Protokoll:
12123

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 123

  • date_rangeDatum: 25. November 1992

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:35 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/123 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 123. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Inhalt: Tagesordnungspunkt III: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993 (Haushaltsgesetz 1993) (Drucksachen 12/3000, 12/3541) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes (Drucksachen 12/3504, 12/3530) Hans-Ulrich Klose SPD 10451B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10458D Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 10465 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 10469A Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10471 D Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler BK 10474A Ingrid Matthäus-Maier SPD 10487 C Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 10491 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10491D Dr. Wolfgang Bötsch CDU/CSU 10492D Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 10496C, 10503 D Rolf Schwanitz SPD 10500D, 10503 D Dietrich Austermann CDU/CSU 10504 A Rudolf Dreßler SPD 10506D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 10510D Hinrich Kuessner SPD 10511B Karl Diller SPD 10512B Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10512D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10515 A Ortwin Lowack fraktionslos 10517 C Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10519B Namentliche Abstimmung 10520 B Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes (Drucksachen 12/3505, 12/3530) Ernst Waltemathe SPD 10522 D Dr. Klaus Rose CDU/CSU 10525 B Freimut Duve SPD 10526 C Dr. Sigrid Hoth F.D.P. 10528 A Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste 10529B Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10530C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 10531 D Ortwin Lowack fraktionslos 10534 A Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 10535 C Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/ CSU 10538 C Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung (Drucksachen 12/3514, 12/3530) in Verbindung mit II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksache 12/3527) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 17: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Stand der Verhandlungen mit den NATO-Entsendestreitkräften über die Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes „Nordhorn-Range" (Drucksachen 12/537, 12/3691) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 18: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Dr. Sigrid Semper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Privatisierung der Heimbetriebsgesellschaft mbH der Bundeswehr (Drucksachen 12/1292, 12/3693) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 19: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der an den Haushaltsausschuß zurückverwiesenen Entschließung auf Nummer II der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksachen 12/100, 12/494, 12/531, 12/3758 [neu]) Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10542A Helmut Esters SPD 10545 C Hans-Gerd Strube CDU/CSU 10546A Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD 10546B, 10548A Karl-Ludwig Thiele F.D.P. 10548 B Jan Oostergetelo SPD 10548D Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10550B, 10563 C Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10551A Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10552 C Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 10554 B Jürgen Koppelin F.D.P. 10556 B Walter Kolbow SPD 10556 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 10557 C Dieter Heistermann SPD 10558 A Jürgen Koppelin F.D.P. 10559A Karl Stockhausen CDU/CSU 10561 B Rudi Walther (Zierenberg) SPD 10562 A Volker Rühe, Bundesminister BMVg 10562D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 10567A Walter Kolbow SPD 10567 D Dr. Werner Hoyer F.D.P. 10568A Namentliche Abstimmung 10568 C Ergebnis 10573 C Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 12/3521, 12/3530) Einzelplan 06 Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern (Drucksachen 12/3506, 12/3530) in Verbindung mit Einzelplan 33 Versorgung (Drucksache 12/3526) in Verbindung mit Einzelplan 36 Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/3528, 12/3530) Rudolf Purps SPD 10569 C Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD 10570 D Karl Deres CDU/CSU 10575 D Ina Albowitz F.D.P. 10578 A Erwin Marschewski CDU/CSU 10580 C Ina Albowitz F.D.P. 10582B, 10589B Günter Graf SPD 10583 B Rudolf Seiters, Bundesminister BMI 10586B Nächste Sitzung 10590 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 10591* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt II 20 — Einzelplan 23, Ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 III schäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit —Helmut Esters SPD 10591* B Dr. Christian Neuling CDU/CSU 10593* A Werner Zywietz F.D.P. 10595* C Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 10596* C Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10597 B Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 10598* A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10599* D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Tagesordnungspunkten III 21 — Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versorgung —, III 23 — Einzelplan 36, Zivile Verteidigung — Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10600* C Angela Stachowa PDS/Linke Liste 10602* B Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 10603* B Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Helmut Schäfer (Mainz) F.D.P. zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 10605* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10451 123. Sitzung Bonn, den 25. November 1992 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 25. 11. 92 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25. 11. 92 Burchardt, Ulla SPD 25. 11. 92 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 25. 11. 92 Peter Harry Clemens, Joachim CDU/CSU 25. 11. 92 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 25. 11. 92 ** Ganseforth, Monika SPD 25. 11. 92 ** Gattermann, Hans H. F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 25. 11. 92 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 25. 11. 92 Gries, Ekkehard F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Holtz, Uwe SPD 25. 11. 92 Homburger, Birgit F.D.P. 25. 11. 92 Kolbe, Regina SPD 25. 11. 92 Kubatschka, Horst SPD 25. 11. 92 ** Marx, Dorle SPD 25. 11. 92 Mischnick, Wolfgang F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 25. 11. 92 ** Müller (Pleisweiler), SPD 25. 11. 92 Albrecht Niggemeier, Horst SPD 25. 11. 92 Odendahl, Doris SPD 25. 11. 92 Oesinghaus, Günther SPD 25. 11. 92 Rempe, Walter SPD 25. 11. 92 Reuter, Bernd SPD 25. 11. 92 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25. 11. 92 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 25. 11. 92 * Scheffler, Siegfried Willy SPD 25. 11. 92 Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25. 11. 92 Dr. Seifert, Ilja PDS/LL 25. 11. 92 Dr. Sonntag-Wolgast, SPD 25. 11. 92 Cornelie Thierse, Wolfgang SPD 25. 11. 92 Welt, Jochen SPD 25. 11. 92 Dr. Zöpel, Christoph SPD 25. 11. 92 *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt II 20 - Einzelplan 23, Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit -*) Helmut Esters (SPD): In der überwiegenden Mehrheit der Entwicklungsländer sind die Lebensum*) Vgl. Seite 10569 Anlagen zum Stenographischen Bericht stände gegenwärtig schlechter als vor einem Jahrzehnt: statt Entwicklung nur Rückschritte. Und auch dort, wo reales wirtschaftliches Wachstum war - wie bei uns -, wurde krasse soziale Ungerechtigkeit noch längst nicht aus der Welt geschafft. Auch der Einzelplan 23, also der des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, liegt mit 1,7 % Steigerung im Vergleich zum Vorjahr unterhalb der Marke des Gesamthaushalts. Verglichen mit der Entwicklungshilfe von vor 10 Jahren, die damals 0,49 des Bruttosozialprodukts betrug und im Entwurf 1993 auf magere 0,34 % des BSP kommt, unterstreichen die nackten Zahlen diese Rückwärtsentwicklung. Dabei hatte sich der Deutsche Bundestag bereits noch zu sozial-liberalen Regierungszeiten - einstimmig - hinter das Ziel der Vereinten Nationen gestellt, jeweils 0,7 % des Bruttosozialproduktes für Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen. Zwar ist Geld nicht alles, aber wer wollte angesichts der notwendigen Transferleistungen in unserem eigenen Land bestreiten, daß neben rein monetärer auch technische Hilfe für strukturschwache Regionen benötigt wird. Finanziert werden muß beides. Der Bundeskanzler hatte sich noch im Juni auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio erneut auf das Ziel 0,7 % des Bruttosozialprodukts bis zum Jahre 2000 verpflichtet. Durch den eingebrachten Haushalt '93 wird das Ziel 0,7 % aus den Augen verloren, wird das Auseinanderklaffen zwischen Worten und Taten deutlich. Auch in der Entwicklungspolitik wird die Schwäche dieser Regierung deutlich, die in nahezu allen Bereichen konzeptionslos agiert, sich kurzatmig über die Runden zu retten versucht. Gerade im Bereich der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sind jedoch langfristig angelegte Konzepte bitter nötig, um eine Aufwärtsentwicklung der Länder der Zweiten und Dritten Welt für die Eine Welt zu sichern. Armut, Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und wirtschaftliche Abhängigkeit in den Entwicklungsländern erfordern mehr, als durch diesen Haushalt von der Bundesrepublik getan wird. Folglich fordern wir Sozialdemokraten - auch in einer zugegebenermaßen gesamtpolitisch nicht einfachen Lage - eine realistische Erhöhung des Einzelplanes 23, wissend, daß dieses Geld gleichsam mehr als eine Investition für die Zukunft ist. Zwischen den armen und reichen Weltregionen klaffen Welten. Die Kluft bei den Durchschnittseinkommen nimmt zu statt ab. Die brutalen Trennlinien auf der Ost-West-Achse haben sich aufgelöst, auf der Nord-Süd-Schiene soweit verschoben, daß alte Klischees von dem Norden oder dem Süden keinen Sinn mehr ergeben. Mittlerweile bestehen Arm-ReichGefälle in allen Weltregionen, quer zu allen Himmelsrichtungen. Die globalen Umweltgefahren und die Bevölkerungsexplosion, das soziale Elend und die hoffnungslose Wirtschaftsmisere in vielen Teilen der Welt sollten den Ignoranten die Folgen fehlender Entwick- 10592* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit — auch im eigenen Land — bewußt machen: Der Strom von Asylbewerbern und Elendsflüchtlingen überfordert vielerorts die Menschen, löst Übergriffe von Extremisten aus, die selbst vor Mord, wie wir zu Beginn der Woche schmerzvoll erfahren mußten, nicht mehr zurückschrecken; eine Klimakatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes droht. Deshalb ist eine Steigerung des Anteils der Entwicklungshilfe am Sozialprodukt überfällig, muß eine entwicklungspolitische Offensive aus Gründen der Solidarität und Humanität eingeleitet werden. Die Bundesregierung muß daher die Entwicklung regionaler Zusammenschlüsse fördern und regionale Wirtschaftspolitik unterstützen. Das Nebeneinander wirtschaftlich nicht lebensfähiger Entwicklungsländer angesichts der Zusammenschlüsse wirtschaftlich starker Industrie- und Schwellenländer ist eine Entwicklung in die falsche Richtung. Hierdurch kommen die Entwicklungsländer in immer größere Abhängigkeit, und die Chance, sich auf eigene Füße zu stellen, wird geringer. Am Prinzip bilateraler Hilfe ist festzuhalten, wenn dies effizienter ist als multilaterale Förderung. Ein Konzept für eine regionale Entwicklungszusammenarbeit in Teilen Afrikas, Mittelamerikas, im Nahen Osten und in den südlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion ist überfällig. Die diesbezüglichen Bestrebungen im südlichen Afrika (SADDC) sollte die Bundesregierung aufgreifen. Die bisherige Zurückhaltung bei der Förderung regionaler, wirtschaftlicher Zusammenschlüsse im südlichen Afrika muß sich in eine entwicklungspolitische Offensive für Afrika umwandeln. Die steigende Not in Afrika erfordert eine Erhöhung der Finanzmittel, um dem Kontinent überhaupt wieder eine Chance für Entwicklung zu eröffnen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen mit friedenspolitischen Konzepten zu Abrüstung, Waffenexportkontrolle und Aufbau regionaler Sicherheitssysteme verbunden werden. Zwar lassen sich europäische Erfahrungen nicht schematisch auf andere Regionen der Welt übertragen, aber es ist kein Zweifel, daß sowohl der Helsinki-Prozeß wie die sich erweiternde Europäische Gemeinschaft viel internationales Interesse gefunden haben oder sogar als beispielgebend empfunden werden. Eine entwicklungspolitische Offensive muß mithelfen, einen grundlegenden Strukturwandel in den Entwicklungsländern zu bewirken. Dabei sollte immer wieder betont werden, daß die Hilfe für Osteuropa nicht auf Kosten der Zusammenarbeit mit den klassischen Entwicklungsländern gehen darf: Kein „entweder Zweite oder Dritte Welt", sondern ein entschiedenes Handeln für die Eine Welt. Eine auf langfristige wirtschaftliche Gesundung und Entwicklung gerichtete Strukturanpassung kann nur Erfolg haben, wenn folgende Bedingungen hergestellt werden: Erstens muß die Grundbildung und berufliche Qualifizierung breiter Bevölkerungsschichten angestrebt werden. Die Fähigkeit, sich selbst zu helfen, muß verbessert werden. Folglich müssen die Ausgaben für Bildung aufgestockt werden. Zweitens müssen die Rahmenbedingungen für eine effektivere Wirtschaft und eine rechtsstaatliche, funktionierende Verwaltung sowie eine unabhängige Justiz geschaffen werden. Drittens muß das Bevölkerungswachstum gedämpft werden; Strukturen müssen angepaßt werden, soll heißen, Programme für Armutsbekämpfung und Gesundheit, müssen aufgelegt werden. Viertens muß die Förderung von Eigenmaßnahmen beim Umweltschutz erreicht werden. Hierzu könnte ein eigener Titel im Haushalt eingerichtet werden, woraus die Länder gefördert werden sollten, die auf Eingriffe in die Natur weitgehend verzichten. Doch wie kann man hier glaubwürdig einfordern, wozu man selbst nicht bereit ist? Noch in Rio hat Bundeskanzler Kohl sein nationales CO2-Minderungsprogramm verkündet, 25-30 % weniger an Emissionen bis zum Jahre 2005 zu erreichen. Damit sollte auch das Stabilisierungsziel der EG bis zum Jahre 2000 (CO2-Emissionen auf Stand von 1990) übertroffen werden. Nach dem vorliegenden Verkehrswegeplan ist nach vorsichtigen Schätzungen eher ein Ansteigen der CO2-Emissionen um 50 % zu befürchten. Auch hier wird der Widerspruch zwischen Sonntagsreden und Alltag deutlich. Dabei wissen wir: Um den globalen Umweltkollaps zu verhindern, deren Hauptverursacher wir reichen Industriegesellschaften im Norden sind, ist schnelles Handeln erforderlich. Wir wissen, daß selbst bei sofortigem Umsteuern schlimmste Umweltzerstörungen schon heute nicht mehr zu verhindern sind. Ebenso zwingen Bevölkerungsexplosion und soziales Elend zum Handeln. Wahre Völkerwanderungen, bedingt durch die Wirtschaftsmiseren in vielen Teilen der Welt im Süden wie im Osten sollten uns bewußt machen, daß es längst keine Fragen von Herausforderungen im überkommenen Sinne mehr sind, sondern daß es sich um Fragen des Überlebens der Einen Welt handelt. Eine entscheidende Aufgabe wird deshalb darin liegen, die wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und politischen Verhältnisse so zu verändern, daß die Fluchtursachen beseitigt werden. Dazu bedarf es aber nicht nur der Maßnahmen in den Entwicklungsländern, den Ländern Osteuropas und Änderungen im Nord-Süd-Verhältnis, sondern ganz konkreter Schritte der Bundesregierung hinsichtlich gemeinsam aufeinander abgestimmter Initiativen der Industrienationen, sowie der nationalen und internationalen Hilfsorganisationen. Beim Technologietransfer sind adäquate Eigenanstrengungen zu fördern und gewachsene Handelsbeziehungen, besonders in Osteuropa, zu nutzen. Die Maßnahmen der Außen-, Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Entwicklungspolitik müssen stärker aufeinander abgestimmt werden. Die Bundesregierung muß sich national wie international zu einer Politik verpflichten, die staatliches und privatwirtschaftliches Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10593* Handeln im Sinne eines fairen Nord-Süd-, WestOst-Ausgleichs ausrichtet. In diesem Sinne Willy Brandts, der früh darauf hingewiesen und eine Friedensdividende für die Dritte Welt immer wieder eingeklagt hat, sollten Opposition und Regierung gemeinschaftlich handeln. Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit. Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Lassen Sie mich zu Anfang zu einem aktuellen Problem Stellung nehmen. Den Verlust, den die Entwicklungsländer aus Protektionismus und Handelsbeschränkungen erleiden, ist um ein Vielfaches höher als die weltweit geleistete Entwicklungshilfe. Alle Forderungen an die Entwicklungsländer, marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, bleiben unglaubwürdig, wenn die Industrieländer sich nicht selbst an diese Prinzipien halten. Auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse gilt die Erkenntnis, daß freie Handelsgrenzen der beste Entwicklungshelfer sind. Die aktuellen GATT-Verhandlungen, die aktive Entwicklungspolitik darstellen, müssen zügig und erfolgreich beendet werden. Seit zwei Jahren befindet sich die Welt in einer historischen Umbruchsituation. Der Wegfall des OstWest Konfliktes gibt uns die einzigartige Chance, die globalen Probleme erfolgreich anzugehen: — Stärkung und Förderung der jeweils inländischen wirtschaftlichen Wachstumskräfte, um die Armut vor Ort zu bekämpfen. Hierin liegt sicherlich die wirkungsvollste Maßnahme, um die Wanderungsbewegung zu stoppen, deren Ursache in den wenigsten Fällen die politische Verfolgung, sondern in der Regel die wirtschaftliche Not ist. — Stärkung und Förderung von politischen Reformkräften, damit die Freiheit des einzelnen sowie die Eigeninitiative und Eigenverantwortung des einzelnen gestärkt werden als Ausgangspunkt für die Entwicklung von freiheitlichen Gesellschaftssystemen, sowie — Stärkung und Förderung all der Kräfte, die sich für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen. Jede „Mark", die erfolgreich in Entwicklungspolitik investiert wird, leistet hier einen wichtigen Beitrag bei der Lösung dieser globalen Probleme und ist somit eine lebensnotwendige Investition in unsere Zukunft. Diese generelle Vorbemerkung vorausgeschickt, möchte ich zunächst auf wichtige Eckpunkte eingehen, die die Diskussioin über den Einzelplan des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit bei der Beratung bestimmt haben: 1. Mit einer Steigerungsrate von 2,2 % (im Vergleich zum Soll-Ansatz 1992) liegt der Etat des BMZ im allemeinen Trend des Bundeshaushaltes '93 insgesamt. Seitens der Bundesregierung wie auch des Parlaments wird seit vielen Jahren die Erhöhung der ODA-Quote auf ca. 0,7 % im internationalen Vergleich gefordert. An diesem Ziel halten wir in der Koalition fest. Der eben noch eingegangene Antrag der SPD-Fraktion, die Mittel für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Haushaltsjahr 1993 noch um 2 Milliarden DM aufzustocken, ist angesichts der enormen Belastungen des Bundeshaushalts im Zusammenhang mit der Stärkung der Wachstumskräfte in den NBL kurzfristig nicht realisierbar. Deshalb ist auch die Forderung der SPD-Fraktion nach einer Steigerung der ODA-Quote auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts in dieser Form nicht haltbar. Wir lehnen diesen Antrag deshalb ab. Ich selbst hatte und habe immer meine Skepsis gegenüber einer derartigen Meßgröße geäußert, da sie im Widerspruch steht zu einer auf strikte Konsolidierung der öffentlichen Finanzen angelegten Politik. Für die kommenden Jahre sollten wir jedoch als Ziel anstreben, daß wir uns an der durchschnittlichen ODA-Quote der Industrieländer mit 0,34 % orientieren, mit der Konsequenz, daß in der mittelfristigen Finanzplanung die Steigerung des EP 23 unter Einschluß der Hilfen für die MOE- und GUS-Staaten sich am Wachstum des nominalen BSP orientieren, d. h. in den Jahren bis 1996 um durchschnittlich ca. 4-5 % wachsen sollte. 2. Einen weiteren Schwerpunkt haben wir in diesem Jahr mit der Steigerung der Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa gesetzt, der nunmehr mit 82 Millionen in diesem Einzelplan liegen wird. Zur Erinnerung: gemeinsam über die Fraktionen hinweg haben wir erstmals im Jahr 1990 hierfür einen Ansatz in Höhe von 10 Millionen bei den Berichterstattergesprächen eingestellt. Im Vergleich zu 1993 entspräche dies nunmehr einer Steigerung von 800 %, womit die enorm gewachsene Bedeutung dieses Bereiches in der Entwicklungspolitik deutlich zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig begrüßen wir es, daß nun endlich eine Koordinierungsstelle beim Bundeskanzleramt eingerichtet worden ist, um die Hilfe insgesamt für diesen Bereich zu koordinieren. Wir begrüßen ausdrücklich, daß die hervorragend bewährten Instrumente des BMZ im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nun auch für diese Länder genutzt werden. 3. Das Stammkapital der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) wird um 200 Millionen auf dann 1,2 Milliarden erhöht. Hierdruch wird die DEG in die Lage versetzt, auch zusätzliche Kapitalmarktkmittel aufzunehmen und ihr Umsatzvolumen entsprechend zu erhöhen. Der DEG wird zukünftig ein wichtiger Beitrag zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa sowie in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zufallen. Hierbei muß ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer unternehmerischen Tätigkeit in der Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen diesen Staaten und insbesondere den Neuen Bundesländern liegen. 4. Wir haben erneut die Deckelung bei der internationalen Ernährungshilfe in der Bereinigungsrunde im Haushaltsausschuß aufgegriffen und der Bundesregierung entsprechende Verhaltensregelungen — im Rahmen einer Protokollnotiz — bei der Bereinigungsrunde im Haushaltsausschuß ins Stammbuch geschrieben. Der EP 23 ist in seiner finanziellen Ausgestaltung so eng, daß weitere Spielräume für überplanmäßige Ausgaben nicht gegeben sind. Über- 10594* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 planmäßige Ausgaben müssen gegebenenfalls dann aus dem Bundesetat insgesamt finanziert werden. 5. Die langwierige Diskussion über die Privatisierung von DEG und GTZ sind ebenfalls im Rahmen der Berichterstattergespräche sowie in ausführlicher Diskussion im Fachausschuß abschließend behandelt worden. Eine Privatisierung kommt für beide nicht in Betracht, weil eine wettbewerbsorientierte marktwirtschaftliche Ersatzlösung nicht erkennbar ist aufgrund der besonderen Aufgaben, die beide Organisationen für die Bundesrepublik Deutschland zu erfüllen haben. Bei der GTZ bleibt allerdings anzumerken, daß nunmehr zügig die Optimierung des Vorfeldes umgesetzt wird, daß insbesondere auch die Kooperationsmöglichkeiten mit den privaten Consulting-Unternehmen voll genutzt und gleichzeitig die SynergieEffekte zwischen GTZ (zuständig für die TZ) und der KfW (verantwortlich für die FZ) genutzt werden. Die Eigenständigkeit der GTZ darf allerdings nicht berührt werden. Ein weiterer Schwerpunkt während der Beratungen lag in der Diskussion über die zukünftige Bedeutung der multilateralen Entwicklungspolitik und hierbei insbesondere ihre Stellung zu der bilateralen, zur nationalen Entwicklungshilfe. Sorgenvoll betrachten wir, daß durch eine vom Parlament aus nicht zu kontrollierende Entwicklung im multilateralen Sektor die nationale Entwicklungszusammenarbeit zunehmend in einen immer enger werdenden finanziellen Rahmen gepresst wird und oftmals als „Reservekasse" oder „Notgroschen" für internationale Zusagen herhalten muß. Folgendes ist festzuhalten: 1. Die finanziellen Zuwendungen an bestimmte internationale Organisationen bzw. Fonds haben in den letzten Jahren eine überproportionale Steigerung erfahren. Gravierendstes Beispiel hierbei ist der Europäische Entwicklungsfonds, der in den letzten 10 Jahren (83/93) eine Steigerung um 110 %, von 440 Millionen auf jetzt 940 Mio erfahren hat. 2. Der multilaterale Bereich ist generell einer direkten parlamentarischen Kontrolle entzogen. Einer derartigen Entwicklung kann ein selbstbewußtes Parlament kein Interesse haben. 3. Die Effizienz von großen Organisationen — national wie international — ist in der Regel nicht besonders ausgeprägt. Gerade aber in Zeiten knappster Kassen kommt es darauf an, mit jeder eingesetzten Mark auch ein Höchstmaß an Wirkung zu erzielen. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, folgendes sicherzustellen: 1. Der Anteil der multilateralen Entwicklungshilfe im EP 23 muß bei ca. 30 % verbleiben. 2. Falls aufgrund von Zusagen Aufstockungen für internationale Organisationen erforderlich sind, die über der allgemeinen Steigerungsrate des Einzelplanes liegen, muß der gesamte Einzelplan so angehoben werden, daß die bilaterale Hilfe in gleichem Umfang steigt. Gegebenenfalls müssen auf internationaler Ebene auch einmal die Schlüssel der Beitragsverpflichtungen entsprechend neu festgelegt bzw. zur Diskussion gestellt werden. 3. In jedem Fall ist sicherzustellen, daß die deutschen Lieferanteile den deutschen Kapitalanteilen in den einzelnen Organisationen bzw. Banken entsprechen. Ein besonders negatives Beispiel ist hierbei erneut der EEF: Deutschland ist mit 26 % der größte Geber, bei den Lieferanteilen aber nur mit 10,7 % vertreten. Im Rahmen der Haushaltsberatungen haben wir als weiteren Schwerpunkt die Abstimmung von entwicklungspolitischen Zielen auf internationaler Ebene angesprochen. Wir betrachten auf internationaler Ebene eine Entwicklung, die nur scheinbar mit der Entwicklungspolitik nicht zusammenhängt. Zunehmend bilden sich in wichtigen Regionen unserer Welt größere Wirtschaftsräume und Handelsblöcke (Trend zur Regionalisierung des Welthandels), so z. B. in Afrika: SADCC, Southern African Development Coordination Conference, in Südostasien: AFTA, Regionale Freihandelszone der ASEAN-Staaten (ca. 500 Millionen), in Südamerika (insgesamt 297 Millionen Menschen): Andenpakt — Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela — und Mercuosur — Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay —, in Nordamerika (insgesamt 427 Miollionen Menschen): NAFTA ab 1994 — USA / Kanada / Mexiko. Nicht zu vergessen ist hierbei das global gesehen größte nationale Absatzgebiet nämlich China mit einer Bevölkerung von ca. 1,2 Milliarden Menschen. Ehemalige Entwicklungsländer wie z. B. Südkorea, Hongkong, Taiwan und Singapur wachsen zu vollwertigen Industrieländern heran und sind inzwischen harte Wettbewerber der „Exportnation Deutschland". Derzeitig „noch Schwellenländer" wie Thailand, Malaysia, Indonesien sowie möglicherweise in naher Zukunft auch Argentinien und Chile, werden sich bald zu sogenannten „kleinen Tigern" gemausert haben. China — wie gleichermaßen Vietnam — leiten bereits unbeirrt und sehr schnell pragmatische Wege zu einer marktwirtschaftlichen Entwicklung ein. Als „wirtschafts-politische Sphinx" in der asiatischen Region handelt Japan offensichtlich nach der Devise: „Jede Entwicklungsmark muß insbesondere die Exportbemühungen der eigenen Industrie fördern." Angesichts dieser Entwicklung sehe ich folgende Orientierungspunkte, die von der Bundesregierung zukünftig stärker zu beachten sind: 1. Die im vergangenen Jahr festgelegten verschärften Kriterien für die Vergabe von bundesdeutschen Mitteln für die Entwicklungshilfe (Einhaltung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtssicherheit, marktfreundliche Wirtschaftsordnung sowie Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns) können für einen sichtbar größeren Wirkungsgrad in der Entwicklungspolitik sorgen. Eine ständige Überprüfung der Länderquoten ist gerade auch im Hinblick auf eine politische Akzeptanz bei uns im Lande sowie angesichts der engen finanziellen Grenzen der öffentlichen Haushalte mehr als erforderlich. Zu begrüßen ist, daß der Bundesminister im Rahmen der Beratung erlärt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10595* hat, daß diese Vergabepraxis ihren Niederschlag bereits in der Zusammenarbeit mit einzelnen Ländern gefunden hat. So kam es zu reduzierten Ansätzen wegen mangelnder Eigenanstrengungen und mangelnder Bereitschaft zu notwendigen Strukturanpassungen z. B. in Brasilien, in der Dominikanischen Republik und in Pakistan. Umgekehrt kam es zu einer Anhebung der Quoten wegen positiver Entwicklung z. B. bei den Ländern Bolivien, Nicaragua und Sambia. Die Einhaltung bzw. Umsetzung dieser Kriterien muß konsequent fortgesetzt werden. Entwicklungshilfe kann und wird nur dann effektiv sein, wenn in den Nehmerländern selbst entsprechende Rahmenbedingungen gezielt angestrebt und auch umgesetzt werden. 2. Auf der internationalen Ebene müssen die Geberländer ihre Bemühungen eindeutig verstärken, damit die soeben erwähnten Vergabekriterien als internationaler Maßstab für Entwicklungshilfe allgemein akzeptiert und insbesondere auch von allen praktiziert werden. Folgende Arbeitsteilung wird auf Dauer nicht mehr funktionieren: Wir in Deutschland halten an den Vergabekriterien fest, da sie letztendlich die Umsetzung von Entwicklungshilfe effektiver gestalten. Ggf. reduzieren wir dann auch unsere Entwicklungshilfe auf Kernbereiche, wie z. B. die Aus- und Fortbildung, oder — um in einem Bild zu bleiben — auf die sogenannte „Software" der Entwicklungshilfe. Andere Länder wiederum, wie z. B. Japan, gehen großzügiger mit den Vergabekriterien um, da sie mehr daran interessiert sind, die eigene Industrie bei der Erschließung von Zukunftsmärkten zu unterstützen, z. B. durch die Finanzierung von Großprojekten im Verkehrsbereich; am besten dann noch finanziert über eine internationale Entwicklungsbank; um wieder im Bild zu bleiben: sie konzentrieren sich auf die sogenannte „Hardware". Eine derartige internationale Arbeitsteilung — oder etwas humorvoll ausgedrückt: „burden sharing à la Entwicklungshilfe" hat dann folgende Konsequenz: Wir bilden die Mechaniker aus, damit diese anschließend auch die Toyotas entsprechend warten können, die dann auf den von Südkorea gebauten Straßen fahren können. Eine derartige internationale Aufgabenteilung werden wir nicht weiter tolerieren. Wir müssen bei den internationalen Partnern nachhaltig um Verständnis werben, daß die globalen Probleme auch ein globales abgestimmtes Vorgehen und keine Verfolgung von Partikulärinteressen erfordern. 3. Diese Diskussion zeigt allerdings auch, daß wir in Zukunft zu einer engeren Verzahnung von Entwicklungs-, Wirtschafts- und Außenpolitik kommen müssen. Die Eigenständigkeit eines eigenen Ministeriums für die wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bestens bewährt. Dies muß auch von den anderen Ressorts so akzeptiert werden. Unterschwellige bis offene interministerielle Eifersüchteleien, die so manches Mal zutage treten, müssen angesichts der großen Probleme zukünftig vermieden werden. Es geht letztendlich um unsere Gesamtverantwortung, der man am besten durch gemeinsames Handeln national wie international gerecht wird. Werner Zywietz (F.D.P.): Die diesjährige Haushaltsdebatte findet in einer Phase konjunktureller Abschwächung statt, die nicht nur Bereitschaft zur Ausgabenbegrenzung in allen Politikbereichen verlangt, sondern in der die Bundesrepublik Deutschland insgesamt vor außergewöhnlichen Herausforderungen steht. Die gewaltigen Erblasten von über 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft müssen beseitigt, der Infrastrukturausbau und die wirtschaftliche Erneuerung in den östlichen Bundesländern im Interesse einer Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zügig fortgesetzt werden. Gleichzeitig geht es um die Bewältigung der ausufernden Asyl- und Flüchtlingsproblematik und die Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung bei der Lösung regionaler Konflikte, zur Unterstützung des Reformprozesses in Osteuropa und der GUS sowie zur weltweiten Überwindung von Hunger und Armut. Dies erfordert Augenmaß und eine Politik, die klare Prioritäten setzt. Erste Priorität muß in dieser Situation der Bewältigung unserer Aufgaben auf nationaler Ebene zukommen. Damit schaffen wir gleichzeitig die nötigen Voraussetzungen, um in Zukunft noch größere Leistungen im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen erbringen zu können. Der Etat des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 ist ein Beleg dafür, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen zu ihrer Verantwortung stehen, durch eine qualitativ und quantitativ verbesserte Entwicklungszusammenarbeit zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungsprobleme beizutragen. In einer Zeit größter finanzpolitischer Herausforderungen ist das Ausgabevolumen dieses Etats nicht etwa gesunken, wie es von Pessimisten und Kritikern bereits vorausgesagt wurde, sondern weiter erhöht worden. Mit einem Plafond von 8,457 Milliarden DM steigt der Einzelplan 23 gegenüber dem Vorjahr um 2,2 %. Damit werden die finanziellen Voraussetzungen für eine Fortsetzung unserer langfristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit geschaffen. So wichtig eine weitere Erhöhung der Mittel für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit auch ist, ohne strukturelle Reformen und Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer selbst werden alle Bemühungen der Unterstützung von außen vergeblich sein. Die Nord-Süd-Beziehungen sind heute duch das gemeinsame Bekenntnis zu Marktwirtschaft und guter Regierungsführung geprägt. Eigenanstrengungen und marktwirtschaftliche Reformen in einer Reihe von Entwicklungsländern zeigen erste Erfolge. Wirtschaftliche Fortschritte konnten inzwischen vor allem asiatische und lateinamerikanische Länder erzielen. Der dort festzustellende Anstieg der Direktinvestitionen und der starke Rückfluß von Fluchtkapital sind ein deutliches Indiz dafür, daß die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Mobilisierung privaten Kapitals, wirtschaftliche Gesundung und die Überwindung der Verschuldungsprobleme unverzichtbar sind. Funktionierende Märkte und Freiräume für private unternehmerische Initiative sind damit der entscheidende Ansatzpunkt auch für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Entwicklungsländern. Auf diese Weise wird zugleich ein nachhaltiger Beitrag zur Armutsbekämpfung geleistet. Das Konzept der deutschen Entwick- 10596* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit mißt der Schaffung solcher Rahmenbedingungen, der Privatinitiative und der Förderung eines privaten Unternehmertums große Bedeutung bei. Im Haushalt 1993 sehen die entsprechenden Ausgabetitel hierfür deutliche Steigerungen vor. Ein besonderes Signal für den Ausbau der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde mit der im Zuge der parlamentarischen Beratungen vorgenommenen Bereitstellung einer Verpflichtungsermächtigung in Höhe von 200 Millionen DM für die Kapitalerhöhung der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH (DEG) gesetzt. Hierdurch wird nicht nur eine Förderung von Vorhaben im privaten Sektor ausgeweitet, sondern auch die Grundlage für eine zusätzliche Mobilisierung privaten Kapitals geschaffen. Die Übernahme globaler Verantwortung darf sich allerdings nicht nur auf eine qualitativ und quantitativ verbesserte Entwicklungszusammenarbeit beschränken. Durch eine verantwortungsbewußte und glaubwürdige eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen die Industriestaaten gleichzeitig ihrer Mitverantwortung für stabile weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen gerecht werden. Die konsequente Fortsetzung der auf wirtschaftliches Wachstum und finanzpolitische Stabilität gerichteten Politik dieser Regierungskoalition verdient daher auch unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten nachdrückliche Unterstützung. Angesichts der vor uns liegenden enormen Herausforderungen bedeutet dies weitere Einsparungen in allen öffentlichen Haushalten, Subventionsabbau und eine Lohnpolitik, die den Prozeß der Strukturanpassung und der Schaffung von günstigen Bedingungen für Investitionen, Wachstum und Beschäftigung nicht behindert. Das heißt allerdings auch, daß nunmehr die Chancen für einen erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Verhandlungsrunde des GATT entschlossen genutzt werden müssen. Der inzwischen mit den USA im Agrarbereich erzielte Kompromiß ist akzeptabel und vernünftig. Damit ist der Weg freigeworden für eine Gesamteinigung im Rahmen der GATT-Verhandlungen. Der in greifbare Nähe gerückte Erfolg der Uruguay-Runde darf nicht durch Partikularinteressen gefährdet werden. Ein solcher Erfolg wäre ein wichtiger Wachstumsimpuls in einer Phase geschwächter weltwirtschaftlicher Entwicklung und liegt in unserem ureigenen Interesse. Er ist aber auch von besonderer Bedeutung für die Entwicklungsländer. Fortschritte bei der weltweiten Handelsliberalisierung und ein verbesserter Marktzugang bedeuten für die Entwicklungsländer Deviseneinnahmen und ermöglichen ihnen, industrielle Produkte und Dienstleistungen anderer Welthandelspartner zu kaufen. Eine weitere Liberalisierung des Welthandels fördert nicht nur die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft, sondern schafft zugleich auch günstige Voraussetzungen für die Effizienz und Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit. Freier Welthandel und umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit müssen zu den tragenden Säulen globaler Entwicklungspartnerschaft gemacht werden. Aufgabe der Entwicklungspolitik ist es, ihren Beitrag zu einer solchen Strategie der Zukunftssicherung zu leisten. Der Aufbau demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen, die Bekämpfung der Armut und ihrer Ursachen sowie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen müssen daher zentrale Ziele künftiger Entwicklungszusammenarbeit sein. Ich begrüße, daß die Bundesregierung diesen Erfordernissen Rechnung trägt und die wichtigsten Handlungsfelder des beim Rio-Gipfel verabschiedeten Aktionsprogramms „Agenda 21" zu Schwerpunkten deutscher Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat. Zu dieser konsequenten und sachgerechten Politik gibt es keine Alternative. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt dem heute zur Beratung vorliegenden Einzelplan 23 zu. Wir erwarten, daß die dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 bereitgestellten Mittel und Verpflichtungsermächtigungen zur Lösung der anstehenden entwicklungspolitischen Aufgaben eingesetzt werden. Hierbei haben Sie, Herr Minister Spranger, und die Mitarbeiter Ihres Hauses unsere volle Unterstützung. Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): In der ersten Lesung des Haushaltsgesetzes am 9. September habe ich den Entwurf des Einzelplanes 23 als quantitativ und qualitativ unzureichend und nicht den Erfordernissen der Zeit angemessen bezeichnet. Heute sprechen wir über einen qualitativ unwesentlich veränderten und um 62 Millionen DM gekürzten Etat. An meiner Einschätzung und daraus folgenden Ablehnung des vorliegenden Haushaltsplanes des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich verständlicherweise nichts geändert. Was während der ersten Lesung des Haushaltes von Herrn Minister Spranger noch als leiser Zweifel angedeutet wurde, ist inzwischen auch mit den raffiniertesten Rechentricks nicht mehr zu verschleiern: Die Mittelausstattung des BMZ wird mit den gewachsenen und weiter wachsenden Herausforderungen nicht Schritt halten können. Die Reaktion des Hauses Spranger ist symptomatisch: Der Minister selbst tritt die Flucht nach vorn an und verteidigt (wider besseres Wissen?) das Ergebnis der Haushaltsberatungen als das Optimum dessen, was heute möglich war. Noch einen Schritt weiter geht Frau Geiger mit ihrem Versuch, dieses blamable Ergebnis der Haushaltsberatungen zu beschönigen. Ich frage mich wirklich, welchen Nutzen es hat, über eine Anrechnung der Aufwendung für Asylbewerber in der Bundesrepublik auf die Entwicklungshilfe für die Herkunftsländer auch nur laut nachzudenken. Es ist in der letzten Zeit schon zu viel und unverantwortlich in der Asylfrage argumentiert und propagiert worden. Muß da auch die Menschenrechtsbeauftragte des BMZ ihr Scherflein beitragen, indem sie durch unzulässige, aber eingängige Zahlenspielereien deutsches Selbstwertgefühl steigert frei nach dem Motto: Seht her, was wir leisten? Den Opfern der nach wie vor und auch perspektivisch ungerechten Weltwirtschaftsordnung nützt das herzlich wenig. Um Mißdeutungen vorzubeugen: Schwerpunkt unserer Kritik und Ablehnung des vorliegenden Haushaltsentwurfes ist nicht vorrangig die Quantität Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10597* der bereitzustellenden Mittel, auch nicht die Tatsache, daß das zu kurze Hemd jetzt kaum noch bis unter die Achseln reicht. Wir kritisieren in erster Linie die Disproportionen innerhalb des Gesamthaushaltes, in dem Entwicklungszusammenarbeit marginalisiert und neben Wirtschafts- und Außenpolitik zur Bedeutungslosigleit verdammt wird. Oder, mit anderen Worten, was Herr Minister Spranger mühsam aufbaut, reißen Herr Möllemann und Herr Kinkel in der Regel wieder ein. Die Weigerung, bei Hermes-Bürgschaften auch entwicklungspolitische Kriterien anzulegen, illustriert diesen Vorgang anschaulich. Welchen Wert haben Vergabekriterien, Schwerpunktverschiebungen innerhalb des Entwicklungsressorts, wie sie von Herrn Minister Spranger im September in seiner Nachfrage an den Kollegen Hauchler nahezu erbittert aufgezählt wurden, wenn es nur ausreichend gewichtiger wirtschaftlicher oder geostrategischer Gründe bedarf, um sie vom Tisch zu kehren? Es ist, als ob es Rio nie gegeben hätte. Außer Beteuerungen, Versprechen und großen Gesten geschieht nichts, was die brennenden globalen Probleme einer Lösung auch nur näherbringt. 0,37 Prozent des Bruttosozialproduktes für eine immer größer werdende Gruppe von Entwicklungsländern, davon ein beträchtlicher Anteil für Großprojekte und Großabnehmer — es ist wirklich zum Verzweifeln. Solange der Teufelskreis von Abhängigkeit, Verschuldung, Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung nicht durch radikale Entschuldung und gleichzeitige Umgestaltung der weltwirtschaftlichen Strukturen nachhaltig durchbrochen wird, kann von einer Bewältigung der existentiellen Probleme der Einen Welt keine Rede sein. Im Entwurf des Gesamthaushaltes deutet nichts darauf hin, daß die Bundesregierung verstanden hätte, wie ernst die Lage bereits ist. In unser aller Interesse bleibt zu hoffen, daß sich in der Kosten-Nutzen-Rechnung der verantwortlichen Politiker die von ihnen praktizierte Schadensbegrenzung bald als wirtschaftlich unvorteilhaft erweist. Auf den gesunden Menschenverstand und die Einsicht in die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen in Nord und Süd wage ich bald nicht mehr zu hoffen. Dem Entschließungsantrag der SPD zur Steigerung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des BSP bis zum Jahr 2000 stimme ich zu. Zwar ist das Problem der bundesdeutschen Entwicklungspolitik nicht nur die Quantität der bereitgestellten Mittel, aber eine Steigerung des BMZ-Haushaltes um 2 Milliarden im Jahre 1993 wäre zumindest ein Signal, daß die Bundesregierung die Zeichen der Zeit erkannt hat. Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits der Entwurf des Einzelplans 23 signalisierte schwerwiegende Kürzungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, die, bei allem Verständnis für die angespannte Haushaltslage, für Entwicklungspolitiker kaum zu akzeptieren waren. Die jetzt zur Debatte stehenden Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses sind erst recht kritikwürdig. Er stößt nicht nur eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern vor den Kopf, denen Bundesminister Spranger in seiner Rede zur ersten Lesung des Haushalts ausdrücklich für „ihren großen Einsatz, sich mit viel Idealismus und Zuversicht für die Bekämpfung des Elends in der Welt einzusetzen" dankt, sondern auch die Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit müssen sich düpiert fühlen. Die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses lassen jedenfalls nicht den Schluß zu, daß die Kompetenz und der Sachverstand des für die Entwicklungspolitik zuständigen Ausschusses in irgendeiner Weise an entscheidender Stelle berücksichtigt worden sind. Vorgeschlagene Titelerhöhungen wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, abgelehnt, oder aber die finanziellen Mittel der betreffenden Titel wurden sogar noch gekürzt. Damit werden entwicklungspolitische Beschlüsse des Fachausschusses über Bord geworfen. Der Frauenförderung in der Entwicklungszusammenarbeit wird nach unserer Auffassung nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Eine Erhöhung für den Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen ließ sich, trotz Unterstützung von einigen Kolleginnen und Kollegen der Koalition, nicht durchsetzen. Die Konferenz in Rio hat erneut und nachdrücklich deutlich gemacht, daß für eine weltweite umweltverträgliche und soziale Entwicklung eine Umgestaltung der Lebensverhältnisse auch im Norden notwendig ist. Die Signale, die hierfür von diesem Haushalt ausgehen, sind nicht deutlich genug. Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und die Ausschreitungen gegen Ausländer haben die besondere Bedeutung einer entwicklungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit dringend deutlich gemacht. Deshalb ist gerade die Kürzung des Titels „Förderung der entwicklungspolitischen Bildung" um 1,5 Millionen unverständlich und nicht zu akzeptieren. Der Zusammenhang ist doch deutlich: Immer häufiger wird zur Rechtfertigung des „Stiefkindes" Entwicklungspolitik die Fluchtursachenbekämpfung herangezogen. Ich frage mich, was soll Entwicklungspolitik eigentlich anderes sein. Jede Entwicklungspolitik sollte nach meinem Verständnis zu einer Verbesserung in dem betreffenden Land führen und damit helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Förderung der deutschen Wirtschaft kann immer nur ein Nebenprodukt, nie aber Hauptzweck sein. Ich denke, daß alle Entwicklungspolitiker dieses Hohen Hauses sich darin einig sind. Deshalb ist mir nicht verständlich, weshalb die vom Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorgeschlagene Ergänzung zum Titel 68606 „Förderung von Ernährungssicherungsprogrammen in Entwicklungsländern" nicht aufgenommen wurde. Sie fordert, daß die notwendige Nahrungsmittelhilfe vorrangig durch den Kauf von Überschußangeboten anderer Entwicklungsländer ermöglicht werden soll. Insgesamt wird der ohnehin knappe Etat für die Entwicklungszusammenarbeit nochmals um ca. 98 Millionen gekürzt. Allein der Titel der Finanziellen 10598* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Zusammenarbeit wird um 75 Millionen gekürzt. Die Mittel für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Ländern Mittel- und Osteuropas und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten werden um fast 12 Millionen gekürzt. Nach unserer Auffassung spart in diesem Falle die Bundesregierung am verkehrten Objekt. Einsparungen in der Entwicklungszusammenarbeit führen immer zu Spätfolgekosten, die um ein Vielfaches höher sind. Mehrausgaben sind für eine Reihe von Titeln insgesamt in einer Höhe von ca. 35 Millionen geplant. Nur ein Bruchteil dieser Erhöhungen basiert auf Empfehlungen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der entwicklungspolitische Sachverstand der Haushälter läßt sich noch an anderer Stelle bezweifeln. So werden die Einnahmen aus Zinsen und Tilgungen von Darlehen der bilateralen Finanziellen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern um insgesamt 88 Millionen erhöht. Zwischen Entwurf und Beschlußempfehlung zum Haushalt liegen ein paar Monate. Ich glaube nicht, daß sich in dieser Zeit die internationale Weltwirtschaftslage so verbessert hat, daß ein derartiger hoher Anstieg der Einnahmen — bei den Zinsen sind es 25 % — zu erwarten ist, es sei denn, schon die erste Schätzung war unseriös. Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Trotz der schwierigen Finanzlage wird der Haushalt des BMZ auch 1993 gesteigert. Dies unterstreicht den hohen Stellenwert der Entwicklungspolitik in der politischen Zielsetzung der Bundesregierung. Den Mitgliedern des Haushaltsausschusses — insbesondere den Berichterstattern — und den Kollegen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die sich für diese Steigerung eingesetzt haben, möchte ich meinen herzlichen Dank für die großartige Arbeit aussprechen. Ich werte das Ergebnis der Haushaltsberatungen auch als eine erneute Zustimmung zu unserer entwicklungspolitischen Gesamtkonzeption. Diese Gesamtkonzeption — beruhend auf transparenten Vergabekriterien, einer Konzentration der Zusammenarbeit auf Schwerpunktsektoren und spezifischen Länderkonzepten — hat national und international breite Zustimmung gefunden. Aber auch die Erwartungen an uns sind gestiegen. Vom geeinten Deutschland wird die Übernahme von mehr Verantwortung in der Welt gefordert. Gleichzeitig kommen neue Herausforderungen auf uns zu. Die Beseitigung der Hinterlassenschaft des Kommunismus im ehemaligen Ostblock fordert auch die Entwicklungspolitik. Die Zahl unserer Partnerländer ist durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums gestiegen, ebenso wie der Problemdruck durch Armut, Umweltzerstörung und Naturkatastrophen. Wir müssen uns diesen neuen Herausforderungen stellen. Deshalb bin ich froh über den — wenn auch bescheidenen — Zuwachs unserer Haushaltsmittel, vor allem aber über wichtige strukturelle Verbesserungen, die in den Beratungen erreicht wurden. Dazu zählt insbesondere die Erhöhung des Stammkapitals der „Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft " (DEG) für zusätzliche Aufgaben beim Aufbau der Wirtschaft in Mittel- und Osteuropa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die Staaten im Osten brauchen die marktwirtschaftlichen Erfahrungen der DEG bei der Transformation ihrer Wirtschaften. Die Förderung der Privatwirtschaft als wesentlicher Bestandteil deutscher Entwicklungspolitik erhält damit zusätzliches Gewicht. Ludwig Erhards Modell einer „sozialen Marktwirtschaft" ist gerade in Osteuropa zum Leitbild geworden. Dieses Leitbild schafft die Basis für westliches Kapital und entsandte Experten. Neben der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit hat die multilaterale Kooperation wachsende Bedeutung. Für globale Aufgaben sind multilaterale Institutionen besser geeignet. Maßnahmen des Klimaschutzes, der Meeresverschmutzung und zur Bekämpfung von AIDS können sinnvoll nur weltweit angegangen werden und überfordern auch die Leistungsfähigkeit einzelner Geber. Bei der Bevölkerungspolitik, bei Strukturanpassungsprogrammen und bei der Bewältigung der Schuldenkrise ist multilaterale Zusammenarbeit ebenfalls unverzichtbar. Die gezielten Aufstockungen im multilateralen Bereich, die uns erlauben, die Ergebnisse der Rio-Konferenz im Rahmen des finanziell Möglichen umzusetzen, sind deshalb zu begrüßen. Umgekehrt gilt aber auch: Multilaterale Entwicklungshilfe darf nicht unbegrenzt zu Lasten unserer bilateralen Zusammenarbeit ausgeweitet werden. Ich werde deshalb darauf achten, die gegenwärtige Relation zwischen bilateralen und multilateralen Ausgaben zu halten. Auch in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit müssen Effizienz und Wirksamkeit im Vordergrund stehen. So wie wir mit der Einführung unserer Vergabekriterien eine Qualitätssteigerung unserer bilateralen Hilfe eingeleitet haben, müssen wir auch international einen höheren Effizienzstandard erreichen. Wir werden daher die strikte Anwendung unserer — von der EG-Kommission weitgehend übernommenen — Vergabekriterien fordern und überprüfen. Die parlamentarischen Beratungen zum Haushalt 1993 haben die wichtige Stellung des BMZ bei den Hilfen für Mittel- und Osteuropa und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten erneut bekräftigt. Dies ist um so wichtiger, als die OECD gerade fünf asiatische GUS-Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan) offiziell als Entwicklungsländer anerkannt hat. Weitere GUS- und MOE-Länder werden bald folgen. Die Ausweisung der bilateralen Beratungsmaßnahmen in einem eigenen Titel stellt sicher, daß diese Hilfen zusätzlich und nicht auf Kosten der klassischen Entwicklungsländer erfolgen. An diesem Grundsatz, über den es einen breiten Konsens in diesem Hause gibt, will ich konsequent festhalten. Meine Damen und Herren, bei all diesen positiven Entwicklungen im Einzelplan 23 läßt sich nicht verhehlen, daß die Steigerungsrate hinter dem zurück- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10599 * bleibt, was eigentlich erforderlich wäre und auch international von uns erwartet wird. Der Zuwachs ist gemessen an den neuen Aufgaben und an der gestiegenen Anzahl der Entwicklungsländer gering. Doch um nicht mißverstanden zu werden, sage ich: Mir geht es dabei nicht um ein schlichtes Ressortinteresse. Mein Anliegen ist es, daß Deutschland seine Verpflichtungen gegenüber den Partnern in der Welt erfüllen kann und angesichts der Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, auch erfüllen muß. Genauso wie wir die innere Einheit Deutschlands ohne finanzielle Opfer nicht vollenden können, müssen wir unserer gewachsenen Verantwortung für Frieden und Humanität in der Welt durch eine Steigerung der Hilfe für die ärmeren Lander gerecht werden. Natürlich ist die beschränkte Steigerung des BMZ-Haushalts eine Folge der Beseitigung der verheerenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Erblasten des kommunistischen Systems der ehemaligen DDR. Aber der massenhafte Zustrom von Asylbewerbern, von Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen ist eine vielleicht letzte Mahnung, bei der Bewältigung unserer inneren Probleme den weltweiten Teufelskreis von Unterentwicklung, Armut, Flüchtlingsströmen und Umweltzerstörung nicht aus dem Auge zu verlieren. Diese Probleme wachsen ständig. Dazu kommen die zusätzlichen Aufgaben in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in Osteuropa. Entwicklungszusammenarbeit ist deshalb auch eine Investition in unsere eigene Zukunft. Wenn die Probleme in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa nicht vor Ort gelöst werden, dann werden wir sie bald innerhalb unserer Grenzen haben. Und dann wird ihre Lösung um vieles teurer, von den psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen in unserem Land ganz zu schweigen. Nichts verdeutlicht diese Zwangsläufigkeit klarer als das Asylthema. Wieviel sinnvoller könnten die Milliarden, die wir in Deutschland für Wirtschaftsflüchtlinge ausgeben, zur Bekämpfung der Fluchtursachen eingesetzt werden! Wieviel könnte gespart werden, wenn Flüchtlinge in ihren Heimatländern blieben und ihre Kraft und Fähigkeiten zum Aufbau ihres Landes einsetzen würden! Entwicklungszusammenarbeit verringert Fluchtursachen, sie kann jedoch nicht — das möchte ich noch einmal ausdrücklich klarstellen — das ausbügeln, was innenpolitisch zu regeln ist: Dem Massenmißbrauch des Asylrechts endlich einen Riegel vorschieben. Nach 10jähriger Diskussion und steigenden Asylbewerberzahlen hat ja offenbar auch die SPD einen Handlungsbedarf erkannt. Entwicklungspolitik greift unsere eigenen Zukunftsinteressen auf — daher darf sie bei finanziellen Einsparungen nicht pauschal gekürzt werden! Dies gilt auch für scheinbar Nebensächliches: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird den Herausforderungen nur gerecht werden können, wenn sich das Mißverhältnis zwischen den ständig zunehmenden Aufgaben und der administrativen Ausstattung des Ministeriums nicht noch weiter verschärft. Die ehemalige DDR hat uns Projekte in etlichen früheren „sozialistischen Bruderländern" hinterlassen. Der Zerfall der Sowjetunion und die Entwicklung auf dem Balkan haben voraussichtlich das Entstehen von über einem Dutzend neuer Entwicklungsländer zur Folge. Wir haben schon jetzt weit über 100 Partnerländer in der Welt. Die Rio-Konferenz hat verdeutlicht, welche neuen sektoralen Anforderungen auf uns zukommen. Mit diesem Aufgabenzuwachs hat die Personalentwicklung im BMZ alles andere als Schritt gehalten. Ich bin jedoch dankbar, daß der Haushaltsausschuß dieses Problem auf gegriffen hat und bin zuversichtlich, daß bald auch Lösungen gefunden werden. Meine Damen und Herren, die weltpolitischen Umwälzungen in den letzten drei Jahren haben dramatische Entwicklungen ausgelöst. Wir dürfen uns bei aller Konzentration auf die Auswirkungen in unserem Land nicht davor verschließen, daß in vielen Entwicklungsländern und jetzt auch im Osten Elend und Not herrschen. Wir dürfen die Relationen nicht aus den Augen verlieren: Während bei uns um Erhalt oder Ausbau des Wohlstandes gestritten wird, geht es in Afrika und weiten Teilen Asiens um Leben oder Tod. Diese Erkenntnis verpflichtet uns, unsere Entwicklungszusammenarbeit weiter zu verbessern, trotz oder gerade auch wegen der schwierigen Finanzlage. Es kann nicht sein, daß ein kleiner Teil der Menschheit immer besser lebt und der Großteil immer schlechter. Je konsequenter wir diese Erkenntnis in praktisches Handeln umsetzen, desto sicherer wird die Zukunft für alle auf diesem Planeten sein. Ich werde nicht nachlassen, dafür einzutreten und hoffe auf die Unterstützung dieses Hauses. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Der Einzelplan 23 legt die Heuchelei in der Politik dieser Bundesregierung offen. Da wird die Asyldebatte vom Zaun gebrochen. Eine Welle rassistischer Gewaltkriminalität entwickelt sich, weil die alte/neue deutsche Rechte mit pogromartigen Ausschreitungen reagiert. Die Bundesregierung antwortet, in dem sie den Opfern, Flüchtlingen aus der „Dritten Welt" und aus Ost- und Südosteuropa, die Schuld anheftet. Wenn es dagegen um die Bekämpfung der Fluchtursachen geht, zieht die Bundesregierung sich zurück. Nicht nur, daß die reiche Bundesrepublik noch nie die UN-Norm von 0,7 % des Bruttosozialprodukts erfüllt hat. Die derzeitige Bundesregierung kürzt die viel zu geringe Entwicklungshilfe im Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit noch weiter. Schon im Haushalt für 1992 sank die Entwicklungshilfe real ab, in diesem Haushalt für 1993 sinkt sie real noch weiter. Die UN-Norm wird sogar nur noch zur Hälfte erfüllt. Das ist ein politischer Skandal aller erster Ordnung. Ich habe daher in einem Gruppenantragsentwurf vorgeschlagen, den Entwicklungshilfeetat durch Umlenkung von Mitteln aus dem Rüstungsetat auf die Höhe der UN-Norm aufzustocken. Das Echo war außerordentlich gering. Aber wir bleiben am Ball und werden Ihnen für die nächste Haushaltsrunde erneut 10600* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 einen entsprechenden Antrag mit entsprechend veränderten Zahlen unterbreiten. Doch die direkte Entwicklungshilfe ist wichtig, ihre erhebliche Ausweitung unerläßlich, sie kann jedoch bei weitem nicht die Probleme der „Dritten Welt" lösen. Notwendig sind vielmehr viel umfassendere Lösungen, wie der Schuldenerlaß und die nachhaltige Verbesserung der terms of trade zugunsten der Entwicklungsländer. Doch auch hier sperrt sich bekanntlich die Bundesregierung. Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen und aufzeigen, daß selbst der Schuldenerlaß und die Gewährleistung „gerechter" oder äquivalenter Preise, z. B. durch Rohstoffabkommen und ähnliches, die Probleme der zunehmenden Disparität zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden nicht zu lösen vermögen. In dem Maße, wie sich unsere Wirtschaftsstruktur immer stärker auf moderne, kapitalintensiv erzeugte High-Tech-Produkte hin entwickelt, müssen die Länder der Dritten Welt immer mehr von ihrer Arbeitsproduktivität und ihren natürlichen Reichtümern — verbunden auch mit eskalierenden ökologischen Schäden — beim Tausch gegen unsere High-TechProdukte liefern. Mit den Preisen für diese HighTech-Produkte und dabei wieder gerade für die zur Behauptung in der Weltmarktkonkurrenz notwendigen Investitionsgüter müssen die Entwicklungsländer nämlich Zinsen, Abschreibungen, Wagnisse und anderes auf das riesige und gerade mit neuen Technologien bei uns rasant weiter wachsende industrielle und sonstige Anlagevermögen zahlen. Diese Zinsen tauchen in keiner Verschuldungsstatistik auf. Sie fallen auch an, wenn die Entwicklungsländer, ohne Kredite aufzunehmen, zahlen können. Mit anderen Worten: Nach einem Schuldenerlaß und auch bei Schaffung gerechter Austauschrelationen auf dem Weltmarkt werden die Entwicklungsländer durch diese verdeckten Zinszahlungen in eine neue Verschuldenskrise getrieben. Die Lösung der Probleme der Entwicklungsländer, die Beseitigung eines Großteils der Ursachen für die Flucht von Menschen aus dem armen Süden in den reichen Norden sind sehr viel komplizierter. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung muß auch eine in weiten Bereichen alternative Weltwirtschaftsordnung sein, die auch die Entwicklung angepaßter Technologien und angepaßter Infrastrukturen zur Lieferung an die „Dritte Welt" umfaßt. Dieser mit geradezu mathematischer Präzision verfolgbare Zusammenhang wird in der Entwicklungshilfe dieser Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt, vermutlich gar nicht gesehen. Die Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung verstärkt die Zwangsläufigkeit zunehmender Disparität zu Lasten der Entwicklungsländer sogar mit vielen Maßnahmen noch zusätzlich. Nur eine wirklich alternative Entwicklungspolitik, die wesentliche Strukturkonstanten der modernen kapitalistischen Produktionsweise, darunter gerade auch die ökologisch destruktiven Strukturkonstanten dieser Produktionsweise in Frage stellt, kann Lösungen für den Nord-Süd-Konflikt beisteuern. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Tagesordnungspunkten III 21 — Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versorgung —, III 23 — Einzelplan 36, Zivile Verteidigung — *) Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wissen nicht, ob der vorgesehene Haushalt Makulatur sein wird, bevor die darin anvisierten Zielsetzungen realisiert werden. Denn schon wird ein Nachtragshaushalt vorbereitet, der alles wieder in Frage stellen soll. Aber was noch wichtiger ist: wenn wir uns die brennenden innenpolitischen Probleme der heutigen Zeit ansehen, frage ich mich, welchen Beitrag eigentlich Bundesregierung und Bundestag dazu mit dem jetzt zur Verabschiedung anstehenden Haushalt leisten wollen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Großzügig bekommt der Bundesgrenzschutz seine erste im letzten Haushalt um 30 % erhöhte Ausstattung nun mit der Rekordhöhe von über 2 Milliarden DM garantiert. Ich frage mich, wie man das beim Wegfall der innereuropäischen Grenzen auf Dauer rechtfertigen will. Und warum werden die beim BKA umfangreich aufgebauten Potentiale zur Bekämpfung des Linksterrorismus nicht endlich abgebaut, wo doch klar ist, daß dieses Phänomen in der Bundesrepublik der Vergangenheit angehört? Sollten wir nicht statt dessen fordern, daß der wissenschaftliche Apparat des BKA sich vermehrt etwa um den Einfluß rechtsextremistischer Einflüsse und Beteiligung an Gewaltakten aus dem Ausland kümmert, wie es seine Aufgabe wäre? Oder daß der wissenschaftliche Apparat sich vermehrt um die gesellschaftlich-politische Prävention des Rechtsextremismus kümmert, so wie er sich etwa um das Thema sexuelle Gewalttaten gekümmert hat? Oder scheut etwa die Bundesregierung erwartbare Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die ihr die eigenen Sünden um die Ohren hauen könnten? Unverantwortlich finde ich es auch, wenn entgegen allen Ankündigungen über notwendige Sparmaßnahmen im Haushalt der Geheimdienste z. B. die Sachkosten des Bundesamtes für den Verfassungsschutz nicht etwa drastisch gesenkt werden, sondern noch immer stolze 232,816 Millionen DM betragen, von den Personalkosten einmal ganz zu schweigen. Dies korrespondiert mit den im Haushalt des Bundeskanzlers vorgesehenen Erhöhungen der sächlichen Verwaltungskosten für den Bundesnachrichtendienst auf die Rekordhöhe von 242,1 Millionen DM. Hierzu paßt es, daß der Verfassungsschutz für sogenannte Maßnahmen der politischen Bildung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eine Etaterhöhung zugeschanzt bekommt, während der Etat für entsprechende Maßnahmen der Bundeszentrale für politische Bildung eingefroren oder gekürzt werden soll. Mickrige 400 000 DM wird die Bundeszentrale z. B. für Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und anderer Vorurteile bekommen! Ich sage das angesichts der Tatsache, daß der Verfassungsschutz in den letzten Jahren bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus vollkommen versagt hat. Wer wie wir der *) Vgl. Seite 10575D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10601* Auffassung ist, daß die Geheimdienste nachweislich eher Schaden anrichten als nutzen, kann den Etatposten für die Nachrichtendienste, die mittlerweile mit Personalkostenanteil die Milliardengrenze weit überschritten haben, unmöglich zustimmen. Fast 60 Millionen DM ist der Bundesregierung auch der Jahresetat des umstrittenen Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik wert, dessen Mitarbeiter sich überwiegend aus den Nachrichtendiensten rekrutieren. Umfassend sind wir bereits bei den letzten Haushaltsberatungen auf die nach unserer Auffassung völlig überflüssigen Mittelzuweisungen im Rahmen des Einzelplanes 36 für zivile Verteidigungsmaßnahmen eingegangen. Hier hat es zwar Mittelumschichtungen und geringfügige Kürzungen gegeben, im Kern aber hat sich nichts geändert. Auch die weitere Privilegierung des Technischen Hilfswerkes ist unerträglich. Wofür brauchen wir in Mitteleuropa nach Überwindung des Ost-West-Gegensatzes weiterhin einen zivilen Bunkerbau oder den Neubau von Lagern des technischen Hilfswerkes? Wir sagen: Katastrophenschutz ja, aber zivilmilitärische Ausgaben für den Verteidigungsfall nein! Hier unterstütze ich auch den Streichungsantrag der PDS zu diesem Haushaltsansatz. Noch lange nicht ausgelotet sind umfangreiche Sparpotentiale, die sich seit den Zeiten des Revanchismus umfangreicher sogenannter Kulturförderung erfreuen können, etwa die Bismarck-Stiftung und politisch recht zweifelhafte Maßnahmen der Vertriebenenverbände, die weniger etwas mit Kultur als mit großdeutschen Phantasien zu tun haben. Es wird also viel Geld für zweifelhafte Aktivitäten ausgegeben, während dort, wo es notwendig ist, unverantwortlich gespart wird. Es ist das Elend dieser Politik, daß sie mit ordnungspolitischen Maßnahmen und Zugriffen der Sicherheitsbehörden das versucht wettzumachen, was sie wirtschaftspolitisch, sozialpolitisch und jugendpolitisch nicht nur versäumt hat, sondern geradezu anrichtet. Wenn 90 % aller Jugendclubs und ähnlicher Einrichtungen in Ostdeutschland, die vormals bestanden, nunmehr geschlossen sind, wenn das Jahresbudget des Ministeriums für Frauen und Jugend noch gerade 5,5 % des Budgets des Verteidigungshaushaltes ausmacht, wenn die Arbeitsförderungsmaßnahmen nach dem AFG so drastisch gekürzt werden wie in der AFG-Novelle, wen wundern da noch die Anstiege des Drogenkonsums, der Kleinkriminalität, der Gewalt unter Jugendlichen und — leider auch — die Suche nach Sündenböcken für diese Misere? Und diese Sündenböcke werden dann auch noch nach ideologischer Steilvorlage der Bundesregierung bei Asylbewerbern, hier lebenden Ausländern oder Minderheiten gesucht. Wichtiger scheint es Koalition und Bundesregierung wohl zu sein, 16 Millionen DM im Zusammenhang mit der sogenannten „Rückführung" von Flüchtlingen etwa nach Rumänien bereitzustellen — eine überaus bedenkliche Aktion! Das Kernproblem der Innen- und Rechtspolitik dieser Regierung und der Koalitionsfraktionen ist für mich aber nicht, wofür mit diesem Haushalt insgesamt Geld ausgegeben wird oder nicht, sondern welche politischen Probleme vernachlässigt oder umgekehrt geradezu geschaffen und dramatisiert werden. Hier ist als herausragende Frage der Umgang mit der Asylproblematik zu nennen. Mehr als einmal haben wir die Mitverantwortung der Politik als Biedermann und Brandstifter angeklagt, leider vergeblich. Völkische und ethnische Argumente werden instrumentalisiert, um wahltaktische Vorteile zu erlangen. Die Debatte um das Grundrecht auf Asyl, die eine Lösung der Probleme auch nicht ansatzweise erkennen läßt, hat in verantwortungsloser Weise davon abgelenkt, daß es urn die rationale Behandlung von Problemen geht. Vertuscht werden sollen mit dem öffentlichen Zulassen von Sündenböcken jahrelange Versäumnisse der Bundesregierung etwa im Bereich der Wohnungspolitik, als wäre es die Schuld von Asylbewerbern oder Aussiedlern, daß die Bundesregierung im sozialen Wohnungsbau einen Kahlschlag angerichtet hat. Der Rechtsextremismus ist, außer für den gar nicht so kompetenten Verfassungsschutz, eigentlich gar kein wirkliches Thema für diese Regierung, sondern nur, wenn er zu strafrechtlich zu ahndenden Gewaltakten führt, und insbesondere, wenn sich diese gegen die Staatsmacht selbst richten oder wenn dies zum „Ansehensverlust im Ausland" führt. Wäre es wirklich ein Thema, würde man sich mehr um die Opfer und den Opferschutz kümmern. Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate, d. h. die Angriffe, Überfälle und Mordanschläge auf Flüchtlinge und Einwanderer, sowie die Form der politischen Instrumentalisierung dieses Themas weisen auf eine neue Dimension der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland hin. Die These von einer zunehmenden „Überfremdung" und der Bundesrepublik als Magnet für alle Flüchtlinge dieser Welt wird wider alle Realitäten verbreitet. Tatsächlich finden zur Zeit aber mehr als 90 % der Flüchtlinge in den Ländern der Dritten Welt Aufnahme, dagegen nur etwa 10 % in den ungleich wohlhabenderen Ländern Nordamerikas und Europas. Dies ist eine beschämende Bilanz. Eine ganz konkrete Forderung möchte ich hier an diese Bundesregierung richten. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR haben nach unserer Kenntnis umfangreiche Repressalien zu erwarten, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Gewähren Sie diesen Menschen ein Bleiberecht in der Bundesrepublik, um sie vor drohenden Verletzungen ihrer Menschenrechte zu schützen! Zur „inneren Sicherheit": Die Furcht vor zunehmender Kriminalität, die mit den realen Verhältnissen kaum übereinstimmt und oft aus existenzieller Verunsicherung geboren ist, darf nicht durch unverantwortliche Kampagnen weiter geschürt werden. Lückenlose Sicherheit vor Kriminalität kann es nicht geben, und größerer Schutz ist häufig nur um den Preis der Einschränkung von Freiheitsrechten zu haben. Die Balance beider Anliegen muß in einem sachlichen Diskurs entschieden werden. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen zur Kriminalitätsbekämpfung muß eine Konzentration der Kräfte auf 10602* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Abwehr von bzw. Schutz vor besonders sozialschädlichen Delikten erfolgen. Ich nenne hier nur die rechtsextremen Terrorakte. Umgekehrt bedarf es aber vor allem einer Streichung bzw. Herabstufung überkommener und verzichtbarer Straftatbestände. Ich führe nur ein zentrales Aufgabengebiet an: Sie wissen nur zu gut, daß die repressive Drogenpolitik, der die Bundesregierung anhängt, ihr Scheitern umfassend unter Beweis gestellt hat. Weder hat sie zum Rückgang des Drogenkonsums noch der Drogentoten geführt. In den USA hat der Kongreß dieser Politik unlängst eine katastrophale Bilanz attestiert. Der überwiegende Teil unserer Drogenkriminalität besteht in der Besorgung kleiner Mengen für den Eigenbedarf, ansonsten in der Beschaffungskriminalität durch Autoaufbrüche und Kleindiebstahl, um das Geld für Drogen zusammenzubekommen. Aus diesem Teufelskreis staatlicher Kriminalitätsproduktion. müssen Regierung und Koalition endlich ausbrechen. Ein erster, aber grundlegender Schritt wäre die Legalisierung weicher Drogen. Innere Sicherheit ohne Polizeistaat: Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten soll die Bundesregierung dazu beitragen, die Voraussetzungen besonders bei ostdeutschen Strafverfolgungsbehörden/Polizei zum Schutz vor Alltagskriminalität zu verbessern, z. B. durch Überlassung von Ausstattung und durch fachliche Beratung. Das, was in letzter Zeit als Notwendigkeit zusätzlicher Gesetze öffentlichkeitswirksam verkauft wurde, wird das Gegenteil von dem hervorrufen: nicht nur bei fremdenfeindlichen oder neonazistischen Straftaten brauchen wir im Rahmen weniger neue Gesetze als die Bereitschaft, die bestehenden konsequent anzuwenden. Was nützen neue Gesetze, wenn die Polizei auch schon bei den bestehenden untätig zuguckt, wegguckt, zu spät am Tatort erscheint oder vor Gewalttätern flüchtet? Entschieden werden wir etwa die Erweiterung des Landfriedensbruchparagraphen bekämpfen, wie dies Regierung und Koalition off en-sichtlich baldigst durchziehen wollen. Nicht Einschränkungen der Grundrechte und des Demonstrationsrechts sind gefragt, sondern ihre Garantie und Ergänzung durch demokratische Beteiligungsrechte und, um es noch einmal zu sagen, ein effizienter Einsatz der Polizei dort, wo es notwendig ist zum Schutz potentieller Opfer. Der vorgelegte Haushaltsentwurf zeigt: Weiterhin wird der Ausbau eines zweifelhaften Modells der „inneren Sicherheit" betrieben. Verbaut wird damit zugleich die Alternative der sozialen Sicherheit, deren Fehlen eben erst die Ursachen für zunehmende Kriminalität und rechtsextremistisches Gedankengut z. B. unter Jugendlichen mitherbeiführt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt diesen Haushalt ab. Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Die Behandlung des Einzelplanes des BMI provoziert geradezu, ein Wort zu den schrecklichen Ereignissen von Mölln und überhaupt zu den anwachsenden Ausschreitungen der vergangenen Wochen und Monate zu sagen. Es klingt beinahe wie Ironie des Schicksals, daß in den Bereich des BMI nicht nur der Kampf gegen Kriminalität, der Einsatz für die Achtung der Würde des Menschen gehören, sondern auch Fragen von Kunst und Kultur, und damit eigentlich auch die Sorge um einen kulturvollen Umgang miteinander. Die Verarmung einer Gesellschaft läßt sich nicht nur in Geld ausdrücken; sie beginnt im gesellschaftlichen Maßstab — zu Beginn oft nahezu unbemerkt — dort, wo Kultur, kulturelle Identität verloren gehen und Vandalismus an die Stelle von kulturvollem Umgang tritt. Wir sind leider gegenwärtig Zeugen eines gewaltigen Kulturverlustes, wenn solche Aktionen wie in Rostock oder Mölln oder anderswo unsere tagtäglichen Nachrichten bestimmen. Die gegenwärtig laufende Haushaltsdebatte verdeutlicht sehr drastisch, daß für das geeinte, größer gewordene Deutschland Sparen angesagt ist, aber es unsäglich viele Meinungen darüber gibt, wie und wo gespart werden soll. Kulturförderung ist zwar Ländersache, nur scheint nicht immer allen bewußt zu sein, daß mit dem Einigungsvertrag und seinem Artikel 35 der Bund Verpflichtungen eingegangen ist, die weit über das vorherige Engagement in Sachen Kunst und Kultur hinausgehen. Die Verpflichtung, alles zu tun, damit die kulturelle Substanz in den neuen Bundesländern keinen Schaden nimmt und die kulturelle Infrastruktur gefördert wird, muß schon heute als mißlungen verbucht werden. Zu viel Bewahrenswertes ist inzwischen verloren gegangen. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn einige vom Massensterben kultureller Einrichtungen sprechen. Zwei Drittel von 7 322 befragten Bürgermeistern im Osten Deutschlands schätzen das kulturelle Angebot als schlechter im Vergleich zur Zeit vor der Wende ein. Sie alle beklagen den Verlust von Jugendzentren, Kinos, Bibliotheken. Unvollständige Statistiken sagen aus, daß 40 % aller Freizeiteinrichtungen und 50 % aller Kinos in den vergangenen Jahren geschlossen wurden. Durch die Kultursparprogramme in den neuen Bundesländern droht der Zusammenbruch jahrhundertealter Kulturszenen, warnen die Theater-Intendanten der Stadt Dresden. Es ist doch wohl offensichtlich geworden, daß sich die führenden Politiker dieses Landes geirrt haben, was den Zeitraum der tatsächlichen Vereinigung betrifft. Wer diesen Irrtum zugibt, der muß auch die Vorstellungen über die Kulturförderung revidieren. Wenn Björn Engholm nach seinem Treffen mit Bundeskanzler Kohl am Montagabend im Fernsehen von „Dramatik" in der Entwicklung im Osten Deutschlands spricht, so hatte er dabei sicher nicht die Kultur im Sinn, hat aber damit die Ursachen auch für kulturelle Schwierigkeiten indirekt benannt. Experten schätzen ein, daß die Finanzkraft der neuen Bundesländer 1995 erst 30 % vergleichbarer westdeutscher Gemeinden betragen werde. Woher sollen diese denn das Geld nehmen, um überhaupt etwas für die Kultur zu tun? Es geht also meines Erachtens nicht nur darum, die Kulturförderung seitens des Bundes auch weit über das Jahr 1993 fortzusetzen, worin ich mir sicher mit vielen Kolleginnen und Kollegen einig bin, sondern schon für 1993 so zu sichern, daß weitere irreparable Schäden im Kulturbereich der neuen Bundesländer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10603* vermieden werden. Deshalb ist für mich die Aussage in der Drucksache 12/3591 — Bericht des Haushaltsausschusses — auf Seite 20, wonach die haushaltsrechtlichen Bedingungen geschaffen wurden, „um die einigungsbedingte Kulturförderung des Bundes in den neuen Bundesländern etwa in der vorjährigen Höhe weiterzuführen", zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben nur ein halbherziger, der keinesfalls den Anforderungen entspricht. Dies bedeutet zwar eine Korrektur des ursprünglichen Planes, die Hilfe des Bundes auf 310 Millionen DM zurückzufahren, wird aber dennoch viele Schlösser, Theater, Museen, Künstler und Künstlergruppen nicht vor dem Ruin bewahren helfen. In Anbetracht der steigenden Kosten im Osten Deutschlands für Löhne, Mieten für Ateliers und andere Objekte, Unterhalt von Einrichtungen, im Verwaltungsbereich, praktisch für alles, was auch Kunst und Kultur betrifft, sind weitere eklatante Einbrüche in Qualität und Quantität in allen Bereichen der Kulturszene bereits vorprogrammiert. Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf wird die Kultur im Osten Deutschlands nicht gefördert, sondem maximal deren Nachlaß verwaltet. Dem kann ich so nicht zustimmen. Aber da ich auch die finanziellen Nöte dieses Haushaltes verstehe, erlaube ich mir den Gedanken zu unterbreiten, ob der in der DDR bewährte „Kulturgroschen" als Mittel zur Unterstützung von Kunst und Kultur nicht auch in der heutigen Zeit im geeinten Deutschland eine kulturfördernde Rolle spielen könnte. Dieses Geld könnte auch genutzt werden, um Freizeiteinrichtungen wieder erstehen zu lassen, die Jugendlichen helfen zu verstehen, daß Sinn und Inhalt des Lebens nicht im Randalieren auf der Straße, in Rassenhaß und Asylantenverfolgung besteht. Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Allein in den letzten Tagen wurden fünf Menschen von Neofaschisten umgebracht. Die Brutalität der Taten ist erschrekkend. Es muß aber festgestellt werden, daß sich das, was sich in Mölln ereignet hat, in zig hundert Fällen genauso hätte ereignen können. Die mörderische Absicht der Neofaschisten war bei all den zig hundert Brandanschlägen vorhanden und erkennbar. Zum Glück hat hier der Zufall in vielen Fällen das Schlimmste verhindert. Nur wenige Stunden danach sprach der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Werthebach von einer neuen Qualität fremdenfeindlicher Gewalt, dies angesichts der Tatsache, daß es bereits 17 Tote in diesem Jahr gibt, die aus rassistischen Motiven getötet worden sind. Erschreckend ist aber auch die Kaltschnäuzigkeit eines CSU-Politikers wie Huber, der nur wenige Tage nach diesen schrecklichen Ereignissen sich in das Frühstücksfernsehen setzt, und erneut damit Stimmung macht, daß dieses Land es nicht aushält, wenn Jahr für Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land kommen. Huber weiß natürlich genau, daß in keinem einzigen Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land gekommen sind. Er weiß auch ganz genau, daß er hier gezielt die Stimmung in diesem Land mit solchen Äußerungen anheizt. Ja, und er weiß, daß er den Brandgeruch, der durch dieses Land weht, dazu nutzt, seine politischen Ziele durchzusetzen. Aber Huber ist nicht der einzige. Man kann ihn nicht einmal als besonderen Scharfmacher bezeichnen. Er steht eher für den Durchschnittstypus christdemokratischer Politiker. Nicht umsonst muß der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Bubis, heute wiederholt in der Presse feststellen, daß die „Diskussion um die Änderung des Asylartikels im Grundgesetz die Straftäter ermuntert habe". Man muß länger darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn heute selbst der BKA-Präsident Zachert in der Zeitung „Polizei" 11/92 schreibt: „Besonders auffällig ist der quantitative Anstieg von Straftaten in den alten Bundesländern im 4. Quartal 1991. Als Auslöser dürften die Asyldebatte im Deutschen Bundestag, die Verlegung von Asylbewerbern aus Hoyerswerda und der Jahrestag der Deutschen Einheit anzusehen sein." BKA-Präsident Zachert unterstreicht damit die Kritik, die von Menschenrechtsorganisationen und Zeitungen immer wieder vorgetragen worden sind. Die politische Mitverantwortung der Bundesregierung an diesem neofaschistischen Terror und auch der Unwille von Seiten staatlicher Stellen, mit diesem Terror aufzuräumen, wird im Inland und Ausland immer besorgter zur Kenntnis genommen. Nimmt man nur einige Schlagzeilen von heute: „Antideutsche Stimmung in Griechenland" (FAZ), „Bestürzung und Ratlosigkeit in Brüssel" (FAZ), „Israels Parlament verurteilt rassistische Gewalt" (FAZ), Italien: „Der häßliche Deutsche heißt jetzt Nazi-Skin" (Kölner Stadtanzeiger), „Die Nazis steckten drei Türken in Brand! " (Hürriyet). Die Unlust, neofaschistische Straftäter zu verfolgen, oder, wie in Rostock geschehen, die Polizei vor den anrückenden Neofaschisten zurückzuziehen, hat dazu geführt, daß ausländische Mitbürger oder Juden und Roma und Sinti immer mehr den „Glauben und die Hoffnung verloren haben", daß die Bundesregierung „einen wirksamen Schutz gegen den Rechtsextremismus und seine antisemitischen Gewalttäter bieten könnte", wie es Ralph Giordano in einem Brief an den Bundeskanzler ausgedrückt hat. Daß der CDU-Generalsekretär Hintze und der Kanzleramtschef Bohl diese Kritik, aber auch die Ängste und Befürchtungen Giordanos als „unerträglich" bezeichnen, zeigt, wie arrogant und unsensibel mit der Kritik eines jüdischen Schriftstellers — einem der Überlebenden des Holocaust — umgegangen wird. Es muß hier ganz klar festgestellt werden: Einen derartigen neofaschistischen Terror gegen Flüchtlinge und Immigrantinnen, wie wir ihn derzeit in der BRD erleben, hat die Weimarer Republik nicht gekannt. Er gibt in der Tat zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß. Hinzu kommt, daß Bohl in einer Pressemitteilung „mit aller Entschiedenheit und großer Empörung" Giordanos Kritik zurückweist und die Kritik Giordanos damit widerlegen will, daß u. a. der Generalbundesanwalt im Falle der Möllner Anschläge das Verfahren an sich gezogen hat. Ja, Herr Bohl, das ist es ja gerade. Nach einer Steigerung der ausländerfeindlichen Straftaten im Jahre 1991 um 1 200 Prozent, nach allein 1 900 fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten in diesem Jahr, da hat der Generalbundesanwalt in einem Fall die Ermittlungen an sich gezogen. 10604* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Und wer die Begründung hören mußte, wieso der Generalbundesanwalt von Stahl erst jetzt die Ermittlungen übernommen hat, der weiß, warum Ralph Giordano dem Kanzler geschrieben hat. Von Stahl begründete seine bisherige Tatenlosigkeit in Sachen neofaschistischer Terror im „heute Journal" wie folgt: „ ... Der Generalbundesanwalt kann nicht nur in Fällen ermitteln, wo es sich um eine terroristische Vereinigung handelt, sondern auch dann, wenn die Einzeltat bestimmt und geeignet ist, die Sicherheit der Bundesrepublik zu gefährden, und von besonderer Bedeutung ist. Drei Tote, mehrere Verletzte, zweimal schwere Brandstiftung und das Verhalten nach der Tat — zwei Telefonanrufe, die kurz hintereinander gekommen sind und wo die anonymen Anrufer sich mit „Heil Hitler" verabschiedet haben — lassen im Ansatz erkennen, daß es sich hier möglicherweise um neonazistische Organisationen, sprich verfassungsfeindliche Organisationen handelt oder ein verfassungsfeindlicher Hintergrund zu vermuten ist. (...) Bisher hat es sich immer — sofern die Fälle aufgeklärt werden konnten — gezeigt, daß es sich im wesentlichen um Einzeltäter, Jugendliche oder Leute gehandelt hat, die sich kurzfristig zusammengefunden haben. Außerdem hat es auch noch nicht drei Tote auf einmal gegeben. Also die besondere Bedeutung des Falles und der Hintergrund waren nicht so, daß ich meine Kompetenz angenommen habe ... " So also sieht der Wille des Generalbundesanwalts aus, gegen die Gewalt von rechts vorzugehen. Unter drei Toten wird er offenbar nicht tätig, folgt man seinem zynischen Kommentar. Und den verfassungsfeindlichen Hintergrund, wenn Personen gegen Flüchtlinge und Immigrantinnen vorgehen, erkennt er nur, wenn sie sich mit „Heil Hitler" melden. Nimmt man den Generalbundesanwalt ernst, und so ist ja auch die Praxis, dann steht schon vor der polizeilichen Ermittlungstätigkeit fest, daß jeder Brandanschlag auf eine Unterkunft von Flüchtlingen und Immigrantinnen keinen verfassungsfeindlichen Hintergrund hat. Ich will hier auch noch auf einen kleinen Ausschnitt dieser Verantwortung der Bundesregierung verweisen. Da muß der Wehrbeauftragte darauf hinweisen, daß allein 24 Bundeswehrangehörige an den rassistischen Straftaten beteiligt sind. Es mag da ein direkter Zusammenhang bestehen, daß in der BundeswehrZeitung „Information für die Truppe" rassistische Artikel abgedruckt werden. So u. a. von Clemens Range über „Perspektiven einer neuen Einwanderung", das im wesentlichen auf dem Buch „Invasion der Armen" basiert, geschrieben vom Berliner REP-Vorsitzenden (IFDT, 3/92). Diese Zustände drücken sich auch im Haushalt aus. Während alle verantwortlichen Politiker mit den angeblichen hohen Kosten für die Unterbringung und Sozialhilfe für Flüchtlinge in Deutschland Stimmung machen, muß man feststellen, dies kostet 1991 vier Milliarden DM. Der niedersächsische Minister Trittin hat in einer Landtagsdebatte angeführt, daß nach Berechnungen der Zeitschrift „Publik-Forum" der Bundesbürger und die Bundesbürgerin 1991 für die Flüchtlinge 52 DM aufzubringen hatte. Der gleiche Bundesbürger hatte aber im selben Jahr 43 DM allein zur Begleichung des Schuldendienstes für die atomare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf gezahlt. Für die geplanten Massenabschiebungen rumänischer Flüchtlinge wurden in aller Eile 4,7 Millionen DM allein für die Flugbegleitung durch den BGS in den Innenhaushalt aufgenommen. Die Durchführung des Abkommens wird mit über 8,5 Millionen DM veranschlagt. Der BGS erhält allein 180 Millionen DM mehr in diesem Jahr. Andererseits hat man für antifaschistische Aufklärung gerade 7 Millionen DM im Haushalt des BMI vorgesehen, diese Gelder sind aber noch gesperrt. Die bundesdeutsche Industrie gibt allein für die Werbung in diesem Jahr 45 Milliarden DM aus. Allein von jeder Mark einen Pfennig wären 450 Millionen Deutsche Mark für eine antirassistische Aufklärung. Nach dem Pogrom von Rostock hat es die Bundesregierung kategorisch abgelehnt, eine Aufklärungsbroschüre über die Lage der Roma und Sinti in Osteuropa zu erstellen und zu verteilen. Zur gleichen Zeit aber produzierte das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien eine volksverhetzende „Studie" über die Roma und Sinti, in denen es heißt: „Gelegentliche Ausschreitungen gegen Zigeuner wurden durch vorhergehende delinquente Handlungen der Zigeuner selbst provoziert". Dieses Institut erhält 8,5 Millionen DM. Auch die Vertriebenenverbände und der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) erhalten wieder zig Millionen DM, Gruppierungen, die in erster Linie eine Völkerverständigung hintertreiben und die von Rechtsextremisten durchsetzt sind. Gerade der VDA, der für seine Arbeit in diesem Geiste mit 120 Millionen aus dem Bundeshaushalt bedient worden ist, fiel vor allem dem Bundesrechnungshof auf, weil hier Steuergelder versickerten. Der „Spiegel" 35/92 berichtet, daß aus dem BMI 1990 die Anweisung erging, „ohne das normalerweise schriftliche Antragsverfahren" dem VDA 34,6 Millionen DM zu bewilligen. Daß dies so problemlos ging, mag daran liegen, daß 1989 neben einigen Rechtsextremisten auch der Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Waffenschmidt, in den Vorstand des VDA gewählt worden ist. Mit diesem Haushalt werden die rassistischen Strukturen in dieser Gesellschaft gefestigt. Den Reden über das Entsetzen nach den Morden vom Wochenende folgen keine Taten, die eine Umkehr in der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch nur andeuten. Kein Fünkchen von Nachdenklichkeit und Selbstkritik ist zu spüren. Angesagt wäre jetzt eine sofortige Beendigung der Asyldiskussion, ein unbedingtes Ernstnehmen der Warnungen aus dem In- und Ausland über den Zusammenhang zwischen der Asyldiskussion und den Anschlägen. Die Forderungen der Immigrantinnenorganisationen, der Organisationen der Roma und Sinti, des Zentralrates der Juden müssen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch geprüft werden. Wir fordern einen Bericht einer unabhängigen internationalen Kommission, die diesen Zusammenhang untersuchen soll. Schluß mit der Asyldiskussion! Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10605* Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Helmut Schäfer (Mainz) (F.D.P.) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 Bei der namentlichen Abstimmung am Mittwoch, 25. November abends, unterlief mir ein Fehler. Meine Absicht war es, den Änderungsantrag der SPD über „den Jäger 90" abzulehnen. Fälschlicherweise habe ich die blaue Stimmkarte benutzt. *) Ich bitte, das im Protokoll zu berücksichtigen. *) Vgl. Seite 10573 C
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1212300000
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Haushaltsberatungen Punkt III — fort:
Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993 (Haushaltsgesetz 1993)

— Drucksachen 12/3000, 12/3541 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß)

Ich rufe dazu Punkt III 13 auf: Einzelplan 04
Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes
— Drucksachen 12/3504, 12/3530 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudi Walther (Zierenberg) Dietrich Austermann
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
Ich weise darauf hin, daß wir über diesen Einzelplan im Anschluß an die Aussprache namentlich abstimmen werden. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache fünf Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Klose.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1212300100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Morde von Mölln in der Nacht vom 22. zum 23. November haben uns alle erschüttert. Drei Menschen sind Opfer eines Brandanschlags geworden, zwei türkische Frauen und ein Mädchen, das hier in Deutschland geboren wurde. Mit diesen drei Toten sind es jetzt insgesamt 16 Menschen, die allein in diesem Jahr Opfer politisch motivierter rechtsextremistischer Gewalt geworden sind. 16 Tote, über hundert Verletzte, Tausende, die beschimpft, beleidigt und physisch oder psychisch angegriffen wurden: Asylbewerber, Ausländer, politisch Andersdenkende, sogar Behinderte. Das ist eine schreckliche, eine beschämende Entwicklung, eine Entwicklung, meine Damen und Herren, die gestoppt werden muß, ganz dringlich und wirksam. Aber wie?
Es ist wichtig, daß wir uns zu den Vorgängen äußern, wir, die Menschen in Deutschland, ob wir nun prominent sind oder nicht, ob organisiert oder nicht, ob Deutsche oder Ausländer. Es muß hier und im Ausland deutlich werden, daß wir nein zu Haß und Gewalt und ja zu Menschlichkeit und Menschenwürde sagen.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich war sehr glücklich, daß die Menschen vorgestern spontan auf die Straße gegangen sind: Schüler, Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen. Das war wichtig, so wie die Demonstrationen in den vergangenen Wochen wichtig und richtig waren.
Nicht richtig ist es, wenn Menschen, die angegriffen werden oder sich bedroht fühlen, jetzt ihrerseits androhen, sie würden sich zum Zwecke der Selbstverteidigung bewaffnen. Ich verstehe solche Reaktionen. Ich verstehe sie sogar sehr gut. Aber es kann nicht der richtige Weg sein, daß jetzt das friedenstiftende Gewaltmonopol des Staates aufgegeben wird. Vielmehr müssen die Verantwortlichen im Bund und in den Ländern alles tun, um den Gewalttätern mit den Mitteln des Rechtsstaates entgegenzutreten. So leid es mir tut: Ich habe nicht den Eindruck, daß das geschieht. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, daß es insbesondere im justitiellen Bereich an der notwendigen Entschlossenheit fehlt. Im Klartext: Wer Brandflaschen in bewohnte Häuser wirft, ist nicht wegen Sachbeschädigung, sondern wegen versuchten Totschlags oder Mordes zu bestrafen.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich füge hinzu: Der Ruf nach schärferen Gesetzen ist ernst zu nehmen, wenn die bestehenden Gesetze angewandt worden sind und sich dabei als nicht ausreichend erwiesen haben. Wenn das belegbar ist, wenn also der Ruf nach schärferen Gesetzen nicht nur Ausdruck von Hilflosigkeit ist, kann man auch mit uns über gesetzgeberische Maßnahmen reden.
Wichtiger freilich erscheint mir eine bessere personelle Ausstattung von Polizei und Verfassungsschutz.



