noch eine Anmerkung zum Schluß, weil hier alle möglichen Spekulationen über die Anwesenheit von Joschka Fischer geäußert worden sind. — Du meine Güte! Ich habe begeistert geklatscht, als Joschka Fischer geredet hat.
— Nein, Sie können es sich nicht vorstellen!
Sie können sich das nur im Rahmen Ihres Personalkarussells, das Sie „politische Willensbildung" nennen, vorstellen.Hier ging es ja darum, daß Joschka Fischer
nicht über irgendwelche Schwierigkeiten in Bayern oder in irgendeinem CDU-regierten Land geredet hat; Joschka Fischer hat über die Lage unseres Landes insgesamt geredet,
mit einer Sensibilität für das, was in den Ost-Ländern los ist, die ich bei Ihnen eben einfach vermisse. Das ist die Sache, ganz einfach.Danke.
Nun hat das Wort der Kollege Hans Peter Schmitz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stelle mir wirklich die Frage, ob wir die Zeit der Debatte, ob wir die Ursachen dieser Debatte, ob wir das alles mit dem Begriff umfassen, der hier eben schon zitiert worden ist, nämlich: einen Beitrag dazu leisten, daß die Politikverdrossenheit der Bürger etwas abgeschwächt wird. Wer hat eigentlich der SPD geraten — die Frage stelle ich mir —, ein solches Drehbuch zu schreiben?
Wer hat der SPD geraten, Joschka Fischer und Herrn Gansel zusammenzuspannen und dieses Drehbuch, das total verunglückt ist, zu schreiben?Ich stelle mir wirklich die Frage — damit will ich zum Ausgangspunkt zurückkommen —, ob es sinnvoll ist, ob es wirklich Sinn macht
— Frau Kollegin, lassen Sie mich das in aller Ruhe sagen —, daß wir uns hier in Form von Vorwürfen der verschiedensten Art auseinandersetzen, was mit Sicherheit nicht dazu führt — das ist meine persönliche Erfahrung und Auffassung —, daß das Bild des Parlaments positiver oder noch positiver gestaltet wird.Deswegen bin ich eigentlich auch froh darüber, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, daß das Ganze hier fast schon unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet.
Das wird nicht — so meine Prophezeiung — als eine Sternstunde des Parlamentarismus in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen.
Das hätte sich auch die SPD überlegen müssen. Man muß sich als Vorsitzender auch gegenüber Leuten wie Herrn Gansel durchsetzen. Daß der Herr Gansel Interessen hat und daß er angesichts gewisser Mißerfolge angeschlagen wirkt, ist auch klar. Herr Kollege Gansel, auch an Sie: Man muß auch die Folgen bestimmter Anzetteleien überlegen und mittragen können.
Ich finde Ihre Verhaltensweise gegenüber dem zurückgetretenen Bundeswirtschaftsminister — um auch das im übrigen einmal zu sagen — nicht korrekt und nicht kollegial,
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Hans Peter Schmitz
Lassen Sie mich ein weiteres Wort sagen: Ich habe volles Verständnis dafür, daß die Opposition der Regierung, wenn sie möglicherweise Fehler gemacht hat, diese vorhält und Salz in die Wunden streut; dafür habe ich als Parlamentarier volles Verständnis. Wenn es dann noch intelligent gemacht wäre, würde ich auch sagen: Na gut, die Jungs haben das intelligent gemacht. — Aber dies war weder intelligent noch originell. Das, was Sie hier geleistet haben, war für meine Begriffe, nach meiner parlamentarischen Erfahrung — ich bin lange genug hier, um Ihnen das sagen zu können — kein gelungener Beitrag.Hätten Sie eine Debatte über das, was Sie angesprochen haben, führen wollen, z. B. angesichts der bedrückenden Ereignisse in Bosnien-Herzegowina, hätte das in einem normalen Verfahren geklärt werden können. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Das ist ein Punkt, den das Parlament aufgreifen muß und den es von seiner gesamten Verantwortung her letzten Endes auch für die Handlungsfähigkeit der deutschen Politik klarstellen muß.
Was wollten Sie damit eigentlich erreichen? Es bleibt Ihnen unbenommen, diese Debatte neu zu führen. Was soll das eigentlich, daß Sie angesichts des mühsam erreichten Kompromisses beim Asylthema versuchen, dies mehr oder weniger hinzuhalten und daß Sie das neu hier in die Debatte einführen? Macht das für alle Beteiligten einen Sinn? Ich behaupte: Nein, das, was hier im letzten Teil der Debatte erfolgte, ist eigentlich Unsinn.
Was ist eigentlich die Herausforderung in der deutschen Nachkriegsgeschichte beim Wiederaufbau der östlichen Bundesländer, beim Thema Solidarpakt? Wie mühsam ist das eigentlich? Es kommt doch der Tag der Wahrheit, wo wir alle klar sagen müssen: Das geht, und das geht nicht.Wenn dann zitiert wird, Herr Kollege Dreßler: Ersparen wir es uns doch, daß Sie den Bundeskanzler kritisieren, wenn er Wahrheiten ausspricht, die damals schon — ich schätze, Sie waren dabei — auch Helmut Schmidt vor Ihrer Fraktion 1982 ausgesprochen hat. Ich zitiere ihn:Wer zum Beispiel in den Bundeshaushalt 1983 mehr Investitionsmittel einsetzen will, der muß in die Leistungsausgaben noch sehr viel stärker herein schneiden.Das gleiche hat der Bundeskanzler gesagt. Bezweifelt das einer? Das hat Helmut Schmidt gesagt. Ich könnte das fortsetzen.Hat diese Debatte — das ist meine Frage — irgendeinen Beitrag zur Gemeinsamkeit, zur Lösung dieser Problematik geleistet?Wenn meine Kinder — sie sind wirklich politisch sehr interessiert und auch nicht immer unbedingt einer Meinung mit mir, was ich für gut halte — den letzten Teil dieser Debatte gehört hätten, würden sie mir die Frage stellen: Ist hier niemand bereit, dieser Polemik Einhalt zu gebieten?Herr Dreßler, bei Ihnen — ich richte das jetzt persönlich an Sie — schreibe ich mir bei allem Respekt in manchen Bereichen immer das Stichwort auf: Hier beginnt Getöse. Das gilt nicht in allen Fragen, aber Ihr Beitrag heute war Getöse.
Herr Kollege Schmitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Nein. Frau Präsidentin, ich wollte dazu noch einiges weiter sagen.
Ich stelle mir auch die Frage, ob angesichts der drängenden Probleme die Bevölkerung überhaupt willens ist, zu akzeptieren, daß sich ein Parlament
einige behaupten sogar, ein hochbezahltes Parlament — mit solcher Polemik und in dieser Form über sicherlich wichtige Fragen auseinandersetzt, wie ich es nicht für richtig empfinde.
Herr Fischer, es mag ja sein, daß Sie ein begnadeter Polemiker sind, wie Herr Ullmann sagt. Aber das entläßt Sie nicht aus der Verantwortung, Fragen zu beantworten und nicht nur Polemik zu machen. Sie bestehen nicht nur aus Polemik. Sie müssen die Fragen, die gestellt werden, beantworten.
Sie können sich hier nicht von der SPD instrumentalisieren lassen, weil Sie zufälligerweise in der Nähe und greifbar waren, Herr Fischer. Sie waren zufälligerweise in der Nähe und greifbar, um die Debatte zu verlängern, indem Sie mehr als 10 Minuten sprechen mußten. Dies ist des Parlamentarismus unwürdig. Das tut man nicht.
— Herr Kollege Gansel, es steht in der Geschäftsordnung, daß man dies in sehr wesentlichen und wichtigen Fragen machen kann. Dann muß es in der Regel aber auch mit dem Gegenstand zusammenhängen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das befriedigt uns nicht. — Das ist Ihr gutes Recht.Dann haben Sie gesagt — das war vorher schon alles geregelt —: Jetzt muß einer her, der mehr als 10 Minuten redet. Dann ist Herr Fischer hier hergekommen und hat Ihnen den Gefallen getan.
— Jetzt zweifele ich in der Tat an Ihren intellektuellen Fähigkeiten. — Herr Fischer hat Ihnen diesen Gefallen getan.Das, was dann aus dieser Debatte gemacht worden ist, kritisiere ich: Es ist nicht zur Sache gesprochen worden. Die Themen, die angesprochen worden sind,
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Hans Peter Schmitz
konnten nicht debattiert werden, sondern es hat nur eine polemische Auseinandersetzung gegeben.
Mir ging es um den Stil der Debatte, Herr Kollege — damit das klar ist.Ich möchte Sie bitten, daß wir uns in Zukunft bei aller Auseinandersetzung wirklich überlegen, ob wir diese Art von Debatten angesichts dieser Entwicklung und angesichts der Fragen, die zu beantworten Sie aufgefordert haben, weiterführen sollten,
Ich sage Ihnen auch ganz offen: Ich schäme mich zum jetzigen Zeitpunkt für diese Opposition.
Nun hat der Kollege Dr. Uwe Jens das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte den Eindruck: Auch das, was Sie eben geleistet haben, Herr Schmitz, war kein Beitrag zur Sache. Es ist nicht gerade sonderlich geschickt, andere aufzufordern, so etwas zu tun, aber selber zu polemisieren, Herr Schmitz.
— Ich möchte mich darum bemühen, aber es ist in diese Debatte mittlerweile soviel Polemik hineingeflossen
—nein, nein, nein —, daß hier manches im Raum steht, das man zurückweisen muß.
Ich gebe Ihnen recht, daß die Öffentlichkeit möglicherweise den Eindruck hat: Das ist eine überflüssige Debatte gewesen. — Das kann durchaus sein.
Aber das ist gerade deshalb so, weil Sie nach der Methode vorgegangen sind: Angriff ist die beste Verteidigung. Sie haben nichts zur Sache gesagt. Sie haben nur versucht, auf der Opposition herumzuhakken. Das lassen wir uns nicht gefallen.
Ich muß Ihnen auch sagen, daß ich der Ansicht hin, daß der designierte Wirtschaftsminister Rexrodt für sich nicht eine Schonfrist beanspruchen kann; denn dies ist der dritte Wirtschaftsminister dieser Regierung in dieser Legislaturperiode. Es geht nicht, daß die
laufend ihre Minister auswechseln und wir immer 100 Tage warten, bis wir den attackieren können. So geht das wirklich nicht, meine Damen und Herren.
Herr Rexrodt hat zweifellos für die Entwicklung in Ostdeutschland Verantwortung mitgetragen — ich drücke mich vorsichtig aus.
— Von Haussmann über Möllemann zu Rexrodt.
Leider, so muß ich nun ehrlich sagen, haben Sie eine Entscheidung gefällt, die in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt: Sie haben uns da einen zweiten Möllemann serviert. Vielleicht hätten Sie einen etwas Seriöseren gehabt. Aber der Mann geht auch nach der Methode vor: Ordentlich lautstark reden und möglichst wenig handeln.
Das lassen wir uns nicht mehr gefallen; denn wir haben in der Tat wirtschaftspolitische Probleme, die zum Himmel schreien, über die hier heute wenig geredet wurde und über die die Bundesregierung überhaupt nicht redet.
Kollege Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Homburger.
Bitte sehr. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bitte,
Herr Kollege, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß, wenn Sie hier schon auf dem designierten Wirtschaftsminister Rexrodt herumzuhacken versuchen, dieser überhaupt noch keine Gelegenheit zum wirtschaftspolitischen Handeln hatte?
Herr Rexrodt wurde uns hier als Fachmann für Wirtschaftsfragen serviert, der lange in der Treuhand gearbeitet hat und auch für das mitverantwortlich war, was in den neuen Bundesländern geschehen ist. Das läßt sich überhaupt nicht leugnen. Im übrigen, wir werden Herrn Rexrodt keine Schonfrist einräumen. Das kommt für uns überhaupt nicht in Frage.
Herr Möllemann mußte leider weg. Aber ich will doch hinzufügen: Es läßt sich doch auch nicht leugnen, daß Herr Möllemann zurückgetreten ist, weil er nachweisbar öffentlich die Unwahrheit gesagt hat. Man kann das auch lügen nennen. Das ist nicht parlamentarisch; deshalb sage ich das nicht. Aber er hat öffentlich die Unwahrheit gesagt. Deshalb, nur deshalb ist er zurückgetreten, und er mußte auch zurücktreten. Das gilt auch für jeden anderen Minister, der so agiert wie Herr Möllemann.
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11274 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Dr. Uwe JensIch finde es wirklich ziemlich unfair — das muß ich noch sagen —, hier interne Aussagen aus einem Gespräch mit einem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten zum besten zu geben,
deren Wahrheit Sie nicht überprüfen können und deren Wahrheit auch ich nicht überprüfen kann.
Keiner von uns war bei diesem Gespräch dabei. Wenn man Behauptungen aufstellt und der andere, der an diesem Gespräch teilgenommen hat, nicht anwesend ist, dann ist das, auf gut deutsch gesagt, eine Sauerei.
— Ja, klären Sie es.Worauf es uns ankommt, ist folgendes: Es ist mittlerweile doch nun wirklich eine wirtschaftspolitische Situation eingetreten, die zum Himmel schreit. Dennoch haben wir einen Wirtschaftsminister, der nur noch amtiert; wir haben noch keinen neuen Wirtschaftsminister. So geht es nun schon seit geraumer Zeit. Es passiert nichts, es wird nichts gemacht. Das ist aus meiner Sicht ein Skandal ersten Ranges.