Hans-Ulrich Klose
Mir ist klar, daß ich mit diesem Hinweis weniger den Bund als vielmehr die Länder anspreche. Es geht aber nicht anders. Sicherheit bietet im konkreten Fall nur der Polizist vor Ort, der Streife geht und sich den Angreifern in den Weg stellt. Es genügt nicht, den Dienst dieser Polizisten verbal anzuerkennen. Wir müssen alles tun, damit genügend gut ausgebildete und motivierte Beamte bereitstehen, um den einzelnen und die Allgemeinheit zu schützen, wie es ihre Aufgabe ist.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P., dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Auch über uns, die Politiker, müssen wir reden. Nicht daß ich jetzt der allgemeinen Politikerschelte opportunistisch nachgeben wollte. Das nicht. Wenn das aber — um ein Wort des Bundeskanzlers aufzugreifen — die Stunde der Wahrheit ist, in der nicht nur dies, sondern auch die Wahrheit gesagt wird, dann muß man wohl folgendes feststellen: Nicht die Tatsache, daß wir über das Asylproblem gestritten haben und streiten, sondern die Art und Weise, wie wir das getan haben und tun — häufig ohne Bezug zur Realität und zumindest teilweise ohne den erkennbaren Willen zur sachlichen Problemlösung — hat das Klima in Deutschland vergiftet.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste)

Ich sage es bewußt so allgemein und zurückhaltend, meine Damen und Herren, weil ich es bei dieser einen Bemerkung zu diesem Thema belassen möchte. Mehr wäre heute nicht gut. Vielleicht sind wir in einer, zwei oder drei Wochen weiter. Ich hoffe es.
Im übrigen widerspreche ich, wenn das Thema Gewalt und Gewaltbereitschaft vor den Toren der Politik abgeladen wird, als wäre es allein Aufgabe der Politik, dieses Thema, auf welche Weise auch immer, in Ordnung zu bringen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir Politiker sind beteiligt, aber es geht auch und vor allem um ein gesellschaftliches Problem. Die Gewalttäter, soweit wir sie bisher kennen, agieren nicht auf Grund einer selbständig gebildeten Überzeugung. Es sind zumeist haltlose, fehlgeleitete, wertelose junge Menschen, viel zu jung, um eine eigene fundierte Überzeugung zu haben. Sie reagieren auf das, was in ihrer Umgebung gedacht und gesagt wird. Diese jungen Menschen leben nicht allein. Sie haben Eltern, Lehrer, Ausbilder, Freunde, Arbeitskollegen, Nachbarn. Hier und da gibt es sicher Drahtzieher im Hintergrund, die die Uninformiertheit, den Problemdruck und die dumpfe Gewaltbereitschaft dieser jungen Menschen für ihre Zwecke mißbrauchen. Im gesellschaftlichen Umfeld aber liegt das eigentliche Problem. Deshalb ist das, was heute in Deutschland geschieht, so gefährlich. Die Gewaltbereitschaft einzelner hat einen breiteren, breiigen Untergrund, der nicht von heute auf morgen wegzuräumen ist; das dauert länger.
Damit will ich sagen: Mit der vollen Härte des Gesetzes reagieren ist das eine. Wenn es nicht geschieht, sind die Innen- und Justizminister gefordert, etwas zu tun. Gefordert sind aber auch die Kultusminister — sie vor allem —, die Lehrer, die Hochschullehrer, die Geistlichen, die Gewerkschafter, die Vereinsfunktionäre und am Ende jeder einzelne, wo immer er tätig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste)

Die Kultusminister und Lehrer habe ich übrigens ganz bewußt zuerst genannt. Denn mich beschäftigt schon seit längerem die Frage, ob wir nicht im Zuge der notwendigen und insgesamt erfolgreichen Bildungsreform allzu konsequent vom Erziehungsgedanken Abschied genommen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNSSES 90/DIE GRÜNEN sowie lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das richtet sich aber an die SPD selbst!)

Ist nicht die Erziehung zu Anstand und Toleranz, zur Achtung vor den Mitmenschen und zu wechselseitiger Rücksichtnahme doch von zentraler Bedeutung, genauso wichtig wie die Selbstfindung und -entwicklung des einzelnen Menschen?

(Beifall im ganzen Hause)

Sind nicht einige der Sekundärtugenden, wie Höflichkeit und Fairplay, doch primäre Werte für das friedliche Zusammenleben unserer Gesellschaft?

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kein Anlaß für Selbstgerechtigkeit, meine Damen und Herren, eher schwierige Fragen,

(Beifall bei der SPD)

denen ich eine weitere hinzufüge, und zwar deshalb, weil in den Kommentaren, die ich am Montag abend gesehen und gehört habe, ein Aspekt gar nicht beleuchtet wurde: Welche Rolle spielen die Medien?

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Ich frage dies nicht, um Medienschelte zu betreiben; aber Tatsache ist doch, daß die Gewaltdarstellung in den Medien kaum noch Grenzen kennt.

(Beifall im ganzen Hause)

Wie denn auch, wenn heute nach falschen medienpolitischen Entscheidungen allein die Einschaltquote über den Wert eines Programms entscheidet!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gewalt, meine Damen und Herren, ist unterhaltsam, egal, ob es um tatsächliche oder vorgebliche Berichterstattung geht. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen. Ein Skinhead, der Gewaltparolen absondert,



Hans-Ulrich Klose
ist für die Einschaltquote wichtiger als eine Parlamentsdebatte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ärgert uns alle, aber so ist es eben; denn auch hier geht es am Ende nach den Regeln des Marktes, den zu ordnen in diesem Fall schon deshalb schwierig ist, weil sich zwei Wertebenen überlagern: die ökonomische und die Ebene der Pressefreiheit. Die Politik kann deshalb kaum etwas ausrichten. Die Medienbosse selbst sind aufgefordert, das Problem zu bedenken. Sie sollten es tun.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zwei weitere Punkte sind mir in diesem Zusammenhang wichtig. Die Demokratie gewinnt ihre Stärke nicht aus Worten, so gut und richtig Worte auch sein mögen. Probleme werden gelöst durch Worte und Taten. Wohnungsprogramme, Wirtschaftsförderungsprogramme, Ausbildungsprogramme — sie müssen entworfen, begründet und umgesetzt werden. Die materielle Seite der Demokratie, das Sichkümmern um die Probleme und Sorgen der Menschen, ist beinahe noch wichtiger als die Norm, jedenfalls genauso wichtig wie diese.
Aus sozialdemokratischer Sicht füge ich hinzu: Wer glaubt, er könne die Sicherung der materiellen Seite allein oder weitestgehend den Kräften des Marktes überlassen, und wer in diesem Zusammenhang die Leistungsgesellschaft ideologisch überhöht, wie es bei Liberalen gelegentlich festzustellen ist, der verkennt die gesellschaftlichen Wirkungsmechanismen.

(Beifall bei der SPD)

Wer den Verdienst des einzelnen allein an der Leistung mißt, endet auf jeden Fall im Konflikt. Es ist keineswegs ausgemacht, daß bei der Austragung dieses Konflikts die Spielregeln eingehalten werden.
Ludwig Erhard wußte das. Er sprach von Sozialer Marktwirtschaft. In heutiger Zeit wird das Wort sozial entweder sehr leise oder gar nicht mehr ausgesprochen.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wie denn auch, wenn allen Ernstes erwogen wird, zum Zwecke der Haushaltskonsolidierung zuallererst und massiv bei jenen anzusetzen, die schon jetzt benachteiligt sind: bei den Sozialhilfeempfängern.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So wird innerer Frieden nicht gestiftet, sondern zerstört, und dazu werden wir Sozialdemokraten die Hand nicht reichen.

(Beifall bei der SPD)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Nachsicht, daß ich dem Thema Gewalt und Gewaltbereitschaft so viel Raum gewidmet habe, mehr als üblich und erwartet. Aber mich bewegt, ich gestehe es, zunehmend mehr die Frage, ob wir Deutschen vor der Geschichte nicht einmal mehr versagen könnten. Ich finde, dies ist keine grüblerische Frage, sondern die zentrale politische Frage für unser freiheitliches System.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie richtet sich an alle Demokraten: Was können wir, jeder einzelne und die Politik, tun, um die Demokratie in Deutschland auf Dauer zu sichern und ihr jenes Maß an Stabilität zu geben, das andere Völker uns durch Tradition voraus haben?

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da sollte man bei sich anfangen!)

Diese Frage stellt sich schon deshalb mit so großer Dringlichkeit, meine Damen und Herren, weil sich unsere deutsche Wirklichkeit dramatisch verändert hat. Deutschland, zuvor geteilt, ist heute wieder ein Land, aber ein Land mit zwei Lebenswirklichkeiten, der des Westens und der des Ostens. Die Unterschiedlichkeit dieser Wirklichkeiten und die Gegensätzlichkeit von Erwartungen und Verpflichtungen in Ost und West hat ein Klima erzeugt, in dem die Hoffnungen der ersten Stunde längst von den Sorgen und Ängsten des Alltags aufgefressen sind.
Die Stimmung ist schlecht in Deutschland, und daran, Herr Bundeskanzler, tragen Sie — nicht allein, aber ganz wesentlich — die Schuld.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben bei der Gestaltung der deutschen Einheit nicht einfach Fehler gemacht, wie Sie jetzt freimütig eingestehen — was Sie ehrt —, nein, Sie haben den Menschen in Ost und West die Unwahrheit gesagt. Eben dies ist der entscheidende Grund für die schlechte Stimmung in Deutschland.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn!)

Ihre Schuld, Herr Bundeskanzler, nicht Erblast!
Jetzt sagen Sie, dies sei die Stunde der Wahrheit. Wie schön, Herr Bundeskanzler, wenn Sie jetzt nicht nur dies, sondern tatsächlich die Wahrheit sagen würden, die Wahrheit über die tatsächliche Lage, über die anstehenden Aufgaben, über die vorgesehenen Maßnahmen und über die anfallenden und von uns allen zu tragenden finanziellen Lasten! Was, Herr Bundeskanzler, hindert Sie denn, einen solchen wahrheitsgemäßen Bericht zur Lage der Nation abzugeben, wozu wir Sie mehrfach aufgefordert haben?

(Beifall bei der SPD und des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] )

Vor den Menschen draußen im Lande, wie Sie zu sagen pflegen, brauchen Sie sich doch nicht zu fürchten. Die sind klüger, als Sie denken. Die wissen, was auf sie zukommt. Und wir, die Opposition im Deutschen Bundestag, könnten Sie doch gar nicht kritisieren, wenn Sie endlich sagen würden, was Sache ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Täten Sie das, dann täten Sie genau das, was wir seit langem fordern. Über Details, wichtig genug, über einzelne Maßnahmen und Fragen der gerechten Finanzierung würden wir sicher streiten; aber den



Hans-Ulrich Klose
Ansatz könnten und würden wir nicht kritisieren, weil wir, was Sie jetzt Solidarpakt nennen, schon seit langem im Interesse der Menschen und zur Beförderung der gemeinsamen Sache fordern, die wir Deutschland nennen.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten sind, weswegen uns manch einer belächelt, viel zu staatstragend, vielleicht sollte ich sagen: patriotisch veranlagt, um eine Opposition à la Sonthofen zu praktizieren. Wir sind bereit, uns an einem Solidarpakt, der diesen Namen verdient, zu beteiligen, weil wir wollen, daß sich die Verhältnisse in Deutschland, vor allem in den neuen Ländern, zum Besseren wenden.

(Beifall bei der SPD)

Wir unterstellen, daß auch Sie das wollen, und fordern Sie auf, nicht mehr zu zögern und zu schwanken, sondern endlich Klartext zu reden und entschlossen zu handeln — jetzt, nach zweijähriger Schönrednerei und Lähmung.

(Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!)

Meine Damen und Herren, wie ist die Lage in Deutschland?
Erstens. Die Arbeitslosigkeit hat eine besorgniserregende Höhe erreicht. In den neuen Bundesländern sind 1,1 Millionen Menschen ohne Arbeit; weitere 1,7 Millionen befinden sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Von den rund 10 Millionen Arbeitsplätzen, die es Ende 1989 dort gab, sind heute noch etwa 5,6 Millionen vorhanden. Dies bedeutet einen Rückgang um 44 %.
Und in den alten Bundesländern? Dort sind derzeit 1,8 Millionen Menschen ohne Arbeit — steigende Tendenz. Damit sind insgesamt in ganz Deutschland gegenwärtig rund 4,6 Millionen Erwerbspersonen ohne regulären dauerhaften Arbeitsplatz.
Zweitens. Die Einkommensentwicklung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Deutschland verläuft immer ungerechter. Der Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen insgesamt ging von 72,7 % im Jahr 1981 auf 66,2 % im Jahr 1992 zurück.
Drittens. Die Armut in Deutschland nimmt drastisch zu. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den alten Bundesländern ist von 2,3 Millionen im Jahr 1982 auf über 4,2 Millionen im Jahr 1992 angestiegen. Bei Einbeziehung der neuen Länder und unter Berücksichtigung der Dunkelziffer umfaßt die Armut in Deutschland heute mindestens fünf bis sechs Millionen Menschen.
Viertens. Die Steuer- und Abgabenbelastung steigt immer weiter an; von 40,5 % im Jahr 1990 ist sie in diesem Jahr auf rund 44 % angestiegen.
Fünftens. Dramatisch ist die Staatsverschuldung. Unter der Regierung Kohl ist die Staatsverschuldung um 1 Billion DM angestiegen. 1982 betrug sie noch 675 Milliarden DM. 1992 beträgt sie rund 1,7 Billionen DM. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß der Bundesregierung in diesem Zeitraum mehr als 100 Milliarden DM Bundesbankgewinne zugeflossen sind.
Sechstens. Deutschland steht am Rande einer Rezession. Der im Sommer 1991 begonnene Abschwung der Konjunktur in Westdeutschland hat sich beschleunigt. Die Grundtendenz der gesamtwirtschaftlichen Produktion ist abwärtsgerichtet. Angesichts der zunehmenden Verunsicherung von Verbrauchern und Investoren droht die Konjunkturabschwächung in eine sich selbst verstärkende und länger andauernde Rezession mit katastrophalen Konsequenzen für den ohnehin schwachen Wirtschaftsaufschwung im Osten der Repubik einzumünden.
Es ist hohe Zeit gegenzusteuern. Aber der mit der wachsenden Staatsverschuldung verbundene Anstieg der Zinsbelastung macht den Staat beinahe handlungsunfähig. Lag die Zinsbelastung im Jahr 1982 noch bei 50,4 Milliarden DM, so müssen die öffentlichen Haushalte 1992 für ihre Schulden 128,3 Milliarden DM Zinsen zahlen. Das bedeutet einen Anstieg um 155%.

(Zuruf von der F.D.P.: Das sind auch die Länder!)

Die Zinsbelastung der Haushalte, die 1982 bei 13,8 % lag, ist heute, 1992, auf 18,6 % hochgeschnellt. Heute muß fast jede fünfte Steuermark für Zinsen ausgegeben werden.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: NRW!)

Dies ist, meine Damen und Herren, in dürren Worten, die Sie nicht gem hören, die Lage. Es ist Ihre Bilanz, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie reden angesichts dieser Lage — semantisch nicht ungeschickt — gern von Erblast. Sie wollen damit andeuten, daß Sie für alle geschilderten und gar nicht zu leugnenden Probleme nichts können, da Sie doch alles geerbt hätten, und zwar nach 40 Jahren Sozialismus, wie Sie so gern formulieren,

(Zurufe von der CDU/CSU)

um jedenfalls semantisch auch die Sozialdemokraten ins Boot des Erblassers zu ziehen. Es sind immer dieselben Tricks, die aber auch nicht helfen, sondern nur noch zur allgemeinen Verwirrung beitragen. Hören sie auf mit solchen Tricks. Sagen Sie endlich die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1212300200
Herr Klose, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1212300300
Nein. — Entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft ist die Finanzpolitik. Zuständig für die Finanzpolitik ist der Kollege Waigel, der persönlich ein netter Mensch sein mag,

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ist! Heiterkeit — Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das ist schon etwas!)




Hans-Ulrich Klose
aber als Finanzminister und zugleich als CSU-Vorsitzender offenbar überlastet ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN — Zurufe von der SPD: Überfordert! Er ist überfordert!)

— Ich hatte hier „überfordert" stehen, wollte aber nett sein.

(Heiterkeit)

Dabei will ich gerne hinzufügen, Herr Kollege Waigel, daß der Job des Finanzministers zum einen derzeit nicht besonders attraktiv ist und zum anderen der Bundeskanzler, der doch die Richtlinien der Politik bestimmen soll, Ihnen den Job nicht eben erleichtert; statt klarer Richtlinien gibt es Schweigen oder offenkundig falsche Signale. Jüngstes Beispiel: die Ankündigung von Steuererhöhungen — welche eigentlich?, in welcher Höhe? — ab 1995. Es besteht gar kein Zweifel, daß dies die Bürger und die Wirtschaft weiter verunsichert und damit der Konjunktur schadet. — Während der Kanzler den Kopf schüttelt, müßten Sie eigentlich nicken, Herr Kollege Waigel.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sind Sie nun dafür oder dagegen?)

Wenn Steuererhöhungen schon unvermeidbar sind — wir Sozialdemokraten haben das immer gewußt und auch, vor der letzten Bundestagswahl, gesagt —, dann nicht zuletzt aus Gründen der Haushaltskonsolidierung jetzt gleich.
Interessant ist übrigens, daß — von Graf Lambsdorff abgesehen — kaum jemand an die Ankündigung des Bundeskanzlers, Steuererhöhungen erst ab 1995, glaubt.

(Heiterkeit bei der SPD — Ingrid MatthäusMaier [SPD]: Der glaubt das auch nicht!)

Jedenfalls ergab eine Meinungsumfrage kurz nach dem Bundesparteitag der CDU, daß 83 % der Bevölkerung Steuererhöhungen schon vor 1995 erwarten. So geht das, Herr Bundeskanzler, mit der vielzitierten Glaubwürdigkeit. Man hat sie, oder man hat sie nicht. Für Sie gilt letzteres.

(Beifall bei der SPD)

Die Konsolidierung der Staatsfinanzen ist derzeit das dringlichste Problem. Nur wenn dies gelingt, wird sich die Bundesbank entschließen können, ein weiteres Zinssignal nach unten zu geben, worauf nicht nur die deutsche Wirtschaft wartet. Um den Weg für mehr Investitionen und Mehr Arbeitsplätze freizumachen, muß das Zinsniveau aber dauerhaft gesenkt und der Wechselkurs auf ein Niveau gebracht werden, das der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Zumindest ein Teil der jüngsten DM-Stärke ist künstlich produziert und nicht real.
Die Konsolidierung des Haushalts erfordert einen energischen und klugen Sparkurs; „klug" soll sagen: Die Konjunkturlage muß bedacht, deflatorische Effekte müssen unbedingt vermieden werden. Was aus unserer Sicht gleichwohl möglich ist, haben wir benannt. Von der Kürzung der Verteidigungsausgaben, über die Verkleinerung des Regierungsapparats
— dies auch unter dem Gesichtspunkt größerer Effektivität —(Beifall bei der SPD)

bis hin zur Kürzung von Steuersubventionen bieten sich viele Möglichkeiten. Es gibt bei uns keine abgeschlossene Liste.

(Zuruf von der F.D.P.: Das stimmt!)

Wir finden aber, daß jetzt erst einmal die Regierung dran ist, uns konkret zu sagen, wo und was gespart werden soll und wer dadurch belastet wird. Es ist nicht die ausschließliche Aufgabe der Opposition, Verkünder schlechter Nachrichten zu sein.

(Beifall bei der SPD)

Daß wir bereit sind, im Rahmen eines Solidarpakts ein Konsolidierungspaket mitzutragen, habe ich bereits gesagt. Dabei gibt es für uns nur zwei Kriterien, an denen wir uns orientieren: Es muß wirtschaftspolitisch vernünftig und sozial ausgewogen sein. Die Gerechtigkeitslücke muß beseitigt werden. Solidarität ohne Gerechtigkeit gibt es nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was wir für den Solidarpakt vorschlagen, haben wir mehrfach öffentlicht vorgestellt, zuletzt mit der Fraktionserklärung vom 20. Oktober und dem auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD beschlossenen Sofortprogramm. Vorrangig sind folgende Punkte:
Erstens. Wir brauchen ein langfristig angelegtes und finanziertes Zukunftsinvestitionsprogramm Ost zum Aufbau der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Infrastruktur sowie für den Wohnungsneubau, für die Stadt- und Dorferneuerung und den Erhalt der historischen Bausubstanz.

(Beifall bei der SPD)

Im Unterschied zu den bisherigen, eher kurzatmigen Investitionsprogrammen schlagen wir eine Laufzeit von zehn Jahren und ein Volumen von 10 Milliarden DM pro Jahr vor, um die Planungssicherheit der öffentlichen Investoren und der ausführenden Unternehmen zu verbessern. Ein solches Zukunftsinvestitionsprogramm erhöht sowohl die Beschäftigungssicherheit mittelständischer Unternehmen, insbesondere der Bauindustrie, als auch durch die Verbesserung der Infrastruktur die Standortattraktivität Ostdeutschlands. Zu diesem Zukunftsinvestitionsprogramm gehört die Wiedereinführung der Ende 1991 ausgelaufenen, aber bewährten Investitionspauschale für Städte und Gemeinden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Wir wollen die Investitionsförderung vereinfachen und verbessern. Dazu sollen die Zulagen von 8 auf 20 % angehoben oder alternativ bessere Abschreibungsbedingungen angeboten werden. Gefördert werden sollen der gewerblich-industrielle und der handwerkliche Sektor sowie Neugründungen durch Ortsansässige,

(Zuruf von der CDU/CSU: Abgeschrieben!)

Drittens. Im Westen Deutschlands müssen neue Schritte zur Markthilfe für Ostdeutschland getan



Hans-Ulrich Klose
werden, z. B. bei Ausschreibungen durch Präferenzen für solche Unternehmen, die in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit tätig sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Abgeschrieben!)

Um Osteuropa und die GUS-Staaten wieder als Absatzmarkt zu gewinnen, sind Gemeinschaftseinrichtungen zu schaffen, die Tauschgeschäfte organisieren. Finanzhilfen für diese Staaten sind an Abnahmeverpflichtungen für ostdeutsche Güter und Dienstleistungen zu koppeln.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ebenfalls abgeschrieben!)

Viertens. Die weitere Entindustrialisierung Ostdeutschlands muß verhindert werden. Ohne den Erhalt wichtiger Industriestandorte ist eine nachhaltige Stärkung der ostdeutschen Industrie kaum realisierbar. Im Rahmen einer zukunftsorientierten marktwirtschaftlichen Industriepolitik müssen deshalb Betriebe, die jetzt nicht privatisierbar, langfristig aber sanierungsfähig und volkswirtschaftlich förderungswürdig sind, saniert werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu muß die Treuhand endlich gleichrangig zu dem Privatisierungsauftrag einen gesetzlichen Sanierungsauftrag bekommen.
Fünftens. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik ist jedenfalls für eine längere Übergangszeit unerläßlich, bis ausreichend private Betriebe entstanden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und wann soll das nach Ihrer Meinung sein?)

Die Instrumente der Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik müssen miteinander verzahnt werden. In diesem Zusammenhang sage ich es noch einmal klar und deutlich: Die von der Koalition betriebene 10. AFG-Novelle muß zurückgenommen werden!

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sobald man mit dem Sparen anfängt!)

Bei einigen Punkten, z. B. bei der Investitionszulage, aber auch bei dem Sanierungsauftrag für ostdeutsche Unternehmen, ist die Bundesregierung jetzt offenbar bereit, sich zu bewegen. Ein bißchen spät, meine Damen und Herren, aber immerhin! Immer noch besser, Sie folgen unseren Vorschlägen spät, als gar nicht!

(Beifall bei der SPD)

Freilich darf ich Sie in diesem Zusammenhang an Gorbatschows Wort erinnern: Wer zu spät kommt, den bestraft - nein, in Ihrem Fall nicht das Leben, sondern der Wähler, so hoffe ich!

(Beifall bei. der SPD)

Die Wähler wissen, was in der Vergangenheit gelaufen ist, und sie wissen schon heute, daß ohne die SPD nichts mehr läuft, wenn denn überhaupt etwas läuft. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind
mit Ihrer Mehrheit allenfalls noch fähig, Haushaltsberatungen zu erzwingen und einen Haushalt zu verabschieden, von dem allein Sie noch glauben, er wäre solide, während die gesamte Öffentlichkeit darüber lacht.

(Beifall bei der SPD)

Erlauben Sie mir, was die ökonomische Situation angeht, noch eine zusätzliche, eher grundsätzliche Bemerkung. Ich habe bisweilen den Eindruck, daß wir Deutschen oftmals ein bißchen kleinkariert nur darüber reden, wie wir den einen kleinen Kuchen gerechter verteilen könnten. Dagegen ist auch gar nichts zu sagen, weil Gerechtigkeit ein wichtiges Ziel der Politik ist und bleiben muß; aber wir sollten auch darüber reden, ob und wie wir den Kuchen, über dessen Verteilung wir streiten, größer und schmackhafter backen könnten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Das wird nur gehen, wenn wir mehr und besser und anders produzieren und verkaufen. Beides ist wichtig!

(Zustimmung des Abg. Michael Glos [CDU/ CSU] — Zuruf von der CDU/CSU: Eben haben Sie doch nur verteilt!)

Wir dürfen, wenn wir über die wirtschaftliche Entwicklung im Osten und im Westen reden, nicht immer nur in den Kategorien der Bestandssicherung denken, wozu wir alle neigen — schon immer und ganz besonders heute. Strukturbrüche nach dem Prinzip der kreativen Zerstörung zu bewältigen, das war tatsächlich nie unsere Methode, weder bei der Kohlenoch bei der Stahl- noch bei der Werftenkrise.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Na, na!)

Immer wurde politisch abgefedert und interveniert. Das muß auch heute bei der viel größeren Strukturaufgabe im Osten Deutschlands geschehen; aber wir müssen auch immer unter dem Stichwort Innovation über neue Produkte nachdenken, über die Produkte der nächsten Generation.
Ich freue mich sehr, daß es jetzt in Eisenach ein modernes Automobilwerk gibt, wahrscheinlich das modernste in ganz Westeuropa. Ich wüßte nur zu gern, wieviel von der eingesetzten Automatik und Elektronik, die so hohe Produktivität gestattet, „made in Germany" ist oder auch nur „made in Europe". Ich fürchte, der größte Teil ist „made in Japan". Weil das so sein wird, sage ich Ihnen: So wichtig die Rückgewinnung der Märkte in Osteuropa auch ist, beinahe noch wichtiger für die Zukunftssicherung Deutschlands und Europas ist unsere Fähigeit, erfolgreich auch auf den ostasiatischen Märkten zu konkurrieren.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU: Ja, wer sagt's denn? — Wie denn? Doch nicht mit Ihrer Politik!)

Ich fürchte, wir sind dabei, diese Fähigkeit zu verlieren. Ich plädiere daher für eine Industriepolitik, die



Hans-Ulrich Klose
sich nicht auf Nischen, sondern auf die Märkte der Zukunft einrichtet.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Industriepolitik?)

Eine solche Industriepolitik geht nur in Zusammenarbeit beider, der Industrie und der Politik. Die Wirtschaft hat das übrigens längst begriffen, nur Sie noch nicht!

(Beifall bei der SPD — Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denen übrigens, die bei solchen Perspektiven ökologische Bauchschmerzen haben, gebe ich zu bedenken, daß in Japan der Energie- und Rohstoffverbrauch signifikant unter dem Westeuropas liegt. Wir sollten darüber nachdenken, woran das liegt.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Fragen Sie mal nach den Lebensumständen dort!)

Meine Damen und Herren, über einen weiteren Punkt, bei dem sich ohne die SPD nichts bewegt, haben Sie in der Koalition in den letzten Tagen in den eigenen Reihen diskutiert, wie üblich streitig. Ich spreche von den künftigen Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen der UNO. Wie gesagt — Sie wissen das auch —, auch bei diesem Punkt geht es nicht ohne die SPD,

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Doch, das geht!)

jedenfalls dann nicht, wenn die derzeitige Bundesregierung den Grundkonsens aller früheren Bundesregierungen akzeptiert, daß nämlich die Bundeswehr lediglich zum Zwecke der Verteidigung eingesetzt werden darf, zur Verteidigung des eigenen Territoriums oder im Rahmen von NATO und WEU zur kollektiven Verteidigung im Bündnis.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da geht aber der Streit in Ihren Reihen genauso! — Gegenruf von der SPD: Sie sind schlecht informiert!)

Die derzeitige Bundesregierung will, daß die Bundeswehr künftig darüber hinaus — ob im Rahmen der UNO und/oder der WEU, ist unklar — als Interventionsstreitmacht zur Verfügung steht. Meinungsverschiedenheiten gibt es offenbar bei der Frage, ob es dazu einer Verfassungsänderung bedarf oder nicht. Während die Union inzwischen mehrheitlich der vom Kollegen Schäuble vertretenen Auffassung zuneigt, es gehe auch ohne Verfassungsänderung,

(Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!)

hält die F.D.P. an der Rechtsauffassung früherer Bundesregierungen fest. So jedenfalls verstehe ich das, was ich in den letzten Tagen aus den Reihen der F.D.P. gehört habe.

(Zuruf von der SPD: Wie lange noch?)

Welche Auffassung der Oberbefehlshaber der Bundeswehr, der Verteidigungsminister, vertritt, ist derzeit nicht völlig klar. Einerseits hat er dem in der Adria mitschwimmenden Zerstörer eine Teilnahme an den Embargo-Enforcement-Maßnahmen ausdrücklich untersagt — aus verfassungsrechtlichen Gründen.
Andererseits hat er nach, wie wir lesen, heftiger und unfreundlicher Diskussion innerhalb der Union erklärt, weitergehende, ja sogar Kampfeinsätze der Bundeswehr könnten durch einfaches Gesetz geregelt werden.
Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Union, vor diesem Kurs nur warnen. Die Bundeswehr ist das Machtinstrument des Staates. Bei der Frage, was die Bundeswehr darf, genauer: was die Politik mit der Bundeswehr tun darf, kann und darf es keinerlei Meinungsverschiedenheiten und keine Grauzonen geben.

(Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist unerträglich, vor allem für die beteiligten Soldaten, auf verfassungsrechtlich unsicherer Grundlage in militärische Einsätze geschickt zu werden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Das jedenfalls ist unverantwortlich! Das wissen Sie auch, Herr Kollege Rühe. Und es ist, wie ich hinzufüge, absolut unakzeptabel, die Verfassung als politisches Spielfeld zu benutzen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ DIE GRÜNEN)

Die Verfassung ist zu kostbar, als daß man ihre Verbindlichkeit nach Belieben bejahen oder verneinen könnte. Tun Sie das nicht, Herr Kollege Rühe! Bleiben Sie bei der — wie der Kollege Genscher 1980 formulierte — vorsichtigen und auf Achtung verfassungsrechtlicher Bedenken ausgerichteten Politik früherer Bundesregierungen! Riskieren Sie nicht den offenen Verfassungsbruch!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ DIE GRÜNEN)

Warten Sie zumindest ab! Vielleicht bringt ja die für das nächste Frühjahr erwartete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Adriaeinsatz Klarheit.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hoffentlich!)

Ich finde es übrigens nach wie vor bedauerlich, daß wir, die Politiker, diese Frage nicht allein entscheiden konnten, sondern das Gericht anrufen mußten.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja, das liegt doch an Ihnen! Lesen Sie doch Ihren Parteitagsbeschluß! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Das ist um so bedauerlicher, als die Regierung niemals auch nur den Versuch unternommen hat, sich politisch mit uns zu verständigen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das stimmt!)

Wann hat denn die Verfassungskommission je über den Blauhelm-Antrag der SPD beraten?

(Zurufe von der SPD: Genau! — Sehr richtig!)

Wann hat der Bundesverteidigungsminister, wann der
Bundesaußenminister jemals den Versuch unternommen, in offiziellen Verhandlungen mit den Sozialde-



Hans-Ulrich Klose
mokraten über einen erweiterten Auftrag der Bundeswehr zu reden?

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie halten doch nichts davon!)

Die Wahrheit ist doch: Sie wollten nicht mit uns verhandeln, weil Sie Gemeinsamkeit immer nur zu Ihren Konditionen meinen, sonst nicht!

(Beifall bei der SPD)

Daß der Kompromiß eine demokratische Tugend ist, müssen Sie erst noch lernen.

(Beifall bei der SPD)

Daß andererseits die UNO einen solchen Kompromiß begrüßen würde, hat deren Generalsekretär erst jüngst erklärt. Eine Beteiligung der Deutschen an Blauhelmaktionen wäre hilfreich, sagte er.
Lassen Sie uns doch jetzt gemeinsam beschließen, was jetzt gemeinsam geht. Daß die Bundeswehr vor dem Jahr 2000 an Kampfeinsätzen teilnehmen könnte, haben doch auch Sie, Herr Kollege Rühe, ausgeschlossen. Was soll also die Rechthaberei in einem Streit, der für die Realität auf absehbare Zeit überhaupt keine Bedeutung hat?

(Beifall bei der SPD)

Der Außenminister meint, er brauche die volle Beteiligung der Bundeswehr, weil er sonst im Kreise der Verbündeten „außen vor" sei. Wäre er das wirklich, wenn eine Grundgesetzänderung entsprechend dem Beschluß des außerordentlichen Parteitages meiner Partei zustande käme? Wären damit nicht 90 % der derzeit möglichen Einsatzfälle der Bundeswehr im Rahmen der UNO abgedeckt?
Im übrigen frage ich Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ganz leise: Glauben Sie wirklich, daß die Welt von dem Wunsch getrieben ist, die Deutschen mögen doch bitte ganz schnell an die militärischen Fronten zurückkehren?

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir Deutschen sind verläßliche Partner im Rahmen von WEU und NATO und wollen es bleiben. Unserer Verantwortung im Rahmen der UNO werden wir gerecht durch Beteiligung an Blauhelmaktionen und durch verstärkte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Umwelt- und der Entwicklungspolitik, der ich für die künftige Friedensordnung der Welt ohnehin eine größere Bedeutung zumesse als dem allzu schnellen Rückgriff auf militärische Zwangsmaßnahmen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN)

Mir wäre wohler, wir könnten mehr tun für die Entwicklungsländer des Südens und des Ostens. Die Probleme dort lassen sich, wenn überhaupt,

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber dort herrscht Krieg!)

nur durch ökonomische Zusammenarbeit lösen, nicht mit militärischen Mitteln. Zu ihrer Lösung beitragen müssen wir aber, denn sie berühren uns unmittelbar und nachhaltig. Ich nenne nur zwei: die Umweltprobleme und die Migration.
Sicherheit wird auch künftig militärisch definiert werden, aber die Zukunft gewinnen wir nur, wenn wir diese eine Welt nicht mehr als Schauplatz von Kriegen, sondern als Überlebensort der gesamten Menschheit annehmen und gestalten,

(Beifall bei der SPD)

kooperativ, solidarisch und voller Zuversicht, daß es eine bessere Zukunft geben könnte, wenn wir es nur wollen.
Bill Clinton hat dies, bezogen auf sein Land, die USA, wie folgt formuliert:
Die Menschen in unserem Land haben immer an zwei große Ideen geglaubt: erstens, daß die Zukunft besser sein kann als die Vergangenheit, und zweitens, daß jeder von uns eine persönliche, eine moralische Verantwortung hat, dazu beizutragen.
Meine Damen und Herren, von dieser Zuversicht und dieser Art Patriotismus sollten wir uns eine Scheibe abschneiden. Wir brauchen beides. Denn — um zum Anfang zurückzukehren — der Erfolg rechtsextremer Menschenfänger hat immer auch zu tun mit der Unfähigkeit der Demokraten, eine zukunftsstarke Perspektive, eine Reformidee zu entwickeln. Junge Menschen vor allem brauchen eine solche Vision.
Wenn wir, die Politiker, kleingläubig zurückzukken, wer könnte uns glauben, daß wir die Zukunft meistern?

(Beifall bei der SPD)

Die Zukunft Deutschlands zu gestalten, ein besseres Gesamtdeutschland aufzubauen, die Einheit Europas voranzubringen mit den Menschen, nicht gegen sie, Mitverantwortung zu übernehmen bei der Entwicklung einer neuen, gerechten Ordnung für die eine Welt, in der wir leben — das ist die Vision. Diese Vision sollte uns beflügeln.

(Anhaltender Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1212300400
Ich erteile jetzt Herrn Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1212300500
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gern wieder einmal versuchen, das zu tun, was eigentlich der Sinn einer Debatte ist, nämlich auf das einzugehen, was mein Vorredner, der Kollege Klose, gesagt hat, obwohl Sie, Herr Kollege Klose, eine merkwürdig gespaltene Rede gehalten haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben sich an das, was Sie im ersten Teil Ihrer Rede — mit dem wir weitgehend übereinstimmen, dem auch meine Fraktion zugestimmt hat — gesagt haben, an das, was Ihre Schlußfolgerungen für das Verhältnis der Politiker untereinander und das Reden der Politiker mit- und übereinander betrifft, im nächsten Teil Ihrer Rede überhaupt nicht gehalten, sondern wieder das genaue Gegenteil gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)




Dr. Wolfgang Schäuble
Das aber zeigt — und es geht j a vielen Menschen so —: Es ist offenbar leichter, gute Vorsätze zu fassen, als sie zu halten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD: Das wissen Sie selber, ja?)

— Ich sage ja, es geht uns allen so.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Kein Grund, eine schlechte Rede zu halten!)

— Nein. Ich würde gerne bei dem ansetzen, — —

(Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Sagen Sie doch mal was Eigenständiges, Herr Schäuble! — Gegenrufe von der CDU/CSU)

— Es ist schon furchtbar! Sie können nicht einen Satz lang zuhören. Aber lassen wir das mal.
Ich würde gerne zunächst einmal etwas zu dem schrecklichen Kreislauf von Gewalt, Gewaltbereitschaft, gewalttätigen Anschlägen, minderheitsfeindlichen Parolen, Morden, Brandanschlägen und all dem, was sich durch unser Land zieht, sagen. Es ist überhaupt keine Frage, daß wir dem mit aller Entschiedenheit entgegentreten müssen, mit Wort und Tat,

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

mit entschlossener Verurteilung und mit entschlossenem Handeln. Ich finde es gut, Herr Kollege Klose, daß Sie heute zum ersten Mal — wenn ich es richtig verstanden habe -- gesagt haben: Wenn es dann notwendig ist, müssen auch neue Gesetze sein. — Wir fordern das seit langem.

(Zurufe von der SPD)

Ich finde, die Erfahrungen der letzten Tage zeigen, daß es keines weiteren Belegs bedarf. Wir brauchen zusätzliche Gesetze,

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

zusätzliche Instrumente.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Ihr Vorsitzender hat eben gesagt — ich habe es mir aufgeschrieben —: Wenn belegt ist, daß wir neue Gesetze brauchen, dann sollten wir sie auch machen.

(Zurufe von der SPD)

Ich denke, die Erfahrungen der letzten Tage, Wochen und Monate belegen, daß wir unseren Polizeiorganen und -beamten die notwendigen gesetzlichen Instrumentarien

(Zurufe von der SPD)

zur Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und Kriminalität an die Hand geben müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich möchte zu einem zweiten Punkt etwas sagen. Sie haben behauptet, die Asyldiskussion habe das Klima vergiftet.

(Zuruf von der SPD: Hat sie doch auch!)

Ich fürchte, am allermeisten das Klima vergiftet hat die Tatsache, daß die Menschen in Deutschland zunehmend den Eindruck haben, Politiker würden nur reden und nicht handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich will diese Debatte heute nicht führen. Aber Ihr Vorsitzender hat dazu einen Satz gesagt, und deshalb darf ich auch einen Satz dazu sagen. — Wenn Sie vielleicht einmal so zuhören, wie wir Herrn Klose zugehört haben,

(Zuruf von der SPD: Das hat sich auch gelohnt!)

dann kommen wir noch zu einer Debatte und zu einem vernünftigen Gespräch miteinander.
Es fällt manchem von uns, auch mir, schwer, zu ertragen, daß Sie jetzt das für richtig halten, was wir seit Jahren fordern, wofür Sie uns über Jahre hinweg beschimpft und diffamiert haben. Dennoch sage ich um der Sache willen, daß ich hoffe, daß wir nun endlich, spät genug, viel zu spät, zu einem Ergebnis kommen, und ich hoffe, daß sich alle auf allen Seiten ihrer Verantwortung bewußt sind. Das Reden reicht schon lange nicht mehr. Wir müssen handeln, dringend!

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Jeder Tag länger ist nicht mehr zu verantworten.
Sie haben zu Recht gesagt, daß wir das Gewaltthema und die Gewaltbereitschaft nicht allein bei der Politik abladen können — auch dem stimme ich zu — und daß das auch nicht nur eine Frage nur von Polizei, Gesetzen und innerer Sicherheit ist, sondern daß das viel mit Bildungspolitik, mit Erziehung, mit Autorität und auch mit der Rolle der Medien zu tun hat.
Ich möchte den Fragen, die Sie gestellt haben, weitere anfügen — es sind Fragen, auf die wir gemeinsam Antworten suchen müssen —: Hat es nicht auch damit zu tun, daß wir uns in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten zu wenig mit den Grundlagen unseres staatlichen Gemeinwesens, unserer Identität, dessen, was unsere nationale Gemeinschaft bildet, befaßt haben? Haben wir die Menschen nicht zu wenig mit der Frage „Was ist eigentlich das Gemeinsame, was uns als deutsche Nation verbindet?" beschäftigt? Haben wir uns nicht zu lange zu sehr mit wirtschaftlichem Wachstum und sozialen Verteilungskämpfen beschäftigt? Haben wir vielleicht dadurch eine Haltung gefördert und sie daraus abgeleitet, die eben bei jeder Diskussion — selbst dann, wenn Herr Klose so gut anfängt wie heute morgen — alsbald, wenn es konkret wird, sofort wieder in das Verteidigen von Besitzständen und zu der Einstellung führt,

(Zuruf von der SPD: Das stimmt doch nicht!)




Dr. Wolfgang Schäuble
daß nichts angetastet werden darf?

(Widerspruch bei der SPD — Zuruf von der SPD: Besser aufpassen!)

Wir werden mit den Aufgaben im vereinten Deutschland und nach dem Ende des Ost-WestKonflikts und der europäischen Teilung nicht fertig werden, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn es uns nicht gelingt, aus dem Verteidigen von Besitzständen, aus der Erstarrung, in die jede sozial-, wirtschafts- und finanzpolitische Diskussion in Deutschland sofort führt, ein Stück weit herauszukommen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Wir können nicht mehr alle Verteilungskonflikte nur aus dem Zuwachs lösen,

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

sondern werden ernsthafter und ehrlicher darüber zu reden haben, daß wir Prioritäten — und das heißt immer auch: Posterioritäten — neu setzen müssen. Das können wir nicht leisten, wenn wir uns nicht klar sind, daß es Grundlagen unserer nationalen Gemeinschaft gibt, die vor Angebot und Nachfrage stehen und weit darüber hinausgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P. — Zurufe von der SPD)

— Vielleicht denken Sie einmal für einen Moment mit; es ist ja eine Chance.
Hat diese Entwicklung in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht etwas damit zu tun, daß wir bei steigender Lebenserwartung und sinkenden Geburtenzahlen einen Prozeß kollektiven Alterns in unserer Gesellschaft durchmachen? Das Durchschnittsalter nimmt ja immer mehr zu. Haben Sie einmal über die psychologischen Folgen nachgedacht,

(Zuruf von der SPD: Haben Sie es getan?)

die dann entstehen, wenn das Durchschnittsalter immer höher wird, wenn eine Gesellschaft immer älter wird?

(Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Wer zahlt denn die Renten? — Weitere Zurufe von der SPD — Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Haltet doch mal das Maul! Blödes Volk!)

Haben Sie einmal darüber nachgedacht, daß es für Zukunftsmotivation, für Innovation, für die Bereitschaft, neue Wege zu suchen, für Zukunftsmut verheerende Folgen haben muß, wenn der Anteil der Älteren immer größer und der Anteil der Jungen immer kleiner wird, daß man so Zukunft nicht gewinnen kann? Und haben wir einmal über die Frage nachgedacht, was denn die Ursache sein muß, wenn ein Volk nicht mehr so viele Kinder haben mag, wie es notwendig wäre, um das Verhältnis der Generationen einigermaßen stabil zu halten?

(Zurufe von der SPD)

Hat das nicht etwas mit einer Entwicklung zu tun, in der nur noch Werte von Konsum und Freizeit die entscheidende Rolle spielen,

(Zuruf von der SPD: Wer hat sie denn gepredigt?)

in der nur noch von Rechten und nicht mehr von Pflichten geredet wird? Müssen wir da nicht einen Zusammenhang sehen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Springen wir bei der Suche nach den Ursachen von Gewalt und Gewaltbereitschaft nicht viel zu kurz, wenn wir diese Fragen nicht stellen?

(Zuruf von der SPD: Was ist denn Ihre Antwort?)

Hat das Ganze nicht vielleicht auch damit zu tun, daß wir uns in der Bundesrepublik Deutschland unserer außenpolitischen Verantwortlichkeiten über lange Jahrzehnte nicht hinreichend klar bewußt gewesen sind, daß wir in den Jahren der Teilung natürlich in einer Nische gelebt und es uns darin ganz schön bequem gemacht haben? Bemerkenswert ist ja auch, daß viele im Bereich der intellektuellen Linken — diejenigen, die sich für intellektuell halten und deswegen links sind, oder umgekehrt, wie auch immer —

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

ihre nostalgische Identifikation mit der sogenannten Bonner Republik und mit Bonn erst entdeckt haben, als die Einheit Deutschlands gekommen war.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Herr Kollege Klose, was Sie im letzten Teil Ihrer Rede zum Thema des Beitrags der Bundesrepublik Deutschland zur Friedenssicherung gesagt haben und was Ihr Parteitag dazu beschlossen hat, ist natürlich eine Fortsetzung der Realitätsverweigerung, die die Sozialdemokraten zu lange betrieben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es wird auch in der Zukunft Frieden und Freiheit nicht zum Nulltarif geben,

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Wer sagt denn das?)

sondern wir werden auch in Zukunft Frieden und Freiheit schützen müssen durch aktives Eintreten,

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Klar!)

durch Bündnisfähigkeit. Es gehört doch zu den Grundwidersprüchen, die die Menschen nicht mehr ertragen wollen, daß der Ost-West-Konflikt zu Ende ist, daß wir von der europäischen Einheit reden und daß heute mitten in Europa, ein paar hundert Kilometer von uns entfernt, ein brutaler Krieg geführt wird und daß Europa unfähig ist, diesen Krieg zu beenden. Europa darf nicht unfähig bleiben, diesen Krieg zu beenden und künftige Kriege zu verhindern. Dies heißt Bündnisfähigkeit für die Bundesrepublik Deutschland. Und dies heißt, daß wir unseren Beitrag werden leisten müssen, weil wir nicht mehr, wie in der Vergangenheit, die Friedenssicherung in erster Linie anderen überlassen können, gegen die wir dann



Dr. Wolfgang Schäuble
notfalls zu Hunderttausenden für den Frieden demonstrieren; das kommt ja noch hinzu.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Solange wir dies unseren Menschen nicht sagen und solange wir nicht sagen „Wir brauchen diesen Staat auch dafür, daß er uns Frieden und Freiheit in Zukunft sichert; dazu müssen wir unseren Einsatz leisten." , so lange sagen wir den Menschen auch nicht die Wahrheit und so lange leben wir auch sicherheitspolitisch über unsere Verhältnisse.
Herr Kollege Klose, ich bin ja für Kompromiß und für Gespräche. Nur, wenn Sie auf Ihrem Parteitag beschließen, daß Sie die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr durch eine Grundgesetzänderung beschränken wollen — darum geht es nämlich, wenn Sie sagen, daß sie in Zukunft nur noch für BlauhelmEinsätze eingesetzt werden darf —, dann sage ich Ihnen: Für eine solche Grundgesetzänderung werden Sie die Stimmen der Unionsfraktion nicht bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Hans-Ulrich Klose [SPD]: Das ist doch eine Erweiterung!)

— Nein, Herr Kollege Klose. Das haben Sie immer noch nicht begriffen. Das heißt, Sie persönlich haben es ja schon im Januar 1991 begriffen gehabt. Damals haben Sie einen langen Aufsatz — veröffentlicht in einer großen deutschen Tageszeitung — geschrieben. Darin steht das genaue Gegenteil von dem, was Sie heute gesagt haben. Das ist Ihr persönliches Problem.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Ich erkläre es Ihnen noch einmal!)

Es spricht ja nicht gegen Sie als Person. Sie müssen sich den Beschlüssen Ihres Parteitags und Ihrer Fraktion beugen, die — das wissen wir ja — gegen Sie zustande gekommen sind. Aber ich sage Ihnen: Die CDU/CSU-Fraktion macht das nicht.
Die verfassungsrechtliche Lage ist klar. Verfassungspolitisch — das haben wir immer gesagt — wünschen wir eine Klarstellung, damit ein Streit, den Sie aus politischen Gründen führen wollen, nicht fortgesetzt wird, schon gar nicht auf dem Rücken unserer Soldaten. Aber die verfassungspolitisch wünschenswerte Klarstellung machen wir nicht um den Preis einer dramatischen Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Hans-Ulrich Klose [SPD]: Worin liegt denn die Einschränkung?)

— Die Einschränkung liegt darin, daß Sie die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr auf Blauhelm-Einsätze beschränken wollen. Das steht nicht im Grundgesetz. Sie haben es nie gelesen. Lesen Sie einmal Art. 24 des Grundgesetzes. Dann wissen Sie ganz bestimmt — —

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch unter Niveau, Herr Schäuble! — Hans-Ulrich Klose [SPD]: Wie war denn die bisherige Auffassung der Bundesregierung?)

— Die bisherige und die heutige Auffassung der Bundesregierung — ich habe der Bundesregierung lange genug angehört — ist die, daß verfassungsrechtlich die Einsatzmöglichkeiten bestehen, daß aber politisch eine Klarstellung wünschenswert ist.

(Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: Nein!)

Deswegen würden wir mit Ihnen ja gern das Grundgesetz so klarstellen,

(Dr. Peter Struck [SPD]: Dann machen wir doch Blauhelm-Einsätze!)

aber nicht einschränken. Weil Sie dazu nicht bereit und in der Lage sind, muß Karlsruhe das — Sie haben ja die Klage eingereicht — klären.
Wir werden eine solche Einschränkung der außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland — darum geht es —, damit der Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und damit der Fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, Frieden und Freiheit für die Zukunft zu sichern, nicht mitmachen. Da können Sie ganz sicher sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Der Krieg in Jugoslawien wird nicht der letzte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sein, sondern der erste von weiteren, die in Europa drohen, wenn es den Europäern nicht rasch gelingt, diesen Krieg entschiedener zu Ende zu bringen. Dazu wird ein größerer Beitrag von der Bundesrepublik Deutschland gefordert sein, als ihn die Sozialdemokraten zu leisten imstande sind.
Herr Klose, der Satz „Ohne die SPD läuft nichts in dieser Frage. "

(Zuruf von der CDU/CSU: Beschämend!)

ist Gott sei Dank nicht richtig; denn wenn es nach der SPD ginge, wäre es um den Frieden in Europa nach Ihren Parteitagsbeschlüssen schlecht bestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: Unglaublich! — Peter Büchner [Speyer] [SPD]: Brandstifter! — Gegenrufe von der CDU/CSU: Unglaublich!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1212300600
Das geht nicht.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!)

Nach den Regeln unseres Hauses ist so etwas im Sinne von persönlichen Beleidigungen nicht möglich.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaublich! Pöbelt hier nur rum! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Darf ich uns vielleicht gemeinsam bitten: Wir haben im ersten Teil eine Diskussion mit nachdenkenswerten Reden gegen Gewalt geführt. Was jetzt abläuft, fördert diese Diskussion im Lande nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Zurufe von der SPD: Wer provoziert uns denn? — Aufhören! )





Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1212300700
Zu der Verunsicherung, die die Menschen in unserem Lande empfinden,

(Zuruf von der SPD: Aufhören!)

gehört doch ganz gewiß die Tatsache, daß die Menschen begreifen, daß sich in Deutschland und Europa mehr verändert, als wir heute schon absehen können. Wir können nicht absehen, wohin das führt.

(Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1212300800
Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1212300900
Nein, Frau Präsidentin. Ich bin von der SPD-Fraktion so viel gestört worden, daß ich nun wenigstens gern die Chance nutzen möchte, ein paar Gedanken ohne Unterbrechung vorzutragen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu den Veränderungen, die stattfinden, gehört eben auch, daß die alte Lage Deutschlands in der Mitte Europas wieder aufgelebt ist. Mit dem Ost-WestKonflikt, mit der Mauer und dem Eisernen Vorhang waren wir am Rande, und im Rücken war die Wand, war die Mauer. Jetzt — ich sage: Gott sei Dank — sind wir wieder mitten in Europa. Die Türen und Fenster sind nach allen Seiten wieder offen. Aber es zieht von allen Seiten auch kräftig herein in unser deutsches und in unser europäisches Haus. Deshalb müssen wir es wetterfester machen, als es heute schon ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen ist die europäische Einigung so wichtig. Deswegen ist es gut, daß wir in der kommenden Woche gemeinsam Maastricht ratifizieren werden. Deswegen ist unser Beitrag zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik für ganz Europa so unerläßlich notwendig. Deswegen müssen wir bessere Antworten auf die Herausforderungen finden, die uns Osteuropa mit seiner historischen Wende seit den letzten drei Jahren stellt. Ohne solche Antworten würden wir die geschichtliche Chance nicht nutzen, die uns der Wandel in Osteuropa bietet. Aber dazu wird mehr von uns gefordert, als wir bis heute leisten.
Natürlich gehört dazu auch, daß wir Deutsche unsere nationale Gemeinsamkeit, die Frage danach, was das ist, was unsere Nation trägt und gründet, klären. Unsere europäische Aufgabe ist es, mitten in Europa auszugleichen zwischen Süd und Nord, Ost und West, was immer die Rolle Deutschlands in Europa war, ob wir es denn wollten oder nicht. Wir liegen nun einmal in der Mitte, und jede Entwicklung im Osten Europas wird uns Deutsche in der Mitte Europas mit betreffen. Unsere Freunde im Westen sollten uns dabei nicht allein lassen.
Je eher wir begreifen, daß es mehr unsere Aufgabe als die anderer ist, zur Überwindung der europäischen Teilung, die ja auch noch fortlebt, beizutragen, desto eher finden wir vielleicht auch Antworten, die wir den Menschen geben müssen. Die Menschen fragen nämlich: Was ist denn die Grundlage unserer
nationalen Gemeinschaft, für die wir uns einsetzen und engagieren sollen? Dazu müssen wir diese Diskussion stärker führen.
Aber dazu gehört natürlich auch, daß wir die Einheit der Deutschen so rasch wie möglich vollenden. Wir haben diese Einheit der Deutschen in einem europäischen Prozeß gewonnen. Wir schulden Europa, daß wir die deutsche Einheit vollenden und damit auch einen Beitrag zur Überwindung der Teilung Europas leisten. Wenn in Deutschland die Überwindung der Folgen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus nicht gelänge, wie soll sie denn dann im europäischen Maßstab gelingen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen bleibt es dabei, daß die Vollendung der Einheit unsere vorrangige Aufgabe ist. Ein französischer Beobachter hat vor einiger Zeit geschrieben: Deutschland ist vereint, aber die Deutschen noch nicht. Daran ist viel Wahres.
Das hat viel mit der Überwindung der politischen Lasten der Vergangenheit zu tun. Das ist nicht nur eine Frage von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wir müssen die Last von 40 Jahren Teilung und totalitärem Sozialismus im vereinten Deutschland gemeinsam tragen und auch gemeinsam überwinden, aber nicht mit der Selbstgerechtigkeit, mit der Vergangenheitsbewältigung immer nur beim jeweiligen politischen Gegner betrieben wird. Das wird uns nicht weiterführen.

(Freimut Duve [SPD]: Dann wäre es besser, Sie nähmen den Satz von vorhin zurück, Herr Schäuble!)

— Welchen meinen Sie?

(Freimut Duve [SPD]: Daß wir den Frieden in Europa nicht gewahrt hätten bzw. wahren würden!)

— Ich will ihn gern erläutern, damit es kein Mißverständnis gibt, Herr Kollege Duve.

(Freimut Duve [SPD]: Es wäre gut, wenn Sie das täten!)

Herr Kollege Duve, ich habe nicht gesagt und wollte schon gar nicht sagen, daß die Sozialdemokraten den Frieden nicht wollen und sich nicht für den Frieden engagieren. Ich sage, Ihre Politik und Ihre Parteitagsbeschlüsse zu den Möglichkeiten des Bundeswehreinsatzes reichen zur Friedenssicherung nicht aus.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich hoffe, daß das damit klargestellt ist und da kein Mißverständnis bleibt. Meine Kritik an Ihren falschen Entscheidungen soll nicht dazu führen, daß ich so verstanden werde, als würde ich Ihre Motive, Ihre guten Absichten nicht akzeptieren.

(Zuruf von der SPD)

— Wenn wir uns gegenseitig die guten Absichten
nicht absprechen, kommen wir weiter. Aber ich bin
von Ihnen gelegentlich mindestens so schlecht behan-



Dr. Wolfgang Schäuble
delt worden wie Sie von mir. Insofern haben wir uns da gegenseitig nicht viel vorzuwerfen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie meinen doch nicht mich?)

— Ich meine Ihre Fraktion als Ganzes.
Zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen von 40 Jahren Teilung gehört natürlich auch, daß wir nicht nur bei den Überschriften und den guten Vorsätzen bleiben. Herr Kollege Klose, alles, was Sie an zusätzlichen Forderungen genannt haben, ist diskutabel; das meiste ist übrigens in vielen Vorschlägen meiner Fraktion und der Bundesregierung längst enthalten. Aber es geht auch darum, konkret zu werden. Sie sagen, die Steuer- und Abgabenbelastung sei hoch, und anschließend fordern Sie weitere Steuererhöhungen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Die haben Sie doch gefordert!)

Sie sagen, es müsse gespart werden, aber sobald wir irgendeine konkrete Sparmaßnahme vorschlagen oder durchsetzen, wie die 10. AFG-Novelle, sagen Sie, Sie seien dagegen. So kann man sich den Pelz nicht waschen, ohne naß zu werden. Das geht nicht zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es hilft überhaupt nichts: Wir haben in dem Haushalt 1993, den wir in dieser Woche beraten und verabschieden, wichtige Weichen gestellt, um die wirtschaftlichen Hilfen für die neuen Bundesländer weiter zu verstärken. Es mutet einen schon grotesk an. Ich habe mich gewundert, Herr Bundesfinanzminister, wie Sie die Forderung nach einem Zukunftsinvestitionsprogramm von zehnmal 10 Milliarden DM jährlich an öffentlichen Investitionen ertragen haben. Herr Kollege Klose, es ist ein Vielfaches dieser Beträge an öffentlichen Investitionen für die ostdeutschen Länder im Bundeshaushalt 1993 längst enthalten.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Aber nicht zusätzlich!)

— Wir haben 92 Milliarden DM Leistungen für die neuen Bundesländer im Haushalt 1993.
Die öffentlichen Investitionen sind in den neuen Bundesländern nicht das Problem.

(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Richtig! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Auch!)

Die öffentlichen Investitionen in den neuen Bundesländern sind pro Kopf der Bevölkerung wesentlich höher als die öffentlichen Investitionen in den alten Bundesländern. Das ist auch richtig so, das ist unsere gemeinsame Politik. Das Problem ist vielmehr, daß die privaten Investitionen in den neuen Bundesländern im Verhältnis zur Bevölkerung nicht einmal halb so hoch sind wie in den alten Bundesländern. Deswegen müssen wir die privaten Investitionen verstärken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Fehler der Sozialdemokraten ist immer gewesen, daß sie glauben, nur der Staat könne die Probleme lösen.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jawohl! — Freimut Duve [SPD]: Erläutern Sie den Bürgern doch einmal, was Sie machen wollen, und erläutern Sie den Bürgern nicht immer, was Sie nicht wollen!)

— Ich bin gleich dabei.
Sie haben davon gesprochen, daß man nachdenken müsse, welche Produkte man in der Zukunft brauche. Wer soll darüber nachdenken? Ich warne davor, daß dieses Nachdenken den Politikern vorbehalten bleibt. Das sollen die Unternehmer machen. Die können es besser.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was wir brauchen, ist eine Verstärkung der privatwirtschaftlichen Auftriebskräfte in den neuen und übrigens auch in den alten Bundesländern. Deswegen müssen wir den Mittelstand in den neuen Bundesländern stärken, deswegen die Verstärkung der Investitionszulage,

(Detlev von Larcher [SPD]: Endlich!)

deswegen weitere Hilfen für den selbständigen Mittelstand, deswegen eine Verstärkung vor allen Dingen der Möglichkeiten für den Wohnungsbau, aber in erster Linie nicht im Sinne von öffentlichem Wohnungsbau, sondern von Privatisierung der Wohnungen. Wir wollen die Wohnungsgesellschaften dazu bringen, daß sie die Wohnungen privatisieren und nicht immer weiter horten, damit die Menschen in den Neubau, in die Modernisierung von Wohnungen selbst mehr investieren. Das ist der richtige Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Um die notwendigen Mittel für diese Maßnahmen zusätzlich zu erwirtschaften, brauchen wir weitere Einsparungen. Weitere Einsparungen werden wir aber nicht durchsetzen, wenn wir schon bei den ersten Schritten versagen. Die Sozialdemokraten stimmen, wie gesagt, immer schon gegen die ersten Schritte.
Es macht auch keinen Sinn, davon zu reden, daß die Armut in Deutschland immer mehr zunehme, und dann zu sagen, wir hätten 5 Millionen Sozialhilfeempfänger. Die Sozialhilfe in Deutschland ist zum Glück so angelegt, daß es rein wirtschaftlich — Armut ist nicht nur eine Frage von Mark und Pfennig — nach dem Bundessozialhilfegesetz keine Armut gibt; denn das Existenzminimum — das ist relativ üppig — ist durch das Bundessozialhilferecht gesichert.

(Widerspruch bei der SPD)

Deswegen ist es falsch, wenn man argumentiert, wie Sie es getan haben: Wir haben 5 Millionen Sozialhilfeempfänger, deshalb haben wir 5 Millionen Menschen in Armut in Deutschland. Das ist genau der falsche Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Rolf Schwanitz [SPD]: Die Armut wird wegdefiniert!)

Deswegen ist es auch falsch, Einsparmöglichkeiten von vornherein zu tabuisieren.



Dr. Wolfgang Schäuble
Das entscheidende Problem, das wir haben, ist, daß die Bereitschaft zu Arbeit und Leistung nicht wächst, sondern abnimmt.

(Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: So ist es!)

Das entscheidende Problem ist, daß sich immer mehr Menschen bei hoher Arbeitslosigkeit auch in den neuen Bundesländern schwertun, die angebotene Arbeit anzunehmen,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

daß auch in den neuen Bundesländern Handwerksbetriebe, beispielsweise im Baugewerbe, bei hoher Arbeitslosigkeit keine Arbeitnehmer finden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Freimut Duve [SPD]: Das ist aber traurig! — Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind faul!?)

— Das hat mit faul nichts zu tun, es hat mit Fehlsteuerungen und mit Demotivierung in unserem Sozialsystem zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir tun den Menschen keinen Gefallen, wenn wir die sozialen Systeme so einrichten, daß ein erheblicher und wachsender Teil den Sinn nicht mehr einsieht, aus einem Lohnersatzverhältnis wieder in ein Arbeitsverhältnis zu wechseln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir müssen bereit sein, darüber unvoreingenommen miteinander nachzudenken, zu reden und dann auch zu entscheiden.
Wir können in Deutschland nicht so weitermachen. Die Probleme haben nicht nur mit den neuen Bundesländern zu tun.

(Zuruf von der SPD: Sie müssen aufhören zu reden!)

Wir haben in Deutschland — ich will einmal einige Zahlen nennen — 30 Tage gesetzlichen Urlaub. Wir haben im Durchschnitt aller Beschäftigten 20 Tage Krankheit. Wir haben 15 gesetzliche Feiertage. Das macht 65 Tage. Die Woche zu fünf Tagen gerechnet, d. h. 13 Wochen pro Jahr, ein Viertel des ganzen Jahres, wird im Durchschnitt aller Beschäftigten in Westdeutschland nicht mehr gearbeitet.
Wir haben mit das höchste Eintrittsalter in das Erwerbsleben — wir haben inzwischen mehr Architekturstudenten als Maurerlehrlinge —, und wir haben das jüngste Austrittsalter aus dem Erwerbsleben bei steigender Lebenserwartung.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nach zehn Jahren Kohl-Regierung!)

Wir werden auf diesem Wege unsere wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Probleme nicht lösen können.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind dabei, mehr und mehr über unsere Verhältnisse zu leben.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Und das nach zehn Jahren Kohl!)

Wer jeden gedanklichen Ansatz, Korrekturen zu ergreifen, von vornherein so tabuisiert, wie Sie das machen, der hat nach wie vor nicht begriffen, welches das Gebot der Stunde ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Herr Kollege Klose, Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, wir müßten den Kuchen vergrößern. Aber das heißt, daß wir die wirtschaftlichen Auftriebskräfte stärken müssen. Das geht nicht auf dem Weg, daß wir alles, was in Westdeutschland Besitzstand geworden ist, für tabu erklären und sagen, möglichst schnell muß das Anspruchsniveau in Ostdeutschland auf dieses Niveau gebracht werden, und der Rest ist uns egal. So können wir nicht weitermachen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Peter Struck [SPD]: Das sagt doch keiner!)

Es hat übrigens auch damit zu tun — Jürgen Rüttgers hat gestern davon gesprochen —, daß wir einmal darüber nachdenken müssen, daß Grundlagenforschung in Deutschland allein nicht ausreicht. Vielmehr müssen wir moderne Forschungsergebnisse auch in der Praxis anwenden. Wir haben uns gemeinsam vorgenommen, das Gentechnikgesetz so zu reformieren, daß gentechnische Forschungsergebnisse in Deutschland in der chemischen und pharmazeutischen Industrie auch wieder angewandt werden können. Wir müssen in der Energiepolitik darüber nachdenken, daß der Strom vielleicht doch nicht nur aus der Steckdose kommt.
Wir können Umweltpolitik nicht begreifen, wenn wir nicht auch bereit sind, auf moderne Technologien auch in der Energiepolitik zu setzen. Wir können uns nicht weiter leisten, daß die Genehmigungsverfahren immer noch länger dauern.
Als der Bundesverkehrsminister Günther Krause zunächst einmal nur für große Verkehrsinvestitionen in den neuen Bundesländern ein Vereinfachungsgesetz vorgeschlagen und durchgebracht hat, haben Sie dagegen gestimmt. Ich hoffe, daß Sie sich für die Zukunft eines Besseren belehren lassen; denn es war in der Tat nur ein erster Schritt. So schwerfällig, wie wir geworden sind, werden wir in einer Welt, in der der Wettbewerb härter wird und die Probleme größer werden, nicht an der Spitze der Wohlstandspyramide bleiben können. Deswegen ist Umdenken gefordert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: „Geistig-moralische Wende" !)

— Frau Fuchs, Sie haben auch schon bessere Reden gehalten, als Ihre Zwischenrufe heute sind.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn Sie, Herr Kollege Klose, davon sprechen, daß man den Menschen die Wahrheit sagen soll, würde ich dazu raten, nicht immer nur den anderen zu sagen, sie sollten die Wahrheit sagen. Vielmehr muß jeder für seinen Teil versuchen, die Wahrheit zu sagen.
Ich, Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, habe versucht, einige unangenehme Wahrheiten am Beginn dieses zweiten Tages unserer



Dr. Wolfgang Schäuble
Haushaltsdebatte zu sagen. Ich lade Sie ein, unvoreingenommener, als Ihre Reaktion jetzt in dieser Debatte war, auf diese und andere Fragen einzugehen.
Je schneller wir gemeinsam nachdenken und je besser wir gemeinsam handeln, um so besser sind die Chancen für die Zukunft der Deutschen und um so mehr haben wir eine Chance, gerade auch jungen Menschen die Überzeugung zu vermitteln, daß es sich lohnt, sich für diesen Staat und für unsere Freiheitsordnung zu engagieren, und daß es sich lohnt, jenen — was unsere gemeinsame Aufgabe ist — Widerstand zu leisten, die an Stelle von Freiheit und Engagement Haß und Gewalt säen.
Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1212301000
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1212301100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Klose dankbar, daß er im ersten Teil seiner Rede versucht hat, einen Ansatz zu finden, der den Konsens der demokratischen Fraktionen und Parteien stützt und trägt. Auch seine Gedanken zum Stellenwert der Erziehung kann ich nur voll unterstreichen. Ich weiß, daß er seinen Parteifreunden damit einiges zumutet. Deswegen ist es eigentlich verständlich, daß er dann im zweiten Teil seiner Rede auf die alten sozialdemokratischen Pflichtübungen zurückgekommen ist.
Aber ich glaube, es ist heute nicht die Zeit in Deutschland, in diese alten Rituale zurückzuverfallen,

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

sondern wir sind aufgerufen, darüber zu reden, wie wir den größten Herausforderungen, die sich der Bundesrepublik Deutschland stellen, seit sie existiert, begegnen. Das ist eine Frage, die sich stellt im Hinblick auf die Pflichten, die wir zu erledigen haben und auch die Verantwortung, die wir zu tragen haben, und zwar die demokratischen Parteien gemeinsam und nicht gegeneinander.
Die alten, gewohnten Strukturen, die alten Auf gaben und Pflichten haben sich doch geändert. Nach außen muß das souveräne Gesamtdeutschland seine Aufgaben neu definieren. Zu einem veränderten Europa ohne Eisernen Vorhang mit offenen Grenzen kommt diesem Land in der Mitte zwischen Ost und West — in Wirklichkeit in der Mitte zwischen Arm und Reich — eine ganz besondere Verantwortung zu. Dieser Verantwortung können wir nur gemeinsam gerecht werden und nicht, indem wir uns gegenseitig vorhalten, was jeweils der andere zu tun hat.

(Beifall bei der F.D.P. und des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])

Die Blöcke und das Blockdenken haben sich aufgelöst. Die alten Denkstrukturen verlieren ihre Verankerung. Das Machtvakuum löst Ängste aus, und zwar überall in Europa. Die Völker fallen in die nationalistischen Sünden der Vergangenheit zurück, die doch längst überwunden schienen.
Nach innen muß sich das demokratische Deutschland genauso bewähren wie nach außen. Der Rechtsstaat steht auf dem Prüfstand. Die Radikalen von links und rechts wollen die Verunsicherung der Menschen nutzen, und sie gewinnen Zulauf. Das ist das Schlimme. Selbst vor Mord und Totschlag scheuen sie nicht zurück.
Dem müssen wir jetzt Einhalt gebieten — nicht durch radikale Reaktionen, aber mit aller Konsequenz und mit aller Strenge, mit aller Härte der Gesetze, die uns zu Gebote stehen. Der Ruf nach neuen Gesetzen ist erst dann gerechtfertigt, wenn die Gesetze ausgeschöpft werden.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: So ist es!)

Ich kann nicht erkennen — da stimme ich Ihnen zu, Herr Klose —, daß die Gesetze mit der Härte, die notwendig ist, ausgeschöpft würden;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn wenn die Leute wegen Mordes angeklagt würden, wäre das die strengste Form der Klage, die möglich ist. Da helfen auch neue Gesetze nicht.
Jetzt ist eine Bewährungsprobe für alle demokratischen Kräfte gekommen. Jetzt müssen die demokratischen Kräfte und Parteien in unserem Land zeigen, daß sie diesen Herausforderungen gewachsen sind. Es hilft nicht mehr, in schönen und wohlklingenden Erklärungen zum Handeln aufzurufen. Wir müssen gemeinsame Konzepte erarbeiten und Lösungen anbieten; denn sonst wird die Bevölkerung dem nicht mehr lange zusehen.
Ich glaube, die Demonstration in Berlin, deren Organisation teilweise mißlungen war, war trotzdem ein ermutigendes Zeichen. Denn es ist nichts Leichtes und nichts Einfaches, daß 350 000 Menschen aus freiem Antrieb aus allen Teilen der Republik zusammenkommen, um für die Menschenrechte zu demonstrieren. Ich glaube, das ist auch eine Basis, die den Gemeinsinn in der Bevölkerung schafft.
Das erschütterte Vertrauen der Bürger kann nur wiederhergestellt werden, wenn wir gemeinsam, und zwar jeder da, wo er selbst Verantwortung trägt, handeln und entscheiden und nicht den anderen die Verantwortung zuschieben.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)

Gerade die demokratischen Parteien müssen eine gemeinsame Basis da finden, wo es um die Grundwerte unserer demokratischen Rechtsordnung geht. Wir sind aufeinander angewiesen, denn wir brauchen allein rechnerisch einander. Die SPD hat die Mehrheit im Bundesrat, sie stellt die meisten Ministerpräsidenten. Die Koalition hat die Mehrheit im Bundestag. Das zeigt ja schon, daß bei den meisten Gesetzen Übereinstimmung erzielt werden muß.
Wir müssen gemeinsam da handeln, wo unsere Bürger von uns Lösungen erwarten. Die Bürger sind es leid, nicht enden wollende Diskussionen ertragen zu müssen, als habe sich nichts geändert. Demokratische Streitkultur ist gut in Einzelfragen, aber der Grundkonsens ist noch notwendiger. Wir müssen nun end-



Dr. Hermann Otto Solms
lieh aufhören, gegeneinander anzureden, ohne einander zuzuhören, übereinander anstatt miteinander zu reden, aneinander vorbeizureden, anstatt in gemeinsamen Gesprächen Lösungsansätze zu suchen und diese auch weiterzuentwickeln.

(Beifall bei der F.D.P.)

Die Geduld der Bürger ist erschöpft. Wenn wir nicht gemeinsam handeln, werden sie bei der nächsten Wahl gegen uns entscheiden.

(Zustimmung bei der F.D.P.)

Das müssen wir in Erinnerung behalten. Wir haben es in der Hand. Wir müssen diesen Grundkonsens herbeiführen. Das ist die persönliche Verantwortung aller, die wir im Bundestag sitzen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Ich möchte drei Beispiele der gewachsenen Verantwortung der Bundesrepublik anführen. Das eine sind die gewachsene Verantwortung in der Welt und insbesondere die Fragen, die im Zusammenhang mit der Stärkung der Vereinten Nationen stehen. Wir sind Mitglied der Vereinten Nationen, und zwar mit vollen Rechten und Pflichten. Es geht nicht, daß wir nur die Rechte in Anspruch nehmen. Wir müssen uns auch den Pflichten stellen. Das heißt, wir müssen bereit sein, uns an UN-Einsätzen, und zwar friedenserhaltenden wie friedensstiftenden Einsätzen, zu beteiligen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das heißt, wir müssen bereit sein, die verfassungsrechtliche und die verfassungspolitische Klarstellung herbeizuführen. Wer hier zu kurz springt, Herr Klose, oder sich an verfassungspolitischen Notwendigkeiten vorbeimogeln will — wie andere —, wird dieser Verantwortung nicht gerecht.

(Beifall bei der F.D.P.)

Wir sind das ja allein schon unseren Soldaten, die wir da einsetzen wollen, schuldig, daß wir den Grundkonsens herstellen, damit sie wissen, daß ihr Einsatz von dem Konsens, dem Vertrauen und der Übereinstimmung der wesentlichen demokratischen Kräfte in diesem Land getragen ist. Sie sollen ja schließlich in diesen Missionen ihr Leben einsetzen, und deswegen verdienen sie diese Unterstützung.
Aber, meine Damen und Herren, auch die Landkarte Europa hat sich geändert. Wir brauchen eine eindeutige Erklärung der Bundesrepublik — und das wollen wir ja in der nächsten Woche vollziehen —, daß wir uns endgültig und entschieden in Europa einbringen. Es muß für alle Europäer klar sein, daß es deutsche Sonderwege nicht geben wird. Es muß endgültig klar sein, daß wir nächste Woche Maastricht verabschieden. Ich freue mich, daß es in dieser Frage eine volle Übereinstimmung gibt, auch wenn der Weg dorthin schwierig war, aber weniger zwischen den Parteien als zwischen den Verfassungsorganen Bundestag und Bundesrat.
Schließlich — drittens — haben wir auch eine gemeinsame Verantwortung in den Fragen zu übernehmen, die mit den entstandenen Völkerwanderungen und mit der Asylproblematik zusammenhängen. Hier brauchen wir eine gemeinsame Lösung, um eine europäische Asylkonvention zu erreichen. Dafür muß die einheitliche Norm gelten, die die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention bieten. Denn das sind die Normen, die in Europa allgemein anerkannt sind.

(Beifall bei der F.D.P.)

Auch hierfür müssen wir die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen finden. Zuwanderungsdruck und Mißbrauch des Asylrechts zwingen zu gemeinsamen wirksamen Lösungen. Humane Flüchtlings- und Integrationspolitik muß damit verbunden sein. Der Entschließungsantrag, den die Koalitionsparteien hier im Deutschen Bundestag vorgelegt haben, ist die gemeinsame Gesprächsgrundlage für die Gespräche mit den Sozialdemokraten. Ich bin dankbar, daß uns die Sozialdemokraten durch ihren Beschluß auf ihrem Sonderparteitag entgegengekommen sind und sich uns genähert haben. Dafür habe ich im Namen meiner Fraktion seit Monaten geworben, wissend, daß wir nur zu Ergebnissen kommen, wenn wir hier eine gemeinsame Plattform finden.

(Beifall bei der F.D.P.)

Dabei muß klar sein — das habe ich damals auch ausgeführt —, daß das Asylrecht für wirklich politisch Verfolgte gesichert werden muß, daß aber auch die hohe Zahl der unbegründeten Asylantragstellungen zurückgeführt werden muß, nämlich dadurch, daß diese Asylbewerber sehr schnell, in wenigen Tagen, in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können. Wenn wir das nicht erreichen — und das ist das politische Ziel, das die Bürger von uns erwarten —, wäre die gemeinsame Anstrengung vergebens.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn nur so läßt sich der Anreiz, hierherzukommen, mindern, und nur so kann dem Schlepperunwesen die Geschäftsgrundlage entzogen werden. Es geht also darum, hier sehr schnell zu Lösungen zu kommen, und ich freue mich — wir sind ja kurz vor den Gesprächen —, daß auch Sie, Herr Klose, gesagt haben, daß wir möglichst noch in diesem Jahr, also in den nächsten drei Wochen, die vor uns liegen, zu Ergebnissen kommen müssen.
Meine Damen und Herren, wir sind in der Haushaltsdebatte, und deswegen muß man auch über die Finanzen und die Wirtschaft etwas sagen. Das ist der Kern der Diskussion, die wir hier führen.
Die ökonomische Situation in Deutschland ist von einer konjunkturellen Abflachung gekennzeichnet, von diese überlagernden strukturellen Fehlentwicklungen und von den großen Problemen, die mit dem Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung in den neuen Bundesländern verbunden sind. Die industrielle Produktion in den neuen Bundesländern stagniert. Aber die Entwicklung ist nicht so schlecht, wie sie allgemein dargestellt wird. Es gibt Beispiele dafür, daß es erhebliche Zuwächse auch im industriellen Bereich gibt, etwa in der Bauwirtschaft, bei Steine, Erden, Stahl, Leichtmetall, Schienenfahrzeugen, Druckereien, im Vervielfältigungsgewerbe und im Ernährungsgewerbe. Hier hat sich die Entwicklung deutlich verbessert. Darüber hinaus sind der gesamte



Dr. Hermann Otto Solms
Dienstleistungsbereich und der Bereich der freien Berufe sehr schnell in Schwung gekommen. Nicht übersehen werden darf, daß auch die Privatisierungsanstrengungen der Treuhand große Erfolge gezeitigt haben, wenn wir auch wissen, daß hier noch einiges zu wünschen übrig bleibt.
Die deutliche Belebung bei den gewerblichen Investitionen hat mittlerweile immerhin ein Volumen von 60 Milliarden DM angenommen. Das ist mehr, als es am Anfang des Jahres aussah. Die Verbesserung der Infrastruktur, insbesondere was Verkehr und Telekommunikation anbetrifft, ist sehr weit vorangeschritten. Jetzt geht es darum, diese Entwicklung zu unterstützen und zu beschleunigen.
Was bisher in der Diskussion in den Hintergrund getreten ist, sind die vielfältigen Hemmnisse, die auf Grund der komplizierten Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsanordnungen und der Einspruchsmöglichkeiten entstanden sind. Schon im Sommer haben wir, die F.D.P., uns mit Nachdruck für eine Herbstoffensive „Aufschwung Ost" eingesetzt. Dabei möchte ich ausdrücklich hervorheben: Die Arbeiten, die seitdem durch das Kabinett und die Arbeitsgruppen der Koalitionsfraktionen geleistet worden sind, haben zu einem ganzen Bündel von Vorschlägen geführt. Wichtig ist, daß die administrativen Hemmnisse abgebaut werden und daß in einem Artikelgesetz, das noch im Dezember eingebracht wird, hier wichtige Maßnahmen angegangen werden.

(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])

Ich bin ganz sicher, daß wir in der Bundesrepublik das Wirtschaftswunder nach dem Kriege niemals geschafft hätten, wenn wir ein solches Bündel an Vorschriften und Hemmnissen in unserer Gesetzgebung und Verwaltung etabliert hätten, wie das heute der Fall ist. Hier brauchen wir einen Befreiungsschlag. Auch hier müssen natürlich die Länder mitwirken; denn diese sind Herr der Verwaltung. Der Bund kann das nur durch Vorgaben bei den Gesetzen.
Die Strukturprobleme, die die Bundesrepublik schon lange vor der Wiedervereinigung hatte, werden natürlich jetzt, wo wir in eine konjunkturelle Abflachung kommen, deutlicher sichtbar. Deswegen müssen wir alles tun, um die strukturelle Anpassung zu erleichtern. Das heißt, daß wir alles, was dem entgegensteht, vermeiden müssen: keine höheren Steuern, keine höheren Abgaben, keine höheren Belastungen, mehr Flexibilität, mehr Entlastung. Das ist das Zeichen der Zeit, und dem müssen wir folgen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Das gilt natürlich auch für die Lohnkosten. Die Lohnkosten — nicht nur die direkten, sondern auch die Lohnnebenkosten — sind zu hoch, zusammen die höchsten in der Welt, die Arbeitszeiten sind die niedrigsten in der Welt. Herr Schäuble hat das eindrucksvoll ausgeführt. Es kann so nicht weitergehen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und die Produktivität ist am höchsten!)

— Die Produktivität ist da, wo gearbeitet wird, hoch.
Aber es wird eben nicht überall produktiv gearbeitet,
wenn Sie sich gerade den großen öffentlichen Sektor anschauen, und es gibt ja in diesem Land immer noch Leute, die glauben, daß man mit weniger Arbeit mehr leisten könnte.
Herr Klose, Sie haben vorhin die Einstellung der F.D.P. zur Leistung angesprochen. Ich nehme das gern auf mich. Wir sind der Meinung, daß man mehr Ertrag nur durch mehr Leistung erzielen kann,

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

und diesem Thema stellen wir uns. Ich bin allerdings auch der Meinung, daß die Leistungsfähigeren in der Gesellschaft auch einen höheren Beitrag zu den sozialen Lasten zu tragen haben.

(Beifall bei der SPD)

Das haben wir ja auch in unserem progressiven Steuersystem verankert mit dem Ergebnis, daß 3 % der Steuerzahler 30 % des Aufkommens bei den direkten Steuern erbringen. Das zeigt ja, daß die Leistungfähigeren deutlich herangezogen werden.
Der negative Wettbewerbsfaktor Arbeitszeit wird in keiner Weise durch entsprechend längere Maschinenlaufzeiten kompensiert. Auch hier ist ein Ansatz zu einer besseren wirtschaftlichen Struktur. Um leistungsfähigen Wettbewerb zu erreichen, müssen wir zu einer Flexibilisierung und zu einer durchschnittlichen Senkung der Lohnstückkosten kommen. Dies gilt auch für die gesetzlich verursachten Lohnkostenbestandteile.
Die Tarifpolitik muß flexibler werden. Die Differenzierung der Löhne muß je nach Erfordernis möglich sein. Das heißt, wir brauchen Tariföffnungsklauseln. Wir brauchen flexiblere Anpassungsmechanismen.
Wenn sich die Tarifvertragsparteien dieser Frage nicht stellen, werden die Betriebe, die Geschäftsführung und die Mitarbeiter, ihre Lösung selbst finden. Das zeigt sich in den neuen Bundesländern bereits deutlich. Es führt dazu, daß die Organisationsstrukturen kaputtgehen.
Dies bleibt nicht isoliert auf die neuen Bundesländer konzentriert; das wird natürlich von dort aus in den Westen überschwappen. Deswegen müssen die Gewerkschaften ihren Widerstand dagegen schon aus gesundem eigenen Interesse aufgeben.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Konjunkturflaute in der Bundesrepublik kann nur überwunden werden, wenn die Finanzpolitik mit drastischen Einsparungen und einer deutlichen Dämpfung des Ausgabenanstiegs ernst macht, wenn ein weiterer Anstieg der Steuer- und Abgabenbelastung vermieden wird, wenn der Lohnkostendruck spürbar abgeschwächt wird, wenn als Folge dieser Maßnahmen die Geldpolitik gelockert werden kann und wenn die privaten Investitionen für die neuen Bundesländer intensiviert werden.
Meine Damen und Herren, um all dies zu unterstützen, hat die Bundesregierung, der Bundesfinanzminister, einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt, der die Eckpunkte erfüllt, die wir gefordert haben, nämlich Begrenzung des Ausgabenanstiegs auf 2,5 Prozentpunkte und Senkung der Nettoneuver-



Dr. Hermann Otto Solms
Schuldung auf das Volumen, das wir ursprünglich angepeilt hatten, nämlich auf unter 45 Milliarden DM.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Finanzpolitik der öffentlichen Hände insgesamt kann aber nur einen erfolgreichen Beitrag leisten, wenn die Bundesländer und Gemeinden ihren Beitrag dazu erbringen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das zeigt, daß alle zusammen diese Aufgabe zu erfüllen haben.
Wir haben die Länder aufgefordert, ihre Ausgaben auf 3 % zu begrenzen. Jeder, der sich die Haushaltsentwürfe der Länder anschaut, weiß, daß dies nirgends eingehalten wird.

(Zuruf des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD])

— Das ist viel schwerer, weil ihr Personaletat viel höher ist; zugegeben.
Wir müssen in gemeinsamen Gesprächen mit den Ländern zu Ergebnissen kommen, die dieses ermöglichen. Wir müssen auch in Bereichen, wo Bundesgesetze geändert werden müssen, mitwirken, um ihnen die Einsparungen zu ermöglichen.

(Zustimmung des Abg. Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU])

Der Bundesfinanzminister führt die Gespräche mit den Länder- und Gemeindevertretern, um gemeinsame Einsparmöglichkeiten zu eröffnen, um die gesamtstaatliche Finanzpolitik auf den Weg zu bringen, der notwendig ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, natürlich wird immer wieder die Frage gestellt: Wie sieht es mit den Steuern aus? Kann man nicht die Steuern erhöhen, um uns diese Aufgabe zu erleichtern? Ich bin strikt dagegen. Wer in dieser Situation den leichten Weg sucht, wird den richtigen Weg nie erreichen können.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Selbst das wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften hat in einem kürzlich vorgelegten Gutachten mitgeteilt, daß es in dieser konjunkturellen Situation, in dieser Abschwungphase, Steuererhöhungen für das falsche Mittel hielte.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber sie fordern ausdrücklich die Ergänzungsabgabe!)

— Ja, aber nicht in dieser Situation.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Doch! Ausdrücklich!)

Das wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften hat genau davor gewarnt.
Deswegen sage ich hier auch für meine Fraktion: Wir sind gegen Steuererhöhungen in dieser Situation. Wir wissen allerdings, daß zum Abtragen und zum Ausgleich der Erblast, die uns die Kommunisten hinterlassen haben, des riesigen Fehlbetrags von über 400 Milliarden DM, der ab 1995 auf den Haushalt
zukommt, Steuererhöhungen nicht vermeidbar sein werden. Wir werden bereit sein, diese mit zu beschließen.

(Zustimmung des Abg. Michael Glos [CDU/ CSU])

Meine Damen und Herren, allein das vernünftige Verhalten der öffentlichen Haushalte aber wird nicht ausreichen; denn wir müssen die Tarifvertragsparteien daran erinnern, daß in erster Linie sie die Verantwortung für die Beschäftigung in diesem Lande tragen. Es ist unser entscheidendes Ziel, die Menschen in Brot und Arbeit zu bringen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nicht über Abgaben!)

Das heißt, daß sich die Tarifvertragsparteien an dieser gesamtstaatlichen Aufgabe beteiligen müssen.
Die Bundesregierung führt Gespräche, um einen solchen Solidarpakt zu erreichen. Es kann nicht gutgehen, daß die Tarifauseinandersetzungen wie in den letzten beiden Jahren geführt werden mit Ergebnissen, die ökonomisch unvernünftig sind und die zwingend dazu führen, daß die Zahl der Arbeitslosen steigt.
Wir müssen in der Öffentlichkeit immer wieder darauf hinweisen, wer hier die Verantwortung trägt. Nur wenn alle Beteiligte, Bund, Länder, Gemeinden und Tarifvertragsparteien, eine vernünftige Politik betreiben, wird es der Bundesbank möglich sein, auch an der Zinsfront etwas zur Erleichterung beizutragen;

(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!)

denn die Zinsen sind natürlich ein wichtiger Kostenfaktor in der Wirtschaft. Nur dann kann das Ganze gelingen. Deswegen sollte jeder in dem Bereich, in dem er Verantwortung trägt, daran mitwirken.

(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Otto Schlecht schrieb dieser Tage zu Recht, daß die vielbeschworene und oft zitierte Gerechtigkeitslücke in Wahrheit eine Investitions-, eine Beschäftigungslücke ist. Es geht nicht darum, anderen, wem auch immer, die Schuld zuzuschieben,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Auch er ist für eine Ergänzungsabgabe!)

sondern es geht darum, daß jeder seinen Beitrag leistet, damit die Investitions- und Beschäftigungslücke gedeckt wird, damit wir wieder zu Vollbeschäftigung kommen und damit wir den schärferen Wettbewerb im gemeinsamen Markt bestehen können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es liegt jetzt an uns, daß jeder in seinem Bereich seiner Verantwortung gerecht wird. Die Bundesregierung und die Koalitionsparteien werden vorangehen und die Beschlüsse auf den Tisch legen, die wir für notwendig erachten. Wir wollen, daß mehr für die neuen Bundesländer getan wird. Wir wollen dafür einen Nachtragshaushalt einbringen. Wir wissen aber, daß dies nur vernünftig finanziert werden kann, wenn dafür vernünftige Deckungsvorschläge nicht



Dr. Hermann Otto Solms
nur gemacht werden, sondern wenn sie auch durchgesetzt werden.
Das heißt, es kann nur durch die intensive Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gelingen. Die Sozialdemokratische Partei steht damit genauso in der Verantwortung wie die regierungstragenden Parteien. Wir gemeinsam müssen uns der Aufgabe stellen; wir müssen sie gemeinsam lösen. Nur dadurch werden wir den Fragen, die sich uns stellen, gerecht. Es muß jetzt Schluß sein mit den Auseinandersetzungen, wie wir sie auch gestern in der Haushaltsdebatte wieder erlebt haben. Wir müssen gemeinsam unsere Verantwortung für Deutschland übernehmen. Darum bitte ich Sie, und dazu rufe ich Sie auf.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212301200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1212301300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Millionen Arbeitslose, eine Wirtschaft, die sich in den neuen Bundesländern nach wie vor im freien Fall befindet, Rezession im Westen, 2,5 Millionen fehlende Wohnungen, immer mehr Obdachlose, 4,2 Millionen Menschen, die durch Sozialhilfe mittlerweile unter die Armutsgrenze gedrückt wurden, Unzählige, denen die Lebensperspektive und die Kultur genommen wurden, jetzt auch noch Tag für Tag und Nacht für Nacht Überfälle und Brandanschläge auf Flüchtlinge, auf Juden, auf Ausländer, fünf rassistische Morde allein in der letzten Woche, 18 seit Jahresanfang, Pogrome gegen die Asylbewerberinnen und Asylbewerber, eine Regierung und eine große Oppositionspartei, die in dieser Situation nichts Besseres zu tun haben, als die Grundrechte für die Opfer dieser Verbrechen einzuschränken — was ist das für ein Land? Deutschland ist seit dem 3. Oktober 1990 nicht nur größer geworden, es ist auch gröber geworden.
Ich will versuchen, eine Bilanz zu ziehen, die die Verantwortung der Regierung, die auch die Verantwortung eines großen Teils der Medien nicht auslassen kann. Um eines kann sich niemand herummogeln: Das Blut der türkischen Opfer von Mölln und das Blut des jungen Antifaschisten Silvio aus Berlin klebt nicht nur an den Händen derjenigen, die die Brandsätze geworfen und die Messerstiche verübt haben, Verantwortung tragen viele in der Gesellschaft, auch die Regierung und nicht weniger Medienvertreter. Das mag noch soviel Betroffenheit nicht wegwischen.
Die unselige Asyldebatte, die Panikmache mit politisch motivierten Statistiken, das Gerede von Asylmißbrauch und Überfremdung haben den Attentätern die Brandflaschen in die Hand gedrückt. Es wird mit falschen Zahlen operiert, statt der Panikmache entgegenzutreten.
Ich sage es noch einmal: 1990 gab es in der Bundesrepublik Deutschland 1,7 Millionen Zuwanderungen. 1992 werden es etwa 900 000 sein. Hinzu kommen aber 600 000 Auswanderungen, so daß die Differenz viel weniger gewichtig ist als in den Jahren zuvor. Also könnte man beruhigen; statt dessen wird Panikmache betrieben.
Lassen Sie mich bei der Suche nach Gründen mit der falsch gelaufenen Vereinigungspolitik anfangen: Die deutsche Einheit wurde als Beitritt der Ostdeutschen zur Bundesrepublik Deutschland vollzogen. Damit wurde von Anfang an die Vorstellung verknüpft, daß die Bundesrepublik Deutschland nur größer geworden sei, mehr Immobilien und mehr Einwohnerinnen und Einwohner besäße.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie hätten es lieber anders gehabt!)

Der Maßstab, der demzufolge an die Ostdeutschen angelegt wurde, enthielt zwei Prämissen. Zunächst einmal galten sie als jene, die unbedingt in die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden wollten. Das bedeutet, daß sie sich entsprechend einzuordnen haben. Andererseits war damit die Forderung an die Ostdeutschen verbunden, sich so schnell wie möglich zu Westdeutschen zu entwickeln, da eine Akzeptanz nur dann zu erreichen ist.
Dieser gesamte Ansatz ist Ausdruck einer fast unbeschreiblichen Selbstgerechtigkeit eines Teils der westdeutschen politischen Klasse, der die öffentliche Meinung im wesentlichen bestimmt. Zu keinem Zeitpunkt bestand die Bereitschaft, die Ostdeutschen in ihrer eigenständigen Entwicklung, mit ihren eigenen Leistungen, in ihrer eigenständigen Kultur anzunehmen und dies als Bereicherung für das Entstehen einer neuen Bundesrepublik Deutschland zu begreifen.
Die aktuellen Vorstellungen zum Rechts- und Demokratie-, zum Sozial- und Kulturabbau in der Bundesrepublik Deutschland sind allerdings nicht neu. Sie gibt es seitens der Koalition bereits seit Jahren. Aber noch nie war die Chance so groß, sie durchzusetzen, und zwar immer mit der Begründung, daß Ostdeutschland anders nicht aufzubauen sei. Das nenne ich Instrumentalisierung der Ostdeutschen zur Durchsetzung einer reaktionären Politik.
Fangen wir mit der Aufarbeitung der Geschichte der DDR an. Zu keinem Zeitpunkt waren die in der Bundesrepublik herrschenden Kräfte daran interessiert, eine Aufarbeitung zu erreichen, die das Leben in der DDR mit allen Nachteilen, aber auch Vorzügen wirklich erklären konnte, eine Aufarbeitung, die die historischen Bezüge herstellte, wonach die Entwicklung der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ohne den deutschen Faschismus, ohne den von Deutschland geführten Zweiten Weltkrieg, ohne die Besetzung Deutschlands nicht erklärbar sind, eine Aufarbeitung, die verdeutlicht, daß der Kalte Krieg von beiden deutschen Staaten geführt wurde, daß er Opfer auf beiden Seiten kostete und daß es erforderlich ist, die Opfer auf beiden Seiten zu rehabilitieren, eine Aufarbeitung, die die Abhängigkeit der beiden deutschen Staaten von den jeweiligen Supermächten, aber auch voneinander gezeigt hätte, eine Aufarbeitung, die belegt hätte, daß die wirtschaftliche Schwäche der DDR nicht nur Ergebnis einer Fehlpolitik der DDR-Führung war, sondern auch ein verwirklichtes Ziel westdeutscher Politik.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch, was Sie da sagen!)

Eine solche Aufarbeitung, die zu kritischen und selbstkritischen Einschätzungen im Osten und We-



Dr. Gregor Gysi
sten geführt hätte, die ein Nachdenken übereinander, eine gegenseitige Akzeptanz, eine gegenseitige Auseinandersetzung und damit auch einen Neubeginn ermöglicht hätte, ist von vornherein abgelehnt worden. Das hätte in der DDR nichts verharmlost, schon gar nicht die Aufdeckung diktatorischer Strukturen.
Aber statt dessen, ist die Aufarbeitung der Geschichte der DDR von Anfang an als ein Akt der Demütigung fast aller ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger angelegt gewesen.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Dummes Zeug!)

Fast jede und jeder Ostdeutsche fühlt sich heute verpflichtet — das können Sie nicht leugnen —, sich für seine Biographie zu rechtfertigen, den Nachweis anzutreten, daß sie bzw. er anders war als die anderen Ostdeutschen, daß er den heutigen westdeutschen Maßstäben genügt habe.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber Sie können das nicht!)

Die Aufarbeitung der Geschichte dient so der Zerstörung von Menschen. Es ist eine bedauerliche Begleiterscheinung, daß in nicht wenigen Fällen zerstörte Menschen dann auch die Würde anderer nicht mehr achten, da sie ihre eigene verloren haben. — Wenn Sie mir vorwerfen, daß ich das nicht kann, dann kann ich Ihnen nur sagen, daß ich zumindest ahne, wie Sie in der DDR gelebt hätten, wenn Sie dort gelebt hätten — auch im Unterschied zu mir.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Die psychische Demütigung der Ostdeutschen wird durch die ökonomische, soziale und kulturelle ergänzt.
Wenn die DDR ein einziger negativer Koloß war, dann können eben auch ihre Jugendklubs und ihre Kulturhäuser, ihre Kindereinrichtungen und ihre Ferienlager sowie ihre Menschen, d. h. ihre Künstlerinnen und Künstler, ihre Sportlerinnen und Sportler, ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Arbeiterinnen und Arbeiter, nichts getaugt haben. Dann können natürlich auch ihre Betriebe nichts getaugt haben. Dann muß man fast alles, was es auf diesem Gebiet gab, negativ bewerten und schließen.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nein, das lag an der SED, nicht an den Menschen!)

Seit dem 3. Oktober 1990 wird auf die von mir beschriebene Art und Weise nicht versucht, die Einheit zu vollenden, sondern die Spaltung zu vertiefen. Es vergeht kein Tag, an dem die Bundesregierung nicht auf die hohen Kosten der deutschen Einheit hinweist.
Wer glaubt denn im Ernst, daß eine solche Betonung tatsächlich zur Vollendung der Einheit führt? Eine solche Polemik ist geeignet, daß viele Westdeutsche von den Ostdeutschen allmählich bedient sind,

(Zuruf von der CDU/CSU: Nur wir von Ihnen!)

und die Ostdeutschen fühlen sich als ewig Nehmende gedemütigt.
Dabei wird nicht einmal davor zurückgeschreckt, falsche Zahlen zu benutzen. Immer wieder werden in die entsprechenden Summen Zahlen eingefügt, die nichts, aber auch gar nichts mit einer Sonderausgabe für Ostdeutschland, sondern einfach mit einem Rechtsanspruch zu tun haben, z. B. Kindergeld, Erziehungsgeld, Arbeitslosenunterstützung und anderes mehr, worauf Bürgerinnen und Bürger auch in den alten Bundesländern unter den entsprechenden Voraussetzungen Anspruch haben, ohne daß man ihnen das als Sonderleistungen berechnet. Letztlich kommen aus den Bundesmitteln netto 13 Milliarden DM für den Osten Deutschlands heraus; aber diese Zahl wird verschwiegen.
Aber das Ganze hat ein Ziel. Es hat nämlich das Ziel, die Bundesrepublik zu verändern. Da es keinen Wettbewerb der Systeme mehr gibt, soll sie ihre Rolle als demokratisches und soziales Musterländle der westlichen Welt verlieren.
Es geht darum, in Konkurrenz zu den USA, zu Japan und zu anderen EG-Staaten Marktvorteile zu erreichen, die Reichen im Lande permanent zu begünstigen und die sozialen Unterschiede weiterhin wachsen zu lassen.
Ich wundere mich sehr, daß hier gerade Herr Schäuble gegen Besitzstände polemisiert; denn wenn, dann versucht doch wohl die CDU/CSU immer wieder, Besitzstände zu sichern, allerdings derjenigen, die besonders viel besitzen.
Ich finde es auch ziemlich ungeheuerlich, den Arbeitslosen zumindest indirekt vorzuwerfen, daß sie nicht bereit seien zu arbeiten.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Wer wie wir, die Abgeordneten hier im Deutschen Bundestag, solche Diäten kassiert, dem müßte es eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben, den Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern vorzuwerfen, daß sie üppig leben. Das, glaube ich, geht einfach zu weit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Ich finde, daß die zehnte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz so schnell wie möglich vom Tisch muß, denn hier sollen riesige Sozialleistungen gestrichen werden, indem die Möglichkeiten des Bundesamtes für Arbeit wesentlich eingeschränkt werden.
Außerdem plant die Bundesregierung tatsächlich Einsparungen gerade bei der Sozialhilfe, d. h. bei den Ärmsten in der Gesellschaft. Sie hofft darauf, daß mit den Ärmsten niemand solidarisch sein wird.
Die Bundesregierung will den Gewerkschaften einen entscheidenden Schlag zufügen, indem sie die Tarifautonomie aufheben will. Der Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderungen soll ausgehöhlt werden, wie überhaupt die Deregulierung angesagt ist. Die Frauen sollen auch im Osten zurück an den Herd und keine selbstbestimmte Entscheidung über eine Schwangerschaft treffen können. Die deutsche Einheit gestaltet sich also frauenfeindlich,

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Freiheitskämpfer Gysi!)


Dr. Gregor Gysi
erzeugt neue Armut und vertieft die sozialen Unterschiede.
Eine zweite Seite des deutschen Einheitsprozesses besteht — leider — darin, daß der Nationalismus in Deutschland wieder salonfähig wurde. Deutschland ist wieder wer. Dazu gehört, daß ein Sitz als Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat beantragt wird. Dazu gehört, daß es immer intensivere Bestrebungen gibt — das ist heute wieder bestätigt worden —, die deutsche Bundeswehr international einzusetzen. Denn was ist Deutschland, wenn nicht auch sein Militär international präsent ist?

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie waren präsent, was Sie nicht hätten sein sollen!)

Dazu gehört, daß immer unverholener eine Vorherrschaftsrolle in Europa angestrebt wird. Dazu gehört, daß ein Bonner Staatssekretär die Schirmherrschaft für den Jahrestag des Einsatzes der V2-Raketen im Zweiten Weltkrieg übernehmen wollte und daß er von asylantenfreien Zonen in München sprechen konnte, ohne — das ist das Entscheidende — daß ihn die Bundesregierung sofort entläßt

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das haben wir doch vor vier Wochen schon im Programm gehabt!)

oder daß sich für seine Entlassung eine Mehrheit in diesem Bundestag finden würde.
Dazu gehört, daß unser Antrag nach Hoyerswerda, eingebracht für eine breite Aufklärungskampagne gegen Rassismus und Rechtsextremismus, ein Jahr lang nicht behandelt wurde,

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Reden Sie einmal von den Verbrechen der SED! Damit haben Sie genug zu tun! — Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es! Reden Sie einmal von den Schüssen an der Mauer!)

dann zugesichert wird, daß die Mittel dafür bereitgestellt werden und diese Mittel bis heute gesperrt sind, also die Kampagne nicht stattfindet.
Dazu gehört, daß die CSU in Bayern und die CDU in Berlin sich in ihren Vorschlägen zur Überwachung und zum Verbot der PDS permanent abwechseln. Dazu gehört vor allem der deutlich zunehmende Rassismus und Antisemitismus in dieser Bundesrepublik Deutschland.
Es geht nicht mehr nur um Parolen. Es gibt inzwischen Morde, und es werden jeden Tag mehr. Der Bundesregierung wird vielfach — wie ich meine, zu Recht — Heuchelei vorgeworfen, weil sie die Vorfälle in Worten bedauert, aber praktisch nichts Ernsthaftes dagegen unternimmt. Im Gegenteil, auch diese Entscheidungen werden wieder instrumentalisiert und mißbraucht, um lange gewünschte Strafprozeßrechtsänderungen durchzusetzen, die Bürgerrechte einschränken sollen. Als der ehemalige Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer ermordet wurde, haben die Gewerkschaften in der Bundesrepublik zu einer mehrminütigen Arbeitsniederlegung aufgerufen.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und Sie haben gelacht!)

Alles stand still in dieser Bundesrepublik, und die Bundesregierung hat dies begrüßt. — Sie dürfen ja doofe Zwischenbemerkungen machen, aber nicht unverschämte.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wo war denn die Zufluchtsstätte der Terroristen? Ihr habt ihnen Pässe gegeben usw.! — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ihr habt sie geschützt!)

Inzwischen haben die Rechtsextremisten 18 Menschen ermordet. Kaum ein Tag vergeht, ohne das neue Opfer benannt werden. Ich wünsche mir einen immer lauter und stärker werdenden Protest dagegen. Deshalb fordern wir dazu auf, daß die Gewerkschaften zu einer 15minütigen Arbeitsniederlegung aufrufen und daß die Bundesregierung dies wie damals unterstützt.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Aber die Bundesregierung befindet sich hier wohl in einer schwierigen Situation, denn sie ist es ja, die seit Monaten und Jahren eine immer schärfer werdende Debatte gegen Flüchtlinge führt. Wer eine solche Atmosphäre schürt, hat dann natürlich Schwierigkeiten, die Täter, die die gleichen Vokabeln benutzen, überzeugend zu kritisieren und erst recht ihnen das Handwerk zu legen.
Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland wird nicht wirksam bekämpft. Er wird bagatellisiert, erklärt und partiell gefördert. Das Verständnis mit den Tätern überwiegt bei weitem das Verständnis für die Opfer. Wir alle werden immer abgestumpfter. Das erste Opfer des Rassismus löst noch Entsetzen aus; bald werden viele von uns nur noch zählen.
Herr Bundeskanzler, es geht mir nicht darum, wie das Ansehen Deutschlands im Ausland abgebaut wird; das ist eine Folgeerscheinung. In erster Linie geht es doch darum, wie sich die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich entwickelt. Die Tendenz weist viele unangenehme Adjektive auf: kinderfeindlich und frauenfeindlich, rassistisch und antisemitisch, behindertenfeindlich und unsozial. Das alles wäre nicht nötig gewesen. Die deutsche Einheit hätte auch anders gestaltet werden können. Es ist spät, aber es ist nicht zu spät.
Herr Bundeskanzler, leiten Sie eine Kurskorrektur der politischen, ökonomischen, juristischen, sozialen, kulturellen und psychischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ein! Beenden Sie eine Politik, die die Bundesrepublik in die Weimarer Republik zurückführt!

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Klaus Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Zurück zum SED-Staat!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212301400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1212301500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Flammen von Mölln und der Blutspuren von Berlin diskutiert der Deutsche Bundestag den Haushalt 1993. Wir sind das Parlament eines Landes, in dem der Frieden seiner Bewohner und Bewohne-



Dr. Wolfgang Ullmann
rinnen gebrochen worden ist. Darum muß in dieser Haushaltsdebatte die Frage gestellt werden: Wie haben wir — wir, nicht die Medien oder irgend jemand draußen — mit dem kostbaren Gut des Friedens, wie haben wir mit den Chancen unserer Freiheit hausgehalten? Auf dem Hintergrund dieser Situation mutet es für mich schon in höchstem Grade befremdlich an, was ich den Herrn Kollegen Schäuble hier vorhin über Frieden und Sicherheit habe vortragen hören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS/Linke Liste)

Aber wahrscheinlich sind das die Ergebnisse einer Philosophie, in der es möglich ist, die Armut per definitionem abzuschaffen und das Problem der Arbeitslosigkeit im wesentlichen auf die Faulheit zurückzuführen.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Trotz dieser Armut kommt die ganze Welt zu uns!)

Es ist gut, daß sich der Deutsche Bundestag schon mehrfach durch den Mund seiner Präsidentin an die Seite der Angegriffenen, Mißhandelten und Ermordeten gestellt hat. Aber gerade das verpflichtet uns auch zu einer kritischen Frage an uns selbst. Es mag um die Medien bestellt sein wie auch immer, wir müssen uns selbst die Frage stellen: Hat dieses Parlament alles getan, was die Gesetzgebung denen schuldig ist, die aus anderen Völkern und Kulturen kommen und schon Jahrzehnte unter uns wohnen oder erst jetzt aus aktuellem Anlaß, aus aktueller Not Zuflucht bei uns suchen? Es ist nicht so, meine Damen und Herren Kollegen, daß wir diese Frage guten Gewissens bejahen können. Schon seit Jahren ist klar, daß die Bundesrepublik Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist,

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Weil wir so arm sind!)

ob wir es begrüßen oder nicht.
So ist schon seit langem eine Gesetzgebung erforderlich, die in Form eines Flüchtlings-, Einwanderungs- und Niederlassungsgesetzes Wege eröffnet, mit denen der Zustrom gesteuert und die Integration oder auch Rückwanderung auf humane Wege hätte geleitet werden können. Aber noch immer klafft die riesige Lücke zwischen dem Asylrechtsartikel des Grundgesetzes und einer nicht mehr abzuleitenden Flut von Flüchtlingen.
In manchen unserer Kommunen sieht es aus wie auf der Kreuzung einer Großstadt, auf der die Verkehrsregelung zusammengebrochen ist. Nicht nur, daß man sich wechselseitig im Andrang behindert; immer mehr versuchen, die Ampeln nach ihrem Willen leuchten zu lassen oder auch nicht. Es kommt buchstäblich nicht nur zu Unfällen, sondern auch zu Mord und Totschlag.
Statt der zutiefst beunruhigten Bevölkerung mit Konzepten politischer Ordnung und Gestaltung zu helfen, haben wir — damit meine ich das Parlament als Ganzes — eine übel angebrachte, das Thema verfehlende und das Parlament bis zu jenem schmählichen Entschließungsantrag der Regierungskoalition erniedrigende Asylrechtsdebatte geführt, in dem eine
Verfassungsänderung beschlossen, aber kein Wort über ihren Inhalt gesagt wurde.
Ich will auf diese Debatte nicht wieder zurückkommen, sondern weise nur deshalb auf sie hin, weil auch in ihrem Verlauf die Tendenz der Regierung offenbar wurde, die eigene Verantwortung zu handeln mittels einer abwegigen Verfassungdebatte auf das Parlament abzuschieben, eine Tendenz, die der Öffentlichkeit schon auffiel, als die damalige Ausländerbeauftragte ein Jahr lang vergeblich Gehör beim Bundeskanzler suchte.
Keine der Aufgaben im Rahmen des europäischen und des deutschen Einigungsprozesses ist auch nur annähernd gelöst. Europa ist nicht zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger geworden, sondern gilt je länger desto mehr als Alptraum einer Mammutbürokratie. Die Bundesregierung hat es nicht fertiggebracht, sich an die Spitze einer Aktion aller deutschen Länder in Richtung auf Europa zu stellen. Sie streitet sich höchstens mit diesen Ländern um Kompetenzen und einigt sich mit ihnen auf das kleinste gemeinsame Vielfache.
Was haben wir in bezug auf die sogenannte Europäisierung des Asylrechts alles zu hören bekommen! Welche Losungen sind da — vor allen Dingen von der Bundesregierung — ausgegeben worden. Sie erweisen sich nach dem letzten Beschluß des Straßburger Parlaments mehr als eine Entfernung von Europa und auch von der Genfer Flüchtlingskonvention als eine Annäherung.
Was die Finanzen anbelangt, so reißt die Kette abweichender oder gar konträrer Äußerungen der Regierung seit der Sommerpause nicht mehr ab. Ich will jetzt nicht über Nähe oder Ferne eines Nachtragshaushalts spekulieren, sondern nur in Erinnerung rufen, daß im Herbst 1982 wegen geringerer Schuldenprobleme eine Bundesregierung zerbrach, was in einer Demokratie übrigens ein normaler Vorgang ist, und daß die Partei des heutigen Bundesfinanzministers wegen einer weit geringeren Staatsverschuldung nach Karlsruhe ging, um die Verfassungsgemäßheit des Verhältnisses von Kreditaufnahme zu Investitionsausgaben laut Art. 115 Abs. 1 Grundgesetz überprüfen zu lassen.
Was soll nun eigentlich angesichts des mittlerweile aufgelaufenen Schuldenberges der jetzigen Regierung noch geschehen? Glaubt wirklich jemand, die mehr oder weniger heftig geäußerten Irritationen in unserer Gesellschaft hätten mit diesem Bild desorganisierter Finanzen gar nichts zu tun? Um so schlimmer ist es, wenn auch die Innenpolitik, die seit Hoyerswerda weiß, daß sie sich völlig neu orientieren muß, noch nicht einen einzigen Schritt in die neue Richtung getan hat, genausowenig wie wir den Herrn Innenminister in einem der Zentren gewalttätiger Auseinandersetzungen haben auftauchen sehen.
Noch immer wird dem völlig antiquierten Terrorismuskonzept der 70er Jahre gefolgt. Damals handelte es sich um Angriffe auf einzelne hochrangige Repräsentanten von Staat und Gesellschaft. Jetzt handelt es sich um diffus ausschwärmende Gruppen, die andere, zu Feinden erklärte Gruppen ebenso diffus, aber eben darum um so gefährlicher angreifen. Die Aufgabe



Dr. Wolfgang Ullmann
besteht darin, die angegriffenen Gruppen durch Gebrauch der staatlichen Gewalt wirksam zu schützen und angreifende Gewalt abzuwehren,

(Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

nicht aber nur kräftige Worte zu gebrauchen, wenn wieder ein Mord oder eine Brandstiftung passiert ist.
Zwei der Schwerpunktministerien unserer Regierung sind in vollem Umfang handlungsunfähig. Der Bundeskanzler weiß das ebenso lange wie die deutsche Öffentlichkeit. Aber was tut er? Er philosophiert öffentlich über Staatsnotstand, statt in seinem Kabinett die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Muß der Regierung erst vom Parlament gesagt werden, daß das so nicht bleiben kann?
Aber was kann sie denn tun? Es gibt nicht allzu viele Möglichkeiten, doch es gibt einige. Der Kanzler könnte das Kabinett umbilden und auf der Grundlage eines Konzeptes von Sofortmaßnahmen die Vertrauensfrage laut Art. 68 des Grundgesetzes stellen. Aber woher soll bei dieser Regierung — wie sie sich jetzt angesichts der Haushaltsdebatte zeigt — ein Konzept kommen?
Dann bleibt noch eine Große Koalition. Hierzu fehlt aber doch wirklich jede Alternative.
Die Rede, Herr Klose, die Sie vorhin gehalten haben, war die Rede einer Sperrminorität und nicht die Rede einer Opposition. Die CDU kann darauf natürlich jederzeit reagieren, indem sie sich als die Sperrmajorität betätigt. Das, meine Damen und Herren, ist die sicherste Methode, die Handlungsfähigkeit eines Parlaments zu paralysieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Neue Wahlen werden von anderer, auch sehr weit rechter Seite erwogen. Angesichts der geschilderten Lage unserer Innenpolitik kann die für eine Bundestagswahl vorauszusetzende politische Mindeststabilität nicht mehr als gegeben angesehen werden. So bliebe als ehrlicher Ausweg nur das konstruktive Mißtrauensvotum nach Art. 67 des Grundgesetzes. Daß die heutigen Daten des Haushaltsentwurfs noch sehr viel lauter als 1982 nach einem solchen rufen, habe ich schon gesagt.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, bitte fassen Sie es nicht als einen Spaß auf, wenn der Angehörige einer kleinen Gruppe danach fragt, denn er wendet sich gerade an Sie, in der Überzeugung, daß die CDU nicht nur aus Helmut Kohl und seinen Freunden besteht, sondern eine Partei ist, der das Wohl der Demokratie nicht weniger am Herzen liegen muß als mir.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Helmut Kohl auch!)

— Das setze ich voraus. Ich frage nur, ob er in der Lage ist, das durchzusetzen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wo ist da der Widerspruch?)

Aber das mag als politisch entscheidende Frage jetzt — leider — offenbleiben. Ich kann darum an dieser Stelle nicht schließen und muß davon ausgehen: Dieser Moment, meine Damen und Herren Abgeordneten, der Moment des offenkundigen und feindseligen Angriffs auf die Demokratie und den Frieden unserer Gesellschaft ist die Stunde des Parlaments. Denn er ist die Probe auf das Exempel unserer Demokratie. Es ist die Verantwortung des Parlaments, die Fronten hier klar zu ziehen.
Es ist übrigens, meine Damen und Herren, das genaue Gegenbeispiel zur Situation von 1977. Die RAF-Provokation mußte an einer Regierung scheitern, die sich nicht erpressen ließ. Die unsrige bietet das traurige Schauspiel, prinzipiell zu jeder Verfassungsänderung erpreßbar zu sein. Wenn das nicht so recht funktionieren will, dann werden Umgehungsgesetze geplant, oder es wird die Ausrufung des Staatsnotstands angedroht.
Einzig der Generalbundesanwalt hat endlich als erstes der Verfassungsorgane die richtige Perspektive gewiesen, weil er den Möllner Brand als Gefährdung unserer inneren Sicherheit identifizierte und darum die Verfolgung an sich zog. Etwas Entsprechendes muß von den Parlamenten erwartet werden, allen voran von dem Deutschen Bundestag.
Die Angriffe auf unsere Demokratie müssen ernst genommen werden. Mord, Totschlag, Körperverletzung, Brandstiftung sind bekannte Tatbestände, gegen die mit allen Konsequenzen des Strafrechts vorzugehen ist.
Die Hitler-Grüße, die in Mölln die Brandstiftung kommentierten, signalisieren eine neue Qualität. Sie sind eine bewußte Provokation der Öffentlichkeit, sie kündigen den Grundkonsens und damit den Frieden unserer Gesellschaft; sie tun es, indem sie die Menschenrechte von Mitbürgern außer Kraft setzen. Darauf muß reagiert werden.
Wir müssen diese Kriegserklärung zur Kenntnis nehmen und denen, die sie aussprechen, klarmachen: Wir diskutieren nicht mit ihnen; wir machen ihnen vielmehr klar, daß ihnen die Grundrechte der Demokratie nicht mehr zur Verfügung stehen, denn das, was sie tun, geht über §§ 86 und 86a StGB hinaus. Mit ihren Symbolen und Hitler-Grüßen bekennen sie sich als Komplizen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen den Frieden.
Das aber ist eine Aufforderung an das Parlament, sich an das Bundesverfassungsgericht zu wenden, Schritte zur Anwendung von Art. 18 des Grundgesetzes einzuleiten, in dem es um die Verwirkung von Grundrechten geht.
Es ist, meine ich, ebenso ein Appell an das Straßburger Parlament, in dieser Sache tätig zu werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212301600
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1212301700
Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, „videant consules" zu rufen, damit es die Demokratie



Dr. Wolfgang Ullmann
ist, die das Heft des Handelns endlich wieder an sich reißt.
Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212301800
Ich erteile Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das Wort.

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1212301900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über den Haushalt des Bundeskanzlers ist traditionsgemäß auch die Generaldebatte über den Gesamthaushalt. Sie ist — darin stimme ich Ihnen, Herr Kollege Klose, ausdrücklich zu — eine gute Chance, eine nüchterne Bestandsaufnahme zu machen: Wie ist die Lage der Nation heute?
Da diese Debatte wenige Wochen nach dem 1. Oktober stattindet, ist sie sicherlich auch eine gute Gelegenheit, einen kurzen Rückblick auf die zehn Jahre seit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Koalition der Mitte vorzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstbeweihräucherung!)

Ich glaube, Sie tun sich schwer, meiner Bemerkung zuzustimmen, aber sie ist dennoch richtig: Es waren zehn gute Jahre für Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist richtig und es ist wichtig — ich finde, der nachdenkliche Grundtenor der heutigen Debatte war gut —, jetzt ganz einfach die Frage zu stellen: Was ist jetzt notwendig, wenn wir im Blick auf die finanzielle und wirtschaftliche Situation eine Standortbestimmung für Deutschland vornehmen? Aber diese Frage muß nicht nur im Blick auf das Materielle gestellt werden, sondern auch im Blick auf unsere Denkgewohnheiten.
Am Samstag sind es genau drei Jahre, seit ich hier im Hohen Haus das 10-Punkte-Programm für den Weg zur Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands aufgezeigt habe.
Wenn ich die Ereignisse und auch die Erfahrungen während dieser drei Jahre bedenke, dann stelle ich fest, daß hier Ereignisse und Herausforderungen binnen kürzester Zeit zusammengekommen sind, die sonst in Generationen auf Menschen zukommen.
Es ist in diesen drei Jahren vieles gut gelungen, anderes ist nicht gelungen; wir haben Erfolge gehabt, wir haben uns aber auch hier und da getäuscht, ich auch. Deswegen finde ich, ist es ganz richtig, nüchtern, aber mit der Emotion des Herzens darüber zu sprechen.
Wir alle wissen, daß die Zustimmung all unser Nachbarn und Partner zur Wiedervereinigung unseres Landes nicht ohne das Vertrauen möglich gewesen wäre, das sich das demokratische Deutschland in der Welt in 40 Jahren erworben hat. Es war ein Vertrauen, meine Damen und Herren, an dem alle demokratischen Parteien, alle Bundesregierungen
und alle meine Amtsvorgänger mitgearbeitet haben, das alle miterworben haben.
Herr Abgeordneter Gysi, niemand von denen, die diese Wegstrecke gestaltet haben, braucht ausgerechnet von Ihnen einen Hinweis, wie man Demokratie gestaltet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Trotz aller Probleme und mancherlei Sorgen glaube ich, daß wir allen Grund zur Zuversicht haben, zu der Zuversicht, daß wir die vor uns liegende Herausforderung meistern können. Es gehört ja zu den Ungewöhnlichkeiten unserer Tage, daß außerhalb der deutschen Staatsgrenzen jeder ganz selbstverständlich unterstellt: Die Deutschen werden es schaffen. Oder wie es François Mitterrand vor einigen Monaten formuliert hat: Es ist wahr, die Deutschen haben große Probleme, aber sie werden sie lösen, und sie werden dann stärker sein als je zuvor.
Das Wort „stärker" ist in diesem Zusammenhang nicht der Begriff, den wir verwenden, aber wir wissen, daß wir die Probleme bewältigen können. Dies ist möglich, wenn wir im Bereich der Ökonomie und der Gesellschaftspolitik von einer konsequenten Politik der Sozialen Marktwirtschaft ausgehen und wenn wir damit die notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen schaffen. Herr Kollege Klose, es geht um die Soziale Marktwirtschaft. Es geht nicht um Reaganomics und Thatcherismus, wie es mir gelegentlich empfohlen wurde und wie Sie mir unterstellt haben, sondern ich will mit der Koalition der Mitte ein treuer Anhänger Ludwig Erhards bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese Politik der letzten zehn Jahre hat in der alten Bundesrepublik zu gewaltigen Erfolgen geführt. Sie hat vor allem zu einem Wohlstand und zu einem Wachstum geführt, das von vielen inzwischen als ganz selbstverständlich betrachtet wird. Die Erkenntnis — das hat überhaupt nichts mit Ellenbogengesellschaft zu tun —, daß dieser Wohlstand und das Wachstum, das eine Voraussetzung für den Wohlstand ist, täglich neu erarbeitet werden müssen, ist in weiten Kreisen abhanden gekommen.
Ich selbst stelle mir durchaus auch als Parteivorsitzender die Frage, ob nicht auch wir — aber alle anderen auch —, wenn wir über den Wohlstand geredet haben, zuwenig über die Notwendigkeit der Erarbeitung dieses Wohlstands gesprochen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das Gebot der Stunde — und hier ist die Stunde der Wahrheit, meine Damen und Herren — ist, daß wir bei einer nüchternen Bestandsaufnahme ganz einfach sagen: Wir stehen vor der Notwendigkeit eines tiefgreifenden Umdenkens. Wenn wir nicht umdenken und dementsprechend handeln, werden wir unser Ziel nicht erreichen.
Zu dieser Wahrheit gehört zuerst — das kann man nicht oft genug sagen, auch im Blick auf die Landsleute in den neuen Ländern —: Auch ohne die deutsche Wiedervereinigung wäre die Bundesrepublik Deutschland heute dringend gezwungen, von vielen Bequemlichkeiten und Gewohnheiten Ab-



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
schied zu nehmen, Verkrustungen und Erstarrungen aufzubrechen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Frage, die sich uns stellt, lautet: Wollen wir uns bequem zurücklehnen und weiter der Illusion anhängen, wir könnten so weitermachen wie bisher? Oder erkennen wir im November des Jahres 1992 im Blick auf die vor uns liegenden Jahre an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert die Zeichen der Zeit und nehmen die Herausforderungen an?
Natürlich will ich die Notwendigkeit des Wechselspiels zwischen Regierung und Opposition nicht leugnen, wenn ich folgendes sage — selbstverständlich will ich mich dabei schon gar nicht aus der Verantwortlichkeit des Amtes stehlen —: Ich finde nur — so begrüße ich auch den ersten Teil Ihrer Ausführungen, Herr SPD-Fraktionsvorsitzender Klose —, daß es eine Reihe von Bereichen gibt, nicht allein bei den notwendigen Verfassungsänderungen — das wäre mir zuwenig —, bei denen es sich lohnt, im Interesse unseres gemeinsamen Staates miteinander zu sprechen. Dies gilt um so mehr, als wir ja in der föderalen Ordnung unseres Gemeinwesens nicht nur eine Gewaltenteilung, sondern auch eine beachtliche Machtteilung haben. Ich spreche jetzt nicht nur von Mehrheiten im Bundesrat, sondern ich spreche auch von dem breiten Feld kommunaler Verantwortung und all jenen, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen.
Deutsche Einheit, europäische Einigung, der tiefgreifende Wandel in unserer Gesellschaft — dies alles muß uns doch eigentlich aufrütteln. Deutschland, meine Damen und Herren, ist, was immer in diesen Tagen geredet wird, weiterhin eine gute, eine erstklassige Adresse in der Welt. Das gilt für die Wirtschaft unseres Landes, das gilt für die Wissenschaft und für die Forschung, das gilt nicht zuletzt — ich möchte es eigentlich sogar an erster Stelle nennen — für den kulturellen Reichtum unseres Landes. Daß dies so bleibt, setzt voraus, daß wir bei all dem, was positiv zu vermelden ist, nicht die Augen vor jenen Hindernissen verschließen, die den Weg in die Zukunft verbauen könnten. Wir müssen viel mehr als bisher auch Fragen in den Mittelpunkt stellen, die außerhalb des bloß Materiellen liegen.
Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Das hat nichts mit Populismus zu tun; denn das ist eine der Aufgaben, denen sich die Politik stellen muß. Deswegen finde ich es gut, daß in dieser Debatte über den Haushalt die Frage der inneren Sicherheit so eingehend behandelt wurde und wird.
Der mörderische Brandanschlag von Mölln ist für uns alle ein bedrückendes Signal zunehmender Gewalt in unserem Land. Drei wehrlose Menschen, Ausländer, die mitten unter uns lebten, sind diesem abscheulichen Verbrechen zum Opfer gefallen. Ich will noch einmal für die Bundesregierung unser besonderes Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer
zum Ausdruck bringen und dem türkischen Volk meine besondere Sympathie übermitteln.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die erste Konsequenz aus den Erfahrungen dieser Woche muß sein, daß Gewaltanwendung, von welcher Seite auch immer sie kommt, in unserer Gesellschaft stets ein Tabu bleiben muß. Für Gewalt gibt es keinerlei Rechtfertigung, aus welchen Motiven heraus sie auch geschieht und gegen wen auch immer sie sich richtet.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die zweite Konsequenz muß lauten: Das Gewaltmonopol des Staates darf von niemandem angetastet werden. Wer dies versucht, muß die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.
Herr Abgeordneter Klose, wir sollten jetzt nicht in den Streit darüber eintreten, ob es neue Gesetze geben sollte oder nicht. Laßt uns doch nüchtern eine Bilanz aufstellen — ich will es wenigstens teilweise hier versuchen — und ergründen, inwieweit die bestehenden Gesetze ausreichen, wenn sie konsequent ausgeschöpft würden, und wieweit wir darüber hinaus aus den konkreten Erfahrungen, die wir jetzt machen, bereit sein müssen, bestehende Gesetze zu ändern,
Die Frage der inneren Sicherheit des Landes ist eine Frage des inneren Friedens, und der Staat hat den Frieden nach außen und im Innern zu schützen. Ein Klima der Einschüchterung würde zu einer zunehmenden Bedrohung unserer freiheitlichen Gesellschaft. Wir müssen den Anfängen wehren — alle. Das kann man nicht nur an die Polizeibeamten oder an die Justiz delegieren, sondern alle Bürger unseres Landes müssen sich entschlossen und überall gegen jede Form von Gewalt wenden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Blitzlichtaufnahme, die hier zu machen ist, ist bestürzend, weil sie ein Bild vermittelt, das nicht nur zur Nachdenklichkeit, sondern dringend zum Handeln auffordert. Ich gehöre nicht zu denen, die dieses jetzt unnötig dramatisieren. Aber ich gehöre zu denen — ich denke, die allermeisten hier erfahren das gleiche —, die im täglichen Gespräch mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern die bange Frage vernehmen: Ist dieser Staat, unser Staat, ein starker Rechtsstaat, der im besten Sinne des Wortes Recht und Ordnung und damit die Freiheit aller schützt?
Die Zahl der von Straftaten Betroffenen nimmt ständig zu. Die Entwicklung ist dramatisch. Die Zahl der erfaßten Straftaten im ersten Halbjahr 1992 liegt schon bei fast 3 Millionen. Das bedeutet eine Zunahme um 22 % gegenüber dem Vorjahr. Mehr als die Hälfte der Straftaten sind Diebstähle — eine Zunahme um 12 % . Die Zahl der Straftaten mit Schußwaffengebrauch stieg um über 18 %. Bei den Raubdelikten haben wir — das ist eine wichtige Zahl — in den alten Ländern der Bundesrepublik eine Zunahme um 30 %. Auch an dieser Zahl zeigt sich, wie töricht das



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Gerede ist, das alles sei im wesentlichen ein Problem in den neuen Ländern. Im Alltagssprachgebrauch redet man mittlerweile in einer unerhört verharmlosenden Weise von „Alltagskriminalität", wenn man von Wohnungseinbrüchen, von Kfz-Diebstählen und ähnlichem spricht. Im ersten Halbjahr 1992, meine Damen und Herren, stieg die Zahl der Kfz-Diebstähle in der Bundesrepublik Deutschland um 36 %, in den alten Ländern sogar um sage und schreibe 80 % binnen zwölf Monaten.
Dies alles ist natürlich überhaupt nicht hinnehmbar, genausowenig wie die immer stärker werdende Bedrohung unseres Gemeinwesens durch die Mafia, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere im Bereich des Drogenhandels. Der amerikanische Präsident hat in seinem diesjährigen Drogenbericht das Gesamtvolumen des weltweiten Drogenhandels auf 300 Milliarden US-Dollar geschätzt. Jeder von uns weiß: Ein Hauptziel der internationalen Drogenmafia ist inzwischen die Europäische Gemeinschaft geworden. Ich fürchte, den meisten von uns — auch in diesem Saal — ist die wahre Dimension der daraus erwachsenden Gefahren immer noch zu wenig bewußt.
Ein Staat, meine Damen und Herren, der das Recht nicht mehr durchsetzt, verliert das Vertrauen seiner Bürger. Wo die Sicherheit der Bürger gefährdet ist oder wo sie den Eindruck haben — auch das ist ja von politischem Gewicht —, ihre Sicherheit sei gefährdet, steht immer auch die Freiheit auf dem Spiel.
Es ist wahr: Viel zu lange ist Kriminalität bei uns bagatellisiert worden. Das hat teilweise zu einer unerträglichen Erosion des Rechtsbewußtseins geführt, im übrigen teilweise auch zu einem Stück Entwaffnung des Rechsstaates.
Wir wollen gemeinsam — und das ist hier ja gesagt worden — durch strenge Anwendung der bestehenden Gesetze dem Recht den nötigen Respekt verschaffen. Aber — und das füge ich hinzu, weil wir. in anderem Zusammenhang im Augenblick viel über föderale Strukturen diskutieren — hier ist nicht nur — Herr Klose, Sie haben recht — der Bund gefordert, hier ist vor allem auch der ganze Einsatz der Bundesländer gefordert. Der Föderalismus steht auch in der Frage der inneren Sicherheit auf dem Prüfstand.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer zuständig ist, hat auch die Pflicht zum Handeln. Die Bundesregierung — das will ich noch einmal klar aussprechen — wird alles tun, um hier ihren Beitrag zu leisten und im Gespräch mit den Ländern auch die notwendige Unterstützung zu geben und dort — ich sage es noch einmal —, wo wir gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, daß das geltende Recht nicht ausreicht, die notwendigen Veränderungen vorzunehmen.
Wir können und dürfen nicht tatenlos zuschauen, wenn beispielsweise die Mafia in Deutschland dabei ist, Planungszentren zu errichten, weil Verbrecher bei der Vorbereitung ihrer Taten bei uns weniger als anderswo befürchten müssen, beobachtet zu werden. Wir können es auch nicht hinnehmen, daß nur jede hundertste bei einer Demonstration begangene Gewalttat zu einer Verurteilung führt. Das Straf- und
Haftrecht muß seine Schutzfunktion auch wirklich erfüllen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dies sind wir vor allem unseren Bürgern schuldig.
Aber wir sind es — und das muß, meine Damen und Herren, dann eben mehr als ein Halbsatz in einer solchen Bundestagsrede sein — vor allem unseren Polizeibeamten schuldig. Die Art und Weise, wie hierzulande nicht zuletzt in den Medien — und ich nenne hier bewußt vor allem die elektronischen Medien — über die Arbeit und den Einsatz unserer Polizeibeamten berichtet wird, ist dem Ziel nicht dienlich, diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die den Einsatz für uns alle leisten, die notwendige Autorität zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie verdienen unseren Dank, sie verdienen unsere Anerkennung, sie verdienen vor allem auch unsere Unterstützung.
Wenn ich dies alles so sage, dann weiß ich natürlich, daß die Androhung von Strafe allein in gar keiner Weise ausreichend ist, um Menschen zu rechtmäßigem Handeln zu bewegen. Viel wichtiger als das Strafrecht — auch davon ist schon gesprochen worden — ist die Stärkung jener Institutionen, die jungen Leuten Halt und Orientierung geben können, die sie zu eigenständigen und eigenverantwortlichen Persönlichkeiten erziehen können. Hier tragen die Familien, die Schulen, die Kirchen eine ganz besondere Verantwortung. Ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aber man muß ihnen im Alltag unserer Gesellschaft auch den Raum lassen, diese Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen. Herr Kollege Klose, ich bin mit Ihnen der Meinung — das hat nichts mit Journalistenschelte und gar nichts mit Einschränkung von Pressefreiheit zu tun —, daß es das Gebot der Stunde ist, die Verantwortlichen bei privaten und öffentlichen Medien daran zu erinnern, welche spezielle Verantwortung sie in diesem Felde haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es genügt eben nicht, meine Damen und Herren, daß Bund und Länder und viele verdienstvolle private Institutionen große Enqueten über Gewalt in den Medien und ihre Wirkung vor allem auf junge Leute veranstalten, wenn daraus nicht Konsequenzen gezogen werden. Ich finde, es gehört auch zu unseren Pflichten, daß wir gemeinsam — es ist ja nicht bestreitbar, daß auch die politischen Parteien im Bereich der Medien Verantwortung mittragen — diese Herausforderung nicht nur sehen, sondern endlich auch annehmen.
Meine Damen und Herren, die Erosion des Rechtsbewußtseins hat insbesondere auch dazu geführt, daß sich rechts- und linksextremistische Gewalttäter zur Konfrontation mit dem Staat ermutigt fühlen. Ich lege



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Wert darauf, beide zu nennen: rechts- und linksextremistische Gewalttäter.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich warne vor jener Verharmlosungstendenz, wie wir sie gerade eben von diesem Pult aus erlebt haben, daß die Zahlen der Toten, die solchen Verbrechen zum Opfer gefallen sind, gegeneinander aufgerechnet werden. Diese Republik ist weder auf dem rechten noch auf dem linken Auge blind, und diese Republik ist nicht Weimar. Darin sind wir uns einig. Dies ist ein freiheitlicher Rechtsstaat, der sich mit seiner ganzen Kraft gegen alle Feinde der Republik zur Wehr setzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unser Staat muß auch in den Augen seiner Bürger handlungsfähig sein. Ich will jetzt nicht viel zu dem folgenden Thema sagen, weil ich meine Hoffnung darauf setze, daß die Gespräche zum Erfolg führen. Aber wenn wir die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger wirklich ernst nehmen — ich spreche nicht von jenen, die hysterisch reagieren, sondern von den vielen besonnenen, die ihren Beitrag zum Bau der Bundesrepublik Deutschland in Jahrzehnten geleistet haben —, dann müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen, daß in der Frage des Asylmißbrauchs die Grenze der Belastbarkeit für viele überschritten ist. Das ist in der Tat keine parteipolitische Frage. Sie brauchen darüber nur mit Bürgermeistern, Landräten und mit in kommunaler Verantwortung stehenden Persönlichkeiten, Männern und Frauen, zu sprechen, und Sie werden überall das gleiche hören.
Die Situation hat sich dramatisch zugespitzt. Wenn nicht gehandelt wird, besteht die Gefahr einer wirklich tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber dem demokratischen Staat. Die Menschen erwarten endlich Lösungen. Sie sagen: Ihr habt lange genug, zu lange geredet. Sie wollen Lösungen, die wirklich greifen und dem Mißbrauch einen wirksamen Riegel vorschieben. Alle, die von der Sache etwas verstehen, wissen natürlich, daß das, was jetzt diskutiert wird, für sich allein das Problem nicht löst. Auch das muß man klar und deutlich aussprechen.
Ich hoffe sehr, daß die in dieser Woche beginnenden Gespräche möglichst rasch zu einer Übereinstimmung führen. Ich will deutlich sagen, daß wir seitens der Bundesregierung bei diesen Gesprächen den Fraktionen jede von ihnen gewünschte Unterstützung geben.
Lassen Sie mich ein grundsätzliches Wort über das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern sagen. Wir Deutschen leben bis auf wenige Ausnahmen friedlich und nachbarschaftlich mit rund 6 Millionen Menschen zusammen, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind. Wir vergessen niemals, daß wir sie selbst hierhergeholt haben. Wir haben sie gebeten, zu uns zu kommen. Von den 1,9 Millionen ausländischen Arbeitnehmern in den alten Bundesländern arbeiten knapp eine Million in der Industrie und im Bergbau, knapp eine halbe Million am Bau, im Handel und im Gastgewerbe. Wenn Sie nicht da wären, wäre
das Bruttosozialprodukt in Deutschland bei weitem geringer, als es tatsächlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wahr ist auch, meine Damen und Herren, daß viele dieser Ausländer auf Arbeitsplätzen sind, die die Deutschen längst nicht mehr annehmen. Dazu gehört ja inzwischen vielfach auch schon die Alten- und Krankenpflege, die angesichts der Überalterung unseres Landes in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Ausländische Arbeitnehmer erarbeiteten 1991 im Westen unseres Landes nach Angaben des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung 9 % unseres Bruttosozialprodukts, also über 230 Milliarden DM. Wer den tumben, dumpfen Parolen des Ausländerhasses nachläuft, der soll, wenn er schon sonst nichts begreifen will, wenigstens erkennen, daß ohne die Arbeit dieser ausländischen Arbeitnehmer in unserem Land sein Wohlstand gar nicht möglich wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin sicher, daß die weit überwiegende Mehrheit unseres Volkes das weiß. Deswegen sage ich auch: Es ist zutiefst ungerecht — egal, wo es geschrieben wird: diesseits oder jenseits des Atlantiks, diesseits oder jenseits unserer Grenzen —, den Bürgern unseres Landes pauschal Fremdenfeindlichkeit zu unterstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zu einer ehrlichen Lagebeschreibung gehört aber auch das, was Wolfgang Schäuble schon angesprochen hat. Das ist wiederum ein Problem der alten Bundesrepublik, nämlich die demographische Entwicklung. Heute sind mehr als 20 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland über 60 Jahre alt. Die Zahl der über 85jährigen steigt in den nächsten acht Jahren, bis zum Jahre 2000, auf 1 500 000 Bürger. Es ist eine höchst erfreuliche Tatsache, daß die Lebenserwartung durch die moderne Medizin und vieles andere mehr steigt. Aber kein Mensch kann die Augen davor verschließen, daß diese Entwicklung notwendigerweise zu einer völlig veränderten Situation etwa für unsere sozialen Sicherungssysteme führt. Es wird viel zuwenig darüber gesprochen, was es für die Rentenversicherung heißt, wenn immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentnern gegenüberstehen. 1985 standen 100 Beitragszahlern 54 Rentner gegenüber. In drei Jahren, 1995, werden es schon 59 sein. Die Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2030 — wir haben nicht die Ausrede, das gehe uns heute nichts an — wird es deutlich mehr Rentner als Beitragszahler geben. Das hat enorme Wirkungen in allen Bereichen. Wir müssen darüber reden, auch wenn es ans Sparen geht, Herr Kollege Klose, ob wir jetzt sagen: Die nach uns sollen das machen, oder ob wir in einer ehrlichen Bestandsaufnahme sagen: Wir müssen schon heute weiterdenken. Niemand ist aus der Verpflichtung



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
entlassen, den Menschen in diesem Land die Wahrheit zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zu einer Bestandsaufnahme der Kultur- und Exportnation Deutschland gehört auch die Beschreibung der Lage unseres Bildungswesens. Ich lehne es strikt ab, mich auf eine Arbeitsteilung einzulassen — bei aller Anerkennung der föderalen Struktur unserer Verfassungsordnung — und zu sagen: Das geht den Bund überhaupt nichts an. Die Folgen einer verfehlten Politik in diesem Feld sind Folgen für den Gesamtstaat. Wenn wir davon ausgehen, daß in wenigen Wochen, am 1. Januar 1993, der Europäische Binnenmarkt kommt und daß nach menschlichem Ermessen 1995 Österreich, Finnland und Schweden — auch Norwegen und die Schweiz, wie ich hoffe; wenn nicht dann, so wenige Jahre später — der Gemeinschaft beitreten; daß sich die Gemeinschaft in späteren Jahren, vielleicht zu Beginn des nächsten Jahrhunderts, um die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Ungarn und Polen erweitern wird; dann müssen wir dafür sorgen, daß die jungen Leute aus Deutschland im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitsplätze innerhalb Europas bestehen können. Wir leisten uns die längsten Ausbildungszeiten für Akademiker. Im Durchschnitt verlassen 27 % der Studenten die Hochschule ohne Abschluß. In manchen Bereichen sind es jetzt bis zu 50 %. Das kann nicht nur an den jungen Leuten liegen. Das System ist der Aufgabe offensichtlich nicht mehr gewachsen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen müssen wir darüber reden. Denn die jungen Deutschen haben einen Anspruch, von der deutschen Politik — nicht nur von den Politikerinnen und Politikern im Bund, sondern auch in den Landtagen und den Landesregierungen sowie im kommunalen Bereich — Antwort auf die Frage zu bekommen: Wie stellt ihr euch die Zukunft vor?
Ich will versuchen, im nächsten Jahr alle im Bereich der Bildungspolitik Verantwortlichen zu Gesprächen über dieses Thema zusammenzubringen. Ich mag den Begriff „Bildungsgipfel" nicht. Es soll aber ein Treffen werden, bei dem wir darüber reden, was jede Seite zu tun hat. Ein solches Treffen macht allerdings nur dann Sinn, wenn jeder bereit ist, die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Wenn wir lediglich den jetzigen Zustand beibehalten wollen, können wir uns Zeit und Mühe für ein solches Treffen sparen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, im Bereich der Hochschulen geht es um Leistungsfähigkeit und Effizienz. Deswegen müssen wir zu einer Straffung, zu einer wirklichen Reform der Studiengänge fähig sein. Auch eine Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur ist unumgänglich. Wir sind jetzt im dritten Jahr der deutschen Einheit. Niemand kann im Ernst erwarten, nachdem wir in der alten Bundesrepublik gegenüber allen anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft eine Sondersituation hatten, daß jetzt die neuen Bundesländer die Zeit bis zum Abitur um ein Jahr verlängern.
Ich halte das für ausgeschlossen. Ich finde es einfach überfällig, daß die Länder zu einer Vereinbarung kommen, damit wir in dieser Frage eine gemeinsame Linie haben, und nicht nur untereinander über die Zuschüsse des Bundes für den Hochschulbau reden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN )

Meine Damen und Herren, eine weitere entscheidende Herausforderung, die wir bestehen müssen, um als eine der großen Wirtschaftsnationen der Welt unsere Spitzenposition im internationalen Wettbewerb halten zu können, betrifft die Frage nach der Qualifikation unserer Arbeitnehmer und die Frage nach dem Einsatz und der Ausnutzung von Maschinen. Jeder von uns weiß, daß die Kosten-NutzenRelation für Maschinen in den letzten Jahren ungünstiger geworden ist. Herr Abgeordneter Klose, Sie haben gefragt: Welche Vorschläge haben Sie? Wir müssen uns darüber unterhalten — und zwar nicht mit abgegriffenen Vokabeln wie „Sozialabbau" —: Was kann man tun, damit die Maschinenlaufzeiten in deutschen Unternehmen, gemessen an denen in der EG, nicht noch weiter abfallen? Dies ist eine Grundfrage der Wohlstandsentwicklung in unserem Land. Ich war am letzten Dienstag in Schwerin in einem großen Betrieb eines großen Konzerns. Wenn es jetzt in Mecklenburg-Vorpommern — jedenfalls für eine Übergangszeit — möglich ist, daß die Maschinenlaufzeit in diesem Betrieb fast ein Drittel länger ist als in vergleichbaren Betrieben im Westen, dann frage ich mich: Warum können wir nicht aus den neuen Bundesländern wirklich Positives für die alten Bundesländer übernehmen? Dort ist es doch offenkundig möglich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bin im übrigen davon überzeugt, daß eine Abkehr von den starren Arbeitszeitregelungen sich nicht nur wirtschaftlich rechnet, sondern auch mehr Freiheitsräume für die Menschen öffnet.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste)

Zu diesem Punkt gehört natürlich auch die Frage der Lebensarbeitszeit. Wolfgang Schäuble hat die Zahlen schon genannt. Glaubt denn wirklich jemand bei uns, es sei ein Zugewinn für das ganze Land, wenn immer jüngere Jahrgänge vorzeitig in den Ruhestand gehen? Ich halte es für eine Fehlentwicklung — auch wenn ich es jetzt aus Gründen der Arbeitsmarktlage und der betrieblichen Situation manchmal schon verstehen kann —, wenn jetzt im Westen — zu den Landsleuten in den neuen Ländern sage ich gleich in anderem Zusammenhang noch etwas — Leute mit 55 Jahren in den Ruhestand gehen. Das sind ja im Regelfall nicht gebrechliche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Ihre Lebenserfahrung und das, was sie einbringen können, auch ihre dynamische Kraft, das alles fällt dann weg, und wir können nicht erwarten, daß die nachrückende Generation das gleiche Maß an Lebenserfahrung einbringt.
Die Geschichte aller zivilisierten Völker, die Kulturgeschichte der Menschheit weiß etwas davon, daß die Dynamik der Jüngeren und die Weisheit der Älteren in einer vernünftigen Verbindung stehen müssen. Wir



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
sind dabei, diesen Schatz zu verspielen. Ich halte das für falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Spitzenleistungen in Forschung und Entwicklung sind entscheidende Voraussetzungen für die Zukunft. In einer ganzen Reihe von wichtigen Bereichen haben wir hier immer noch eine Spitzenstellung. Ich wünschte mir gelegentlich, daß auch in schwierigen Zeiten der eine oder andere aus dem Unternehmerlager nicht nur auf die schwierige Situation hinweist, in der wir uns befinden, sondern auch darauf, daß die Leistungen deutscher Forscher, Ingenieure, Unternehmer und Arbeitnehmer dazu geführt haben, daß wir in einer Reihe von wichtigen Bereichen nach wie vor Spitzenleistungen in der Welt erbringen.
Aber es ist alarmierend, wenn in solchen Bereichen beispielsweise Forschungsinstitute ins Ausland verlegt werden, weil Regelungsdichte und Bürokratie bei uns den Fortschritt bremsen. Wir sind uns sicher einig, ich hoffe das jedenfalls: Es gilt, daß nicht alles, was technisch machbar ist, auch verwirklicht werden darf, daß hier Gebote zu beachten sind, die weit über das Materielle hinausgehen. Aber es kann doch nicht angehen, daß bei uns neue Produkte, die wünschenswert sind und Chancen haben, ein schier undurchdringliches Dickicht von Zulassungsverfahren und Verträglichkeitsprüfungen passieren müssen. Es ist die Wahrheit. Wir haben in über 40 Jahren auch Ballast angesammelt, und wir sollten jetzt im Zusammenhang mit der deutschen Einheit einen neuen Anfang machen und diesen Ballast abwerfen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir hatten kürzlich im Bundestag die Debatte über die Novellierung des Gentechnikrechts. Wenn die Genehmigung einer Anlage zur technischen Herstellung von Humaninsulin bei uns sechs Jahre braucht, dann brauchen wir uns über Konkurrenznachteile gegenüber anderen Ländern nicht zu wundern.
Hinzu kommt noch etwas, das meistens totgeschwiegen wird, daß nämlich die Rahmenregelungen des Bundes regional ganz unterschiedlich ausgelegt werden.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist es!)

Meine Damen und Herren, es ist doch ein absurder Zustand, wenn wir ab 1. Januar 1993 den Europäischen Binnenmarkt haben und in der nationalen Genehmigungspraxis bei wenigen Kilometern Distanz zwischen den Landeshauptstädten derartige Unterschiede von Bundesland zu Bundesland bestehen. Wir waren hier gemeinsam der Meinung — jedenfalls die große Mehrheit —, daß die Novellierung des Gentechnikrechts etwas mit der Verbesserung der Standortbedingungen für die Produktion in Deutschland zu tun hat. Das gilt genauso wie der Obersatz, daß die Wahrung des Schutzes der Menschen und der Umwelt oberstes Gebot bleibt. Weniger Bürokratie und der Verzicht darauf, auch noch das letzte Detail regeln zu wollen, ist für uns alle in den neuen und in den alten Bundesländern notwendig; aber, meine
Damen und Herren, in den neuen Bundesländern ist dies absolut unverzichtbar. Wenn der Aufschwung Ost eine Chance haben soll, darf er nicht im dichten Netz von Vorschriften und Regelungen steckenbleiben. Dies ist für eine Aufbruchsituation in keiner Weise angemessen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb ist mein Ziel, nicht irgendwann, sondern jetzt, in diesen Wochen, in den Gesprächen über den Solidarpakt gemeinsam mit den Bundesländern Verwaltungs- und Rechtsvereinfachungen durchzusetzen. Mein Vorschlag zur Güte ist: Wenn es viele in den alten Ländern nicht glauben, dann laßt uns doch einmal einen Pakt der Vernunft für die neuen Länder schließen! Ich sage Ihnen voraus: In drei, vier Jahren werden wir das, was wir dann dort erprobt haben und was dann sehr viel mehr an Erhards Zeit als an unsere Zeit erinnert, gern auch in der ganzen Bundesrepublik übernehmen. Die Bundesregierung wird in ihrer Sitzung in der nächsten Woche die notwendigen Initiativen beschließen und dafür auch die notwendige Zustimmung des Parlaments erbitten.
Ich will in diesem Zusammenhang ein Thema ansprechen, das, wie ich glaube, zu wenig beachtet wird. Genehmigungsverfahren ziehen sich bei uns auch deshalb oft unerträglich in die Länge, weil die zuständigen Behörden trotz aller Genehmigungschancen die Ermessensspielräume nur zaghaft nutzen. Meine Damen und Herren, ich bin weit davon entfernt, jetzt — was ja in Deutschland üblich ist — alles auf die Beamten abzuschieben und die Beamten zu beschimpfen. Die Erfahrung in unserem Staat, der ein Rechtsstaat ist und der sich auf den Weg des Rechtsmittelstaates begeben hat, ist, daß eben jeder Genehmigungsbescheid möglicherweise vor Gericht mit einer Vielzahl von Einsprüchen und Klagen angefochten wird. Diejenigen, die vor Gericht als die Beklagten, als die Vertreter der Behörden erscheinen müssen, machen oft die Erfahrung, daß sie als die ausgemachten Bösewichter der Nation betrachtet werden. Das ist doch die Wahrheit. Es kann doch hier im Raum niemand ernsthaft glauben, daß der notwendige rasche Aufbau in den neuen Ländern mit einer so zögerlichen Verhaltensweise möglich ist.
Ein Großteil derer, die hier sitzen und zuhören, hat noch — zumindest aus unserer Schüler- und Studentenzeit — die Erfahrungen aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg vor Augen. Es steht doch außer Frage, Herr Kollege Klose: Wenn der Hamburger Bürgermeister jener Jahre oder der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Altmaier oder Georg August Zinn in Hessen oder Hans Ehard in Bayern — ich könnte viele nennen — oder die damalige Bundesregierung eine solche Verhaltensweise hingenommen hätte, wäre am Ende der zehn Jahre nach der Währungsreform, am Ende der 50er Jahre nicht von einem deutschen „Wirtschaftswunder" die Rede gewesen. Es war ja eigentlich auch kein Wunder. Es war die Schaffenskraft des Landes, es war die Hilfe des Marshallplans, es war die großartige Bereitschaft der Menschen, zuzupacken, weil sie Zukunftshoffnung hatten und nicht geistig auf der Couch des Psychiaters Platz genommen hatten,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)




Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
weil sie entscheidungsfreudig waren und das auch von ihrer Verwaltung zu Recht erwarteten, die das ermöglicht haben.
Ich begrüße es — und ich möchte Sie herzlich bitten, das zu unterstützen —, daß im Haushaltsausschuß des Bundestages über alle Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestand und besteht, dem entscheidungsfreudigen und verantwortungsbewußten Beamten und der entscheidungsfreudigen und verantwortungsbewußten Beamtin politisch den Rücken zu stärken. Nunmehr geht es darum, in einer gemeinsamen Entschließung durch den ganzen Deutschen Bundestag die Botschaft auszusenden: Wenn jetzt in den neuen Ländern investiert wird, wenn jetzt Verwaltungsentscheidungen getroffen werden müssen, bei denen völliges Neuland beschritten wird, dann müssen die Verantwortlichen etwas wagen. Sie müssen von der politischen Klasse — ich mag das Wort nicht —, von den demokratischen Parteien, vom Parlament, den Regierungen, auch von der Bundesregierung ermutigt werden: Handelt! Riskiert etwas, auch wenn manchesmal ein besonderes Risiko dabei ist!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, die weltwirtschaftliche Entwicklung und damit auch die Konjunktur in Deutschland sind in ein schwieriges Fahrwasser geraten. Wenn man hier den Herrn Vorsitzenden der SPD-Fraktion gehört hat, könnte man meinen, die Bundesregierung sei dafür verantwortlich, daß wir jetzt eine weltweite Rezession haben.
Wir haben sie. Sie hat uns in Deutschland, wenn wir ehrlich sind, später erreicht, weil wir auch in dieser Hinsicht — ökonomisch gesehen, und zwar bedingt durch die deutsche Einheit — Glück hatten. Folgendes möchte ich zu Äußerungen aus Teilen der Öffentlichkeit und der Wirtschaft sagen: Die deutsche Wirtschaft hat an der deutschen Einheit ungewöhnlich gut verdient.

(Beifall im ganzen Hause)

Manches Unternehmen stellt jetzt Vergleiche an und stellt fest, daß sein Ertrag gegenüber den letzten beiden Jahren gesunken ist. Unternehmen der Automobilindustrie z. B. sollten aber daran denken, daß die Menschen in Leipzig nicht jedes Jahr ein neues Auto kaufen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Bis zur deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hatten sie zehn Jahre auf ein Auto warten müssen. Jetzt können sie sich zwar eines leisten, aber es ist eine deutsche Angewohnheit, ein Auto besonders liebevoll zu pflegen und es nicht gleich nach einem Jahr wieder abzugeben. Also, es ist eine völlig törichte Diskussion, die im Zusammenhang mit dem Nachfragerückgang bei uns stattfindet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wir haben die Folgen dieser weltweiten Rezession zu verkraften. Deswegen ist es wichtig, daß wir alles tun — ich selber habe das mir Mögliche getan —, die
gegenwärtig laufenden GATT-Verhandlungen zu einem guten Ende zu bringen. Wir alle brauchen das GATT. Allerdings vermisse ich in der deutschen Diskussion darüber die Umstellung der Reihenfolge, wie es moralisch richtig wäre: Nicht nur die Industrienationen brauchen das GATT, sondern viel dringender brauchen die Länder der Dritten Welt ein positives Ergebnis der GATT-Verhandlungen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir können die Haushalte für Entwicklungshilfe so hoch aufstocken, wie wir wollen: Wir kämen mit noch so vielen Steuermitteln — aus Deutschland oder aus anderen Ländern — nicht annähernd in den Bereich der erforderlichen Hilfe, den ein freier Welthandel erreicht. Deswegen ist es ganz wichtig, daß wir sagen: Wir wollen einen positiven Abschluß der GATT-Verhandlungen auch als Hilfe für die Dritte Welt. Wir wollen ihn aber auch für uns als eine der großen Industrienationen. Wer glaubt, er könne sich in den 90er Jahren in die Schützengräben vergangener Zeiten zurückziehen und dort einen transatlantischen Handelskrieg überstehen, der lebt an der Wirklichkeit vorbei. Das hätte schlimmste Konsequenzen für breite Schichten auf beiden Seiten des Ozeans.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, deswegen füge ich hinzu: Ich erwarte, daß beide Seiten zu Kompromissen bereit sind.

(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Waren sie doch!)

Ich hätte mir gewünscht, Kompromißfähigkeit wäre auf beiden Seiten des Ozeans schon früher gezeigt worden. Wenn das, was jetzt auf dem Tisch liegt — das sage ich mit Bedacht —, schon im Juli auf dem Weltwirtschaftsgipfel in München auf dem Tisch gelegen hätte, dann hätten wir das damals an einem Abend abschließen können. Auch das ist die Wahrheit.
Ebenfalls finde ich es nicht gut — auch das sage ich nicht ohne Grund —, daß wir den GATT-Abschluß zwar nachdrücklich bejahen, unseren Beitrag dazu leisten und auch die EG-Kommission in ihrer Haltung ermutigen, gleichzeitig aber die Gelegenheit wahrnehmen, diejenigen Partner in Europa, die das in besonderer Weise betrifft, sozusagen mit einem besonders negativen Soupçon zu versehen. Denn wir können in Europa das Ziel nur in Partnerschaft erreichen. Deswegen hoffe ich — auch wenn die Konsequenzen für die einzelnen Länder unterschiedlich sind — auf die Zustimmung unserer französischen Freunde. Aber ich bitte auch darum, für die Lage der Franzosen Verständnis zu haben. Meine diesbezügliche Bitte schließt auch die deutschen Bauern ein.
Meine Damen und Herren, das, was ich in diesen Wochen in diesem Zusammenhang gehört habe, ist für mich inakzeptabel. Ich kenne keine Gruppe in der deutschen Bevölkerung, die auf Grund der EG-Politik



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
vergleichbare Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen wie die Bauern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn ich daran denke, wie sich ganz selbstverständlich „Größtkoalitionen" quer durch das Haus bilden — dafür habe ich Verständnis und viel Sympathie —, wenn es um die Kohle und um die Bergarbeiter geht, wenn ich sehe, wie geheimnisvolle Kräfte walten, die sozusagen dem Meer entsteigen, wenn es um die Erhaltung von Werften geht, dann empfinde ich es als eine große Heuchelei, wenn bei dem Thema „Bauern" alle so tun, als gehe sie das überhaupt nichts an.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.])

— Lieber Herr Kollege Weng, ich weiß, daß die Gruppe der Apotheker noch kleiner ist als die der Bauern.

(Heiterkeit)

Aber, Herr Kollege Weng, es gibt gewisse Einkommensunterschiede, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.

(Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN)

Wegen der Flut der Briefe, die ich daraufhin jetzt bekomme,

(Heiterkeit)

füge ich gleich hinzu, daß ich natürlich auch den Apothekern ihr Einkommen gönne.
Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht in dem neuen Jahresgutachten davon aus — ich denke, das müssen wir sehr ernst nehmen —, daß die westdeutsche Wirtschaft erst in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres wieder wesentliche Wachstumskräfte entwickeln wird. Das alles hat enorme Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, auf das Steueraufkommen und auf vieles andere, was in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Deswegen sollten wir jetzt nicht nur feierlich erklären, es sei nicht die Zeit der Verteilungskämpfe, sondern diese auch einstellen; alles andere bringt uns nichts.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt geht es darum, Wachstum zu mobilisieren und die Konjunktur wieder in Schwung zu bringen. Ohne einen wirtschaftlichen Aufschwung in den alten Ländern werden wir überhaupt nicht die Mittel haben, um in den neuen Ländern das Notwendige zu tun. Gerade die große Aufgabe der Vollendung der inneren Einheit in Deutschland fordert jetzt verantwortungsvolles Handeln.
Aber bevor ich etwas zum Materiellen sage, will ich feststellen: Wichtiger als Geld, Gesetze usw. ist, daß wir uns bewußt werden, daß die deutsche Teilung in 40 Jahren tiefere Spuren hinterlassen hat, als viele von uns — ausdrücklich sage ich: auch ich — geglaubt haben. Wir haben uns in nicht wenigen Bereichen weit auseinandergelebt. Wenn man darüber nachdenkt, dann ist das eigentlich ganz verständlich. Vielleicht haben wir zuwenig darüber nachgedacht, daß unsere Lebenserfahrungen, unsere Biographien eben grundverschieden sind.
Es war eben ein Unterschied, daß ich mit 18 Jahren 1948 in Ludwigshafen und nicht in Leipzig lebte. Es ist ein Unterschied, daß ich in völlig freier Entfaltung leben konnte und nicht unter der Herrschaft des SED-Regimes, unter der Allgegenwart der Stasi leben mußte. Deswegen warne ich uns, die wir das Glück hatten, im Westen in Freiheit zu sein, davor, über Biographien von Zeitgenossen aus der früheren DDR herablassend zu urteilen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen jetzt mehr Geduld. Vorhin ist gesagt worden: Wir müssen mehr miteinander als übereinander reden. Wir müssen mehr — und hier müssen wir, die wir im Westen leben, den größeren Schritt tun — aufeinander zugehen und unsere Landsleute nehmen, wie sie sind. Wir dürfen sie nicht in ein Bild umformen, das wir hier gewonnen haben. So können sie auf Grund ihrer Lebenserfahrung gar nicht sein.
Das gilt, ich betone es noch einmal, vor allem für die Menschen in den alten Bundesländern. Aber das gilt natürlich bis zu einem gewissen Grad auch umgekehrt: So wie die Bundesrepublik heute ist, hat sie sich nicht über Nacht entwickelt; das ist vielmehr das Ergebnis einer vierzigjährigen Entwicklung. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns immer daran erinnerten, daß die neuen Länder in einer ganzen Reihe von wichtigen ökonomischen Daten nicht mit den Ländern der alten Bundesrepublik im Jahre 1992, sondern in den 50er Jahren zu vergleichen sind.
Ich sage dennoch, daß ich nicht den geringsten Zweifel daran habe, daß wir in den neuen Ländern auf dem richtigen Weg sind, und daß die positiven Veränderungen und Zeichen des Aufbruchs — ungeachtet aller Schwierigkeiten — unübersehbar sind. Aber das alles kann nicht verhindern, daß dann, wenn in der Nachbarstadt die Arbeitslosigkeit auf 40 % steigt, die Übergangsschwierigkeiten, Sorgen und Nöte in den Vordergrund rücken, von denen die wenigsten der heute in der alten Bundesrepublik Lebenden eine Vorstellung haben. Deswegen sollten wir weniger von Solidarität reden als vielmehr Solidarität leben und den Landsleuten in den neuen Ländern die notwendige Zeit für die Eingewöhnung geben, Zeit, die ihnen im Materiellen Sicherheit und Zuversicht für die Zukunft gibt.
Es gibt — neben anderem — Positives zu berichten. Ich freue mich besonders darüber, daß es schon in diesem Jahr gelungen ist, denjenigen in den neuen Ländern, die eine Lehrstelle wollten, eine solche zu verschaffen, ihnen ein Ausbildungsangebot zu machen. Wir sind in diesem Jahr in den neuen Ländern bereits in einer Situation, die wir in der alten Bundesrepublik erst in den späten 50er Jahren erreicht hatten, daß nämlich die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze prozentual wesentlich höher ist als die der überbetrieblichen, was unserer Vorstellung vom dualen System entspricht.