Ich will Ihnen sagen: Ich wundere mich, daß die Menschen in diesem Lande dies alles so lange ertragen. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt über 5 Millionen Arbeitslose, und es besteht die Möglichkeit, daß die Arbeitslosigkeit auf Grund der rezessiven Entwicklung in diesem Jahr auf 6 Millionen ansteigt. Das ist eine Arbeitslosenzahl, wie wir sie 1932 zu verzeichnen hatten, als Deutschland im Chaos versank. Wir hatten in den neuen Bundesländern einmal über 3 Millionen Arbeitsplätze im industriellen Bereich, im verarbeitenden Gewerbe. Jetzt sind es nur noch 700 000. Die Leute, die in den Regionen leben, in denen es einmal Industrie gab, haben keine Hoffnung mehr für die Zukunft, weil diese Bundesregierung nichts macht. Auch das ist ein Skandal ersten Ranges.
Die Schulden dieser Regierung sind von 1982 bis 1989 um 100 % gestiegen; sie haben sich in dieser kurzen Frist verdoppelt. Sie werden sich von 1989 bis 1994 noch einmal verdoppeln. Dann haben wir eine Vervierfachung der Schulden gegenüber 1982; Schulden, die sie damals auf Deubel komm heraus kritisiert haben. Jetzt sollten Sie sich schämen, da Sie nichts Entscheidendes tun, um diese Schulden endlich abzubauen.
Kollege Jens, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Wenn es nicht auf meine Redezeit angerechnet wird,
Nein, es wird nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Herr Kollege Jens, gerade weil die wirtschaftlichen Probleme in der Bundesrepublik beachtlich sind, frage ich Sie: Finden Sie es nicht besonders bemerkenswert, daß Sie einen zukünftigen Wirtschaftsminister, der über ein berufliches und fachliches Ansehen verfügt, hier schon bemäkeln, ehe er überhaupt die Gelegenheit gehabt hat, sein Amt anzutreten?
Dieser Herr Rexrodt hat sich in der Öffentlichkeit dargestellt, als ob er alles schon ganz genau wisse.
Das ist ja auch dementsprechend zurückgewiesen worden. Er hat sich entschuldigt. Er hat einen eklatanten Fauxpas begangen. Wenn man sich so darstellt, kann man nun wirklich nicht mehr erwarten, daß wir dem Herrn nachträglich laufend irgendwelche Schonfristen einräumen. Wir wollen vielmehr, daß anständige Politik gemacht wird. Sie hätten dies schon lange tun können. Das ist der Grund für unsere Kritik gegenüber Herrn Rexrodt,
Herr Kollege Jens, Sie haben damit drei weitere Zwischenfragen provoziert. Wollen Sie sie noch zulassen?
Nein, ich möchte in meinen Ausführungen fortfahren.Ich werde mich nunmehr den wirtschaftlichen Gegebenheiten zuwenden. Ich hatte bereits über die Schulden gesprochen. Wenn ich über die wirtschaftliche Lage rede, so möchte ich betonen, daß wir in verschiedenen Wirtschaftszweigen, vor allem in großen Unternehmen, Entlassungen festzustellen haben, die mit dafür sorgen werden, daß die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr möglicherweise auf 6 Millionen Arbeitslose ansteigen wird. Im Maschinenbau, im Automobilbau, bei Kohle und Stahl kriselt es. Die Arbeitnehmer in diesen Bereichen sind ohne jede Hoffnung.Ich glaube, wir bräuchten eigentlich eine starke Regierung, aber leider haben wir eine sehr schwache. Ich glaube auch, wir bräuchten wirklich einen Solidarpakt oder zumindest eine Konzertierte Aktion, wie wir es seit langem gefordert haben. Aber leider passiert auf diesem Felde nichts. Ich halte es für einen Skandal, wenn diese Regierung bei dem Stichwort „Solidarpakt" über nichts anderes als etwa über die Kürzungen der Gelder für Sozialhilfeempfänger, für BAföG-Empfänger und die Kürzung der Arbeitslosenhilfe redet.
Das fällt Ihnen zuerst ein, und das ist in der Tat geradezu abscheulich, muß ich Ihnen sagen.Ich glaube schon, daß es notwendig ist, etwas zu tun. Ich denke, es ist notwendig, in den neuen Bundesländern endlich neue Hoffnungen durch ein in sich geschlossenes Programm zu wecken, an das die
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Dr. Uwe JensBürger auch wirklich glauben können. Wir müssen mehr tun, als wir bisher getan haben.Ich meine, daß es notwendig ist, die Neuverschuldung, die Sie so exorbitant in die Höhe getrieben haben, endlich zu reduzieren. Warum denken Sie z. B. nicht über das nach, was vor kurzem in der Presse stand? Wenn es uns gelingt, daß die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden nur ein Jahr lang um 20 % verkürzt werden, dann bekämen wir 40 Milliarden DM zur Finanzierung der neuen Bundesländer in die Kasse. Wenn es uns gelänge, z. B. die Stellen im öffentlichen Dienst bis 1995 um 1 % zu reduzieren, dann bekämen wir noch einmal 15 Milliarden DM zur Finanzierung der neuen Bundesländer in die Kasse. Das darf in dieser konjunkturellen Situation nicht etwa gestrichen werden, sondern es muß für zusätzliche, neue Investitionen zur Verfügung gestellt werden, die wir drüben in den neuen Bundesländern dringend brauchen. Wenn wir das so machen würden, dann könnten wir auch mit der Bundesbank vernünftig reden, und dann wäre sie auch bereit, eine Zinssenkung herbeizuführen, die das A und O für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung ist.
Aber Sie machen nichts. Sie reden über die Kürzung der Sozialhilfe. Eine derartige Konzertierte Aktion wäre das Gebot unserer Zeit.Ich füge hinzu: Eine weitere internationale Koordination der Wirtschaftspolitik ist ebenfalls dringend notwendig; eine Koordination mit der neuen Wirtschaftspolitik durch den president-elect Bill Clinton. Er will mehr für den Bereich Umweltschutz tun; das ist dringend erforderlich. Er will mehr tun für die Ausbildung der Menschen; auch bei uns wäre das notwendig. Nicht weniger Ausbildung, sondern mehr Ausbildung ist erforderlich. Er will ferner mehr tun für die Verbesserung der Infrastruktur.Natürlich weiß ich auch, daß die Löhne möglicherweise ein Problem sind. Aber darüber wird verhandelt. Ich betone: Wir Sozialdemokraten legen großen Wert darauf, daß die Tarifautonomie der Gewerkschaften ein für allemal geachtet wird.
Aber die Bundesregierung erweckt in der Öffentlichkeit den Eindruck, als ob sie nichts anderes im Kopf habe als parteipolitischen Postenschacher. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Die Endzeit dieser Bundesregierung ist in der Tat gekommmen.Schönen Dank.
Nun hat der Kollege Detlef Kleinert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Man muß sich ja einmal richtig ausschimpfen; ich verstehe das. Man sieht es auch an der Besetzung: Manche haben es mehr nötig; andere gehen inzwischen dem Geschäft nach, was wir — im Gegensatz zu dem Bild, das hier heute entstehen könnte — in vielen Dingen jagemeinsam betreiben, weil es anders gar nicht geht. Herr Jens war liebenswürdigerweise der erste, der in einer Reihe von Punkten gesagt hat, wie man das machen kann, was immer gefordert wird, statt zu sagen, daß alles schlecht ist. Dafür muß man sich auch bedanken.Dann wollen wir auch gleich ein Wort dazu sagen: Wir sind nicht der Meinung, daß ein Soldiarpakt so aussehen kann, daß die Besserverdienenden auf einer Insel der Seligen verbleiben, während die Ärmsten der Armen geschunden werden, so wie es angeblich Herrn Fischer vorschwebt. Wenn man unter dem Druck steht, mehr als zehn Minuten reden zu müssen, und einem wenig einfällt,
dann kommt schon einmal etwas Seltsames vor. Aber zu sagen, die Ärmsten der Armen würden diesen Staat finanzieren, geht so weit an der Wirklichkeit vorbei, daß man davon ausgehen kann: Würde es stimmen, kriegte Herr Fischer ab sofort kein Gehalt mehr. Das ist ganz klar.
In Wirklichkeit ist es in diesem Lande so geregelt, daß die, die am meisten verdienen, auf das, was sie verdienen, prozentual mit Abstand die höchsten Steuern zahlen. Man kann nicht auf sämtlichen Nebengebieten immer noch etwas zulegen, sondern man muß die Gesamtbelastung sehen. Dann freuen sich die, die mehr verdienen, daß sie ihren anständigen Beitrag zum Wohle des Ganzen leisten — übrigens nicht nur durch Steuern, sondern auch durch das, was sie zum Wohle der Volkswirtschaft beitragen —, und geben ab.
Aber sie möchten sich dafür nicht ständig beschimpfen lassen, und sie brauchen sich nicht Unwahrheiten wider besseres Wissen von selbsternannten Sozialpolitikern gefallen zu lassen, die nicht verstehen, daß die vernünftigste Sozialpolitik eine vernünftige Wirtschaftspolitik und die Erweckung von Freude an Arbeit und Leistung ist. Das ist so, auch wenn es noch so oft bestritten wird.
Mit dem Erwecken von Freude hatten Sie es — von einer rühmlichen Ausnahme abgesehen — heute nicht so toll. Es ist schon eigentümlich — man muß sich das sehr genau überlegen; Herr Bohl hat darauf vorhin schon hingewiesen —, wenn Sie dauernd mit brennbaren Stoffen zündeln und im gleichen Atemzug beklagen, daß das Haus brennt oder mindestens zu brennen droht. Das paßt einfach nicht. So kann man nicht miteinander umgehen.
Man kann nicht den Niedergang des Ansehens desParlaments beklagen und Wort für Wort und Satz für
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11276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Detlef Kleinert
Satz fleißig bemüht sein, das Ansehen dieses Parlaments herunterzuzerren.
Das haben Sie heute den ganzen Nachmittag getan. Wie hoffnungslos muß die Sozialdemokratie ihre Chance einschätzen, an der Gestaltung der Regierungspolitik mitzuwirken, wenn sie sich entgegen allen volkswirtschaftlichen Erkenntnissen dazu hinreißen läßt — das haben fast alle Ihre Redner getan —, die Stimmung so mieszumachen, daß — da eine gute Stimmung wesentlicher Bestandteil einer guten Konjunktur ist — damit die Konjunktur so ruiniert wird, daß sie ein furchtbares Erbe antreten würde, welches sie insoweit selbst verschuldet hätte!
Aber das alles wird uns erspart bleiben. Der Kanzler hat gerade in der Sache, deretwegen Sie diese diffus verlaufende Beschimpfungsdebatte vom Zaun gerissen haben, ein schönes Beispiel gegeben, wie ruhig man mit einfachen Sachverhalten umgehen kann: Einer unserer Kollegen — der noch nicht ganz Kollege ist, der dem Hause nicht angehört, auf jeden Fall aber ein Parteifreund von uns — hat sich in der Freude darüber, daß er mit einer sehr ansehnlichen Mehrheit zum Wirtschaftsministerkandidaten bestimmt worden ist,
daß er gewählt worden ist, dazu hinreißen lassen, ganz schön hinzulangen, was diese Entscheidung verfassungsmäßig bedeuten könnte. Vielleicht hat sich diese Auffassung mit Berliner Verhältnissen und Erinnerungen vermischt. Daraufhin hat sich der Kanzler gesagt: So geht es nicht! und hat einen Brief geschrieben, in dem das alles steht. Wir wußten es übrigens schon. Es steht auch im Grundgesetz. Auch das wissen wir.
Der Kanzler hat also einen Brief geschrieben und sich für eine Sache revanchiert, die ihm so gut nicht gefallen hat und ihm, ehrlich gesagt, auch gar nicht so gut gefallen konnte.
Damit wäre es wirklich erledigt gewesen. Aber Sie kommen daher und pulen in einem solchen Vorgang herum: wegen dringend vorhandener Ablenkungsbedürfnisse und wegen der Unfähigkeit, in der morgen anstehenden wirtschaftspolitischen Debatte etwas in der Art, wie es vorhin Herr Jens getan hat, zum besten der Sache beizutragen.
In der Sache selbst — ich erwähnte es bereits — sind wir durchaus rechtskundig. Das Grundgesetz haben wir, seitdem die Ausgaben immer kleiner werden, fast ständig unter dem Arm.