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Die Bundesregierung setzt das Instrumentarium der aktiven Arbeitsmarktpolitik in einem bisher nie gekannten Ausmaß ein. Es geht darum, diesen Umstrukturierungsprozeß sozial zu begleiten. Die Arbeitsmarktpolitik hat also eine wichtige Brückenfunktion. Bis zur Schaffung von neuen, dauerhaften Arbeitsplätzen sollen Arbeitnehmer Chancen zur beruflichen Fortbildung und zur sinnvollen Weiterbildung erhalten. Dazu dienen die neuen Bestimmungen im Arbeitsförderungsgesetz, die Zehntausenden von Arbeitnehmern zugute kommen. Mit unserem Konzept „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" kann erstmals Arbeitslosengeld in Lohnkostenzuschüsse umgewandelt werden.
Ein deutliches Zeichen für bessere Entwicklungen im wirtschaftlichen Umfeld ist der kräftige Anstieg der gewerblichen Investitionen. Die Investitionsausgaben werden 1993 um 20 % zunehmen. Das Konzept setzt auf Investitionen, weil nur auf diesem Weg die erforderlichen neuen, wettbewerbsfähigen Arbeitsplätze entstehen können. Die entschlossene Unterstützung des Aufbaus zukunftsträchtiger Produktionsstätten ist nach meiner festen Überzeugung der einzige wirklich erfolgversprechende Weg zu einem modernen Industriestandort Ostdeutschland, und an dieser Strategie halten wir fest.
Die massive Investitionsförderung, meine Damen und Herren, wird fortgesetzt und weiter aufgestockt. Hier müssen wir vor allem an den industriellen Mittelstand denken. Man muß sich immer wieder darüber klar sein, daß zu den schlimmsten Erblasten des SED-Regimes gehört, daß die mittelständischen Strukturen, die beim Aufbau der alten Bundesrepublik in den frühen 50er Jahren entscheidend dazu beigetragen haben, den Aufbau zu schaffen, weitgehend zerstört worden sind, daß wir heute verglichen mit den westlichen Bundesländern — in den östlichen Bundesländern im besten Fall ein Viertel der mittelständischen Existenzen haben; in manchen Fällen ist die Zahl noch sehr viel geringer. Deshalb wollen wir zusätzlich zu den bisherigen umfangreichen Hilfen Sonderinvestitionszulagen schaffen.
Wir werden darüber hinaus — da haben wir dazugelernt, das ist wahr; ich habe kein Problem, das klar und deutlich auszusprechen — in Gesprächen mit der Treuhand, mit den Landesregierungen, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften dafür Sorge tragen, daß das — das Wort gefällt mir zwar nicht, aber es wird jetzt häufig gebraucht —, was man industrielle Kerne nennt, in den neuen Ländern erhalten bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN — Zurufe von der SPD)

— Ich weiß nicht, warum Sie unruhig sind; das ist eine vernünftige Entwicklung. Die Entwicklung wäre natürlich anders verlaufen — aber das haben Sie sowenig gewußt wie ich , wenn die Sowjetunion noch existierte, wenn Michail Gorbatschow noch im Amt wäre und seine Zusage über einen Warenaustausch im Umfang von 25 Milliarden DM für 1991/92 hätte einhalten können. Dann wäre es eben möglich, daß eine der führenden Waggonfabriken Europas, die ihren Sitz in den neuen Ländern hat, ihre Produkte auf der alten Spur wie bisher dorthin liefert. Sie wissen
doch so gut wie ich, daß die Entwicklung hier sehr dramatisch gewesen ist.
Ich hoffe sehr, daß die SPD in den Landtagen der neuen Länder — auch dort, wo sie in der Landesregierung ist — dazu beiträgt, daß man dieses Konzept gemeinsam vernünftig aushandelt. Es ist mein dringender Wunsch, daß dieses Konzept nicht hier in Bonn, sondern im Gespräch mit den Landesregierungen, mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmern und mit der Treuhand vor Ort entworfen wird. Wenn wir schon gesamtdeutsche Entwicklungen haben, so ist eine davon auf einem bestimmten Gebiet jedenfalls auch in den neuen Ländern längst eingetreten: alle Verantwortung dort, wo sie unangenehm ist, auf Bonn abzuschieben. Das ist eine wirklich gesamtdeutsche Entwicklung geworden; jeder spürt das.
Meine Damen und Herren, mit der Entwicklung in den neuen Ländern ist der Abbau von Personal verbunden. Wir erleben, daß der Schrumpfungsprozeß an Grenzen stößt. Deswegen bekenne ich mich zu diesem Konzept, das ich hier soeben angesprochen habe.
Wir müssen jetzt — das war die Debatte von gestern, die ich nicht neu aufnehmen will — zusätzliche Mittel für die neuen Länder gewinnen. Das ist der Sinn des von Theo Waigel entworfenen föderalen Konsolidierungskonzeptes. Dabei geht es um notwendige Sparmaßnahmen, es geht um Umschichtungen, und es geht um die gesamtstaatliche Verantwortung.
Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Ich verstehe die Kritik, die Sie in diesem Zusammenhang am Finanzminister geübt haben, überhaupt nicht, und in einem Punkt — das ist jetzt eine neue Variante, um ihm zu schaden — finde ich sie besonders unangemessen. Es wird gesagt: „Der ist doch Parteivorsitzender", als stünde irgendwo geschrieben, daß ein Parteivorsitzender nicht Finanzminister sein darf. Meine Damen und Herren, wenn wir dieses Kriterium an die deutsche Politik in den letzten 40 Jahren angelegt hätten, hätten viele Personalentscheidungen anders getroffen werden müssen. Wir sollten das seinlassen. Theo Waigel macht eine gute Arbeit. Er verdient unser Vertrauen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch bei der SPD)

Die Kollegen von der SPD können ihre Ritualübungen mit jeweiligen Rücktrittsaufforderungen ruhig fortsetzen. Meine Damen und Herren, ich war in diesem Haus sieben Jahre Oppositionsführer und erinnere mich, wie oft wir eine Erklärung oder eine Entscheidung der damaligen Bundesregierung mit der Formel aufgenommen haben: „Die CDU/CSU lehnt diesen Vorschlag mit Abscheu und Empörung ab! " — So machen Sie es auch; aber Sie können es sich sparen, es bringt überhaupt nichts. Niemand in diesem Land liest es. Und wenn es doch jemand tut, denkt er: Die haben alle nichts dazugelernt. Das ist doch die Erfahrung!

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Da ich vom Sparen gesprochen habe, möchte ich Sie darauf hinweisen, daß das für uns keine Verbalübung



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
ist; um die Mittel für die neuen Länder zu gewinnen, müssen wir jetzt tatsächlich das Sparen in die Praxis umsetzen.
Im übrigen ist ein weiterer Beweis für meine These, daß die wahren Probleme in Deutschland nicht primär Probleme im Zusammenhang mit der deutschen Einheit sind, die Tatsache, daß es in anderen Ländern, die diese Probleme nicht haben, genauso ist. Was geschieht denn gegenwärtig in Italien, in den Niederlanden? Das sind vergleichbare Länder, in denen übrigens, wenn ich recht unterrichtet bin, ein Parteivorsitzender der Sozialisten Finanzminister ist, und zwar ein ganz besonders qualifizierter. Das möchte ich bei dieser Gelegenheit gern sagen. Die niederländische Regierung hat zum zehnten Amtsjubiläum meines Kollegen und Freunden Ruud Lubbers dazu eingeladen, mit den Gewerkschaften ein Gespräch über Lohnstopp zu führen, meine Damen und Herren. So feierte man dort diesen Jahrestag!

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In Frankreich — allein das zu nennen, bringt einem den Vorwurf des brutalen Eingriffs in die Tarifautonomie ein — folgt die Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst der sehr niedrigen Preissteigerungsrate von derzeit 2,7 %.
In Schweden — einem Land, das jahrelang, jahrzentelang als beispielhaft in allen Bereichen vorgestellt wurde — hat die Regierung mit der sozialdemokratischen Opposition gleich zwei drastische Einsparpakete vereinbart. Herr Kollege Klose, da Sie früher — das waren noch andere Zeiten — oft und gern nach Schweden gefahren sind, um dort Erfahrungen zu gewinnen: Fahren Sie doch einmal mit dem Fraktionsvorstand hin und lassen sich dort darüber beraten, was man gemeinsam machen könnte.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ungeachtet der Gefahr, daß ich jetzt wieder gescholten werde, ich redete in die Tarifautonomie hinein — ich will das überhaupt nicht —, muß doch der Satz gelten, daß bei einem Gespräch über Gemeinsamkeit und Deutschlands Zukunft, über einen Solidarpakt auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Unternehmer ihre Verantwortung haben und daß gemeinsames Handeln notwendig ist.
Die SPD hat auf ihrem Parteitag vor ein paar Tagen erklärt — ich zitiere hoffentlich korrekt —:
... im Rahmen einer Gemeinschaftsinitiative ein umfassendes Paket zur konjunkturgerechten Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung mitzutragen.
Ich lade Sie ausdrücklich dazu ein, das gemeinsam mit uns zu gestalten. Ob das dann ein Mittragen wird, ist eine noch offene Frage. Ich sage auch noch einmal, ich will nicht die Verantwortlichkeiten verwischen; ich will keine Überkoalition. Wir haben eine gut funktionierende Koalition: die braucht keinen Ersatz. Aber wir brauchen eine Mithilfe; denn es geht ja auch um die Länderhaushalte.
Wir haben allein auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für das Saarland und für Bremen Sonderregelungen zu treffen, und die sind eben nur zu treffen, wenn wir gemeinschaftlich miteinander wirken. Angesichts der drastisch verringerten Verteilungsspielräume müssen wir über die Prioritäten einig werden. Jeder muß beim Solidarpakt seinen Beitrag leisten.
Ich nenne ein paar Kernfragen, die hier anstehen.
Das ernüchternde Ergebnis von 40 Jahren SED-Wirtschaft ist ein Schuldenberg in der Größenordnung von 400 Milliarden DM. Er besteht aus dem Defizit der Treuhandanstalt und den Schulden des Kreditabwicklungsfonds. Wir wollen dafür 1995 einen Erblastfonds einrichten. Warum wir ihn so nennen? Weil doch die falschen Propheten schon überall im Land unterwegs sind, meine Damen und Herren. Ich weiß doch, wer in Instituten und sonstwo schon unterwegs ist — ein Prachtexemplar hat doch vorhin hier schon gesprochen —,

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

um dann im Jahre 1994 oder 1995 zu sagen: Das sind nicht die Schulden von Herrn Honecker und von Herrn Ulbricht, nein, das sind die Schulden von Theo Waigel und Helmut Kohl.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

— Sie sehen, es ist wie bei den Pawlowschen Versuchen;

(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

die Reaktion kommt sofort.
Jeder in Deutschland muß wissen, worum es geht. Jeder muß wissen, daß dieses System bankrott war und daß man der Welt vorgegaukelt hat — leider haben es zu viele geglaubt —, als habe man es hier mit einer der großen Industrienationen zu tun gehabt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das heißt: Wir müssen jährlich mindestens 40 Milliarden DM für diese Erblast aufbringen. Und ich frage: Warum sollen wir das nicht so nennen? Warum sollen wir die Zahlung dieser Mittel nicht strecken? Sind wir uns eigentlich darüber im klaren, was in den frühen 50er Jahren in einer vorbildlichen Arbeit der Demokraten mit Blick auf die Konsequenzen aus der Nazibarbarei in den Wiedergutmachungsvereinbarungen geleistet wurde? Wir zahlen jetzt noch dafür und stoßen gerade an die 100-Milliarden-Grenze.
Damals haben Adenauer, Ollenhauer, Carlo Schmid und andere gesagt: Das ist eine so gewaltige Aufgabe; die müssen wir etwas strecken. — Ich kann eigentlich nicht erkennen, warum wir nicht das gleiche auch hier angesichts dieser einmaligen Herausforderung sagen sollten.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Ab 1995 werden die neuen Bundesländer in den Finanzausgleich einbezogen. Wir dürfen doch — wenn ich die Verschuldungsentwicklung in den neuen Ländern sehe — diese nicht in kurzer Zeit in eine Lage bringen, daß sie für ihre zukünftige Ent-



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
wicklung keinerlei landespolitische Handlungsspielräume mehr haben. Dies wäre kein wirklicher Föderalismus, sondern ein Föderalismus, der am Bonner Tropf hinge. Das kann auf die Dauer doch keine gesunde Struktur für die neuen Länder sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wir müssen also einschneidende Sparmaßnahmen, Umschichtungen, den Abbau von Steuersubventionen, Finanzhilfen und die Anpassung im Bereich von Sozialleistungen vornehmen. Ohne diese Maßnahmen ist das, was ich soeben gesagt habe, nicht zu leisten. Ohne diese Maßnahmen werden wir auch die ab 1995 anstehende jährliche Belastung von möglicherweise 90 bis 100 Milliarden DM aus Erblast und Finanzausgleich der Länder nicht bewältigen können.
Was jetzt nottut, ist, daß diese Entscheidungen bald getroffen werden. Ich lege mich jetzt nicht auf einen Tag oder eine Woche fest, aber unter „bald" verstehe ich, daß möglichst viel vor Weihnachten geregelt wird. Was das angeht, was im Bund-Länder-Verhältnis besprochen werden muß — da sind wir ja nicht allein Herr des Verfahrens —, so sollte das nicht über den Januar hinausgeschoben, sondern so früh wie möglich abgeschlossen werden. Aus meinem Gespräch mit dem Kollegen Engholm in diesen Tagen und mit anderen habe ich den Eindruck gewonnen, daß das eine Sicht ist, die nicht nur von mir, sondern auch von anderen Verantwortlichen geteilt wird. Wir brauchen gerade in dieser schwierigen Wirtschaftslage berechenbare Daten für die deutsche Wirtschaft,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

berechenbare Daten über das, was an Belastungen auf die Bürger zukommt und was an Belastungen für die Wirtschaft zu erwarten ist.
Vorhin ist kritisiert worden, daß ich — als sei das ein Konjunkturhemmnis — auf dem letzten Parteitag der CDU mit Zustimmung des Parteitages mit Blick auf den Erblastfonds erklärt habe: Um die über 40 Milliarden DM jährlich an Zins und Tilgung tragen zu können, müssen wir ab 1995 die Steuern erhöhen. — Ja, meine Damen und Herren, Sie haben doch immer gesagt, ich solle den Menschen ehrlich sagen, wie die Lage sei, und wir haben es gesagt.

(Zuruf von der SPD: Aber zu spät!)

— Entschuldigung, Ihr Rezept ist doch, daß Sie schon jetzt die Steuern erhöhen wollen. Unser Rezept ist eben, das in dieser Phase der Rezession nicht zu tun; denn es wäre Gift für die Konjunktur, jetzt steuerliche Belastungen vorzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Damit es klar ausgesprochen ist: Ich werde der Koalition vorschlagen, die Entscheidung über Steuererhöhungen — auch über die Größenordnung — ebenfalls in den ersten Wochen und Monaten des neuen Jahres zu treffen und sie dann in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Sie sollen nicht die Möglichkeit haben, durchs Land zu ziehen und zu behaupten: Die sagen ja gar nicht, was wirklich ist. —
Sie werden genau erfahren, was auf uns, auf den einzelnen Bürger zukommt.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und warum nicht heute, in der Haushaltsdebatte?)

— Aber, verehrte Frau Kollegin, wir stehen mitten in den Gesprächen mit den Ländern. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Finanzminister — das ist ja eine Vorstellung, die Sie sicherlich haben;

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

dagegen ist auch gar nichts zu sagen — und einer von uns würde Ihnen in einem Zeitpunkt, in dem Sie als Finanzminister mitten in Gesprächen mit den Landesfinanzministern sind — Sie wissen ja, wie es da zugeht; es geht um Geben und Nehmen, niemand will was rausrücken —, hier im Saal sagen: Aber Sie müssen heute sagen, wie Sie in die Verhandlungen hineingehen! — Was würden Sie dann sagen? Wie ich Sie kenne, wären Sie viel unfreundlicher als ich jetzt im Augenblick.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P)

Natürlich ist das, worum es jetzt geht, auch abhängig vom Ergebnis der Verhandlungen mit den Ländern. Wissen Sie eigentlich genau, Frau Kollegin, ob nicht die Länder dann zum Bund kommen und sagen: Können wir nicht auch ein bissel was an Steuererhöhungen machen, die unseren Kassen zugute kommen? Das ist doch, wie jeder erkennen kann, der Zusammenhang. Es ist doch die normalste Sache der Welt, daß man erst miteinander spricht und dann zu Ergebnissen zu kommen versucht.
Bei dem Gerede, das man hier und da hört und von dem man liest, erscheint mir etwas anderes in diesem Zusammenhang viel wichtiger, nämlich einmal zu sagen, daß die deutsche Volkswirtschaft jährlich mehr als 3 000 Milliarden DM erwirtschaftet. Daß angesichts einer solchen Leistungskraft das, was auf uns zukommt, nicht zu leisten sein soll, verstehe ich überhaupt nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sollten klar und deutlich sagen: Die deutsche Volkswirtschaft, vor allem eine flottgemachte deutsche Volkswirtschaft, die in der Lage ist, auch weltwirtschaftlich ihren Part zu spielen, ist sehr wohl in der Lage, den auf sie zukommenden Herausforderungen gerecht zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wenn ich über den Solidarpakt spreche, muß ich ein Wort zum Beitrag der Tarifpartner sagen. Der Beitrag kann darin bestehen, daß die Tarife den veränderten Bedingungen, der schwierigen Situation in den jeweiligen Branchen und Regionen angeglichen werden. Dabei ist eines für mich ganz klar, und das kann ich gar nicht oft genug sagen: Unser Interesse — erlauben Sie mir, das jetzt auch als Parteivorsitzender zu sagen — besteht nicht darin, die Position der Gewerkschaften zu schwächen. Es ist im staatspolitischen Interesse dieser Republik in höchstem Maße erwünscht, daß die Gewerkschaften starke Gewerkschaften sind und wirkliche Sprecher



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ihrer Mitglieder. Wenn Sie sehen, daß auch Gewerkschaften einen erheblichen Mitgliederschwund haben, dann sehen Sie auch erhebliche Veränderungen. Deshalb möchte ich, daß wir in vernünftigen Gesprächen zu vernünftigen Ergebnissen kommen.
Aber es ist doch einfach überfällig — da wir ja die Mitbestimmung haben, sind viele der Verantwortlichen in den Aufsichtsräten und kennen die Daten in den einzelnen Unternehmen besser als wir —, und es ist doch in höchstem Maße erwünscht, daß wir jetzt einmal fragen: Was für Konsequenzen ziehen wir im Metallbereich angesichts der Situation bei Stahl, angesichts der Situation in der Autoproduktion? Wir können doch nicht so tun, als sei dies alles nicht so gewesen. Das gilt noch mehr für die Entwicklung der neuen Länder.
Aber ich denke, das gilt auch für die Wirtschaft. Ich erwarte, daß sich die deutsche Wirtschaft zu einer mehrjährigen Ausbildungsgarantie für junge Leute in den neuen Ländern bereit findet. Ich glaube, daß kann man abfordern. Wir haben das in den frühen 80er Jahren fertiggebracht. Das muß auch heute möglich sein.
Ich hoffe auch, daß wir verstärkte Anstrengungen erleben, daß westdeutsche Großunternehmen einen größeren Teil ihrer Lieferungen aus den neuen Bundesländern beziehen und daß sie sich dazu verpflichten — so daß das nicht eine vage Ankündigung ist und sie in einer konkreten Situation nicht nur Vorteilsregeln wahrnehmen —, hier bewußt aus gesamtstaatlicher, aus patriotischer Gesinnung ihre Aufträge entsprechend zu plazieren.
Das gilt aber auch für die öffentliche Hand. Ich bin nicht sicher, daß alle Bundesbehörden, Landesbehörden und Kommunalbehörden die Notwendigkeit eines solchen Denkens schon begriffen haben. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, daß sie es begreifen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Es geht uns, es geht mir darum, daß wir in diesen nächsten Wochen, in wenigen Monaten mit Blick auf den Solidarpakt zu einem Gesamtpaket kommen, indem die einzelnen ihren Beitrag leisten, indem wir im besten Sinne des Wortes „Neues Denken" praktizieren, indem althergebrachte Gewohnheiten nicht fortgeschrieben werden, sondern indem wir den Standort Deutschland unter besonderer Berücksichtigung auch der neuen Länder und unserer Landsleute in den neuen Ländern für die Zukunft einrichten.
Aber in dieses Bild Deutschlands gehört, daß wir endlich damit aufhören, eine Nabelschau zu betreiben und uns kaum mehr um die Welt um uns herum zu kümmern. Das Schicksal unseres Landes — der Satz ist genau so richtig wir früher — wird auch in Zukunft entscheidend von der Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt. In dieser gewaltig veränderten Welt können wir nicht die bisherige Politik einfach fortschreiben. Wir bauen gemeinsam mit unseren Partnern den Weg in die Zukunft.
Das heißt vor allem — ich sage dies, obwohl wir in der nächsten Woche die große Debatte haben werden —, daß die europäische Politik stärker denn je gefordert ist. Europa ist heute genauso wie in den vergangenen Jahren — in einer anderen Weise, aber genauso — auf das enge Zusammenwirken mit den Vereinigten Staaten angewiesen. Die deutschamerikanische Freundschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunft Deutschlands in Frieden und Freiheit. Wir wollen dieses enge Zusammenwirken. Ich will es auch mit dem neugewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten. In unserem ersten Telefonat haben wir darüber gesprochen. Ich denke, wir werden bald nach seiner Amtseinführung ein Treffen haben. Es geht ja darum, die Linie, die sich bewährt hat, konsequent fortzusetzen.
Meine Damen und Herren, wir haben heute aber auch allen Grund, dem in ein paar Wochen aus dem Amt scheidenden Präsidenten George Bush zu danken.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Er hat uns in einer schwierigen Zeit — der Kollege Genscher weiß das aus vielen Besprechungen in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen; ich sage das, ohne anderen zu nahe zu treten — mehr geholfen als viele andere. Er hat aus seiner Freiheitsidee heraus zu keinem Zeitpunkt gezögert, die Deutschen zu unterstützen.
Wir vertrauen darauf, daß auch die künftige amerikanische Regierung — beim Präsidenten bin ich ganz sicher — und der Kongreß an dieser Politik festhalten. Zu dieser Politik gehört auch eine substantielle Präsenz amerikanischer Soldaten in Europa. Sie sind uns in Deutschland herzlich willkommen, und sie sollen bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das atlantische Bündnis bleibt Sicherheitsanker für ganz Europa. Es wird diese Funktion aber nur dann ausüben können, wenn wir uns auf die neuen Gegebenheiten einrichten. Die Bereitschaft der Allianz, im Rahmen der KSZE auf Ersuchen der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens in Europa beizutragen, ist dazu ein wichtiger Schritt. Wir, die Deutschen, dürfen bei der Durchführung dieser neuen Aufgaben von NATO und WEU nicht abseits stehen.
Nicht zuletzt die Probleme im Hinblick auf die deutsche Beteiligung am UN-Embargo gegen Serbien-Montenegro haben deutlich gemacht, daß die grundsätzliche Klärung, Herr Abgeordneter Klose, der deutschen Position in dieser Frage überfällig ist. Wir können nicht unsere Freude über die wiedergewonnene deutsche Einheit zum Ausdruck bringen und gleichzeitig nicht davon sprechen — andere sprechen noch viel mehr davon —, daß Deutschland jetzt eine andere Funktion in der Welt wahrzunehmen hat — nicht in dem Sinne „Wir sind wieder wer", sondern ganz einfach deshalb, weil wir auf Grund unserer politischen, geographischen und ökonomischen Lage diese Verantwortung zu tragen haben. Wir können uns, wenn die Unwetter der Geschichte hereinbrechen, nicht abwenden und sagen: Das geht uns nichts an.



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Als Mitglied der Vereinten Nationen dürfen wir nicht nur unsere Rechte, sondern müssen wir auch unsere Pflichten wahrnehmen. Deswegen muß das, was jetzt ansteht, geklärt werden. Ich halte einen deutschen Sonderweg auch in diesen Fragen für völlig inakzeptabel.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Deswegen sage ich Ihnen auch, Herr Kollege Klose, daß der Beschluß Ihres Parteitags — das wissen Sie selbst am allerbesten — in dieser Form nicht ausreichend ist. Ich habe sehr viel Sinn dafür, daß Sie auf dem Parteitag andere Probleme hatten und daß die Diskussion hierüber deshalb zu kurz gekommen ist. Aber wenn Sie es mir schon nicht glauben — ich darf dies hier einmal so sagen —, dann sollten Sie es Ihrem verstorbenen Ehrenvorsitzenden Willy Brandt glauben, der zu dieser Frage in den letzten Monaten eine Position bezogen und das auch öffentlich immer wieder geäußert hatte, die jedenfalls mehr der Position der Bundesregierung als der Position entspricht, die Sie auf dem Parteitag zum Ausdruck gebracht haben.
Meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht mit halbherzigen Lösungen ins Abseits begeben. Wenn wir im Westen Europas — um auch das noch zu sagen — auf Dauer Frieden und Freiheit erhalten wollen, dann gehört dazu auch, daß wir als Europäer unseren Beitrag zu der Verbesserung der sozialen und der politischen Verhältnisse in Mittel-, Ost- und Südosteuropa leisten.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Ich beklage — das sage ich ausdrücklich —, daß viele in Europa immer noch nicht begriffen haben, daß Europa nicht an Oder und Neiße endet,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

daß nicht nur im Blick auf die Erweiterung der künftigen Europäischen Union die Oder-Grenze niemals die Ostgrenze der Europäischen Union werden darf. Die Völker, die vor kurzem neu ihre Freiheit gewonnen haben, die jetzt den Weg der parlamentarischen Demokratie, des Pluralismus gehen, brauchen unsere Unterstützung.
So, wie wir aufgerufen sind, im eigenen Land zu helfen, sind wir auch aufgerufen, denen zu helfen, die jetzt viel größere Schwierigkeiten als wir haben und die im übrigen unsere Klagen schwer verständlich finden. Jeder meiner Amtskollegen oder- kolleginnen aus diesen Ländern, der zu mir kommt, hört mir bei diesem Thema zwar höflich zu, hat aber, gemessen an den Sorgen im eigenen Land, nur sehr bedingt Verständnis für unsere Sorgen. Ich denke hierbei vor allem an die unmittelbaren Nachbarn.
Wir haben ein geschichtlich besonders belastetes Verhältnis zu Polen. Wir haben gemeinsam versucht, das, wie bei der CSFR, durch Nachbarschaftsverträge mit Blick auf eine gute Zukunft in Ordnung zu bringen.
Das Verhältnis zu Ungarn war immer frei von historischen Belastungen. Wir wollen nie vergessen,
wer es war, der im Sommer 1989 den Eisernen Vorhang öffnete und unsere Landsleute freiließ.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Der Besuch der polnischen Ministerpräsidentin hat gezeigt, daß wir in den vergangenen zwei Jahren Gott sei Dank beachtliche Fortschritte im Verhältnis zu Polen erreicht haben, daß wir die intensiven Beziehungen fortsetzen wollen, daß wir vor allem — was ganz wichtig ist, auch für die neuen Länder — grenzüberschreitend zwischen Polen und den anderen Nachbarländern der Bundesrepublik eine sehr intensive regionale Zusammenarbeit aufbauen wollen.
Ich will in diesem Zusammenhang hinzufügen: Im Verhältnis zu Polen ist dabei immer auch die Lage der deutschen Minderheit ein wichtiger Gradmesser. Dabei müssen wir aber darauf achten, daß die erreichten Fortschritte durch altes Mißtrauen und neue Mißverständnisse im Verhältnis der deutschen Minderheit zu den Polen nicht wieder in Frage gestellt werden.
Nachdem die Entwicklung in der CSFR jetzt so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist — das ist eine Entscheidung, die Slowaken und Tschechen zu treffen hatten —, wollen wir alles tun, meine Damen und Herren, daß auch in der Nachfolge die neu aufgebauten guten Beziehungen fortbestehen. Wir gehen davon aus, daß der deutsch-tschechoslowakische Vertrag auch im Verhältnis zu den beiden Nachfolgerepubliken der CSFR gelten wird.
Meine Damen und Herren, ein Kernelement deutscher Politik ist natürlich die Entwicklung der Beziehungen zu Rußland. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen habe eine grundlegende Bedeutung für Europa. Dieser Bedeutung entspricht es, daß wir Rußland und den anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion Hilfe und Unterstützung in großem Umfang gewährt haben. Angesichts der jetzt stattfindenden Reise des Finanzministers und auch meiner eigenen Reise muß ich aber ebenso klar sagen: Die Bundesrepublik Deutschland ist auch in dieser Frage an der Grenze ihres Leistungsvermögens angelangt.
Wir wollen Präsident Jelzin und seinen Reformkurs stützen, und wir wollen vor allem auch bei dieser „Rückkehr nach Europa" helfen. Für unser Verhältnis ist dabei die Frage nach der Zukunft der Rußlanddeutschen wichtig. Das ist ein Punkt, an dem wir endlich weiterkommen müssen.
Zu den bedrückenden Kapiteln gehört die Lage im ehemaligen Jugoslawien. Wir sind Zeugen, wie dort Menschen vor den Augen der Weltöffentlichkeit ermordet oder vertrieben werden. Wir wissen, daß hier vor allem die serbische Seite die Verantwortung trägt. Wir sehen bisher keine Zeichen, keine wirklichen Zeichen guten Willens. Die Sanktionen und die Isolierung von Serbien/Montenegro müssen deshalb in Kraft bleiben. Das wird mein Hauptgesprächsthema bei dem morgigen Besuch des Ministerpräsidenten Panie sein.
Meine Damen und Herren, deutsche und europäische Haltung müssen eindeutig sein. Das Verhältnis



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Europas zu Serbien/Montenegro mißt sich vor allem an der Bereitschaft Serbien/Montenegros zu territorialen Rückzug, zur Wiedergutmachung und zu einer friedlichen Lösung des blutigen Konflikts. Solange eine politische Lösung aussteht — auch das gehört zu dem, was wir zu leisten haben —, ist es ein oberstes humanitäres Gebot, den Menschen in Not zu helfen. Die EG und ihre Mitglieder haben wichtige Verantwortung übernommen, und wir Deutschen — das sage ich, wenn ich an den Beitrag denke, den wir aus guten Gründen, zu denen ich stehe, geleistet haben — brauchen uns nicht zu verstecken.
Meine Damen und Herren, für uns Deutsche ist bei alledem, was ich hier sage, die Frage der europäischen Integration die Schicksalsfrage. Der Kollege Schäuble sprach soeben von der geograpisch-geopolitischen Lage unseres Landes. Wir sind mehr als alle anderen von unseren Nachbarn abhängig. Alles, was in Deutschland geschieht — das spürt man ja bei dem negativen Bild, das gegenwärtig ins Ausland hinein transportiert wird —, reflektiert sich dort in einer besonderen Weise. Unsere Geschichte steht jeden Tag neu vor uns.
Deswegen ist es nicht gleichgültig, welchen Weg Europa geht, ob wir als Deutsche uns unwiderruflich auf den politisch-wirtschaftlichen Zusammenschluß festlegen oder ob wir in eine nationale bis nationalistische Rivalitätssituation zurückfallen. Die alten Gespenster in Europa sind überall noch präsent. Niemand soll glauben, daß jetzt das Paradies auf Erden angebrochen ist.
Die Kernfrage der jetzigen Diskussion — neben allen wichtigen Details in der Europapolitik und in bezug auf den Vertrag von Maastricht — ist, ob wir auf Dauer Freiheit, Frieden und Wohlfahrt für die Völker Europas garantieren können.
Wenn wir jetzt nicht die Europäische Union schaffen, versagen wir vor der Zukunft, und wir verspielen die Zukunft. Deswegen stehen die Bundesregierung und — dafür bin ich dankbar — die große Mehrheit in diesem Haus zum Vertrag von Maastricht.
Ich sage noch einmal: Dies ist eine Politik, die alle meine Amtsvorgänger in dieser Richtung vorangebracht und getragen haben. Sie entspricht dem Auftrag unseres Grundgesetzes, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen.
Das ist die Vollendung einer Vision — es wird ja oft gefragt: Habt ihr eigentlich noch Visionen? —, die viele von uns, die hier im Saal sitzen, als ganz junge Menschen gleich nach dem Kriege hatten und die die großen Gründergestalten wie Robert Schuman oder Paul Henri Spaak, Alcide De Gasperi oder Konrad Adenauer uns damals vorstellten. Was man als Visionen betrachtete, war in Wahrheit der wirkliche Realismus. Es waren Männer und Frauen, die weit über den Tag hinaus schauten und die etwas auf den Weg brachten, das wir heute vollenden müssen.
Auch mit Blick auf diese Erfahrung der letzten 40 Jahre bei der Einigung Europas, beim Werden des neuen Europa haben wir, denke ich, allen Grund zu
einem realistischen Optimismus. In diesem Sinne bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zu dieser Politik.

(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU, anhaltender Beifall bei der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212302000
Frau Kollegin IngridMatthäus-Maier, Sie haben das Wort.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo sind die roten Rosen?)


Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212302100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben mehrere Politikbereiche angesprochen, in denen wir uns in diesem Bundestag um gemeinsame vernünftige Lösungen bemühen sollten. Dem stimme ich ausdrücklich zu.
Das gibt mir Gelegenheit, die Öffentlichkeit vielleicht einmal auf folgendes hinzuweisen: Mehr als 70 % der Gesetze werden in diesem Deutschen Bundestag einvernehmlich verabschiedet. Das heißt: Es gibt in den meisten Fällen Übereinstimmung und gemeinsames erfolgreiches Ringen.
Aber darüber dürfen wir nicht vergessen, daß es natürlich einen Teilbereich gibt, über den wir streiten. Daß wir in diesem Parlament mehr streiten, als die 70 % gemeinsam verabschiedeter Gesetze nach außen zeigen, ist auch deswegen wichtig, weil sich an diesen 20 % bis 30 % oft auch zeigt: Wo steht die eine Partei, wo steht die andere, und was sind Unterschiede zwischen ihnen? Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Aber lassen Sie mich nun zwei Punkte aufgreifen, in denen, wie ich finde, gemeinsames Handeln dringend erforderlich ist:
Erstens. Herr Bundeskanzler, Sie haben wenig zu dem dringend notwendigen Konzept der Zuwanderung gesagt. Wir wollen doch gemeinsam bald zu einem Ergebnis kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber wenn es so ist, daß wir gemeinsam handeln wollen, dann ist es in unser aller Interesse, daß dieser Wille zum gemeinsamen Handeln über Parteigrenzen hinweg nicht durch einige Scharfmacher aus Ihren Reihen oder durch das gefährliche Gerede über einen angeblichen Staatsnotstand durch Asylbewerber zerstört wird.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der demokratischen Parteien nur dann zurückgewinnen, wenn wir bis Ende des Jahres zu gemeinsamen Vorschlägen zu einem Gesamtkonzept für die Begrenzung der Zuwanderung kommen. Art. 16 ist dazu nur ein Mosaikstein.

(Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das hätten Sie längst schon tun können!)

Zweitens. Ich darf die ruhige Atmosphäre, die entstanden ist, nutzen, um noch einiges zu dem Kriminalitätsproblem zu sagen, das Sie, Herr Bundeskanzler, angesprochen haben. Auch hier erwarten die



Ingrid Matthäus-Maier
Menschen, glaube ich, daß wir mehr gemeinsam handeln, um sie zu schützen.
Drei Dinge will ich nennen. Das erste ist — ich glaube, Sie sprachen darüber —, die Einstellung zu unseren Sicherheitskräften. Sie zeigt sich auch daran, wie wir sie bezeichnen. Ich muß Ihnen sagen: Daß in Teilen dieser Gesellschaft Polizisten nur noch „Bullen" heißen, halte ich für einen Skandal.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Michael Glos [CDU/CSU]: Auf welcher Seite denn? Wer hat denn das angefangen?)

— Ich darf Sie bitten, mir auch in dem zweiten Punkt zuzustimmen:
Noch immer nicht haben wir das Gewinnaufspürungsgesetz gemeinsam verabschiedet, das endlich Geldwäschern das Handwerk legen soll. Geldwäscher sind der Dreh- und Angelpunkt, warum die Drogenmafia überhaupt existieren kann. Der Grund, warum wir im Deutschen Bundestag in den Ausschüssen nicht zusammenkommen, Herr Bundeskanzler, ist,

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Eure Halbherzigkeit!)

daß Sie nach wie vor auf Schwellenwerten für die Gewinnaufspürung bei den Kreditinstituten bestehen, die z. B. viel höher sind als in Amerika.

(Beifall bei der SPD)

Da drängt sich schon der Eindruck auf, daß Ihnen das Bankgeheimnis vielleicht doch wichtiger ist als der Schutz unserer Kinder vor Drogenkriminellen und Drogenhändlern.

(Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Unsinn!)

Wenn das nicht der Fall ist, gehen Sie auf unsere Vorschläge, was die Grenzen angeht, endlich ein, damit dieses Gesetz als ein wichtiger Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung vor Weihnachten verabschiedet werden kann!

(Beifall bei der SPD)

Ein letztes: Wir müssen dann auch — Herr Bundeskanzler, ich spreche Sie ganz persönlich an, weil Sie viele Minuten darauf verwendet haben — zu unkonventionellen gemeinsamen Lösungen kommen. Ich glaube, das ist möglich. Sie sprachen über die enorme Zunahme der Alltagskriminalität: Kraftfahrzeugdiebstähle, Einbruchdiebstähle, Handtaschenraub und ähnliches. Sie haben ja Recht. Nur, alle Fachleute, die von der CDU wie die von der SPD, sagen uns, die enorme Zunahme gehe zu einem großen Teil auf die Beschaffungskriminalität von Drogensüchtigen zurück.

(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Bei Autos?)

— Nicht nur bei Autos, sondern auch bei Einbruchdiebstählen, sagen uns alle Fachleute und sagte auch das BKA vor kurzem.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Herr Lambsdorff, das ist so!)

Jetzt frage ich Sie, Herr Bundeskanzler, da Sie so oft den Hamburger Bürgermeister zitieren — ich nehme diesmal nicht den ehemaligen, Klose, sondern den jetzigen, Voscherau —: Warum können wir uns nicht gemeinsam auf ein Konzept einigen, das den Drogensüchtigen hilft und das uns hilft, die Beschaffungskriminalität zurückzudrängen?

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was Sie da sagen, glauben Sie doch selber nicht!)

Bisher diskutieren wir in den fast schon ideologischen Alternativen „Drogenfreigabe ja" oder „Drogenfreigabe nein" . Warum kann man nicht einen vernünftigen Mittelweg wählen? Ich will keine generelle Drogenfreigabe mit dem Ergebnis, daß nachmittags oder vormittags in der Pause die Dealer auf den Schulhof kommen und meinen Kindern das anbieten.
Aber warum können wir nicht sagen: Diejenigen, die krank sind, die süchtig sind und die kriminell werden, weil sie sich das beschaffen müssen, was sie brauchen, bekommen vom Arzt kontrolliert täglich die Ration im Krankenhaus, beim Arzt, die sie brauchen?

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Muß man dem so entgegenkommen? Das ist ja ein Witz!)

Das drängt die Beschaffungskriminalität mit Sicherheit zurück und trocknet die Drogenmafia aus.

(Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das grenzt an Schizophrenie!)

Herr Bundeskanzler, allgemeine Ausführungen über Gemeinsamkeit bei der Kriminalitätsbekämpfung zu machen ist gut, aber gemeinsam mit uns im Deutschen Bundestag zu handeln ist das andere, und dazu fordere ich Sie auf.

(Beifall bei der SPD)

Der nächste Punkt: Ich finde, Sie haben heute die Chance nicht ausreichend genutzt — es gab nur Andeutungen —, uns endlich zu sagen, was in diesem Solidarpakt wirklich konkret stehen soll. In diesen Tagen stand in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung": „Kohl fordert weitere Hilfen für Ostdeutschland. " Herr Kohl, Sie mißverstehen Ihre Rolle. Vor lauter Aussitzen haben Sie vergessen: Sie sind die Bundesregierung; Sie können nicht fordern, Sie müssen handeln; und die Menschen warten darauf.

(Beifall bei der SPD)

Es ist ganz sicher unser gemeinsamer Wille, die deutsche Einheit auch im Innern zu verwirklichen. Wenn aber jemand auch moralisch dafür ganz besonders in der Pflicht steht, dann sind Sie es, Herr Bundeskanzler, der Sie den Menschen in Ostdeutschland in zwei bis drei Jahren ein blühendes Land versprochen haben. Handeln Sie wenigstens jetzt!
Den von Ihnen angekündigten Solidarpakt brauchen wir dringend: zum Aufbau im Osten, zur Bekämpfung der Wohnungsnot in Ost und West und für eine gerechte und solide Finanzierung. Wir Sozialdemokraten haben einen solchen Solidarpakt lange angemahnt. Leider haben Sie immer und immer wieder nein gesagt. Kostbare Zeit wurde vertan.



Ingrid Matthäus-Maier
Heute haben Sie in der Frage der Erhaltung von industriellen Standorten endlich Bewegung gezeigt. Das ist gut. Aber, Herr Bundeskanzler, können Sie nicht etwas früher aus Ihrer Neinsagerecke kommen? Zu unseren Vorschlägen immer erst nein zu sagen und sie nur dann aufzugreifen, wenn Sie mit dem Rücken an der Wand stehen, das hilft den Menschen nicht.

(Beifall bei der SPD)

Seit der Ankündigung des Solidarpakts ist nun fast wieder ein Vierteljahr verstrichen, und Konkretes liegt immer noch nicht auf dem Tisch. Die Öffentlichkeit wird zunehmend unruhiger. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt z. B.:
Da finden täglich neue Spitzen- und Geheimgespräche über jenen Solidarpakt statt, von dem diese Bundesregierung offenbar eine ähnlich klare Vorstellung hat wie Fritzchen vom Christkind.

Dr. Norbert Herr (CDU):
Rede ID: ID1212302200
Wir Sozialdemokraten werden uns unter dem Stichwort Solidarpakt an einer weiteren Entsolidarisierungsaktion nicht beteiligen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie unsere Befürchtungen nicht teilen, dann darf ich doch die Befürchtung zitieren, die Professor Wolfram Engels in der „Wirtschaftswoche" niedergeschrieben hat:
In der Not muß ein Solidarpakt her. Der wäre auch bitter nötig. Den Gewerkschaften wird dabei ein Lohnstopp, Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, Karenztage, höhere Beiträge zur Sozialversicherung bei gleichzeitiger Senkung der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer auf Unternehmensgewinne zugemutet. Ein Gewerkschaftsführer, der das akzeptierte, könnte auch gleich Harakiri begehen. Damit haben wir die Zutaten: eine Vereinigungsstrategie, die die Finanzlasten ins Ungemessene steigen läßt, eine Steuerpolitik, die die Konjunktur ruiniert, und eine Einkommenspolitik, die den sozialen Frieden gefährdet. Das Ganze mit einem kräftigen Schuß Rechtsradikalismus verrührt, gibt einen gefährlichen Brandsatz für die Wirtschaft und für den Wohlstand. Nicht die Lage ist bedrohlich, sondern die Politik.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Engels hat auch schon viel Unfug geschrieben! — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo ist sein Konzept? Und wo ist Ihres?)

Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, wir haben keine Zeit für Verteilungskämpfe, dann gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Aber dann hören Sie endlich auf, Umverteilung von oben nach unten zu betreiben, wie wir es in allen Steuergesetzen gesehen haben!

(Zurufe von der CDU/CSU: Umgekehrt!)

— Jetzt habe ich mich versprochen. Ich meine natürlich: Dann hören Sie auf, Umverteilung von unten
nach oben zu betreiben. Ich bedanke mich für die Korrektur.

(Siegrfried Hornung [CDU/CSU]: Das glaubt kein Mensch mehr! — Eduard Oswald [CDU/ CSU]: Immer das gleiche!)

Was wir brauchen, sind endlich konkrete Maßnahmen zum Aufbau im Osten und eine Korrektur der investitionsfeindlichen Eigentumsregelungen. Herr Bundeskanzler, Sie haben die Wahnsinnsbürokratie beklagt, die auch im Osten aufgebaut werden muß. Ich gebe Ihnen recht. Aber bevor Sie über alles mögliche sprechen: Machen Sie sich doch an diese Eigentumsregelung! Wenn in einer Stadt wie Quedlinburg mit 29 000 Einwohnern 30 000 Rückgabeansprüche existieren, dann wird es noch bis zum Jahr 2000 dauern, bis das abgewickelt ist. Diese Bürokratie kann man am besten dadurch auflösen oder verringern, daß man eine Korrektur der Eigentumsregelung vornimmt.
Wir brauchen selbstverständlich mehr private Investitionen, aber dann reicht die von Ihnen vorgesehene Aufstockung der Investitionszulage auf 20 %, die wir begrüßen, nicht aus, wenn sie ausschließlich auf Investitionen bis 1 Million DM beschränkt wird. Wir müssen selbstverständlich auch größere Investitionen in den neuen Ländern mit einer höheren Investitionszulage unterstützen. Wir brauchen drittens eine Absatzförderung für ostdeutsche Produkte, und wir brauchen viertens das von meinem Fraktionsvorsitzenden Klose bereits genannte Zukunftsinvestitionsprogramm Ost über zehn Jahre mit einem jährlichen Volumen von 10 Milliarden DM z. B. für den Aufbau und Ausbau der Infrastruktur und für Abwasseranlagen und Kläranlagen.
Ich muß insbesondere die Ost-Abgeordneten in der CDU und F.D.P. fragen: Warum können Sie sich in der Koalition nicht endlich durchsetzen, daß die Investitionspauschale für die Kommunen, die im Jahr 1991 so segenreich war, spätestens 1993 wieder eingeführt wird?

(Beifall bei der SPD)

Und wir brauchen endlich den gesetzlichen Sanierungsauftrag für die Treuhand. Die einseitige Festlegung auf die Privatisierung ist volkswirtschaftlicher Unsinn. In Westdeutschland haben wir VW, VEBA und Salzgitter auch erst jahrzehntelang saniert, bevor wir sie privatisiert haben. Warum muß denn das, wofür wir uns im Westen Jahrzehnte Zeit genommen haben, nun im Osten in drei Jahren über die Bühne gehen, meine Damen und Herren?
Schließlich: Wer vor allem die Treuhandanstalt für die Entindustrialisierung verantwortlich macht, sucht sich den falschen Schuldigen.

(Beifall bei der SPD)

Politisch verantwortlich ist der Eigentümer und Dienstherr der Treuhand, nämlich die Bundesregierung. Ich bleibe dabei, Herr Finanzminister: Wenn sich z. B. Herr Waigel mit der gleichen Energie der Treuhandanstalt zuwenden würde, mit der er sich für den Bau des Jägers 90 einsetzt, dann wären wir im



Ingrid Matthäus-Maier
Osten Deutschlands weiter, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unter allem Niveau!)

Zum Solidarpakt gehört auch eine solide und gerechte Finanzierung. Voraussetzung dafür ist der Kassensturz. Herr Bundeskanzler, Sie haben auf Ihrem Bundesparteitag von der „Stunde der Wahrheit" gesprochen, und das „Handelsblatt" spottete darüber: „Die vom Kanzler ausgerufene Stunde der Wahrheit kommt rund 25 000 Stunden zu spät."

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber nicht nur das, meine Damen und Herren, auch diese Stunde der Wahrheit war wieder nur eine Stunde der Halbwahrheit. Denn noch am gleichen Tag hat Verkehrsminister Krause eine allgemeine Autobahngebühr auch für Pkws für 1994 angekündigt. Und die Erhöhung der Mineralölsteuer ist ja auch schon eine ausgemachte Sache, wenn sich der Finanzminister gestern auch noch nicht traute, es öffentlich zu sagen; aber in seinem Redemanuskript stand es ja drin.
Nein, meine Damen und Herren, nach den leidvollen Erfahrungen mit Ihren Steuerversprechungen in den letzten Jahren weiß jeder, daß diese Bundesregierung schon vor 1995 die Steuern anheben wird. Herr Kohl, hören Sie doch auf, die Leute zu verkohlen, die sind nicht so dumm, wie Sie sie dafür halten.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Der Vergleich ist nicht richtig!)

Die Haushaltsdebatte heute hat etwas Gespenstisches. Jeder weiß, daß es 1993 dicke Etatlöcher gibt. Sie geben es ja selber zu, indem Sie einen Nachtragshaushalt ankündigen. Warum brauchen Sie einen Nachtragshaushalt, wenn Ihr Haushalt in Ordnung ist, meine Damen und Herren?

(Widerspruch und Zurufe von der CDU/ CSU)

Risiko Nummer eins sind die zunehmenden Kosten der Arbeitslosigkeit; zweitens, täglich neue Schrekkensmeldungen über das Defizit der Bahn; drittens ein offensichtlich überzogener Optimismus bei den Steuereinnahmen.
Viertens — Herr Bundeskanzler, auch hier spreche ich Sie persönlich an —: Sie haben für die Steuerbefreiung des Existenzminimums beim Grundfreibetrag zu wenig Geld eingesetzt. Jedermann weiß, Karlsruhe hat sie dazu verurteilt. Sie haben jetzt aber eine unzureichende Regelung vorgeschlagen. Sie müssen wissen, ich habe mich viele Jahre dafür eingesetzt, daß Paare ohne Trauschein gegenüber anderen nicht benachteiligt werden. Aber daß nun in Ihrer Regelung Paare ohne Trauschein eine Steuerfreiheit von 24 000 DM erhalten, während Ehepaare — mit Trauschein — eine Steuerfreiheit von nur 19 000 DM haben, ist offensichtlich verfassungswidrig. Und für einen Bundeskanzler, der dauernd das Wort von der heilen Familie im Munde führt, ist das wirklich nicht zu
verstehen. Sie werden das ändern müssen, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der SPD)

Ich sehe, daß Sie offensichtlich in Kontakt mit Ihrem Finanzminister treten, weil Sie das selber nicht glauben können, Herr Bundeskanzler. Auch ich habe es nicht geglaubt, bis ich es schwarz auf weiß gesehen habe.
Wir haben den Vorschlag einer vernünftigen Anhebung des Grundfreibetrags gemacht, und wir haben Ihnen mit unserem Vorschlag einer ökologischen Steuerreform die Finanzierung gleich mitgeliefert.
Am tollsten treiben Sie es aber mit ihrem Maßnahmenpaket für den Aufbau im Osten. Bis zu 20 Milliarden DM sollen es angeblich sein. Zusätzliche Kosten für den Bundeshaushalt 1993 sollen aber angeblich nicht entstehen. Beides zusammen kann ja wohl nicht wahr sein.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ja, doch!)

Nein, alle Welt weiß bis in die Koalition hinein, daß dieser Bundeshaushalt nicht zu halten ist. Der einzige, der Tag und Nacht unverdrossen weiter erzählt, er habe den Haushalt im Griff, ist der Finanzminister. Aber bei dem Finanzminister werden die Verfallsdaten seiner Finanzprognosen immer kürzer. Auf dem CDU-Parteitag hieß es mittwochs noch, von Haushaltslöchern könne keine Rede sein. Am Freitag darauf fehlten bereits 5 Milliarden DM, am Montag darauf fehlten bereits 7 Milliarden DM, und am Dienstag fehlten schließlich 10 Milliarden DM. Ich meine, einen Finanzminister, dessen Zahlen man so wenig trauen kann, kann sich unser Land nicht länger leisten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Ich weiß, Herr Bundeskanzler, Sie werden Ihren Finanzminister nicht entlassen, denn schließlich ist er ja Parteivorsitzender der CSU.

(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Warum sollte ich es auch tun! — Dr. Wolfgang Bötsch CDU/CSU: Weil er ein guter Mann ist!)

Jedermann weiß, daß Ihnen der Machterhalt in dieser Koalition wichtiger ist als solide Staatsfinanzen, meine Damen und Herren.
Es ist ja schon schlimm genug, daß wir einen Bundeskanzler haben, der von Finanzen nicht ganz so viel versteht, sage ich mal höflich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber, aber!)

Aber das dieser Bundeskanzler auch noch einen Finanzminister hat, der die Finanzen nicht im Griff hat, bringt das Faß zum Überlaufen. Und deswegen sind Sie heute ein Standortnachteil Nummer eins, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Für die Finanzierung der Einheit versuchen Sie jetzt dauernd neue Dukatenesel zu finden: Investitionsanleihe, Zwangsanleihe, Deutschlandanleihe. Wie wäre es denn, wenn Sie einmal eine Anleihe beim finanzwirtschaftlichen Sachverstand nehmen würden, dann würden Sie nämlich merken: Es gibt nur drei Arten, wie der Staat an Geld kommen kann:



Ingrid Matthäus-Maier
Sparen, Steuererhöhungen oder Schulden machen. Der Weg über eine noch höhere Schuldenmacherei ist weitestgehend verbaut, meine Damen und Herren. Schon jetzt ist der Staat bis über die Halskrause verschuldet. 1,7 Billionen DM beträgt der Schuldenberg bereits heute.
Meine Damen und Herren — und das geht vor allem an die Zuschauer—: Viele von Ihnen meinen, sie seien schuldenfrei. Das Häuschen ist abbezahlt — schuldenfrei. Das ist nicht der Fall. Auf jeden Bürger dieses Landes lasten Staatsschulden von 21 000 DM.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Das bedeutet für eine vierköpfige Familie eine Schuldenlast von 84 000 DM.
Sie haben einmal gesagt, Herr Bundeskanzler, Ihr Markenzeichen sei, daß Sie keine Schulden machen.

(Bundesminister Dr. Waigel: Wie ist das in Nordrhein-Westfalen?)

Nein, Ihr Markenzeichen ist, daß Sie weit mehr Schulden machen als alle Ihre Vorgänger.
Schon in diesem Jahr muß die öffentliche Hand 128 Milliarden DM Zinsen auf diese Staatsschulden zahlen. Jeden Tag 350 Millionen DM Zinszahlungen der öffentlichen Hand auf den öffentlichen Schuldenberg. Das ist fast jede sechste Steuermark und 1996 fast jede fünfte Steuermark.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wenn der Präsident des Bundesrechnungshofes, ein sehr besonnener Mann, sogar vor einer Währungsreform warnt, meine Damen und Herren, dann ist das das verzweifelte Signal an die Regierung, mit ihrer Schuldenpolitik nicht so weiterzumachen und das Ruder in der Finanzpolitik endlich herumzureißen.

(Beifall bei der SPD)

Die Bundesrepublik erfüllt wegen ihrer maßlosen Schuldenpolitik übrigens nicht einmal die Stabilitätskriterien von Maastricht für die Europäische Währungsunion.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212302300
Frau Abgeordnete Matthäus, Graf Lambsdorff möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212302400
Ja.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212302500
Dann bitte schön.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1212302600
Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind Sie in der Tat der Ansicht, daß es ein Zeichen von Besonnenheit des Präsidenten des Bundesrechnungshofs ist, uns ausgerechnet im „währungspolitischen Fachteil" der „Bild"-Zeitung die bevorstehende Währungsreform anzudrohen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Heiterkeit)


Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212302700
Wo sich der Präsident des Rechnungshofs äußert, ist mir, Graf Lambsdorf,
völlig egal. Wenn aber ein solcher Mann, der ja nicht Mitglied der SPD, sondern der CDU ist, ein solches Wort in den Mund nimmt, dann zeigt das, wie tief besorgt er über die Staatsschulden in diesem Lande ist, und das sollten Sie ernst nehmen und nicht die Frage, ob er es in der „Bild"-Zeitung oder im „Spiegel" sagt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212302800
Die Antwort war nicht so befriedigend, daß er Sie nicht noch einmal fragen möchte.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212302900
Dann muß ich das zurücknehmen.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1212303000
Darf ich daraus schließen, verehrte Frau Kollegin, daß Sie für unsere Debatte die Zitate überall da sammeln, wo Sie ihnen gefallen?

(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)


Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212303100
Ich sammle Zitate da, wo sie stimmen, Graf Lambsdorff, und aus der Tatsache, daß Sie an diesem Punkt immer wieder nachfragen, schließe ich, daß Sie das nervös macht. Herr Zavelberg ist von Gesetzes wegen verpflichtet, auf die Staatsfinanzen und darauf zu achten, ob die Politik und die Regierung ordentlich damit umgehen. Wenn ein solcher Mann das Wort „Währungssreform" in den Mund nimmt, dann zeigt das seine enorme Sorge darüber, daß Sie die Finanzen nicht mehr in den Griff bekommen. Das sollte Ihnen ein Warnsignal sein und nicht ein Grund, über ihn zu spotten.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212303200
Frau Abgeordnete, ich muß Sie auf die Gefechtslage aufmerksam machen. Graf Lambsdorff möchte noch eine Zwischenfrage stellen, Herr Abgeordneter Dr. Schäuble ebenfalls. Sind Sie bereit, beide zu beantworten?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212303300
Ja, sicher.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1212303400
Darf ich Ihnen nur sagen, verehrte Frau Kollegin, daß wir in einem Punkt durchaus übereinstimmen, nämlich bei Ihrer Feststellung, daß Nervosität einer der Grundzüge meines Wesens ist?

(Heiterkeit)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212303500
Das Fragezeichen denkt sich jeder hinzu. Nun kommt Herr Dr. Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1212303600
Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls zu bestätigen, daß der Präsident des Bundesrechnungshofs ausdrücklich erklärt hat, daß er in dem genannten Fachblatt völlig falsch zitiert worden ist und daß er im Zusammenhang mit unserer derzeitigen Lage den Begriff der Währungsreform überhaupt nicht für angebracht hält?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212303700
Herr Kollege Schäuble, ich muß dem widersprechen. Ich habe die Auseinandersetzung zwischen der Koalition und dem



Ingrid Matthäus-Maier
Präsidenten des Rechnungshofs sehr genau verfolgt. Der Präsident des Rechnungshofs hat schriftlich ein Interview herausgegeben, in dem ausdrücklich steht — wenn Sie es wünschen, werde ich es Ihnen gern holen; aber ich zitiere aus dem Kopf —, daß er eine Währungsreform nicht unmittelbar bevorstehen sieht — was ja offensichtlich nicht der Fall ist —, daß er diese aber nicht ausschließen kann, wenn die Finanzpolitik das Ruder nicht endlich herumreißt. Ich wundere mich, warum Sie immer wieder versuchen, dieses Wort aus der Debatte zu bringen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Weil es Unsinn ist!)

Warum kann es nicht für uns alle ein Signal sein, daß wir in der Finanzpolitik endlich den Weg der maßlosen Schuldenerhöhung nicht weitergehen?

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Wir wollen Sie daran hindern, weiter Unsinn zu reden, aus reiner Fürsorge für Sie!)

Meine Damen und Herren, es gibt den schönen Satz: Eltern haften für ihre Kinder. Ich sage Ihnen: Hier ist es umgedreht. Mittlerweile haften unsere Kinder und sogar unsere Enkel für den maßlosen Schuldenberg, den wir anhäufen. Das darf nicht so weitergehen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Schäuble, mein Eindruck ist, daß Sie — auch wenn der Kanzler sagt: Steuererhöhungen erst ab 1995; ich bin sicher, sie kommen vorher — nach dem Motto handeln: Nach uns die Sinntflut. Offensichtlich haben Sie sich schon damit abgefunden, daß sie nach 1994 nicht mehr die Bundesregierung stellen. Denn Sie verschieben die Steuererhöhung auf 1995, Sie verschieben die enormen Zinszahlungen auf die Zeit danach, Sie machen die maßlose Schuldenpolitik ebenfalls für die Zeit danach. Mein Eindruck ist der: Herr Bundeskanzler, wenn Sie und Ihr Finanzminister weiter so maßlos Schulden machen wie bisher, dann braucht der nächste Bundeskanzler keinen Finanzminister, sondern einen Konkursverwalter.

(Beifall bei der SPD — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Wenn Sie nicht so maßlos übertrieben, würden wir Sie ernst nehmen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es gibt Leute, die meinen, in dieser konjunkturpolitischen Lage dürfe man unbegrenzt neue Schulden machen.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das heißt also, Sie werden es nicht?)

Aber Sie befinden sich in einer selbstgestellten Schuldenfalle. Denn in den zehn Jahren, die Sie im Amt waren, hatten wir weltweit eine gute Konjunktur, und Sie haben diese Zeit trotz der 100 Milliarden DM Bundesbankgewinn nicht genutzt, um öffentliche Schulden zurückzufahren, geschweige denn um sich eine Reserve für schlechtere Zeiten anzulegen.
Das Zeichen der Zeit ist Sparen, ist Umschichten, ist Maßhalten. Aber — und damit komme ich zum Schluß —, Herr Bundeskanzler: Wir Sozialdemokraten haben zahlreiche Sparvorschläge gemacht. Sie kennen sie: von dem Verzicht auf die Senkungen bei der Gewerbe- und Vermögensteuer in Höhe von
4,5 Milliarden DM über die Kürzungen im Verteidigungshaushalt, über die Kürzungen bei der bemannten Raumfahrt, bei den EG-Agrarexportsubventionen und bei den Steuersubventionen. Können Sie, Herr Waigel, eigentlich jemandem erklären, warum in unserem Lande Schmiergelder steuerlich absetzbar sind? Lassen Sie uns das gemeinsam ändern. Das allein bringt 100 Millionen DM.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Warum haben Sie es nicht geändert, als Sie in der Regierung waren?)

— Darüber können wir gern sprechen. Aber Sie sind jetzt zehn Jahre dran, Herr Waigel. Deswegen lassen Sie uns das gemeinsam abschaffen.
Mein vorletzter Punkt: Auch beim Jager 90 werden wir nicht lockerlassen.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Zehnmal haben Sie das gefordert!)

— Ja, zehnmal habe ich das gefordert, und dann hat Herr Rühe versprochen, er wolle den Jäger 90 einstellen. Ein Vierteljahr später hat dann diese Bundesregierung gesagt: Nein, den Jäger 90 wollen wir zwar nicht, aber wir haben jetzt eine Billigversion. Was verstehen Sie denn eigentlich unter „billig"? Auch die Billigversion des Jäger 90 soll pro Stück 90 Millionen DM kosten. Für 90 Millionen DM kann ich tausend Sozialwohnungen bauen. Dieses Land braucht Sozialwohnungen, nicht den Jäger 90 und auch nicht einen Jäger light.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212303800
Frau Abgeordnete, Sie hatten dankenswerterweise angekündigt, daß Sie zum Schluß kommen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich daran halten würden.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212303900
Herr Bundeskanzler, den letzten Punkt kann ich Ihnen nicht ersparen. Er bringt keine Milliarden. Er bringt ungefähr 10 bis 20 Millionen, wenn Sie anfangen. Aber ich frage Sie: Wie können Sie eigentlich hierherkommen, die Menschen zum Maßhalten auffordern, die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zum Maßhalten auffordern und gleichzeitig bei 62 Staatssekretären bleiben? Sie hätten heute ankündigen können, diese Zahl um 20 zu reduzieren. Es ist eine Schande, daß Sie das nicht getan haben.

(Beifall bei der SPD)

Das wäre ein Signal für die Zukunft gewesen: für solide Finanzen, für gerechte Finanzen und für den Aufbau Ost.
Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212304000
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Bötsch das Wort.

Dr. Wolfgang Bötsch (CSU):
Rede ID: ID1212304100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, die Sie im Saal bleiben wollen! Auch diejenigen, die den Saal verlassen



Dr. Wolfgang Bötsch
wollen, seien von mir noch freundlich zum Abschied gegrüßt. Mein Kollege aus dem Wahlkreis bleibt jedenfalls hier. Das zeigt unsere persönliche Verbundenheit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Zuhörer, auch wenn die Opposition in den letzten Tagen und auch heute wieder versucht, die Leistungen der Bundesregierung, insbesondere des Bundesfinanzministers, zu diffamieren: Tatsache bleibt: Der Bundeshaushalt 1993 steht in der Kontinuität einer verantwortungsvollen Finanzpolitik, mit der diese Koalition seit Beginn der deutschen Einheit die gewaltigen finanziellen Herausforderungen gemeistert hat. Daran führt kein Weg vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Um das nachzuvollziehen, bräuchte die Opposition eigentlich nur ein ganz kurzes Gedächtnis. Denn am 14. November 1990, also noch vor der letzten Bundestagswahl, wurden die Eckwerte des Haushalts 1991 und für die Finanzplanung vorgelegt. Das war schon eine Leistung an sich. Aber damit nicht genug: Diese Eckwerte konnten sogar noch erheblich unterboten werden. So hat es sich für den Haushalt 1992 fortgesetzt, und so setzt es sich auch für den Haushalt 1993 fort. Im ursprünglichen Finanzplan war für das Jahr 1993 eine Neuverschuldung von 45,1 Milliarden DM vorgesehen. Dies wird jetzt um 2,1 Milliarden DM unterboten. Darauf muß immer wieder hingewiesen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für diese solide Arbeit danke ich dem Bundesfinanzminister, der dafür die vorderste Verantwortung trägt. Ich bedanke mich beim Bundeskanzler, aber auch bei der gesamten Bundesregierung, weil nur die Einsicht aller Ressorts zu einer so soliden Haushaltspolitik führen kann. Denn jeder mußte ja bei seinen Wünschen Abstriche in den einzelnen Bereichen hinnehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich kann verstehen, wenn sich die SPD nicht mehr an ihre Haushaltspolitik in den 70er Jahren erinnert oder auch nicht erinnern lassen will. Daß Sie, verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, ein so kurzes Gedächtnis haben und sich beispielsweise nicht mehr an das Jahr 1990 erinnern können, wundert mich schon. Nein, Sie ziehen es vor, Verunsicherung zu streuen, zur Verunsicherung beizutragen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das alte Spiel!)

Hier muß ich Ihre Äußerungen der letzten Tage, von vorgestern etwa, einordnen, wo Sie wieder neue Haushaltslöcher entdeckt haben wollen. Hier muß ich auch Ihre heutige Rede einordnen, die ich im Grunde genommen nur unter der Rubrik „Panikmache " ablegen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Rede verunsichert die Menschen, sie verunsichert die Wirtschaft und ist damit der notwendigen konjunkturellen Entwicklung abträglich. Sie sollten zu einer sachlichen Darstellung, zu einer sachlichen
Politik und zu einer vernünftigen Mitarbeit zurückkehren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es war immerhin bemerkenswert, daß Sie den Jäger 90 heute erst nach zwölf Minuten Ihrer Redezeit gebracht haben; normalerweise leiten Sie Ihre Beiträge allüberall, wo Sie Gelegenheit haben zu sprechen, damit ein. Sie sind dann noch einmal am Schluß auf den Jäger 90 in einer Art und Weise zurückgekommen, die den Verteidigungsnotwendigkeiten unseres Landes und den Sicherheitsbedürfnissen unserer Piloten nicht gerecht wird. Darauf muß man hinweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, es ist doch kein Hobby, wenn wir uns um die Verteidigung Sorgen machen und hier die notwendigen Beschlüsse treffen. Das gilt für die Landesverteidigung, für die Seestreitkräfte und natürlich auch für unsere Luftwaffe. Hier kann es kein abgestuftes Sicherheitskonzept für unsere Soldaten geben. Wir müssen das tun, was notwendig ist, und verantwortlich danach handeln.
Frau Matthäus-Maier, als Sie über Schuldenmachen gesprochen haben, ist mir das Beispiel von dem Bernhardiner eingefallen, der einen Wurstvorrat anlegen will. Meine Damen und Herren, bevor Sozialisten mit Geld umgehen können, kann der Bernhardiner wirklich einen Wurstvorrat anlegen. Das kann man angesichts Ihrer Haushalts- und Finanzpolitik, die Sie jahrzehntelang betrieben haben, wirklich sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich weiß auch nicht, warum Sie nach der auf Zusammenarbeit angelegten Rede des Bundeskanzlers in dieser Form geantwortet haben.

(Hans Klein [CDU/CSU]: Das Manuskript war schon fertig!)

Entweder war es schon notiert, oder Sie wollten bewußt einen Akzent setzen, um innerparteilich die Sache gegenüber jedenfalls großen Teilen der Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden wieder auszugleichen.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen doch ganz genau, daß die Vorwürfe, die Sie gegenüber der Bundesregierung oder personifiziert gegenüber dem Bundesfinanzminister ausgesprochen haben, daß die Finanzprobleme so sind, wie sie sind, Unsinn sind. Sie wissen es doch besser. Sie wissen doch um die katastrophale Mißwirtschaft in der ehemaligen DDR durch die PDS, die inzwischen den Saal verlassen hat, und ihre Vorgängerpartei SED, um die dadurch bedingten gewaltigen Reparaturarbeiten, die diesen Haushalt und die weiteren Maßnahmen so stark anspannen, und die Erblast, die dieses marode System hinterlassen hat.
Der Bundesfinanzminister und die anderen Redner haben gestern im Detail Ausführungen dazu gemacht. Es wird an Hand der Einzelpläne Gelegenheit geben, dazu noch etwas zu sagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Fraktionsvorsitzende der SPD hat seine Rede damit eingeleitet, daß er Abscheu und Empörung über den feigen Brandanschlag in Mölln geäußert hat. Wir alle



Dr. Wolfgang Bötsch
haben ihm mit gutem Grund zugestimmt. Ich glaube, wenn die drei türkischen Mitbürger, die dort umgebracht worden sind, an unserem geistigen Auge vorüberziehen, dann muß das jeden mit Trauer und Abscheu erfüllen. Unser Mitgefühl gilt den Familienangehörigen.
Ich sage: Jeder, der sich in Deutschland aufhält, der in Deutschland lebt, der unter uns lebt, auch derjenige, der sich hier möglicherweise unberechtigt aufhält, hat das gleiche Anrecht auf Integrität, auf Sicherheit seines Lebens wie jeder andere Mitbürger.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist die vornehmste Aufgabe des Staates, diese Sicherheit tatsächlich zu gewährleisten.
Insofern habe ich mich über das, was Kollege Klose heute zu den Fragen der inneren Sicherheit und zur Erziehung unserer Kinder auch in der Schule

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und in der Familie!)

gesagt hat, gefreut. Ich kann Ihnen aber nicht ersparen, an einiges zu erinnern, was in der Vergangenheit zu diesen Themen von Ihrer Partei geäußert worden ist.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bis zum heutigen Tag!)

Ich erinnere mich z. B. daran, daß in der Koalitionsvereinbarung der SPD und der AL in Berlin vom 8. März 1989 folgendes gefordert wurde — ich zitiere —:
Die Beobachtung extremistischer Bestrebungen ist auf das enge Maß zu beschränken, das sachlich und rechtsstaatlich unabweisbar ist.
Es muß eine „Überprüfung der Führungsstrukturen und der Strukturen der Einsatzabteilungen" der Polizei vorgenommen werden. Es darf „keine Sondereinheiten" geben. Es muß ein „Abbau von Feindbildern auf allen Seiten" stattfinden.
Meine Damen und Herren, welches Feindbild hat die Polizei eigentlich abzubauen? Die Polizei hat kein Feindbild. Sie hat die Aufgabe — die sie von uns erhält —, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

„... so wenig sichtbare Polizeipräsenz wie möglich", heißt es in dieser Vereinbarung. — Alles mit der SPD in Berlin damals so beschlossen.
Die „Berliner Morgenpost" meldete am 21. September 1989:
Der parlamentarische Hauptausschuß im Berliner Abgeordnetenhaus hat mit den Stimmen der rot-grünen Koalition Kürzungen von etwa 5 Millionen DM im Polizeihaushalt vorgenommen. So wurden u. a. die Mittel zur Intensivierung von Fahndungsmaßnahmen um 150 000 DM gekürzt.
Kollege Lafontaine, der Herr Ministerpräsident, hat laut „Spiegel" vom 1. Juli 1985 angemerkt:
... auch für den NPD-Lehrer gilt der Grundsatz „gleiches Recht für alle".
So weit, so gut.
Auch bei ihm kommt es,
— das war natürlich für einen Radikalenerlaß anderer Art gedacht —
wie bei jedem anderen, auf sein dienstliches Verhalten an, nicht darauf, was er auf irgendwelchen politischen Veranstaltungen zum besten gibt.
Meine Damen und Herren, als ob man trennen könnte, wenn ein Lehrer Vorbild sein soll, wo und in welcher Form er sich zu unseren Fragen der Menschenwürde und ähnlichem äußert.
Gerhard Schröder, damals Bundesvorsitzender der Jusos: „Besondere Treueverpflichtungen" der Beamten dem Staat gegenüber seien „überflüssig" ; der Beamte brauche nur „im Dienst" Gesetze und Grundgesetze einzuhalten. — Nein, wir erwarten eine Treuepflicht gegenüber dem Staat allüberall. Das unterscheidet uns.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es kommt aber noch schlimmer. Mit der Entscheidung im März 1991, den Verfassungsschutz um 36 % zu verringern, hat gerade Schleswig-Holstein ein unverständliches und falsches Zeichen gegeben. Sie haben heute davon gesprochen, der Verfassungsschutz müsse mehr eingesetzt werden. Erst kürzlich, im Oktober, hat die Landtagsmehrheit in Niedersachsen gegen die Stimmen von CDU und F.D.P. ein neues Verfassungsschutzgesetz beschlossen, mit dem das Aufgabengebiet des Verfassungsschutzes erheblich beschnitten wird.
Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, Beschneidungen vorzunehmen, sondern möglicherweise auch den Verfassungsschutz in die Lage zu versetzen, beispielsweise im Vorfeld die Polizei zu warnen, wenn terroristische Aktivitäten, von welcher Seite auch immer, zu befürchten sind. Das ist die Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, für CDU und CSU gibt es in der Bekämpfung von Radikalen keinen Unterschied, egal, ob von links oder von rechts.
Herr Klose, ich war so fair und habe nicht zitiert, was Sie im Jahre 1978 als Hamburger Bürgermeister im Vorfeld der hessischen Landtagswahl zu den Fragen des Radikalenerlasses in einem ausführlichen Interview mit „Konkret" gesagt haben. Nachdem Sie mich aber auffordern, will ich dazu schon noch etwas sagen.
Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Gewalt ist wirklich durch nichts zu rechtfertigen, gegenüber niemandem, auch nicht gegenüber Sachen. Wer erinnert sich nicht an die juristischen Seminare, in denen lange nachgewiesen wurde oder doch darüber nachgedacht wurde, ob man nicht gegen Sachen doch etwas Gewalt anwenden könnte, auch wenn Gewalt gegen Personen nicht zu wünschen sei? Wer früher zwischen Legitimität und Legalität — in dieser Form jedenfalls — unterschieden hat, der muß für sich



Dr. Wolfgang Bötsch
selber über die Verantwortung, die er möglicherweise an der Entwicklung trägt, Rechenschaft ablegen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren, manchmal standen wir da schon allein. Es grenzt schon an Heuchelei, wenn das konsequente Vorgehen der Polizei beim Weltwirtschaftsgipfel in München als politischer Mißbrauch der Polizei gegeißelt wird und wenige Wochen später in Rostock dann mit Recht gefordert wird, daß die Polizei einzugreifen hat. Es gilt in beiden Fällen, daß die Polizei die Sicherheit der Bürger und die Sicherheit unserer Gäste zu gewährleisten hat. Man kann nicht in einem Fall so und im anderen Fall so operieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Jeder Mordversuch ist unfaßbar und ist schrecklich. Wer so etwas will oder billigend in Kauf nimmt, dem fehlt die Achtung vor der Würde und dem Leben des Menschen, jedes Menschen.
Wenn Sie, Herr Kollege Klose, heute davon gesprochen haben, man müsse wieder mehr den Erziehungsgedanken hereinbringen, dann kann ich nur sagen: Das ist eine fundamentale Kritik an über zwei Jahrzehnten Pädagogik der SPD.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die von vielen SPD-Kultusministern befürwortete antiautoritäre Erziehung und die sogenannte Erziehung zur Kritikfähigkeit waren im Grunde genommen Synonyme für Nichterziehung, wenn man sich das genau anschaut.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wollen Sie keine kritischen Bürger?)

SPD und GEW haben hier Vorreiter gespielt, lange, lange bevor es die GRÜNEN überhaupt gegeben hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Leider heute noch!)

Als die CDU damals in den 70er Jahren einen Kongreß unter dem Titel „Mut zur Erziehung" durchgeführt hat,

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Richtig!)

traf sie auf das Hohngelächter der SPD und ihrer Kultusminister.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Von allem, was links und rot war!)

Hauptantreiber waren damals der SPD-Kultusminister von Hessen, Herr Friedeburg, mit den berühmten hessischen Rahmenrichtlinien — unser Ehrenvorsitzender Dr. Dregger war als hessischer Landesvorsitzender ein Hauptkämpfer gegen diese Rahmenrichtlinien — und sein Parteifreund Herr von Oertzen in Niedersachsen, der ihm in dieser Reihe gefolgt ist.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die roten Barone!)

Ich sage Ihnen: Ich freue mich über den Kurswechsel,
den die SPD nach Ihrer Rede in dieser Frage jetzt
vorgenommen hat. Wir sollten gemeinsam darauf zurückkommen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Hoffentlich bleiben sie nicht auf halbem Weg stehen!)

Meine Damen und Herren, ich stelle in der SPD Widersprüche auch in den Fragen der inneren Sicherheit und der Rechtspolitik fest. Am 3. September hat der SPD-Vorsitzende Engholm in einer deutschen Illustrierten gesagt:
Der Staat muß sich gegen Gangster wehren können, auch mit versteckten Kameras und Anlagen.
Aber er hat sich jedenfalls bisher gegenüber seiner Partei offenbar nicht durchsetzen können; denn in dem sogenannten SPD-Sofortprogramm von letzter Woche findet sich dazu kein Wort.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja, da ist es nicht drin!)

Unzureichend ist auch — ich will auch darauf nur kurz eingehen —, was Sie als Vorschlag zur Novellierung unseres Asylrechts vorgelegt haben. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere oder hat es gelesen, daß ich hier in der Debatte zur Asylgesetzgebung, die wir geführt haben, zu unserem Entschließungsentwurf schon gesagt habe, daß ich befürchte, daß sich der Duft vom Petersberg bald wie schwaches Parfüm verflüchtigen könnte. Wenn ich mir den Beschluß des Parteitags der SPD ansehe, dann hat sich diese meine Befürchtung leider bewahrheitet; ich habe hier leider Recht gehabt.
Doch ich bin guten Mutes: Der Parteitagsbeschluß kann in unserer repräsentativen Demokratie, für die wir gemeinsam stehen, sicherlich nicht das Maß aller Dinge sein. Herr Kollege Klose, ich will ausdrücklich Ihr Bemühen anerkennen, sich im Vorfeld der Verhandlungen auch für die Fraktion den Rücken freizuhalten. Deshalb will ich doch hoffen, daß wir in der Sache ein richtiges Ergebnis bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Franz Müntefering [SPD]: Das sagt die CSU!)

— Ja, die SPD hat sich in der Sache bewegt. Aber bis dato hat sie sich leider noch nicht genügend bewegt, um zu einem sachgerechten Ergebnis zu kommen. Es bleibt dabei!

(Beifall bei der CDU/CSU — Franz Müntefering [SPD]: Und jetzt das Wort an die F.D.P., Herr Bötsch!)

— Zur F.D.P. unterscheiden wir uns in den Fragen nur noch marginal.

(Lachen bei der SPD)

Sie sollten hier bitte nicht in die falsche Richtung weisen, nach der Methode: Haltet den Dieb!
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zur Frage der Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Maßnahmen der UNO zur Erhaltung oder Schaffung von Frieden. Dazu vertritt die SPD durch ihren Parteitagsbeschluß eine Position, die uns international so isolieren würde, wie sich die SPD inzwischen innerhalb der Sozialistischen Internationale selbst isoliert



Dr. Wolfgang Bötsch
hat. Das hat eine Veranstaltung der Friedrich-EbertStiftung vor zwei Wochen ganz deutlich gezeigt.
Herr Kollege Klose, wenn Sie hier den Generalsekretär der UNO genannt haben, dann müssen wir schon vollständig das zitieren, was er gesagt hat. Im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" vom 20. November 1992 hat er ein Interview gegeben. Da heißt es:
Ich würde die Teilnahme Deutschlands an UNO-Truppen sehr begrüßen, dies wäre ein sehr wichtiger Beitrag. Sie haben ja schon ein paar Ärzte in Kambodscha,
— na, da haben wir ein bißchen mehr —
und ich hoffe, daß die Verfassungsschwierigkeiten überwunden werden können, so daß eine größere Beteiligung an Friedenssicherungsoperationen überall auf der Erde möglich ist. Dabei meine ich nicht nur Soldaten; die Deutschen können Ingenieure und Ärzte schicken, sie können durch Lufttransport logistische Hilfe leisten. Es gibt viele Möglichkeiten. In den letzten fünf Jahren gab es genauso viele Friedensmissionen wie in den 45 Jahren davor.
Dann die Frage:
Größere Beteiligung würde aber auch das Entsenden von bewaffneten Einheiten der Deutschen bedeuten.
BUTROS-GHALI: Diese wären äußerst willkommen.
Herr Kollege Klose, hier ist keine Rede von Blauhelmen oder von der Beschränkung auf Blauhelme. Da müssen wir schon alles durchlesen.
Herr Kollege Klose, Sie haben am 25. Januar 1991
— der Herr Kollege Dr. Schäuble hat das kurz angesprochen — in einer großen Zeitung einen längeren Beitrag geschrieben, in dem u. a. in bezug auf den Golfkrieg folgendes steht — ich kann nur einen kleinen Auszug zitieren —:
Denn wo waren denn die Deutschen,
— alles original Klose —
als es darauf ankam, eine einheitliche Linie zu entwickeln für die Zeit vor dem Krieg, für den Fall des Krieges und für die Zeit danach? Und wo waren die Beiträge der deutschen Sozialdemokratie? Sie hat Resolutionen produziert und anfänglich nicht einmal gemerkt, daß sie auch in den eigenen Reihen, bei den Bruder- und Schwesterparteien, nicht nur Europas, isoliert war. Die französischen Sozialisten, Labour, die spanische PSOE, die holländischen, dänischen Sozialdemokraten/Sozialisten — sie alle haben eine andere Position als die SPD und sind dennoch keine Kriegstreiber. Muß uns das nicht nachdenklich stimmen?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es sollte Sie nachdenklich stimmen, aber nicht nur Sie, Kollege Klose, sondern Ihre Fraktion und Ihre Partei insgesamt. Es sollte Sie wirklich nachdenklich stimmen, ob das, was Sie auf dem Parteitag beschlossen haben, wirklich
ausreichend ist. Ich rede nur von der politischen Notwendigkeit.

(Franz Müntefering [SPD]: Herr Bötsch, sagen Sie auch noch etwas zum Haushalt?)

Meine Damen und Herren, in den Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in der sonstigen Innen- und der Außenpolitik ist unsere Fraktion bereit, die ihr vom Wähler übertragene Verantwortung wahrzunehmen, diese Bundesregierung auch in Zukunft in ihrer Arbeit zu unterstützen. Mit einem Wort: Wir haben vor, auch in Zukunft gemeinsam unsere Pflicht zu tun.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212304200
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Otto Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1212304300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Bundeskanzler, für die F.D.P. möchte ich Ihnen in einem Punkte ausdrücklich zustimmen: Das waren zehn gute Jahre für Deutschland.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir haben von 1982 bis 1989 die finanz-, wirtschafts- und haushaltspolitischen Dinge und die sozialpolitischen Fragen in einer Weise angepackt und in Ordnung gebracht, wie es kaum einer erwartet hätte.
Dann kam die deutsche Einheit. Das war ein historischer Glücksfall. Er ist von Ihnen und dem Außenminister Hans-Dietrich Genscher meisterhaft aufgegriffen worden. Und jetzt haben wir Probleme. Aber wer von uns hätte nicht lieber Probleme, die von Erfolgen herrühren, anstelle von Problemen, die aus Mißerfolgen stammen?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Schwierigkeiten, die wir im wirtschaftlichen Bereich jetzt haben, sind uns neulich noch einmal vom Sachverständigenrat aufgeschrieben worden. Eine Belastung, so heißt es dort, für die konjunkturelle Entwicklung erwuchs aus einer um sich greifenden Verunsicherung darüber, ob die Politik überhaupt noch in der Lage ist, mit den anstehenden Herausforderungen fertig zu werden. — Hier liegt nach meiner Überzeugung in der Tat ein entscheidender Punkt. Wir haben es nicht in erster Linie oder gar ausschließlich mit einer Bedarfskrise zu tun. Wir haben es auch nicht in erster Linie oder gar ausschließlich mit einer Finanzkrise zu tun. Wir haben es vielmehr — leider — mit einer tiefsitzenden Vertrauenskrise zu tun. Wieder einmal ist die Stimmung im Lande viel schlechter als die Lage. Die Frage ist, ob es dabei ausschließlich um die Wirtschafts- und Finanzpolitik geht

(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Sehr gut!) oder ob die Malaise nicht viel tiefer sitzt.


(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ja!)

Nach meiner Meinung geht es um die Frage, ob unsere demokratischen Institutionen der gestellten Probleme noch Herr werden können. Anders gefragt, und zwar über Deutschland hinaus: Werden die par-



Dr. Otto Graf Lambsdorff
lamentarischen Demokratien westlicher Prägung immer schwerer regierbar oder gar unregierbar? Eigentlich, verehrte Kollegen, ist es doch eine Perversion der parlamentarischen Kontrolle, daß heute nicht die Parlamente, sondern die Regierungen auf Konsolidierung und Ausgabenbegrenzung drängen. Ich formuliere dabei ausdrücklich in der Mehrzahl, will mich aber an Selbstkritik nicht vorbeimogeln.
Die Meinungsumfragen im Lande zeigen deutlich, was die Menschen zur Zeit von der Bundesregierung halten: sehr wenig. Sie zeigen auch, was sie von der Opposition halten: noch weniger.

(Franz Müntefering [SPD]: Na? — Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt nicht!)

Nur, meine Damen und Herren, das kann keinen freuen, und das kann niemandem zu Hohngelächter Anlaß geben, denn die Unzufriedenen neigen sich Leuten zu, die wir nicht hier im Parlament sitzen haben wollen, und das ist unser Problem.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Lennartz [SPD])

Ich habe in der Mehrzahl formuliert, weil man all die Länder, in denen der Vertrauensverlust ebenso groß ist wie der, den wir bei uns feststellen,

(Konrad Gilges [SPD]: Und wie ändern wir das?)

ja gar nicht aufzählen kann. Bei unseren französischen Freunden hat es fast eine Mehrheit gegen Maastricht gegeben, obwohl die Mehrheit der Franzosen für Maastricht ist. In London stimmte die Labour-Opposition gegen Europa, weil sie zwar für Europa, aber gegen John Major ist. In Japan sieht es nicht besser aus. Auf der Bestsellerliste in den USA steht ein Buch mit dem schönen Titel: „ Why americans hate politics" , d. h. warum die Amerikaner die Politik hassen. Ob die Wahl des neuen Präsidenten eine Veränderung bringen wird? Wir wünschen es ihm, wir wünschen es den Amerikanern, und wir wünschen es uns.

(Zustimmung bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Ich will die Gefahren und Risiken im Osten Europas nur der Vollständigkeit halber erwähnen. Wenn es nicht gelingt, den Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu öffnen, dann werden wir alle, aber die Deutschen zuerst und zumeist, die Folgen zu spüren bekommen. Bisher konnten wir den Menschen über die Wintersnöte hinweghelfen, mehr nicht. Nicht einmal die Zeitbombe der gefährlichen Kernkraftwerke in den früheren Ostblockstaaten haben wir entschärft.

(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Sehr gut!) Nicht einmal das haben wir geschafft!

Der Bundeskanzler hat die europäische Integration und den Weg zur Europäischen Union gepriesen. Das ist gut so. Wir sind in dieser Hinsicht einer Meinung. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß je eine Präsidentschaft — die britische — von einem Mitgliedstaat so beschimpft worden ist, wie das dieser Tage der Fall war. Der unendliche Streit um die UruguayRunde des GATT hat das Ansehen der Europäischen
Gemeinschaft — ich bin ganz vorsichtig — nicht gerade gemehrt.
Europäische Gemeinschaft und Jugoslawien: Das betrachtet die Welt als ein Trauerspiel von Versagen und Uneinigkeit;

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist so!)

— häufig, Frau Matthäus-Maier, zu Unrecht, denn wer kennt ein Heilmittel gegen die furchtbaren Folgen dieses schrecklichen Nationalismus? Es ist leicht zu sagen „Wir verurteilen das ", aber es ist sehr schwer zu sagen, welches andere Rezept man denn mit Aussicht auf Erfolg und unter hinnehmbaren Kosten — Kosten heißt hier: Menschenopfer — empfehlen könnte.
Jacques Delors sagte vorgestern wörtlich: Die EG befindet sich in einer schweren Krise. — Er sagte weiter, ein Flicken auf dem Holzbein mache dasselbe nicht lebendig. Ich kann ihm bestätigen, daß er recht hat.

(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

Das kann aber auch kein Verkehrsprogramm für 100 Milliarden ECU, die er gar nicht hat. Politik mit OPM, mit other people's money, wie die Amerikaner sagen, d. h. Politik mit anderer Leute Geld, das wird nicht funktionieren. Wer soll das denn bezahlen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Immer die anderen Leute!)

Politik werde heute von Politikern gemacht, nicht von Staatsmännern oder Staatsfrauen, hat William Pfaff in der vorigen Woche in der „Herald Tribune" geschrieben. Das mag hart sein; vielleicht ist es zu hart. — Ja, Herr Bundeskanzler, ich will Sie dabei auch gar nicht ansprechen.

(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ich habe an der Stelle auch keine Probleme!)

Es mag zu hart sein, aber ist es deshalb falsch?

(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: In der gleichen Zeitung lesen Sie das seit 50 Jahren!)

— Das stimmt nicht. In der gleichen Zeitung hat es sehr positive Ausführungen über Sie gegeben. Da müssen Sie ein paar Nummern überschlagen haben.

(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

Die Unzulänglichkeiten der Kommunikation, d. h. des Sich-Verstehens, nicht die technischen Unzulänglichkeiten, wachsen. Einander jagende Gipfel und Räte, Telefon und Fax reichen nicht, wenn der Wille zur Übereinkunft, wenn die Bereitschaft zum Kompromiß und wenn allerdings auch die Basis für Visionen, zum Entwickeln von Konzepten nicht ausreichend gegeben ist. Liegt es daran, daß mit dem Ende der Teilung der Welt die Bedrohung als Bindemittel nicht nur im Bereich der äußeren Sicherheit entfallen ist?
Die F.D.P. sieht diese gesamtpolitische Entwicklung durchaus nicht ohne Sorge. Deswegen, Herr Bundeskanzler, begrüßen wir ausdrücklich Ihre Absicht, alle nur erdenklichen Mühen darauf zu verwenden, die bestehenden internationalen Institutionen zu stärken und zu festigen.



Dr. Otto Graf Lambsdorff
Aber diese Aufforderung richtet sich ebenso an die Opposition. Deutschland darf sich nicht der SPD wegen verweigern müssen, seine internationale Verantwortung — etwa im Bereich der kollektiven Sicherheit — wahrzunehmen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie sind mit Ihrem Parteitagsbeschluß international nicht handlungsfähig und national nicht regierungsfähig.

(Konrad Gilges [SPD]: Quatsch! Dummes Zeug!)

Wenn es hier vorhin ein Zwischenspiel über die Position der F.D.P. gab, dann ist klar, daß wir im Jahre 1991 beschlossen haben, die Verfassung zu ändern, und zwar für Blauhelm-Einsätze und für militärische Einsätze unter der Oberaufsicht der Vereinten Nationen.

(Konrad Gilges [SPD]: Dummes Zeug!)

Im übrigen führen Sie in der SPD ein Schattenboxen auf, wenn Sie Unterschiede zwischen BlauhelmEinsätzen und anderen Einsätzen machen. Sprechen Sie einmal mit Ihrem sozialdemokratischen Kollegen Lord Owen, der mir vor drei Wochen auseinandergesetzt hat, was Blauhelm-Einsätze in Jugoslawien an Lebensgefahr bedeuten und daß es bei BlauhelmEinsätzen bisher 750 tote Soldaten auf der Welt gegeben hat. Worüber debattieren Sie eigentlich? Sie führen da halbe Scharaden auf!

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Unsere Aufforderung zur Stärkung der Institutionen gilt auch für die Vereinten Nationen, die finanzpolitisch und institutionell handlungsfähiger gemacht werden müssen. Unter diesem Gesichtspunkt müssen auch deutsche Wünsche gesehen werden. Das gilt auch für die NATO, die wir brauchen und deren Ziele und Grundlagen erneuert werden müssen. Ich möchte ausdrücklich unterstreichen, was heute morgen über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und über die Aufrechterhaltung amerikanischer Truppenpräsenz in Europa gesagt worden ist.
Das gilt noch mehr für die Europäische Gemeinschaft, deren Fortschritte doch unverkennbar sind, die aber trotzdem an Anziehungskraft und an Prestige bei den Europäern verliert.
Um eine Vertrauenskrise geht es auch in der deutschen Wirtschaft und in unserer Konjunktur. Der seit Jahren bewährte und respektierte Test des IfoInstituts über die Geschäftserwartungen der deutschen Unternehmen zeigt das mit erschreckender Deutlichkeit. Ich habe Ihnen diese Grafik einmal mitgebracht, um zu zeigen, daß ich keine Schwarzmalerei betreibe. Ich habe in der Zeit, in der ich Wirtschaftspolitik betreibe, eine so abfallende Kurve noch niemals gesehen und bitte deswegen, das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

(Franz Müntefering [SPD]: In der Grafik ist viel blau und gelb! Ist das die LambsdorffKurve?)

— Es geht ins Lila hinein; es entspricht etwa der Farbe Ihrer Jacke.
Meine Damen und Herren, in der deutschen Wirtschaft werden — der Bundeskanzler hat das heute besprochen — konstitutionelle Schwächen sichtbar: Sie zeigen sich beim Export, sie zeigen sich bei der Preis- und Kostenentwicklung, sie zeigen sich im umfassenden Verteilungskonflikt oder im falschen „policy-mix" von Geld-, Finanz- und Lohnpolitik.
Wirtschaftspolitischer Aktionismus macht sich breit und vermindert die Vertrauensbasis. Das, Frau Matthäus-Maier, ist der Grund, warum wir richtigerweise sagen: Steuererhöhungen nicht vor 1995; in 1995 aber wohl unvermeidlich, damit die Leute wissen, woran sie sind.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir werden sehen!)

Ebenso ist es richtig, Steuermindereinnahmen nicht durch weitere Einsparungen, sondern durch zusätzliche Kreditinanspruchnahme zu beheben, weil man sonst prozyklisch handeln würde; das bestätigt uns das Wirtschaftsinstitut des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Weiterhin haben wir gesagt — wir verhehlen es ja gar nicht; es ist auch notwendig, es zu sagen —, daß eventuell, wenn die Straßenverkehrsabgaben, über die wir in Brüssel verhandeln, bei der Bahnreform nicht ausreichen, eine Erhöhung der Mineralölsteuer für den Zweck der Reform von Bundesbahn und Reichsbahn notwendig ist, jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Das werden wir nicht verschweigen.

Ich will Ihnen noch eines sagen — da haben Sie recht, Frau Matthäus-Maier —: Wir wollen die Investitionspauschalen für die Kommunen 1993 erneuern,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!)

aber — ich verweise auf das, was der Bundeskanzler vorhin gesagt hat — mit den Ländern zusammen. Alles nur aus der Kasse des Bundes allein zu finanzieren geht nicht!

(Franz Müntefering [SPD]: Jetzt können Sie die Lambsdorff-Kurve wieder wegschikken!)

— Das ist nicht meine Kurve; ich bin nicht das If o-Institut.
Angesichts der Kostendynamik und angesichts der finanzpolitischen Anspannung kann sich eine Lage zusammenbrauen, die den Alptraum der Ökonomen darstellt: Rezession bei steigenden Preisen und Zinsen, höhere Steuern und höhere staatliche Kreditaufnahme. Dann würden die Haushaltsprobleme unlösbar. Dann, Herr Schäuble, würden wir — wie Sie heute morgen mit Recht befürchtet haben — noch höhere Zahlen von Arbeitslosen — die zum Teil ohnehin ins Haus stehen — zu erwarten haben.
Dabei stellt sich die Frage, jedenfalls für mich — erlauben Sie mir einen Augenblick eine Abschweifung von den Problemen Deutschlands —: Werden die Marktwirtschaften weltweit eigentlich überhaupt mit der Arbeitslosigkeit fertig? 30 Millionen bis 35 Millionen Arbeitslose in der Europäischen Gemeinschaft;



Dr. Otto Graf Lambsdorff
überall, wo Sie hinsehen, entweder verdeckte Arbeitslosigkeit — Beispiel Japan — oder offene Arbeitslosigkeit und steigende Arbeitslosigkeit: USA. Schaffen es die Marktwirtschaften? Die Staatswirtschaften haben es jedenfalls nicht geschafft.
Oder, meine Damen und Herren — hier komme ich auf das zurück, was Herr Schäuble heute bedenkenswerterweise gesagt hat —, überfordern wir allesamt mit unseren Ansprüchen — noch vor dem Hintergrund einer Bevölkerungsexplosion mit wachsenden Menschenzahlen — die Leistungsfähigkeit und das Bruttosozialprodukt, das, was überhaupt erwirtschaftet werden kann? Werden wir weitere Arbeitslosigkeit produzieren, wenn wir uns nicht endlich etwas mäßigen, nicht nur in Deutschland, auch anderswo, bei uns aber, glaube ich, zuerst?

(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es muß nicht zu einem solchen Horrorszenarium kommen. Zum größten Teil haben wir die Dinge selbst in der Hand.
Umkehr ist geboten, vor allem in der Lohnpolitik, vor allem aber auch in der Finanzpolitik, nicht in erster Linie der des Bundes — da ist die Umkehr eingeleitet —, wohl aber bei Ländern und Gemeinden. Ordnungspolitische Konsistenz und wirtschaftspolitische Verläßlichkeit müssen wieder den Kurs prägen.
Die Dimension der öffentlichen Transfers aus dem Westen Deutschlands in den Osten Deutschlands wird im historischen Vergleich deutlich: Wir transferieren heute 80 % des Bruttoinlandprodukts der fünf neuen Bundesländer. Die Marshallplanhilfe lag damals im Westen bei 2 % des Bruttoinlandproduktes der alten Bundesrepublik. Das sind im historischen Vergleich unsere Leistungen, die wahrlich nicht unter den Scheffel gestellt werden müssen.
Herr Klose — er ist jetzt leider nicht hier — hat beklagt, es gebe zuwenig private Investitionen. Ich teile diese Klage. Aber private Investitionen können Sie nicht befehlen; die Leute investieren nur, wenn sie Aussicht auf Ertrag haben, denn investieren heißt, sein eigenes Geld zu riskieren.
Ich empfehle Herrn Klose, bevor er über die Anwendung japanischer Technologie im Opel-Werk in Erfurt in Klagen ausbricht, sich auf die Reise zu machen und dorthin zu gehen. Ich habe aber vorsichtshalber nach seiner Rede angerufen: Wie in allen Automobilfabriken wird in der Frage der Arbeitsabläufe, der Arbeitsorganisation heute auf japanische Beispiele zurückgegriffen; das habe ich in der vorigen Woche bei Seat in Barcelona gesehen, und das können Sie auch in Erfurt sehen.

(Zurufe von der SPD: Ich dachte, das sei in Eisenach! — Wo haben Sie denn jetzt angerufen?)

— Angerufen habe ich in Rüsselsheim; es ist immer besser, man ruft in der Zentrale an. — Sie haben recht: natürlich in Eisenach. Sie können sich dort ansehen, daß bei dieser Neuinvestition in erster Linie bewährte Opel-Technologie angewandt worden ist.
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, festzustellen, daß die Kapitalmärkte ihr Vertrauen in die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht verloren haben. Aber das Vertrauen muß jetzt auch honoriert werden, und nicht zuletzt von uns. Bundesregierung und Koalition haben reagiert. Ich weiß, daß unsere Vorschläge nicht populär sind; sie können es auch nicht sein. Aber sie sind notwendig, damit Schaden auf Dauer vom Deutschen Volke abgewandt wird.
Nicht nur der Bund ist gefordert; Länder und Gemeinden müssen eingebunden werden. Die Anstrengungen des Bundesfinanzministers auf diesem Gebiet, Herr Waigel, haben unsere volle Unterstützung. Zur Hilfe, zur Unterstützung der neuen Bundesländer sind zur Zeit unkonventionelle Maßnahmen erforderlich. Aber entgegen weit verbreiteter Ansicht behaupte ich — und dies mit Nachdruck —: Es gibt nur eine Unausgewogenheit, und es gibt nur eine Gerechtigkeitslücke, und das ist die viel zu hohe Arbeitslosigkeit.
Wenn der Solidarpakt am Ende daraus bestehen soll, daß keiner dem anderen mehr weh tut als der andere dem einen, dann wird dabei nichts an Ergebnis und nichts an Wirkung erzielt werden. Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß" ist diese Operation nicht zu haben, meine Damen und Herren.
Die viel zu hohe Arbeitslosigkeit ist die Gerechtigkeitslücke. Was der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dient, das müssen wir tun. Was die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verhindert, das muß unterbleiben. Umkehr ist deshalb auch in der Lohnpolitik geboten. Die Ankündigungen der Gewerkschaften geben zum Teil Anlaß zur Hoffnung.
Es geht den Deutschen — meine Damen und Herren, stellen wir das hier doch einmal fest — seit 40 Jahren fast ununterbrochen gut und immer wieder besser.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ja!)

Es ist vielleicht kein Trost, aber doch ein nötiger Hinweis, daß Finnen, Schweden, Japaner, ganz zu schweigen von Polen, Ungarn und Tschechen reale Einkommensverluste hinnehmen müssen, die weitaus höher sind als das, was uns vielleicht bevorstehen könnte.
Im übrigen müssen wir jetzt zum erstenmal in der Geschichte des demokratischen Deutschland beweisen, daß unsere Demokratie Einkommenseinbußen

(Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Nein, nur Stillstand!)

ebenso standhält wie rechten und linken Gewalttätern.

(Beifall bei der F.D.P.)

Diesen Test haben wir nämlich noch nicht bestanden.
Die Gewalt in Deutschland erschreckt tief. Herr Bundeskanzler, Sie haben leider nicht recht, wenn man es ganz wörtlich nimmt. Deutschland — so haben



Dr. Otto Graf Lambsdorff
Sie gesagt — ist immer noch eine erste Adresse in der Welt.
In der vorigen Woche war ich in Bangkok; die Touristen sagen ihre Reisen hierher ab, weil sie Angst haben zu kommen. Der deutsche Mitarbeiter eines Unternehmens fürchtet seine Rückversetzung in die Heimat, weil er Angst hat, seiner afrikanischen Ehefrau könnte in Deutschland etwas zustoßen. Und nun der dreifache Mord von Mölln.
Wer jetzt noch erklärt, meine Damen und Herren, wer jetzt gar noch entschuldigt, der macht sich mit Mördern gemein.

(Beifall bei der F.D.P. und der PDS/Linke Liste — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das hat mit Entschuldigung nichts zu tun!)

Ich bitte alle unsere Mitbürger: Helfen Sie der Polizei bei der Bekämpfung der Verbrechen, beim Aufspüren der Verbrecher. Ich begrüße es dankbar — vielleicht hätte auch ein Unternehmen mit deutschen Eigentümern auf den Gedanken kommen können —, daß die Firma „Opel" zur Ergreifung der Täter 100 000 DM ausgesetzt hat.
Im übrigen, Herr Bundeskanzler, haben Sie die Kriminalität beklagt. Ich will Ihnen das nur an einem Beispiel vorexerzieren dürfen, nämlich beim KfzDiebstahl, der unglaublich zugenommen hat. Erstens: Die Kraftfahrzeugindustrie weigert sich, die notwendigen technischen Vorkehrungen einzubauen, weil die Autos, die es heute gibt, dadurch teurer und wettbewerbsunfähiger werden.
Zweitens. Das Kraftfahrt-Bundesamt läßt diese so ungenügend gesicherten Fahrzeuge trotzdem als für den Verkehr sicher zu. Die Versicherungswirtschaft bietet an, ein Auto, das vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Kauf geklaut wird, zum vollen Neuwert zu ersetzen. Folglich werden nur Autos geklaut, die nicht älter als 18 Monate sind. Das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen hält sich für unzuständig, dagegen etwas zu unternehmen.
Der Bundesgrenzschutz — Herr Bundeskanzler, das sind wir — bewacht die Grenze nach Polen, über die diese Waren verschoben werden — es heißt ja: heute gestohlen, morgen in Polen —, nicht ausreichend. Gehen Sie bitte in die Mitte von Frankfurt an der Oder, und sehen Sie sich den Straßenübergang an der Oderbrücke an! Lassen Sie sich von dem wachhabenden Polizeioffizier erzählen, wie dort die Autos reihenweise über die Oder nach Polen gefahren werden und die Polizei überhaupt keine Möglichkeit hat, weil ihr die technischen Vorrichtungen fehlen, dem abzuhelfen!
Wir sollten nicht immer nur über alles klagen, wir sollten uns endlich mit den Betroffenen zusammensetzen, um dieser Biesterei abzuhelfen. Ich habe es neulich auch im Bundesvorstand meiner Partei gesagt: Was sind wir eigentlich für eine Regierung, in was für einem Staat leben wir eigentlich, daß wir diesen Zustand einfach so weitersausen lassen?

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, der Solidarpakt ist darauf angelegt, die wirtschaftlichen Gefahren einzugrenzen und den Anpassungsprozeß im Osten voranzubringen. Er kann gelingen, wenn jeder seine Verantwortung wahrnimmt: die Tarifpartner für die Löhne und für die Beschäftigung und der Staat für günstige gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen. Wenn beide so verfahren, dann gibt es auch Raum für Entspannung in der Geldpolitik, für sinkende Zinsen.
Nach dem zehnjährigen, durch Stabilität geprägten Aufschwung im Westen Deutschlands sind die Strukturen bei uns nicht aus dem Lot geraten. Es ist wichtig, das festzuhalten. Das gibt Anlaß, mit Zuversicht nach vorne zu blicken.
Wir werden die deutsche Einheit vollenden können, wenn wir an der wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik festhalten: mehr produzieren und danach mehr verteilen — nur in dieser Reihenfolge geht es —, nicht die Staatswirtschaft fortsetzen, sondern Privatisierung und Marktwirtschaft durchsetzen. Das ist das Rezept, das der Bundesrepublik in der Zeit seit 1948 so großen Erfolg beschert hat.
Die Soziale Marktwirtschaft und eine liberale Wirtschaftspolitik haben den Menschen in Westdeutschland ein Ausmaß von Wohlstand und sozialer Sicherheit gebracht, von dem unsere Eltern und Großeltern zu träumen nie auch nur gewagt hätten. Das werden wir mit dem Fleiß der Arbeitnehmer, der Initiative der Unternehmer und einer verantwortungsbewußten Politik der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. auch für das wiedervereinte Deutschland schaffen. Dann, Herr Bundeskanzler, werden auch die nächsten zehn Jahre gute Jahre für Deutschland sein.
Ich bedanke mich fürs Zuhören.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212304400
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rolf Schwanitz das Wort.

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1212304500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein Fraktionskollege Rudi Walther hat gestern in der Geschäftsordnungsdebatte in seiner ihm — vielleicht auch als Haushälter — eigenen Bescheidenheit und Vornehmheit gesagt, daß der Haushalt 1993 zuwenig Mittel für die neuen Bundesländer beinhaltet. Sie werden verstehen, daß ich als ostdeutscher Abgeordneter die Situation ein wenig dramatischer sehe.
Die Bundesregierung hat einen Haushalt vorgelegt, bei dem klar ist, daß er nur wenige Monate so unverändert bleiben wird, bei dem klar ist, daß zuwenig Zeit für wichtige Detailfragen war. Ich möchte beispielsweise auch gern wissen, was der CDU-Kollege Dehnel den Menschen in seinem Wahlkreis sagt, wenn er dort begründen muß, daß für den Aufbau Ostdeutschlands die Mittel aus dem Etat der Wismut-Anstalt um 200 Millionen DM gekürzt werden. Das sind Fragen, die natürlich besprochen werden müssen.
Diesen Haushalt verkauft die Bundesregierung in der Öffentlichkeit gleichzeitig — da wird es für mich natürlich interessant — als Wohltat für die neuen Bundesländer. Dies alles geschieht — ich sage das



Rolf Schwanitz
ohne Polemik — vor dem Hintergrund, daß der Bundeskanzler auf dem CDU-Parteitag von der Stunde der Wahrheit geredet hat.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Es war ja auch nur eine Stunde!)

Die Bürger im Land — ich meine die Bürger in beiden Teilen unseres Landes — haben diese Ankündigungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich bin sicher, daß der Umfang an Enttäuschung und das Ausmaß an Politikverdrossenheit in der Bevölkerung noch nicht so groß sind, daß wir die nationale Herausforderung, wie sie sich beim Aufbau Ostdeutschlands stellt, nicht mehr bestehen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Menschen haben nicht die Mentalität eines Drükkebergers, wie ich dies heute so halb den Worten des Bundeskanzlers entnehmen konnte. Ich weigere mich, dies verallgemeinernd anzunehmen. Es geht darum, für die Menschen Chancen zu schaffen. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung, und dies muß geleistet werden.
Wenn diese Stunde der Wahrheit aber nun erneut eine Worthülse bleibt und nicht zu einer Kraftanstrengung neuer Qualität sowie einem gerechten Aufteilen der Lasten führt, wird nicht nur das Solidaritätsgefühl der Deutschen nachhaltig beschädigt. Unvermeidbar sind dann auch soziale Spannungen in Ostdeutschland in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß.
Ich begrüße deshalb ausdrücklich die nun angekündigte Umkehr zur Wahrhaftigkeit und warne gleichzeitig vor einem neuerlichen Versagen vor den Augen der Menschen, so wie sich das mit dem Haushalt, den wir heute beraten, offensichtlich anbahnt.
Zur Stunde der Wahrheit gehört mehr als der bloße Umgang mit dem Wort. Das Bekenntnis zur Wahrheit verpflichtet in erster Linie zur nüchternen Analyse, zur ungeschminkten Bestandsaufnahme dessen, was war und was versäumt worden ist. Da steht für mich an erster Stelle eine verfehlte Treuhandpolitik. Die Treuhandanstalt ist in Ostdeutschland zu einem Synonym für Arbeitsplatzabbau, für Entindustrialisierung und für Plattmachen von ostdeutschen Industrien geworden.
Die Angestellten der Treuhandanstalt werden als Gegner der Belegschaft in Treuhandbetrieben empfunden. Dabei setzen sie ja nur um, was die politische Instanz — in diesem Fall der Bundesfinanzminister — dort als Marschroute vorgegeben hat.
Die Theorie, daß allein durch eine schnelle Privatisierung die ostdeutsche Wirtschaft gesunden könne und man deshalb die Betriebe nur kurzfristig mit geringfügigen Transfusionen am Leben erhalten müsse, hat sich als tragischer Irrtum erwiesen. Natürlich begrüßen wir es, wenn CDU-Generalsekretär Hintze, wie gestern im „Handelsblatt" nachzulesen war, nun auch industriepolitische Maßnahmen vor allem für sogenannte industrielle Kernbereiche ankündigt. Was sagen Sie aber, Herr Bundeskanzler, den Tausenden von Arbeitslosen, für die dieser Umkehrungsprozeß zwei Jahre zu spät kommt?
Wie viele Arbeitsplätze sind in Treuhandbetrieben abgebaut worden, obwohl das Unternehmen als sanierungsfähig eingestuft worden war? Wie viele Leute sind dadurch auf die Straße geflogen, daß sich der Käufer des Unternehmens nicht an die vertraglich vereinbarten Arbeitsplatzgarantien gehalten und die Treuhandanstalt tatenlos zugesehen hat?
Was sagen wir den Leuten in Gera, wo heute der größte Arbeitgeber die öffentliche Verwaltung ist? Wo liegt dort noch der industrielle Kernbereich? Was sagen wir den noch Beschäftigten in der Zwischenzeit, hat doch Herr Hintze die Umstrukturierung, dieses Umsteuern an den noch ausstehenden Nachtragshaushalt geknüpft? Das soll ja laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" von gestern wohl erst im Mai 1993 stattfinden.
Was wird in der Zwischenzeit? Einem Tickerdienst von heute morgen 6 Uhr ist zu entnehmen, daß der Sprecher der Treuhandanstalt 70 000 Entlassungen bis zum Jahresende angekündigt hat. Ist das die Wahrheit über die Ankündigung der Sanierung?

(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Was soll er denn tun?)

Herr Bundeskanzler, die Botschaft kann nur heißen: Ja, wir wollen die Sanierung der noch verbliebenen sanierungsfähigen Unternehmen, und wir tun in der Zwischenzeit alles, um zu halten, was noch zu halten ist. Der Absturz in Ostdeutschland muß verhindert werden. Das wäre eine Botschaft, die die Arbeitnehmer aus dieser Debatte als Hoffnung mitnehmen könnten.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist zu dieser und anderen dringend erforderlichen Umsteuerungen jedoch nicht bereit. Die Voraussetzung hierfür wäre u. a. eine endgültige Beseitigung der Investitionsblockade bei den offenen Vermögensfragen. Noch immer ist das Restitutionsdogma ein Bremsklotz für die Entwicklung der Kommunen und des ostdeutschen Mittelstands sowie eine Ursache für überhöhte Verwaltungskosten.
Noch immer wartet der Bundestag gemeinsam mit den Tausenden von Anspruchsberechtigten auf das schon im Einigungsvertrag angekündigte Entschädigungsgesetz. Wann wird, Herr Bundeskanzler, dieses Dauerthema der offenen Vermögensfragen wenigstens vollständig mit einer rechtlichen Regelung ausgefüllt sein? Hierauf hätten die Menschen im Lande gern eine Antwort gehabt.
Eine Umsteuerung findet ferner bei der Arbeitsmarktpolitik nicht statt. Im Gegenteil: Statt unseren Ansatz der stärkeren Verzahnung der Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik endlich konsequent aufzugreifen und ein Programm „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" vorzulegen, soll das Instrument des Arbeitsförderungsgesetzes ab 1. Januar 1993 gekürzt werden, und dies bei anhaltend hohen Arbeitslosenzahlen im Osten und bei einer wachsenden Arbeitslosigkeit im Westen Deutschlands.
Natürlich hat die Bundesanstalt für Arbeit einen zusätzlichen Milliardenbetrag verausgabt, der durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden mußte. Die Bundesregierung bräuchte sich jedoch nur dazu durchzuringen, eine Arbeitsmarktabgabe für Selbständige, Beamte, Minister und Abgeordnete zu



Rolf Schwanitz
erheben, um dieses Haushaltsloch sozial gerecht zu schließen. Vor dieser Wahrheit, Herr Bundeskanzler, verschließen Sie jedoch nach wie vor die Augen.
Noch einige Bemerkungen zu einer existentiellen Frage für die Menschen in unserem Land, zur Wohnungsfrage. Finanzminister Waigel hat gestern zu den Altschulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft ein paar interessante Bemerkungen gemacht. Er hat sinngemäß gesagt, daß die Altschulden, die einen Betrag von 350 DM pro Quadratmeter übersteigen, an einen Fonds gegeben werden sollen. Dieser Fonds soll dann bezüglich seiner Zinslast durch den Bund und die neuen Bundesländer ausgeglichen werden. Die Tilgung soll durch die Unternehmen erfolgen, wobei eine Privatisierung der Wohnungen als Quelle für diese Tilgungsleistungen empfohlen wurde.
Das soll offensichtlich heißen, daß nicht nur die Schulden bis 350 DM pro Quadratmeter bei den ostdeutschen Wohnungsunternehmen bleiben. Nein, auch über diese Grenze hinaus bleiben die Unternehmen für die Tilgung und damit für den Schuldenberg verantwortlich. Der Bund denkt offensichtlich nur an eine befristete Unterstützung bei einem Teil der Zinsen. Mieterhöhungen für diesen notwendigen Kapitaldienst — etwa ab 1995, wie das schon gestern in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" angedeutet worden ist — wären dann wohl unvermeidbar.
Statt dessen empfiehlt der Finanzminister hierfür weitere Privatierungen, also einen Kapitaldienst aus der Substanz der Wohnungswirtschaft. Ich sage ganz klar: Jawohl, privatisiert werden muß, aber bitte dort, wo es sinnvoll und notwendig ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich darf Sie in diesem Zusammenhang an die Äußerungen des Präsidenten des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft erinnern, die er unlängst in Erfurt getan hat. Er sagte, daß von den 1991 insgesamt 87 000 für Privatisierung angebotenen Wohnungen ganze 7 135 Wohnungen verkauft worden sind, an die bisherigen Mieter ganze 614 Wohnungen. Diese Wohnungen sind nicht verkaufbar, weil ein unüberblickbarer Sanierungsaufwand in diese Wohnungen gesteckt werden müßte und die Leute, die in diesen Wohnungen wohnen, natürlich die Mängel am besten kennen.
Diese Wohnungen sind nicht verkaufbar, weil sie in Neubaugebieten stehen, in denen nach der Plattenbauweise mit einer katastrophalen Infrastruktur gebaut worden ist, weil dies potentielle Gebiete sind, wo sich sozial Schwächere ansiedeln werden, da sich diejenigen, die besser betucht sind, aus diesen Gebieten herauskaufen können. Zurück bleiben diejenigen, die das Geld nicht haben. Wer den Glauben daran hat, dies wäre ein denkbares Käuferpotential, hat entweder keine Ahnung oder lügt sich selbst in die Tasche.

(Beifall bei der SPD)

Das Fazit der Waigelschen Vorschläge zu den Altschulden von gestern kann offensichtlich nur heißen: Die Mieter sollen für die Altschulden durch eine Erhöhung der Miete bezahlen, die Wohnungsunternehmen sollen zu einer weiteren Privatisierung gezwungen werden. Dies kommt für die Mieter einer Erpressung gleich nach dem Motto: Kauf' deine Wohnung, oder sie wird verkauft. Für Wohnungsunternehmen werden dadurch Investitionsmittel gebunden, sie werden blockiert. Es muß in die Vergangenheit, nicht in die Zukunft investiert werden.
Da der Kapitaldienst verständlicherweise von den Wohnungsunternehmen nicht vollständig als Mieterhöhung weitergegeben werden kann, wird die Eigenkapitalausstattung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft angegriffen. Die gestern vollmundig angekündigte Aufstockung der Kreditanstalt für Wiederaufbau läuft ins Leere, wenn diese Unternehmen durch fehlende Eigenmittel die Fördertöpfe nicht mehr in Anspruch nehmen können.
Meine Damen und Herren, es gibt keine Alternative zur Entschuldung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen. Die notwendigen Mieterhöhungen — wir alle wissen ja, daß sie mit Bitterkeit getragen werden und daß dies ein entscheidender Einschnitt in die Lebensgrundlage der Menschen dort ist — müssen in eine Sanierung fließen und nicht zu den westdeutschen Banken. Nur wenn die Menschen auch den Verbleib der Mietsteigerungen sehen können, wenn die Verbesserungen der desolaten Wohnbedingungen spürbar sind, sind die Menschen zu höheren Belastungen bereit und können diese verkraften.
Über ein solches Entschuldungsmodell sollte der Bundesfinanzminister nachdenken. Davon ist jedoch nicht die Rede gewesen, und davon war nichts zu spüren. Ich kann nur hoffen, Herr Bundeskanzler, daß dieser Ansatz, der gestern von Finanzminister Waigel präsentiert worden ist, nicht das abgestimmte Konzept der Bundesregierung ist. Wenn dies jedoch der Fall sein sollte, dann sage ich: Sozialer Friede in Ostdeutschland ade.
Die Stunde der Wahrheit heißt, nicht nur eine ehrliche Analyse der bisherigen Fehlentscheidungen vorzunehmen, sondern eine Politik der Wahrheit heißt für mich, auch das auszusprechen, was zweifellos unbequem ist, was jedoch Wahrheiten sind, ohne die wir nicht mehr auskommen können. Ich bin froh, daß der Bundeskanzler heute erstmals klarere Worte gefunden hat. Dies gibt mir ein wenig Hoffnung. Dies kann jedoch nur der Anfang sein. Ich will deshalb auch dafür werben, diese bitteren Wahrheiten innerlich anzunehmen, diesen Realitäten nicht weiter davonzulaufen.
War es nicht so, daß die deutsche Einheit 1990 und 1991 auch ein Konjunkturprogramm für den Westen Deutschlands war? Ist denn der Eindruck falsch, daß sich die Wirtschafts- und Währungsunion für Unternehmen aus der Altbundesrepublik in erster Linie in einer Ausdehnung des Absatzmarktes niedergeschlagen hat, daß neue Arbeitsplätze im Westen entstanden sind, daß die Unternehmen hohe Umsätze machten und auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in Westdeutschland hohe Einnahmen verbucht werden konnten?
Gewiß, die Konjunkturlage hat sich seitdem im Westen verändert. Aber wir müssen den Menschen die volle Wahrheit sagen. Dazu gehört auch der Hinweis darauf, in welchem Umfang in diesem Land



Rolf Schwanitz
bereits Nutzen aus der deutschen Einheit gezogen worden ist, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Nur wenn wir den Menschen sagen, was sie davon hatten und daß gerade im inneren Zusammenwachsen unsere Zukunft liegt, nur wenn die Menschen nicht weiterhin durch ein einseitiges Betonen von vermeintlichen Gruppeninteressen gegeneinander ausgespielt werden, können das notwendige Solidaritätsgefühl und die Teilungsbereitschaft gefördert werden.
Zu diesen Wahrheiten gehört auch, daß sich politisches Handeln an den unabweisbaren Bedürftigkeiten orientieren muß. Für mich gehört auch wegen des fortschreitenden industriellen Niedergangs in Ostdeutschland vor allem die Entwicklung der kommunalen Infrastruktur in den Bereich der dringenden Handlungen. Die Entwicklung der Infrastruktur ist nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern auch eine handfeste strukturpolitische Frage. Wenn hierbei nicht in absehbarer Zeit entscheidende Fortschritte gelingen, bleibt Ostdeutschland auch für industrielle Neuansiedlungen größtenteils unattraktiv.
Die hier vor uns stehenden Bedürftigkeiten sind freilich enorm. Experten schätzen allein den Investitionsbedarf im Bereich der kommunalen Pflichtaufgaben im Vergleich zu westdeutschen Kommunen, also bei der Trinkwasserversorgung, bei der Abwasserfrage, bei der Abfallwirtschaft, auf ca. 400 Milliarden DM. Damit wir uns richtig verstehen: Es sind keine Luxusinvestitionen dabei, die für den Aufbau oder die Attraktivität beispielsweise im Fremdenverkehr in Ostdeutschland natürlich auch erforderlich wären.
Will man diesen Nachholbedarf, also diesen engsten Bereich, in ca. 25 Jahren ausgleichen, so müßten durchschnittlich 16 Milliarden DM pro Jahr allein in diesem Bereich investiert werden — und dies von ostdeutschen Kommunen, die schon eine beträchtliche Pro-Kopf-Verschuldung mit sich herumschleppen müssen.
Über die Schulden der Kommunen in Ostdeutschland haben wir heute überhaupt noch nicht geredet. So beträgt die Verschuldung beispielsweise im thüringischen Waltershausen schon 2 000 DM pro Kopf. Das ist mit westdeutschen Kommunen durchaus vergleichbar. Die notwendigen Aufwendungen für Zinsen und Tilgung haben zwar schon Westniveau erreicht, die Steuereinnahmen der Kommunen werden jedoch auch nach der Steuerschätzung 1993 noch nicht einmal ein Viertel der Pro-Kopf-Größe einer Westkommune ausmachen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212304600
Herr Abgeordneter Schwanitz, der Abgeordnete Graf Lambsdorff möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1212304700
Ich möchte gern fortfahren.
Das ist die Realität. Diese Probleme sind weder von den Kommunen allein noch durch den bisherigen Förderungsansatz der Bundesregierung zu bewältigen. Wir haben in diesem Zusammenhang übrigens überhaupt noch nicht von Teuerungsraten geredet. Denn natürlich wurde die Infrastruktur, die über drei oder vier Jahrzehnte in einer Westkommune entstanden ist, zu wesentlich preisgünstigeren Modalitäten aufgebaut, als das heute in Ostdeutschland machbar sein wird.
Deshalb ist eine Konstruktion, wie wir sie vorgeschlagen haben — ein Zukunftsinvestitionsprogramm —, unumgänglich. Mit diesem Zukunftsinvestitionsprogramm können nicht nur wichtige infrastrukturelle, ökologische und arbeitsmarktpolitische Effekte erzielt werden. Es bietet darüber hinaus das Instrument der Investitionspauschale. Graf Lambsdorff, ich bin sehr dankbar, daß heute aus Ihrer Richtung das Signal kam, daß dieses Instrument nicht vollständig zu den Akten gelegt worden ist. Denn das ist gerade das Instrument, das uns alle Kommunalpolitiker in Ostdeutschland unabhängig von ihrem Parteibuch als das segensreichste, das am schnellsten wirksame und das effektivste beschreiben. Es bietet eine Gewähr dafür, daß die Mittel konzentriert nach der Dringlichkeit vor Ort eingesetzt werden können; denn unten wird entschieden, wo die Prioritäten sind.
Es sind diese beiden Prüfsteine — die rückhaltlose Analyse des Vergangenen und das Ausrichten des Regierungshandelns an den dringlichsten Bedürftigkeiten —, woran sich Ihre Taten, Herr Bundeskanzler, nun messen lassen müssen, wenn Sie von der Stunde der Wahrheit reden. Mit diesem Haushalt jedenfalls und auch mit den gestrigen Ankündigungen zum Aufbau Ost werden Sie trotz aller Schönrederei diesen Anforderungen nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212304800
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Grafen Lambsdorff das Wort.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1212304900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte den Kollegen Schwanitz im Anschluß an seine Bemerkung über die Verschuldung einiger Gemeinden, die er zitiert hat, fragen wollen: Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege Schwanitz, ob diese Gemeinden wirklich bereit sind, alle Möglichkeiten der privaten Finanzierung für Infrastruktur, für Stadtwerke, für Wasserversorgung und für Wasserentsorgung in Anspruch zu nehmen, um ihren eigenen Verschuldungsrahmen möglichst zu schonen, oder gehören diese Gemeinden auch zu denjenigen, die auf private Finanzierung verzichten, alles aus öffentlichen Mitteln — sprich: aus öffentlicher Kreditaufnahme — finanzieren möchten, um anschließend zu klagen, daß sie nicht bewegungsfähig sind?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212305000
Der Redner hat das Recht zu erwidern. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Schwanitz.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt hat er aber keinen Zettel mehr zum Ablesen!)


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1212305100
Das wird je nach der Situation der einzelnen Kommunen ganz unterschiedlich zu beurteilen sein. Meine Zahl bezog sich auf Waltershausen. Sie wurde vom dortigen Stadtkämmerer in einer kommunalpolitischen Konferenz genannt. Für



Rolf Schwanitz
mich ist das ein seriöser Wert. Pauschal läßt sich das aber nicht sagen.
Ich will Ihnen noch ein Zweites entgegnen. Wenn wir an die blockierten Vermögen denken, unter denen eine Kommune auch zu leiden hat, an die zum Teil immer noch offenen Übertragungen von Eigentum an die Kommune, an die Streitigkeiten im Energiebereich — es gab vor kurzem einen Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts —, so gehe ich davon aus, daß die Möglichkeiten der Privatisierung für ostdeutsche Kommunen mit denen, die eine westdeutsche hat, auf keinen Fall vergleichbar sind.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212305200
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dietrich Austermann.

Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1212305300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der junge Kollege Schwanitz, dem ich für seinen Vortrag Respekt zolle, hat dazu aufgefordert, zur Wahrheit zurückzukehren. Man hat bei Darstellungen gerade aus den neuen Bundesländern gelegentlich den Eindruck, als gäbe es die Bereitschaft, zur alten Idylle zurückzukehren, und als wäre der Zustand, den wir 1989 und 1990 vorgefunden haben, ideal gewesen. Ich möchte dem entgegenhalten, Herr Kollege Schwanitz, daß auch im Kreis der ostdeutschen Gewerkschafter die Situation anders beschrieben wird, als Sie das sagen. Man wünscht sich manchmal, daß es die Gelegenheit gäbe, einen Ausschnitt eines der sogenannten hervorragenden Industriebetriebe unter eine Käseglocke zu stellen und ihn sich nach drei oder fünf Jahren noch einmal anzusehen.
In Ost-Berlin trafen sich Betriebsräte von ostdeutschen Unternehmen und haben versucht, über gemeinsame Maßnahmen zu entscheiden. Dabei wurde auch das Thema Treuhand angesprochen — die Kritik haben Sie heute wiederholt —: „Selbst wenn es einen ,Kontrollrat' gäbe, in dem auch Arbeitnehmer die Entscheidungen der Treuhand mit zu begutachten hätten, könnten sie sich Sachzwängen nicht entziehen", betonte der DGB-Kreisvorsitzende aus Rostock. Zum Schluß heißt es, „mit den Anforderungen an Produktivität, Kostensenkung, Preis- und Marktfähigkeiten seien die ostdeutschen Betriebe überfordert." Wenn die Situation so ist, daß es die Marktfähigkeit noch nicht gibt, dann ist klar, wo unterstützt werden muß und weshalb es heute Schwierigkeiten gibt.
Wir sind angetreten, um heute in der Haushaltsdebatte und insbesondere in der Diskussion über den Einzelplan 04, der auch eine Bilanz des in zehn Jahren Geleisteten darstellt, entschlossen den Blick nach vorne zu richten. Es war richtig, daß der Bundeskanzler darauf hingewiesen hat: Die letzten zehn Jahre waren zumindest für den alten Teil der Bundesrepublik gute Jahre. Sie waren erfolgreiche Jahre. Das kann man an vielen Daten festmachen, angefangen vom Faktum des längsten Aufschwungs der Nachkriegszeit über ein inzwischen verdoppeltes Bruttosozialprodukt bis zum verdoppelten Geldvermögen privater Haushalte.
Schauen wir uns einmal die Relation zwischen dem Bruttosozialprodukt in der Bundesrepublik insgesamt und dem in den neuen Bundesländern an. Das Bruttosozialprodukt in den neuen Bundesländern beträgt 195 Milliarden DM. Die Zuschüsse des Bundes, also die Transferleistungen in die neuen Bundesländer, werden im nächsten Jahr allein bei 110 Milliarden DM liegen. Mehr als 50 % Zuschüsse sind also nötig, um dieses Bruttosozialprodukt zu ermöglichen.
Ich glaube, es ist richtig, darauf hinzuweisen, daß wir in den letzten Jahren die Ausgaben im Sozialbereich gewaltig gesteigert haben. Nach mir spricht der Kollege Dreßler. Er wird versuchen, ein anderes, ein schwarzes Bild zu malen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein rotes!)

— Ein rot-schwarzes Bild. — In der Tat sieht es so aus, daß die Sozialausgaben von 1982 mit 528 Milliarden DM auf 900 Milliarden DM in diesem Jahr angestiegen sind. Höhere Leistungen für Familien und Alleinerziehende waren fällig und sind auch gezahlt worden.
Oder sehen wir uns die Renten an. Die Entwicklung der Renten im Osten ist ein deutliches Beispiel für die positive Entwicklung. 1989 gab es 16,7 Milliarden Ost-Mark für die Rentner. Im mächsten Jahr werden es 53,5 Milliarden West-Mark sein. Das spricht eine deutliche Sprache.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben in den alten Bundesländern zehn gute Jahre hinter uns. Wir sammeln jetzt alle Kräfte für gute Jahre in ganz Deutschland. Mit dieser Situationsbeschreibung sollen nicht die Schwierigkeiten, die da sind, vernebelt werden. Aber die neuen Aufgaben können natürlich nur von denen bewältigt werden, die in der Vergangenheit gezeigt haben, daß sie die alten lösen können, und die sich dafür qualifiziert haben.
Die neuen Aufgaben will ich kurz beschreiben. Sie liegen vor allem in einer weiteren Verstärkung des Wiederaufbautempos in den neuen Bundesländern. Das ist es, was die Bürger dort erwarten. Dazu leistet der Haushalt 1993 einen wichtigen Beitrag.
Sie liegen in einem tatkräftigen Vorgehen gegen Asylmißbrauch und gewalttätige Kriminalität, für mehr innere Sicherheit. Sie liegen in einer antizyklischen Reaktion auf die weltweite Konjunkturflaute, die in Deutschland erst später wirksam geworden ist, d. h. auch in der Herstellung der Konkurrenzfähigkeit — ein ganz wichtiger Punkt — für die unsere Bürger auch bereit sind — das hört man bei allen Gesprächen —, Opfer zu erbringen. Die Herstellung der Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik insgesamt ist eine wichtige Voraussetzung für eine positive Gestaltung der Zukunft.
Meine Damen und Herren, ich glaube auch, daß wir eine Neuaufteilung der föderalen Lasten im Länderfinanzausgleich brauchen. Sparen hat natürlich beim Abbau der Neuverschuldung Vorrang, aber alle sind gefordert. Um diese Aufgaben zu meistern, muß jeder seinen Beitrag leisten, Regierung, Opposition, Bund, Länder und Gemeinden.



Dietrich Austermann
Es kann nicht so sein wie im Frühjahr 1992. Da haben wir alle miteinander zusammengesessen und Beschlüsse gefaßt, einen wesentlichen Schritt zum Aufbau in den neuen Bundesländern zu tun; und dann mußten wir gegen den Widerstand der SPD im Vermittlungsausschuß, mit Hilfe von Herrn Stolpe, gegen Widerstand auch der Mehrheit im Bundesrat, bis an die Grenze des Machbaren den Bund belasten, um der dortigen Mehrheit Zugeständnisse für die neuen Bundesländer abzutrotzen. Dies war die Situation im Frühjahr 1992. Jeder glaubte, die wesentlichen Schritte seien geleistet, aber offensichtlich immer gegen den Widerstand der SPD.
Das Zögern der SPD in Sachen Asyl kostet die deutschen Steuerzahler in diesem Jahr etwa 5 Milliarden DM. Wenn wir die Entscheidung, die wir jetzt miteinander herbeiführen wollen, schon vor einem Jahr gehabt hätten, wären wir ein ganzes Stück weiter und hätten vor allem, was ja interessant ist, bei den Sozialhilfekosten die Landeshaushalte wesentlich entlastet.
Diese Milliarden fehlen in den neuen Bundesländern; diese fünf Milliarden pro Jahr fehlen der Entwicklungshilfe, fehlen der Dritten Welt. Wer darüber jammert, daß dort die Mittel fehlen, sollte nach den Ursachen suchen.
Meine Damen und Herren, die SPD ist eine Schnecke,

(Helmut Esters [SPD]: Was?)

— ja, lieber Helmut Esters —, eine Schnecke, die zunächst immer die falschen Positionen vertritt und dann hinterherkriecht. Dafür gibt es eine Legion von Beispielen, vom Thema EG über NATO, Wiedervereinigung, Hilfen für die Bundesländer, Asyl, Blauhelme, Adriaeinsatz, innere Sicherheit. Immer erst hinterher, ein oder zwei Jahre später ist man bereit, die Lösung mitzutragen.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Bedauerlicherweise war ja der Bundesrat heute den ganzen Tag über nicht vertreten.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Doch, ein Senator und auch ein Pressesprecher der bayerischen Regierung waren da!)

— Ich meine Mitglieder der Regierungen. Ich hätte sonst gern dem Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein vorgehalten, daß er sich im schleswig-holsteinischen Landtag zu einem Asylkompromiß bereitgefunden hat — gemeinsam unterzeichnet mit der dortigen Opposition, der CDU —, aber nicht in der Lage war, diesen Kompromiß auf dem Bundesparteitag seiner Partei durchzusetzen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! Kaum zu fassen!)

Ich sage auch: Nicht jeder Kompromiß ist ein Ergebnis. Wenn jetzt Kompromisse ausgehandelt werden, die keine Spuren hinterlassen, wird das demokratische System insgesamt in Gefahr geraten.

(Zuruf von der SPD: Wie ist es denn mit der Koalition?)

— Sie haben doch die Entschließung am 15. Oktober hier mitbekommen.
Die SPD zögert bei der Frage der Eingrenzung der Sozialleistungen für Asylbewerber.
Wie sieht es in Sachen innere Sicherheit aus? Auch hier ein Beispiel aus Schleswig-Holstein. Am 10. November legt die dortige Opposition, die CDU, ein Konzept für die Änderung der Rechtsgrundlagen vor. Der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein — übrigens früher ein Datenschützer — lehnt dies ab, weil er die Sorge hat, wir würden uns in einen autoritären Staat verwandeln. Dies zeigt doch, wo die Probleme sind. Ich sage als Abgeordneter ganz klar: Ich erwarte auch von der F.D.P., von der Justizministerin, daß sie innerhalb des nächsten halben Jahres eine Bilanz dessen vorlegt, was notwendig ist, um Rechtsvorschriften zur Herstellung der inneren Sicherheit zu ändern. Es hat keinen Zweck, daß wir darüber miteinander laut nach draußen diskutieren, aber die Ergebnisse dann nicht auch in Regierungshandeln umgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Situation ist in den letzten Wochen und Monaten eindeutig verbessert worden. Wir haben die Leistungen für die neuen Bundesländer verstärkt, aber wir müssen auch in einem Bereich, der wenig finanzielle Anstrengungen erfordert, Wesentliches ändern. Dies ist nicht nur, wie heute mehrfach gesagt wurde, Aufgabe der Politik. Ich stelle mit Bedauern fest, daß aus Schulgesetzen einzelner Bundesländer inzwischen der Erziehungsauftrag verbannt worden ist. Ich stelle fest, daß man dort mehr von Selbstverwirklichung und antiautoritär redet. Der liberale Strafvollzug geht inzwischen so weit, daß Gerichte nicht mehr in der Lage sind, Untersuchungshäftlinge für die Dauer von mehr als einem halben Jahr in Gewahrsam zu halten. Man mußte in Hamburg — das gilt sicher auch für andere Bundesländer — mehrere Schwerstverbrecher entlassen, weil Fristen verstrichen waren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das gilt aber nicht für Bayern!)

Auch dies ist ein Gebiet, auf dem gehandelt werden muß. Ich stelle fest, daß man rechtswidrige Maßnahmen, wie Hausbesetzungen, nach wie vor duldet. Ich stelle fest, daß in der Medienlandschaft Tabubruch und Gewaltverbreitung nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Wenn dann im letzten Jahr in Schleswig-Holstein aus dem Schulgesetz die Möglichkeit gestrichen worden ist, einen Schüler, der sich schlecht benimmt, zu tadeln, zeigt das, daß viele auf dem falschen Weg sind.
Spätestens nach den Morden von Mölln will der Bürger Taten sehen, und ich frage alle: Leistet jeder seinen Beitrag, Maßnahmen vorbeugender Art auch gegen kriminelle Gewalttäter von rechts und links zu ergreifen? Wenn dies nicht geschieht, können wir die volle Anwendung der Härte des Gesetzes fordern; wenn die Richter aber nicht dazu bereit oder nicht in der Lage sind, sind wir kein Stückchen weiter.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich weniges zum Thema Finanzen sagen. Wenn heute über die hohe Neuverschuldung gesprochen wird, die im übrigen ja unter der „normalen" des Jahres 1982 liegt, wird allerdings verkannt, durch welche Ausgabenblöcke die Neuverschuldung bedingt wird, welche sie



Dietrich Austermann
umfaßt. Von den 150 Milliarden DM Neuverschuldung aller öffentlichen Hände — Bund, Länder und Gemeinden — sind etwa 120 Milliarden DM „einigungsbedingt", vom Fonds Deutsche Einheit über den Kreditrahmen der Treuhandanstalt bis zur Förderung der Ostgemeinden. Von den neuen Schulden sind also 120 Milliarden DM einigungsbedingt. Ohne die von uns herbeigesehnte Wiedervereinigung hätte der Bund in diesem Jahr keine neuen Schulden machen müssen. Wer die notwendige Neuverschuldung kritisiert, sollte sein Verhältnis zur Wiedervereinigung überprüfen!
Meine Damen und Herren, unsere Position ist ganz klar. Die Neuverschuldung wird weiter zurückgeführt, und wir erwarten, daß im föderalen System jeder dafür seinen Teil übernimmt.
Der Kern der bundesstaatlichen Verfassung ist die Finanzverfassung. Die Haushaltswirtschaft von Bund, Ländern und Gemeinden ist im Grundgesetz klar definiert. Der Bund ist für die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verantwortlich. Seine Grundsätze gelten für Bund und Länder gemeinsam. Es kann nicht sein, daß einzelne Länder, alte Bundesländer und die SPD in Bonn die hohe Verschuldung beklagen, dann durch die alten Bundesländer ziehen und ständig neue Forderungen erheben. Der SPD-Vorsitzende hat in seinem Bundesland zu seinem Landeshaushalt erklärt: Die Forderungen aus Bonn machen Schleswig-Holstein zu einem Schwellenland. Man muß sich das einmal vorstellen!

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht zu fassen!)

Ich glaube also, daß manch einer der Regierungschefs in den alten Bundesländern auf den Teppich zurückkehren muß. Wenn die Forderung erhoben wird, es müsse mehr gespart werden, so sage ich ganz bewußt: Das ist richtig, und wir sparen längst noch nicht in allen Bereichen der öffentlichen Hand.
Wir haben im Haushaltsausschuß einen wesentlichen Beitrag geleistet. Wir haben bei den Fraktionen und den Parteistiftungen angefangen. Ich gebe zu, daß manch einer wie ich davon überzeugt ist, in der Regierung, im Parlament, in den einzelnen Haushalten des Bundes, der Länder und der Gemeinden könne noch mehr gespart werden. Ich glaube, kein einziger Empfang, keine öffentliche Darstellung ist in der letzten Zeit ausgefallen. Wenn ich dann allerdings lese, daß die Stadt Hannover von der Stadt Magdeburg Kredite aufnimmt, um ihre laufenden Ausgaben zu decken, dann ist das ein Beispiel in viele Richtungen. Es kann doch nicht richtig sein, daß wir in den alten Bundesländern zum soundsovielten Male das Pflaster in der Fußgängerzone der Stadt X aufnehmen und mit neuen Farben gestalten und in den neuen Bundesländern, die Investitionen nicht vorankommen oder nicht die Möglichkeit besteht, sie umzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Unser nächster Schritt nach dem Sparen auf allen Ebenen muß die Verantwortung jedes einzelnen für die ihm zugewiesenen Aufgaben sein. Das gilt für die Tarifparteien, die nicht länger vom sozialen Kahlschlag reden sollten, jedenfalls nicht, solange die ÖTV mit polnischen Billigarbeitern ihre neue Verwaltung in Stuttgart errichtet,

(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/ CSU])

aber trotzdem 50 Millionen Defizit hat. Dies gilt auch für die Medien, die nicht nur Depression und Pessimismus verbreiten sollten. Dies gilt auch für die Banken und die Zinspolitik.
Zum Abschluß möchte ich kurz etwas zu Graf Lambsdorff und seiner Grafik sagen. Graf Lambsdorff, die erfolreichen Bemühungen zur Einsparung sind geeignet, die Konjunktur wieder stärker zu beleben. Dies bestätigt auch die neue Steuerschätzung, die den Ländern im alten Bundesgebiet immerhin für das nächste Jahr eine Einnahmesteigerung von 5,7 % bringt. Dabei ist schon die steuerliche Entlastung beim Grundfreibetrag, bei Lohn- und Einkommensteuer von gut 2 Milliarden DM berücksichtigt. Der Bund zieht damit Konsequenzen aus dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts für Geringstverdiener.
Es zeichnet sich ab, daß die Finanzpolitik durch ihre restriktive Handhabung zu einer Beruhigung des Preisniveaus, einer gemäßigten Lohnrunde und damit zu einer Geldpolitik führt, die Optionen für Zinssenkungen öffnet. Wir haben es also in der Hand, mit dem richtigen Signal zur Haushaltspolitik auch für eine Option für Zinssenkungen und für eine Belebung der Wirtschaft zu sorgen. Wenn wir in den letzten zehn Jahren vieles gemacht haben, dann war vor allem richtig, daß wir deutlich darauf hingewiesen haben, daß uns nicht Miesmacherei und Pessimismus voranbringen, sondern Optimismus und das schnelle Realisieren und Anerkennen dessen, was wir für richtig gehalten haben. Deshalb wird diese Wirtschaftspolitik auch Erfolge haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nein, meine Damen und Herren, eine Alternative zu dieser Politik gibt es weder in konzeptioneller noch in personeller Hinsicht durch die SPD. Mit dem Haushalt 1993 richten wir den Blick entschlossen nach vorn und sind bereit zu tun, was der Bürger von uns erwartet. Wenn alle ihre Arbeit tun, geht es unter einer CDU-geführten Bundesregierung in weitere gute Jahre.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1212305400
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rudolf Dreßler das Wort.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1212305500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach mehr als fünf Stunden Debatte über den Einzelplan 04, den Haushalt des Bundeskanzlers, die Politik des Bundeskanzlers, bleiben Fragen über Fragen. Ich stelle fest, daß es der CDU/CSU nicht einmal mehr auffällt, daß sich ihr Bundeskanzler unentwegt Fragen stellt — hingegen auf Antworten, die geboten wären, weitgehend verzichtet.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr macht beides!)




Rudolf Dreßler
Ich frage Sie: Sehen Sie eigentlich nicht oder wollen Sie nicht sehen, daß diese Zeit eben Antworten verlangt, daß Ihrer Regierung nach zweijähriger Amtszeit so viele Frage vorliegen, die einer Beantwortung bedürfen, daß das Aufwerfen weiterer Fragen durch den, der Antworten zu geben hat, ein unübersehbares Zeichen von Ratlosigkeit, ja von Schwäche ist? Ich will mich entgegen meiner Absicht vier Bemerkungen aus der Rede des Bundeskanzlers zuwenden.
Ich beginne mit dem Rentenexperten Helmut Kohl. Er trägt heute morgen dem Deutschen Bundestag Daten über den Altersaufbau vor, die Grundlage für das Parlament 1988 waren, ein Rentenreformgesetz zu verabschieden. Es wirft die Frage auf: Will er diesen Konsens nun aufkündigen, oder wollte er diesen Konsens heute morgen bekräftigen?

(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das ist doch absurd!)

Ich wende mich zweitens dem Maschinenlaufzeitexperten Helmut Kohl zu. Er besucht einen Betrieb in Schwerin, läßt sich Geschichten erzählen und findet diese spannend genug, sie dem Parlament zu berichten. Das gipfelt dann heute morgen in der Forderung, auch in Westdeutschland flexiblere Maschinenlaufzeiten einzuführen.

(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ja, Gott sei Dank!)

Ich frage: Kann es möglich sein, daß einem Bundeskanzler das Höchstmaß an bestehender flexibler Maschinenlaufzeit und Arbeitszeit, zwischen Betriebsräten, Unternehmensleitungen und Gewerkschaften in den letzten Jahren verabschiedet, wirklich unbekannt ist? — Es scheint so.
Das dritte Beispiel — der Lebensarbeitszeitexperte Helmut Kohl. Er philosophiert über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, und ich frage mich: Kann es einem Bundeskanzler wirklich entgangen sein, daß vor knapp elf Monaten

(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das hat er ja gesagt!)

dazu ein Gesetz in Kraft getreten ist, das diesen Themenkomplex hinreichend beantwortet?
Das vierte Beispiel ist der Arbeitsförderungsgesetzexperte Helmut Kohl.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wir sind doch nicht beim Frühschoppen!)

Er trägt dem Parlament heute vor, das Konzept seiner Politik sei: Arbeit statt Arbeitslosigkeit. Entfernt, frage ich mich, das hilfreiche Umfeld des Bundeskanzlers die Arbeitslosenstatistik aus den Drucksachen und Zeitungsausschnitten, die ihm eigentlich vorgelegt werden sollten?
Vor wenigen Tagen hat Ihre Bundesregierung, Herr Kohl, Milliardenbeträge aus dem Arbeitsförderungsgesetz gestrichen. „ 150 000 Arbeitslose mehr als untere Grenze" ist die Antwort der Experten. Manche sagen sogar: 200 000 bis 250 000 Arbeitslose mehr.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Wie rechnen Sie das denn?)

Sie nennen das „Arbeit statt Arbeitslosigkeit".
Es kann Ihnen, Herr Kohl, doch nicht entgangen sein, daß Sie und Ihre Regierung noch vor wenigen Tagen keine 25 Millionen DM zur Erlangung des Hauptschulabschlusses zur Verfügung stellen wollten, sich aber gleichzeitig innerhalb dieser Haushaltsdebatte ca. 500 Millionen DM für die Werbung Ihrer eigenen Bundesregierung genehmigen wollen. Das paßt einfach nicht zusammen.
Hinzu kommen die Unterhaltungsebenen innerhalb der Koalition. Der Bundesfinanzminister erklärt öffentlich, er habe keinen finanzpolitisch kompetenten Gesprächspartner bei der F.D.P. gefunden. Herr Möllemann nennt das „ungeheuerlich" . Es bleibt offen, was er denn nun mit „ungeheuerlich" meint.
Wir lesen, daß Fraktionschef Hermann Otto Solms von der F.D.P. ankündigt, es könne noch vor Weihnachten ein Nachtragshaushalt im Bundestag eingebracht werden. Unsereiner fragt sich, über was wir hier eigentlich diskutieren, reden und abstimmen sollen.
Wir lesen in der Zeitung, daß Herr Schäuble seinen Stellvertreter Geißler und den Abgeordneten Pflüger der CDU als unerträglich in ihren Aussagen zum Asyl bewertet.
Wir lesen in der Zeitung, daß der Generalsekretär der CDU — was immer er auch mit der Regierung im einzelnen zu tun haben mag — öffentlich ankündigt, diese würde einen Nachtragshaushalt bis Mai kommenden Jahres vorlegen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dreßler macht den Pausenfüller!)

Wir lesen gleichzeitig in der Zeitung — ich zitiere —: Es waren außer Geißler und Pflüger Rita Süssmuth und Angela Merkel. Sie berichteten, sie hätten, während sie sprachen, in der CDU/CSU-Fraktion Pogromstimmung gespürt. Sie würden das ohne Groll sagen, hätten sie doch ihrerseits erkannt, daß die Abgeordneten der CDU/CSU verstört, erschreckt und eingeschüchtert von der aufgebrachten Stimmung in ihren Wahlkreisen und Kreisverbänden nach Bonn gekommen seien.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sie sollten wirklich nicht alles glauben, was in der Zeitung steht!)

Vergleichbares habe sich vorher nie ereignet.
Der CSU-Vorsitzende in Bayern im Bezirk Niederbayern, Alfred Dick, erklärt die Steuerpolitik der Bundesregierung als Verschaukelungs- und Täuschungspolitik. Das CSU-Organ „Bayernkurier" wirft der Schwesterpartei CDU vor, sie schrecke die Wähler ab.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Hört! Hört!)

Herr Geißler sieht in der CDU eine schwere Glaubwürdigkeitskrise, und Herr Stoiber nennt Herrn Kinkel ein Sicherheitsrisiko.



Rudolf Dreßler
Meine Damen und Herren, unter diesen gesammtelten Prämissen glaube ich, feststellen zu dürfen,

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Fleißige Mitarbeiter! — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Große Materialsammlung!)

daß man den in zunehmendem Maße in der Publizistik Vergleiche anstellenden Journalisten, die den Zustand der Koalition zwischen SPD und F.D.P. aus dem Jahre 1982, als sie zu Ende ging, also ihrer Endphase, heranziehen

(Zuruf des Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU])

und damit Verwandtschaftsbeziehungen zum heutigen Zustand der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. aufwerfen, antworten muß: Man muß sich schützend vor die damals Beteiligten von Helmut Schmidt bis Hans-Dietrich Genscher stellen. Man muß sie vor derartig ehrenrührigen Vergleichen in Schutz nehmen. Das, was damals 1982 in der Koalition passierte, war im Verhältnis zu dem, was bei Ihnen heute los ist, geradezu ein freundschaftlich zugewandtes Liebesverhältnis.
Bei Ihrem Amtsantritt haben Sie großsprecherisch Ziele verkündet. Diese Ziele sind zu einem Zerrbild verkommen. Sie haben sie in ihr Gegenteil verkehrt. Sie haben auch heute wieder in dieser Debatte deutlich gemacht, daß Sie handlungsunfähig sind, daß Sie nicht in der Lage sind, dem deutschen Parlament mit dieser Haushaltsdebatte Problemlösungen aufzuzeigen. Der heute zur Beratung anstehende Bundeshaushalt widerspricht in allen seinen Aussagen den Geboten einer geordneten Finanzpolitik. Er verkehrt die Verpflichtung zur Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit ins Gegenteil. Er widerspricht den elementaren Regeln einer ehrlichen politischen Bilanz. Er vermittelt weder politische Orientierung noch ökonomische Perspektive.
Dieser Haushalt, meine Damen und Herren, ist schlicht ein Dokument der politischen Wirrnis, ein Zeugnis regierungsamtlichen Unvermögens. Er ist eine traurige Bestätigung des schlechten Rufes, den die Bundesregierung derzeit hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Julius Louven [CDU/CSU]: Nicht mal die SPD hört zu!)

Die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. geht nun in ihr elftes Amtsjahr. Die natürlichen Verschleißerscheinungen, denen ein solches Bündnis naturgemäß unterworfen ist, haben sich bei dieser Regierung mittlerweile auch für Oppositionspolitiker beängstigend gesteigert — und das angesichts politischer Herausforderungen, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte ohne Beispiel sind.
Die oberste Aufgabe jeder Politik, gleiche Lebensverhältnisse im geeinten Deutschland zu schaffen und den Aufbau der ostdeutschen Bundesländer zu beginnen, ist heute ebenso ungelöst wie am 3. Oktober 1990.

(Beifall bei der SPD)

Ich stelle nach der Rede des Bundeskanzlers fest:
Mittel und Wege zur Überwindung der wirtschaftlichen Rezession, die auch unsere Volkswirtschaft
erreicht hat, sind nicht erkennbar. Einen stabilisierenden Beitrag Deutschlands zur Neuordnung der in Bewegung geratenen politischen Landschaft Europas konnten wir aus der Rede des Bundeskanzlers nicht erkennen. Der innere Zusammenhalt unseres Volkes ist bedroht, noch bevor er nach der deutschen Vereinigung überhaupt gefunden wurde. Man kommt zu dem Ergebnis, daß Deutschland ziemlich führungslos in immer größere Zerreißproben schlittert, und die politische Philosophie, die die Grundlage für das heutige Regierungsbündnis von Anfang an bildete, hat auf beängstigend konsequente Weise jene Situation heraufbeschworen, in der sich unser Land derzeit befindet. Unser Volk wird die Geister nicht mehr los, die diese Regierung gerufen hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das für eine niveaulose Rede!)

Denn der desolate innere Zustand, in dem sich unsere Gesellschaft und mit ihr die ganze Republik befindet, hat seine Ursache nur vordergründig in aktuellem politischen Versagen oder Unvermögen. Er ist vielmehr auch in der von dieser Regierung bei ihrem Amtsantritt eingeleiteten schleichenden Umwertung der gesellschaftspolitischen Grundlagen begründet. Zehn Jahre dieser Bundesregierung haben in der Tat tiefgreifende Spuren hinterlassen, vor allem in den Köpfen. Der kaum verdeckte Appell, immer wieder geäußert, an den wirtschaftspolitischen und wirtschaftlichen Egoismus des Einzelnen hat ein Bewußtsein geschaffen, dessen Folgen wir heute tragen müssen. Zehn Jahre Politik ohne identitätsstiftende Signale zur gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit, zehn Jahre Politik, in denen gesellschaftliche Solidarität fast als etwas Verunglimpfenswertes dargestellt wurde, lassen sich nicht durch ein paar hohle Phrasen zur nationalen Einigkeit, wie sie immer wieder verkündet werden, überwinden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn das alles ernst gemeint ist, dann müßten vielmehr Taten diese Worte untermauern und politisches Vorbild vorgelebt werden. Beides ist bei dieser Regierung nicht zu sehen. Jetzt in einer Zeit, in der nichts mehr gefordert ist als Zusammenstehen und Solidarität, nichts mehr als eine gerechte Verteilung der Lasten, die gemeinsam zu schultern wären, wird die Politik dieser Regierung von ihren eigenen ideologischen Verirrungen und ihren Fehlern eingeholt.
Da hieß es und heißt es immer wieder: Leistung muß sich wieder lohnen — seit 1982. Früher nannte man das: Freie Bahn dem Tüchtigen. Beide Parolen hören sich gut an; aber beide Parolen sind politisch unhaltbar. Die eine ist wertlos, wenn nicht gar diskriminierend, weil sie eine Antwort darauf verweigert, wie die weniger Tüchtigen in die Gesellschaft einbezogen werden, damit auch sie sich ihr zugehörig fühlen, und die andere Parole ist zynisch, weil sie kaum verhüllt Leistung einseitig an ökonomischen Kategorien mißt und zudem diejenigen ausgrenzt, die leisten wollen, aber nicht können oder dürfen, etwa weil sie keinen Arbeitsplatz haben.
Dies sind gesellschaftspolitisch vergiftende Parolen. Eine Politik, die sich wie die der Bundesregierung seit nunmehr zehn Jahren solche Parolen zu eigen macht,



Rudolf Dreßler
sie gleichsam inhaliert, organisiert nicht den gesellschaftlichen Ausgleich, sondern den Verteilungskampf, organisiert die Ellenbogengesellschaft.

(Beifall bei der SPD)

Ich will hinzufügen: Eine solche Politik zerstört einen jener Grundwerte, ohne die keine gerechte Gesellschaft existieren kann, nämlich das, was die Angelsachsen unübersetzbar mit dem Wort „compassion" bezeichnen. Gemeint ist jene Fähigkeit der Menschen, füreinander dazusein und mitzufühlen. Ich will nichts idealisieren; aber ohne eine Grundausstattung an „compassion" ist eine humane Gesellschaft nicht denkbar.

(Beifall bei der SPD)

Füreinander einzustehen bedeutet nun einmal mehr, als füreinander im Notfall zu zahlen. Was könnte das deutlicher unter Beweis stellen, als der bisher reichlich mißratene Prozeß der gesellschaftspolitischen Vereinigung von West- und Ostdeutschen?
Im übrigen: „Leistung muß sich wieder lohnen" heißt doch auch, sie vorwiegend nach dem persönlichen ökonomischen Erfolg zu werten, gesellschaftspolitisch wertvolle Arbeit, die sich eben nicht in ökonomischen Kategorien fassen läßt, zu diskriminieren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)

Das ist, höflich gesagt, Ausdruck geistiger Anspruchslosigkeit.

(Beifall bei der SPD) Ihre Zwischenrufe bestätigen das.


(Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegenteil, nichts wird bestätigt!)

Deshalb will ich hinzufügen: Eine Politik, die sich daran orientiert, zeugt von intellektueller Tristesse, jedenfalls nicht von geistig-moralischer Führung oder gar Erneuerung, die die Deutschen seit 1982 angeblich beglücken sollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ist das die Alternative, was Sie sagen?)

Manche, meine Damen und Herren, behaupten, die Deutschen seien ein Volk der Dichter und Denker.

(Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich weiß nicht, ob diese Behauptung stimmt.


(Zuruf von der SPD: Für das Volk ja!)

Daß mittlerweile, meine Damen und Herren, Herr Möllemann Stellvertreter des Bundeskanzlers geworden ist, kann diese Behauptung auch nicht erhärten.

(Heiterkeit bei der SPD)

Politik insgesamt hat in den zehn Jahren der Amtszeit dieser Regierung das Vertrauen vieler Menschen verloren, das, so fürchte ich, so schnell auch nicht wieder zurückgewonnen werden kann. Eine der Ursachen für den Vertrauensverlust liegt in der Art und Weise, wie diese Regierung, vor allem aber der Bundeskanzler, Macht ausübt, die ihm von den Menschen anvertraut wurde. Herr Bundeskanzler, wenn Macht auch für sie kein Selbstzweck ist, frage ich
mich, warum Sie sich so verhalten, als sei sie es doch. Nichts gegen ein gesundes Verhältnis zur Macht! Sie ist auch in der Demokratie unverzichtbar; aber die Menschen stößt es ab, wenn sie nicht zum Zwecke der Lösung ihrer Probleme eingesetzt wird, sondern um der Sicherung des Wahlerfolges Ihrer Partei willen.

(Beifall bei der SPD)

Gerade die letzte Methode hat diese Regierung fast perfektioniert. Da war die Wählertäuschung über notwendige Steuererhöhung vor der Bundestagswahl nur ein trauriger Höhepunkt. Ich denke, es ist hinzuzufügen: Wer langfristig in Wahlen erfolgreich sein will, sollte eher die Losung beherzigen: Wahlerfolg nur durch Problemlösung. Dieser Koalition wird diese Erfahrung 1994 ziemlich sicher zuteil werden.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundeskanzler, Sie haben die Entscheidungen der Regierung in einem Ausmaß auf Ihre Person konzentriert, daß man das ganze Verfahren als eine Art demokratischen Absolutismus bezeichnen könnte. Bemerkenswerterweise gilt hingegen: Diese Regierung ist dennoch ohne Führung. Das zeigt, Führung, auch in der Demokratie ein unerläßliches Prinzip, braucht mehr als Entscheidungen, sie braucht Überzeugungskraft. Herr Bundeskanzler, nach meiner Wahrnehmung können Sie nicht mehr überzeugen. Die Menschen glauben Ihnen nicht mehr viel, weil Sie sie zu oft getäuscht haben, und die Menschen wissen: Dieser Bundeskanzler war mit Versprechungen schnell bei der Hand, aber ebenso schnell dabei, sich über sie hinwegzusetzen. Das alles sind denkbar schlechte Voraussetzungen für zielgerichtetes Regieren in einer schwierigen Zeit.
Aber es ist nicht nur die gesellschaftspolitische Philosophie dieser Regierung, die in die Irre führt; es sind nicht nur die grundlegenden Rahmenbedingungen für das Regierungshandwerk, die nicht stimmen. Die Koalitionsparteien sind in sich tief zerstritten. Es kann ja kein Zufall sein, wenn ein Abgeordneter der F.D.P. den bayerischen Innenminister einen Extremisten im öffentlichen Dienst nennt, und es kann auch kein Zufall sein, wenn der Bundesfinanzminister dem Wirtschaftsminister die Kompetenz abspricht, und das alles in einer Regierung.
Meine Damen und Herren, ich frage mich: Glauben Sie ernsthaft, Sie könnten in einem solchen Zustand der Öffentlichkeit noch Geschlossenheit vorgaukeln? Wissen Sie eigentlich vor lauter Beschäftigung mit sich selbst und mit eigenen Krisen noch, was eigentlich in Deutschland vor sich geht?

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich will das noch in einigen Punkten zusammenfassen. Wir registrieren Firmenzusammenbrüche zuhauf in den ostdeutschen Ländern — heute an Problemvorschlag: Nichts! Wir registrieren dramatische Einbrüche in der westdeutschen Konjunktur — in der Rede des Bundeskanzlers keine Antwort!

(Zuruf von der SPD: Haben wir auch nicht erwartet!)

Wir registrieren drohende Kurzarbeit bei den Konzernen der Automobilindustrie als schrilles Warn-



Rudolf Dreßler
signal — in der Rede des Bundeskanzlers keine Antwort!

(Zuruf von der F.D.P.: Wo waren Sie eigentlich heute morgen?)

Wir registrieren steigende Massenarbeitslosigkeit — keine Stellungnahme! Wir registrieren einen dramatischen Ansehensverlust Deutschlands in der Welt — kein Konzept, um dem zu begegnen! Ständig mehr Menschen fragen sich, wohin diese Republik treibt, oder sollte man sagen: diese Regierung sie treiben läßt.
Statt mit den Krisen im Lande beschäftigt sich diese Regierung mit den von ihr selbst verursachten Krisen im eigenen Haus.

(Beifall bei der SPD)

Ich will hinzufügen: Nach parlamentarischem Verständnis haben Sie die Pflicht, Deutschland zu regieren und vor Schaden zu bewahren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir schon!)

Ich registriere, daß Sie in Wirklichkeit die Dinge treiben lassen und in Ihrer eigenen Handlungsunfähigkeit zu ersticken drohen. Wo wirken Sie denn eigentlich noch aktiv gestaltend? Im Sommer haben Sie sich zum drittenmal in Fortsetzung über die Pflegeversicherung geeinigt — ein dringendes soziales Problem, das gelöst werden muß. Bis heute hat diese Regierung es nicht fertiggebracht, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Seit über einem Jahr liegt ein Gesetzentwurf der SPD im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Die Koalition verweigert sich trotz mehrfacher Aufforderung einer parlamentarischen Gemeinschaftsinitiative. Ich frage: Soll man das denn politische Gestaltung nennen?

(Beifall bei der SPD)

Seit langer Zeit fordert nicht nur die SPD, endlich den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" bei der Eigentumsregelung im Osten Deutschlands umzukehren, um ein gewichtiges Investitionshindernis zu beseitigen. Die Koalition stellt sich taub, obwohl erkennbar ist, daß diese Umkehrung zwingend vorgenommen werden müßte. Soll das etwa politische Gestaltung sein?
Seit langer Zeit erweist sich ein klarer gesetzlicher Sanierungsauftrag für die Treuhandanstalt als dringlich. Es geschieht nichts. Die Bundesregierung rührt sich nicht. Nennt man das etwa politische Gestaltung?
Das drohende Verkehrschaos auf Deutschlands Straßen, ständig steigende Wohnungsnot in Ost und West, Verschärfung der ökologischen Krise, anhaltende Ungerechtigkeit in der Besteuerung von Familien — in keinem dieser gewichtigen Problemfelder ist die Regierung mit Lösungsvorschlägen an Deck, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Sie haben den Menschen mehr als einmal die Unwahrheit gesagt. Glauben Sie wirklich, wenn Sie zur Zeit nichts sagen, sei das die Alternative dazu?
Sagen Sie doch endlich die Wahrheit! Sagen Sie den Menschen, wie es um Deutschland steht! Nennen Sie die Probleme, unterbreiten Sie ihre Lösungsvorschläge! Sie haben die Mehrheit in diesem Hause nicht erhalten, um sich in stürmischen Zeiten auf Grund zu legen oder sich in den eigenen Widersprüchen zu verfangen.
Deshalb sagt die sozialdemokratische Bundestagsfraktion: Unser Land braucht endlich einen neuen Anfang.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen erstens einen Kassensturz, um zu einer geordneten Finanzpolitik zurückkehren zu können.
Wir brauchen zweitens eine wirtschaftspolitische Bilanz, um endlich realistische Perspektiven für den Aufbau im Osten gewinnen zu können. Die Menschen dort brauchen Licht am Ende des Tunnels.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen drittens einen entschlossenen, einen starken Rechtsstaat, der nicht auf einem Auge blind ist, sondern die gewalttätigen Sumpfblüten von rechts

(Zuruf von der CDU/CSU: Und links!)

ebenso entschlossen in die Schranken weist, wie er die Terroristen von links in die Schranken gewiesen hat.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen viertens gerade in schwierigen Zeiten eine Sicherung des Sozialstaates. Statt weiteren willkürlichen Abbau benötigen wir einen qualitativen Umbau.
Wir brauchen fünftens eine Arbeitsmarktpolitik mit Perspektive, die endlich die Qualifizierung der Menschen finanziert statt deren Arbeitslosigkeit.
Sechstens brauchen wir einen neuen Staat für eine Politik des sozialen Wohnungsbaus. Jeder muß sein Recht auf eine menschenwürdige und bezahlbare Wohnung auch verwirklichen können.
Wir brauchen letztlich auch einen neuen Anlauf in der Umweltpolitik, der der fortschreitenden Vernichtung der Umwelt wirklich Einhalt gebietet.
Vor allem aber, meine Damen und Herren, brauchen wir die Wiederherstellung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen in der Politik wie in der Gesellschaft. Sie sind das Fundament, auf dem Deutschland zusammenfinden kann. Nur dann wird es gelingen, die Herausforderungen zu bestehen. Eine Regierung, die dazu nicht die Kraft hat, die diesem grundlegenden Auftrag im Wege steht, müßte eigentlich ihr Mandat an ihren Auftraggeber zurückgeben, denn die Wohlfahrt des Landes hat allemal Vorrang.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212305600
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212305700
Herr Präsident! Meine Damen und



Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Herren! Herr Kollege Dreßler, Sie sind schwächer geworden.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Früher haben Sie Ihre Beschimpfungen noch auswendig gelernt, jetzt müssen Sie sie schon vorlesen.

(Erneute Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Eine Aneinanderreihung von demagogischen Kalauern — zur Sache nichts gewesen!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Deshalb antworte ich zur Sache: Die von Ihnen beschworene Regierung Schmidt hat sich mit einer Kürzung des Sozialhaushaltes um 10 % verabschiedet. Dieser Sozialhaushalt steigt um 8,7 % .
Wir haben die Renten stabilisiert; Sie haben die Renten manipuliert, den Bundeszuschuß gekürzt und willkürliche Anpassungen vorgenommen. Die Rente ist wieder stabil. Wir stehen zum Konsens.
Sie haben nach den zehn Jahren gefragt. Ich nenne nur ein Stichwort, über das Sie 13 Jahre geredet und bei dem wir gehandelt haben: Erziehungszeiten im Rentenrecht. Endlich erhalten die Mütter ihr Recht, endlich bekommen sie ihre Kindererziehungszeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Beitragssatz in der Rentenversicherung ist so niedrig wie seit 1972 nicht mehr. Wir haben die Renten stabilisiert trotz der großen Anstrengungen, an der Sie mitgewirkt haben, unser Rentenrecht als gesamtdeutsches Rentenrecht darzustellen. Die ersten Gewinner der deutschen Einheit sind unsere älteren Mitbürger in den neuen Bundesländern, und sie haben es auch verdient.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben am meisten mitgemacht. Die Durchschnittsrente hat sich dort verdoppelt.
Deshalb vertraue ich darauf, daß die Millionen, die uns zuhören, sich nicht an der heißen Luft des Herrn Dreßler, sondern an den Fakten dieser Regierung orientieren. Dann haben wir gewonnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212305800
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuessner?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212305900
Ja.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212306000
Bitte schön.

Hinrich Kuessner (SPD):
Rede ID: ID1212306100
Herr Bundesminister, wissen Sie, daß viele Rentner in den neuen Ländern noch immer auf ihren Rentenbescheid warten?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212306200
Dann sollten Sie diesen Rentner sagen — das hätte Ihnen Herr Dreßler schon sagen können —, daß sie einen Vorschuß erhalten können. Sie brauchen auf keinen Pfennig zu warten. Wir handeln schnell.
Es ist eine gigantische Leistung der deutschen Rentenversicherung, daß sie vier Millionen neuen Rentnern so schnell ihren Rentenbescheid geben konnte. Ich gebe zu, daß es noch nicht überall klappt. Dann sollten Sie diesen Rentnern sagen, sie sollten nicht warten, sondern sich einen Vorschuß abholen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212306300
Gestatten Sie eine Zusatzfrage, Herr Minister?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212306400
Ich will noch hinzufügen: Sie sehen, wie wichtig die Mittel für die Aufklärung sind, die wir in unserem Haushalt haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Noch nicht einmal die Abgeordneten der SPD kennen das Rentenrecht. Wir werden ihnen eine Broschüre kostenlos zuschicken.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Hinrich Kuessner (SPD):
Rede ID: ID1212306500
Herr Bundesminister, diese Frage ist viel zu ernst, als das wir darüber albern sollten.

(Beifall bei der SPD)

Ich kenne dieses Problem seit langem und habe Sie schon im Haushaltsausschuß gefragt und darauf auch eine Antwort bekommen. Wissen Sie, daß der Abschlag für manche Rentner in einer Höhe liegt, bei der sie Schwierigkeiten haben, zur Zeit damit fertigzuwerden?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212306600
Die Rentenversicherung bemüht sich, diesen Vorschuß in der Nähe der zu erwartenden Rente zu halten. Ich will hier vor dem Deutschen Bundestag sagen: Es ist eine Glanzleistung, daß wir innerhalb von 14 Tagen die ostdeutschen Renten umgestellt haben und fähig waren, im Zusammenhang mit der Sozialunion dieses Rentenrecht auch anzuwenden. Ich finde, daß ist ein großes Glanzstück, an dem Hunderte, Tausende, Zehntausende mitgewirkt haben.
Aber nun noch zum Experten Dreßler, dem Experten für Arbeitsmarktpolitik. Wir steigern die Ausgaben für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern vom Haushalt 1992 auf 1993 von 30 Milliarden auf 34 Milliarden DM. Wenn ich richtig rechnen kann — Elementarunterrricht —, sind das 4 Milliarden DM mehr. Und das nennt Dreßler Kahlschlag.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ist es doch auch!)

— 4 Milliarden DM mehr nennen Sie Kahlschlag? — Fuchs, du hast schon öfter nicht nur die Gans gestohlen, sondern die Rechnung verwechselt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Es hieß weiter: 150 000 Arbeitslose mehr auf Grund der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes. Die Bundesanstalt geht in ihrem Haushaltsentwurf von 370 000 AB-Maßnahmen aus, wir von 350 000. Das ergibt einen Unterschied von 20 000. Gegenüber dem



Bundesminister Dr. Norbert Blüm
I Höchststand ist das ein Unterschied von 40 000. Nicht erwähnt haben Sie, Experte Dreßler, daß wir den Rückgang bei ABM kompensieren und mehr als ausgleichen durch das neue Instrument „Arbeitsförderung Ost". Jetzt sind schon Megaprojekte für die Braunkohle-Arbeitnehmer in Höhe von 15 000 Beteiligten, für Umweltschutz in Höhe von 10 000 vereinbart. Wir sind dabei, für die Chemiearbeiter Projekte in Höhe von 7 000 zu vereinbaren. Weitere kommen hinzu.
Herr Dreßler, es wäre besser, hier vor der deutschen Öffentlichkeit Aufklärung über die Hilfen zu betreiben, statt im Gegenteil Verunsicherungen zu schaffen. Sie würden den Bürgern mehr helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Experte Dreßler kritisiert, daß wir die Förderung des Hauptschulabschlusses im Arbeitsförderungsgesetz für solche gestrichen haben, die ihn nicht geschafft haben. Jetzt frage ich den Experten Dreßler: Wieso soll der Beitragszahler die Folgen einer verfehlten Schulpolitik finanzieren? Das sollen gefälligst die tun, die eine Schulpolitik betreiben, wie sie in Nordrhein-Westfalen betrieben wurde. Den höchsten Anteil derjenigen, die den Hauptschulabschluß nicht geschafft haben, gibt es in Nordrhein-Westfalen.