Im übrigen hat Herr Herzog, jetzt Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in dem Kommentar von Maunz-Dürig darauf hingewiesen, daß z. B. die hier mehrfach erwähnte Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in dem Augenblick schon in Frage steht, wo er auf sie als gesetzliche Regel zurückgreift. Sie wäre vielmehr an und für sich vorhanden, aus der Persönlichkeit des Kanzlers und der Geschichte seiner Wahl heraus. So schreibt Herr Herzog.Dazu ist die Sache mit dem Brief ein ganz guter Hinweis. Sie werden sich an dieser Sache — das wird nicht heute oder morgen entschieden —1994 noch die Zähne ausbeißen. Das ist eine ganz gestandene Art, mit den Dingen umzugehen.Was die Art der Freien Demokraten betrifft, mit den Dingen umzugehen: Wir sind diejenigen, die von der Transparenz und von demokratischen Verfahren, die von Ihnen häufig gefordert, aber nicht ganz so häufig praktiziert werden, soviel halten, daß wir unser Vorschlagswesen gegenüber dem Bundeskanzler so organisieren. Aus der Fülle seiner Kompetenz, z. B. Minister zu ernennen, fließt selbstverständlich auch das Recht, Vorschläge entgegenzunehmen, zu erbitten oder sich gefallen zu lassen. Das kann er alles selbst entscheiden. Das ist gerade der Inhalt dieser Kompetenz. Er wollte von uns einen Vorschlag haben. Wir haben ihn gemacht. Dafür haben wir das demokratischste aller Verfahren, die geheime Wahl, genommen. Darüber können Sie sich beim besten Willen nicht aufregen.Bei dieser Gelegenheit haben zwei Männer, die in wichtigen Bundesländern als Wirtschaftsminister nicht geredet, sondern gehandelt haben, ihre Leistungsfähigkeit als Wirtschaftsfachleute und Wirtschaftsminister unter Beweis gestellt haben, sich zur Verfügung gestellt. Daneben gab es einen Mann, der als Finanzsenator tätig war, der Vorstandssprecher der hiesigen Niederlassung einer weltweit angesehenen Bank gewesen ist. Diese drei haben zur Auswahl gestanden. Wenn Sie einen Blick auf diesen Sachverhalt werfen und an Ihre eigenen Verhältnisse denken, müßte es Ihnen — mit Recht — sehr schwummerig vor Augen werden.
Wie wollen Sie das bewerkstelligen: drei solche Leute zur Auswahl? Natürlich brauchen Sie sich über Wahlverfahren keine Sorgen zu machen, wenn Sie überhaupt keine Auswahl haben.
Wir werden unsere Verfahren intern weiterhin demokratisch handhaben. Wir werden dem Bundeskanzler unsere Vorschläge im Rahmen der geltenden Verfassung machen. Wir sind ihm dankbar, daß er uns aus gegebenem Anlaß auf die Sache noch einmal hingewiesen hat.
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Detlef Kleinert
Das sind kleine Frotzeleien, die man sich unter guten Freunden — darum handelt es sich in einer solchen Koalition — einmal erlauben kann.
So muß man es richtig einordnen und darf es nicht so ungewöhnlich und unnatürlich hochhängen, wie Sie das heute versucht haben, ohne zu bedenken, daß zum Schluß zwischen den verschiedenen Fraktionen des Hauses keine Punktgewinne erzielt werden, sondern der Eindruck bleibt: „Das Parlament ist nicht in Ordnung" oder: „Das Parlament ist in Ordnung". Wir werden durch Sacharbeit, durch sachliche Vorschläge und auch durch eine tadellose Zusammenarbeit mit der SPD-Opposition dieses Hauses dazu beitragen, daß die Wähler einen guten Eindruck gewinnen, einen besseren als in der derzeitigen, nicht begeisternden Situation. Daran arbeiten wir.
Darüber wird sachlich geredet. Dann werden die Wähler entscheiden, und Sie werden sich wundern.
Als nächster hat der Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist natürlich immer etwas schwierig, nach dem Kollegen Detlef Kleinert zu sprechen, vor allen Dingen, wenn er auch dann zur Größe aufläuft, wenn er nicht, wie der Kollege Joschka Fischer früher einmal gesagt hat, hier als schwankende Größe erschienen sein sollte. Es ist dann schwierig, wieder den notwendigen Ernst in die Debatte zu bringen.
Ich möchte kurz auf den Kollegen Bohl eingehen. Fritz Bohl hat vorhin gefragt, was denn draußen das Problem sei. Ich gehe davon aus, daß mit „draußen" die Menschen gemeint waren, die Vertrauen in die Politik und in die Politiker gesetzt haben.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sind gewählt worden als, wie es im Grundgesetz heißt, Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur dem eigenen Gewissen unterworfen. Ich glaube, hier liegt vielleicht das entscheidende Problem „draußen": Die Menschen haben das Gefühl, daß wir gerade dies nicht praktizieren, sondern daß gerade der Bundestag Formen der Entscheidung gefunden hat, die permanent gegen dieses Verfassungsgebot verstoßen. Sie erleben das als einen permanenten Verfassungsbruch.Man mag den Kollegen Schwarz-Schilling schelten, wie man will, aber das, was er angesprochen hat, ist doch richtig: Die politischen Entscheidungen werden nicht in den Fraktionen getroffen, sondern in der Regierungskoalition in kleinen Zirkeln, die für dieanderen zu sprechen vorgeben und die hinterher die anderen nur noch zustimmen lassen.Der Kollege Hans Peter Schmitz hat vorhin davon gesprochen, wie verheerend das Bild nach außen ist. Ich möchte ihn darauf hinweisen: Glanzpunkte dieses Parlaments, des Deutschen Bundestages, waren immer diejenigen Debatten, in denen es diesen Fraktionszwang gerade nicht gegeben hat.
Die Union müßte einfach lernen und sehen, daß sie mit dieser Form der Kanzlertreue und mit — ich nehme das Wort gern in Anspruch — lauter Kanzlerknechten, die offenbar nicht mehr die Selbständigkeit haben, die sie haben müßten, nicht weiterkommt, sondern tatsächlich dabei ist, politisch zu scheitern.Ihre Angst, meine liebe Kolleginnen und Kollegen in der Union, vor der Alternative ist berechtigt. Die Alternative kommt, aber sie kommt nicht von rechts. Die Rechte ist zunächst einmal viel zu schwach. Was sich an Skinheads auf die Straßen begibt, hat mit rechts oft gar nichts zu tun. Die wären unter einer rechten Regierung längst abgeräumt worden; da machen wir uns gar nichts vor.Nein, die Alternative kommt genau aus der Klientel, die früher die Stammwählerschaft der Union dargestellt hat: aus dem Mittelstand, der heute schon nicht mehr weiß, welche Zukunft vor ihm liegt, besonders aus dem Mittelstand in den neuen Bundesländern. Es handelt sich um die Pioniergeneration, die heute hoch verschuldet ist, die darauf gesetzt hat, daß sie helfen kann, ein System aufzubauen. Diese Generation steht schon heute vor dem Nichts und hat keine Alternativen mehr.Die Alternative wird von Idealisten kommen, die sich Gedanken um unser Land machen und die erleben, daß die einzige Devise und die einzige Philosophie des Kanzlers darin besteht, in einem Europa aufzugehen, ohne die Akzente zu setzen, was eigentlich das Zeichen deutscher Politik sein soll, wo unsere Perspektiven liegen, wo unsere langfristigen Interessen liegen.Das, was heute — wie Fritz Bohl sagt — draußen passiert, ist eine Reflexion auf diese Schwäche der politischen Führung. Ich habe die herzliche Bitte — ich kann Sie dazu nur ermuntern —, rechtzeitig darauf zu reagieren. Es hat in den letzten Wochen eine Reihe von Diskussionen gegeben, wie es zum Dritten Reich kommen konnte, was dort passiert ist, was wir daraus lernen müßten, immer noch lernen müßten und immer wieder lernen müßten. Da hat sich mancher zum großen Helden aufgeschwungen, was mit seiner Beteiligung damals ganz anders gelaufen wäre.Es gibt im Lateinischen den alten Grundsatz: Ultra posse nemo obligatur. Das heißt, in einer schandbaren Diktatur, in der jeder damit rechnen muß, daß er um seinen Kopf kleiner gemacht wird, wenn er sich traut, gegen das Regime vorzugehen, kann man nicht jedem zutrauen oder zumuten, daß er den Mut dazu hat.Aber ch frage Sie in diesem Parlament: Wann werden Sie eigentlich wieder einmal den Mut haben, in der Fraktion wirklich zu debattieren, nicht — wie
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Ortwin Lowackheute — nur eine halbe oder eine Stunde, wobei Sie letztlich nur dem zustimmen, was Ihnen von der politischen Führung mehr oder weniger garniert wird?
Das ist es, was draußen die Verdrossenheit weckt. Sie werden sich wundern: Diese Verdrossenheit wird sich in einer politischen Auseinandersetzung mit Ihnen manifestieren, die dazu führen wird, daß die jetzige Mehrheit das nächste Mal die Mehrheit verliert.
Als nächster hat das Wort der Kollege Dr. Franz Möller
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über einen Brief, der eine Selbstverständlichkeit aus unserem Grundgesetz darstellt. Der Kollege Kleinert hat dazu gerade das Richtige gesagt. Vielleicht hätten wir diese Diskussion über einen Artikel des Grundgesetzes besser in der Verfassungskommission geführt und nicht im Plenum.
— Wir können natürlich auch über Frotzeln sprechen. Aber daß Sie, Herr Kollege Sperling, eben nicht zum Frotzeln geneigt sind, sondern heute oberlehrerhaft — so kenne ich Sie auch schon von früher her — und mit moralischer Belehrung und mit in Zynismus gepackten Vorwürfen auf einen Menschen eingehen, der sich im Bundestag noch gar nicht zur Wehr setzen kann, halte ich für absolut unfair.
Lieber Herr Kollege Sperling, Sie haben das Grußwort von Frau Bundesminister Schwaetzer erwähnt. Ich darf Sie an das erinnern, was Sie in Ihrer Zeit möglicherweise — ich nehme an: sicherlich — getan haben, nämlich daß Sie der Neuen Heimat Unterstützung gewährt haben. Das war ein bankrottes Unternehmen, das Sie in der damaligen Regierung aufrechterhalten und stabilisiert haben. Das sollten wir heute auch sagen.
Es geht nicht um Ihren so schön lautenden Satz: res publica gegen Public Relations. Sie haben doch heute mit Ihrer beschämenden Schau Anlaß dazu gegeben, daß es überhaupt so weit kommen konnte. Nach dieser beschämenden Fragestunde, in der einzelne Charaktereigenschaften von Ministern usw. dargestellt wurden, und nach dem enthüllenden Zusammenspiel der SPD mit dem grünen Minister Joschka hat Gott sei Dank Bundesminister Bohl wieder zur Sache zurückgeführt.Ich glaube, daß die heutige Aktuelle Stunde und insbesondere diese Debatte wieder einmal zeigen, wie sehr die Opposition ihren roten Faden verloren hat und ohne Konzept hin- und hertrudelt. Diegestrige SPD-Fraktionssitzung über neuneinhalb Stunden, von der schon die Rede war, hat das ja bewiesen. Die Regierung und die Koalition sind handlungsfähig und tatkräftig dabei, ihr gesamtes Programm der Legislaturperiode umzusetzen. Das ist das Entscheidende, und darauf müssen wir eingehen.Ich sage heute auch, bedingt durch Ihre Frage, Herr Kollege Gansel: Es hat noch nie eine so schlafmützige Opposition gegeben wie in dieser Legislaturperiode. Die SPD im Bundestag ist dabei zu träumen. Sie verzögert, sie verschläft wichtige Entscheidungen. Das merken Ihre Abgeordneten und Ihre Kollegen. Beispiele dafür gibt es genug.Zum Asylthema hat es im Oktober 1991 eine sogenannte Kanzlerrunde gegeben; das war nicht 1992, sondern 1991. Dabei sind richtungsweisende Entscheidungen vorbereitet worden. Wochen und Monate haben die SPD-regierten Bundesländer, insbesondere die hessische Landesregierung, und auch die Opposition im Bundestag die Vereinbarung von 1991 und damit die erneute Verbesserung des Asylverfahrens blockiert. Sie haben sie unterlaufen. Sie haben sie verhindert, und sie haben sie vor allem zerredet.Das ganze Jahr 1992 ist bei dieser durchsichtigen Taktik der SPD verlorengegangen, bis es Bundesinnenminister Seiters leid wurde und er am 6. Dezember 1992 mit Ihnen und allen verantwortlichen Kräften zu einem Asylrecht hingeführt hat, das jetzt hoffentlich bald in Kraft tritt.Und was tat die Opposition? Sie ging nach dem 6. Dezember 1992 zunächst erst einmal in Urlaub und weigerte sich, Termine einzuhalten und an vereinbarten Besprechungen teilzunehmen.
Die Bundesregierung dagegen hat ihre Hausaufgaben gemacht.
Die Opposition ist wieder einmal nicht in der Lage, mit diesem Programm und der Aufgabe Schritt zu halten.
Sie stiehlt sich aus der Verantwortung und tut genau das Gegenteil dessen, was sie in der Öffentlichkeit propagiert, nämlich gesprächsbereit zu sein.
Die Anfrage von heute, über die wir diskutieren, lähmt die Position insbesondere auch der Opposition. Man braucht sich nicht zu wundern, daß dann Verdrossenheit bei den Bürgern aufkommt.Ein anderes ganz wichtiges Thema unserer augenblicklichen Zeit ist der Einsatz der Bundeswehr in Kriegs- und Krisengebieten in der Welt. Auch dazu hat die Opposition bislang keinerlei durchgreifende Konzeption entwickelt und Vorschläge unterbreitet. Sie redet auch auf diesem Gebiet mit verschiedenen Zungen und stolpert von einer Meinung in die andere. Bei der notwendigen Beteiligung von Schiffen der
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Dr. Franz MöllerBundesmarine an der Überwachung des Embargos in der Adria schaltet sie durch eine Organklage das Bundesverfassungsgericht ein; das ist ihr gutes Recht. Wenn die Opposition nicht weiter weiß, zieht sie nach Karlsruhe, um von ihrem eigenen Unvermögen abzulenken. Das ist ihre Politik.Wenn der Opposition an einer schnellen Entscheidung in dieser wichtigen Frage gelegen wäre, hätte sie ja mit der Organklage gleich auch einen Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht einbringen können. Das hat sie aber nicht getan. Offensichtlich weiß sie um die mangelnden Erfolgschancen ihrer Klage in Karlsruhe.Bei einem Verfahren der einstweiligen Anordnung hätten wir heute schon einen Spruch von Karlsruhe, nämlich daß Art. 24 unseres Grundgesetzes den Einsatz der Bundeswehr zuläßt und völkerrechtlich sogar verlangt. Vielleicht bringt Generalsekretär Boutros Ghali die SPD durch das, was er in Bonn gesagt hat, zur Vernunft. Er hat eindeutig mehr gefordert, als die SPD zu geben bereit ist. Die UNO verlangt die — ich zitiere aus der Pressekonferenz von vorgestern —vollständige Teilnahme der Bundesrepublik an friedenserhaltenden, friedensschaffenden, friedensdurchsetzenden Maßnahmen. Dies ist ein Muß für stärkere Vereinte Nationen.Boutros Ghali weiter:Wir brauchen eine weitreichendere Teilnahme der Bundesrepublik an allen friedensschaffenden Maßnahmen auf diplomatischer, wirtschaftlicher, militärischer Ebene.Das hat Herr Boutros Ghali insbesondere der SPD ins Stammbuch geschrieben. Das ist von einem Mann gefordert worden, der sich um den Frieden in der Welt beispielhaft bemüht.Die Koalitionsfraktionen haben durch ihre heutigen Beschlüsse zur klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes, auf die soeben schon hingewiesen worden ist, erneut unter Beweis gestellt, daß sie ihre Entscheidungen zeitgerecht, zum richtigen Zeitpunkt treffen. Die SPD ist nun aufgerufen, dem zuzustimmen.
Tut sie dies nicht, liefert sie ein weiteres Beispiel dafür, daß sie in den wichtigsten Fragen unserer deutschen Politik den Zug verpaßt. Ich hoffe, daß sie diesmal noch eben rechtzeitig aufspringen kann. Die heutige Debatte gibt zu großem Optimismus leider keinen Anlaß. Aber es wäre angebracht, daß die Opposition das zum Anlaß nimmt, über ihr Verhalten noch einmal nachzudenken, wenn sie sich nicht ganz abmelden will.
Als nächster hat der Kollege Norbert Gansel das Wort.
Herr Kollege Möller, ich muß Ihnen lassen: Sie haben zum Thema mehr gesagt als die Vorredner aus dem Regierungslager. Das ehrt Sieals Parlamentarier. Nur, über die Probleme der Bundesregierung und über den Anlaß der heutigenDebatte haben auch Sie nicht hinwegreden können.
Anlaß zu der heutigen Debatte ist in der Tat ein Brief des Bundeskanzlers an den F.D.P.-Vorsitzenden Graf Lambsdorff. Dieser Brief, den ein vorsitzender Bundeskanzler einer Koalitionsregierung an den Vorsitzenden einer Koalitionspartei schreiben muß, um ihn auf die Verfassungslage bei der Ernennung von Bundesministern hinzuweisen, ist in der Tat ein einmaliger verfassungspolitischer Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Das allein wäre Grund genug für eine parlamentarische Debatte. Denn — ich sage es noch einmal — entweder ist dieser Bestallungsvorgang, wie er von der F.D.P. inszeniert wurde, verfassungsrechtlich korrekt;
dann hat der Brief des Bundeskanzlers nichts anderes zu bedeuten als den Versuch, den Forderungen der CSU zu entsprechen, auf die F.D.P. einzuschlagen. Oder der Bestallungsvorgang ist nicht korrekt; dann kommt der Bundespräsident in erhebliche Schwierigkeiten, wenn er diesen F.D.P.-Kandidaten auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernennen muß,Die Antworten sind unbefriedigend gewesen; deshalb muß darüber debattiert werden. Das ist normaler Parlamentarismus, den wohl alle erst noch richtig begreifen und lernen müssen; Parlamentarismus, der davon abweicht, daß das Ritual vorfabrizierter Reden nach wochenlangen Absprachen zwischen den Fraktionsspitzen vollzogen wird.Der Brief ist gewiß nur ein Anlaß, aber er ist symptomatisch für den Zustand der Bundesregierung.
Symptomatisch für den Zustand der Bundesregierung ist eben auch, daß diese Debatte im Rahmen einer Aktuellen Stunde geführt werden muß und daß die Bundesregierung nicht den Aufforderungen der SPD- Fraktion oder den Aufforderungen der Presse entsprochen hat, diese parlamentarische Woche mit einer Regierungserklärung zu beginnen,
mit einer Regierungserklärung über die Lage der Nation und nicht nur über die Lage der Bundesregierung.
Denn der zweite Teil der Frage, die heute zu der Diskussion führte, lautete doch:. . . welche zeitlichen Abläufe und Entscheidungen ergeben sich daraus für die Besetzung von
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Norbert GanselRessorts, die durch Rücktritte freigeworden sind oder ... neu besetzt werden sollen, in Anbetracht dringend fälliger wirtschaftspolitischer Entscheidung?Das ist doch der eigentliche Skandal: daß der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Murmann, der weiß Gott kein SPD-Mitglied ist, darauf hinweisen muß, daß wir in diesem Jahr 6 Millionen Menschen in Deutschland haben, die Arbeit suchen und keine geregelten Arbeitsverhältnisse für produktive Arbeit haben; 6 Millionen — eine magische, eine verhängnisvolle Zahl in der deutschen Geschichte, die auch etwas über den Rechtsradikalismus, über die Gewalt auf unseren Straßen aussagt.Tatsache ist doch, daß die Wirtschaftsinstitute in der Weihnachtspause dramatische Zahlen veröffentlicht haben, die belegen, daß die westdeutsche Wirtschaft nicht nur in eine Stagnation, sondern sogar in eine Rezession hineinsteuert.
Tatsache ist doch, daß es im Osten schon längst darum geht, wenigstens industrielle Kerne zu erhalten, damit es für die Menschen dort eine industriepolitische Perspektive gibt, und daß der Bundeskanzler in Spitzengesprächen von uns erst mühsam davon überzeugt, daß ihm das abgerungen werden mußte.Tatsache ist doch, daß Sie kein Finanzierungskonzept vorgelegt haben und daß Ihr stellvertretender Parteivorsitzender Geißler Sie öffentlich attackiert und einfordert, zusammen mit den Arbeitnehmerausschüssen der Union — der letzte Rest, den Sie noch an sozialem Gewissen haben —, endlich eine Steuerpolitik zu machen, bei der die stärkeren Schultern für die Verwirklichung der deutschen Einheit mehr tragen müssen als die schwachen.
Tatsache ist doch, daß der Bundeskanzler in der Weihnachtspause nichts Besseres zu tun hatte, als ausgerechnet Sozialhilfeempfängern vorzuwerfen, sie würden das soziale Leistungssystem ausbeuten;
Ausbeuter, ein Begriff, dessen Benutzung mir die Union in meiner Jungsozialistenzeit untersagen wollte, weil wir ihn auf Kapitalisten anwendeten. Sozialhilfeempfänger als Ausbeuter des Sozialleistungssystems, für das Ihre Regierung über zehn Jahre die Verantwortung trägt? Was ist das für eine Regierung!
Anlaß unserer Debatte ist doch, daß hier ein handlungsunfähiges Rumpfkabinett sitzt, das unfähig ist, zu antworten, und Herrn Bohl mit derart schwachen Leistungen oder Herrn Kleinert vorschicken muß, von dem man weiß: Nach seinen Reden geht das Niveau ohnehin nur in den Keller, in dem unten bei Bier am Tresen gesessen wird.
Herr Kollege Gansel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Wo ist Herr Kleinert denn? Holen Sie ihn doch hoch! Er sitzt doch einen Stock tiefer.
Kollege Gansel, darf ich mal meine Frage loswerden, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer gestatten.
Bitte sehr, Herr Irmer, Sie dürfen fragen.
erst einmal eine Aktuelle Stunde und dann eine dreistündige Debatte herbeizwingen, alles unter dem Thema: Brief des Bundeskanzlers an Graf Lambsdorff — und sich hier dann hinstellen und über die angebliche Unfähigkeit der Bundesregierung in wirtschaftspolitischen Fragen zetern. Ich verstehe es einfach deshalb nicht, weil ich daraus nur schließen kann, daß Sie die gegenwärtige wirtschaftspolitische Situation offensichtlich nicht ernst nehmen, —
Herr Kollege Irmer, jetzt müssen Sie zu Ihrer Frage kommen.
— wenn Sie zu solchen Geschäftsordnungstricks greifen müssen.
Schauen Sie, die Aufgabe der Opposition ist nicht nur, die Regierung zu kritisieren, sondern auch, sie auf Trab zu bringen und dazu die legitimen Möglichkeiten der Geschäftsordnung zu nutzen.De- eigentliche Skandal dieser Debatte ist, daß Sie nicht in der Lage sind, eine Regierungserklärung abzugeben, und daß wir diese Diskussion erzwingen mußten.
Der eigentliche Skandal besteht darin, daß in Anbetracht der dringenden wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen Probleme dieses Kabinett als Rumpfkabinett agiert und daß ein geschäftsführender Minister Möllemann im Wirtschaftsministerium sitzt und an Streichlisten und Solidarpakten arbeitet, die möglicherweise sein Kollege Rexrodt ausführen soll, der
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Norbert Ganselsich erst noch einarbeiten muß. Oder wird er schon daran beteiligt?
Kollege Gansel, es gibt den Wunsch nach einer zweiten Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Sperling.
Bitte, Kollege Sperling.
Kollege Gansel, können Sie mir bestätigen, daß wir es dringend nötig haben, über den einstmals gefeierten Programmpunkt der geistig-moralischen Führung durch den Kanzler Kohl angesichts der Zustände des Kabinetts und der Zustände im Land zu diskutieren?
Diese Frage, Herr Kollege Sperling, beantwortet sich durch sich selbst. Ich bin Ihnen dankbar für diesen Kommentar.
Aber es ist ja nicht nur eine Frage von geistigmoralischer Führung, sondern es ist auch eine Frage von wirtschaftspolitischer, finanzpolitischer und sozialpolitischer Führung. Dazu braucht man nun einmal eine einigermaßen handlungsfähige Regierung. Daß Sie seit Jahren von Rücktritten und Entlassungen geplagt sind, ist nicht neu. Aber daß Sie nicht in der Lage sind, in dieser ersten Sitzungswoche ein neues Kabinett vorzustellen, sondern daß Sie das auf Februar vertagen wollten und die Erklärung, daß der Bundeskanzler in der nächsten Woche sein Kabinett präsentieren will, erst erfolgte, seitdem feststand, daß die SPD heute darüber eine Debatte führen will, ist das Skandalöse.
Noch skandalöser ist eigentlich, daß über Monate unwidersprochen in der deutschen Öffentlichkeit — ich könnte Ihnen dazu der Bundesregierung nahestehende Zeitungen zitieren — gesagt werden konnte: Der Bundeskanzler kann die Kabinettsumbildung erst dann wagen, wenn ein einhalb Dutzend Parlamentarischer Staatssekretäre pensionsberechtigt geworden sind.
Herr Kollege Gansel, es wird eine weitere Zwischenfrage gewünscht. Sie müssen mir erlauben, Sie deswegen erneut zu fragen.
Das wird jetzt ja eine ganz lebendige Debatte. Wenn Sie dazu Fragen haben, gerne.
Herr Kollege Gansel, sind Sie etwa der Überzeugung — was ich mir eigentlich kaum vorstellen kann; aber ich frage Sie trotzdem —, daß Sie heute mit Ihrem Beitrag oder daß Ihre Kollegen mit dem, was Sie heute geboten haben, einen Anspruch auf geistig-moralische Führung anmelden können?
Die Vokabel „geistig-moralische Führung" ist von Kohl erfunden worden. Helmut Schmidt, der das in der Sache gemacht hat, hat sich als jemand verstanden, der sich für diesen Staat abarbeitet und sich für diese Republik als Leitender Angestellter ins Zeug legt.
Wirtschaftliche Kompetenz
ist von Ihnen wohl nicht mehr zu erwarten, nachdem alle führenden Manager der deutschen Wirtschaft es abgelehnt haben, in einem solchen Kabinett eine Führungsaufgabe zu übernehmen.
Aber daß Sie wenigstens die Funktion zeitgerecht besetzen können, darauf können wir drängen.
Sie werden die Frage zu beantworten haben, ob unser parlamentarischer Druck den Prozeß der Regierungsumbildung beschleunigt hat oder ob es die Erkenntnis war, daß Parlamentarische Staatssekretäre, wenn sie pensionsberechtigt werden, das ungeheure Privileg haben, daß ein Jahr bei Ihnen nur 273 Tage lang zu sein braucht.
Symptomatisch für diese Debatte ist auch, daß sie mit Verspätung anfangen mußte. Ich bin 20 Jahre in diesem Bundestag. Aber ich habe es heute das erste Mal erlebt, daß der Beginn einer turnusmäßigen Sitzung, ohne daß sie überhaupt eröffnet worden war, mit der Begründung verschoben wurde, es gebe erst eine Fraktionssondersitzung von F.D.P. und CDU/ CSU.
Daß Sie einen solchen Umgang mit dem Parlament pflegen, ist schon schlimm genug. Nur, noch schlimmer ist, daß Sie den Beginn der Sitzung um eine halbe Stunde verschoben haben, um auf die Schnelle einen Antrag für eine Verfassungsänderung zusammenzuschustern,
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11282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Norbert Ganselbei dem es in der Konsequenz um Leben und Tod, um Krieg und Frieden geht. Darum nämlich geht es beim Einsatz der Bundeswehr und bei unserer Aufgabe in den Vereinten Nationen.