(V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker)

Ich frage Sie: Wieso soll denn eigentlich der Handwerksmeister, der Stahlarbeiter, der Stahlkocher die verfehlte Schulpolitik des Herrn Schwier bezahlen? — Herr Rau soll zusehen, daß die Hauptschule ihre Funktion wirklich erfüllt. Dann ist der Steuerzahler und nicht der Beitragszahler dran. Wir schützen die
I Arbeitnehmer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Soviel Verwechslung im Gehirn eines Experten — das ist wirklich eine Uraufführung. Sie haben einen schlechten Tag gehabt, lieber Kollege Dreßler.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212306700
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Diller?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212306800
Bitte.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212306900
Bitte, Herr Kollege Diller.

Karl Diller (SPD):
Rede ID: ID1212307000
Herr Minister, nachdem Sie heute Ihre Rede von gestern wiederholen —,

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212307100
Man kann die Wahrheit nicht oft genug vortragen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe Ihnen gestern schon gesagt: Ich bin auf die Wahrheit vereidigt, und ich werde die Wahrheit hier vortragen.

Karl Diller (SPD):
Rede ID: ID1212307200
— möchte ich Sie fragen — damit das Haus einmal etwas erfährt, was Neuigkeitswert
hat —: Stimmt es, daß in den Reihen der Koalition derzeit Überlegungen dahin gehend angestellt werden, die Arbeitslosenhilfe aus dem Bundeshaushalt herauszunehmen, sie der Bundesanstalt für Arbeit anzulasten und dafür die Beitragssätze zu erhöhen?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1212307300
Ich kenne solche Überlegungen nicht. Ich würde mich immer gegen solche Überlegungen wenden, weil die Beitragszahler nicht für die Arbeitslosenhilfe zuständig sind.

(Zuruf von der SPD: Vorsichtig!)

— Vorsichtig? — Ich bin nicht nur vorsichtig; ich bleibe auf der ordnungspolitischen Linie, die Sie immer verlassen. Das ist richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zur Pflegeversicherung nur soviel: Ich bin sicher — ich hoffe, dieses Haus mit all seinen Fraktionen ist sich darüber einig —, daß die Pflegeversicherung zu den bevorzugten, zu den dringendsten Fragen gehört.

(Zurufe von der SPD)

— 13 Jahre haben Sie regiert, und 13 Jahre haben Sie nichts gemacht. Wir haben im Gesundheits-Reformgesetz zum erstenmal überhaupt für die ambulante Pflege eine sozialstaatliche Lösung im Rahmen der Sozialversicherung zur Verfügung gestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben immer eine gewisse Verspätung.
Meine Damen und Herren, ich will die Sache gar nicht verschärfen. Ich arbeite mit allen an der Durchsetzung eines ordentlichen Pflegekonzepts. Sie können ganz sicher sein: Die Rentner können sich, wie bisher, weiterhin auf diese Regierung verlassen.
Ich lade Sie ein, an dem Konsens festzuhalten, den wir gemeinsam beschlossen und getragen haben.
Auf bessere Tage, Herr Dreßler!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212307400
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Frau Kollegin Andrea Lederer das Wort.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1212307500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht nur eine Anmerkung, Herr Minister, zu Ihrem Beitrag: Verschonen Sie die Menschen in den neuen Bundesländern mit weiteren Hochglanzbroschüren! Die lösen dort nämlich nur allseitiges bitteres Lachen aus.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Wir waren gerade in Mecklenburg-Vorpommern und konnten diese Erfahrung machen.
Herr Bundeskanzler — ich freue mich, daß Sie noch hier sind —, ich möchte vorab eine Bemerkung zu Ihrem Beitrag machen, weil entgegen parlamentarischer Gepflogenheit dem Kollegen Gysi keine Gelegenheit zu einer Kurzintervention gewährt wurde. Obwohl er sich normalerweise ganz gut allein wehren



Andrea Lederer
kann, möchte ich etwas dazu sagen, weil es die Politik der ganzen Gruppe angeht.
Erstens. Herr Bundeskanzler, Sie haben dem Kollegen Gysi vorgeworfen, daß er nicht berechtigt sei, Ihnen und anderen deutschen Politikern Belehrungen in Sachen Demokratie zu erteilen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! — Sehr wahr!)

Einmal abgesehen davon, daß in dem Beitrag keine Belehrungen zu vernehmen waren — wenngleich ich sie angesichts der Lage in diesem Lande für durchaus angebracht hielte —,

(Zurufe von der CDU/CSU: SED-Ableger!)

geht es ja um eine ganz andere Frage. Wenn Sie Herrn Gysi oder anderen Mitgliedern unserer Gruppe das untersagen

(Zurufe von der CDU/CSU)

— das sage ich Ihnen als jemand, die aus Westdeutschland kommt —, dann untersagen Sie gleichzeitig Millionen von Bürgern und Bürgerinnen der ehemaligen DDR, sich zu diesen Fragen zu äußern,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

und zwar allein auf Grund der Tatsache, daß sie in diesem Land gelebt haben. Genau gegen diese Art der Demütigung und diese Art selbstgefälliger Westarroganz wenden wir uns, wendet sich Herr Gysi, wendet sich unsere Gruppe und mit uns gemeinsam eine ganze Menge von Bürgern in den neuen Bundesländern.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Und die SED auch!)

Zweitens. Sie haben ferner den Vorwurf gemacht, daß Herr Gysi die Opfer von links und rechts gegeneinander aufrechne. Das ist mit keiner Silbe geschehen. Wenn Sie wirklich zugehört haben, wissen Sie das.
Unser Vorschlag lautet — wie 1977 nach der Ermordnung von Hanns Martin Schleyer —, auch angesichts der Tatsache, daß wir heute 18 Opfer rassistischer Übergriffe beklagen müssen, eine 15minütige Arbeitsniederlegung durchzuführen. Der DGB möge dazu aufrufen, und die Bundesregierung möge diesen Vorschlag unterstützen. Wovor Sie sich gedrückt haben, ist, hierzu Stellung zu nehmen. Das vermißten wir in Ihrer Rede.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe von der CDU/CSU)

Drittens. Sie haben den Vorwurf gemacht, daß wir jetzt und in Zukunft dahin gehend polemisierten, daß die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Situation Ergebnis der Politik der Bundesregierung sei. In der Tat hat die Politik des SED-Regimes natürlich einige negative Folgen gehabt.

(Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Einige? — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Einige negative Folgen? Eine Verbrecherbande war das !)

Das wird von uns auch nicht geleugnet. Dazu gibt es im übrigen unsererseits sehr viel mehr tiefgehende Beiträge, als von Ihrer Seite geleistet wurden.
Aber wir werden uns dennoch gegen diese Legende von der Erblast wenden, und zwar mit gutem Recht.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Eine Verbrecherbande, sonst nichts!)

Der geringste Teil der jetzt von Herrn Waigel aus dem Hut gezauberten Rechnungen in Höhe von mehr als 400 Milliarden DM kann überhaupt als DDR-Erblast bezeichnet werden.
Die Inlandsverschuldung der DDR, die Teil des Kreditabwicklungsfonds geworden ist, betrug am 3. Oktober rund 28 Milliarden DM. Auslandsschulden von 55,6 Milliarden DM standen Forderungen in Höhe von — —

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Da haben Sie die gefälschten Zahlen von Herrn Modrow übernommen!)

— Sie fälschen die Zahlen! In jedem politischen Bereich versuchen Sie, die Öffentlichkeit mit manipulierten Zahlen zu betrügen und nicht die Wahrheit zu sagen.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Der Herr Modrow hat die Zahlen gefälscht! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Die Nettoverschuldung der DDR gegenüber dem Ausland betrug demnach 19,3 Milliarden DM und die Verschuldung der DDR insgesamt zuletzt 47,3 Milliarden DM. Das sind die richtigen Zahlen. Die Verschuldung pro Kopf der Bevölkerung ist seit der deutschen Einheit für die Menschen in den neuen Bundesländern enorm gewachsen.
Das zum Thema Erblast-Legende.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Die alten kommunistischen Sprüche, sonst nichts!)

Ich komme jetzt auf die Debatte des heutigen Tages zu sprechen. Die heutige Debatte hat in der Tat einiges Erschütternde an sich.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ihre alten kommunistischen Sprüche können Sie sich sparen!)

Ich muß hier leider — er ist jetzt nicht im Raum — an erster Stelle die Rede von Herrn Schäuble nennen.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Er ist nicht mehr im Raum, seit Sie sprechen!)

Die Rede hat eine nationalistische, eine chauvinistische,

(Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ihre kommunistischen Sprüche können Sie sich sparen!)

eine sozial brutale Linie für die künftige Politik der CDU/CSU entworfen. Ausgerechnet in einer Zeit, in der tagtäglich Morde und brutale Angriffe auf Flüchtlinge und Ausländer passieren, wagt es Herr Schäuble, hier an ein Nationalbewußtsein anzuknüpfen, dem erste Priorität einzuräumen sei, und das auch



Andrea Lederer
noch von ihm so genannten sozialen Verteilungskämpfen gegenüberzustellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben doch überhaupt kein Bewußtsein!)

Darin steckt nicht nur die Zumutung gegenüber sozial Benachteiligten dahin gehend, diese auf Heimatmusikabende zu verweisen, statt tatsächlich eine Besserung ihrer sozialen Situation in Angriff zu nehmen; darin steckt vor allem erneut das Fördern, das Schüren eines Bewußtseins, das u. a. Basis genau für die Angriffe und Überfälle ist, die wir leider in der heutigen Zeit Tag für Tag erleben.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Schämen Sie sich! — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Unverschämtheit!)

Insofern stimme ich mit der SPD darin überein, daß die Rede von Herrn Schäuble eine brandstifterische Rede gewesen ist.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Schämen Sie sich! — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Unerhört!)

Es stimmt, was der Bundeskanzler sagte: Es gibt eine — und zwar verfassungsrechtlich verankerte — Friedenspflicht nach innen und nach außen. Gegen diese Friedenspflicht wird hier tagtäglich durch die Politik der Bundesregierung eklatant verstoßen; nach innen vor allem durch die unsägliche sogenannte Asyldebatte, durch das Beschneiden von Rechten der Opfer dieser Angriffe und durch eine Abschottung nach außen.
Unsere Fraktion hat in der letzten Woche in Mecklenburg- Vorpommern einen Arbeitsbesuch durchgeführt und mit zahlreichen Kommunalpolitikern und Kommunalpolitikerinnen in Flüchtlingsunterkünften Gespräche geführt. Es sind nicht die Grenzen der Belastbarkeit erreicht; vielmehr ist es so, daß die Politik der Bundesregierung künstliche Grenzen zieht, indem sie die Kommunen allein läßt, indem sie ihnen nicht die Mittel zur Verfügung stellt, um für eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge zu sorgen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist die hohe Verantwortung, die Sie für genau diese Situation tragen.
Sie schaffen diese Grenzen auch in ideologischer Hinsicht, indem Sie sich weigern, eine absolut notwendige Aufklärungskampagne durchzuführen und darin über Hintergründe und Ursachen von Flucht aufzuklären. Ich weiß auch, was der Grund für diese Verweigerungshaltung ist. Sie müßten sonst nämlich eine Bankrotterklärung abgeben angesichts der Tatsache, daß Sie es wagen, heute den Haushalt für Entwicklungshilfe zu kürzen, statt ihn aufzustocken, und zwar entgegen Ihren ständigen Beteuerungen, Sie würden Fluchtursachen bekämpfen. Statt dessen also kürzen Sie den Haushalt, der genau dazu mit beitragen müßte.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, von dem Vertrauen sprechen, daß die Nachbarländer der Bundesrepublik bei der Gewährung der vollen Souveränität entgegengebracht haben, dann muß heute festgestellt werden, daß dieses Vertrauen massiv mißbraucht wurde. Das spiegelt sich in allen Kommentaren ausländischer Medien und mittlerweile auch einiger ausländischer Politiker wider — und das zu Recht.
Da offenkundig allein das Ansehen dieses Landes für die Bundesregierung und die großen Parteien relevant ist, wenn es darum geht, auch nur winzige Schritte im Kampf gegen Rassismus zu tun, kann ich nur einen flehentlichen Appell an das Ausland richten: Richten Sie Ihr Augenmerk auf die Entwicklung in diesem Land! Machen Sie deutlich, daß dies wohl kaum der Vorzeigestaat für eine europäische Entwicklung sein kann — so wie er sich momentan entwickelt und gebärdet, auch im europäischen Prozeß! Unterstützen Sie alle diejenigen, die — wie heute in Mölln und in Berlin — —
Übrigens: Vergessen Sie auch nicht immer den Tod des Antifaschisten Silvio, eines Opfers in Berlin! Silvio ist jemand, der nicht erst am 8. November, sondern bereits sehr viel früher erkannt hat, daß es darum geht, sich tatsächlich zu engagieren.

(Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der von euch verfolgt worden ist! Das ist schamlos! Er war jemand, der gegen die SED gekämpft hat! — Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

— Ach hören Sie doch auf mit diesem Gequatsche! Es ist lächerlich, was Sie sagen. Er ist jemand, der mit uns in Rostock-Lichtenhagen auf der Straße war. Das hat etwas damit zu tun, daß die PDS sehr wohl genau diese Politik, die jemand wie Silvio mit betrieben hat, mit aufgreift.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Ich will noch auf einen anderen Aspekt eingehen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Noch einen?!)

und zwar was die soziale Demontage anbelangt, die Herr Schäuble hier so eindrucksvoll beschrieben hat. Er hat den Beweis dafür erbracht, daß Sozialabbau und Demokratieabbau zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.
Herr Schäuble erdreistet sich hier wirklich allen Ernstes, davon zu reden, daß Menschen nicht bereit seien, Arbeitsangebote anzunehmen; sie seien nicht motiviert zur Arbeit. Das ist grenzenloser Zynismus. ich hoffe wirklich nur eines: daß dies die Menschen in den neuen Bundesländern gehört haben, die in Orten leben, in denen zum Teil 60 %, 70 %, 80 % Arbeitslosigkeit herrscht und in denen die Frauen nicht die geringste Chance haben, überhaupt irgendeine Arbeit zu finden. Ich hoffe, daß Sie eine mehr als deftige Quittung für eine derartige Arroganz und einen derartigen Zynismus erhalten.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Ich hoffe etwas Weiteres, nämlich daß in den alten Bundesländern genau vernommen wurde, daß Herr Schäuble das Verkehrsbeschleunigungsgesetz als Modell für Ost und West predigte, was nur eines heißt: Der Demokratieabbau, das Mitbestimmungsdefizit,



Andrea Lederer
das Verweigern der Mitbestimmung der Bevölkerung,

(Zurufe von der CDU/CSU)

was Sie einführen, indem Sie den Osten dafür instrumentalisieren, sollen nach Ihrer Vorstellung das künftige Modell Deutschland kennzeichnen. Auch hierfür möge Ihnen tatsächlich die Rechnung präsentiert werden. Hier mögen Sie tatsächlich auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung und der Opposition treffen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212307600
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nähern uns der namentlichen Abstimmung, und der Geräuschpegel wird natürlich größer. Ich bitte Sie alle aber trotzdem, dafür zu sorgen, daß sich Rednerinnen und Redner verständlich machen können.
Nächster Redner ist jetzt der Abgeordnete Konrad Weiß.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1212307700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wohin treibt Deutschland im Herbst 1992? Wohin lassen wir es treiben, drei Jahre nach dem gewaltfreien deutschen Herbst, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung?
Die Verantwortung für das, was in Deutschland geschieht, tragen wir alle, alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und auch die Politiker und auch die Regierung — auch, aber nicht nur. Es ist zu billig, wenn sich angesichts der alltäglichen Gewalt Bürger und Politiker, Opposition und Regierung die Verantwortung immer nur gegenseitig zuschieben, so als gäbe es eine einfache Antwort.
Verändern werden wir nur dann etwas, wenn wir gemeinsam die Gewalt nicht dulden und wenn wir gemeinsam und entschieden gegen Gewalt vorgehen. Ich wage diesen Appell an die Gemeinsamkeit der Demokraten erneut, vielleicht ein letztes Mal, aus meiner Erfahrung heraus, aus der Erfahrung der Bürgerbewegungen des Herbstes 1990 mit der Macht der Gewaltlosigkeit. Diese Gemeinsamkeit soll keine Gegensätze und Widersprüche verschleiern, aber sie soll uns zu wirksamem Handeln befähigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deutschland, meine Damen und Herren, ist zu einem Land der alltäglichen Gewalt geworden, zu einem Land der Gewaltreden, der Gewalttaten, der Gewaltpolitik. Ausländer und Deutsche, Juden und Moslems, Ostdeutsche und Westdeutsche, Frauen und Kinder sind Opfer dieser alltäglichen Gewalt. Angst und Hilflosigkeit — ich kann dem Bundeskanzler da nur recht geben — machen sich in Deutschland breit. Die Meldungen des vergangenen Wochenendes klingen wie Meldungen aus einem Bürgerkriegsland:
In Berlin wird Silvio Meier in der U-Bahn erstochen, ein Mann, der zur Oppositionsbewegung der DDR gehörte. Frau Kollegin Lederer, es ist schamlos von Ihnen, von Ihrer Partei, diesen jungen Mann, den Sie verfolgt haben,

(Zuruf der Abg. Andrea Lederer [PDS/Linke Liste])

heute zum Kronzeugen zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD])

Er war Wehrdienstverweigerer und hat Gewalt immer abgelehnt, bis zuletzt; so sagen es seine Freunde.
In Mölln verbrennen zwei türkische Mädchen und eine Frau nach einem rechtsradikalen Brandanschlag.
In München wird ein Pater der Barmherzigen Brüder von Rechtsradikalen geschlagen und eine Treppe hinuntergestoßen, weil er mit einem Afrikaner unterwegs war.
In Wuppertal verletzten rechte Radikale einen Mann lebensgefährlich, von dem jemand gesagt hatte, daß er Jude ist, und zünden das sterbende Opfer an.
Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis für die Entschlossenheit meines Freundes Ralph Giordano und anderer Überlebender der Shoah, sich und ihre Angehörigen notfalls selbst zu verteidigen. „Nie wieder" — so hat Ralph Giordano dem Bundeskanzler geschrieben — „werden wir Überlebenden des Holocausts unseren Todfeinden wehrlos gegenüberstehen." Ist es nicht eine Schmach für uns alle, daß es in Deutschland soweit gekommen ist? Manchmal denke ich, wir sollten den Einsatz von UNO-Blauhelmen in Deutschland erbitten.
Ich schlage vor, vor dem Deutschen Bundestag eine Stele mit den Namen der Opfer der rechten und der linken Gewalt zu errichten — uns Abgeordneten und allen Bürgerinnen und Bürgern, die hierherkommen, zur Mahnung und Erinnerung an unsere erste Pflicht, die Würde des Menschen zu schützen.
Viele Menschen in Deutschland leben heute in Angst, Ausländer wie Deutsche. Die Bedrohung ist vielfältig und real. Die Bedrohung ist lähmend. Ich weiß es; denn — gestatten Sie mir diese persönliche Bemerkung — auch ich habe Angst, mehr Angst, als ich je in der DDR gehabt habe. Dort war die Bedrohung kalkulierbar. Heute werde ich von den einen als „Judensau" beschimpft und mit Vergasen oder Aufhängen bedroht und von den anderen beschmutzt und entwürdigt, und man will mir in altbewährter SED-Manier verbieten, das zu sagen, was ich denke. Wer Bücher verbrennt, wer Gedanken verbietet — das sollten sich die Autoren einer bestimmten Zeitung sehr zu Herzen nehmen —, wird eines Tages auch Menschen verbrennen. — Das hat Brecht gesagt. Auch Rufmord ist Mord.
Nein, ich wiederhole es hier und sage es: Jede Gewalt, ob von rechts oder von links, ist Unrecht und ist ein Verbrechen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)

Wer als Linker den Protest gegen rechte Gewalt verhindern will, macht sich zum Handlanger der Faschisten.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Zur Tradition der Bürgerbewegungen des BÜNDNIS 90 gehört die Verurteilung jeder Gewalt. Wir
können nur glaubwürdig bleiben, wenn wir ange-



Konrad Weiß (Berlin)

sichts der massiven und überwältigenden Gewalt von rechts auch die Gewalt der Linksradikalen nicht verharmlosen. Dies muß Teil unserer politischen Kultur bleiben.
Nicht die Angst soll unser Handeln bestimmen, sondern die Entschlossenheit, die Würde und Freiheit des Menschen zu verteidigen. Dies ist die alltägliche Aufgabe eines jeden und einer jeden, wie es auch Aufgabe des Staates ist. Viele Bürgerinnen und Bürger haben in den letzten Wochen und Monaten oftmals entschlossener gehandelt als der Staat und seine Diener, deren Aufgabe es doch zuerst wäre, für das Leben und die Freiheit eines jeden Menschen in unserem Land einzustehen.
Was ist das Gewaltmonopol des Staates wert, meine Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es nicht entschieden und konsequent gebrauchen? Wir brauchen, denke ich, nicht ein einziges neues Gesetz, sondern wir brauchen entschlossenes Handeln von Bundes- und Landesregierungen, von Polizei und Justiz. Das entschiedene Vorgehen der brandenburgischen Landesregierung — an ihr ist das BÜNDNIS 90 beteiligt — gegen jene, die den Friedhof der Kriegsopfer in Halbe entweihen wollten, hat die Rechtsradikalen nachdrücklich in die Schranken gewiesen. Viele, nicht alle Gewalttaten hätten sich so im Vorfeld verhindern lassen.
Zum entschlossenen Handeln der Demokraten gehört aber auch, daß die Allgemeinheit vor radikalen Straftätern geschützt wird. Wer Gewalt angewendet hat, darf eben nicht nach Feststellung seiner Personalien freigelassen werden und sich dadurch zu erneuten Straftaten ermutigt fühlen;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

aber genau das ist die Realität. Radikale, die Menschen bedrohen, verletzen oder töten, nur weil sie anders sind, müssen gesellschaftlich geächtet werden und auf Jahre ins Gefängnis kommen. Wer faschistische Symbole gebraucht oder andere Menschen in Wort oder Tat diskriminiert, muß spürbar bestraft werden.
Es ist unerträglich, daß inzwischen widerstandslos hingenommen wird, wenn rechts- oder linksradikale Wirrköpfe oder Verführer in den Medien ihre unsägliche Volksverhetzung betreiben. Radikale haben in Talk-Shows nichts zu suchen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ein Sender, eine Zeitung, die etwas auf sich hält, sollte sich konsequent weigern, verfassungsfeindliche Auslassungen zu verbreiten. Das gehört jedenfalls nach meinem Verständnis nicht zur Informationspflicht der Medien.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wenn das Gespür dafür den Journalisten verlorengegangen ist, sollten Zuschauer, Zuhörer und Leser agieren. Ich schlage vor, daß den öffentlich-rechtlichen Anstalten für jede Minute Sendezeit, in der
radikale Gewalttäter zu Wort kommen, die Mittel entzogen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich schließe mich der Forderung der Bürgerinitiativen an, Gewaltdarstellung in den Medien ebenso wie Pornographie zu indizieren. Das meint eben nicht den Agatha-Christie-Film oder den „Tatort", sondern jene unendlich entmenschten Grausamkeiten, die inzwischen auch skrupellos gesendet werden. Bei den Privaten muß die Ausstrahlung solchen Schunds zur Entziehung der Lizenz führen. Als Filmemacher sage ich in aller Deutlichkeit: Nicht die Freiheit der Medien ist das höchste Gut, sondern die Würde des Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)

Daran haben auch wir Medienmacher uns zu halten.
Es könnte ein ermutigendes Zeichen sein, wenn die deutschen Fernsehsender in der Adventszeit und Weihnachtszeit freiwillig auf die Darstellung von Gewalt verzichteten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich ermutige alle Fernsehzuschauer, das von ihren Sendern zu verlangen. Ich fordere die Medien erneut auf, nicht der Berichterstattung über Gewaltakte und Radikale das größere Gewicht zu geben, sondern der Berichterstattung über den vielfältigen Widerstand der Bürgerinnen und Bürger dagegen. Diejenigen, die sich schützend und mutig vor Ausländer stellen, verdienen das öffentliche Interesse, nicht die feigen und hinterhältigen Schufte, die Asylbewerberheime angreifen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nicht wir Politiker, die wir monatelang ohne Ergebnis über wirksame Maßnahmen debattieren, sollten „Tagesthemen" und „ heute-journal" füllen, sondern Bürgerinnen und Bürger, die vor Ort etwas tun. Das würde auch den Widerstand stärken.
Meine Bitte richte ich auch und besonders an die Korrespondenten der ausländischen Medien. Als ich kürzlich in den Vereinigten Staaten war, war jedermann über die rechtsradikalen Ausschreitungen bestens informiert. Aber daß es in Deutschland Widerstand dagegen und zahllose tapfere Bürgerinitiativen gibt, das wußte niemand und wollte mir auch niemand glauben.
Der Radikalismus, meine Damen und Herren, ist nicht nur ein sozialtherapeutisches Problem. Keine noch so schwierige Kindheit, keine Arbeitslosigkeit, keine soziale Entwurzelung rechtfertigt die Gewalttätigkeit gegen andere Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)

Auch die tiefgreifenden Vereinigungsprobleme in
den östlichen Bundesländern können radikale Gewalt
nicht entschuldigen. Doch es muß uns bewußt sein,



Konrad Weiß (Berlin)

daß sich durch den Zusammenbruch der DDR und mit der Vereinigung gerade für viele junge Menschen, übrigens auch im Westen, das gesamte Wertesystem total verändert hat oder aber total in Frage gestellt worden ist. Neue Koordinaten lassen sich nicht durch Appelle schaffen. Halt können Menschen nur in der Gemeinschaft gewinnen und nur, wenn sie Ideale, Maßstäbe und Vorbilder haben. An all dem mangelt es.
Eines der größten Probleme aber ist die massenhafte Arbeitslosigkeit der Eltern, die immer auch schlimme Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hat. Deshalb muß unsere wichtigste Investition die in die Jugend sein. Es ist sträflich, wenn wir junge Menschen in dieser Umbruchsituation allein lassen und vernachlässigen. Statt jede Initiative großzügig zu fördern, die Kindern und Jugendlichen Schutzraum und Halt bietet, sind Clubs und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche reihenweise geschlossen worden. Statt den Erhalt von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu fördern, finanzieren wir Provisorien und Profit. Viele junge Menschen in Ostdeutschland fühlen sich als Ausländer im eigenen Land. Sie haben ihre Identität als Deutsche oder gar als Europäer noch nicht gefunden, und ich fürchte, viele werden sie lange nicht finden, denn unsere Jugendpolitik ist ebenso unentschieden und hilflos wie unsere Ausländerpolitik. Hier wie dort haben wir über die eigentlich doch augenfälligen Probleme lange hinweggesehen.
Eine Mehrheit in diesem Hohen Haus will Art. 16 Abs. 2 unseres Grundgesetzes ändern. Sie werden ihn ändern, aber Sie ändern damit nichts. Schlimm ist nur, daß damit die Hoffnung geweckt wird, die große Anzahl von Asylbewerbern lasse sich so vermindern und das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern harmonisieren. Die Ernüchterung wird schlimm sein, und ich fürchte, das wird den Rechten zu Buche schlagen. Auch ein Kanzler Engholm wird aus Deutschland keinen Hort der Solidarität und Friedfertigkeit machen, und — um Zwischenrufen vorzubeugen — auch ein Kanzler aus dem BÜNDNIS 90 könnte dies nicht.
Aber die Bürgerbewegungen haben Ihnen seit Monaten ein Konzept vorgeschlagen, das von der realen Situation ausgeht und wirkliche Alternativen bietet. Wir wollen keine offenen Grenzen; das ist nur wohlfeiles und mittlerweile unverantwortliches Geschwätz. Mit unseren Gesetzesvorschlägen wollen wir die Voraussetzungen schaffen, daß die seit Jahren in Deutschland als Bürger zweiter Klasse lebenden Ausländer endlich gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger in Deutschland werden. Wir wollen neben der engen und überstrapazierten Tür des Asylrechts eine Tür für Flüchtlinge und eine für Einwanderer schaffen und damit eine geregelte Immigrationspolitik ermöglichen. Wir wollen nur die rechtliche Grundlage für etwas schaffen, das es in der Realität doch längst gibt.
Ich kann Ihnen unser Konzept nur erneut anbieten. Ich bin aber überzeugt, daß eine verantwortliche Einwanderungspolitik, die viele von Ihnen scheuen wie der Teufel das Weihwasser — warum eigentlich? — zur Entspannung der gegenwärtig unerträglichen Situation beitragen könnte. Es muß doch das
politische Credo aller Demokraten sein, insbesondere derer, die sich auf den Bergprediger berufen — dazu zähle ich mich auch —, Flüchtlingen und Fremden, Bedrängten und Armen in unserem reichen Land eine Zuflucht und die Chance zu einem menschenwürdigen Leben zu geben. Vernünftige Gesetze für Asylbewerber, Flüchtlinge und Einwanderer — nicht gegen sie — und entschlossenes Handeln sind das beste Mittel gegen Ausländerfeindlichkeit und Gewalt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212307800
Meine Damen und Herren, es gibt jetzt nur noch zwei kurze Beiträge. Wir werden in etwa 15 Minuten zur Abstimmung kommen.
Nächster Redner ist unser Kollege Ortwin Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1212307900
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag! Meine Damen und Herren! Ich räume ein, daß es nach dem letzten Redebeitrag schwer ist, wieder zum Kanzleretat und zur allgemeinen Aussprache zu kommen.
Ich wollte eigentlich der SPD ein Kompliment dafür machen, daß sie versucht, der Regierung aus der Patsche zu helfen, ohne zu wissen, was hinterher herauskommt. Aber täuschen Sie sich nicht: Wenn Sie nicht mehr gebraucht werden, wird man Sie auch ganz schnell wieder fallenlassen. Sozialdemokraten hatten meistens die Funktion, als Alibi eingesetzt zu werden. Karsten Rohwedder oder Konrad Porzner sind vielleicht Beispiele, auch Dreßler hat heute eine Kostprobe dessen bekommen.
Aber die Frage ist doch zunächst einmal: Wie ist es so weit gekommen, daß heute in Deutschland — hier müßten eigentlich alle zustimmen — alles immer chaotischer und unübersichtlicher wird, daß sich Schuldenberge auftürmen, die uns zunehmend den Raum für politisches Handeln nehmen und uns zu ersticken drohen, vor allen Dingen, daß die deutsche Einheit zu einem unsäglichen langen Leiden und fast zu einer täglichen Qual verkommt, daß die Kräfte der inneren Sicherheit in Deutschland zunehmend verunsichert werden, daß die Bundeswehr ihren Platz in der Gesellschaft, im Bündnis und in der internationalen Gemeinschaft immer weniger kennt, daß junge Menschen immer orientierungsloser werden und daß vor allen Dingen die Radikalität von links und rechts so gewaltig zunimmt? Ich mache gar keinen Hehl daraus, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Ich behaupte, daß das, was sich heute im rechten Spektrum abspielt, auch eine Reaktion auf das ist, wie man jahrzehntelang linke Chaoten auf unseren Straßen hat gewähren lassen.
Wie der Bundeskanzler heute den Weg zu 170 bis 200 Milliarden DM Zinsen pro Jahr für öffentliche Schulden schon fast lächerlich gemacht hat, müßte eigentlich Entsetzen in seiner eigenen Partei auslösen.

(Zuruf von der SPD: Das stimmt!)




Ortwin Lowack
Daß es nicht schlimmer kommt, verdanken wir — Gott sei Dank — einer starken Verfassung, aber nicht der politischen Arbeit der Bundesregierung.
Franz Josef Strauß hat über Helmut Kohl einmal gesagt:
Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen, ihm fehlt alles dafür.
Die derzeitige Entwicklung gibt Franz Josef Strauß, der nicht immer recht hatte, so fürchte ich, recht. Dazu einige Beispiele. Im letzten „Deutschland-UnionDienst" berichtet der Bundeskanzler über die neuen Bundesländer — ich zitiere wörtlich —: „Die wirkliche Lage ist erst nach und nach an das Tageslicht getreten. " Ich behaupte, das ist eine grobe Unwahrheit. Über den Zustand der DDR bestand lange Klarheit, und die Regierung Kohl war aus der Diskussion unter der Überschrift „Der Sozialismus besiegt nur sich selbst" Mitte der 70er Jahre und danach verstärkt eingehend darüber informiert, was los war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vergessen Sie nicht: Die Bundesregierung hat aus dem Haushalt etwa eineinhalb Milliarden DM für Autobahnen an das DDR-Regime bezahlt, obwohl diese Kosten gar nicht angefallen waren. Es kam der Zwangsumtausch dazu. 6,25 Milliarden DM betrug der Kredit 1983. Und er wurde gegeben, weil die DDR damals bereits pleite war. 3,5 Milliarden DM hat die Bundesregierung für den sogenannten Häftlingsfreikauf ausgegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele wissen nicht, daß sich mit der Regierung Helmut Kohl eine geradezu gespenstische Situation abgezeichnet hat. Die Zahl der politischen Häftlinge in der alten DDR war 1982 noch bei 293, 1983 betrug sie bereits 648, 1984 bereits 1 672, mit steigender Tendenz. Das heißt, man hat Hatz auf Menschen gemacht, um sie dann mit einer Strafe von über einem Jahr ohne Bewährung als Häftlinge anbieten zu können, damit das marode System an Geld herangekommen ist.
8,6 Milliarden DM betrug das Paket, das Wolfgang Schäuble im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler Ende 1988/Anfang 1989 ausgehandelt hat, weil die alte DDR pleite war und weil das bekannt war.
Ich behaupte, es ist eine grobe Unwahrheit, daß die Einheit Deutschlands so hätte laufen müssen, wie sie gelaufen ist. Der Bundeskanzler hat vorhin auf sein Zehn-Punkte-Programm hingewiesen. Aber die, die im alten Deutschen Bundestag waren und die sich das heute einmal durchlesen, wissen, daß das gerade kein Zehn-Punkte-Programm für die deutsche Einheit oder den Aufbau Deutschlands war. Es war unter dem Druck zustandegekommen, daß sich drei Tage später Gorbatschow und Bush in Malta treffen würden, und unter dem Druck, daß bis dahin eine offizielle Erklärung des deutschen Bundeskanzlers zur Einheit überhaupt nicht vorgelegen hatte. Wer das nicht mehr weiß, soll es bei Teltschik nachlesen, da ist es ziemlich genau beschrieben.
Ich behaupte, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion war so auch nicht notwendig. Sie hat zur Zerstörung der DDR-Wirtschaft geführt — Dinge, die wir heute kaum noch in den Griff bekommen.

(Anhaltende Unruhe)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212308000
Einen Moment, Herr Kollege Lowack! — Meine Damen und Herren, ich bitte hinten im Saal um etwas mehr Ruhe.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1212308100
Der Zeitpunkt des Abkommens über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde durch den Wahlkampf bestimmt, der in diesem Jahr stattfinden sollte. Ich weiß, wovon ich rede. Der Einigungsvertrag war so nicht notwendig, wie er durchgezogen wurde. Er war ein Instrument des Bundeskanzleramtes, um einen Keil zwischen den Kanzlerkandidaten der SPD und der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag und in der Volkskammer zu treiben. Ich behaupte, daß auch das 80-Milliarden-Paket an die marode Sowjetunion nicht so notwendig war. Ich bin gespannt, was unsere Recherchen mal darüber ergeben werden, wo allein die Transferrubelguthaben alle verblieben sind.
Jetzt eilt der Bundeskanzler nach Schwerin und bietet dort ein neues Programm für die Entwicklung des Ost-Mittelstandes an. Wenn man dann nachliest — ich nehme die „Schweriner Volkszeitung" her —, was er angeboten hat, so sind das befristete Lohnzuschüsse, gezielte Exportsubventionen, ohne daß vorher geklärt wurde, ob das rechtlich überhaupt möglich ist.
Dann kommt am Schluß eine geradezu abenteuerliche Darstellung des Bundeskanzlers. Ab 1995, so heißt es da, würden sicher Finnland und Norwegen zu den EG-Staaten gehören, ein paar Jahre später möglicherweise auch Polen und Ungarn. Damit würden sich gerade auch für Mecklenburg-Vorpommern gute Wirtschaftschancen ergeben. Donnerwetter, wenn das die Lösung der Probleme in den neuen Bundesländern ist! Da wollen wir mal abwarten.
Dann gibt es eine Maastricht-Lüge, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, indem behauptet wird, Stillstand sei Rückschritt. Ich halte das für eine bodenlose Dummheit. Zunächst sollten wir erst einmal den Europäischen Binnenmarkt vollenden. Da fehlen noch über 200 Gesetze. Wir sollten da erst weiterarbeiten. Wir sollten erst einmal europäische Stabilitätspolitik betreiben, bevor wir über eine gemeinsame Währung sprechen können, statt große Transferzahlungen in andere Richtungen zu geben, die uns dann für die deutsche Einheit nicht zur Verfügung stehen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1212308200
Warum wurde eigentlich die Chance nicht genutzt, im Zusammenhang mit den GATT-Verhandlungen darauf zu drängen, daß die deutschen Leistungen zum Agrarfonds abgebaut werden und wir die Möglichkeit erhalten, den deutschen Landwirten mit nationalen Beihilfen unter die Arme zu greifen. Das wäre die richtige Konzeption gewesen. Nichts ist davon angesprochen worden.
Aber es ist immer das gleiche: Der Bundeskanzler entscheidet, und egal ob richtig oder falsch — oft falsch —, und dann wird es zum „nationalen Interesse" hochgespielt. Dann sagt man in der eigenen Fraktion, eine Niederlage des Bundeskanzlers wäre eine Niederlage der Union oder der Fraktion, und das gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Und die armen Abgeordneten der zweiten Kategorie, die einfachen Abgeordneten, die kann man notfalls noch damit



Ortwin Lowack
bedrohen, daß es möglicherweise zu Neuwahlen käme. Und wenn es dem Bundeskanzler nicht einfällt, dann fällt es dem Edmund Stoiber ein, und dann kann sich der Bundeskanzler in aller „Brutalität" davon distanzieren. Aber die Sache ist natürlich in der Diskussion.
In die Zeit des Bundeskanzlers fallen fürchterliche Ereignisse aus dem extremistischen Bereich. Aber ich frage: Ist das wirklich rein zufällig? Da verlangt die CDU, deren Vorsitzender der Bundeskanzler ist, eine — ich zitiere — „entschiedene Verfolgung und harte Bestrafung der Gewalttäter", offenbar aus dem rechten Bereich. Aber ich frage: Was ist mit den über 6 Millionen registrierten Vergehen und Verbrechen, den über 100 000 Autodiebstählen, die wir allein in diesem Jahr zu erwarten haben, der 16fachen Quote pro Person im Bereich von Raub und Gewaltkriminalität, wenn sich hier jemand hinstellt und zum erstenmal sagt, das sei zu bekämpfen, er aber seit über zehn Jahren die politische Verantwortung trägt und nichts getan hat?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe sehr viele Punkte anzusprechen, die ich leider nicht vortragen kann. Aber eines scheint mir schon wichtig zu sein, Ihnen kurz als einen Hinweis zu geben. Vaclav Havel hat einmal gesagt: „Der Westen kann mit seinem Sieg über den Kommunismus nichts anfangen. " Er hat gefordert, daß diese Hilfe sich nicht nur auf Geld beschränkt, sondern vor allen Dingen politischer, moralischer und sogar geistiger Natur sein solle. Ich frage: Wo ist diese Hilfe gegeben, wo haben wir entsprechende außenpolitische Richtlinien?
Ich möchte es zusammenfassen: Ich hatte als junger Abgeordneter einmal vehement für die Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler gekämpft — und ich bleibe dabei —, als die gesamte CSU-Spitze damals noch nicht so vehement dafür gekämpft hat. Heute weiß ich, daß es ihm genauso gehen wird, wie es Genscher und anderen gegangen ist, die immer nur die Staatskunst so gesehen haben, daß es wichtig wäre, selbst an der Macht zu bleiben. Sie werden in kürzester Zeit vergessen sein. Mental, ideell, visionär und positivemotional haben sie ihrem Volk, den Menschen draußen und auch anderen Völkern nichts hinterlassen. Insoweit kann ich Franz Josef Strauß mit dem vorhin zitierten Statement nur bestätigen.
Danke.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212308300
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt noch einen Beitrag des Kollegen Dr. Ulrich Briefs, den ich aufrufe. Dann kommen wir zur Abstimmung.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1212308400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

(Zunehmende Unruhe)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212308500
Ich bitte auch noch für diese paar Minuten um Ruhe.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1212308600
Ich nehme zunächst einmal an, daß Sie, wenn Sie so zahlreich kommen, dann sicherlich zu einem der Höhepunkte dieser Debatte kommen wollen.
Ich möchte als unabhängiger Abgeordneter in dieser Zeit der deutschen Pogrome und des industriellen Kahlschlags im Osten zwei konkrete, hilfreiche Anregungen zur Politik dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers geben.
Die erste Anregung: Herr Bundeskanzler, stellen Sie sich endlich an die Spitze einer hoffentlich mächtigen öffentlichen Bewegung gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Ausländerfeindlichkeit! Das ist überfällig. Warum waren Sie übrigens am Tag nach dem Anschlag in Mölln nicht an der Stätte dieses Anschlags?

(Zurufe von der CDU/CSU)

Beenden Sie insbesondere das mindestens grob fahrlässige Spiel mit der Duldung bzw. der Förderung — denken Sie an den Beitrag von Herrn Schäuble heute hier! — eines Wiederauflebens des deutschen Nationalismus und nationalsozialistischer Gespenster.
Stellen Sie sich endlich vor die betroffenen Menschen, vor Flüchtlinge, vor Asylbewerber, vor ausländische Arbeiter und Arbeiterinnen, vor die Angehörigen bedrohter religiöser und ethnischer Minderheiten! Unter unseren jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen herrscht Angst vor dem alten/neuen deutschen Antisemitismus — gerade nach den jüngsten besonders brutalen politischen Morden. Es herrscht Angst unter den zwei Millionen türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die um ihre Kinder auf dem Schulweg fürchten müssen.
Sorgen Sie deshalb dafür, daß der recht Sumpf endlich ausgehoben wird! Lassen Sie die Polizei die neonazistischen Strukturen und ihre Infrastruktur von Waffen- und Drucksachenlagern, von militärähnlichen Übungsplätzen, von sogenannten Wehrsportanlagen und Wehrsportgruppen, von Büros, von Versammlungsstätten und sonstigen Organisationseinrichtungen endlich ausheben! Leiten Sie ein und beschleunigen Sie Verbotsverfahren in bezug auf rechtsradikale Organisationen und Parteien!

(Unruhe — Glocke des Präsidenten)

Das ist überfällig. Wirken Sie darauf hin, daß der Strafrahmen für politische Morde, für politische Verletzungsdelikte und für Volksverhetzung voll nach oben ausgeschöpft wird! Fordern Sie die Bevölkerung zur gesellschaftlichen und sozialen Achtung rechtsradikaler Personen und Gruppen auf! Geben Sie mit Ihrer Partei — ich weiß, daß das schwerfällt — dafür ein Beispiel! Gehen Sie voran!
Herr Bundeskanzler, aber auch Herr Klose und Herr Schäuble, die Rechtsradikalen und ihre Sympathisantenszene sind keine dummen Jungs, sie sind nicht bemitleidenswerte Opfer einer verhängnisvollen sozialen Entwicklung. Sie sind brutale politische Gesinnungstäter, die eine andere Republik als die halbwegs liberale, halbwegs offene Bundesrepublik, die wir bisher gehabt haben, wollen, bis Hoyerswerda vor mehr als einem Jahr ein ernstes und verhängnisvolles Signal setzte. Sie haben mehr als ein Jahr versäumt, Herr Bundeskanzler. Versäumen Sie keinen weiteren Tag mehr!



Dr. Ulrich Briefs
Die zweite Anregung, in eine ganz andere Richtung. Herr Schäuble hat in einem Punkt recht: Das Problem im Osten sind die privaten Investitionen, nicht so sehr die öffentlichen. In den zwei Jahren seit der Einigung sind von Privaten etwa 1 000 Milliarden DM in neue produktive Anlagen investiert worden — 1 000 Milliarden DM! —, davon nur ca. 6 % im Osten. 1 Million DM öffentlicher Investitionen stehen im Westen 9 Millionen DM privater Investitionen gegenüber. Im Osten stehen 1 Million DM öffentlicher Investitionen nur 670 000 DM privater Investitionen gegenüber.
Nur: Welche Konsequenzen zieht der Bundeskanzler aus dieser richtigen Einsicht? Er verharrt in einer merkwürdigen Untätigkeit gegenüber den für die privaten Investitionen Verantwortlichen. Er hofft, er appelliert, er appelliert, er hofft. Das ist aber vor diesem Hintergrund im Interesse der Menschen im Osten nicht genug.
Entwickeln Sie schnellstmöglichst ein Konzept für konkrete Investitionsabsprachen mit der Wirtschaft —ich wundere mich, daß noch niemand auf diese Idee gekommen ist —, insbesondere mit dem verarbeitenden Gewerbe, also mit der Industrie und dem Handwerk! Nehmen Sie die unternehmerischen Spitzenverbände in die Pflicht! Lassen Sie sich konkrete Rahmenzusagen für eine erhebliche Aufstockung der privaten Investitionen in „Fünebu", in den fünf neuen Bundesländern geben! Nutzen Sie die traditionell guten Kontakte konservativer Parteien zum Wirtschaftsestablishment! Machen Sie endlich entsprechend ihren jüngsten Einsichten und Äußerungen ernst mit der Industriepolitik! Sie kommt spät, vielleicht zu spät. Aber angesichts der perspektivlosen Arbeitslosigkeit im Osten darf kein Mittel unversucht bleiben. Trotz der Rezession werden auch im Jahre 1993 etwa 500 Milliarden DM von der privaten Wirtschaft in Deutschland investiert werden.
Zum Schluß noch einmal: Treten Sie dem alten neuen deutschen Rassismus und Nationalismus entgegen! Sorgen Sie für Rechtssicherheit, um Investoren zu Investitionen in Ostdeutschland zu ermutigen!

(Beifall der Abg. Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212308700
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04 in der Ausschußfassung.
Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. —
Meine Damen und Herren: Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? — Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung der Stimmen zu beginnen. Für die dafür erforderliche Zeit wird die Sitzung unterbrochen.

(Unterbrechung von 16.01 Uhr bis 16.10 Uhr)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212308800
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Uns liegt das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04, Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes, vor. Abgegebene Stimmen: 586, ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt: 365, mit Nein haben gestimmt: 221.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 585; davon:
ja: 365
nein: 220
enthalten: 0
Ja
CDU/CSU
Dr. Ackermann, Else Adam, Ulrich
Dr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter
Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Bayha, Richard
Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert
Böhm (Melsungen), Wilfried Dr. Böhmer, Maria
Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang
Bohl, Friedrich
Bohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Brähmig, Klaus
Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler (Bruchsal), Klaus Büttner (Schönebeck),
Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens (Emstek), Manfred Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud
Deres, Karl
Deß, Albert
Diemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, Udo
Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eylmann, Horst
Eymer, Anke
Falk, Ilse
Dr. Faltlhauser, Kurt Dr. Fell, Karl H.
Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, Herbert
Dr. Friedrich, Gerhard
Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim
Ganz (St. Wendel), Johannes Geiger, Michaela
Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geis, Norbert
Gerster (Mainz), Johannes Gibtner, Horst
Glos, Michael
Dr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin
Götz, Peter
Gres, Joachim Grochtmann, Elisabeth
Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Günther (Duisburg), Horst Harries, Klaus
Haschke (Großhennersdorf),
Gottfried
Haschke (Jena-Ost), Udo Hasselfeldt, Gerda
Haungs, Rainer
Hauser (Esslingen), Otto Hauser (Rednitzhembach),
Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen
Heise, Manfred
Dr. Hellwig, Renate
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, Ernst
Hintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf
Hörster, Joachim Dr. Hoffacker, Paul
Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried
Hüppe, Hubert Jäger, Claus Jaffke, Susanne Jagoda, Bernhard Dr. Jahn (Münster),
Friedrich-Adolf
Janovsky, Georg Jeltsch, Karin Dr. Jobst, Dionys
Dr.-Ing. Jork, Rainer
Dr. Jüttner, Egon Junghanns, Ulrich
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus
Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard
Kauder, Volker Keller, Peter Kiechle, Ignaz Kittelmann, Peter
Klein (Bremen), Günter
Klein (München), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler (Hainspitz),
Hans-Ulrich
Dr. Köhler (Wolfsburg),
Volkmar
Dr. Kohl, Helmut Kolbe, Manfred Koschyk, Hartmut



Kossendey, Thomas Kraus, Rudolf
Dr. Krause (Börgerende), Günther
Dr. Krause (Bonese), Rudolf Karl
Krause (Dessau), Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf
Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert Lamp, Helmut
Lattmann, Herbert Dr. Laufs, Paul
Laumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Dr. Lehr, Ursula
Lenzer, Christian Limbach, Editha
Link (Diepholz), Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold (Offenbach), Klaus W.
Dr. sc. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun
Lohmann (Lüdenscheid), Wolfgang
Louven, Julius
Dr. Luther, Michael
Maaß (Wilhelmshaven), Erich Männle, Ursula
Magin, Theo
Dr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Marten, Günter
Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Martin
Meckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf
Dr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup, Reinhard
Michalk, Maria
Michels, Meinolf Dr. Mildner, Klaus Dr. Möller, Franz Molnar, Thomas
Müller (Kirchheim), Elmar Müller (Wadern), Hans-Werner
Müller (Wesseling), Alfons Nelle, Engelbert
Dr. Neuling, Christian Nitsch, Johannes Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm
Oswald, Eduard
Otto (Erfurt), Norbert Dr. Päselt, Gerhard Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich
Pfeffermann, Gerhard O. Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero
Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert
Dr. Protzner, Bernd Pützhofen, Dieter Rahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf
Rauen, Peter Harald
Rawe, Wilhelm
Reddemann, Gerhard Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert
Dr. Riedl (München), Erich Riegert, Klaus
Dr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode (Wietzen), Helmut Rönsch (Wiesbaden),
Hannelore
Romer, Franz
Dr. Rose, Klaus
Rossmanith, Kurt J. Roth (Gießen), Adolf Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker
Dr. Rüttgers, Jürgen Sauer (Salzgitter), Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Scharrenbroich, Heribert Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schartz (Trier), Günther Schemken, Heinz Scheu, Gerhard
Schmalz, Ulrich
Schmidbauer, Bernd Schmidt (Fürth), Christian
Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke),
Joachim
Schmidt (Mülheim), Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),
Hans Peter
von Schmude, Michael Dr. Schneider (Nürnberg), Oscar
Dr. Schockenhoff, Andreas Graf von Schönburg-
Glauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,
Reinhard

(Schwäbisch Gmünd)

Schulz (Leipzig), Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, Stefan
Dr. Schwarz-Schilling,
Christian
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst
Seesing, Heinrich Seibel, Wilfried
Seiters, Rudolf
Sikora, Jürgen
Skowron, Werner H.
Dr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter
Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, Hans
Dr. Frhr. von Stetten,
Wolfgang
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon
Tillmann, Ferdi
Uldall, Gunnar
Verhülsdonk, Roswitha
Vogel (Ennepetal), Friedrich Vogt (Düren), Wolfgang
Dr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, Theodor
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Dr. Warrikoff, Alexander Werner (Ulm), Herbert Wetzel, Kersten
Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek (Auerbach), Bertram
Dr. Wilms, Dorothee Wilz, Bernd
Wimmer (Neuss), Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz Wittmann (Tännesberg),
Simon
Wonneberger, Michael Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zierer, Benno
Zöller, Wolfgang
F.D.P.
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela
Baum, Gerhart Rudolf Beckmann, Klaus
Dr. Blunk, Michaela Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),
Dieter-Julius
Eimer (Fürth), Norbert Engelhard, Hans A.
van Essen, Jörg
Dr. Feldmann, Olaf
Friedhoff, Paul K.
Friedrich, Horst
Dr. Funke-Schmitt-Rink, Margret
Gallus, Georg Ganschow, Jörg Genscher, Hans-Dietrich Grünbeck, Josef
Grüner, Martin
Günther (Plauen), Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hackel, Heinz-Dieter
Hansen, Dirk Heinrich, Ulrich
Dr. Hirsch, Burkhard
Dr. Hitschler, Walter
Dr. Hoth, Sigrid Dr. Hoyer, Werner
Irmer, Ulrich
Kleinert (Hannover), Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, Jürgen
Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Leutheusser-Schnarrenberger,
Sabine
Lüder, Wolfgang
Dr. Menzel, Bruno
Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer
Otto (Frankfurt), Hans-Joachim
Paintner, Johann
Peters, Lisa Dr. Pohl, Eva
Richter (Bremerhaven),
Manfred
Rind, Hermann
Dr. Röhl, Klaus
Schäfer (Mainz), Helmut Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schmieder, Jürgen
Dr. Schnittler, Christoph Schüßler, Gerhard Schuster, Hans
Sehn, Marita
Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, Sigrid
Dr. Solms, Hermann Otto
Dr. Starnick, Jürgen
Dr. von Teichman, Cornelia Thiele, Carl-Ludwig
Dr. Thomae, Dieter Timm, Jürgen
Türk, Jürgen
Walz, Ingrid
Dr. Weng (Gerlingen), Wolfgang
Wolfgramm (Göttingen), Torsten
Würfel, Uta
Zurheide, Burkhard Zywietz, Werner
Nein
SPD
Antretter, Robert Bachmaier, Hermann Barbe, Angelika
Bartsch, Holger
Becker (Nienberge), Helmuth Becker-Inglau, Ingrid
Berger, Hans
Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf
Blunck, Lieselott Bock, Thea
Dr. Böhme (Unna), Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, Anni
Dr. Brecht, Eberhard Büchler (Hof), Hans Büchner (Speyer), Peter Dr. von Bülow, Andreas Bulmahn, Edelgard Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion
Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter Daubertshäuser, Klaus
Dr. Diederich (Berlin), Nils Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, Rudolf
Duve, Freimut
Ebert, Eike
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke (Bonn), Horst Eich, Ludwig
Dr. Elmer, Konrad Erler, Gernot
Esters, Helmut
Ewen, Carl
Ferner, Elke
Fischer (Gräfenhainichen), Evelin
Fischer (Homburg), Lothar Formanski, Norbert
Fuchs (Köln), Anke Fuchs (Verl), Katrin Gansel, Norbert
Dr. Gautier, Fritz



Gilges, Konrad Gleicke, Iris
Graf, Günter
Haack (Extertal),
Karl Hermann Habermann, Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel
Dr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, Klaus Heistermann, Dieter Heyenn, Günther
Hiller (Lübeck), Reinhold Hilsberg, Stephan
Horn, Erwin
Huonker, Gunter Iwersen, Gabriele Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Janzen, Ulrich Dr. Jens, Uwe
Jung (Düsseldorf), Volker Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, Susanne
Kastning, Ernst Kirschner, Klaus
Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, Siegrun
Klose, Hans-Ulrich
Dr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbow, Walter
Koltzsch, Rolf
Dr. Kübler, Klaus Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev Leidinger, Robert Lennartz, Klaus
Dr. Leonhard-Schmid, Elke Lohmann (Witten), Klaus
Dr. Lucyga, Christine Maaß (Herne), Dieter Mascher, Ulrike Matschie, Christoph Dr. Matterne, Dietmar Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Meckel, Markus
Mehl, Ulrike
Meißner, Herbert
Dr. Mertens (Bottrop), Franz-Josef
Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Mosdorf, Siegmar
Müller (Düsseldorf), Michael Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Müntefering, Franz Neumann (Bramsche), Volker Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, Edith
Dr. Niese, Rolf
Oostergetelo, Jan Opel, Manfred Ostertag, Adolf Dr. Otto, Helga Paterna, Peter
Dr. Penner, Willfried Peter (Kassel), Horst Dr. Pfaff, Martin
Dr. Pick, Eckhart Poß, Joachim
Purps, Rudolf
Rappe (Hildesheim), Hermann Reimann, Manfred
von Renesse, Margot Rennebach, Renate Rixe, Günter
Roth, Wolfgang Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter
Dr. Scheer, Hermann Schily, Otto
Schloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer (Nürnberg),
Horst
Schmidt (Aachen), Ursula Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen Dr. Schnell, Emil
Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela
Dr. Schuster, R. Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf
Seidenthal, Bodo
Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Soell, Hartmut
Sorge, Wieland
Steen, Antje-Marie Steiner, Heinz-Alfred Stiegler, Ludwig
Dr. Struck, Peter
Tappe, Joachim
Terborg, Margitta Dr. Thalheim, Gerald Titze, Uta
Toetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried
Verheugen, Günter
Dr. Vogel, Hans-Jochen Voigt (Frankfurt), Karsten D. Wagner, Hans Georg Wallow, Hans
Waltemathe, Ernst Walter (Cochem), Ralf
Walther (Zierenberg), Rudi Wartenberg (Berlin), Gerd
Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weiler, Barbara
Weis (Stendal), Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Wernitz, Axel
Wester, Hildegard Wettig-Danielmeier, Inge Dr. Wetzel, Margrit Weyel, Gudrun
Dr. Wieczorek, Norbert Wieczorek (Duisburg), Helmut Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wimmer (Neuötting),
Hermann
Dr. de With, Hans Wittich, Berthold
Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Zapf, Uta
PDS/Linke Liste
Bläss, Petra
Dr. Enkelmann, Dagmar Dr. Fischer, Ursula
Dr. Fuchs, Ruth
Dr. Gysi, Gregor
Dr. Heuer, Uwe-Jens
Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla
Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Stachowa, Angela
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, Ingrid
Poppe, Gerd
Schenk, Christina Schulz (Berlin), Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, Vera
Fraktionslos
Dr. Briefs, Ulrich Henn, Bernd
Lowack, Ortwin
Damit ist der Einzelplan 04 angenommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Ein ganz überraschendes Ergebnis!)

Meine Damen und Herren, wir setzen nun die Beratungen fort.
Ich rufe auf:
Einzelplan 05
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes — Drucksachen 12/3505, 12/3530 —Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus Rose
Dr. Sigrid Hoth Ernst Waltemathe
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/ Linke Liste vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Darm ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Ernst Waltemathe das Wort.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID1212308900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich beabsichtige nicht, hier eine übliche Haushaltsrede oder eine außenpolitische Rede zu halten. Ich möchte darauf hinweisen, daß bis vor zwei oder drei Jahren eine Debatte über auswärtige Politik immer auch eine innenpolitische Auseinandersetzung gewesen ist.
Die Welt war klar aufgeteilt in zwei Machtblöcke; das war überschaubar. Die Wege zur Überwindung dieser Machtblöcke waren Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen parteipolitischer und auch gesellschaftspolitischer Art.
Da gab es die Stichworte von den „Ewiggestrigen" und den „kalten Kriegern" auf der einen Seite. Die „Moskau-Fraktion", der „Antiamerikanismus" und ähnliche bombastische Etiketten auf der anderen Seite waren beliebte Mittel, um politische Gegner zu verdächtigen. „Ausverkauf deutscher Interessen" ist gegen die Ostpolitik der Regierung Brandt eingewandt worden.
Aber die Wende vor zehn Jahren hat nicht dazu geführt, daß sich die deutsche Politik nach außen grundsätzlich veränderte. Vorher hatte auch die sozialdemokratisch geführte Regierung die Ergebnisse der Adenauer-Politik als geschaffene Fakten nicht mehr in Frage gestellt.



Ernst Waltemathe
Heute leben wir nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs, nach dem Wegfall der Aufteilung der Welt und auch Europas in einen Westblock und einen Ostblock, die sich feindlich gegenüberstanden, in einer Zeit des Umbruchs. Aber leider drohen jetzt innenpolitische Verhältnisse zu einer negativen Qualität unserer Außenpolitik zu werden. Was nämlich durch Deutschland und gegenüber Deutschland als Vertrauensbasis in 40 Jahren aufgebaut worden ist, droht durch rechtsextremistische Gewalt, von der hier heute schon mehrfach die Rede war, in ein Bild umzuschlagen, das die Zuverlässigkeit Deutschlands als demokratischen, als friedlichen, als toleranten, als international zur Zusammenarbeit fähigen Rechtsstaat ins Wanken bringt.
Dies sage ich jetzt als Feststellung; es ist kein Vorwurf, insbesondere nicht an Sie, Herr Bundesaußenminister. Sie vertreten Deutschland seit einem halben Jahr nach außen und spüren wie auch wir Parlamentarier — beispielsweise vor acht Tagen in Israel —, daß neues Mißtrauen entsteht, ja, daß sich neue Ängste auftun, die wir überwunden glaubten. Ihre Wirkungsmöglichkeit, Herr Bundesminister, die Wirkungsmöglichkeit der Bundesregierung und der Bundesrepublik insgesamt im internationalen Rahmen ist unmittelbar davon abhängig, ob und wie wir mit der neuen Welle rechtsextremistischer Gewalt im Inland fertigwerden. Unser außenpolitisches Ansehen muß ein Anliegen des gesamten demokratischen Parlaments und der übergroßen Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger sein bzw. wieder werden.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, keine Angst, ich will nicht die Debatte über den Etat des Auswärtigen Amtes dazu mißbrauchen, einen innenpolitischen Beitrag zu leisten. Aber die Einteilung der Haushaltsberatungen in Einzelpläne ist nicht immer geeignet, unmittelbar zusammenwirkende Teile der Gesamtpolitik richtig einzuordnen. Deshalb müssen alle politischen Bereiche ihren Beitrag dazu leisten, daß eine besonnene, auf Vertrauen in die demokratische Zuverlässigkeit der Deutschen beruhende und auf europäischer Zusammenarbeit beharrende deutsche Außenpolitik betrieben werden kann.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Geistige Höhenflüge sind immer erlaubt, Herr Kollege!)

— Ich finde Ihren Zwischenruf, ehrlich gesagt, ein bißchen zynisch. Ich würde Sie einmal bitten, das so zu unterstützen, wie wir, alle Parteienvertreter dieses Parlaments, es letzte Woche einvernehmlich gemacht haben, wohlwissend, welche Belastung auf unsere Außenpolitik zukommt, wenn innenpolitisch Häuser brennen. —

(Beifall bei der SPD)

Deshalb fordere ich die dafür notwendige Unterstützung aller Fraktionen dieses Hauses. Darum müssen wir bei allem politischen Streit und auch bei allem Schlagabtausch im Innern als Regierung, aber auch als Opposition das Ganze im Auge behalten.

(Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Herr Kollege, Sie haben recht!)

Angesichts brennender Häuser und ermordeter türkischer Mitbürgerinnen und Kinder ist es wichtig, daß wir die Achtung der Menschenrechte als einen wichtigen Bestandteil unserer Außenpolitik glaubwürdig vertreten. Aber das ist uns nur möglich, wenn wir durch konsequente Anwendung unserer in Gesetzen festgelegten rechtsstaatlichen Mittel mit dem Terror im Innern fertig werden und die Würde, die körperliche Unversehrtheit und das Leben aller Menschen, die in Deutschland sind, sichtbar zu garantieren vermögen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es kann und darf nicht sein, daß 35 000 jüdische Deutsche und Millionen von Türken Angst haben müssen und einige von ihnen sogar glauben — ich glaube das nicht, aber es hat ja einen entsprechenden Brief an den Bundeskanzler gegeben —, sie könnten sich in Deutschland nur schützen, indem sie sich selbst bewaffnen.
Unser Verhältnis zur Türkei — Herr Bundesminister, das ist das einzige Land, das ich erwähne, weil es gerade in diesen Tagen Anlaß zur Empfindsamkeit gibt und ich die Empfindsamkeit dieses Parlaments, jedenfalls der Opposition, hier zum Audruck bringen möchte — muß behutsam neu geordnet werden. Wir haben kritisiert — und wir tun das auch weiter —, daß sich im auswärtigen Etat und auch im Verteidigungshaushalt immer noch erhebliche Millionenbeträge befinden, die unter dem Stichwort „NATO-Verteidigungshilfe" oder „Rüstungssonderhilfe" Waffenlieferungen großen Umfangs ermöglichen.

(Beifall bei der SPD)

In einer Zeit der weltweiten Abrüstung dürfen wir nicht auf Aufrüstung in Südosteuropa setzen und dazu ermutigen.
Es geht aber nicht darum, abgeschlossene vertragliche Verpflichtungen einfach ersatzlos zu stornieren, sondern darum, in gleichem — oder vielleicht sogar in noch größerem — Umfang das für Rüstungsgüter vorgesehene Geld in Hilfsprogramme wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit umzuwidmen, die u. a. der türkischen Bevölkerung unmittelbar zugute kommen, und zwar allen Teilen der türkischen Bevölkerung.

(Beifall bei der SPD)

Eine solche Umstellung bisheriger Rüstungshilfe auf zivile Hilfe nützt unserem friedfertigen außenpolitischen Ansehen und der Festigung unserer bilateralen Beziehungen mit anderen Ländern und ihrer jeweiligen Bevölkerung, die bisher Empfänger von Militärgütern waren.
Im Etat des Auswärtigen Amtes sind die Mittel für humanitäre Hilfsmaßnahmen seit Jahren zu niedrig veranschlagt worden. Tatsächlich wird meist das Doppelte dessen ausgegeben, was im Haushalt zuvor veranschlagt war.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: So ist das bei dieser Regierung!)

Der Versuch, den Ansatz von 80 Millionen DM wenigstens auf einen Betrag von fast 100 Millionen DM
anzuheben, der eher in die Nähe von Haushaltswahr-



Ernst Waltemathe
heit und -klarheit käme, ist leider fehlgeschlagen, obwohl der Unterausschuß für Humanitäre Hilfe und Menschenrechte dieses Hauses und auch der Auswärtige Ausschuß einstimmig eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen haben und die SPD-Fraktion im Haushaltsausschuß einen entsprechenden Antrag mit dem Angebot, an anderer Stelle des Etats des Bundesministers des Auswärtigen eine Einsparung vorzunehmen, gestellt hat.
Auch eine geringfügige und maßvolle Erhöhung des Regelbeitrags an den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ist von der Regierungskoalition im Haushaltsausschuß erneut abgelehnt worden,

(Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Hört! Hört!)

Obwohl wir seit nunmehr zwei Jahren von dem zuständigen Ausschuß und dem Unterausschuß aufgefordert sind, die wachsenden Aufgaben des Hohen Flüchtlingskommissars zu würdigen und unseren Beitrag demgemäß anzupassen.

(Beifall bei der SPD)

Für die sture Haltung der Koalitionsfraktionen habe ich in diesem Zusammenhang allein schon deshalb kein Verständnis, weil die begründeten Anliegen der SPD die Auffassung aller politischen Richtungen dieses Hauses wiedergeben und wir ausdrücklich Möglichkeiten aufgezeigt haben, diese Gelder aus Umschichtungen im Etat des Bundesministers des Auswärtigen aufzubringen.
Es wäre z. B. auch jetzt noch möglich, aus dem mit 90 Millionen DM veranschlagten Haushaltstitel für Ausstattungshilfe, die zu über 60 % für militärische Güter nicht waffentechnischer Art vorgesehen ist, einen Betrag von 20 Millionen DM abzuzweigen, um den dringendsten Erfordernissen der Flüchtlingshilfe und humanitären Hilfsmaßnahmen Rechnung zu tragen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Gerd Poppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich komme jetzt auf etwas Positives zu sprechen: Wir begrüßen ausdrücklich die Tatsache, daß wir im Jahre 1993 mit einer ersten bescheidenen Rate von 10 Millionen DM Abrüstungshilfe an Rußland leisten können. Das heißt konkret: In einem Abkommen zwischen Deutschland und Rußland — ich sage vorweg: Es ist nach dem Beschluß des Bundeskabinetts über den Haushaltsentwurf 1993 abgeschlossen worden; dieses Abkommen konnte im Kabinettsentwurf noch gar nicht berücksichtigt werden, weil es noch nicht abgeschlossen war — ist vorgesehen, Chemiewaffen und Atomraketen, die uns vor einigen Jahren noch bedroht haben, zu beseitigen und zu entsorgen. Das Geld, das wir dafür bereitstellen, ist also gut angelegt; denn jede tatsächliche Beseitigung chemischer und nuklearer Kampfstoffe reduziert auch die Gefahr, daß Waffenhändler mit bedrohlichsten Stoffen die Schwarzmärkte beglücken.
Die SPD-Fraktion begrüßt deshalb ausdrücklich die im Regierungsentwurf noch nicht vorgesehene Schaffung des Haushaltstitels Abrüstungshilfe, der in den kommenden Jahren sicher noch aufgestockt werden
muß. Aber wir können im nächsten Jahr einen Anfang machen.

(Beifall bei der SPD)

Im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik sind die eigentlichen operativen Mittel des Etats des Auswärtigen Amtes konzentriert. Wir hatten ein fast auskömmliches Volumen dafür vorgesehen. Leider hat die Koalition vor 14 Tagen eine globale Minderausgabe von 30 Millionen DM ausschließlich der auswärtigen Kulturarbeit auferlegt. Dies wird einige wichtige Projekte des Auslandsschulwesens und der Sprachförderung in den Staaten Osteuropas in Gefahr bringen.
Ich habe ferner ausdrücklich zu kritisieren, daß trotz vorheriger weit gediehener Pläne des Auswärtigen Amtes selbst und trotz des Ergebnisses der Debatte im Plenum des Bundestages am 8. Oktober keine müde Bundesmark als Zuschuß zur Gedenkstätte für den in der Nazi-Zeit verfolgten und in den Selbstmord getriebenen Schriftsteller Walter Benjamin ihren Niederschlag im Etat gefunden hat.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Unglaublich!)

Gerade in einer Zeit, in der neue Ängste in Deutschland und wegen Deutschland umgehen, wäre ein Beitrag des Gesamtstaates mehr als nur ein positives Symbol gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Ich bedaure auch, daß ich das, was von allen Fraktionen dieses Hauses zu diesem Thema am 8. Oktober hier gesagt worden ist, für bare Münze genommen habe und zuversichtlich war, mit einem Zuschuß von etwa einer halben Million DM, also etwa der Hälfte der Gesamtkosten, eine Einigung mit den Koalitionsfraktionen herbeiführen zu können. Aber diese sind unbeweglich und hartherzig geblieben.

(Freimut Duve [SPD]: In diesem Fall auch hartherzig gegenüber den eigenen Mitgliedern!)

Das Auswärtige Amt wollte nichts mehr davon wissen, daß es in den Jahren zuvor selbst so verhandelt hat, daß mit einer Mitfinanzierung des Bundes gerechnet werden konnte und mußte.
Um so mehr begrüße ich heute, daß sich alle Bundesländer auf Initiative Baden-Württembergs und Hessens bereit erklärt haben, die Gedenkstätte in Port Bou nach den Entwürfen des israelischen Künstlers Dani Karawan zu verwirklichen.

(Beifall bei der SPD)

Offensichtlich haben unsere Bundesländer mehr Feeling für das, was gerade jetzt zu den Notwendigkeiten deutscher Politik gehört.

(Beifall bei der SPD)

Der Etat des Auswärtigen Amtes schließt mit einem Gesamtvolumen von rund 3,6 Milliarden DM ab. Die auswärtige Politik kostet damit jeden Bundesbürger etwa 45 DM im Jahr oder knapp 4 DM im Monat. Dafür sind wir in zunehmend mehr Staaten der Erde vertreten und können deutsches Ansehen weltweit zu verbessern suchen. Umgekehrt sehen sich unsere



Ernst Waltemathe
Auslandsvertretungen und unsere kulturellen Mittlerorganisationen wachsenden Aufgabenstellungen und Verantwortlichkeiten gegenübergestellt.
Hinsichtlich des Personalaufwandes für den Auswärtigen Dienst ermutigen wir das Auswärtige Amt, für die zuwachsende Zahl von Botschaften in sich neu bildenden Staaten und für möglicherweise noch einzurichtende Vertretungen bei internationalen Organisationen nicht nur das Instrument zusätzlicher Personalanforderungen zu benutzen, sondern auch den Bestand schon existierender Vertretungen zu durchforsten und das Personal durch Doppelakkreditierungen bzw. durch Kooperation mit EG-Staaten effektiver einzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Obwohl es eine Reihe von — auch aus unserer Sicht — positiven Ansätzen im Etat des Bundesministers des Auswärtigen gibt, sehen wir uns insgesamt nicht in der Lage, dem Einzelplan 05 zuzustimmen oder uns diesbezüglich der Stimme zu enthalten. Aus Gründen, die ich vorgetragen habe, und aus weiteren Gründen, die mein Kollege Karsten Voigt noch nachtragen wird, werden wir den Einzelplan 05 ablehnen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hans Modrow [PDS/Linke Liste] und des Abg. Gerd Poppe [Bündnis 90/GRÜNE])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212309000
Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Klaus Rose.

Dr. Klaus Rose (CSU):
Rede ID: ID1212309100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir konnten heute schon den ganzen Tag — auch beim Etat des Bundeskanzleramts — über außenpolitische Fragen diskutieren. Der Kollege Waltemathe hat einige zusätzliche Beispiele vorgetragen. Wahrscheinlich deswegen, weil wir gemeinsam Berichterstatter zu diesem Einzelplan sind, fügt es sich, daß auch in speziell auf einige der von ihm bereits angesprochenen Themen eingehen möchte. Selten zuvor ist der deutschen Außenpolitik eine solch wichtige Rolle zugekommen, wie es derzeit der Fall ist.
Kollege Walthemathe, ich stimme mit Ihnen überein: Die Außenpolitik kann so gut sein wie sie will, aber wenn die innenpolitischen Verhältnisse nicht stimmen, dann können wir uns bemühen wie wir wollen, wir werden im Ausland dennoch Schwierigkeiten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Die schlimmen innenpolitischen Ereignisse in Deutschland lassen die Welt an uns zweifeln, manche verzweifeln sogar schon. Hinzu kommen natürlich auch die unübersichtlichen bis gefährlichen Geschehnisse in vielen Teilen der Welt, die uns wiederum bangen lassen und mit denen wir uns beschäftigen müssen; denn ein Verdrängen oder gar ein Ausklinken ist nicht möglich.
Deshalb kommt es auf eine überzeugende Politik an. Es kommt aber auch auf diejenigen an, die Politik
überzeugend gestalten. Ich meine damit nicht bloß die Politiker, sondern in erster Linie die Vertreter des auswärtigen Dienstes. Ich bin der Ansicht, daß dieser Dienst nichts von seiner Effektivität verloren hat.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist wahr!)

Wir haben uns in der letzten Zeit bemüht, die Instrumente zu schärfen, damit dieser Dienst seine Aufgaben erfüllen kann.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der SPD)

Doch auch Instrumente wie die multilaterale Konferenzdiplomatie oder die auswärtige Kulturpolitik helfen in deutschem Interesse.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Der Etat des Auswärtigen Amtes hat folgerichtig, trotz der finanziellen Enge im Gesamthaushalt, einen leichten Zuwachs aufzuweisen.
Ich möchte jetzt auf drei Hauptbereiche intensiver eingehen.
Der erste Bereich betrifft — Kollege Waltemathe hat es schon erwähnt — die Abrüstungshilfe. Hier handelt es sich um Kosten für einen deutschen Beitrag zur Beseitigung ehemals sowjetischer Massenvernichtungswaffen. Hierüber sind wir uns alle einig: Dafür ist jede Mark gut angewendet. Die Ausgaben von 10 Millionen DM im Jahr 1993 sind nur ein erster Anfang. Rein technisch gesehen und rein finanziell betrachtet ist die Aufgabe lösbar, wenn auch sicher nicht in einem Jahr. Das Schwierige bei diesem Thema ist nach meiner Meinung, die politische Bereitschaft der betroffenen Nachfolgestaaten zum Verzicht auf Atomwaffen zu gewinnen.
Warum sage ich das? Ich war in der vergangenen Woche auf der ersten deutsch-ukrainischen Fachkonferenz in Kiew und habe dort deutlich bemerkt: Zwar wird viel von Rüstungskontrolle und vom Abbau des strategischen Nuklearwaffenpotentials gesprochen. Wenn man aber — wie das bei der Ukraine z. B. der Fall ist — große wirtschaftliche Schwierigkeiten und dazu noch Nachbarschaftsprobleme hat, möchte man nicht so ohne weiteres seine militärische Bedeutung aufgeben. Ich habe deutlich auf die Chance der Ukraine hingewiesen, durch einen Verzicht auf Atomwaffen zu einem Nichtkernwaffenstaat zu werden und damit so viel internationales Vertrauen zu gewinnen, daß die Zusammenarbeit auf anderen Feldern vertieft werden kann.
Ich fordere auch hier die Bundesregierung auf, die Bedeutung dieses 52-Millionen-Volks zu erkennen und beim Aufbau eines neuen demokratischen Staatswesens breite Unterstützung zu geben. Daß es, ähnlich wie in Rußland und in Kasachstan, auch in der Ukraine Deutsche gibt — dort wird eine Zahl von ca. 40 000 genannt —, die eine Brückenfunktion ausfüllen können, erwähne ich nur nebenbei.
Ich komme damit zu meinem zweiten Hauptpunkt, nämlich der Förderung der deutschen Sprache in Mittel- und Osteuropa sowie in den GUS-Staaten. Auch dazu ist ein Sonderprogramm entwickelt worden. Darüber möchte ich einiges sagen.



Dr. Klaus Rose
Noch ist diese Konzeption ausbaufähig. Doch die notwendige Zahl der Lehrkräfte scheint schon gedeckt zu sein. Damit bietet sich uns die Chance, für Schlesien, für die Tschechische Republik, die Slowakische Republik oder für Memel und St. Petersburg, für die Gebiete um Omsk, Tomsk und Nowosibirsk in Rußland, für Alma Ata in Kasachstan, für Ushgorod, Cherzon und Odessa in der Ukraine eine wesentliche Hilfe zu leisten. Für uns kann dies der Schritt in eine neue Dimension der friedlichen Zusammenarbeit mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden.
In diesem Zusammenhang soll auch auf die über mehrere Einzelhaushalte verteilte Aufbau- und Beratungshilfe in Mittel- und Osteuropa verwiesen werden. Hier sind besonders unsere politischen Stiftungen gefordert. In Kiew habe ich mich von der Aufbauarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung überzeugen können. Ich meine, daß dort Gutes geleistet wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich würde es auch begrüßen, wenn die anderen politischen Stiftungen — egal, in welchen Orten — Erfolg haben. Daß darüber hinaus auch die deutsche Wirtschaft insgesamt und andere aufgerufen sind mitzuhelfen, ist klar.
Im Bundeshaushalt zeigt sich eine dritte gravierende Verschiebung, nämlich die abnehmende militärische Zusammenarbeit mit den NATO-Verbündeten Portugal, Griechenland und Türkei. Kollege Waltemathe hat auf diese Zurückführung der NATO-Verteidigungshilfe hingewiesen, die mit dem jetzigen letzten Dreijahresplan, also ab 1995, endgültig auslaufen soll. Ich trage dieses mit, obwohl ich auch im nachhinein überzeugt bin — anders als die heutige Opposition —, daß unsere enge Zusammenarbeit mit diesen NATO-Eckpfeilern in den vergangenen Jahrzehnten im Interesse unserer eigenen deutschen und der europäischen Sicherheit war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Was ich nicht bereit bin mitzutragen, ist die unverantwortliche Abkühlung, ja Gefährdung der deutschtürkischen Beziehungen. Ich hätte auf dieses Thema auch unter anderen Umständen hingewiesen, nicht nur jetzt nach den schrecklichen und beschämenden Ereignissen von Mölln. Wir Deutschen haben nämlich keinerlei Veranlassung mehr, mit dem Moralfinger auf andere zu deuten. Wir kommen auch wieder soweit, daß wir froh sein müssen, überhaupt noch Freunde in der Welt zu finden.
Zu den großen befreundeten Völkern haben immer die Türken gezählt. Gerade jetzt, wo unsere Verbindungen noch stärker gewachsen sind, wo wir wissen, daß jeder dritte Ausländer bei uns ein Türke ist und wo wir auch die Chance eines modernen Zusammenwachsens haben, sollen diese engen gewachsenen Beziehungen plötzlich anders sein?

(Ernst Waltemathe [SPD]: Sie haben nicht gesagt, warum!)

— Nein, das ist kein Bezug auf die heutige Rede. Ich
freue mich ja, daß Sie das Thema heute so sachlich
angesprochen haben. Wir hatten vor einem Jahr im Haushaltsausschuß andersartige Wortbeiträge.
Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, natürlich dürfen wir das Kurdenproblem dabei nicht ausklammern. Unter Freunden darf man bekanntermaßen jedes Thema ansprechen. Was man nicht tun sollte, ist das Wägen mit zweierlei Maß und vor allem das Unterschlagen von Fakten.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212309200
Herr Kollege Rose, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?

Dr. Klaus Rose (CSU):
Rede ID: ID1212309300
Ja; bitte.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212309400
Bitte sehr, Herr Kollege.

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1212309500
Herr Dr. Rose, ist Ihnen bekannt, daß der Menschenrechtsausschuß des türkischen Parlaments heute beschlossen hat, im Anschluß an die Morde von Mölln eine „Inspektionsreise" nach Deutschland zu veranstalten, und wäre Ihre Fraktion mit uns und anderen Fraktionen gemeinsam bereit — im Sinn dieser Fragen, die Sie aufgeworfen haben —, mit diesem Ausschuß hier in Bonn ein Gespräch zu führen?

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Selbstverständlich!)


Dr. Klaus Rose (CSU):
Rede ID: ID1212309600
Das ist gar keine Frage. Mit Kollegen reden wir immer, und wenn es um Menschenrechtsfragen geht, gilt das erst recht. Wenn es jetzt andersherum ist, als es früher war, wo gute Kollegen aus diesem Hause in die Türkei fuhren, um ihnen zu zeigen, daß sie die Menschenrechte verletzen,

(Freimut Duve [SPD]: Mit gutem Grund!)

dann müssen wir jetzt umgekehrt bereit sein, türkische Kollegen bei uns aufzunehmen, damit sie uns sagen, wie es weitergeht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD — Freimut Duve [SPD]: Das war der Sinn meiner Frage!)

Ich hatte gerade gesagt, man solle keine Fakten unterschlagen. Ich bitte deshalb alle, auch die Medien, die Kurden und die PKK nicht in einen Topf zu werfen. Nicht jeder Terroranschlag und Mord durch die PKK ist ein Kurdenverbrechen, und nicht jede Aktion gegen die PKK ist ein Einsatz gegen die Kurden, wie es bei uns leider oft heißt. Das liest man auch in Zeitungen immer wieder.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Warum nennt man die kommunistische PKK in den deutschen Medien immer so freundlich „Arbeiterpartei", als wäre sie etwas ähnlich Freundliches wie die Sozialdemokraten?

(Heiterkeit — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Eine Funktionärsund Lehrerpartei ist das heute! — Freimut Duve [SPD]: Wir wußten gar nicht, daß Sie bei der großen Koalition mitmachen wollen! — Weitere Zurufe von der SPD und der F.D.P.)




Dr. Klaus Rose
— Jeder weiß, daß ich z. B. als Kapitän der Fußballmannschaft des Bundestages sehr gern auch mit Sozialdemokraten Pässe spiele.
Warum verschweigt man, daß es für die Kurden im Nordirak keinen Alleinvertretungsanspruch der PKK gibt, sondern daß verschiedene demokratische Parteien Vertreter der kurdischen Sache sind? Ich frage noch einmal — denn dies ist mir in den letzten Monaten abgegangen —: Warum darf die PKK ihre eindeutig terroristischen Aktivitäten auch in Deutschland durchziehen, so daß es schon zu Mordprozessen kommen mußte? Davon hat man eigentlich nie etwas gehört.
Die Türkei hat ihre besonderen Beziehungen zu Deutschland; das wissen wir. Müssen wir sie nicht genauso beurteilen, so frage ich dann, wie unsere freundschaftlichen Beziehungen beispielsweise zum Vereinigten Königreich oder zu Frankreich oder zu Spanien? Ich möchte keine neuen Probleme hochreden; aber wir haben zweierlei Maß angewandt.
Das schließt überhaupt nicht aus, daß wir dringende humanitäre Hilfsmaßnahmen für die Kurden im Nordirak leisten, wie sie z. B. im SPD-Antrag auf Drucksache 12/3719 vom 12. November 1992 gefordert werden. Die Ursachenbeschreibung in diesem Antrag teile ich voll, weil sie endlich die Verantwortung des Saddam Hussein und der PKK für die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Grenzlandkurden nennt. Deutschland leistet bekanntlich schon jetzt öffentliche Mittel in beträchtlicher Höhe für die humanitäre Hilfe; dazu kommen private Hilfsmaßnahmen.
Anfang November hatte es im Deutschen Bundestag eine Debatte über den Umfang dieser humanitären Hilfe gegeben. Das betrifft neben dem ehemaligen Jugoslawien nicht bloß Somalia oder das südliche Afrika und eben den Nordirak, sondern auch andere. Dort war vor allem von der Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen in Deutschland selbst die Rede. Auch das zählt zur humanitären Hilfe.
Nicht immer können wir humanitäre Hilfe nur dann geben, wenn woanders etwas falsch gelaufen ist und dann der deutsche Staat eingreifen soll. Wir müssen uns auch darüber unterhalten, was wir tun können, damit es nicht zu solchen Problemen kommt.
Zurückkommend zu den deutsch-türkischen Beziehungen bitte ich die Bundesregierung, das Versprechen von der Verlagerung der engen Zusammenarbeit von militärischen auf wirtschaftliche Maßnahmen, auf Bildungs-, Wissenschafts- und Technologiezusammenarbeit ehestmöglich einzulösen bzw. das fortzusetzen, was sowieso schon vorhanden ist. In der beruflichen Bildung gibt es riesige Chancen. Wir haben so viel an Gemeinsamkeiten.
Das können wir ausbauen. Wir können das Potential der Türken in Deutschland und das der Deutschen in der Türkei und Umgebung nutzen, um diesbezüglich in Zukunft etwas Gutes einzulösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Herr Bundesaußenminister, wir haben uns schon einmal persönlich über die Chance unterhalten, eine
deutsche Universität in Istanbul zu errichten. Ich möchte, daß man die Realisierung dieses Signals weiterhin verfolgt, allerdings nicht in der Trägerschaft der Bundesregierung, also anders als damals bei dem deutschen Krankenhaus in Istanbul. Es ist natürlich falsch, wenn die Bundesregierung ein Krankenhaus betreibt. Es sollte unter Mithilfe auch deutscher Wissenschaftler zu einer echten Zusammenarbeit mit der Türkei kommen. Wir sollten diese deutsche Universität in Istanbul in freier Trägerschaft gründen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Jeder von uns weiß, welch wichtige Rolle der Türkei in Zukunft zukommt. Nicht nur der Balkan brennt; auf der anderen Seite der Türkei steht der Kaukasus vor einer Explosion. Der bekannte Südosteuropakenner Professor Werner Gumpel aus München hat kürzlich die kriegerischen Konflikte aufgelistet, die es bereits jetzt gibt und die alle zu Flüchtlingsströmen in die Türkei führen können. Die Georgier, Armenier und Aserbaidschaner sind uns inzwischen bekannt, auch die Osseten, Abchasen oder Tschetschenen. Kaum bekannt sind die Völkerschaften der Avaren, Lesginen, Darginen, Kumyken, Tabarasanen usw., die alle von mächtigen Nachbarn in alter kolonialer Art ausgespielt werden und die deshalb als gefährdet gelten. Eine neue „Konföderation Kaukasischer Bergvölker" will sich für die Unabhängigkeit aller kaukasischen Völker einsetzen. Ich meine, da ist Hilfe von außen nötig. Das sollten wir in unserem eigenen Interesse tun.
Wenn man also den Balkan, den Kaukasus, den Iran und den Irak, aber auch den weiteren zentralasiatischen Gürtel der unterschiedlichen Turkvölker betrachtet, mißt man der Türkei eine neue Rolle zu. Deutschland bekommt eine neue Rolle, und wir ringen um diese Rolle. Deutschland sollte dem alten Freund Türkei bei seiner neuen Rolle behilflich sein.
Mit den sonstigen bewährten Instrumenten der Außenpolitik, die sich im Einzelplan 05 niederschlagen, bin ich zufrieden. Anders als die Fraktion der Sozialdemokraten wird deshalb die CDU/CSU-Fraktion zustimmen.
Zum Schluß noch folgende Bemerkung mit einer entsprechenden Bitte an denjenigen im Auswärtigen Amt, der dafür zuständig ist. Mir wurde heute eine Mitteilung über etwas zugespielt, bei dem wir als deutscher Bundestag mit dem Verfahren nicht einverstanden sein können. wir haben bekanntermaßen im Etat des Auswärtigen Amtes im Zusammenhang mit dem Haus der Kulturen in Berlin eine Sperre ausgesprochen, damit man sich zwischen dem Betreiber dort bzw. dem Aufsichtsrat oder wer immer es sein mag — dort ist jedenfalls das Auswärtige Amt vertreten — und dem Deutschen Bundestag einigt, um für die Besuchergruppen entsprechende Lösungen zu finden. Wir wollen gemeinsam einen Nutzen davon haben.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: So ist es!)