Herr Kollege Gansel, es liegen Wünsche nach zwei weiteren Zwischenfragen vor. Ich würde es dabei in einer ZehnMinuten-Rede dann mit den Zwischenfragen bewenden lassen.
Es ist schwierig, Frau Präsidentin, überhaupt zu wissen, wieviel Redezeit ich noch habe.
Sie haben noch eine Minute und vier Sekunden.
Dann möchte ich sagen: Weil wir ja Parlament üben,
haben die beiden Kollegen natürlich ein Recht, ihre Fragen zu stellen.
Frau Präsidentin, es ist ja im übrigen immer ein bißchen problematisch, zu sagen, wo die Beantwortung der Frage aufhört.
Ich passe schon auf.
Danach darf ich vielleicht mit ein paar Bemerkungen meinen Beitrag zu Ende bringen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Gansel, da Sie das Parlament, d. h. uns mehrfach belehrt haben, frage ich: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zunehmen, daß Ihre Rede für mich jedenfalls eine Zumutung für dieses Parlament ist?
Diese Frage war gewiß ein wertvoller Beitrag zur politischen Kultur Deutschlands.
Jetzt der nächste bitte.
Jetzt kommt die Fortsetzung. Ich will Sie nur fragen, ob Ihnen bewußt ist, was für ein dummes Zeug Sie hier reden.
Auch diese Frage ist ein wertvoller Beitrag zum Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich glaube, wer Protokolle von Sitzungen des Deutschen Bundestages auswertet oder wer diese Debatten in der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt — Sie werden sich täuschen; das ist nicht daran abzulesen, wie viele Menschen bei unvorhergesehenen Sitzungen auf der Tribüne des Bundestages sitzen, sondern daran, wie viele sonst zuhören und nachlesen —,
wird sagen: Die Opposition hat ihre Pflicht getan,
und die Regierungsparteien haben versucht, das Parlament zu einem Ort zu degradieren, wo man, wie es einer Ihrer Redner eben sagte, frotzelnde Bemerkungen über Verfassungsfragen macht und wo man sich beschwert, daß man von der Arbeit abgehalten wird, als ob es nicht Aufgabe von uns Parlamentariern wäre, die Fragen, die das deutsche Volk bewegen, die Fragen der Nation hier dann zu diskutieren, wenn sie aktuell sind.
Ich hätte gern im einzelnen kommentiert, was in dieser halben Stunde in Ihren Fraktionen zu den Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen der UNO und darüber hinaus beschlossen worden ist.
Das Tückische Ihrer Vorschläge ist, daß Sie behaupten, die Bundeswehr unter dem Dach der UNO einsetzen zu wollen, während Sie in Wirklichkeit einen Freibrief für weltweite Einsätze liefern, wenn sich daran auch nur ein Staat mehr als die Bundesrepublik Deutschland beteiligt.
Wir werden darüber aber am Freitag ausführlich diskutieren.
Lassen Sie mich zum Schluß nur noch zu einem Punkt Stellung nehmen, der eine ganze Menge über Entscheidungen aussagt, die wir trotz aller Gegensätze und notwendigen Auseinandersetzungen gemeinsam treffen müssen, nämlich bei Verfassungsänderungen.
Herr Kollege Gansel, wenn Sie dazu noch genügend Zeit haben. Ich bin mir nicht sicher. Dann müßten Sie das mit Ihrer Fraktion klären.
Wenn ich in zwei Minuten zum Thema Asyl noch folgendes sagen darf: Ich gehöre zu denen, die in meiner Partei bis an die Grenze ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit für eine gemeinsame Lösung aller Parteien in der Einwanderungspolitik und für die Bewahrung des Asylrechts für wirklich politisch Verfolgte bei allen Fraktionen dieses Parlaments geworben haben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11283
Norbert GanselDie SPD ist auf ihrem Parteitag eine sehr starke interne Belastung eingegangen, und wir haben bei der Parteienvereinbarung bis an den Rand des Möglichen, vielleicht schon darüber hinaus, Kompromißbereitschaft gezeigt. Wie Sie mit diesem Parteienkompromiß umgehen, das läßt mich für die anderen Verfassungsänderungen, die wir in diesem Bundestag zustande bringen müssen, Düsteres befürchten.
Dazu gehören auch Stilfragen. Man kann es kritisieren, daß die Verhandlungspartner nicht feste Vereinbarungen über einen Zeitplan getroffen haben; aber diese Unterlassung in der Öffentlichkeit zu der Diffamierung zu benutzen, daß meine Fraktionskollegen im Urlaub gewesen seien und nicht arbeiten wollten, das ist eine Infamie, die Schlimmstes befürchten läßt.
Und schlimm ist es, daß Bundesinnenminister Seiters Vorlagen gemacht und in die Öffentlichkeit lanciert hat, die den Parteienkompromiß in vielen Punkten wieder in Frage stellen. Dabei gibt er selbst zu, daß unprofessionell verhandelt worden ist und die Vorlagen der Experten aus der Bundesregierung nicht ausreichend gewesen sind, um präzise Formulierungen zu finden.
Zu dieser Infamie gehört auch, daß Sie hier meinen Fraktionsvorsitzenden Klose attackiert haben, weil er nicht hier sei, obwohl er Ihnen mitgeteilt hat, daß er mit einer polnischen Delegation über Fragen des deutsch-polnischen Verhältnisse im Zusammenhang mit der Reform des Asylrechts verhandelt.Wissen Sie, für das, was uns bevorsteht, ist ein Mindestmaß von Vertrauen in den Bereichen erforderlich, in denen man sich geeinigt hat, etwas gemeinsam miteinander zu tun. Wenn Sie das nicht auf bringen, wenn Sie uns dabei nicht in dem Maße entgegenkommen können, wie wir Ihnen entgegenkommen wollen, dann wird es in diesem Parlament weiter harte und bittere Auseinandersetzungen geben müssen. Und wenn das Parlament sich nicht einigen und nicht entscheiden kann, dann wird der Wähler 1994 entscheiden müssen. Es gibt vieles, was wir bis dahin gemeinsam zu tun versuchen müßten.
Kollege Gansel, Sie müssen jetzt zum Ende kommen!
Es gibt wenige Angebote zur Selbsterkenntnis und zur sachlichen Diskussion in dieser Debatte von Ihrer Seite. Sie haben noch eine halbe Stunde Zeit, es nachzuholen.
Danke sehr.
Das Wort hat Herr Bundesminister Bohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst ausdrücklich bestätigen, daß sich Fraktionsvorsitzender Klose wegen anderer terminlicher Verpflichtungen hat entschuldigen lassen. Aber ich glaube, Herr Kollege Möllemann, der das hier vorgetragen hat, hat doch eigentlich recht. Sie stellen sich hier mit dem Brustton der Überzeugung hin und sagen, die Regierung, die durch Parlamentarische Staatssekretäre und Staatsminister sowie durch zwei Bundesminister, nämlich Bohl und Möllemann, präsent ist, sei unzureichend vertreten.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Jungmann, ich meine vorhin, bei dem Beitrag.
Dann kann doch von uns zu Recht darauf hingewiesen werden, daß Länge und Zeitpunkt dieser Debatte in diesem Ausmaß nicht vorhersehbar waren. Deshalb finden Möllemann und wir es eigentlich merkwürdig, daß Sie in dieser Form eine mangelnde Präsenz der Bundesregierung konstruieren. Es ist doch völlig zu Recht von Herrn Möllemann angesprochen worden. Sich jetzt triefend hier hinzustellen und zu sagen: Klose hat sich entschuldigt, und diese böse Bundesregierung greift den Sachverhalt auf, das bedeutet doch, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Das ist doch unerträglich.
Ich muß freimütig bekennen, daß ich zum Teil auch nebenbei etwas gearbeitet habe und vielleicht nicht jeden Beitrag von Anfang bis Ende voll verinnerlicht habe; aber Ihren Beitrag, Herr Kollege Gansel, habe ich nun wirklich von A bis Z zur Kenntnis genommen. Jetzt stellen Sie sich hier hin und wollen insinuieren, daß die Kabinettsbildung später erfolge, weil man irgendwelche Parlamentarischen Staatssekretäre und Minister noch 21 — —
— Langsam, jetzt rede ich; es muß doch nicht den ganzen Tag nur Krach gemacht werden!
21 Monate müßten also erst abgewartet werden. Jetzt muß ich darauf hinweisen, daß diese 21 Monate, wie wir durch öffentliche Erklärungen haben nachweisen können, für alle Mitglieder, die nach der letzten Bundestagswahl im Zusammenhang mit der Regierungsbildung berufen wurden, zutreffen, nicht für die später Gekommenen, wie Bohl und andere. Und wissen Sie denn, zu welchen Zeiten diese Gesetzge-
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Bundesminister Friedrich Bohlbung mit den 21 Monaten zustande gekommen ist: doch unter Ihrer aktiven Mitwirkung!
Und Ihre Parlamentarischen Staatssekretäre kassieren auch nach 21 Monaten! Ein Jahr ist erfüllt, wenn 273 Tage erfüllt sind. Wollen wir uns denn die Geltung bestehender Gesetze vorwerfen? Wo sind wir denn hier! Das ist doch wirklich unerträglich.
Als nächstes muß ich sagen: Sie stellen sich hier hin und meinen, die Kabinettsbildung hätte irgendwann im Februar erfolgen sollen. Erst, als die „königliche Opposition" hier aufgetreten sei, hätten wir uns genötigt gesehen, das in der nächsten Woche zu vollziehen. Der Bundeskanzler hat auf seiner Pressekonferenz mitgeteilt, daß es im Januar erfolgt. Wieso sprechen Sie von Februar? Wenn Sie einmal Ihren Terminkalender hernehmen, in dem rot eingezeichnet ist, wann unsere Sitzungswochen sind, stellen Sie fest, daß die letzte Möglichkeit, um den Termin Januar zu erfüllen, der 22. Januar ist, denn danach tagt der Bundestag nicht mehr im Januar, und Kabinettsmitglieder müssen ja hier eingeschworen werden. Wieso sagen Sie also die Unwahrheit vor diesem Hohen Hause?
Der nächste Punkt. Sie werfen dem Bundeskanzler vor, daß er hier eine Kabinettsberufung unter Umständen vornehme, die am Rande der Verfassung seien. Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn der Bundeskanzler dieses Verfahren in dem Schreiben angesprochen hat, ist das die eine Sache. Aber daraus zu konstruieren, es sei ein verfassungswidriger Vorgang, der sich hier anbahne, ist doch abenteuerlich. So etwas müssen Sie zurücknehmen. Sie können doch nicht in Ihrer Ganselschen Manier ständig eine Politik der verbrannten Erde betreiben und sich anschließend hier hinstellen und auf Ehrenmann machen wollen.
Sie stellen sich hier hin und sagen, es sei unmöglich, daß die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. nicht pünktlich um 13 Uhr anwesend gewesen seien, sondern erst noch ihre Fraktionssitzungen absolviert hätten. Entschuldigen Sie, wie häufig haben wir wegen Ihrer Fraktionssitzungen zu spät begonnen!
Das ist doch unkollegial in höchstem Maße. Von den Kollegen aus Ihrer Fraktion, mit denen ich im Ältestenrat und andeswo in den letzten zwölf Jahren zusammengearbeitet habe, ist ein solcher, völlig inakzeptabler Vorwurf nie gekommen. Es ist unkollegial und unparlamentarisch, was Sie hier betreiben. So opfern Sie unseren Parlamentarismus für Ihre Profilierung, Herr Gansel. Das ist der Punkt.
Ich muß das erst einmal abarbeiten, denn das war ja eine Aneinanderreihung von Unwahrheiten überzwölf Minuten. Ich muß das Punkt für Punkt machen.
— Herr Jungmann, jetzt bin ich dran und nicht Sie!Der nächste Punkt. Sie sagen, wir hätten das zu schnell beschlossen, so locker vom Hocker, so, als hätten wir das, obwohl es um das Leben von Soldaten ginge, im Aufgalopp gemacht. Entschuldigen Sie, wir verhandeln seit Monaten; Sie werfen uns vor, wir kämen nicht zu Potte, und wenn wir zu Potte kommen, ist es zu schnell. Das paßt doch gar nicht zusammen.
Wir beraten seit Monaten darüber; das kann man doch aussprechen. Sogar während der Sitzungen haben Kontakte mit der F.D.P. stattgefunden. Alles wird bei uns präzise erarbeitet. Wir lassen uns Ihre Unfähigkeit, der internationalen Verantwortung Deutschlands gerecht zu werden, an dieser Stelle nicht in irgendeiner Form übertünchen.
Der nächste Punkt. Sie sagen, wir wollten nicht über Wirtschaft reden. Menschenkinder! Wir haben die große wirtschaftspolitische Debatte im Zusammenhang mit der Haushaltsverabschiedung gehabt. Das war, auch wenn wir den Kalender von 1992 nicht mehr dabeihaben, nach meiner Erinnerung in der letzten Novemberwoche. Danach haben wir im Deutschen Bundestag noch zwei Sitzungswochen gehabt, in denen auch über Wirtschaftspolitik gesprochen wurde. Und für morgen, Herr Kollege Rüttgers, war auch eine wirtschaftspolitische Debatte vorgesehen. Wieso sagen Sie, es würde hier nicht über Wirtschaftspolitik gesprochen? Interessant ist nur, daß Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, Kollege Roth, nicht nur nicht da ist, sondern sich schon aus dem Staube macht, weil er offensichtlich annimmt, daß er gar nicht mehr in die Lage kommt, eines Tages einmal Wirtschaftsminister zu werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwsichenfrage des Kollegen Schwanhold?