Mir ist heute gesagt worden, daß das nicht so durchgeführt zu werden scheint, daß der Vertreter bzw. die Vertreterin des Auswärtigen Amtes dort



Dr. Klaus Rose
zumindest nicht im Interesse des Deutschen Bundestages gehandelt hat. Ich bitte darum, dies aufzugreifen und sickt mit der Verwaltung des Deutschen Bundestages abzustimmen. Die Angelegenheit sollte zu einem guten Abschluß gebracht werden, damit die Entsperrung der Mittel erfolgen kann. Das liegt in unser aller Interesse.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Insgesamt können wir dem Haushalt zustimmen. Wir wünschen dem Auswärtigen Amt als — das ist bewußt so gesagt — CDU und CSU viel Erfolg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212309700
Ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Sigrid Hoth das Wort.

Dr. Sigrid Hoth (FDP):
Rede ID: ID1212309800
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Haushaltsberatungen dieses Jahres wurden noch wesentlich stärker als im Vorjahr unter dem Gesichtspunkt geführt, die Konsolidierungserfordernisse der öffentlichen Haushalte mit den Ausgabenerfordernissen und -wünschen in Einklang zu bringen. Dies erforderte zwingend Umschichtungen und Einsparungen in allen Bereichen. So mußte auch der Etat des Auswärtigen Amtes saldiert um über 19 Millionen DM gekürzt werden; er beträgt nunmehr rund 3,6 Milliarden DM.
Diese Kürzung stellt das Auswärtige Amt natürlich vor erhebliche Probleme, da sich z. B. allein aus den Aufgaben in Ost- und Mitteleuropa sowie in den GUS-Staaten ein steigender Finanzbedarf ergibt. Deshalb ist es auch außerordentlich zu begrüßen, daß das Auswärtige Amt bereits während dieser Haushaltsberatungen Vorschläge entwickelt hat, die es entsprechend den neuen Aufgabenschwerpunkten durch Umstrukturierungen und Einsparungen ermöglichen, mehr personelle und materielle Ressourcen in den Schwerpunktgebieten einzusetzen.
Ich erwarte jedoch, daß auch die Organisationen, Institute und Stiftungen, die im Auftrag des Auswärtigen Amtes die Auslandskulturarbeit für die Bundesrepublik Deutschland durchführen, ähnliche Umstrukturierungskonzepte vorlegen, die dann in den Etat für 1994 eingearbeitet werden können.
Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir der Pflege kultureller Beziehungen zum Ausland verminderte Bedeutung beimessen. Die Bereitstellung von über 1 Milliarde DM für diesen Zweck dokumentiert das Gegenteil.
Die veranschlagten Gelder sind z. B. für die Vergabe von Stipendien und Beihilfen für Studenten, Wissenschaftler und Praktikanten aus dem Ausland vorgesehen; sie sollen zur Pflege der Beziehungen zwischen deutschen und ausländischen Wissenschaftlern und Institutionen dienen sowie kulturelle Einrichtungen, Programme und Ausstellungen im Ausland unterstützen. Allein das für 1993 neu aufgelegte Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Sprache in Mittel- und Osteueropa sowie in der GUS — um nur eine herausragende Position zu nennen — umfaßt 45 Millionen DM.
Insbesondere unsere derzeitige innenpolitische Situation sollte uns Anlaß dafür sein, durch intensive politische und kulturelle Beziehungen, durch mannigfaltige zwischenmenschliche Kontakte und damit persönliches Erleben im Ausland deutlich zu machen, daß die große Mehrheit der Deutschen nicht dem Bild des ausländerfeindlichen und ausländermordenden Unmenschen entspricht, das die Medien an Beispielen von schärfstens zu verurteilenden und rigoros zu bekämpfenden Radikalen zur Zeit in den Schlagzeilen skizzieren.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Freimut Duve [SPD]: Diese Täter gibt es ja wirklich!)

— Ja, natürlich. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte man es genauso vermeiden, über d i e Rumänen, die Türken, die Kurden oder die Ausländer pauschal zu reden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Zusammenhang muß man auch die 1995 auslaufende NATO-Verteidigungshilfe für die Türkei sehr differenziert betrachten.
Ich begrüße es des weiteren sehr, daß man im Auswärtigen Amt bereits jetzt daran arbeitet, die Türkei danach in anderen Bereichen — möglicherweise mit der Förderung einer deutsch-türkischen Universität — zu unterstützen.
Die bereits erwähnten notwendigen Umstrukturierungen, Umschichtungen und Kürzungen bedeuten jedoch ebenfalls nicht, daß wir uns irgendwo aus unserer internationalen Verantwortung stehlen wollen. Auch unsere humanitären Hilfeleistungen belegen dies.
Unser Hauptaugenmerk gilt dabei nach wie vor den Opfern des Konflikts in Ex-Jugoslawien. Das Finanzvolumen beträgt seit August 1991 47,6 Millionen DM aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes. Der Schwerpunkt unserer Hilfe liegt dabei in der Versorgung mit Lebensmitteln und in der medizinischen Betreuung. Für den Bau von Flüchtlingsunterkünften wurden im Jahr 1992 50 Millionen DM bereitgestellt. Berücksichtigt man die Sachleistungen des Bundesministeriums der Verteidigung, die Kosten der Luftbrücke und den deutschen Anteil an der EG-Hilfe, so stellte die Bundesrepublik Deutschland bisher über 276 Millionen DM bereit.

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wohl wahr!)

Trotz des Prinzips, vorrangig humanitäre Hilfe vor Ort zu leisten, sollen 1 000 Flüchtlinge aus bosnischen Lagern nach Deutschland geholt werden. Insgesamt hat die Bundesrepublik Deutschland bereits über 250 000 Flüchtlinge aus Jugoslawien aufgenommen.
1993 sind für die humanitäre Hilfe 80 Millionen DM etatisiert. Der Beitrag für die Kosten der EG-Friedensmission in Restjugoslawien ist mit 2,4 Millionen DM veranschlagt. Für die UNICEF sind 20 Millionen DM vorgesehen. Der Beitrag zum Hilfsfonds des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen soll 9 Millionen DM betragen. Soweit einige Zahlen.



Dr. Sigrid Hoth
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, alle diese Maßnahmen helfen nur, die Folgen von bestimmten Prozessen zu lindern, ohne deren Ursachen zu beseitigen. Deshalb ist es auch notwendig, daß wir schnellstens über unsere künftige Rolle im Rahmen der UNO und im Zusammenhang damit auch über die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr beraten.
Wer die Leistungen des Auswärtigen Amtes allein auf die im Einzelplan ausgewiesenen Mittel reduzieren will, wird jedoch den bevorstehenden Aufgaben nicht gerecht. In der Zentrale in Bonn, gerade aber auch vor Ort ist der auswärtige Dienst weit überproportional in die Bewältigung der Folgen des Zerfalls in Mittel- und Osteuropa involviert. Vor allem die humanitäre Hilfe stellt die beteiligten Menschen vor Herausforderungen, die bis an die Grenze der Belastbarkeit gehen.
Bei Stellen- und Mittelkürzungen müssen diese Gesichtspunkte in angemessener Form berücksichtigt werden. Ich begrüße in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich die Entscheidung, die Stelle eines Beauftragten der Bundesregierung für humanitäre Hilfe einzurichten.

(Beifall bei der F.D.P.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich stellen wir uns auch gänzlich neuen Aufgaben. So wurden während der Haushaltsberatungen 10 Millionen DM für die Vernichtung ehemals sowjetischer Massenvernichtungswaffen eingestellt. Die Atomwaffen der ehemaligen Sowjetunion sowie die biologischen und chemischen Kampfstoffe stellen auch nach dem Ende des Kalten Krieges eine Gefährdung für die ganze Welt dar. Es müssen künftig allein 33 000 Atomsprengköpfe vernichtet werden. Deutschland wird zunächst mit Transport-, Schutz- und Sicherheitsmaterial sowie mit Meßgeräten helfen. Ferner können russische Experten aus- und fortgebildet werden. Diese Aufgabe entspricht unserem ureigenen Sicherheitsinteresse. Wir sollten alles daransetzen, den Abrüstungsprozeß schnell und wirksam voranzutreiben.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Einzelplan des Auswärtigen Amtes zeigt jedem, daß wir Verantwortung für die Entwicklungen und Verhältnisse innerhalb und außerhalb unserer Grenzen übernehmen müssen und wollen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1212309900
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans Modrow.

Dr. Hans Modrow (PDS/LL):
Rede ID: ID1212310000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die politischen Veränderungen in Europa haben große Hoffnungen der Menschen erweckt und waren mit realen Chancen verbunden. Sich hier richtig zu entscheiden, darin lag die große Herausforderung und Verantwortung für die Außenpolitik des nunmehr größeren Deutschlands. Von ihm erwartet man einen entsprechenden Beitrag zur internationalen Entspannung, friedliche Konfliktlösung, Rüstungsreduzierung und Abrüstung. Von ihm erwartet man greifbare Ergebnisse aus der versprochenen Brückenfunktion für Osteuropa. Von ihm erwartet man den zugesagten Neuansatz einer gleichberechtigten Entwicklungspartnerschaft mit den Ländern der Dritten Welt und einen größeren Beitrag zur Lösung der globalen Probleme.
Die Außenpolitik der Bundesrepublik hat diese Erwartungen bisher nicht erfüllt und die gebotenen Chancen kaum genutzt. An dieser Einschätzung ändert auch die Tatsache nichts, daß wir uns in einer schwierigen Übergangsphase befinden, in der sich dieses Deutschland, der europäische Kontinent und die Welt verändern und nicht zur Ruhe gekommen sind.
Außenpolitik beginnt im Inneren eines jeden Landes. Wer Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß bewußt oder unbewußt schürt oder dafür Raum läßt, verstößt gegen elementare Grundsätze für das Zusammenleben der Völker. Die bitteren Früchte dieser Politik ernten wir jetzt im In- und im Ausland. Scham genügt hier nicht. Empörung und Zorn über barbarische Mordbrennerei oder Mord durch Rechtsradikale auf der offenen Straße müssen endlich zu einer Beendigung dieser verhängnisvollen Politik führen.
Im dritten Jahr der deutschen Einheit versucht die Bundesregierung, den Anschein zu erwecken, die zentrale Frage heutiger und künftiger Außenpolitik der Bundesrepublik sei allein, wann, unter welchen Bedingungen, wohin und in welcher Formierung deutsche Truppen im Ausland eingesetzt werden sollen.
Woher nimmt die Bundesregierung eigentlich das Recht, so ist doch zu fragen, anderswo mit militärischen Mitteln die Menschenrechte durchsetzen zu wollen, während sie im eigenen Land ihre Durchsetzung für Ausländer nicht garantieren kann? Wen wundert da, daß der Verteidigungsminister sogar erklärt, er werde deutsche Einsätze notfalls auch mit einem Entsendegesetz, also unter Umgehung des Grundgesetzes, durchführen? Das läßt doch nur den einen Schluß zu: In einer Zeit, da sich grundlegende Veränderungen in Europa und in der Welt vollziehen, soll deutsche Machtpolitik aufleben, während ein friedliches, für alle berechenbares, solidarisches Zusammenleben der Völker gefordert ist.
In entscheidenden Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik bestehen heute akute Defizite. Die westeuropäische Integrationspolitik schlittert mit dem Maastrichter Vertrag wohl offensichtlich in eine Sackgasse. Keine der etablierten Parteien traut sich heute, aus den Defiziten dieses Vertrags, über die man im übrigen Europa sehr offen spricht, was auch bei Referenden sichtbar wird, die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Die Bundesregierung handelt hier mehr nach dem Grundsatz „Augen zu und durch" . Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß die sozialdemokratische Opposition hier wenig entschieden und maßgeblich bremst.
Zu den Defiziten gehört, daß bis heute ein Konzept für die notwendige gesamteuropäische Integration als Antwort auf das Ende des Kalten Krieges und als Angebot für den Beitrag zur Lösung der osteuropäischen Probleme fehlt. Hier sei daran erinnert, daß uns



Dr. Hans Modrow
Professor Geremek im Auswärtigen Ausschuß darauf aufmerksam machte, daß man sehr froh über den Vertrag sei, der unsere Staaten miteinander verbindet, daß aber mehr auf dem Papier stehe, als an Realitäten geschaffen werde.
Der KSZE-Elan der Bundesregierung, auf den Gipfeltreffen in Paris und Helsinki noch zu Protokoll gegeben, scheint versiegt, -die angebliche Reformbereitschaft der NATO im Lichte des Siegerglanzes zerronnen. So richtig es ist, der ehemaligen Sowjetunion bei der Vernichtung von atomarer Rüstung Beistand zu geben, so notwendig wäre es, in der NATO selber entschiedener zur atomaren Abrüstung überzugehen.
Die Europapolitik der Bundesregierung bleibt westeuropäisch; für die krisengeschüttelte andere Hälfte Europas hat man hier mehr den Platz eines europäischen Lateinamerikas. Die bisherige NordSüd-Version der Arbeitsteilung, der ökonomischen und der politischen Abhängigkeit soll lediglich um eine modifizierte europäische West-Ost-Variante unter dominierendem deutschen Einfluß ergänzt werden. Es existiert weiterhin keine Abrüstungs- und Konversionskonzeption für die eigene Rüstungsindustrie und Armee, um endlich mit der Erarbeitung der Friedensdividende zu beginnen.
Vernachlässigt wird der Beitrag der Bundesrepublik zur Lösung der existentiellen Bedrohung vieler Entwicklungsländer. Auch im globalen Bereich ist kein der Verantwortung der Bundesrepublik als führender Wirtschaftsmacht entsprechendes Konzept sichtbar.

(V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein)

Es ist schon geradezu peinlich, wenn bis in die Reihen der Bundesregierung hinein stets von den „starken und tüchtigen Deutschen" die Rede ist, die infolgedessen bei ihren Nachbarn „unbeliebt" sein müßten, eine Erscheinung, die angeblich nur entsteht, weil man dort die edlen Tugenden der Deutschen nicht zu schätzen weiß. Ein solches Denken hat Deutschland mehr als einmal in die Irre geführt. Die Symptome einer solchen Krankheit sollten nicht weiter wirken. Statt sich den Herausforderungen in der Welt wirklich zu stellen, wird ein Kurs verfolgt, der nicht Gefahren begegnet. Er läßt die Lehren der Vergangenheit außerhalb der Betrachtung. Hier sind Zukunftsforderung und Überlegung gefragt.
Da die Außenpolitik der Bundesregierung immer mehr auf eine militärische Komponente setzt, verschwimmen die Grenzen zwischen beiden Haushalten. Eine friedensstiftende Außenpolitik könnte wirksam zur Verringerung der militärischen Ausgaben beitragen. Der von uns vorgelegte Antrag zielt auf eine Senkung dieser Ausaben. Während auf Sozialabbau und Senkung der Subventionen orientiert wird, sollen die hohen Ausgaben besonders für Außen- und Sicherheitspolitik unangetastet bleiben.
Einem solchen Haushalt können wir nicht zustimmen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212310100
Das Wort hat der Abgeordnete Gerd Poppe.

Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1212310200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vaclav Havel nannte in einem Interview vor wenigen Tagen die Eindämmung der nationalistischen Entwicklungen im ehemaligen sowjetischen Machtbereich eine Aufgabe aller Demokraten dieser Regionen, zugleich aber auch eine Herausforderung für den Westen:
Der Westen ist sich der Dimension dieses Problems offenbar noch nicht vollends bewußt .. . Wenn der Westen nicht eingreift und uns nicht politisch wirksam hilft, diese Gefahren zu bewältigen, wird es ihm einmal ähnlich ergehen wie heute Ost- und Südosteuropa .. .
Da bereitet sich der Westen, die NATO, auf einen globalen Zusammenstoß mit einem riesengroßen Feind vor und steht dann völlig ratlos vor einem Netz lokaler Konflikte.
Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Provinzialismus im Westen spiegeln sich auch im Bundeshaushalt wider: Unzureichend sind die Mittel nicht nur für die ostdeutschen Bundesländer, sondern auch für die neuen Staaten im Osten. Erst wenn es brennt, wenn der Völkermord bereits im Gange ist, findet man noch einige Millionen zum Bau von Notunterkünften für Flüchtlinge.
Die humanitäre Hilfe der Bundesrepublik will ich nicht geringschätzen. Allein: Sie reicht nicht. Die vom Unterausschuß Humanitäre Hilfe und Menschenrechte geforderte Aufstockung wurde trotz sinnvoller Deckungsvorschläge vom Haushaltsausschuß mehrheitlich abgelehnt, obwohl schon jetzt jeder weiß, daß die Mittel nicht genügen werden. Das grundsätzlichere Problem ist aber, daß oftmals die Folgen von Versäumnissen der Politik durch humanitäre Hilfe gemildert werden müssen.
Havel sagte in dem erwähnten Interview:
Schon im eigenen Interesse muß Westeuropa die Integration suchen und damit dem Osten ein Beispiel und Ansporn beim Aufbau demokratischer Systeme sein.
Im Klartext heißt das für uns: Trotz der Unverzichtbarkeit humanitärer Leistungen geht es um sie doch erst in zweiter Linie. Ein viel prinzipielleres Herangehen ist erforderlich, aus eigenem Interesse der Bundesrepublik. Eine gewissermaßen vorbeugende Unterstützung kann dazu beitragen, die Transformationsprozesse in Osteuropa zu beschleunigen und zu erleichtern, nationalistische Exzesse zu verhindern und so einen Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen zu leisten, die zur massenhaften Flucht vor unerträglichen Lebensumständen führen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn die zu erwartenden großen Fluchtbewegungen noch gebremst werden sollen, muß schnell ein umfassendes Politik- und Wirtschaftskonzept für Osteuropa umgesetzt werden: Dringend notwendig sind Unterstützung bei der Einführung der Marktwirtschaft, schnelle Einbeziehung in die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine Demokratiehilfe, die diesen Namen verdient. Sinngemäß gilt das natürlich auch für die Staaten der sogenannten Dritten Welt.



Gerd Poppe
All das bleibt im Bundeshaushalt 1993 weitgehend unberücksichtigt. Der Vorwurf kann nur zum kleineren Teil an die Haushälter gerichtet werden. Verantwortlich ist in erster Linie die Bundesregierung, die auch drei Jahre nach dem Umbruch immer noch kein der veränderten Situation angemessenes Außen- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept vorgelegt hat. Der Haushaltsentwurf kann aber nur so gut werden, wie es die politischen Vorgaben sind, die ihm zugrunde liegen. Diese aber sind — euphemistisch umschrieben — nach wie vor äußerst diffus, wenn es z. B. um den Stellenwert der Menschenrechte, der Demokratieentwicklung und der Eindämmung des Nationalismus für die bundesdeutsche Außenpolitik geht.
In der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung ist der Widerspruch zwischen beschworenem Anspruch und der banalen Wirklichkeit besonders kraß. Exemplarisch dazu ist das Verhältnis zur Volksrepublik China zu nennen. Bundesregierung und Koalitionsmehrheit haben über die letzten Jahre hinweg die chinesische Realität permanenter massenhafter Menschenrechtsverletzung relativiert und schöngeredet, ohne daß sich in China irgend etwas positiv verändert hätte. Weder in der Tibetfrage noch in der Frage der Demokratieentwicklung haben sich die chinesischen Machthaber auch nur einen Millimeter bewegt. Trotzdem sprach der deutsche Außenminister vor wenigen Wochen in Peking davon, daß sich das Verhältnis zu China „normalisiert" habe.
Ein Beispiel für die Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit im Einzelplan 05: Die unzeitgemäße NATO-Verteidigungshilfe soll zwar in einigen Jahren auslaufen. Trotzdem wird es im nächsten Jahr noch neue Verträge geben, auch mit der Türkei, wo ohne Rücksicht auf immer größere Opfer unter der Zivilbevölkerung in den kurdischen Regionen immer noch deutsche Waffen im Bürgerkrieg gegen die PKK verwendet werden. Was für eine Türkei soll hier als Eckpfeiler der NATO unterstützt werden? Warum werden die Mittel für die Türkei nicht wenigstens an nachweisbare Erfolge der türkischen Regierung im Kampf gegen die Folter, an echte Erfolge der dringend erforderlichen Demokratisierung der türkischen Gesellschaft geknüpft?
Unklar ist auch, was aus der Ausstattungshilfe wird. Zwar soll sie zukünftig vor allem zur Demokratiehilfe verwendet werden. Aber sowohl im Grundsatz als auch im Detail hat die Bundesregierung bisher offengelassen, worin diese eigentlich bestehen soll. So können wir nur von Glück reden, daß uns im Falle der Show-Veranstaltung des peruanischen Diktators vom vorigen Wochenende die Peinlichkeit erspart blieb, das Geld für Wahlurnen oder die Reisen von Wahlbeobachtern ausgegeben zu haben. Diesem Glück wurde durch eine sehr gelungene Anhörung des Unterausschusses Menschenrechte ein wenig nachgeholfen.

( V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein)

Andererseits wird an der falschen Stelle gespart. Zur auswärtigen Kulturpolitik hat der Kollege Waltemathe schon einiges gesagt. Aber auch die für die Unterorganisationen der UN geleisteten Beiträge sind realtiv gering, auch wenn gewichtige Anteile der
EG-Beiträge und bilaterale, direkte Hilfeleistungen hinzuzurechnen sind. Durch eine bewußte Aufstokkung der Regelbeiträge könnte ein Nachweis für das Verständnis einer neuen Rolle des vereinten Deutschland in der Welt erbracht werden, ungeachtet der Feststellung, daß sich die Bundesrepublik für Reformen und eine größere Effektivität der UN einsetzen sollte.
Gespart werden soll nun nach dem Willen der Bundesregierung auch beim Botschaftspersonal. Staatssekretär Kastrup nannte das neulich „die Neuordnung der Prioritäten der Präsenz in der Welt". Ich warne dringend davor, derartige Einsparungsmaßnahmen an der falschen Stelle vorzunehmen, z. B. durch zahlreiche Doppel- und Mehrfachakkreditierungen in den sehr verschiedenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Gerade der Umstand ihrer unangemessenen Vereinheitlichung hat die Menschen dort gegeneinander aufgebracht.
Ich will nicht verschweigen, daß es im Einzelplan 05 auch Lichtblicke gibt: zum einen die Ausbildungshilfe für osteuropäische Länder, zum anderen die Abrüstungshilfe, die vor allem der Beseitigung der chemischen Waffen dienen soll, was wir ausdrücklich begrüßen.
Dennoch ist dieser Haushalt von einer ausreichenden Berücksichtigung und konzeptionellen Verarbeitung der komplizierten und auch für uns bedrohlichen Lage in Ost- und Südosteuropa, von der Politik gegenüber menschenverachtenden Diktaturen wie China ganz zu schweigen, weit entfernt.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen den Haushaltsentwurf der Bundesregierung ab, vor allem deshalb, weil wir besorgt sind, daß dieser Haushalt mit dazu führen kann, daß es uns, wie Havel sagte, eines Tages so geht wie augenblicklich den Menschen in Ost- und Südosteuropa. Statt dessen sollten wir dazu beitragen, daß es ihnen bald so geht wie uns heute.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hans Modrow [PDS/Linke Liste])


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212310300
Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1212310400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie mir erlauben, beginne ich mit zwei Bemerkungen.
Erstens. Ich danke dem Deutschen Bundestag, dem Haushaltsausschuß und insbesondere denjenigen, die sich in besonderer Weise für die Haushaltsbelange des auswärtigen Dienstes eingesetzt haben, sehr herzlich für ihr Engagement und ihre Unterstützung.
Zweitens. Das Haus der Kulturen in der Welt, Herr Abgeordneter Rose — ich habe mich gerade sachkundig machen lassen — ist kein Problem des Auswärtigen Amts. Wir sind noch nicht Gesellschafter. Wenn wir Gesellschafter sind — was wohl im Augenblick



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
läuft —, ist es absolut selbstverständlich, daß wir das Anliegen, das Sie haben, unterstützen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich würde aus naheliegenden Gründen furchtbar gern speziell etwas zur Situation in der Türkei sagen, auch zu alldem, was gesagt worden ist. Man sollte das aber vielleicht aus gegebenem Anlaß auf später verschieben.
Meine Damen und Herren, der schreckliche Brandanschlag in Mölln, der Mord an drei unschuldigen Menschen bedroht alle Werte, zu denen wir uns bekennen und die unsere rechtsstaatliche Demokratie bestimmen. Diese Tat ist aber auch ein weiterer Anschlag auf das Ansehen Deutschlands in der Welt und damit ein Anschlag auf die Gestaltungsmöglichkeit unserer den Menschenrechten und dem Frieden verpflichteten Außenpolitik.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Welt ist bestürzt. Die Zweifel an uns werden immer größer.
Ich war gerade in Israel und habe dort ein paar schwierige Stunden erlebt. Die Fragen an mich waren voller Sorge und Angst. Ich füge hinzu: Beim Staatsbesuch in Mexiko — von dem ich in Begleitung des Herrn Bundespräsidenten vor drei Stunden zurückgekommen bin — war es sowohl für den Herrn Bundespräsidenten wie auch für mich nicht anders: Es gab einen unwahrscheinlichen Erklärungsdruck und eine nicht ganz einfache Erklärungsnot. Ja, es ist erheblich schwieriger geworden, die Entwicklung in Deutschland draußen zu erklären.
Ich habe dem türkischen Außenminister, der im übrigen, wie Sie wissen, Kurde ist und zu dem ich persönlich ein sehr gutes Verhältnis habe, versichert, daß die 1,6 Millionen Türken — der größte Ausländeranteil in der Bundesrepublik — in Deutschland geachtete Mitbürger sind und natürlich den vollen Schutz unserer Gesetze genießen. Diese Garantieerklärung, die für einen freiheitlichen Rechtsstaat eine wahre Selbstverständlichkeit ist, müssen wir jetzt uneingeschränkt gegenüber allen Ausländern einlösen, die mit uns in diesem Lande leben.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Die Demonstrationen in Berlin, Bonn und anderswo haben gezeigt, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen empört, ja, beschämt ist. Wir dürfen einfach nicht zulassen — das ist heute schon mehrfach gesagt worden, auch ich als Außenminister sage es natürlich, und zwar nach draußen gerichtet —, daß rechtsradikale Gewalttäter das Vertrauenskapital zerschlagen, das wir in über 40 Jahren freiheitlicher Demokratie im Innern und nach außen aufgebaut haben.
Meine Damen und Herren, die Welt steht zwischen Hoffnung und Ernüchterung. Enttäuschung und Ernüchterung rühren aus dem erneuten Aufflammen der Gewalt; die schwärendste Wunde ist zweifellos der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Die Hoffnung andererseits schöpfen wir aus dem Ende der OstWest-Konfrontation. Die Welt ist im Grunde sicherer geworden. Gewaltige Kräfte, die durch militärische Konfrontation und Stellvertreterkriege gebunden waren, wurden für neue Aufgaben frei. Vor allem aber: Die Freiheit hat über den Zwang, das Recht über das Unrecht und die Marktwirtschaft über die Planwirtschaft gesiegt.
Gerade wir Deutschen dürfen uns jetzt von dem Erschrecken über die neue Gewalt, von den Enttäuschungen nicht niederdrücken lassen. Das vereinte Deutschland ist doch gerade ein Ergebnis von Hoffnung und Zuversicht, und wir als Deutsche stehen deshalb ganz besonders in der Verantwortung, der Hoffnung auf mehr Sicherheit, Gerechtigkeit und Wohlstand weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Das schulden gerade wir auch auf Grund unserer Vergangenheit den Menschen, die noch nicht von Unrecht und Unterdrückung befreit sind.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir würden diese Hoffnungen sehr enttäuschen, wenn es uns nicht gelänge, eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung für Europa und die Welt zu schaffen. Dies ist weniger denn je eine Frage militärischer Gewichte. Die neuen Gefahren sind nicht mehr primär militärischer Art. Es sind Massenwanderungsbewegungen als Folge politischer und wirtschaftlicher Verzweiflung, der Schleichhandel mit nuklearen und chemischen Massenvernichtungsmitteln, die Risiken aus einer unzureichend gesicherten Kernenergieproduktion, Umweltprobleme und die Bedrohung durch Drogen, organisiertes Verbrechen und Terrorismus.
Die Mißachtung von Menschen, von Minderheitenrechten und des Konfliktpotentials wirtschaftlicher und sozialer Disparitäten hat Auswirkungen, die eben auch uns in Deutschland treffen. Das wiedervereinigte, souveräne Deutschland muß eine engagierte, kraftvolle Außenpolitik betreiben, die seiner erhöhten Verantwortung gerecht wird. Gerade wir müssen für mehr Integration, Solidarität, Partnerschaftlichkeit eintreten, weil wir eben mehr als andere erfahren haben, daß damit unseren wohlverstandenen Interessen am besten gedient ist. Wir dürfen uns selbst nicht überfordern —ich habe es schon einmal im Deutschen Bundestag gesagt —, noch dürfen wir für unsere Partner unberechenbare Sonderwege gehen.
Verantwortungspolitik und richtig verstandene Interessenpolitik sind im übrigen keine Gegensätze. Unsere Außenpolitik muß weiterhin verläßlich, realistisch, prinzipienfest sein, muß gleichermaßen europäischen und deutschen Interessen gerecht werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die fünf tragenden Elemente sind:
Erstens die europäische Integration. Deutschland kann seinen Platz in der Welt nur als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft finden. Gerade wir wissen nach den bitteren Erfahrungen unserer Geschichte in diesem Jahrhundert: Eine andere Option steht uns im Grunde gar nicht offen. Der Jahreswechsel wird die Geburtsstunde des europäischen Binnen-



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
markts und des größeren europäischen Wirtschaftsraumes sein. Ich vertraue darauf, daß sich in einigen Tagen dieser Deutsche Bundestag für die Ratifizierung des Maastricht-Vertrages aussprechen wird. Bis zum Europäischen Rat von Edinburgh in zwei Wochen werden dann insgesamt zehn Mitgliedsländer den gemeinsam vereinbarten Zeitplan erfüllt haben.
In Edinburgh werden wir über den Finanzrahmen, die Weichen für die Aufnahme der EFTA-Staaten, den Sitz und die Fragen des Europäischen Parlaments sprechen. Kleinmütig wird allerdings dieses Edinburgh nicht angegangen werden dürfen. Unsere Partner, auch die Briten und die Dänen, sehen ihre Zukunft in Europa. Allein wird kein europäisches Land die auf alle zukommenden wirtschaftlichen und ökologischen Probleme mehr bewältigen können. In der Phase des Umbruchs und des Übergangs nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist das Europa der EG der Kern, um den herum sich der Aufbau einer neuen, stabilen Ordnung vollzieht.
Mit Österreich, Finnland, Schweden und der Schweiz, wahrscheinlich auch mit Norwegen werden wir die Beitrittsverhandlungen im nächsten Jahr beginnen. Die mittel- und osteuropäischen Staaten — es ist eben erwähnt worden — klopfen an unsere Tür und drängen; für die Festigung ihrer jungen Demokratie ist Europa eine ganz entscheidende Perspektive.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich möchte in diesem Zusammenhang nochmals darauf hinweisen: Einer Vertragsänderung bedarf es nach unserer Meinung nicht, um aufzufangen, was an Unzufriedenheiten und berechtigten Sorgen vorgebracht worden ist.
Zweitens die transatlantische Partnerschaft. Die gewaltigen Herausforderungen der 90er Jahre sind überhaupt nur dann zu bewältigen, wenn die europäischen und nordamerikanischen Demokratien solidarisch zusammenstehen und ihre geistigen und wirtschaftlichen Potentiale bündeln. Der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, hat bekräftigt, daß die Kontinuität der amerikanischen Außenpolitik gewahrt bleiben wird. Amerika wird Europa und der Welt nicht den Rücken kehren. Beide teilen die Überzeugung, daß Demokratie und freie Marktwirtschaft zusammengehören. Das bedeutet: Eine demokratische und gerechte Weltordnung ist ohne ein freies Weltwirtschaftssystem nicht vorstellbar.
Die Vergangenheit hat gezeigt, welche Sprengkraft Wirtschaftskonflikte auch zwischen Demokratien haben können, ebenso natürlich Nationalismus und Protektionismus. Ein erfolgreicher Ausgang der GATT-Uruguay-Runde ist deshalb für die ganze Welt, gerade auch für die Entwicklungsländer und die Reformstaaten im Osten, von außerordentlicher Bedeutung. Deshalb sage ich klar: Es ist erforderlich, daß der jetzt erreichte Kompromiß zwischen den USA und der Europäischen Gemeinschaft rechtzeitig akzeptiert und die Uruguay-Runde zu einem Abschluß geführt wird. Das ist unser fester Wunsch und Wille.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich hinzufügen: Die Erfahrungen der GATT-Verhandlungen haben deutlich gemacht, wie notwendig es ist, auch den euroatlantischen Dialog auf eine breitere Basis zu stellen. Die NATO kann angesichts ihrer sich ändernden Rolle nicht der alleinige Stützpfeiler der transatlantischen Partnerschaft bleiben. Die Einigung Europas wird den Atlantik nur dann nicht breiter machen, wenn die bisherigen transatlantischen Bindungen durch ein Geflecht weiterer politischer und wirtschaftlicher Beziehungen ergänzt werden.
Drittens. Wir müssen vor allem zur Solidarität bereit sein. Das ist nicht nur Altruismus; es ist auch wohlverstandenes Eigeninteresse, wenn wir zusammen mit unseren Partnern versuchen, die jungen Demokratien von Prag bis Moskau auf ihrem schwierigen Weg zur Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat zu unterstützen, wenn wir zur besseren Sicherung der Kernkraftwerke im Osten beitragen und den Menschen in der Dritten Welt zu mehr Lebenschancen verhelfen wollen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

In der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges gilt: Mehr Sicherheit und Stabilität sind nur durch mehr Solidarität mit den Problemen der anderen zu erreichen, weil eben Menschen, die in Demokratie und Wohlstand leben, keine Kriege gegeneinander führen. Sie verlassen auch nicht ihre Heimat, um ein ungewisses Emigrantenschicksal auf sich zu nehmen. Dies gilt für die Menschen in den Ländern der Dritten Welt, aber auch für die Menschen in den Reformstaaten des Ostens.
Rußland steht Anfang Dezember mit dem Kongreß der Volksdeputierten vor einer möglicherweise entscheidenden Kursbestimmung. Während meines Moskaubesuchs habe ich unsere deutsche Bereitschaft unterstrichen, mit Rußland dauerhaft, eng und umfassend zusammenzuarbeiten. Ich habe jedoch auch klargemacht, daß wir die Grenze unserer finanziellen Leistungsfähigkeit erreicht haben. Die einmalige Aufgabe, dazu beizutragen, daß dieses Land und seine Nachbarn nicht in wirtschaftlichem Chaos versinken, muß alle Industrieländer — auch die USA und Japan — angehen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Solidarität, meine Damen und Herren, gilt es in diesen Tagen besonders auch mit den leidenden Menschen im ehemaligen Jugoslawien zu zeigen. Der Konflikt dort ist und bleibt eine der Hauptsorgen der deutschen Außenpolitik, vor allem aber auch der Völkergemeinschaft. Natürlich bedrückt uns alle, zu sehen, wie gering die Möglichkeiten sind, gerade in diesem geschundenen Land Frieden zu schaffen. Mit unserer humanitären Hilfe für die Opfer des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien haben wir als Bundesrepublik Deutschland einen solidarischen Beitrag erbracht. Inzwischen hat dort der Winter eingesetzt und bedroht die Menschen noch stärker mit Not und Elend. Wir werden uns diesem Leid nicht verschließen und unsere Hilfe fortsetzen. Wir legen jedoch auch Wert darauf, daß die europäischen Partnerländer — soweit nicht schon geschehen — ihre bisherige



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Zurückhaltung aufgeben und ihre Hilfsmaßnahmen verstärken.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist mir ein besonderes Anliegen, daß wir vor allem vor dem Winter diese schrecklichen Lager leer bekommen. Wir gehen von 6 000 Menschen aus, die wir aufnehmen müssen. Ich habe in der Europäischen Gemeinschaft gedrückt, und ich bin stolz darauf, daß wir — genauso wie die Amerikaner und die Spanier nach uns — bereit sind, 1 000 Menschen aufzunehmen. Wir müssen insgesamt 6 000 unterbringen. Wir werden es schaffen. Ich werde in dem Konklave am Freitag in Brüssel nochmals massivst darauf drängen, weil es ja nun wirklich nicht sein kann, daß wir in Europa nicht fähig sein sollten, 6 000 Menschen aus diesen Lagern aufzunehmen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212310500
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1212310600
Bitte.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1212310700
Herr Bundesminister, glauben Sie nicht, daß wir hier tatsächlich eine historische Chance hätten, uns die Freundschaft von Völkern zu erwerben, in denen wir auch einmal unabhängig von der Europäischen Gemeinschaft über ein Kontingent hinausgehen, das man sich zwar leicht verteilt vorstellen könnte, aber weit mehr zu tun, als wir im Augenblick tun?

(Zurufe von der F.D.P.: Das tun wir doch! — Ulrich Irmer [F.D.P.]: 250 000!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1212310800
Ich darf dazu sagen, daß wir in der Bundesrepublik 235 000 Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien aufgenommen und damit eine Zahl erreicht haben, die weit über der Zahl derjenigen liegt, die alle anderen europäischen Länder zusammen aufgenommen haben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich finde, man sollte bei einer solchen Gelegenheit im Deutschen Bundestag auch einmal den Menschen in unserem Land danken, die sich in diesem Zusammenhang ungeheuer hilfsbereit gezeigt haben.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir begrüßen die vom Sicherheitsrat beschlossenen verschärften Überwachungen der Sanktionen gegen Restjugoslawien und die Einschränkungen für den Transitverkehr durch Serbien und Montenegro. Wir alle wissen: Auch ein schärferes Embargo wird keine schnellen Resultate bringen. Es ist in höchstem Maß frustrierend — „frustrierend" ist der richtige Ausdruck dafür —, daß Terror und gewaltsamer Eroberung nicht schnell und entschieden ein Ende gesetzt werden kann. Aber, ich werde nicht müde, allen Europäern immer wieder zu sagen: Das letzte Wort ist in diesem Zusammenhang noch nicht gesprochen.
Militärische Gewalt allein bleibt letztlich ohnmächtig, wenn sich ihre Ergebnisse nicht in Chancen der politischen Konsolidierung und wirtschaftlich-soziale Entwicklungen umsetzen lassen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Am Ende werden die Serben, auch die bosnischen Serben, den Gang nach Europa antreten. Sie werden Hilfe zum Wiederaufbau suchen, und sie werden die Zusammenarbeit mit Europa dringendst benötigen, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern. Dann ist unser fester Wille entscheidend, die Ergebnisse von Gewaltpolitik, Terror und ethnischen Säuberungen eben nicht anzuerkennen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Solidarität, meine Damen und Herren, muß aber mehr sein als Aufnahme und Hilfe von Flüchtlingen. Wir müssen die internationalen Instrumente der Friedenssicherung besser als bisher in die Lage versetzen, auf der Grundlage des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen regionale Konflikte einzudämmen und zu beenden. Ich weiß, daß die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien viele in ihrem Vertrauen gerade in bezug auf die Rolle der KSZE, der UN und der EG enttäuscht haben, aber dies kann kein endgültiges Argument dafür sein, sich von diesen Institutionen abzuwenden, sondern die Konsequenz muß sein, sie zu stärken.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Unsere Solidarität darf nicht regional, sondern muß global verstanden werden. Das gilt natürlich insbesondere für unser Engagement in den Vereinten Nationen. Dabei spielt der Sicherheitsrat eine zentrale Rolle. Die Auffassung der Bundesregierung zu einem ständigen Sitz habe ich vor dem Deutschen Bundestag und auch vor den Vereinten Nationen vorgetragen. Ich will das hier nicht wiederholen.
Wir müssen natürlich auch durch die Änderung unserer Verfassung in die Lage versetzt werden, daß wir nicht nur alle Rechte, sondern auch alle Pflichten, die uns aus den Vereinten Nationen erwachsen, wahrnehmen können.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dafür brauchen wir eine Grundgesetzänderung und keine Sonderlösung.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nach dem Parteitag der SPD sollten nun alle zusammen schnell versuchen, mit der Opposition in dieser Frage zu einer Einigung zu kommen. Ich rufe jedenfalls von diesem Pult aus nochmals dazu auf.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Viertens nenne ich Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte.




Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212310900
Herr Bundesminister, nach der Verfassung, das wissen Sie, haben Sie jederzeit Rederecht. Nach den fraktionsinternen Vereinbarungen ist Ihre Redezeit ein Stück überschritten.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1212311000
16 Minuten waren mir zugebilligt. Es gab auch eine Zwischenfrage.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212311100
Die ist abgezogen worden.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1212311200
Herr Präsident, ich werde mich selbstverständlich daran halten und komme zum Schluß. Aber Sie erlauben mir noch zwei bis drei kurze Bemerkungen.
Erstens: Menschenrechte. Ich möchte gern vor dem Deutschen Bundestag — nachdem ich das in verschiedenen anderen Gremien sagen konnte — nochmals sagen dürfen, daß ich unwahrscheinlich unglücklich über das Pressebild war, das nach meinem Chinabesuch entstanden ist. Sie werden das verstehen.

(Zuruf von der SPD: Nicht zu Unrecht!)

— Hören Sie mir eine Sekunde zu. Ich sage hier, daß ich in sämtlichen Gesprächen in der Volksrepublik China mit allen Gesprächspartnern massivst nachweisbar auf die Menschenrechtsfragen eingegangen bin.

(Zuruf von der SPD: Normale Verhältnisse!)

— Ja, normale Verhältnisse.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich bin auch bereit und sage das hier noch einmal mit Nachdruck, jedem einzelnen Mitglied des Deutschen Bundestages über die Einzelfragen, die ich in China im Menschenrechtsbereich besprochen habe, Auskunft zu geben.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es gibt Gründe dafür, manche Dinge nach draußen nicht so darstellen zu können, wie sie sich in der Praxis abgespielt haben.
Ich bitte Sie sehr herzlich, nicht immer nur der Presse zu entnehmen, so wie sich die Dinge angeblich abgespielt haben, sondern auch ein klein wenig mir zu vertrauen, daß dieses Thema für mich von außerordentlicher Bedeutung ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Abschließend: Meine Damen und Herren, für Frieden, Gewaltlosigkeit und Menschenrechte können wir uns nur dann erfolgreich einsetzen, wenn wir diese Prinzipien bei uns selber uneingeschränkt verwirklichen. Nur wenn wir bei der Bekämpfung der Gewalt erfolgreich sind, wird Deutschland in Europa und in der Welt eine Rolle finden, die seinen Interessen und seinen Möglichkeiten entspricht.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212311300
Ich erteile das Wort dem Kollegen Karsten Voigt.

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1212311400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Waltemathe hat bereits gesagt: Die SPD ist in zahlreichen Punkten mit der Amtsführung des Bundesaußenministers nicht einverstanden. Deshalb wird sie dem Haushalt nicht zustimmen, sondern ihn ablehnen. Aber das ändert nichts daran, daß es in wichtigen Fragen auch Übereinstimmung gibt. Zum Beispiel ist es wichtig, daß alle Parteien, die hier im Bundestag vertreten sind, gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit auftreten und auch gegen Rechtsradikalismus sind.

(Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Auch gegen Linksradikalismus!)

— Ich habe das gesagt, was ich gesagt habe, Herr Rose. Alle Parteien sind hier gemeinsam gegen Rechtsradikalismus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ob alle gemeinsam auch gegen Linksradikalismus sind, weiß ich nicht. Aber gegen Rechtsradikalismus sind alle gemeinsam. Diese Gemeinsamkeit gilt es hier auch festzuhalten. Ich halte sie in dieser Stunde für wichtig.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich möchte Ihnen darüber hinaus, Herr Bundesaußenminister, in drei Bereichen ein Angebot für einen Dialog machen, der meiner Meinung nach alle Fraktionen hier im Haus umfassen sollte. Das meine ich über das Normale hinaus. Dort, wo man in der Außenpolitik zusammenarbeiten kann, tut man dies. Das ist ja mehr tagespolitisch orientiert.
Ich glaube, in drei Bereichen sind eine Debatte und eine Zusammenarbeit erforderlich:
Erstens. Wir brauchen eine Debatte über die konzeptionelle Erneuerung der deutschen Außenpolitik nach der Vereinigung. Die deutsche Vereinigung hat die Rahmenbedingungen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik so verändert, daß eine Politik des „Weiter so" nicht ausreicht. Ich glaube, daß wir gut beraten wären, neben den Diskussionen innerhalb der jeweiligen Fraktionen und innerhalb der jeweiligen Parteien einen sehr offenen, zum Teil aber auch einen internen Dialog darüber zu führen, welche Konsequenzen sich daraus für uns ergeben. Darin sind sehr viele Chancen, aber auch sehr große Risiken enthalten.
Das zweite Thema, von dem ich glaube, daß wir jetzt einen Dialog brauchen, ist das der außenpolitischen Auswirkungen des Rechtsradikalismus bei uns. Ich glaube, viele bei uns im Lande haben noch gar nicht begriffen, wie sehr diese rechtsradikalen Erscheinungen die Handlungsfähigkeit unserer Außenpolitik international verändern, sie beeinträchtigen, ihr schaden. Ich glaube, daß wir darüber beraten müssen, weil die Handlungsfähigkeit Deutschlands in eine Krise geraten könnte, die dann nicht am Außenminister oder an der einen oder anderen Partei liegt, sondern an der Wahrnehmung deutscher Politik. Ich glaube, daß wir hierüber einen parteiübergreifenden Dialog brauchen. Das Echo im Ausland ist so dramatisch, daß man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann.



Karsten D. Voigt (Frankfurt)

Der dritte Bereich: Ich glaube, wir brauchen eine Debatte über eine Veränderung, eine Erneuerung der außenpolitischen Kultur hier bei uns im Lande. Sie wissen, daß es bei uns in der Fraktion Sorgen über eine mögliche Militarisierung der Außenpolitik gibt, besonders im Zusammenhang mit der WEU und Out-of-area-Einsätzen. Unbeschadet dieser Diskussion glaube ich, daß das Hauptproblem Deutschlands zur Zeit, wenn ich das überspitzt sagen darf, nicht die Gefahr eines Imperialismus ist, sondern die eines Provinzialismus. Dieser Provinzialismus paart sich häufig mit sehr eindeutigen Urteilen über andere Länder und über Sachverhalte,

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Ja!)

wobei die Eindeutigkeit meist nicht mit Differenziertheit der Wahrnehmung verbunden ist. Die Realität ist eben meist nicht schwarzweiß, sondern grau. Sie haben das eben in China selber erlebt. Ich glaube also, daß wir hier eine Verantwortung haben, daß ein Land, das eine so wichtige Rolle im Westen und in der Welt spielt — in Europa ohnehin — auch eine außenpolitische Kultur wieder entwickelt oder neu entwickelt, die dieser Rolle gemäß ist. Bisher sehe ich dies jedenfalls nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Soweit das Angebot der Zusammenarbeit.

Sie haben selber über die Probleme des Rechtsradikalismus und darüber gesprochen, wie sie sich in der Wahrnehmung deutscher Politik im Ausland niederschlagen. Es ist ganz offensichtlich: Wer zur Zeit über deutsche Außenpolitik reden will, der darf über die Krisenerscheinungen, ja, über die besorgniserregenden Zustände in der deutschen Innenpolitik nicht schweigen. Dabei meinte ich nicht nur den Rechtsradikalismus.
Das Haushaltsdefizit — das sage ich als Außenpolitiker normalerweise nicht, aber in diesem Zusammenhang muß es sein — hat mittlerweile einen Umfang erreicht und droht weiter zu explodieren und damit zu einer Gefährdung der internationalen Finanzpolitik zu werden; und Deutschland, das einmal ein Stabilitätsfaktor war, wird heute als Faktor der Instabilität in der Finanzpolitik wahrgenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich mache dabei der Bundesbank keine Vorwürfe. Sie reagiert auf diese Zustände. Es ist überhaupt keine Frage, daß bestimmte Krisenerscheinungen in der Europäischen Gemeinschaft und im transatlantischen Verhältnis eng mit den Krisenerscheinungen im Währungssystem zusammenhängen und daß diese — nicht allein, aber auch — durch die unsolide Finanzpolitik dieser Bundesregierung erklärt werden müssen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Aber Sie wollen noch mehr Geld ausgeben!)

— Sie täuschen sich. Es ist genauso wie in den USA:
Inzwischen sind diejenigen, die sozialliberal sind
— und das sind die Sozialdemokraten — finanzpolitisch solider als diejenigen, die sich Liberale nennen.

(Zustimmung bei der SPD — Zurufe von der F.D.P.: Das ist ja unglaublich! — Das beweisen Sie doch mal!)

Überall in der Welt sind Deutsche Ausländer, und Gewalttaten gegen Ausländer bei uns führen dazu, daß sich Deutschland von der Mehrheit der Welt isoliert. Insofern gilt weiterhin, daß die deutschen Nationalisten nicht nur dem deutschen Ansehen, sondern auch den deutschen Interessen am meisten schaden. Das gilt übrigens nicht zum erstenmal in der deutschen Geschichte, sondern wir haben diese bittere Erfahrung bereits zweimal in diesem Jahrhundert gemacht.
Ich möchte auch ausdrücklich begrüßen, was Kollege Rose auf eine Zwischenfrage von Freimut Duve gesagt hat: Wenn nun der türkische Menschenrechtsausschuß hierherfährt, dann sollten wir nicht beleidigt reagieren, sondern diese kritischen Anfragen aus dem Ausland — selbst dann, wenn sie überspitzt sind — bei uns ernst nehmen, den Leuten alles bei uns zeigen und keine Probleme verstecken oder verharmlosen, sogar dann, wenn es überzogene Reaktionen im Ausland gibt, und es gibt sie.

(Zuruf von der SPD: Ja! Und bei uns gibt es sie auch!)

Dann sind aber nicht die überzogenen Reaktionen das Problem, sondern die Mißstände bei uns sind das eigentliche Problem, und ich möchte nicht, daß man nachher nur über die überzogenen Reaktionen diskutiert und nicht mehr über die Mißstände bei uns.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei möchte ich besonders einen Journalisten zitieren, der häufig zu überzogenen Darstellungen der Verhältnisse bei uns neigt, Herrn Rosenthal, der in der „New York Times" schreibt. Er hat heute einen Artikel darüber in der „International Herald Tribune" geschrieben, und ich möchte einen Vorschlag aufgreifen, den er gemacht hat. Er schlägt dort vor, daß man eine internationale Einrichtung schaffen soll — es braucht nicht eine Institution zu sein, sondern sie kann auch eine Dialogstruktur haben —, die sich besonders mit der Bekämpfung von nationalsozialistischen Organisationen beschäftigt: durch Polizei, Gerichte, Gesetzgebung und — das will ich hinzufügen — auch Erziehung. Er sagt ausdrücklich, das sei nicht allein auf Deutschland bezogen; es gibt so etwas auch in anderen Ländern — leider. Ich will auch nicht verharmlosen, was in Deutschland passiert, wenn ich sage, daß es auch in anderen Ländern geschieht. Aber ich finde es sehr gut, wenn wir diesen Vorschlag aus Amerika aufgreifen. Ich glaube, daß eine internationale Diskussion, eine internationale Koordinierung der Bekämpfung des Rechtsradikalismus durchaus angebracht ist, und ich wünschte mir eine Initiative der Bundesregierung in dieser Hinsicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer den Rechtsradikalismus glaubhaft bekämpfen will, muß natürlich im eigenen Lande vor allem für



Karsten D. Voigt (Frankfurt)

Rechtsstaatlichkeit stehen. Nun glaube ich nicht, daß die Bundesregierung gegen das Prinzip des Rechtsstaates ist; aber ich sage: Sie macht es den jüngeren Leuten und auch der Opposition bei uns nicht immer leicht, ihren Glauben ernst zu nehmen. Damit meine ich jetzt das Verhalten im Zusammenhang mit den Out-of-area-Einsätzen. Sie wissen, daß wir da unterschiedliche Rechtsauffassungen haben. Es gibt auch unterschiedliche Rechtsauffassungen über diese Frage in der Koalition; das ist normal. Wir haben einen Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, und der soll etwas klären; aber wenn so ein Verfahren nicht abgeschlossen ist und man unterschiedliche Rechtsauffassungen hat, dann muß auf jeden Fall der Eindruck vermieden werden, als wollte man die jeweiligen Rechtsinterpretationen so benutzen, wie sie gerade in die politische Opportunität hineinpassen,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

also Recht und Gesetz nach politischer Zweckmäßigkeit biegen.
Das sage ich nun ganz deutlich: Die Bundesregierung hat damit, daß sie gesagt hat „Die Schiffe, die in der Adria liegen, dürfen nicht an den Zwangsmaßnahmen teilnehmen", zum Teil unserer Rechtsauffassung stattgegeben — nicht ganz,

(Zuruf von der SPD: Halbherzig!) teilweise aber ja.


(Zurufe von der CDU/CSU: Sie irren! — Jetzt irren Sie!)

— Doch, teilweise ja. Ich sage nun aber: Wenn die Bundesregierung der Auffassung ist, daß die Teilnahme der Bundesmarine an Zwangsmaßnahmen nicht mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen ist — und der Bundesverteidigungsminister hat dies auch so gesagt —, dann darf er nicht gleichzeitig eine Initiative für ein Entsendungsgesetz vorbereiten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn das eine verfassungswidrig ist, dann ist das andere allzumal Verfassungsbruch. Wenn er aber der Meinung ist — anders als wir —, die jetzige Verfassung lasse bereits eine Teilnahme an Zwangsmaßnahmen in der Adria zu, dann muß er — verdammt noch mal! — den Mut haben, das auch gegen die Opposition zu machen. Dann gibt es einen Rechtsstreit vor dem Verfassungsgericht;

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

der wird dann durchgestanden, und dann werden wir das endgültig entscheiden; aber es geht nicht, daß man es einmal so macht und nach der Zweckmäßigkeit in die eine Richtung interpretiert und es, wenn es anders in den Kram paßt, anders interpretiert.

(Beifall bei der SPD)

Was soll denn so eine Art und Weise, mit dem Gesetz und der Verfassung umzugehen? Da muß doch bei jedem Jüngeren der Eindruck entstehen: Hier geht es gar nicht mehr um Gesetz und Verfassung, sondern es
geht um rein politischen Opportunismus, und das ist bei solchen Fragen der Verfassung das Schlimmste, was man überhaupt machen kann,

(Beifall bei der SPD)

erst recht bei der Frage des Einsatzes der Bundeswehr.
Nun sind wir als Sozialdemokraten auf dem letzten Parteitag in Wirklichkeit ein ganzes Stück weitergegangen, als es nach außen scheint und als Sie offensichtlich wahrgenommen haben.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Da sind wir sehr gespannt!)

Wir haben gesagt: Bei Kampfeinsätzen ist die Mehrheit der Partei skeptisch; das ist klar.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist vornehm formuliert! — Karl Lamers [CDU/CSU]: Skeptisch? Ausdrücklich abgelehnt haben Sie es!)

— Nein, wir sind bereit, darüber zu diskutieren; aber wir sind skeptisch. Es geht jetzt gar nicht um die Dinge im einzelnen; aber wir haben gesagt: Wir sind bereit, uns an Regelungen zu beteiligen, wenn das Grundgesetz entsprechend geändert ist, die eine Teilnahme an Embargos, an UNO-Schutzzonen und auch an Mandatsgebieten zu ermöglichen.

(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Überwachung!)

Jede dieser Maßnahmen wäre also — wenn es nach der Meinung der SPD ginge — jetzt bereits möglich. Das heißt, auf dem Territorium von Ungarn — die haben darum gebeten —, auf dem Territorium von Rumänien — die haben darum gebeten —, auf dem Territorium von Makedonien hätten schon lange Beobachter, Kontrolleure und UNO-Blauhelme stationiert sein können, wenn man die Vorschläge der SPD angenommen hätte. Auf diesem Landwege wird das Embargo am allermeisten verletzt, nicht in der Adria, wo jetzt Kriegsschiffe auf- und abfahren und gelegentlich auch Schiffe stoppen.
Das heißt, in dem Bereich, wo man etwas hätte tun können, wo man am meisten Handlungsbedarf hat, hätte man mit SPD-Hilfe schon lange etwas tun können. Es ist Ihre Schuld, daß dort bisher keine Lösungen gefunden wurden; es ist nicht unsere Schuld.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

Nun sagen Sie auch, Sie wollten mit der SPD in dieser Frage in ein Gespräch kommen. Sie hoffen, daß wir dort dialogfähig sind. Dialogfähig sind wir allzumal. Aber es geht doch darum, daß ich überhaupt nicht weiß, mit welcher Ihrer Vorstellungen ich einen Kompromiß schließen soll, wenn Sie ihre Vorstellungen bisher im Parlament überhaupt noch nicht eingebracht haben.

(Beifall bei der SPD)

Jeden zweiten Tag gibt es irgendeine öffentliche Erklärung eines CDU-Mannes, eines F.D.P.-Mannes oder eines CSU-Mannes, der sagt, die und die Vorstellung der SPD passe ihm nicht ganz in den Kram. Das habe ich sowieso nicht anders erwartet. Aber



Karsten D. Voigt (Frankfurt)

wann gibt es endlich einmal eine gemeinsame Vorlage dieser Regierung für eine Verfassungsänderung?

(Beifall bei der SPD) Seit Monaten warten wir darauf!

Es kann doch nicht wieder so sein wie im Maastricht-Ausschuß, wo bei der Verhandlung über diese wichtigen Europaverträge die Regierung in Deckung geht und dann sozusagen Handlungsfähigkeit aus dem Parlament durch einzelne Abgeordnete von SPD und Koalition hergestellt werden muß. Das geht doch so nicht! Wo ist denn die Regierung bei dieser wichtigen Frage,

(Beifall bei der SPD)

von der sie sagt, daß sie im Ausland eine so große Rolle spielt?

(Freimut Duve [SPD]: Im Bermudadreieck!)

Übrigens, an uns liegt es nicht, daß nicht schon mehr EG-Monitore in das ehemalige Jugoslawien entsandt worden sind, die unbewaffnet sind. Die Zahl der Deutschen, die daran beteiligt sind, ist sehr gering. Wir hätten schon lange eine größere Zahl dieser unbewaffneten EG-Monitore gewünscht. Auch dort hat die Regierung etwas, was sie schon lange hätte tun können, nicht getan.
Ich darf zum Schluß noch einen Punkt hinzufügen, den Sie bezüglich der Häftlinge in den Lagern, überwiegend bei den Serben, angeführt haben. Wir haben ja eine Initiative — der Kollege Stercken ist da — zwischen dem polnischen Parlament, dem französischen Parlament und dem deutschen Parlament, jeweils in den Auswärtigen Ausschüssen, zur Aufnahme von einigen tausend Häftlingen unternommen. Wir haben damals auf Wunsch des ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten von tausend gesprochen. Der Antrag für eine solche Entschließung liegt vor. Ursprünglich sollte sie parteiübergreifend sein. Die GRÜNEN und die SPD stehen dazu. Die CDU hat sich dann in einer bestimmten Lage zurückgezogen.
Ich bitte einfach, daß Sie Ihre Zurückhaltung — ich sage es vorsichtig — jetzt nach dem Votum des Bundesaußenministers aufgeben und diese gemeinsame Initiative nun endlich unterstützen.

(Beifall bei der SPD)

Ich hoffe auch — das sage ich noch einmal als jemand, der, wie Sie wissen, in der eigenen Partei durchaus offen für eine volle Beteiligung an UNO-Maßnahmen ist —, daß wir die ganze Diskussion über die UNO-Reform und die neue deutsche Rolle in der Außenpolitik nicht immer nur an Kampfeinsätzen durchbuchstabieren,

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist wahr! Das tun wir ja auch nicht!)

sondern mehr darüber diskutieren, wo wir krisenvorbeugend und kriegsverhindernd wirken können.

(Beifall bei der SPD)

In dieser Frage haben Sie die SPD mit sich, dort drängen wir, und dort haben Sie einen Handlungs- und Nachholbedarf.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212311500
Ich erteile dem Kollegen Dr. Volkmar Köhler das Wort.

Dr. Volkmar Köhler (CDU):
Rede ID: ID1212311600
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Wir bekommen zur Zeit eine schmerzhafte Lektion über die inneren Zusammenhänge von Innenpolitik und Außenpolitik, und diese Lektion tut uns weh, weil wir wissen, daß Vertrauenswürdigkeit und Verläßlichkeit eine der entscheidenden Grundlagen aller Poltik und auch der Außenpolitik sind.
Deswegen muß völlig klar sein, daß wir diesen freiheitlichen Rechtsstaat nicht aufgebaut haben, um ihn nach 40 Jahren zum Spielball rechts- oder links- oder sonstiger radikaler Verbrecher werden zu lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Dies muß mit äußerster Konsequenz klar sein, und zwar nicht durch immer neue Beteuerungen, meine Freunde, sondern durch unverzügliche Taten. Das muß eindeutig sein.

(Zustimmung bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Allerdings können uns das Verbrechen von Mölln und andere Verbrechen — und ich hoffe auch da auf Ihren Beifall — nicht daran hindern, jetzt, wenn Herr Panie aus Belgrad hier zu Besuch ist, auch in aller Klarheit festzustellen, daß es für uns keinerlei Zögern geben kann, da hart zu verurteilen und entgegenzuwirken, wo der Genozid zum Prinzip staatlichen Handelns gemacht wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und der PDS/Linke Liste)

Herr Voigt, Sie haben mich eben in Erstaunen versetzt.

(Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Ist doch gut, wenn er das kann!)

— Ja, ich habe das gerne, das bedeutet eine gewisse Kurzweil, und die liebe ich.
Im ersten Teil Ihrer Rede haben Sie auch uns — ich kann jetzt nur für die Fraktion reden, nicht für die Regierung — angeboten, in einen grundsätzlichen Dialog über die Grundlagen und Prinzipien unserer Außenpolitik in dieser veränderten Lage einzutreten. Dazu sind wir absolut bereit.
Wir wachsen ja in diese Situation unter den Erfahrungen der letzten Jahre gemeinsam Schritt für Schritt hinein. Deswegen hat es mich besonders erstaunt, daß Sie dann mit einer großen Wortgewalt forderten, daß wir diesen Prozeß des gemeinsamen Erarbeitens zeitweilig unterbrechen, um Sie durch dezidierte Vorlagen unter Entscheidungszwang zu setzen.

(Lachen bei der SPD)




Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)

Irgendwie kriege ich das intellektuell nicht auf eine Ebene, was Sie da in den beiden Teilen Ihrer Rede gefordert haben.
Lassen Sie mich bitte noch eines sagen: Ein solcher Dialog hat am meisten Aussichten, wenn wir uns um ein sehr hohes Maß intellektueller Redlichkeit bemühen, Herr Voigt. Dazu gehört auch die Erinnerung daran, daß eine von Ihnen geführte Regierung dieses Land in die Vereinten Nationen geführt hat — ohne Wenn und Aber.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Richtig! — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Gegen die Stimmen der CDU! — Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Ja, die hatte nur „Aber" ! )

— Sie brauchen mich an diese Situation nicht zu erinnern. Im Gegensatz zu manchen, die hier sitzen, war ich damals dabei.
Sie haben es ohne Wenn und Aber getan, und deswegen müssen Sie sich heute sehr sorgfältig prüfen, wenn Ihnen viele Wenn und Aber einfallen. Über eine UNO-Reform muß man sachlich diskutieren, darf das aber nicht mit einer ständigen subkutanen Verdächtigung verknüpfen, es ginge darum, die kriegslüsternen Supermächte zu zähmen oder England oder die USA endlich zu einer Vernunft zu bringen, die wir besitzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahrer Provinzialismus!)

So schaffen wir das nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Koordinaten der Weltpolitik haben sich in den letzten drei Jahren von Grund auf gewandelt, und die neue Weltordnung muß sich erst noch herauskristallisieren. Dies ist eine große politische Aufgabe, bei der wir unseren Part zu spielen haben.
Wir haben uns ja auch verändert, meine Damen und Herren. Ich spreche hier nicht nur von unserer Wirtschaftskraft, um die es ja zur Zeit nicht so toll aussieht, ich spreche auch nicht von den fast 80 Millionen, die wir wieder sind — aber wir sind der volkreichste Nationalstaat in der Mitte Europas —, nein, ich spreche auch von der veränderten politischen Qualität, die sich durch die volle staatliche Souveränität ergeben hat.
Das führt bei uns, aber auch, wie wir täglich spüren, um uns herum zu einem Prozeß des sich wandelnden Bewußtseins. So wie andere um uns herum neue Erwartungshaltungen an uns richten, erleben wir dort eine Ambivalenz, die wir auch aus den eigenen Diskussionen kennen.
Auf der einen Seite wird ja von uns gefordert, jetzt stärkere politische Verantwortung zu übernehmen, auf der anderen Seite gibt es die unüberhörbare Angst vor einem Erstarken dieser Macht im Herzen Europas, ja, vielleicht sogar vor hegemonialen Attitüden.
Ich glaube, daß es deshalb ganz wichtig ist, unsere Außenpolitik immer wieder zu erklären und zu definieren. Wir gehen nach wie vor von Konrad Adenauers Auffassung aus, daß die beste Außenpolitik die Wahrnehmung der eigenen Interessen ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Aber die Definition der eigenen Interessen ist das Entscheidende.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Wir wissen, daß die Interessen der Staaten heute so stark miteinander verwoben sind, daß gemeinsames Handeln eine entscheidende Qualität ist.
Wir Deutschen haben mehr mittelbare und unmittelbare Nachbarn als jedes andere europäische Volk. Um so klarer muß uns sein, daß wir bei wachsender Stärke dieses Landes um so mehr auch die Interessen unserer Nachbarn einkalkulieren müssen, denn wir sind ja auch von dem, was in Europa um uns herum geschieht, um so stärker betroffen. Ich sage dies mit Blick auf unser Engagement in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Diese Probleme haben doch die direktesten Auswirkungen auf uns, die man sich nur denken kann.
Deshalb ist die politische und die wirtschaftliche Stabilisierung Osteuropas eines unserer vordringlichsten Ziele. Wir haben ja auch gar keine Alternative; denn wenn uns das nicht gelingt, werden immer mehr Menschen aus den Staaten östlich von uns aus nur zu verständlichen Gründen nach Deutschland strömen, und es wird für uns immer schwerer, den sozialen Frieden im Innern zu bewahren.
Deshalb ist es eine unserer größten Aufgaben, den Völkern in der Mitte und im Osten unseres Kontinents bei der Entwicklung zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft — das heißt aber auch, recht verstanden, bei ihrer Zuwendung zum Westen — helfend unter die Arme zu greifen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Das ist nicht nur und nicht einmal in erster Linie eine Frage des Finanztransfers, so nötig er ohne jeden Zweifel ist. Auf die Dauer werden die Staaten Osteuropas und der früheren Sowjetunion ohnehin nicht als Almosenempfänger leben können und wollen. Was sie brauchen, sind intelligente Konzepte zur Hilfe bei der Selbsthilfe.
Dafür gibt es keine Patentrezepte. Wir sollten unsere Rolle auch nicht überbewerten; aber wir können schon auf einen großen Fundus an Erfahrungen beim Übergang von der Staatswirtschaft in die Marktwirtschaft zurückgreifen. Wir haben auf diesem Gebiet Erfolge, an die wir uns erinnern können. Aber wir haben auch Enttäuschungen und Rückschläge erlebt, die uns hier sehr oft beschäftigen. Gerade deswegen können wir auf diesem Gebiet, glaube ich, redlichen Rat anbieten.
Wer Rat erteilt, gerät auch mit in die Verantwortung. Wir kennen die Debatte über „westliche Überfremdung" in Rußland schon jetzt ganz gut. Um so wichtiger ist es, alles zu tun, daß dies eine gemeinsame Aktion der europäischen Nationen, der Vereinigten Staaten sowie der Weltbank und des Weltwährungsfonds ist, damit diese Verantwortung auf genügend breiten Schultern liegt.



Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)

Diese Beratung umfaßt im übrigen ja nicht nur wirtschaftliche Fragen, sondern auch Bereiche wie den Aufbau des Rechtsstaats, der Verwaltung, der Kultur und z. B. auch der Förderung der sprachlichen Beziehungen.
Ich freue mich, daß wir hier nach wie vor der Ansicht sind, daß die auswärtige Kulturpolitik hohe Priorität hat. Ich weiß von der Sache her, daß wir viel mehr Geld gebrauchen können, auch wenn ich, Frau Kollegin Hoth, nicht bestreite, daß etliche Mittlerorganisationen ihre Strukturen prüfen und eventuell straffen sollten. Doch sind die Aufgaben so groß, daß wir noch wesentlich mehr gebrauchen könnten. Ich hoffe, wir als Parlament können das in den folgenden Jahren auch ermöglichen.
Auch bei dieser Aktivität kommt es übrigens entscheidend darauf an, daß wir deutlich machen: Wir gehen keinen Sonderweg in Richtung Osten. Wir gehen zurück zu dem, was einmal in Europa Normalität war.
Wir wollen unsere Aktivitäten in der übrigen Welt deswegen nicht verkleinern. Die auswärtige Kulturpolitik ist und bleibt eine der besten Formen der Vertrauenswerbung für unser Land, um auch Ängste zu beseitigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir betreiben diese Politik nicht als Kulturexport, sondern auf der Grundlage der Prinzipien von Dialog, kulturellem Austausch und partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Diese partnerschaftliche Zusammenarbeit ist ohnedies in vieler Hinsicht das Gesetz der Zukunft. Wir sollten unseren Willen dazu mit allem Nachdruck beweisen. Es gibt so viele dringende Probleme zu lösen, die nur in partnerschaftlicher Zusammenarbeit gelöst werden können. Die Stabilisierung Osteuropas habe ich genannt. Ich füge hinzu: die Jugoslawien-Krise, der Nahost-Konflikt, die Hungersnöte in Afrika, der Fundamentalismus in Algerien, die bedrohliche Situation der Maghreb-Staaten. — Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Alles dies kann nur durch gemeinsame Anstrengungen der europäischen Staaten geregelt werden.
Meine Damen und Herren, diese Aufgaben sind so unendlich wichtig, daß ich mich weigere, meine Zeit mit Diskussionen über ein „Hegemonialstreben der Deutschen" zu vergeuden. Das wäre das Törichteste, was man in diesem Moment anfangen könnte!

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Allerdings!)

Wir wissen auch ganz klar — unsere Nachbarn sollen es auch wissen —: Unsere Zukunft liegt nicht in einer Sonderrolle oder gar etwa im Osten; viel eher wäre die Zukunft des Ostens im Westen zu finden. Wir stehen zu der Westbindung, zu unserer Tradition, die mit ihren Grundwerten Demokratie und Freiheit im Innern der Garant für politische Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand dieses Landes und in den internationalen Beziehungen der Garant für ein Zusammenleben in Frieden und Sicherheit ist.
Wir haben nicht vergessen, daß diese Westintegration den erfolgreichen Abschluß der Zwei-plus-VierVerhandlungen überhaupt erst ermöglicht hat. Das
Vertrauen, das uns damals erwiesen wurde, wollen wir und müssen wir weiter rechtfertigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das Geschenk der gewonnenen Einheit darf nicht verspielt werden. Deswegen müssen wir in Zukunft auf noch mehr Integration setzen, auch im Interesse unserer Nachbarn.
Je mehr unsere Außenpolitik europäisch, atlantisch und global eingebunden ist, um so besser ist gewährleistet, daß der Weg Deutschlands von der NaziDiktatur zu Demokratie, Freiheit und Menschenrechten unumkehrbar ist und daß in der Weltpolitik unsere Position glasklar und eindeutig ist. Das ist ja auch der Grund dafür, daß wir uns um die Erweiterung und auch um die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft so bemühen. Wir wissen, daß Europa erst dadurch stark gemacht werden wird, die Erweiterung um die östlichen Demokratien tragen und verkraften zu können.
Der Herr Außenminister hat darauf hingewiesen, daß auf dem Wege zu einer dauerhaften Friedensordnung im europäischen Haus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit eine tragende Rolle zukommt. Das ist wahr. In diesem Zusammenhang ist es für uns von großer Bedeutung, daß die USA Partner der KSZE sind. Dies wollen wir auch in Zukunft so haben, um eine isolationistische Entwicklung zu vermeiden. Ich erinnere deshalb ausdrücklich daran, daß es in der Anfangsphase der KSZE vor allem Deutschland gewesen ist, das die Teilnahme der Vereinigten Staaten an einer europäischen Sicherheitskonferenz zu einer Bedingung für die eigene Mitarbeit gemacht hat.
Eine verbesserte Abstimmung der Sicherheitspolitik in Westeuropa ist angesichts der realen Lage unabdingbar. Dies wissen wir. Auch dann, wenn die alten Bedrohungen abgenommen haben und wenn die USA ihre Streitkräfte möglicherweise in Zukunft deutlich verringern, steht die Frage einer klugen langfristigen Sicherheitspolitik nach wie vor auf der Tagesordnung. Das politische Gefüge in der atlantischen Allianz mag sich verschieben. Aber eine Erosion der Allianz oder eine Renationalisierung der Verteidigung Europas hätte weitreichende Folgen und muß vermieden werden.
Wir müssen in dieser Lage den europäischen Pfeiler der atlantischen Allianz in Form der WEU weiter aufbauen und ausbauen. Aber eine substantielle Präsenz der USA in Europa bleibt auch in Zukunft das verläßlichste Gegengewicht gegen alle denkbaren, vor allem nuklearen Gefahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der große Gewinner der gegenwärtigen Phase nach dem Ende des kalten Krieges sind zweifellos die Vereinten Nationen. Sie haben zum ersten Mal in ihrer Geschichte wirklich die Chance, politisch mehr Macht auszuüben und mehr Verantwortung zu übernehmen. Die Vision ihrer Gründer, ein Forum zu schaffen, das den Frieden auf der Welt sichert, die Menschenrechte garantiert und wirtschaftliche Probleme löst, könnte nun Wirklichkeit werden. Aber von diesem erhabenen Ziel sind die Vereinten Nationen
Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10541
Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)

noch sehr weit entfernt. Viele der Mitglieder sind sich überhaupt noch nicht einig darüber, auf welchem Wege das erreicht werden kann.
Um so wichtiger ist es, daß wir in den Vereinten Nationen weiterhin einen konstruktiven Part spielen und die Vereinten Nationen stärken. Ich muß gestehen, daß für mich persönlich die Frage eines Sitzes im Sicherheitsrat für die Bundesrepublik Deutschland oder eines europäischen Sitzes in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit, aber nicht unbedingt ein Wert an sich ist.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD)

Auf lange Sicht, wenn Deutschland sein Haus bestellt hat — damit darf ich mich auch Ihnen, werter Herr Kollege Duve, wieder zuwenden —, wenn unsere politische Handlungsfähigkeit ausreicht — dazu haben wir hier noch einige Schularbeiten zu machen —, können wir mit unseren Partnern gemeinsam überlegen, welche Rechte wir dann auch für uns einfordern. Aber dazu muß unser Land den Zustand der Normalität seiner Handlungsfähigkeit in der Völkergemeinschaft erreichen. Dies muß unter uns ausdiskutiert werden. Wir werden nämlich keine Rechte bekommen, ohne entsprechende Pflichten zu übernehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit der bisherigen Methode, uns auf das Grundgesetz, auf die deutsche Geschichte und auf unser zartes Gewissen zu berufen und dann andere Völker zu drängen, für uns die Kastanien aus dem Feuer zu holen, werden wir in Zukunft nicht mehr durchkommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Wir wollen diese Außenpolitik in enger Abstimmung mit unseren Partnern betreiben. Das setzt natürlich voraus, daß unsere Partner uns auch so zu akzeptieren bereit sind. Aber die Zukunft für ein friedliches Zusammenleben der Völker liegt ohnehin nur in diesem Weg offener und ehrlicher Partnerschaft, den wir anstreben.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212311700
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3817. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Einzelplan 05 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 05 ist angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt auf: Einzelplan 14
Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung
— Drucksachen 12/3514, 12/3530 —
Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Werner Müller (Wadern)

Kurt J. Rossmanith
Hans-Gerd Strube
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)

Horst Jungmann (Wittmoldt)

Rudi Walther (Zierenberg)

Einzelplan 35
Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte
— Drucksache 12/3527 —
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Emil Schnell
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
Carl-Ludwig Thiele
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (12. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Stand der Verhandlungen mit den NATO-Entsendestreitkräften über die Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes „Nordhorn-Range"
— Drucksachen 12/537, 12/3691 —
Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Gerd Strube
Dieter Heistermann
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (12. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Dr. Sigrid Semper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Privatisierung der Heimbetriebsgesellschaft mbH der Bundeswehr
— Drucksachen 12/1292, 12/3693 —
Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Heistermann
Karl Stockhausen
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der an den Haushaltsausschuß zurückverwiesenen Entschließung auf Nummer II der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991)
— Drucksachen 12/100, 12/494, 12/531, 12/3758 (neu)



Vizepräsident Hans Klein
Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Werner Müller (Wadern)

Carl-Ludwig Thiele
Horst Jungmann (Wittmoldt)

Zum Einzelplan 14 liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD wird im Anschluß an die Aussprache namentlich abgestimmt. Die namentliche Abstimmung — das sage ich auch für die Kolleginnen und Kollegen, die in ihren Büros sein müssen und die Debatte am Lautsprecher verfolgen — wird gegen 20.10 Uhr stattfinden.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zu diesen Punkten zwei Bonner Stunden vorgesehen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Horst Jungmann.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1212311800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor mehr als 3 000 Jahren schlug ein ägyptischer Finanzbeamter vor, die Atemluft zu besteuern, um so die Lücken im Staatssäckel zu füllen.

(Zuruf von der SPD: Das fällt dem Waigel auch noch ein!)

Es war schon immer das Bestreben vieler Regierender, den kleinen Leuten die Luft zum Atmen bzw. das Geld zum Leben zu nehmen.
Diese Regierungskoalition hat sich in den letzten Monaten viel einfallen lassen, um den sozial Schwächeren immer mehr zur Kasse zu bitten und an den falschen Stellen zu sparen.

(Walter Kolbow [SPD]: Leider wahr!)

Vernünftig ist es doch wohl, dort zu sparen, wo wir uns das heute am besten leisten können. Wir sind uns sicherlich alle darin einig, daß wir als europäischer Staat in einer größeren Sicherheit leben als noch vor einigen Jahren und daß wir keiner unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt sind. Folgerichtig brauchen wir auch nicht mehr den gleichen Aufwand zu betreiben, um uns vor der Bedrohung vergangener Zeiten zu schützen. Dementsprechend lassen sich im Verteidigungsetat Einsparungen vornehmen, ohne daß irgendeine Schicht der Bevölkerung besonders benachteiligt wird und ohne daß dieser Staat irgendwelchen Schaden nimmt.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So ist das!)

Zwar propagiert der Bundesminister der Verteidigung in der Öffentlichkeit viel Sparsamkeit, doch bei näherem Hinsehen stellt man leider fest, daß nicht wirklich gespart wird. Seine Propagandareden stellen sich letztlich als Blendwerk heraus. Wie man in der Hochburg der Geldverschwendung im militärischen Bereich, im Verteidigungsministerium selbst, sparen kann, will ich gleich aufzeigen.
Der Verteidigungsminister hat dem Verteidigungsausschuß ein Papier mit dem hochtrabenden Thema „Zielstruktur 1997 für die Organisation des Bundesministeriums der Verteidigung" vorgelegt. Wer da nicht genau hinsieht, könnte versucht sein zu sagen:
Bravo, Herr Minister, 1 000 Stellen weg, eine glänzende Leistung! Aber wie so oft im Leben verblaßt der Glanz dieser vollmundigen Erklärung bei näherem Hinsehen: Im nächsten Jahr werden im Verteidigungsministerium sage und schreibe 81 Stellen eingespart,

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Der Minister soll mal zuhören!)

im nachgeordneten Bereich fast 10 000. Wir sind gespannt, wann er die Einsparung von 1 000 Stellen erreicht haben wird.
Sicherlich ist es im Ansatz richtig, daß bei veränderter sicherheitspolitischer Landschaft mit neuen Schwerpunkten der Bundeswehraufgaben die Organisation des Ministeriums funktionsgerecht neu zugeschnitten werden muß.

(Ernst Waltemathe [SPD]: Er hört trotzdem nicht zu! Herr Rühe, hier besteht Zuhörpflicht!)

— Der kommt am Ende und räumt dann alles ab, was andere Leute gar nicht gesagt haben. — Aber eine Strukturreform, die diesen Namen verdient, Herr Minister, ist ohne zukunftsorientiertes Konzept nichts wert.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ungezogen, der Minister!)

Eine solche Gesamtkonzeption vorzulegen, ist Ihnen allerdings nicht gelungen.
Dabei wäre unter den verschiedensten Fragestellungen auch eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der Blankeneser Erlaß noch zeitgemäß ist. Immerhin ist dieser über 20 Jahre alt. Selbst wenn er von einem anderen Hanseaten, einem bedeutenden Vorgänger auf Ihrem Stuhl, nämlich Helmut Schmidt, erlassen worden ist, muß man ihn heute in der veränderten sicherheitspolitischen Situation neu überdenken.
Ihrer Zielstruktur 1997, Herr Minister, fehlt das Fundament, nämlich eine auf die Zukunft hin gerichtete Konzeption. Sie wären nicht der erste Chef einer Großorganisation, der scheitert, weil ihm moderne Mittel zur Steuerung und Leitung nicht zur Verfügung stehen. Großunternehmen ohne Controller sind heute schlechterdings undenkbar. Sie aber wollen sich — wenn ich das richtig sehe — mit einem kümmerlichen Ansatz, einer mickrigen Ausgabenkontrolle in der Abteilung Rüstung, zufriedengeben.
Ich muß es mir angesichts der vielen anderen skandalösen Geldausgaben in Ihrem Ressort leider verkneifen, die Zielstruktur 1997 für das Verteidigungsministerium bis ins einzelne zu beleuchten. Deshalb nur ein paar Anmerkungen, quasi als Schlaglichter. Demotivierender Frust muß Sie selbst doch schon beschleichen, wenn Sie beim Tagesgeschäft, umgeben von einer überdimensionierten Anzahl von Staatssekretären, eingekeilt zwischen frei nebeneinander schwebenden Sonder- und Stabselementen, das Leitungsdickicht durchstoßen müssen, um zum breitgefächerten Organisationsspektrum Ihres Hauses Kontakt aufnehmen zu können.
Wenn Ihnen das gelungen ist, muß Sie wohl vollends Mutlosigkeit befallen.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Richtig!)




Horst Jungmann (Wittmoldt)

Sie stoßen auf verschiedene Abteilungen, die in einem Ministerium überhaupt nichts zu suchen haben, z. B. die Personalabteilung. An vielen Stellen ihres Ministeriums werden Personalprobleme überdacht und bearbeitet sowie Lösungen dazu konzipiert und geplant. Alle Führungsstäbe leisten sich ihre eigenen Referate, die Personalbearbeitung machen, und das alles neben einer aufgeblasenen Personalabteilung.

(Zuruf von der SPD: So ist das!)

Bei der Lösung der Probleme muß man allen Ihren Stäben allerdings Einfallslosigkeit und außergewöhnliches Beharrungsvermögen sowie Ihnen mangelnden Mut und mangelnde Entscheidungskraft zuerkennen.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Luftballongeneral!)

Aber über die Ideenlosigkeit in dieser Regierung wird ja landauf, landab in allen Zeitungen täglich berichtet. Ich komme darauf am Schluß meiner Rede noch einmal zurück.
Wozu brauchen Sie dieses duale System im Verteidigungsministerium mit Auftrennung in Bedarfsforderung und Bedarfsdeckung wirklich noch? Ist es nicht viel zeitgemäßer, den Bedarfsplaner und Bedarfsdecker im dialogischen Prinzip zusammenzuführen anstatt, wie heute üblich, in rivalisierender Art und Weise einander gegenüberstehen zu lassen?
Nahtlosen Übergang von der Mutlosigkeit zur tiefen Traurigkeit schafft ein Blick auf die Organisation. Aber wie soll das auch anders sein, wenn das Zielstrukturpapier 1997 die militärischen Planungsstäbe ganz ausklammert, weil dort noch — wie es so schön heißt — in Einzelfragen Diskussionsbedarf besteht. Rührend, diese Feststellung, und auch erklärlich, wenn man sich die derzeitige Verteilung der Organisationsaufgaben in Ihrem Hause ansieht. Die versprengten Heerscharen der Organisatoren werkeln außerhalb des Organisationsstabs, noch verteilt auf sage und schreibe elf verschiedenen Balkonen Ihres Hauses, herum. Wenn Sie das selbst nicht so genau wissen, bin ich gerne bereit, Ihnen die elf verschiedenen Bereiche in einem Gespräch, das wir anschließend führen können, zu nennen.
Gerade diese Vielzahl der organisatorischen Selbstbediener ist die Ursache für die immer wieder zu beklagende Ineffizienz Ihres Hauses. Hier gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang, den Sie zu verantworten haben, weil Sie diese Probleme nicht lösen, Herr Minister.
Die Konsequenz muß sein: Machen Sie Schluß mit dem Organisationswildwuchs auf der Hardthöhe. Ein Zielstrukturpapier verdient seinen Namen erst dann, wenn das Ministerium eine organisatorische Verfassung erhält, die Funktionstüchtigkeit schafft, ohne fortwährend mit sich selbst konferieren zu müssen.