Nein, jetzt muß ich die Punkte abarbeiten. Wenn ich fertig bin, kommen Sie dran.Der nächste Punkt ist auch abenteuerlich. Sie stellen sich hier hin und können sich kaum beruhigen über Frau Schwaetzer und Herrn Möllemann. Zu Frau Schwaetzer habe ich vorhin in meinem Beitrag schon etwas gesagt.
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Bundesminister Friedrich Bohl— Sie haben aber zu Herrn Möllemann etwas gesagt.
Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Wenn sich jemand hinstellt und vor diesem Deutschen Bundestag und vor der Öffentlichkeit sagt: Ich habe Fehler gemacht;
ich stehe zu diesen Fehlern; ich trete zurück, dann, finde ich, ist das, was von Ihrer Seite geschieht, schlicht und einfach Nachtreterei, und für Nachtreten gibt es eigentlich die rote Karte.
Der nächste Punkt: Wissen Sie, die Maßstäbe, die Sie hier anlegen, müßten Sie doch z. B. — ich bin aus Hessen und nicht aus Nordrhein-Westfalen, aber so ein bißchen verfolgt man das ja in der Presse — auch bei dem zurückgetretenen Sozialminister Heinemann anlegen. Da ist ein „Drehbuch" geschrieben worden, wie das alles im Parlament ablaufen soll, da hat man sich darüber verständigt.
So ist das gewesen, und das ist verteidigt worden. Ich habe aus diesen Reihen keinen Aufschrei der Empörung gehört, daß der Herr Heinemann zurücktreten müsse. Nichts davon ist gewesen. Das ist doch eine doppelte Moral, die Sie hier praktizieren!
Und das gleiche gilt — ich muß das auch noch erwähnen — für Herrn Lafontaine. Ich will jetzt gar nicht auf das Schreiben eingehen, das im Untersuchungsausschuß eine Rolle gespielt hat. Er hat im letzten Jahr mit seiner Gehaltsabrechnung Probleme gehabt. Entweder konnte er sie nicht lesen, oder sie stimmte nicht — ich weiß auch nicht mehr genau, wie es war —, jedenfalls war es doch ein dicker Hammer. Wo ist denn da eigentlich Ihre Fraktion gewesen? Warum hat sie nicht den Rücktritt von Herrn Lafontaine gefordert? Sie regen sich hier über eine Lappalie bei der F.D.P. oder bei dieser Koalition auf, und das eigene Haus können Sie nicht sauberhalten. Das ist doch die Wirklichkeit. Und wenn Sie das nicht können, dann hören Sie bitte mit den Spielchen auf, die Sie hier betreiben.
Meine Damen und Herren, nun leuchtet hier schon das rote Licht. Ich möchte zum Schluß ganz ehrlich sagen: Das ist — es ist hier schon vom Kollegen Möller gesagt worden — sicherlich keine Sternstunde des Deutschen Bundestages, aber vielleicht könnte es Ihnen doch Veranlassung geben, darüber nachzudenken, ob die Strategie der totalen Konfrontation, die Sie offensichtlich gestern zu mitternächtlicher Stunde beschlossen haben, wirklich unser Land weiterführt. Ich bin der Überzeugung, daß das nicht der Fall ist.Deshalb wirken Sie endlich verantwortungsbewußt und konstruktiv an der Lösung der Probleme unseres Landes mit!
Nun hat der Kollege Julius Cronenberg das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich trete bedrückt, traurig an dieses Pult. Die Debatte läßt einen fast verzweifeln. Ich glaube, daß sie der Res publica geschadet hat.Ich habe eben mit einigen Kollegen überlegt, ob ich den Antrag auf Schluß der Debatte stellen sollte. Nur die Äußerung des Kollegen Gansel, dann würde man uns vorhalten, wir stellten uns dieser Debatte nicht, hat mich veranlaßt, diesen Antrag nicht zu stellen. Aber ich sage Ihnen, verehrter Kollege Gansel, in aller Offenheit: Nach Ihrem Beitrag habe ich es bedauert, nicht trotzdem den Antrag gestellt zu haben, der möglicherweise nach kontroverser Abstimmung den Schluß der Debatte gebracht hätte. Ich bin sogar überzeugt, Herr Kollege Gansel, ich hätte Ihnen persönlich einen großen Dienst erwiesen, wenn ich Ihnen die Blamage dieser Rede erspart hätte.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einmal einen Moment darüber nachdenken, ob es wirklich so sinnvoll ist, es zur ständigen Übung werden zu lassen, einen erheblichen Teil unserer Aktivitäten darauf zu verwenden, uns gegenseitig Schwierigkeiten zu machen oder uns sozusagen gegenseitig in die Pfanne zu hauen,
das Hauptmotiv eines Antrages oder eines Redebeitrages darin zu sehen, dem anderen, dem politischen Gegner — ich spreche lieber vom politischen Wettbewerber — eins auszuwischen. Das mag ja offensichtlich die Lustgefühle des einen oder anderen Abgeordneten und Kollegen befriedigen, aber es dient nicht der Res publica und nicht der Würde dieses Hauses.
Wenn Sie, Kollege Gansel, der Rede des Kollegen Kleinert genau zugehört hätten, dann hätten Sie alles daraus entnehmen können — auch dann, wenn Sie ihn persönlich nicht sympathisch finden —, was notwendigerweise zu dem Thema zu sagen war, das ursprünglich Gegenstand dieser Debatte war. Der ganze Aufwand, der für diese Debatte betrieben worden ist, ist der Mühe nicht wert gewesen.
Es steht fest — und ich kann mir allen Ernstes nicht vorstellen, daß irgend jemand in diesem Hause ernsthaft daran zweifelt —, daß es in der F.D.P. niemanden gibt, der die Verfassungslage in Frage stellt. Es kann doch kein Mensch bezweifeln, daß dies so ist. Wir
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Dieter-Julius Cronenberg
nehmen für uns in Anspruch — nehmen Sie das zur Kenntnis! —, Verfassungspartei zu sein.
Sie können sicher sein, daß wir mit einem Höchstmaß an Sensibilität an diese Dinge herangehen und sie entwickeln.
Und der Irrtum und der Versprecher eines einzelnen spielt da keine Rolle.
Lassen Sie mich auch folgendes sagen: Was interfraktionell oder innerparteilich als Verfahren praktiziert wird, um sich eine Meinung zu bilden, auch wenn es um Personalvorschläge geht, ist in den verschiedenen Fraktionen und Gruppen sicherlich sehr unterschiedlich. Mann kann z. B. nur den Fraktionsvorsitzenden das bestimmen lassen, man kann auch nur den Parteivorsitzenden in Anspruch nehmen, von mir aus kann man es auch auslosen.
: Man kann auch
den Ministerpräsidenten bitten, wenn maneinen hat!)— Sehr richtig, Herr Kollege Glos. Vielleicht kommt noch einer auf die Idee, es auszukegeln. Im Grunde genommen geht es Sie einen feuchten Dreck an, wie wir das machen. Aber man kann auch schlicht und einfach abstimmen und wählen. Und wenn wir so verfahren, lasse ich mir nicht sagen, daß das undemokratisch oder unanständig sei, sondern es ist ein Verfahren, von dem wir überzeugt sind, daß es unter den gegenbenen Umständen eine faire und angemessene Methode ist.
Wenn Sie anderer Meinung sind, dann machen Sie doch konkrete Vorschläge und probieren Sie sie im eigenen Bereich erst einmal aus! Wenn die Vorschläge gut sind, sind wir bereit — wir sind ja lernfähig —, sie gegebenenfalls zu übernehmen. Etwas Besseres als das von uns praktizierte Auswahlverfahren habe ich in diesem Haus bisher von keiner Fraktion gehört.
Darum finde ich es einfach lächerlich, uns deswegen an den Pranger zu stellen.
Kollege Cronenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gansel?
Gleich, Frau Präsidentin, ich möchte ein paar Gedanken hier geschlossen vortragen.
— Herr Gansel, ich lasse Ihnen die Möglichkeit, einen Moment!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit Recht wird die große Parteiverdrossenheit in unserem Lande beklagt. Sie erstreckt sich auf alle gleichmäßig. Da kommt die CDU, kommt die SPD und kommen wir nicht besser weg. Wir tragen ja dazu bei, daß es diese Parteiverdrossenheit im Lande gibt. Deswegen hätten die Antragsteller für diese Aktuelle Stunde einmal darüber nachdenken sollen, ob sie nicht mit dieser Art der Debatte einen erheblichen Beitrag zu dieser Partei- und Politikverdrossenheit leisten.Es ist nicht meine Art, aber ich muß jetzt zu zwei Personen etwas sagen, von denen eine nicht mehr da ist. Da geht der Joschka Fischer hin und bemängelt die Qualitäten dessen, den wir dem Bundeskanzler zur Ernennung zum Wirtschaftsminister vorgeschlagen haben: einen Mann, der Staatssekretär in einem Fachressort war, einen Mann, der eine Ministerfunktion wahrgenommen hat, der IHK-Erfahrungen hat, der in der Treuhand gearbeitet hat, einen Mann, der von der Vita her viel mehr Voraussetzungen mitbringt als ein Buchhändler für die Funktion des Umweltschutzministers in Hessen. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dem Joschka Fischer, bevor er sein Amt angetreten hat, zu unterstellen, daß er nicht in der Lage sei, dieses Amt im Sinne seiner Partei und seiner Idee wahrzunehmen. Er hatte bei mir eine Schonfrist. Und da wird — ich weiß nicht mehr, von wem — hier unterstellt und gefragt, ob der Kollege Bötsch denn die Voraussetzungen habe, Postminister zu werden. Nein, er war kein Postsekretär, aber Richard Stücklen, einer der besten Postminister dieser Republik, hatte auch keine entsprechende Ausbildung, und der Kollege Leber, den ich nach wie vor für einen der besten Verteidigungsminister dieser Republik halte, war auch kein Unteroffizier und hatte auch keine spezielle Qualifikation.
Was soll denn der Unsinn, uns gegenseitig so etwas vorzuwerfen, uns gegenseitig zu diffamieren? Wir schaden uns doch alle selber. Man schämt sich doch fast, wenn man diese Art der Auseinandersetzung sieht.
Verehrter Kollege Dr. Jens, ich schätze Sie, und ich werde auch auf Grund eines Teiles Ihres Redebeitrages diese meine Wertschätzung nicht mindern. Aber lassen Sie mich mit allem Freimut sagen: Wenn der Bundeskanzler den Günter Rexrodt zum Wirtschaftsminister machen würde und er mich fragen würde, mit wem von den Sozialdemokraten er denn vernünftig über Wirtschaftspolitik sprechen kann, dann hätte ich Ihren Namen genannt. Da hätte ich gesagt: Da können Sie z. B. mit dem Kollegen Dr. Jens ganz vernünftig über die Dinge reden. Nun muß ich mir das ja doch dreimal überlegen.Sie stellen sich an diesen Platz hier hin und erklären, Herr Rexrodt habe nach seiner Wahl Äußerungen getan, die ihn nicht qualifizierten. Das Gegenteil, lieber Dr. Jens, ist der Fall. Er hat z. B. keine inhaltliche Erklärung, keine politisch-inhaltliche Erklärung
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Dieter-Julius Cronenberg
zu der gesamten Problematik abgegeben, um diese Debatte nicht zu belasten und weil es — mit Verlaub zu sagen — auch unanständig gegenüber seinem Vorgänger gewesen wäre.Deswegen: Überlegen Sie sich noch einmal, ob das denn wirklich eine so sinnvolle Bemerkung war, auch wenn Sie glauben, uns damit eins auswischen zu können! Das gegenseitige Auswischen hilft niemandem.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich leugne nicht die Probleme, aber in der Art, wie wir diese Diskussion heute geführt haben, sind diese Probleme nicht zu lösen, sondern wir erschweren im Gegenteil die Lösung.
Rudolf Dreßler hat recht: Die Hauptsache ist die Wohlfahrt unseres Landes. Ja, deswegen verdient diese Regierung, so meine ich, auch von der Opposition in einer so schwierigen Situation Unterstützung, insbesondere dann, wenn eine sinnvolle Alternative nicht da ist. Diese geprügelte Regierung hat mehr Gescheites geleistet, als mancher vermuten mag.Aber wie das auch immer beurteilt werden mag — verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich das zum Schluß sagen —: Ein Minimum an Fairneß ist in einer solchen schwierigen Situation, auch wenn man die inhaltlichen Positionen der Regierung anders betrachten mag, erforderlich. Die notwendige Zusammenarbeit kann nur so hergestellt werden.
Dieses Minimum an Fairneß ist in dieser Debatte von nicht wenigen Rednern heute bedauerlicherweise in unverschämter Weise verletzt worden, und ich bedauere dies.
Insofern haben Sie der Res publica, Herr Abgeordneter Sperling, sehr geschadet.Nun haben Sie noch die Zeit, eine Frage zu stellen, Herr Kollege Gansel.
Weil wir doch sonst auch sachlich und menschlich anständig miteinander verkehren:
Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, daß es Probleme bei der Mitwirkung einer Fraktion an der Benennung von Bundesministern gibt. Aber stimmen Sie mit mir darin überein, daß es nicht Privatsache der Parteien ist, wie Sie Kandidaten nominieren, sondern daß im Grundgesetz steht, daß die innere Struktur der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muß, daß zur Ausführung ein Parteiengesetz ergangen ist und das Parteiengesetz scharfe Vorschriften dafür macht,
wie Parteien ihre Kandidaten nominieren dürfen, und daß ein Gremium, das sich aus Bundestagsabgeordneten und Parteivorstandsmitgliedern zusammensetzt und in geheimer Wahl mit verdecktem Stimmzettel eine Person wählt, die faktisch zu einer Bestätigung als Bundesminister durch den Bundeskanzler führen soll, mit dem Parteigesetz nicht vereinbar ist? Sehen Sie das nicht als verfassungsrechtliches und parteienrechtliches Problem an?
Erstens widerspricht es nicht der Verfassung, zweitens nicht dem Parteiengesetz, und drittens sage ich Ihnen — mit Verlaub, Euer Ehren Gansel —:
Es ist besser, ein möglicherweise nach Ihren Vorstellungen nicht richtig zusammengesetztes Gremium in geheimer Wahl eine solche Entscheidung treffen zu lassen als allein den Fraktions- oder Parteivorsitzenden, wie das bei Ihnen üblich ist.
Nun hat der Kollege Dr. Gregor Gysi das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Cronenberg, ich würde Ihnen gerne zustimmen, daß der Anlaß der Debatte eigentlich relativ nichtig ist. So ganz verstehe ich deshalb auch nicht, was hier abläuft, wobei ich sagen muß, daß es natürlich eine Besonderheit ist, daß sich in einer funktionierenden Koalition und in einer funktionierenden Bundesregierung der Bundeskanzler genötigt sieht, dem Vorsitzenden der Koalitionspartei einen solchen Brief zu schreiben, den man nicht — wie der Kollege Kleinert hier — als Frotzelei abtun kann; denn er ist im Stil nicht satirisch gehalten, sondern ziemlich ernst.Wenn das Klima einigermaßen funktionieren würde, hätte nach einem solchen Ausrutscher von Herrn Rexrodt eigentlich auch ein Telefonanruf genügt. Daß man das schriftlich macht, daß man das an die verschiedensten Funktionäre in diesem Parlament verteilt, um einmal ganz deutlich zu unterstreichen, wer hier der Kanzler ist — das sagt dann doch etwas über den Zustand der Regierung und der Koalition aus. Ich glaube, daß es deshalb in dieser Debatte eigentlich darum gehen müßte, was dahinter steckt, während der Brief selbst — das würde ich einräumen — von solch welterschütternder Bedeutung nicht ist.Wir haben einen Rücktritt des Bundesministers Möllemann erlebt — für zwei Briefe, die nach Maßstäben, die in der Bundesrepublik Deutschland sonst gelten, ja eher harmloser Natur sind. Wir können auch nicht ernsthaft so tun, als ob hier nicht ein schwerer Lobbyismus herrschen würde, der das gesamte
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Dr. Gregor GysiGefüge der Wirtschaft, aber natürlich auch die Politik schwer durchzieht.
Jetzt kommt aber für mich der Widerspruch. Ich bin ja natürlich gegen diesen Lobbyismus. Ich frage mich nur, nach welchen Maßstäben vorgegangen wird. Sie kennen Fälle, in denen schlimmere Vorwürfe erhoben wurden — ohne Rücktritt. In dem einen Fall funktioniert er, im anderen Falle funktioniert er nicht. Und wenn man dann wie ich aus ostdeutschen Ländern kommt, versucht man hinter das System zu steigen, wann was funktioniert und wann was nicht. Das ist äußerst kompliziert.
Ich glaube, da wirkt sich dann aus, ob der eine schon immer unbeliebt war oder weniger unbeliebt war, wie er sich dazu im Einzelfall verhalten hat oder nicht;
außerdem wirkt sich wahrscheinlich aus, daß hier durch den Rücktritt etwas vorgetäuscht wird, als ob das wirklich die Moralansprüche der Bundesregierung wären, und das glaube ich nicht. Das will ich deutlich sagen. Insofern wende ich mich auch gegen dieses trügerische Bild.Ich sage Ihnen, daß die Vorwürfe gegen den Parlamentarischen Staatssekretär Riedl für mich wesentlich schwerwiegenderer Natur waren, als er in der bekannten Form dem Zweiten Weltkrieg huldigen wollte und davor Asylbewerberinnen und Asylbewerber in einer Art und Weise rassistisch beschimpft hat, daß ich es unerträglich fand. Damals konnte sich niemand in der Koalition entschließen, ihn zu entlassen, obwohl das dringend erforderlich gewesen wäre.
Hier sehe ich eine Doppelmoral, hier sehe ich völlig unterschiedliche Ansätze im Herangehen, was mich stutzig macht und weshalb ich mich so ungern an diesen Personaldebatten beteilige, die im übrigen letztlich nur Ausdruck dafür sind, daß natürlich ernsthafte Probleme auf diese Bundesregierung zugekommen sind, die sie ohne weiteres nicht mehr lösen kann.Herr Bundesminister Bohl, ich habe Ihnen sehr genau zugehört. Ich erkenne in den Ausführungen der Bundesregierung doch immer mehr auch so eine Art Unwirschheit, eine Art Unzufriedenheit. Wenn ich das einmal psychologisch werten darf, kommt es mir so vor, als ob Sie sich doch an die Wand gedrückt fühlen, weil die Fülle der Probleme Sie überfordert, und dann fängt man an, so zu reagieren, dann verliert man die Gelassenheit und auch die Souveränität, die eigentlich eine Regierung auszeichnen sollte.Ich bestreite allerdings, daß die Regierung handlungsunfähig ist. Sie ist handlungsfähig, z. B. bei der Abschaffung des Asylrechts und bei der Schließung der Grenzen mit entsprechenden technischen Anlagen. Sie ist offensichtlich auch handlungsfähig, wenn sie beschließen will, daß nun endlich die deutsche Bundeswehr international eingesetzt werden soll, undzwar möglichst überall in der Welt, wenn ich den Kompromiß, der da von den Koalitionsparteien oder -fraktionen beschlossen worden ist, richtig verstanden habe. Ich weiß bloß nicht, worin da der Kompromiß bestehen soll.Sie ist handlungsfähig bei der Demütigung der Ostdeutschen, bei der Vergrößerung des wirtschaftlichen Chaos in den neuen Bundesländern, bei der völligen Veränderung der Eigentumsstrukturen in den neuen Bundesländern mit dem Ergebnis, daß heute da überhaupt keiner mehr weiß, was ihm gehört oder was ihm nicht gehört, gerade bei Immobilien, was natürlich auch dazu führt, daß nicht nur die Bürgerinnen und Bürger äußerst unzufrieden sind, weil sie erworbene Rechtsgüter verlieren, sondern was auch dazu führt, daß Investitionsentscheidungen und vieles andere ausbleiben. Im Ergebnis haben wir es mit einer Rechtsunsicherheit zu tun, die ich für ganz und gar unerträglich halte.
— Nein, keineswegs. Ich weiß bloß immer gar nicht, warum Sie nicht besser sein wollen als die SED. Wenigstens dieses Ziel sollten Sie sich doch stellen. Daß Sie immer nur darauf hinweisen, daß Sie nicht schlimmer sind als die SED, finde ich ein bißchen wenig.
— Unterschiedlich, das kann ich so undifferenziert nicht beantworten. Ich bin z. B. der Meinung, jemandem, der 1953 in der DDR ein Grundstück übernommen und es seitdem gepflegt und gehegt hat — und ich weiß, was das in der DDR bedeutete; für einen Sack Zement waren Sie schon fast im Gefängnis, weil es so schwer war, den zu besorgen —, das heute wegzunehmen, das ist für mich eine ganz grobe Ungerechtigkeit — das sage ich Ihnen —, und das ist unerträglich für die Vielzahl der Bürgerinnen und Bürger, die das betrifft.
— Das können Sie doch nicht im Ernst leugnen.Die Bundesregierung ist natürlich auch handlungsfähig, wenn es darum geht, ein Sozialpaket vorzulegen, das noch drastischer von unten nach oben verteilen soll. Um nur ein Beispiel zu nennen — die Diäten finde ich gar nicht so wahnsinnig wichtig, und dennoch muß man es einmal sagen —: Sie konnten Ende vergangenen Jahres doch nicht ernsthaft vorschlagen, die Sozialhilfe für drei Jahre einzufrieren, keine Steigerung vorzunehmen, während wir in dieser Woche über die Erhöhung unserer Diäten und unserer Aufwandsentschädigung debattieren. Das kann von der Bevölkerung doch nur so wahrgenommen werden, daß wir hier eine Selbstbedienungsmentalität an den Tag legen und daß wir natürlich nicht darangehen —
das heißt, wir würden schon darangehen, aber dieKoalition eben nicht —, den Besserverdienendenetwas wegzunehmen. Aber dann stellt sich Herr
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Dr. Gregor GysiKleinert hier hin und sagt, die Besserverdienenden müssen ja beleidigt sein, wenn man immer so auf ihnen herumhackt.Nein, es geht doch ganz einfach darum, soziale Lasten wesentlich gerechter zu verteilen. Dazu brauchen wir auch eine wesentlich gerechtere Steuerpolitik, als sie gegenwärtig praktiziert wird; ich sage nur das Stichwort Ehegattensplitting und vieles andere mehr. Sie wissen genau wie ich, daß das reine Geldvermögen der Produktionsunternehmen der alten Bundesländer seit der deutschen Einheit um über 20 % gestiegen ist. Wer wagt sich denn einmal an diese Verdiener der deutschen Einheit heran, damit sie auch etwas davon finanzieren? Statt dessen reden Sie über BAföG, über den Wehrsold der einfachen Soldaten, über die Sozialhilfe und fordern außerdem Lohnverzicht auch gerade in den unteren Einkommensgruppen. Das ist wirklich grobe soziale Ungerechtigkeit, und dagegen werden wir uns immer wenden.Unfähig ist die Regierung allerdings und insofern auch handlungsunfähig, wenn es um den wirksamen Kampf gegen Rechtsextremismus und vor allem den gewalttätigen Extremismus geht. Unfähig und auch handlungsunfähig ist die Bundesregierung, wenn es um den wirtschaftlichen Aufbau im Osten geht. Im Juni 1990, vor der Währungsunion, habe u. a. ich — ich sage das hier einmal — darauf hingewiesen, daß bei dieser Art und Weise der Währungsunion mit einer massenhaften Schließung von Betrieben und mit einer Massenarbeitslosigkeit zu rechnen ist und daß die begleitende Maßnahme zumindest eine degressive Lohnsubventionierung sein müßte, um sozusagen die Marktfähigkeit der Betriebe Schritt für Schritt herzustellen.
Alle diese Vorschläge sind abgelehnt worden, auch als sie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung als Bleichlautende Vorschläge erhoben wurden.Jetzt, nachdem fast alles in den Brunnen gefallen ist, stellt sich der Bundeskanzler hin und sagt: Man muß die Industriekerne erhalten, obwohl seit Jahren darüber geredet wird, aber es ist nichts Konkretes diesbezüglich getan. Sie wissen, daß die Industrielandschaft in den neuen Bundesländern schon fast zerstört ist, zum Teil übrigens auch aus dem Motiv heraus, sich unliebsame oder mögliche Konkurrenz gar nicht erst an den Hals zu holen, was natürlich in jeder Hinsicht gegen die sozialen Interessen der Menschen in den neuen Bundesländern gerichtet ist.Ich sage Ihnen, Sie sind auch handlungsunfähig geworden, soziale Sicherheit zu garantieren, wenn das soziale Paket, das Streichpaket, was dort vorgeschlagen worden ist, Realität wird. Die Leidtragenden sind keineswegs nur mehr etwa die Menschen in den neuen Bundesländern. Auch hier müssen wir in unserer Politik, sage ich hier offen, einiges korrigieren. Es gibt in den alten Bundesländern immer mehr Menschen, die man als arm bezeichnen kann, um deren soziale Sicherheit man sich sehr ernsthafte Sorgen machen muß. Wir haben fast 1 Million Obdachlose inder Bundesrepublik Deutschland. Sie tun so, als ob das kein Problem wäre. Nichts passiert beim Sozialen Wohnungsbau. Wir haben eine Vielzahl anderer Probleme, darunter die weiter steigende Massenarbeitslosigkeit. Übrigens sind das alles soziale Probleme, die letztlich auch einen Nährboden für Rechtsextremismus bilden. Auch das wissen Sie. Es besteht nicht nur eine soziale, sondern auch eine politische und moralische Verantwortlichkeit dafür, diese Dinge Schritt für Schritt abzubauen.Wenn eine solche Regierung in diesem Umfang unfähig ist, dann muß sie daraus Schlußfolgerungen ziehen. Leider kann sie, was die entscheidenden Themen betrifft — Asylrecht, Einsatz der Bundeswehr und vielleicht sogar die Sozialfragen —, auf immer mehr Zustimmung von der SPD rechnen. Ich finde das höchst bedauerlich. Aber dann sollte die CDU/CSU, wenn sie nun mit der F.D.P. nicht mehr hinkommt, wenigstens offen eine Koalition mit der SPD anbieten. Dann könnte sie sich dazu verhalten, und wenn es zu ihr käme, könnte sich auch die Bevölkerung zu dieser Koalition verhalten. Wenn Sie auch das nicht wollen und wenn Sie diese Probleme nicht meistern können, dann, meine ich, ist der Tag gekommen, wo die Bundesregierung sagen muß: Wir können nicht mehr, wir wissen einfach nicht mehr weiter, wir treten zurück und schreiben Neuwahlen aus.Danke.
Nun hat der Kollege Ernst Schwanhold das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, zu wirtschaftspolitischen Fragen zu reden. Gestatten Sie mir in der ganz kurzen Zeit zwei Bemerkungen zu Herrn Bohl und Herrn Cronenberg.Herr Bohl, ich finde es richtig, ehrlichen Umgang einzufordern. Dann bitte ich Sie sehr herzlich, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Wirtschaftsausschuß heute in Erfurt getagt hat und der Sprecher der SPD-Fraktion genausowenig hier sein kann wie der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses und der Sprecher der CDU.
Insofern sollten Sie dies nicht zum Vorwurf machen.An Herrn Cronenberg gewandt: So zu tun, als ob die Entscheidungskriterien zur Findung von Ministern innerhalb der F.D.P. demokratische Legitimation tatsächlich nach außen signalisieren würden, und dann den Vorgang zu vergessen, der sich innerhalb der F.D.P. bei der Ernennung des Außenministers abge-
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Ernst Schwanholdspielt hat, ist schon ein ganz gutes Stückchen Verdrängung von Ursachen für Parteienverdrossenheit.
Der Herr Minister Möllemann ist zurückgetreten. Dafür gebührt ihm Respekt, auch für die Ehrlichkeit und die Begründung heute in der Aussage. Wir haben uns damit auseinanderzusetzen, daß wirtschaftspolitisch in den letzten zwei Jahren entscheidende Fehler gemacht worden sind, die die Wirtschaft mit in den freien Fall einbeziehen, in der sich die Regierung schon befindet. Die Wirtschaft gerät deshalb in den freien Fall, weil sie das Vertrauen in diese Regierung verloren hat, bei konjunktureller Krise und bei struktureller Krise Fähigkeiten zu entwickeln, um gegenzusteuern. Dies will ich Ihnen an mehreren Beispielen verdeutlichen. Das ist nicht nur eine Frage des jetzigen, amtierenden Wirtschaftsministers, sondern auch eine Frage der beiden vorherigen Wirtschaftsminister.Gestatten Sie mir eine Zwischenbemerkung noch zu dem designierten Wirtschaftsminister. Man wird mit ihm streiten, wenn er seine wirtschaftspolitischen Thesen hier vertreten hat. Aber ich bitte Sie sehr herzlich, doch einmal eine Sekunde darüber nachzudenken, was eigentlich Ihre Kollegen aus den ostdeutschen Ländern, also jene Kollegen der CDU, zu dem designierten Wirtschaftsminister Rexrodt gesagt haben; sie haben gesagt, sie wollten ihn nicht, weil er mit der Abwicklung von Treuhandbetrieben belastet sei.
Elbo ist eben ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen muß.
Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen dazu machen, wo wirtschaftspolitische Veränderungen dringend notwendig sind.Erstens kann es nicht so weitergehen, daß wir in wirtschaftspolitischen Entscheidungen — „wir" ist das Parlament insgesamt, aber insbesondere die Regierung, die Verantwortung für diesen Kurs trägt — von der Hand in den Mund leben und keinerlei Vorstellungen haben, in welche Richtung sich die Struktur unserer Wirtschaft in den nächsten Jahren verändern soll, verändern muß und verändern wird. Die Strukturkrise in der Chemie ist doch signifikantes Beispiel dafür, daß ein blühender Wirtschaftszweig auch auf Grund völlig unsinniger, nicht abgewogener Umweltbestimmungen in Fehlentwicklungen geleitet wird und nicht durch Vorgabe von Rahmendaten zu nachhaltiger Entwicklung — „sustainable development" — zu zukunftsorientierter Entwicklung gelenkt wird.Zweitens gibt es keine ausreichende Forschungsförderung.Drittens wird seit Jahren nicht mehr über Bildungsreform gesprochen, um den Anforderungen der sich verändernden Wirtschaft sowohl in Studienprogrammen als auch beim Abitur gerecht zu werden.
Dies ist auch Sache des Bundes.Viertens gibt es keine solide Finanzpolitik, und die Bundesbank ist nicht in der Lage, die notwendigen Zinssenkungen wirklich vorzunehmen, weil niemand weiß, wie die Kreditaufnahme in diesem Jahr aussieht, wohin die Steuerdiskussion geht. Kein Mensch hat den Glauben — dies ist bei der Bundesbank völlig verständlich —, daß die jetzige Regierung auch nur andeutungsweise in der Lage wäre, Ausgaben einzusparen, Steuersicherheit zu bringen
— Charly Hornhues, laß das sein! — und vorzugeben, wo Förderung in Zukunft möglich sein wird, wie wir Ostexporte weiter fortführen können.Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen, und diese meine ich sehr ernst. Wer in dieser katastrophalen wirtschaftlichen Lage — niemand anderes als die Ihnen nahestehenden Wirtschaftsinstitute redet davon — bei der Diskussion und bei der Zerredung des Sozialpakts das letzte stabile Element dieser Wirtschaft, nämlich den sozialen Frieden auch noch gefährdet, versündigt sich an der Zukunft dieses Staates und der Wirtschaft.
Nun hat der Kollege Michael Glos das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn diese heutige Debatte überhaupt einen Sinn gehabt hat, dann meiner Ansicht nach den, daß sie diese Koalition, wenn sie auch nie gefährdet war, doch noch ein Stück enger zusammengetrieben hat, weil sich zeigt, daß es zu ihr überhaupt keine Alternative gibt.
Wenn wir einmal betrachten, welche Sorgen die Bürger in unserem Land haben und was heute unsere Welt bewegt, wie z. B. der Völkermord in Bosnien, der Hunger in Somalia, Religionskriege in Indien, Spannungen im Irak, weltweite Armutswanderungen, die Rolle Deutschlands in der Völkergemeinschaft oder das Tankerunglück vor den Shetland-Inseln — die Probleme, die heute angesprochen worden sind, die wir leider noch oft diskutieren müssen —, die gegenwärtige Wachstumsschwäche in der westdeutschen Wirtschaft, der zähe Aufschwung im Osten, dann hätten wir als Parlament eigentlich Besseres zu tun, als uns einen unnützen Streit über einen Brief zu liefern, den der Bundeskanzler — wie ich meine: völlig zu Recht — an Graf Lambsdorff geschrieben hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schade, daß der Deutsche Bundestag dazu mißbraucht
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993 11291
Michael Gloswird, innerparteiliche Probleme und Spannungen in der SPD zu lösen bzw. von diesen Spannungen abzulenken, indem man mit der Haltet-den-DiebMethode solche Debatten vom Zaun bricht, wie wir sie heute leider erleben mußten.
Niemand hindert Sie, mit anzupacken, die Probleme unseres Landes zu lösen, die wir mangels ausreichender Mehrheit nicht allein lösen können. Sie hätten keinen Parteitag gebraucht, um endlich dieses Problem „Mißbrauch des Asylrechts" anzupacken. Sie hätten dies auch so tun können. Wenn Sie auf die Verfassung verweisen, möchte ich Art. 38 GG zitieren, wo es heißt:Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ... sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
— Ich spreche jetzt vom Parlament, Herr Kollege Gansel. Das Problem des Asylmißbrauchs, das uns so viele Schwierigkeiten bereitet, könnte längst gelöst sein. Die Inszenierung des Parteitags, der Parteitag selbst und daß man die Weltmacht SPD hat ausrücken lassen, war völlig unnötig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Moment laufen die Verhandlungen zum Solidarpakt, wie ich höre, vielversprechend. Ich hoffe, daß die Vernunft siegt und man zu gemeinsamen Lösungen kommt. Der gewaltige Finanzbedarf der neuen Bundesländer und das Abtragen der Erblast des Sozialismus, das wir gemeinsam bewältigen müssen, stellen uns vor eine große Aufgabe. Es ist vollkommen falsch, zu sagen, es geschehe nichts, nur weil im Moment hinsichtlich der Leitung des Wirtschaftsministeriums eine Unsicherheitsphase eingetreten ist. Das Ministerium arbeitet, es ist an allen Gesprächen beteiligt. Es gibt deswegen überhaupt keinen Aufschub in der nötigen Arbeit für unser Land.Ich möchte mit der herzlichen Bitte schließen, daß Sie sich in Zukunft konstruktiv an dieser Arbeit beteiligen, anstatt immer wieder Sand ins Getriebe zu streuen.
Jetzt habe ich noch eine Meldung zu einer Kurzintervention von der Kollegin Homburger.
Frau Präsidentin, ich hatte mich schon vor einer Weile zu einer Kurzintervention gemeldet. Der Grund war, daß ich, als wir heute mittag ins Plenum gekommen sind und die Fragestunde angefangen hatte, gedacht hatte, daß wir heute unter Umständen eine Diskussion über politische Kultur bekämen. Statt dessen haben wir uns heute zwischenzeitlich knapp fünf Stunden lang im Kreis gedreht und haben immer wieder von vorn angefangen. Es gab immer wieder dieselben Vorwürfe, immer wieder dasselbe Ausweichen und
immer wieder dieselben Antworten. Es ist schlicht und ergreifend ein Schauspiel gewesen, das sich hier abgespielt hat, um nicht zu sagen: ein Trauerspiel.
— Das hat nichts mit dem Zustand der Koalition zu tun, sondern mit dem, was hier von Ihnen vorgeführt worden ist.
Wenn man glaubt, daß heute hier eine Diskussion zur politischen Kultur stattgefunden hätte, wo der Herr Kollege Sperling dem Herrn Kollegen Spilker dafür, daß er sich an § 33 der Geschäftsordnung gehalten und in freier Rede gesprochen hat, vorwirft, er spreche unvorbereitet, dann ist das absolut lächerlich.
Wenn Sie glauben, daß die Bevölkerung, wenn sie von Politikverdrossenheit spricht, jemanden hier ausnimmt, dann haben Sie sich getäuscht. Wenn Sie auch noch glauben oder gar davon überzeugt sind, daß wir mit dem, was heute hier vorgefallen ist und mit der Phrasendrescherei, die heute ohne eine tatsächliche inhaltliche Auseinandersetzung stattgefunden hat, zum Abbau der Politikverdrossenheit beigetragen hätten, dann haben Sie sich auch getäuscht. Das einzige, was wir heute hier geschafft haben, ist, daß die paar jungen Leute, die heute auf der Besuchertribüne gesessen haben — es waren zwei oder drei Schulklassen —, von heute an ein- für allemal die Schnauze voll haben von Politik.
Das ist das, was wir erreicht haben. Darüber sollten wir endlich einmal nachdenken.
Ich habe noch eine Wortmeldung zu einer Kurzintervention vom Kollegen Sperling.
Ich würde gern sagen, daß ich der neuen Kollegin für die Äußerung des Unmuts danke. Das gehört hier ins Parlament, auch wenn das eine herbe Kritik an — jetzt sage ich — vielen sein sollte. Aber lassen wir es dabei.Ich möchte der Kollegin auch sagen, daß sie berechtigt ist, das unkorrigierte Protokoll meiner Rede nachzulesen, es vom Stenographischen Dienst anzufordern. Ich habe darum gebeten, dasselbe von Herrn Möllemann zu bekommen, damit man genau nachschauen kann, was denn gesagt wurde. Denn das noch Schlimmere ist nach meinem Empfinden, daß wir einander nicht genau genug zuhören und daß wir einander Vorwürfe für Texte machen, die hier gesprochen wurden und bei denen man selber gar nicht genau hingehört hat.Was Ihren Vorwurf an mich betrifft, verehrte Kollegin: Ich habe Herrn Spilker nicht vorgeworfen, daß er hier unvorbereitet frei gesprochen hat. Ganz im Gegenteil: Ich begrüße solche Verhaltensweisen.
Metadaten/Kopzeile:
11292 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 130. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Januar 1993
Dr. Dietrich Sperling— Ich habe vorbereitet frei gesprochen; ich hatte einen Zettel. Dies ist nicht das entscheidende Problem. Das Problem ist vielmehr, daß er uns erzählt, er sei unvorbereitet von seinem Geschäftsführer aufgerufen worden, hier etwas zu sagen. Wenn er nicht einmal gewußt hat — —
— Lesen Sie den Text von Herrn Spilker einmal sehr genau nach. Ich bin sehr dafür, daß wir die unkorrigierten Protokolle austauschen und nicht die korrigierten. Seit meiner ersten Legislaturperiode weiß ich, daß manchmal die Einlassung eines nachfolgenden Kollegen überhaupt nicht verständlich wird, weil plötzlich korrigierte Protokolle in der Welt sind. Die Einzelkorrekturen, die wir da haben, machen auch nicht den größten Sinn, füge ich hinzu. Es gibt viele Klagen über unser Verhalten hier. So etwas gehört dann auch noch dazu.Ich wollte dies mit der herzlichen Bitte sagen: Fordern Sie meine unkorrigierte Rede vom Stenographischen Dienst an! Dasselbe würde ich gern mit Herrn Spilker verabreden, ich habe versucht, es mit Herrn Möllemann zu machen, damit wir wenigstens das, was hier gesagt wird, sauber gegeneinanderhalten können.Danke schön.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir sind damit am Schluß der Aussprache und unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für morgen, Donnerstag, 14. Januar 1993, 9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.