(Beifall bei der SPD)

Sie stellen sich mit dieser Zielstruktur aber ein Armutszeugnis aus, das in dem Satz gipfelt, der Ihrer Vorlage an den Verteidigungsausschuß zu entnehmen ist:
Ich habe mich in eingehender Diskussion mit den
Verantwortlichen in meinem Hause davon überzeugt, daß eine über die vorliegende Zielstruktur hinausgehende Stellenverminderung im Rahmen der heutigen Organsiationsstruktur des Bundesministeriums der Verteidigung nicht möglich ist. Insbesondere die Herausverlagerung großer Aufgabenkomplexe zur Wahrnehmung im nachgeordneten Bereich setzt Überlegungen über alternative Strukturen voraus.
Herr Minister, warum denken Sie denn nicht über eine alternative Struktur nach?

(Bundesminister Volker Rühe: Tun wir! Woher wissen Sie das?)

Wer hindert Sie daran, eine neue Organisationsstruktur im Ministerium zu schaffen,

(Bundesminister Volke Rühe: Keiner!) die zeitgemäß, effizient und sparsam ist?

Ihr Geschick, bestimmte Ankündigungen pressewirksam zu vermarkten, zeigt sich auch an dem Beispiel Jäger 90. Vollmundig haben Sie in Madrid auf einer Pressekonferenz festgestellt, der Jäger 90 ist tot. Einige Wochen später verkauften Sie uns einen neuen Jäger, d. h. so neu ist er gar nicht, sondern er bekommt nur einen neuen Namen, der ein fast baugleiches Flugzeug beinhaltet.

(Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Phönix aus der Asche! — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber billiger! Jäger 2000!)

Nun wäre es ja den Schweiß der Edlen wert, darüber nachzudenken, ob wir überhaupt einen Jäger brauchen und, wenn ja, zu welchem Preis. Der jetzt der Öffentlichkeit präsentierte abgespeckte Jäger 90 ist so viel billiger, wie Sie uns das vormachen wollen, auch nicht. Sie reduzieren die Leistungsfähigkeit, lassen logistische Komponenten herausrechnen, um das Einzelexemplar billiger anpreisen zu können. Es ist aber klar, daß diese Komponenten später trotzdem erforderlich werden.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Kampfwertsteigerung!)

— Das kennen wir aus der Tornado-Geschichte mit den dauernden Kampfwertsteigerungen. Aber die Nachrüstungen sind dann erheblich teurer.
Auf den Trick, die Mehrwertsteuer herauszurechnen, kann nur jemand kommen, der den wahren Preis vor der Öffentlichkeit verschleiern will.

(Beifall bei der SPD)

Sie glauben doch nicht, Herr Rühe, daß Sie uns und die Bevölkerung mit Ihren Preismanipulationen verschaukeln können. Sie haben sich dem Druck der Industrie gebeugt und versuchen, dies vor der Öffentlichkeit zu kaschieren.

(Beifall bei der SPD)

In der heutigen Pressemeldung von „dpa" ist nachzulesen: „Luftfahrtindustrie billigt Pläne Rühes für neues Jagdflugzeug". Es ist ganz neu, daß die Luftfahrtindustrie Pläne des Verteidigungsministeriums billigt. Ich denke, die Mittel zur Beschaffung werden



Horst Jungmann (Wittmoldt)

im Parlament und nicht von der Luftfahrtindustrie bewilligt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.])

Das zeigt ganz deutlich, wie Sie unter dem Druck der Luftfahrtindustrie eingeknickt sind.
Bei dem luftgestützten, abstandsfähigen PrimärAufklärungs-System — Lapas — haben Sie sich ebenfalls nicht gegen den Druck von außen durchsetzen können. Die Mittel für die Beschaffung dieses Flugzeuges haben Sie gar nicht in den Haushalt 1993 aufgenommen, sondern sich von ihren Koalitionsfraktionen aufdrücken lassen.
Man muß sich ein solches aberwitziges Unternehmen einmal richtig vor Augen führen: Wegen der grundlegenden Veränderung der sicherheitspolitischen Lage, der explodierenden Kosten für das luftgestützte, abstandsfähige Primär-Aufklärungs-System — Lapas —

(Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Lappas ist doch ein Funktionär!)

und der Haushaltsenge für viele Jahre sollte es beim Truppenversuchsmuster Lapas bleiben, Herr Kollege Strube. Weder die Luftwaffe noch die Rüstungsabteilung wollen die Beschaffung dieses Systems. Da kommen Ihre von der Industrie gedrängten Fraktionskollegen und sorgen mit der Einstellung von zusätzlich 40 Millionen DM für die Beschaffung dieses Flugzeugs, obwohl vom Ministerium gar nicht gewollt.
Durch die Beschaffung der sogenannten Langläuferteile wird — wie in solchen Fällen typisch — die endgültige Entscheidung vor der Rüstungsklausur gefällt. Dadurch wird ein Beschaffungsvolumen von zunächst „nur" 370 Millionen DM gebunden, aber letztlich ein Millionengrab geschaufelt und die Beschaffung festgeklopft, ohne daß man auf die Nichtbeschaffung zurückgehen kann.
Darüber hinaus ist bereits durch die Erprobung und die Tests beim Truppenversuchsmuster festgestellt worden, daß schwerwiegende Zweifel an der Brauchbarkeit dieses Systems bestehen. Ich fordere Sie hiermit auf, wenn Sie nächste Woche die Beschaffungsvorlage vorlegen, Herr Minister, die entsprechenden Berichte der Luftflotte über die Erprobung mit dem Truppenversuchsmuster Lapas auch dem Parlament vorzulegen.
Weitere größere Sparmöglichkeiten bieten eine Verringerung des Ankaufs von Munition und die Durchführung von Übungen. Sie selbst und die militärische Führung haben immer wieder betont, daß wir keiner Bedrohung mehr ausgesetzt sind, wie sie in der Vergangenheit bestand. Darin sind wir uns einig. Aber dann brauchen wir auch keine überdimensionierte Vorratshaltung an Munition mehr.

(Beifall bei der SPD)

Dann brauchen wir auch keine intensiven Übungsprogramme, als ob der Krieg unmittelbar vor der Tür stünde.
Hier lassen sich erhebliche Summen sparen, ohne daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt wird.

(Beifall bei der SPD)

Dieses Geld können wir für andere dringend notwendige Aufgaben, z. B. beim Wohnungsbau, beim Aufbauprogramm der neuen Lander, bei der Standortkonversion und bei der Entwicklungshilfe, verwenden.

(Beifall bei der SPD)

Einen weiteren Einsparbereich bieten die Betriebskosten. 75 % des Verteidigungsetats werden nur für den Betrieb der Bundeswehr ausgegeben. Gerade im Bereich der Simulationstechnik, deren Einsatz umweltschonend, ökonomisch und zeitsparend ist, beginnen Sie die schnelle Einführung von Tiefflugsimulatoren zu verzögern.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Obwohl der Abschlußbericht der Phase 1 für die Erprobung des Tiefflugsimulators dieses Gerät positiv beruteilt, die Einführung und Weiterentwicklung empfiehlt und obwohl sie der Bevölkerung damit eine spürbare Entlastung beim Tieffluglärm zukommen ließen, will die Luftwaffe dieses Gerät auf Grund des Widerstands aus den eigenen Reihen nicht beschaffen.
Aber es sind nicht nur der Segen und die Erleichterung für die Bevölkerung, die so sehr für dieses Gerät sprechen, sondern auch die militärische Notwendigkeit, so wie sie in der militärisch-wirtschaftlich-technischen Forderung festgelegt wurde: daß aus
vielerlei Gründen die missionsgerechte Aus- und Weiterbildung der Kampfbesatzung in Friedenszeiten mit dem Originalwaffensystem in der Luft nicht durchführbar und erreichbar ist. Eine Vielzahl von Missionen können nur bzw. nur ergänzend zur fliegerischen Ausbildung am Simulator geübt werden.
Wenn Sie die Beschaffungsvorlage zur Durchführung dieser militärischen Maßnahme vorlegen, Herr Minister, werden Sie unsere Unterstützung bekommen.
Allgemein sollte im militärischen Bereich von der schon vorhandenen Simulationstechnik mehr Gebrauch gemacht werden. Bei der Fahrschulausbildung z. B. in den Teilstreitkräften bietet sich der Einsatz eines schon am Markt vorhandenen Fahrschulsimulators an. Das ist ebenfalls umweltschonend, verkehrsentlastend und spart erhebliche Betriebskosten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Welche Firma bietet den an?)

— Die Firma kenne ich nicht. Ich kenne das aus Österreich. Österreich hat da gute Gesetze.
Ich habe Ihnen einige Beispiele genannt, um zu zeigen, wie gespart werden kann, wo gespart werden muß, ohne daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt wird.
Sie haben einen Haushalt vorgelegt, Herr Minister, den Sie selbst als Übergangshaushalt bezeichnet



Horst Jungmann (Wittmoldt)

haben, der mit großer Wahrscheinlichkeit schon nach vier Wochen Makulatur ist. Sie besitzen die Stirn, diesen Haushalt zur Verabschiedung im Parlament vorzulegen, ohne daß Sie die notwendige Planungskonferenz, die Grundlage für die ganze weitere Ausrüstung der Bundeswehr sein muß, durchgeführt haben. Die legen Sie sinnigerweise auf den 17. Dezember 1992. Das heißt, alles, was heute beschlossen wird, wird höchstwahrscheinlich am 17. Dezember 1992 über den Haufen geworfen werden und damit im Papierkorb landen.
Dies ist eine Zumutung für das Parlament. Dieser Einzelplan ist, wie der gesamte Haushalt der Bundesregierung, eine Täuschung. Von Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit kann nicht die Rede sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/ CSU: Das nehmen Sie sofort zurück!)

Ich hatte eingangs auf Möglichkeiten zur Verbesserung der Einnahmen des Staates hingewiesen. Ich hatte auch den mangelnden Willen zur Sparsamkeit im Verteidigungsministerium kritisiert. Da Sie wahrscheinlich die Idee der Ägypter, die Atemluft zu besteuern, nicht aufgreifen werden, möchte ich eine andere Kuriosität aus der Geschichte, wie man den Bürgern in die Tasche greifen kann, nicht vorenthalten. Frankreichs berühmter Finanzminister Colbert mußte sich mit der Idee auseinandersetzen, die menschliche Intelligenz mit Steuern zu belegen.

(Heiterkeit und Zurufe von der CDU/CSU)

— Warten Sie doch einmal ab, Frau Kollegin. So etwas gab es.
Mit der Idee war die Vorstellung verbunden, die Untertanen würden sich dann dazu drängen, auf Grund ihrer Eitelkeit die Kassen des Fiskus zu füllen. Colbert soll dem Vorschlagenden geantwortet haben: „Trefflich, trefflich, für diesen Vorschlag sollen Sie von der Steuer befreit werden."

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212311900
Herr Jungmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Esters?

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1212312000
Darf ich den Gedanken zu Ende führen, Herr Esters? Dann können wir uns über die Zwischenfrage unterhalten.

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)

Meine Herren von der Regierung, wenn Sie diese Idee aufgreifen und die Intelligenz besteuern würden, würde sich für den Finanzminister vielleicht eine große Einnahmequelle erschließen. Vielleicht würden Sie, Herr Kollege — —

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das glaube ich nicht! — Zuruf von der CDU/CSU: Lieber Herr Jungmann, seien Sie zurückhaltender!)

— Ich fange noch einmal an, damit auch die SPD-Fraktion das hört. Es könnte ja sein, daß sie einmal auf der Regierungsbank sitzt. — Meine Herren von der Regierung, wenn Sie diese Idee aufgreifen und die Intelligenz besteuern würden, würde sich für den Finanzminister vielleicht eine große Einnahmequelle erschließen. Vielleicht hätte das für Sie auf der Regierungsbank auch nur den Vorteil, daß Sie keine Steuern zahlen müßten. Ist das nicht eine Idee, meine Herren? Nein, ich bleibe beim Sparen im Verteidigungsetat.
Auch Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, haben mit uns die Möglichkeit, im Verteidigungsetat zusätzlich zu dem, was wir im Verteidigungsetat gespart haben, — —

(Zurufe von der CDU/CSU: Da will jemand eine Frage stellen!)

— Sie können so lange dazwischenrufen, wie Sie wollen. Ich habe noch Zeit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Esters möchte Sie etwas fragen!)

— Jetzt dürfen Sie Ihre Frage stellen, Herr Kollege Esters.

Helmut Esters (SPD):
Rede ID: ID1212312100
Herzlichen Dank, Herr Kollege Jungmann.
Da Sie im Moment bei den Steuern im Zusammenhang mit dem Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung sind: Sind Sie auch bereit, uns noch einige Sätze über die Einführung und spätere Verwendung der Sektsteuer mitzuteilen?

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1212312200
Ja, die Sektsteuer ist einmal unter Admiral Tirpitz für den Bau der deutschen Hochseeflotte im vorigen Jahrhundert eingeführt worden. Das sollte auch nur eine Übergangssteuer sein. Aber die Steuer besteht heute noch. Deswegen rate ich davon ab, die Intelligenzsteuer einzuführen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie haben die Möglichkeit, mit uns an den richtigen Stellen zu sparen. Im Verteidigungsetat ergibt sich die Möglichkeit, 2,6 Milliarden DM zusätzlich zu dem, was wir teilweise schon gemeinsam im Haushaltsausschuß gemacht haben, zu sparen. Stimmen Sie also unserem Antrag auf der Drucksache 12/3811 zu.
Ich möchte es aber nicht versäumen, mich bei den Kollegen Berichterstattern für die Zusammenarbeit und bei den Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums für die Unterstützung bei der Bewältigung der schwierigen Aufgabe, diesen Haushalt ins Plenum zu bringen, zu bedanken.
Ich denke, wir werden uns in der nächsten Zeit noch einmal mit dem Verteidigungshaushalt, wenn der Nachtragshaushalt vorgelegt wird, unterhalten. Dann werden wir ja sehen, ob meine Sparvorschläge bei Ihnen auf fruchtbaren Boden gefallen sind, wie Sie ja schon zwischen der normalen Beratung im Haushaltsausschuß und der Bereinigungssitzung einige meiner Vorschläge dankenswerterweise übernommen haben.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212312300
Herr Kollege Hans-Gerd Strube, Sie haben das Wort.

Hans-Gerd Strube (CDU):
Rede ID: ID1212312400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Jungmann, das war eine sehr zahme Rede. Eine Botschaft an die Bundeswehr war es nicht. Ich habe mich gefragt: Was soll bloß passieren, wenn Sie und Ihre Freunde einmal in die Regierungsverantwortung kämen? Arme, arme Bundeswehr kann man da nur sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Jedenfalls gäbe es keine Beschaffungsmaßnahmen aus Gefälligkeit gegenüber der Rüstungsindustrie!)

— Seien Sie vorsichtig.
Der Verteidigungshaushalt 1993 sieht nach den Empfehlungen des Haushaltsausschusses Ausgaben in Höhe von nur noch 50,15 Milliarden DM vor.

(Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den versteckten Verteidigungsausgaben?)

Das sind fast 2 Milliarden DM oder 3,8 % weniger, als für 1992 bewilligt worden sind. Im Regierungsentwurf 1993 waren noch insgesamt 50,8 Milliarden DM vorgesehen.
Wir haben also im Zuge der parlamentarischen Beratung die Verteidigungsausgaben um rund 700 Millionen DM zurückgenommen. Der Verteidigungshaushalt trägt nun überproportional zur Stabilisierung der Gesamtbundesausgaben bei. Nur noch 11,5 % des Bundeshaushaltes entfallen auf den Verteidigungsbereich.

(Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind 11,5 % zuviel!)

Das ist der niedrigste Anteil am Bundeshaushalt seit Bestehen der Bundeswehr. Ich denke, die Friedensdividende ist realisiert.
Der Frieden ist insgesamt aber nicht sicherer geworden. Von vielen Konfliktherden geht Gefahr aus. Aus dem kalkulierbaren Risiko ist ein vielfach unkalkulierbares Risiko geworden. Wir brauchen also auch weiterhin zum Schutz unseres Landes eine starke, leistungsfähige Bundeswehr im Bündnis der NATO.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gewiß, die Bundeswehr muß schlanker werden. Die Personalstärke muß auf 370 000 Mann heruntergefahren werden. Gleichwohl wird 1993 mehr als die Hälfte des Verteidigungsetats, nämlich rund 25,9 Milliarden DM, für Personalausgaben gezahlt werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212312500
Herr Kollege Strube, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klejdzinski?

Hans-Gerd Strube (CDU):
Rede ID: ID1212312600
Ja, bitte schön.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1212312700
Herr Kollege, Sie haben vorhin den Beitrag meines Kollegen Jungmann damit qualifiziert, daß Sie gesagt haben, es wäre keine Botschaft an die Bundeswehr. Sind Sie noch immer
überzeugt, daß das, was Sie vortragen, eine Botschaft an die Bundeswehr ist?

Hans-Gerd Strube (CDU):
Rede ID: ID1212312800
Davon bin ich fest überzeugt. Wenn Sie mir bis zum Ende zuhören, werden Sie sicherlich auch zu der Überzeugung kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für Materialerhaltung und sonstige Betriebsausgaben — dazu gehört auch der Infrastrukturbereich — wird mehr als ein Viertel der Verteidigungsausgaben aufgewendet werden müssen. Für die Investitionen bleibt somit erstmalig seit Bestehen der Bundeswehr weniger als ein Viertel des Einzelplans 14. Nur die Absenkung der Betriebsmittel setzt Gelder frei. Daher frage ich: Brauchen wir alle unsere Flugzeuge in ständiger Bereitschaft?

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Nein!)

Müssen alle unsere Schiffe immer einsatzfähig sein?

(Zurufe von der SPD: Nein!)

Wieviel schweres Gerät kann entsprechend der Bedrohungslage eingemottet werden?

(Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Alles weg!)

Welche Aufgaben können privatwirtschaftlich preiswerter durchgeführt werden?

(Zurufe von der SPD: Alle! — Die ganze Verteidigung!)

— Da sieht man Ihre Gesinnung. Hervorragend, wie Sie sich wieder darbieten. Das ist Ihre Botschaft an die Bundeswehr, wie Sie sich hier aufführen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Innerhalb des äußerst knappen Rahmens ist es notwendig, die Infrastruktur der Bundeswehrliegenschaften in den neuen Bundesländern weiterhin nachhaltig zu verbessern. Außerdem muß in den neuen Ländern dringend Wohnraum für Bundeswehrangehörige geschaffen werden.

(Zuruf von der SPD: Donnerwetter!)

Als Einstieg in ein Wohnungsbauprogramm sind 1993 erstmals 50 Millionen DM veranschlagt. Insgesamt sind 1993 in den neuen Ländern Investitionen in Höhe von 675 Millionen DM beabsichtigt. Zusammen mit 450 Millionen DM Bauunterhaltung wird in den neuen Ländern für Baumaßnahmen also weitaus mehr als 1 Milliarde DM ausgegeben. Die Infrastrukturausgaben werden daher nicht gesenkt, sondern weiter, und zwar um 6,3 % aufgestockt.
Das bedeutet gleichzeitig ein spürbares, ja einschneidendes Absenken der Ansätze für Forschung und Entwicklung um fast 450 Millionen DM wie auch für die Beschaffung um fast 690 Millionen DM.
Eine große Unbekannte ist die Finanzierung von humanitären Einsätzen und friedenssichernden Maßnahmen im Auftrag der Völkergemeinschaft. Auch



Hans-Gerd Strube
wenn sich die SPD zur Zeit noch verweigert und damit ihre Regierungsunfähigkeit dokumentiert:

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD)

Wir werden mit der Bundeswehr an der Seite der friedliebenden Völker künftig unseren Beitrag zu leisten haben.

(Zuruf von der SPD)

Schon jetzt danke ich allen Soldaten im Namen meiner Fraktion, die in Sarajevo, Kambodscha oder Somalia ein vorher nie gekanntes Risiko eingehen. Der Haushalt des Verteidigungsministers kann allerdings solche zusätzlichen Mittel kaum aufbringen, zumal deren Höhe kaum kalkulierbar sein wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vor dem Hintergrund der zusätzlichen Belastungen halten wir die Kürzungen des Verteidigungshaushalts für 1993 für gerade noch vertretbar, vielleicht auch im Einzelfall für hilfreich, weil die noch nicht abgeschlossene Umstrukturierung der Bundeswehr insoweit eine Denkpause verträgt, in der neue Verträge nur in Ausnahmefällen abgeschlossen werden sollen.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Wir sollten aber trotz der Notwendigkeit größtmöglicher Sparsamkeit an Vorhaben von besonderer militärischer Bedeutung, wie z. B. Kampfwertsteigerung Kampfpanzer Leopard 2, festhalten.
Meine Damen und Herren, bestehende Verträge müssen zwar grundsätzlich erfüllt werden, sollten aber auch auf ihre Strukturgerechtigkeit überprüft und ggf. verändert werden. Ich denke hierbei vor allem an das neue europäische Jagdflugzeug. Wir wissen, daß für die Entwicklung des Jägers 90 langfristige vertragliche Verpflichtungen bestehen und, bliebe es bei den bestehenden Verträgen, 1993 weit mehr als die noch veranschlagten 520 Millionen DM benötigt würden. Wir wollen den Verteidigungsminister nicht zum Vertragsbruch ermuntern. Vielmehr sind wir davon überzeugt, daß der Bundesminister der Verteidigung zusammen mit allen Partnern der Jäger-90-Entwicklung eine Änderung bestehender Verträge herbeiführt und am Ende ein der neuen Lage angepaßtes, vor allem aber billigeres neues europäisches Jagdflugzeug entwickelt wird, das schließlich auch gebaut und bezahlt werden kann.

(Zurufe von der SPD)

Dabei sollte auch darauf geachtet werden, daß die für den Jäger 90 bisher investierten Mittel nicht in den Sand gesetzt werden und deshalb die gewonnenen Erkenntnisse für ein neues europäisches Jagdflugzeug weitgehend genutzt werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! — Zuruf von der SPD: Das hat Ihnen die Rüstungsindustrie aufgeschrieben!)

Unter Wahrung der atlantischen Partnerschaft müssen wir weiterhin europäische Lösungen mit einer angemessenen Beteiligung der deutschen Industrie anstreben, die leistungsstark und im Bündnis wettbewerbsfähig wie auch dialogfähig bleibt. Deshalb müssen wir auch weiterhin auf eine Beteiligung der deutschen Industrie an Forschungs-, Entwicklungsund Beschaffungsprogrammen achten.
Wenn auch Verteidigungsaufträge kein Mittel zur Struktur- und Beschäftigungspolitik sein sollen, ihre Wirkung auf Struktur, Beschäftigung und Konjunktur dürfte aber immer spürbar sein. Dieser Gesichtspunkt kann daher gerade vor dem Hintergrund der prognostizierten Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur von untergeordneter Bedeutung sein. Wir brauchen eine deutsche Rüstungsindustrie. Denn der Bedarf für eine strukturgerechte Ausrüstung der Bundeswehr wird nach einer nur kurzen Denkpause wieder voll befriedigt werden müssen. Wir brauchen eine Bundeswehr. Deshalb müssen wir auch dafür sorgen, daß ihre materiellen Bedürfnisse erfüllt werden.
Wir haben den Verteidigungshaushalt im Rahmen des gerade noch Vertretbaren gekürzt, müssen uns aber bewußt machen, daß der Verteidigungshaushalt auf Dauer keine weiteren Einsparungen mehr hergibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Anzug für den Verteidigungshaushalt ist knapp genäht, er kneift etwas und muß möglicherweise demnächst etwas geweitet werden.

(Zuruf von der SPD: Oder die Bundeswehr muß abspecken!)

Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion wird diesem Haushalt ihre Zustimmung geben.

(Zurufe von der SPD)

Ich möchte aber noch fortfahren. Denn in dieser Debatte ist der Bericht des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung, betitelt „Bericht über den Stand der Verhandlungen mit den NATO-Entsendestreitkräften über die Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes ,NordhornRange' " , mit aufgerufen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung war durch einstimmiges Votum des Auswärtigen Ausschusses, des Petitionsausschusses, des Verteidigungsausschusses sowie des Plenums des Deutschen Bundestages aufgefordert worden, in Verhandlungen mit unseren Bündnispartnern die Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes „Nordhorn-Range" zu erwirken. Die Bundesregierung erklärt in ihrem Bericht, daß weder die Entsendestreitkräfte noch die deutsche Luftwaffe auf die Nutzung des Platzes verzichten können. In Zukunft sollen drei vergleichbare Plätze, nämlich Siegenburg, Wittstock und Nordhorn-Range, als Übungsplätze genutzt werden.
Um dem berechtigten Protest der lärmgeplagten Bevölkerung zu entsprechen, hat der Verteidigungsausschuß die Regierung aufgefordert:
Erstens. Die Flugeinsätze werden auf alle drei Plätze gleichmäßig verteilt. Dadurch wird der Anflug auf Nordhorn-Range spürbar verringert.
Zweitens. Ein generelles Flugverbot wird für die Schulferienzeit gefordert.



Hans-Gerd Strube
Drittens. Zur Überwachung der Flugeinsätze sollen regelmäßig Sky-Guard-Geräte eingesetzt werden.
Viertens. Das Bundesministerium der Verteidigung wird aufgefordert, eine Untersuchung des seit 1945 durchgehend genutzten Platzes auf Bodenbelastung zu veranlassen.
Fünftens.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212312900
Herr Kollege Strube, der Kollege Klejdzinski hat ein weiteres Fragebedürfnis.

Hans-Gerd Strube (CDU):
Rede ID: ID1212313000
Ja, wenn ich in diesem Zusammenhang vielleicht noch einen Satz sagen darf.
Fünftens. Die Ergebnisse sind dem Verteidigungsausschuß jährlich zu berichten.
Als Wahlkreisabgeordneter stelle ich fest, daß die verabschiedeten Punkte nur als Schritte zu einer völligen Schließung von Nordhorn-Range gesehen werden können. 45 Jahre Fluglärm sind für die betroffene Bevölkerung genug. Auch hier sollte gelten: Einer trage des anderen Last.
Bitte schön, Herr Kollege. Ich bin mit meinen Ausführungen zwar am Ende, aber Sie dürfen Ihre Frage gern noch stellen; denn ich habe noch etwas Zeit.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1212313100
Herr Kollege, stimmen Sie meinen Ausführungen im Verteidigungsausschuß zu, daß es zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus sicherheitspolitischen und auch aus übungspolitischen Gründen in keiner Weise notwendig ist, an Nordhorn-Range festzuhalten?

Hans-Gerd Strube (CDU):
Rede ID: ID1212313200
Herr Kollege, ich würde Ihnen da gerne zustimmen, denn NordhornRange liegt in meinem Wahlkreis. Sie können sich denken, daß ich mit dem Protest der Bevölkerung täglich befaßt bin. Nun sagt die Bundeswehr in ihrem Bericht, den Sie als Mitglied des Verteidigungsausschusses auch zur Kenntnis genommen haben — wenn ich mich recht erinnere, sogar zustimmend zur Kenntnis genommen haben —, daß auf diesen Übungsbetrieb nicht verzichtet werden kann. Man weist darauf hin, daß drei Viertel solcher Übungen schon ins Ausland verlegt sind und daß man auf die drei Plätze, die von mir genannt worden sind, zukünftig nicht verzichten kann. Ich würde alles tun, wenn es mir gelingen würde, Nordhorn-Range zu schließen. Ich werde an diesem Auftrag, den ich von meinen Wählern habe, weiterarbeiten.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212313300
Ich erteile das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1212313400
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Diskussion um den Verteidigungetat führt zunächst zu der Frage, wie es um unsere eigene Sicherheit bestellt ist. Dieses führt dann gleich weiter zu der Frage, wie es um die Sicherheit anderer Menschen bestellt ist. Ich finde es außerordentlich bedrückend, in Jugoslawien mitansehen zu müssen, wie unschuldige Menschen Tag für Tag niedergemetzelt werden, und ich frage mich manchmal, wie es sein wird, wenn der Winter stärker Einzug in die umkämpften Regionen Jugoslawiens hält. Ich brauche die allgemeine Schreckensvision wohl nicht weiter auszuführen, daß sich mit dem hereinbrechenden Winter auf Grund der unzumutbaren Zustände und der desolaten Versorgungslage über viele Menschen in den Kampfgebieten ein weißes Leichentuch legen wird.
Meine Damen und Herren, ich sage es ganz offen, diese Perspektive bedrückt mich. Und ich spreche wohl im Namen des ganzen Volkes: Wir sollten weiter alles daransetzen, humanitäre Hilfe für diese unschuldigen, notleidenden Menschen zu leisten.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Ich möchte hier auch einmal die Frage stellen, ob es angesichts der schwierigen Situation auf dem Flughafen von Sarajewo nicht möglich ist, lebenswichtige Güter mit dem Fallschirm abzuwerfen.
Ich begrüße, daß nunmehr endlich seitens der UNO stärkere Sanktionsmechanismen beschlossen worden sind. Ich wünsche mir, daß das Handelsembargo auch auf dem Land und an der Donau wirksamer durchgesetzt wird, als dieses derzeit der Fall ist.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Dabei stellt sich natürlich die Frage, warum und ob das deutsche Schiff in der Adria nicht genauso tätig werden soll, wie die Schiffe unserer Verbündeten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212313500
Herr Kollege Thiele, der Kollege Oostergetelo möchte, was mir leider ein wenig spät aufgefallen ist, weil der Kollege Horn zum Teil die Debatte auch im Stehen verfolgt, gern eine Frage stellen.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1212313600
Bitte sehr.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1212313700
Herr Kollege, weil ich das, was Sie zu Jugoslawien gesagt haben, teile, habe ich eine Frage: Wir haben hier in diesem Haus im Auswärtigen Ausschuß auf Bitten des ehemaligen Ministerpräsidenten der polnischen Republik beschlossen, die Bundesregierung zu bitten, besonders Bedrängte in den Lagern, einige tausend, sofort zu übernehmen. Können Sie mir sagen, ob nun daraus endlich etwas wird, oder müssen auch diese noch warten, wo es ein einstimmiges Anliegen aller drei Parlamentsfraktionen war?

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren vorhin nicht hier! Es ist schon alles gesagt!)


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1212313800
Ich vermute, Herr Ooestergetelo, daß Sie die Debatte an diesem Tag in diesem Hause sehr aufmerksam verfolgt haben, auch wenn Sie möglicherweise nicht die ganze Zeit anwesend sein konnten. Der Außenminister hat auf eine ähnliche Frage eines Kollegen Ihrer Fraktion schon geantwortet und klargestellt, daß wir mit 235 000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien mehr Menschen aufgenommen haben als die restliche



Carl-Ludwig Thiele
Europäische Gemeinschaft zusammen. Diesen Worten des Außenministers kann ich mich inhaltlich voll anschließen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD — Abg. Jan Oostergetelo [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)

Herr Präsident, wenn Sie gestatten, würde ich gerne in meiner Rede fortfahren, denn es ist nun wirklich die Frage, ob es sinnvoll ist, Debatten, die wir gerade vor einer Stunde hier geführt haben, wieder aufzunehmen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212313900
Sie müssen ein regelrechtes Nein sagen, denn ich muß Sie noch einmal fragen.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1212314000
Herr Präsident, Sie erhalten ein regelrechtes Nein zu der nächsten Frage in dieser Angelegenheit.
Ich möchte noch einmal an dem Ansatz anfangen, wo ich stehengeblieben war. Es stellt sich die Frage, warum und ob das deutsche Schiff in der Adria nicht genauso tätig werden soll, wie die Schiffe unserer Verbündeten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich sage hier deutlich: Ich sehe eine gleichwertige Teilnahme des deutschen Schiffes dann gerne, wenn dieses von einem breiten Konsens innerhalb der Bevölkerung wie auch innerhalb dieses Hauses getragen wird. Ich finde es außerordentlich bedauerlich, daß sich die SPD dieser Aufgabe verschließt.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen aus dem Beschluß, den der Bundeshauptausschuß der F.D.P. im Mai 1991 in Hamburg gefaßt hat, zitieren:
Wir als Freie Demokraten vertreten die Auffassung,
— und daran hat sich nichts geändert —
daß Deutschland nach seiner Vereinigung und nach der vollen Herstellung seiner Souveränität an der Durchsetzung von Entscheidungen des Weltsicherheitsrates mit Streitkräften unserer Bundeswehr mitwirken soll. Das soll sich auch auf Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von UN-Friedenstruppen und auf Kampfeinsätze erstrekken, die auf Entscheidungen des Weltsicherheitsrates beruhen. Wir wollen dafür die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen schaffen. Liberale werden an dem Bruch der von allen bisherigen Bundesregierungen getragenen verfassungsrechtlichen Auffassung nicht mitwirken.
So weit unser Hamburger Beschluß.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich anfügen: Es gibt eine Diskussion über die Frage, ob diese Einsätze verfassungsrechtlich zulässig sind oder nicht. Wir vertreten aber die Auffassung, daß diese Frage nicht rechtlich, sondern politisch entschieden werden muß, und deshalb sind wir für eine klarstellende Verfassungsänderung. Solange diese nicht gegeben ist, können wir den breiten Konsens der
Demokraten, den wir für diese wichtige Frage benötigen, nicht feststellen und entsprechenden Einsätzen nicht zustimmen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich allerdings zu der Überschrift des Artikels der FAZ vom heutigen Tage zu diesem Thema erklären, daß ich hier kein großes Streitthema zwischen den Koalitionsparteien erkennen kann, weil die Position der F.D.P. seit langem klar ist. Das bedeutet natürlich, daß sich die SPD bewegen muß. Ich freue mich, auch an dieser Stelle dem Bundeskanzler in seiner vorzüglichen Rede von heute morgen zustimmen zu können, in der er erklärte, daß die einsichtigeren Teile der SPD die Notwendigkeit einer solchen klarstellenden Änderung des Grundgesetzes erkannt hätten.

(Zuruf von der F.D.P.: Kolbow!)

— Richtig, auch Kolbow. Dem kann ich nur zustimmen. Der Kollege Kolbow hat während dieser Passage der Rede des Bundeskanzlers auch applaudiert. Das habe ich gesehen. Das halte ich auch für vernünftig.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Insbesondere freue ich mich, daß auch der von mir hochgeschätzte, leider verstorbene Ehrenvorsitzende der SPD, Willy Brandt — dem nun wirklich niemand kriegslüsterne Gedanken nachsagen konnte —, diese Auffassung vertreten hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Jäger 90 beschäftigt uns weiter. Über die letzten Diskussionen in diesem Zusammenhang bin ich ziemlich erstaunt. Ich gehe allerdings davon aus, daß der Verteidigungsminister in seiner Rede auch auf dieses Thema eingehen wird.

(Zuruf von der SPD: Das ist die Frage!)

Beachtenswert scheint mir allerdings die Feststellung zu sein, daß bis vor einiger Zeit uns Parlamentariern — und ich war Mitglied der Arbeitsgruppe Jäger 90 —erklärt wurde, daß wir eine Ersatzbeschaffung für die Phantom, um die es letztlich geht, ab 1998 benötigen würden. Nunmehr höre ich aus dem Verteidigungsministerium, daß diese Notwendigkeit erst ab dem Jahre 2002 besteht.

(Zuruf von der SPD: Demnächst sagen Sie 2005!)

Um dieses in aller Deutlichkeit zu sagen: Ich verstehe die aktuelle Diskussion vor dieser Zeitachse nicht oder nicht richtig. Sollten wir uns an der Produktion eines Flugzeuges beteiligen, so werden wir hierfür Produktionsvorbereitungen von etwa fünf bis sechs Jahren benötigen, also frühestens 1995, 1996. Sollten wir uns dazu entschließen, ein Jagdflugzeug in Lizenz in Deutschland zu fertigen, so müßten wir dabei einen Vorlauf von etwa drei Jahren einkalkulieren, also Entscheidungsbedarf ab 1999.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch herausstellen, daß aus meiner Sicht nach wie vor auch die Übernahme gebrauchter Flugzeuge ernsthaft geprüft wer-



Carl-Ludwig Thiele
den sollte. Überall auf der Welt sollte nach meiner Auffassung weiter abgerüstet werden,

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und die KSE-Staaten haben ja die Reduzierung ihrer konventionellen Waffen beschlossen. Auf Grund dessen sollte die Übernahme gebrauchter Flugzeuge auch unserer alliierter Verbündeten geprüft werden.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD)

Auf Grund der Jahre, in denen Entscheidungen zu treffen sind, nämlich frühestens 1995, 1996, ist mir nicht verständlich, daß hier ein Entscheidungsdruck erzeugt wird, den ich nicht nachvollziehen kann.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Koalitionsentscheidung vom 1. Juli 1992, keine Mittel für die Produktionsvorbereitung des Jägers 90 in den Haushalt aufzunehmen, ist für mich nach wie vor gültig.
Lassen Sie mich kurz auf die Einsparvorschläge der SPD eingehen. Dort wurde gesagt, wir müssen die deutsche Einheit finanzieren, wir müssen nur den Verteidigungsetat ein bißchen stärker rasieren. Die Sparvorschläge der SPD, über die wir nachher auch abzustimmen haben, sehen 2,6 Milliarden DM vor. In diesen 2,6 Milliarden DM sind gut 500 Millionen DM für die Entwicklung Jäger 90 vorgesehen. Da kann ich Ihnen sagen — und das habe ich schon mehrfach ausgeführt, ist im Grunde genommen auch jedem Kundigen bekannt und wird auch von der SPD eingeräumt —, daß dieser Betrag gezahlt werden muß, weil wir entsprechende Verträge geschlossen haben. Wir sind vertragstreu, und die Vertragstreue ist auch von der SPD bislang nicht angezweifelt worden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212314100
Jetzt möchte der Kollege Jungmann Sie etwas fragen.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1212314200
Gerne.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1212314300
Herr Kollege Thiele, stimmen Sie mit mir überein, daß dann Ihre Streichung im Haushaltsausschuß über 300 Millionen DM Makulatur war und die im übernächsten Jahr auf den Haushalt zukommen? War das wieder eine Täuschung der Öffentlichkeit?

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1212314400
Herr Jungmann, ich stimme Ihnen nicht zu. Sie müssen die vertraglichen Verpflichtungen und die Fälligkeiten der Rechnungen betrachten, die aus diesen vertraglichen Verpflichtungen resultieren.

(Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wollen wir abwarten?)

Diese Fälligkeiten sind zu überprüfen; denn das kann auch ein Strecken der Entwicklungsausgaben sein. Nur wissen Sie selber, daß 95 bis 98 % der Entwicklungsmittel vertraglich gebunden sind. Nur die Fälligkeit interessiert mich. Wenn ich in der Fälligkeit
Bewegung bekomme, dann kann ich auch Ausgabenblöcke aus den bisherigen Verträgen in die Folgejahre verschieben und dabei mit den Vertragspartnern und mit der Industrie weiterverhandeln. Das ist ja beabsichtigt.
Wenn ich die SPD in diesem Zusammenhang richtig verstehe — darüber hatte ich schon einmal mit dem Kollegen Horn eine Diskussion —, dann hat die SPD immer gesagt: Da wir der Entwicklung des Jägers 90 nicht zugestimmt haben, stimmen wir aus Prinzip diesen Mitteln im Haushalt nicht zu. Das ist eine Auffassung, die ich akzeptieren kann. Ich kann dies allerdings nicht als echten Einsparungsvorschlag durchgehen lassen; denn das wäre zu leicht.
Wenn ich das jetzt saldiere, bin ich bei 2 Milliarden DM Einsparungen aus dem Verteidigungsetat. Bei der ganzen Debatte, die wir gestern gehört haben, die wir heute gehört haben — Frau Matthäus-Maier, Herr Klose —, möchte ich einmal sehen, wie das Paket, was wir uns an Zusatzaufgaben auch und insbesondere für die neuen Bundesländer vornehmen, mit diesen 2 Milliarden DM finanziert werden kann; denn weitere konkrete Sparvorschläge in nennenswerter Größenordnung habe ich seitens der SPD nicht vernommen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Genauso ist das! Einen Groschen hundertmal ausgeben!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die F.D.P. hat sich auf ihrem Bundesparteitag in Bremen klar gegen eine Berufsarmee und für eine Wehrpflichtarmee entschieden. Da dieses ebenfalls Bestandteil der Koalitionsvereinbarung ist, gibt es für andere Überlegungen derzeit keinen Raum.
Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß wir uns angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Situation die Frage stellen müssen, ob wir demnächst tatsächlich noch eine Streitmacht von 370 000 Mann präsent halten müssen.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe in der Vergangenheit immer die Auffassung vertreten, zunächst abzuwarten, wie sich die Situation im östlichen Teil Deutschlands und östlich von Deutschland entwickelt. Ich freue mich, hierbei feststellen zu können, daß der Abzug der Roten Armee aus Deutschland weiter planmäßig bzw. überplanmäßig verläuft. Die letzten Truppen der Roten Armee haben gerade vor einigen Tagen Thüringen verlassen. Diese neue Situation, die sich einstellt, muß bezüglich ihrer Konsequenzen diskutiert werden.
Erlauben Sie mir in der mir zur Verfügung stehenden Redezeit abschließend noch den Hinweis, daß der Verteidigungsetat auf seiner Ausgabenseite gegenüber dem Haushalt 1992 um 3,76 % gesunken ist. Angesichts der Tariferhöhungen und der Inflationsrate bedeutet dieses real eine Reduzierung des Verteidigungsetats um fast 8 %.
Ich finde, daß dieses schon eine beachtliche Leistung ist, die wir dem Verteidigungsministerium und den Beschäftigten zumuten. Ich möchte mich an dieser



Carl-Ludwig Thiele
Stelle ausdrücklich bei den Soldaten und den Zivilbeschäftigten der Bundeswehr für die Bereitschaft bedanken, an der notwendigen Reduzierung der Bundeswehr mitzuwirken, was persönlich bestimmt nicht immer einfach ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mich abschließend bei meinen Mitberichterstattern für die faire Zusammenarbeit bedanken und empfehle im Namen der F.D.P., dem Etat des Einzelplans 14 zuzustimmen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1212314500
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Andrea Lederer.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1212314600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, wenn es ein bißchen ruhiger bleibt als heute nachmittag.

(Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Wir auch, wenn Sie ruhiger bleiben!)

Dann brauche ich nicht zu brüllen, brauche nicht meine Stimmbänder und auch nicht Ihre Ohren zu strapazieren.
Es lohnt sich eigentlich nur aus wenigen Gründen, überhaupt über diesen Verteidigungshaushalt zu debattieren. Ich kann dem Kollegen Jungmann nur zustimmen: An sich ist es wirklich eine Zumutung, über einen Haushalt zu diskutieren, wenn man gleichzeitig weiß: Den Nachtragshaushalt gibt es sicher; es werden gravierende Entscheidungen über 1994 am 17. Dezember gefällt. Im Grunde wird schon wieder die Öffentlichkeit darüber getäuscht, was tatsächlich geplant wird.
Ich beteilige mich auch nicht mehr weiter an der ewigen Klarstellung von diesen Zahlendrehereien, die auch mein Vorredner gerade wieder vorexerziert hat.

(Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Das wäre ein Segen für uns! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Für die ganze Republik!)

Es hat keinen Sinn. Wir haben das auch schon oft genug nachvollzogen.
Im Mittelpunkt der Debatte muß freilich die geplante Sicherheitspolitik in der Zukunft stehen. Deshalb nur kurze Anmerkungen zum eigentlichen Haushalt: Es wurde selbst vom Verteidigungsminister gesagt, er ist ein Übergangshaushalt; ich bin darauf schon eingegangen. Tatsächlich findet keine Abrüstung statt, sondern eine qualitative Aufrüstung und eine Umrüstung.

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist doch Quatsch!)

— Natürlich. Sie werden das spätestens am 17. Dezember schwarz auf weiß nachlesen und hier wahrscheinlich begründen.
Entscheidend wird das sein, was uns dann präsentiert wird. Wir werden dann auch wissen, wo sicherheitspolitisch der Hase langläuft.
Der Haushalt ist nach wie vor der drittgrößte Haushalt — ein unverantwortliches Phänomen angesichts der sozialen Erfordernisse hier im Land und auch angesichts der Tatsache, daß die Milliarden wohl wirklich besser zur Linderung der Not in der sogenannten Dritten Welt oder zur Stützung der Wirtschaft in Osteuropa geeignet wären.
Diese Auffassung, daß dieser Haushalt wesentlich drastischer gekürzt werden müßte, als hier vor allem seitens der Regierungskoalition vorgegeben wird, teile ich immerhin mit 65 % der Bevölkerung, die laut Infas ebenfalls der Meinung sind: Die Kürzung, die uns präsentiert wird, ist keine; es muß weiter gekürzt werden.
Wir haben einen Antrag eingebracht, der eine Streichung in Höhe von insgesamt 16,5 Milliarden DM vorsieht. Wenn der politische Wille vorhanden wäre, dann wäre das ein Weg, um tatsächlich sinnvoller eine Umverteilung in diesem Land vorzunehmen. Ich bin aber so nüchtern und realistisch, anzunehmen, daß dieser politische Wille hier nicht existiert.
Wir werden den Anträgen der SPD als Geste, daß sie in die richtige Richtung gehen, zustimmen, obwohl wir der Meinung sind, die vorgeschlagenen Kürzungen reichen einfach nicht aus. Es könnte natürlich wesentlich mehr getan werden.
Nun aber zu der eigentlich wichtigen Frage, nämlich zu der künftigen Sicherheitspolitik: Was der Bundesverteidigungsminister Rühe vorgeschlagen hat, nämlich über ein sogenanntes Entsendegesetz für die Bundeswehr die Entsendung von Bundeswehrsoldaten in UNO-Blauhelmeinsätze und später vermutlich auch Kampfeinsätze zu regeln, das hat in etwa die Qualität und das Niveau von dem hier lang diskutierten angeblichen Staatsnotstand in der Asylfrage.
Was hier vor wenigen Wochen als Variante zur Änderung des Art. 16 angeboten wurde — die Rede war von einem sogenannten Asylsicherungsgesetz, was allerdings wenig mit Sicherung des Asylrechts zu tun hatte —, das wird uns hier nun als Variante zur Änderung der Verfassung angeboten, um den militärischen Handlungsspielraum zu erweitern.
Es ist eigentlich schon erstaunlich, finde ich, mit welcher Dreistigkeit Mitglieder der Bundesregierung mittels der Androhung eines Verfassungsbruches Mitglieder dieses Parlaments, also Mitglieder eines Verfassungsorgans, zur Änderung der Verfassung bringen, zwingen wollen; denn nichts anderes ist der Hintergrund der Drohung, daß man per Entsendegesetz die SPD sozusagen dazu bringen will, einer noch wesentlich weiter gehenden Änderung des Grundgesetzes zuzustimmen, als sie ohnehin — leider, sage ich gleich dazu — auf ihrem SPD-Parteitag schon beschlossen hat.
Ich komme noch einmal auf die Rede von Herrn Schäuble heute morgen zurück. Er hat nun wirklich sozusagen CDU-strategisch alle Bereiche abgeklappert. Es ist einfach schlicht gelogen, daß seitens der CDU/CSU in den letzten 40 Jahren klar gewesen sei, für eine Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr sei eine Grundgesetzänderung nicht notwendig. Nein, es war wirklich Konsens sämtlicher Bundesregierungen, daß natürlich verfassungsrechtlich ein



Andrea Lederer
über die Landesverteidigung hinausgehender Einsatz der Bundeswehr ausgeschlossen ist.
Wenn jetzt sozusagen als Entgegenkommen eine angeblich verfassungspolitische Klarstellung angeboten wird und dann noch gleichzeitig festgeschrieben werden soll, daß dies ohne jegliche Einschränkung militärischer Handlungsfreiheit geschehen darf — so Herr Schäuble heute morgen —, dann ist eines klar: Der Widerspruch, den der Verteidigungsminister in seiner Fraktion zum Vorschlag eines Entsendegesetzes erfahren hat, eines Entsendegesetzes, das hier mit Ihrer Mehrheit, mit einer einfachen Mehrheit, beschlossen werden soll, dieser Widerspruch ist rein taktischer Natur.
Insofern muß ich auch dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Herrn Klose, widersprechen, der offenkundig mit der Auffassung des Bundesverteidigungsministers nicht ganz klargekommen ist bzw. nicht verstanden hat, inwieweit er sozusagen ein Entsendegesetz vorschlägt, wo er sich auf der anderen Seite hier immer gerne als Abrüstungsminister präsentiert hat.
Es ist mehr als klar: Herr Rühe ist mit einem offenkundig verfassungswidrigen, also nicht nur verfassungsfeindlichen Vorschlag vorgeprescht. Er zeigt damit, daß er ohne Rücksicht auf Verluste entschlossen ist, so oder so im Oktober 1993 Bundeswehrsoldaten zu Blauhelmeinsätzen zu entsenden und so schnell wie möglich, sowie der materielle und personelle Stand erreicht ist, die Bundeswehr auch zu Kampfeinsätzen zu mobilisieren. Es besteht also keinerlei Unklarheit. Es ist völlig klar, wo es langgehen soll. Ich muß sagen: Die Verwirrung des SPD-Fraktionsvorsitzenden über die Auffassung von Herrn Rühe könnte ich mir damit erklären, daß er vielleicht enttäuscht ist, jetzt feststellen zu müssen, daß auch unter einem Kanzler Rühe in einer Großen Koalition vermutlich keine andere Politik als bei der jetzigen Bundesregierung herausspringen würde.
Ich komme zum Schluß. Es tut mir in der Tat leid — ich beziehe mich gern auf die Rede des Kollegen Voigt in der Debatte über den vorherigen Einzelplan —, daß die SPD wohl doch weitergegangen ist, als man in der Öffentlichkeit oder in den Medien den Eindruck hatte. Ich will noch einmal daran erinnern — das wird immer wieder bestätigt; es ist uns übrigens von Herrn Lambsdorff heute noch einmal vorgeführt worden —, daß die Grauzone zwischen Blauhelmeinsätzen und Kampfeinsätzen immer grauer wird. Die Entwicklung verläuft immer mehr in Richtung Kampfeinsätze.

(Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: Sie haben nicht zugehört!)

Sie bleiben letztlich natürlich die Erklärung schuldig — ich teile nicht Ihre Auffassung zu Blauhelmeinsätzen -, wo Sie den Pflock einrammen wollen, um eine solche Entwicklung oder eine Zustimmung zur Politik der Bundesregierung zu verhindern.
Wir werden den Verteidigungshaushalt selbstverständlich ablehnen. Aber diese Ankündigung gilt
nicht nur für den Verteidigungshaushalt, sondern, so prognostiziere ich, für den gesamten Haushalt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre ja eine Beleidigung, wenn Sie zustimmen würden!)

Wir werden auch weiterhin um jeden abrüstungs- und friedenspolitischen Schritt kämpfen, d. h. wir werden Widerstand leisten gegen eine Politik, wie sie die Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht betreibt.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212314700
Nun hat die Kollegin Vera Wollenberger das Wort.

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1212314800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei aller Heiterkeit, die in der letzten Stunde ab und zu in diesem Saale herrschte, dürfen wir nicht vergessen, daß die Haushaltsdebatte vor einem düsteren Hintergrund geführt wird. Seit einem Jahr ist kaum ein Tag vergangen, an dem keine Angriffe von rechtsextremistischen Gewalttätern gegen Asylbewerberheime, Tätlichkeiten gegen Ausländer und politische Gegner, Schändungen jüdischer Gedenkstätten und Friedhöfe und provokatorische Aufmärsche stattfinden. Ausgerechnet an dem Wochenende, an dem eine türkische Frau und zwei Kinder ermordet wurden, verläßt Verteidigungsminister Rühe seinen bisherigen Kurs der politischen Vernunft und präsentiert der geschockten Öffentlichkeit Überlegungen zu einem Ermächtigungsgesetz, Verzeihung: Entsendungsgesetz, das der Bundeswehr erlauben soll, sich weltweit an Kampfeinsätzen der UNO zu beteiligen.
Dieser unverständliche Ausrutscher ist keineswegs durch den Schwenk zurück zur ursprünglichen Position, daß eine Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Einsätzen einer verfassungsmäßigen Klärung bedürfe, behoben. Herr Minister, Sie sind mit Ihren merkwürdigen Gedankenspielen nicht nur auf das Unverständnis und die verständliche Empörung Ihrer Kollegen gestoßen, sondern Sie haben auch anwesende und nicht anwesende Sympathisantinnen und Sympathisanten zutiefst enttäuscht. Nicht nur Ihre Kollegen, sondern auch die Öffentlichkeit wartet heute auf eine Erklärung von Ihnen.
Es wird von den Befürwortern von Kampfeinsätzen der Bundeswehr immer wieder betont, daß Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung für den Frieden in der Welt gerecht werden müsse. Im Augenblick beweist aber dieses Deutschland gerade, daß es mit den brennenden Problemen im Innern nicht fertig wird.
Trotz aller verbalen Beteuerungen und Betroffenheitskundgebungen der verantwortlichen Politiker entfaltet die rechtsextremistische Welle mit jedem Tag brutalere Gewalt. Jüdische Mitbürger trauen dem Staat die Fähigkeit, sie zu schützen, schon nicht mehr zu. Wenn diese Entwicklung so weitergeht — das habe ich an dieser Stelle schon einmal gesagt —, werden wir in Deutschland bald UNO-Truppen brau-



Vera Wollenberger
chen, um die bürgerkriegsähnlichen Zustände zu beenden.
Wie wäre es dann mit einer Beteiligung von Bundeswehrsoldaten an solchen UNO-Einsätzen? Die Frage ist nur scheinbar makaber, denn die Realitäten lassen leider inzwischen die schlimmsten Befürchtungen zu.
Während Deutschland mit seinen akuten Problemen nicht zu Rande kommt, basteln fleißige deutsche Arbeiter an den Sprengsätzen für blutige Auseinandersetzungen „hinten weit in der Türkei". Damit türkische Militärs in Kurdistan die „noch effektivere Vernichtung weicher, halbfester und fester Ziele" betreiben können, machen die Beschäftigten des Rüstungsunternehmens Eurometall Überstunden. Die streubombenähnlichen Granaten sollen noch vor Weihnachten gegen „weiche Ziele" — sprich: Menschen — eingesetzt werden.
Wir werden das nicht verhindern können, solange es kein verfassungsmäßig verankertes Rüstungsexportverbot gibt. Dafür können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß die Politiker jener Parteien, die sich gegen ein Rüstungsexportverbot sträuben, wieder ihre Betroffenheit zum Ausdruck bringen werden, sobald mit deutschen Waffen und mit deutscher Munition oder mit dem bewährten deutschen Gas irgendwo in der Welt ein Blutbad angerichtet worden ist. Oder Sie können, falls Sie den Verfassungsbruch bis dahin gewagt haben, auch deutsche Soldaten hinschicken, um den mit deutschen Waffenexporten geschürten Konflikt zu befrieden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, inzwischen ist in allen Zeitungen über die Unfähigkeit der Politiker geschrieben und darüber geklagt worden. Auch Politiker beteiligen sich an dieser Schelte und betreiben larmoyante Selbstbezichtigungen. Das Wort von der Politikverdrossenheit ist in diesem Parlament schon so oft gefallen, daß ich es nicht mehr hören kann. Die Politiker und Politikerinnen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN waren sich in der letzten Fraktionssitzung einig, daß sie Rücktrittsforderungen schon gar nicht mehr erheben mögen, weil sie inzwischen inflationär geworden sind. Trotzdem scheinen die Regierenden nicht gewillt zu sein, sich in ihrer Politik auf die inzwischen existenzbedrohenden Probleme einzustellen. Im Gegenteil. Wenn einer einmal einen Schritt in die richtige Richtung wagt und z. B. die längst überfällige Entscheidung trifft, den Jäger 90 nicht zu bauen, ruhen und rasten die Rüstungslobbyisten nicht, bis dieser Entschluß wieder rückgängig gemacht worden ist. Das Gezerre um den Jäger 90 oder den Jäger Light — oder wie immer man ihn bezeichnen will — wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Lage in Deutschland. Nicht Vernunft, sondern Lobbyismus prägt das politische Geschäft.
Ich habe in einer Rede den Jäger 90 mit der kaiserlichen Schlachtflotte verglichen, die sich bekanntlich als nicht einsatzfähig erwies. Was ich aber in dieser Rede nicht ausgeführt habe, ist die bemerkenswerte Tatsache, daß ausgerechnet dieses sündhaft teure Lieblingsspielzeug der Militärs zur Keimzelle der Revolution wurde, die das kaiserliche Regime hinwegfegte. Dabei wurden die Kriegsschiffe im Gegensatz zum Jäger 90 in der Bevölkerung
respektiert, ja sie waren beliebt. Den Jäger 90 gegen den erklärten Willen der Menschen in diesem Land bauen zu wollen — darüber sollten sich seine Befürworter keinen Illusionen hingeben — wird zu gefährlichen gesellschaftlichen Verwerfungen mit unabsehbaren Folgen führen.
Diejenigen, die heute den Jäger 90 befürworten, müssen sich dann dafür verantworten, Milliarden für sinnlose Rüstungsprojekte verpulvert zu haben, statt das Geld für die Gesundung des sozialen Systems oder, wie mein Kollege Poppe es heute gefordert hat, für die Bekämpfung der Fluchtursachen einzusetzen.
Zum Schluß meiner Ausführungen möchte ich die Vorschläge des BÜNDNISSES 90 skizzieren. Für unsere Gruppe ist schon längst nicht mehr die Frage, ob es eine Änderung des Grundgesetzes geben muß, sondern die entscheidende Frage lautet: in welche Richtung und mit welchem Ziel? Die Ziele unserer Gruppe mit dem von uns im Juni eingebrachten Antrag zur Änderung des Grundgesetzes sind eine restriktive Auslegung des Streitkräfteeinsatzes, eine Einhegung ihrer Einsatzoptionen, eine eindeutige Klärung der Grauzonen und eine Verlagerung der Einsatzentscheidungen zum Parlament.
Unsere Bundestagsgruppe hat dieses Anliegen in einem neuen Antrag, den wir erst kürzlich in den Bundestag eingebracht haben, präzisiert. Dieser Antrag mit dem Titel „Nichtmilitärische Unterstützung der Vereinten Nationen" macht deutlich, daß es sehr wohl möglich ist, die VN wirkungsvoll zu unterstützen, ohne diese Angelegenheit auf eine militärische Frage zu reduzieren. Es ist auffallend, daß die innenpolitische Diskussion über eine mögliche Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen der VN auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta die Aspekte einer wirkungsvollen Unterstützung der UNO auf eine militärische Frage verkürzt. Sicherheit und Friedenssicherung sind aber mehr als militärische Sicherheit. Mit diesem Antrag fordern wir ein Kontingent zur Unterstützung von konfliktvermeidenden, präventiven und friedensbewahrenden Maßnahmen der Vereinten Nationen, das nicht unter nationaler Verantwortung, sondern im Rahmen eines Gewaltmonopols der Vereinten Nationen eingesetzt werden soll.
Dieses Kontingent soll aus Freiwilligen bestehen, die aus unterschiedlichen Organisationszusammenhängen kommen können, Beamte und Angestellte der Katastrophenhilfe, Angehörige der Bundeswehr, der Verwaltung, der Polizei und humanitärer Hilfsorganisationen sowie geeigneter Nichtregierungsorganisationen. Lediglich zur Erfüllung spezifischer Aufgaben, für die nicht genügend geeignete Menschen zur Verfügung stehen, und für eine Übergangszeit können aus der Bundeswehr erst nach einer Änderung des Grundgesetzes entsprechend unserem Vorschlag maximal 2 000 Soldaten ebenfalls auf Grund freiwilliger Meldung zum VN-Unterstützungskontingent abkommandiert werden. Die dienstrechtliche Unterstellung unter das BMVg wird für den Zeitraum der Kommandierung aufgehoben. Die abkommandierten Soldaten tragen keine Uniform der Bundeswehr. Eine Abstellung von Kampftruppen lehnen wir ab. Das



Vera Wollenberger
UN-Unterstützungskontingent wird dem Auswärtigen Amt unterstellt. Dort wird an Stelle eines Generalstabes ein ziviler Koordinationsstab eingerichtet.
Diese Einheit soll bei Bedarf die Vereinten Nationen in den folgenden Angelegenheiten unterstützen: Unterstützung bei der Bekämpfung von Natur- und Hungerkatastrophen, Unterstützung bei der Bekämpfung von Umweltgefährdungen, Unterstützung bei der Wahrung individueller Menschenrechte, Unterstützung bei friedlicher Konfliktschlichtung — u. a. Blauhelmmissionen —, Unterstützung bei der Durchführung von Maßnahmen operativen Zwangs wie wirtschaftlichen Sanktionen, Währungssanktionen, völkerrechtlichen Sanktionen, kulturellen und sozialen Sanktionen, elektronischen Sanktionen und beschränkten militärischen Sanktionen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212314900
Kollegin Wollenberger, würden Sie bitte zum Ende kommen.

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1212315000
Ich bin beim letzten Satz. — Der Bundeswehr werden zudem alle bisherigen Aufgaben im humanitären Bereich entzogen

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das stimmt aber nicht!)

und dem VN-Unterstützungskontingent übertragen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212315100
Nun spricht unser Kollege Hans-Werner Müller.

Hans-Werner Müller (CDU):
Rede ID: ID1212315200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns jetzt über Wochen und Monate mit dem Haushalt des Bundesverteidigungsministers befaßt. Da sich die beiden Vorrednerinnen in ihren Ausführungen mit diesem Haushalt gerade nicht befaßt haben, sondern über andere Dinge gesprochen haben, brauche ich darauf auch nicht einzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Auch aus anderen Gründen nicht!)

Wir haben jede Position buchstäblich hin und her gewendet und in der Endphase noch einmal kräftig herausgestrichen. Jeder Kenner der Materie, insbesondere unter Ihnen, den Kollegen der SPD, ist bereit, unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu erklären, daß wir jetzt am Minimum dessen angelangt sind, was zur Aufrechterhaltung der Aufgabenstellung notwendig ist. „Der Anzug ist eng", wie Kollege Strube vorhin gesagt hat. Und dann wird in den letzten Tagen erklärt — ob nun im Frühstücksfernsehen oder sonstwo —, dieser Haushalt sei nach wie vor der Steinbruch der Nation. Helmut Wieczorek hat gestern morgen im Fernsehen von 5 Milliarden DM gesprochen,

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Versteht der auch etwas von Verteidigung?)

die mühelos herauszustreichen wären, Sie, Kollege
Jungmann, eben von 2,6 Milliarden DM. Ich
bezeichne das schlicht und ergreifend als unseriös, um es ganz milde auszudrücken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Roßtäuscherei ist das!)

Die direkte Bedrohung, unter der die deutsche Sicherheitspolitik jahrzehntelang gestaltet werden mußte, ist weg. In der Öffentlichkeit entsteht ein sogenannter Gorbatschow-Effekt, der dazu führt, daß die Bundeswehr in eine Begründungskrise gerät. Aber die Risikobereiche sind nach wie vor da; sie sind auch heute oft genug in der einen oder anderen Form genannt worden: der Zerfall der Sowjetunion, die Instabilitäten in Mittel- und Osteuropa, das Risiko am Rande Europas.
Wo stehen wir? Das ist, kurz gesagt, die zu stellende Frage. Die Antwort ergibt sich schon aus Art. 1 des Grundgesetzes, nämlich aus der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die menschliche Würde zu schützen, oder aber — so verankert in der Satzung der Vereinten Nationen — aus dem Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen hat sich die Bundeswehr um die Landesverteidigung sowie um die erweiterte Landesverteidigung zu kümmern, die die Verteidigung des Bündnisgebietes und auch die Übernahme von eventuell möglichen Aufgaben im Rahmen der NATO und der UNO umschließt. Es gab ja so gut wie keinen Redner, der dieses Thema hier nicht behandelt hat. Ich möchte dazu einen einzigen Begriff wiederholen, den unser Fraktionsvorsitzender Dr. Schäuble heute morgen gebraucht hat: Das, was aus Ihrer Richtung dazu heute gekommen ist, verehrte Kollegen, ist sehr, sehr realitätsfern, um auch das sehr vorsichtig auszudrücken. Hier muß sich noch Erhebliches bewegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Heute morgen hat UNO-Generalsekretär Ghali — so war den Medien zu entnehmen — gesagt, er würde es sehr begrüßen, wenn bei friedenserhaltenden Maßnahmen der UNO auch die Bundeswehr tätig würde.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Mir würde das auch gut gefallen!)

In einer kleineren, aber moderneren und leistungsfähigen Bundeswehr müssen die notwendigen Bedingungen, die wir jetzt vorfinden, selbstverständlich im Rahmen des deutschen Vereinigungsprozesses, mitberücksichtigt werden. Insofern ist die Bundeswehr auch nicht von der Notwendigkeit zur Durchführung eines strikten Sparkurses in allen Bereichen ausgeschlossen. Aber bei all diesen Sparzwängen muß der Wille und die Fähigkeit zu einer glaubwürdigen Verteidigung unverzichtbare Voraussetzung für Unabhängigkeit, Sicherheit und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland bleiben. Insofern ist dieser Haushaltsplan durchaus ein Haushaltsplan des Übergangs. Das wichtigste Ziel ist die Sicherstellung des Betriebes, die Abwicklung der laufenden Vorhaben. Ich wiederhole mich: Wir gehen, was die Finanzausstattung betrifft, an die Grenze der Belastbarkeit.



Hans-Werner Müller (Wadern)

Weitere Kürzungen würden uns in Schwierigkeiten mit tiefgreifenden Konsequenzen führen.
Die Bundeswehr hat folgende Aufgaben: die zeitgerechte Umsetzung des Personalabbaus und die Fortführung der strukturellen Neuordnung der Streitkräfte. Wir haben in das Haushaltsgesetz dieses Bundeshaushalts das Notwendige hineingeschrieben. Wir haben die notwendigen Beschlüsse gefaßt, um die Personalstruktur bis 1995 festzuschreiben, einschließlich der klaren Vorgabe für den Abbau des Zivilpersonals. Insofern ist dieser Haushalt hinsichtlich des Personals zwar ein Haushalt des Übergangs, aber auch ein Haushalt der Planungssicherheit.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist es!)

Dazu ein paar kurze Bemerkungen. Ich spreche zunächst das militärische Personal an. Es wird bekanntlich in 1993 um fast 52 000 Stellen verringert. Dies ist eine ungeheure Anpassungsleistung. Zum Erreichen der Zielstruktur, die uns durch den Zweiplus-Vier-Vertrag vorgegeben ist, müssen in 1994 noch einmal 44 000 Planstellen wegfallen. Ich will Sie nicht mit Zahlen langweilen. Aber um diese Werte zu erreichen, um im Lichte dieser gestellten Aufgabe zu verfahren, sind ungeheure Anstrengungen notwendig.
Wenn die Bundeswehr dann kleiner wird, muß sie auch attraktiver werden. Deswegen wird sich dies im Haushaltsgesetz wiederfinden. Es wird jetzt jedem klar, wie sich die weiteren Abbauschritte bis 1994 gestalten. Damit wird für jeden Soldaten, der in der Bundeswehr verbleibt, seine persönliche Perspektive erkennbar. Diese neue Personalstruktur wird beschlossen. Sie bedeutet Planungssicherheit.
Wenn ich davon spreche, daß die Bundeswehr attraktiver wird, so möchte ich der Bundesregierung hier auch dafür danken, daß sie in den letzten Jahren die Aufstiegs- und Beförderungsmöglichkeiten in allen Laufbahnen verbessert hat. Wir als Koalition haben bei der Verabschiedung der Haushaltspläne in den zurückliegenden Jahren gerade bei den unteren Besoldungsgruppen entscheidende Verbesserungen erreicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich nenne das Stichwort „Unteroffizier mit Portepee im Stau". Ich bin dem Haushaltsausschuß in seiner Gesamtheit dankbar, daß er diesen unseren Vorschlägen gefolgt ist.
Herr Kollege Heistermann, Sie reden nach mir. Ich habe mir schon die Freude gemacht, die Presseerklärung Ihrer Fraktion durchzulesen. Gerade für diese Leistung, die ich angesprochen habe, loben Sie uns. Ich möchte mich schon jetzt dafür bedanken, daß das in Ihrem Manuskript steht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, so eröffnen wir, um nur ein Beispiel zu geben, für die Offiziere des militärfachlichen Dienstes jetzt neu die Besoldungsgruppe A 13. Der Bundesinnenminister muß dazu noch Gesetze ausarbeiten. Wir bitten herzlich, daß er das schnell tut. Weitere Verbesserungen sind: Erhöhung des Wehrsoldes mit Abschlagszahlungen für unsere Wehrpflichtigen, Erhöhung des Weihnachtsgeldes, Anpassung der Leistungen nach dem Unterhaltssicherungsgesetz. Mit einem Wort: Wir haben die Arbeitsbedingungen und die soziale Situation unserer Soldaten und Wehrpflichtigen und ihrer Familien verbessert.
Zum anderen haben wir mit der Verabschiedung dieser Personalstruktur auch die sogenannte Führer- und Ausbilderdichte geregelt, d. h. das Verhältnis zwischen Ausbildern und Auszubildenden. Verbesserte Ausbildung — mehr und bessere Ausbildung — steht dem Wehrpflichtigen vor Ort zur Verfügung. Um es einmal salopp auszudrücken: Es gibt jetzt mehr Häuptlinge bei entsprechender Anzahl von Indianern. Auch dies erhöht die Motivation der Truppe. Ich habe in den letzten Monaten als zuständiger Berichterstatter aus der Truppe sehr viel zustimmende Post erhalten. Das ist ein klarer Beweis dafür, daß diese Dinge sehr gut ankommen.
Ich darf noch einen Satz zum Zivilpersonal sagen. Beim Zivilpersonal stehen wir bekanntlich nicht unter den Zwängen des Abbaus auf eine ganz bestimmte Zahl im Jahre 1994. Aber auch hier geht der Abbau im nächsten Jahr, also 1993, an die Zahl von 10 000 Stellen heran. In diesem Bereich kommt verschärfend hinzu, daß diese Verwaltung seit dem Aufbau eine unorganische Altersstruktur aufweist. So gehört mehr als die Hälfte der Beamten den Geburtsjahrgängen von 1935 bis 1944 an. Es besteht hier die Gefahr der Überalterung, wobei erschwerend hinzukommt, daß jüngere Beamte zu anderen Dienstherren abwandern.

(Beifall des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])

Deswegen haben wir auch hier Laufbahnverbesserungen vorgenommen. Wir haben den dritten Hebungsschritt, der für 1994 vorgesehen war, auf 1993 vorgezogen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Verband der Beamten der Bundeswehr hat uns vor wenigen Tagen seine Entschließung zugeschickt, die er auf der Herbsttagung gefaßt hat. Dort lesen wird, es sei ja wohl gelungen, in den letzten vier Jahren dank der Mithilfe aller beteiligten Stellen — darunter sind ja wohl auch wir als Deutscher Bundestag zu verstehen —, die Planstellenausstattung im Bereich der Bundeswehrbeamten aus der Phase des völlig Unzureichenden herauszuführen und in wesentlichen Dingen den Erfordernissen der Aufgabenstellung und der personellen Struktur anzugleichen.
Ich bin dankbar für dieses Lob, das wir alle miteinander verdient haben. Ich bin dankbar dafür, daß der Verband dies einmal anerkennend in seinen Verlautbarungen erwähnt.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das kommt selten genug vor!)

— Das kommt selten genug vor, Herr Ausschußvorsitzender.
Darf ich noch eine letzte Bemerkung machen. Wir haben im letzten Jahr parallel zum Haushalt das sogenannte Personalstärkegesetz und das Beamtenanpassungsgesetz verabschiedet. Wenn wir auf der einen Seite abbauen und auf der anderen Seite aufbauen müssen, z. B. bei den Ämtern zur Anerken-



Hans-Werner Müller (Wadern)

nung von Asylbewerbern und in ähnlichen Bereichen, so sind wir es schlicht und ergreifend dem Steuerzahler gegenüber schuldig, Übergänge zu schaffen, damit man von der einen Verwendung im öffentlichen Dienst problemlos in eine andere übergehen kann.
Die Bundesregierung hat uns dazu einen Bericht vorgelegt, der für meine Begriffe nicht sehr befriedigend ist. Wir haben deshalb im Haushaltsausschuß um die Vorlage eines neuen Berichts bis Mitte März nächsten Jahres gebeten, damit erkennbar ist, daß die Intention dieses Hauses vollzogen worden ist und wir greifbare Ergebnisse in diesem Zusammenhang vorliegen haben.

(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren, ich habe dieser Tage ein schönes Zitat zu all diesen Zusammenhängen, die wir in dieser Debatte ansprechen, gelesen. Herr Lapins ist der Autor des Aufsatzes „Die Bundeswehr vor neuen Aufgaben und Herausforderungen". Dort war u. a. zu lesen, daß nicht nur deutsche Waffen auf der Hitliste internationaler Begehrlichkeit stehen, sondern daß mittlerweile auch die Militärs und Verteidigungsexperten aus den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts inklusive der GUS sich die Klinke in die Hand geben, da sie sehr am spezifischen deutschen militärischen Führungs-, Erziehungs- und Ausbildungskonzept interessiert sind. Herr Lapins schreibt, man könne von einem tiefen Vertrauen in die Politik der Bundesregierung sprechen, daß ihre Armee in der zentralen Frage des Berufs- und Selbstverständnisses offenbar Vorbildcharakter besitze.
Ich meine, diese Ausführungen sind sehr, sehr richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit diesem Haushalt geben wir der Bundeswehr und den dort tätigen Menschen die Möglichkeit, die Arbeit in diesem Sinne fortzuführen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212315300
Nun hat der Kollege Jürgen Koppelin das Wort.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212315400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung: Ich war gespannt auf das, was die Sozialdemokraten heute zum Verteidigungshaushalt sagen würden.

(Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Jetzt sind wir erst einmal gespannt, was Sie sagen!)

— Nun hören Sie doch erst einmal zu. Sie scheinen ein bißchen vorlaut zu sein; aber die Kollegen haben mir schon gesagt, daß sei bereits in der Vergangenheit so gewesen. Ich habe Sie leider noch nicht so kennengelernt.
Man durfte insoweit mit Recht gespannt sein, als Bundesminister Rühe seit Amtsantritt von den Sozialdemokraten mit Lob und Anerkennung förmlich überschüttet wurde.

(Zuruf von der SPD: Das war voreilig!)

Beispielsweise hat der Kollege Kolbow in einer Presseerklärung im Juni gesagt: Rühe mehr und mehr auf SPD-Kurs. — Ich will gar nicht auf das eingehen, was Sie gesagt haben, als der Minister 100 Tage im Amt war.
Der Verteidigungsminister hat natürlich auch intensiv bei der SPD Liebeswerbung gemacht. Das soll ja nicht bestritten werden. Er wurde dadurch von den Medien fast in den Adelsstand erhoben. Sie wissen alle: Er wurde zeitweise als Kronprinz genannt. Das mag daher rühren.
Herr Minister, wenn Sie von der F.D.P. einen Rat annehmen: Wer auf Kurs der Sozialdemokraten ist, gerät auf Schlingerkurs. Das haben wir ja hin und wieder auch gesehen.

(Dieter Heistermann [SPD]: Sie reden von ihrer eigenen Vergangenheit!)

— Frau Präsidentin, ich hoffe, die Zwischenrufe werden nicht alle auf meine Redezeit angerechnet.
Aber das ist eine Sache von gestern. Wir haben hier in der Haushaltsdebatte festgestellt: Der Kollege Jungmann hat wieder die alte Schlachtordnung hergestellt. Er hat seine Rede aus dem letzten Jahr hervorgeholt, sie ein bißchen überarbeitet, und die Schlachtordnung war wiederhergestellt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die hält er nächstes Jahr noch einmal!)

Wenn ich richtig informiert bin, muß sich der Kollege Kolbow, der dem Verteidigungsminister soviel Lob ausgesprochen hat, heute zurückhalten und darf nicht sprechen. Das nehme ich auch mit Interesse zur Kenntnis.

(Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ist aber unverschämt!)

Meine Damen und Herren, unbestritten ist, daß der Einzelplan 14 ein Sparetat ist.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212315500
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Kollegen Kolbow?

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212315600
Ja.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1212315700
Herr Kollege Koppelin, darf ich Sie fragen, aus welchem Reich der Träume und Phantasien Sie die Auffassung bezogen haben, daß ich heute hier nicht sprechen dürfe.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212315800
Ich will auf Ihre Frage konkret antworten: Sie dürfen mich fragen. Aber Sie wollen sicher noch ein bißchen mehr wissen. Ich habe dem Monitor mit der Rednerliste entnommen, daß Sie bisher nicht aufgeführt sind.

(Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Er darf ja sprechen, aber nur eine Zwischenfrage stellen!)


Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1212315900
Darf ich noch eine Zusatzfrage stellen, Frau Präsidentin?

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212316000
Wenn es der Redner erlaubt.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212316100
Ja, ich erlaube es gern.




Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1212316200
Hängen Sie immer der Statik des Blickes an, oder sind Sie auch geneigt, Herr Kollege Koppelin, schlicht und einfach zur Kenntnis zu nehmen, daß heute der Kollege Heistermann für die sozialdemokratische Fraktion als zweiter Redner spricht, um ganz einfach deutlich zu machen, daß wir viele gute Verteidigungspolitiker haben?

(Beifall bei der SPD)


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212316300
Der Kollege Heistermann — damit will ich Ihre Frage beantworten — hat den Verteidigungsminister nicht so mit Lob überschüttet, wie Sie es als Obmann das ganze Jahr über gemacht haben. Das wollte ich hier doch einmal feststellen. Das können wir ja auch einmal durchaus positiv zur Kenntnis nehmen.
Ich sagte bereits, daß der Einzelplan 14 ein Sparhaushalt ist. Ich finde, die Zahlen zeigen deutlich — es ist vorhin angesprochen worden —, wenn Sie 1992 und 1993 vergleichen: Es wird beim Verteidigungshaushalt erheblich reduziert und gespart. Ich will dabei nicht verschweigen, daß wir als Freie Demokraten sicher gern einen Haushalt gehabt hätten, der unter 50 Milliarden DM liegt. Nur kann man die Augen natürlich nicht davor verschließen, daß der Einzelplan eine ungesunde Struktur aufweist. Der Anteil der Personalausgaben beträgt mittlerweile bereits mehr als 50 %. Das wird auf die Dauer so nicht fortzuführen sein. Wir brauchen auch ausreichend Mittel für die Ausrüstung. Wir haben immer erklärt, daß jedes Großprojekt, das zur Planung ansteht, auf den Prüfstand muß; dazu sind wir bereit. Aber es wäre eine Illusion anzunehmen, daß eine auf die Landesverteidigung ausgerichtete Bundeswehr in Zukunft nicht auch eine moderne Ausrüstung braucht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Bundeswehr befindet sich in einem schwierigen Übergangsprozeß. Daher müssen die Menschen in den Streitkräften das Gefühl haben, daß sie nicht allein gelassen werden. Eine weitere erhebliche Reduzierung im Haushalt des Verteidigungsministers hätte zur Folge gehabt, daß die Angehörigen der Bundeswehr diese Reduzierung persönlich finanziell hätten spüren müssen.
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn wir im Haushalt weiter gestrichen hätten, wäre eine Wehrsolderhöhung in diesem Jahr einfach nicht machbar gewesen. Das muß man auch zur Kenntnis nehmen.

(Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Verbreiten Sie doch nicht Gerüchte dieser Art!)

— Sie dürfen hier sprechen, aber Sie sind bisher ja nicht als Redner gemeldet worden. Inzwischen vermute ich: nicht ohne Grund.
In aller Deutlichkeit: Bei allem Willen zum Sparen und bei aller Bereitschaft zu weiteren Reduzierungen im Verteidigungshaushalt, die Angehörigen der Bundeswehr haben einen Anspruch auf Sicherheit in ihrer persönlichen Lebensplanung.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was haben Sie denn für einen Tick mit der Rednerliste?)

— Schreiben Sie alles auf einen Zettel, und geben Sie ihn dem Kollegen Heistermann; er kann es nachher hier vortragen.
Meine Damen und Herren, im Vordergrund unserer Sicherheitspolitik steht die Landesverteidigung. Landesverteidigung bedeutet, daß wir als Mitglied der NATO bereit sein müssen, auch die Staatsgebiete unserer Bündnispartner zu verteidigen, genauso wie diese bereit sind, unseren deutschen Boden zu verteidigen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212316400
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Ich muß immer warten, bis Sie einmal eine kleine Pause machen, dann kann ich Sie fragen.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212316500
Ich habe nur fünf Minuten Redezeit und muß schnell sprechen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212316600
Bitte, Frau Kollegin Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1212316700
Lieber Kollege Koppelin, da Sie mehrfach auf die Rednerliste hingewiesen haben und darauf eingegangen sind, wer heute redet bzw. nicht redet, und daraus wichtige Folgerungen ziehen: Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß heute von den 662 Abgeordneten mindestens 630 nicht reden? Was folgern Sie daraus?

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212316800
Wir beide kennen uns ja ganz gut, liebe Ingrid Matthäus-Maier. Zunächst einmal folgere ich daraus, da ich die Debatten bisher verfolgt habe, daß meine Kollegin Ingrid MatthäusMaier für meinen Geschmack hier etwas zuviel redet. Vielleicht sollte sie andere mehr zu Wort kommen lassen.

(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Das geht der Mehrheit der SPD-Fraktion auch so! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Frage ist nicht beantwortet!)

— Von dir nehme ich keine Noten entgegen.
Ich darf hoffentlich weiterreden. Im Vordergrund unserer Sicherheitspolitik steht die Landesverteidigung.

(Zurufe von der SPD)

— Frau Präsidentin, können Sie dafür sorgen, daß die Sozialdemokraten zumindest etwas ruhiger sind? Ich kann die Unruhe ja verstehen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212316900
Die Sozialdemokraten sind im Moment ganz ruhig und lauschen Ihnen gebannt für noch insgesamt 29 Sekunden.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212317000
Da unsere Welt nicht frei von Gefahren und Risiken ist, wird sich Deutschland nicht verweigern können — da sollten die Sozialdemokraten wirklich zuhören —, wenn es um die Erhaltung und die Durchsetzung des Völkerrechts geht. Wir werden gegebenenfalls auch unseren militärischen Beitrag zur Durchsetzung internationalen Völkerrechts unter UN-Mandat leisten müssen und werden uns nicht auf Blauhelmeinsätze beschränken können.



Jürgen Koppelin
Ich will an dieser Stelle für die F.D.P., lieber Herr Kollege Jungmann, klar und deutlich herausstellen, daß das alles ohne Grundgesetzänderung nicht geht. Dabei meine ich, daß die Idee des Bundesverteidigungsministers, allein durch ein Entsendegesetz UN-Einsätze deutscher Soldaten zu legitimieren, schnell wieder fallengelassen werden sollte.
Frau Präsidentin, ich bin so oft unterbrochen worden, ich bitte um — —

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212317100
Herr Kollege, ich habe die Uhr immer abgestellt. Ich gebe Ihnen gern noch zehn Sekunden weiter, aber dann ist Schluß.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212317200
Das ist ein bißchen unfair.

Dr. Norbert Herr (CDU):
Rede ID: ID1212317300
„Jetzt wird's munter auf der Hardthöhe." Was die Diskussion um den Jäger 90 angeht, muß ich ihm recht geben. Da ist es wirklich munter geworden. Für die F.D.P. kann ich nur sagen: Es kann nicht angehen, immer rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln! Wir erwarten von Ihnen einen umfassenden Bericht im Verteidigungsausschuß endlich einmal zum Thema Jäger 90.
Es wäre noch einiges mehr auch zu den Haushaltsberatungen zu sagen; aber, wie gesagt, auf Grund der Zeit und der vielen Unterbrechungen lassen Sie mich zum Schluß nur sagen: Der Bundesverteidigungsminister wird unsere Unterstützung haben, wenn wir das Gefühl haben, daß wir zu einer guten kollegialen Zusammenarbeit mit dem Minister kommen. Wir sind jedenfalls dazu bereit, Herr Minister.
Vielen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212317400
Herr Kollege Koppelin, ich wollte Ihnen nur sagen: Sie haben die Zeit der Zusatzfragen nicht angerechnet bekommen, und da bin ich sogar noch großzügig verfahren, sehr großzügig.
Nun hat als nächster der Kollege Dieter Heistermann das Wort.

Dieter Heistermann (SPD):
Rede ID: ID1212317500
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war schon interessant, das Stimmungsklima mindestens zwischen zwei Personen hier zu registrieren. Wenn man das dann noch auf die Koalition übertragen würde, kann man sich vorstellen, wie sich dort der innere Zustand tatsächlich abzeichnet.

(Beifall bei der SPD)

Kollege Müller (Wadern), wir Sozialdemokraten sind in der Lage, unsere Redebeiträge vorher vorzulegen, weil wir eine klare Position haben. Was meinen Sie, wie froh wir gewesen wären, wenn wir für die heutige Debatte die Planungsvorstellungen des Ministers bereits auf dem Tisch gehabt hätten! Dann hätte es eine Debatte über Positionen geben können; aber der Minister war ja bis heute nicht in der Lage, seine Positionen schriftlich festzulegen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, mein erstes Wort richte ich in der heutigen Debatte an die
Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr. Wir danken für ihren vorbildlichen Einsatz und ihr vielfältiges Engagement. Unsere besten Wünsche begleiten alle, die die Aufträge erfüllen, die das Parlament beschlossen hat. Wir bitten Sie, Herr Rühe, unseren Dank weiterzuleiten.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, unter der Überschrift „Bundeswehr vor dem Neubeginn" schrieb ein bekannter Kommentator einer großen deutschen Tageszeitung im Jahre 1991:
Vom Verteidigungsminister ist keine kritische Bestandsaufnahme zu erwarten. Er übt den Primat der Politik nicht aus. Er ist kein Reformminister, er wickelt ab.
Dieser Kommentar, erschienen in der „Süddeutschen Zeitung", galt Ihrem Vorgänger im Amt. Zitiert hat dies mein Kollege Walter Kolbow aus Anlaß der zweiten und dritten Lesung des Verteidigungshaushaltes 1991.
Herr Minister Rühe, sehen Sie nicht die Gefahr, daß, wenn man den Namen Stoltenberg durch den Namen Rühe ersetzt, zunehmend eine Situation beschrieben wird, zu der Sie sich als Bundesverteidigungsminister hin bewegen?

(Beifall bei der SPD)

Sie sind schon jetzt eher ein Ankündigungs- als ein Durchsetzungsminister; aber damit passen Sie gut in diese Regierung der „Als-ob-Politik".

(Beifall bei der SPD)

Von den kleinen Glanzlichtern, Herr Rühe, die Sie zu Beginn Ihrer Amtsübernahme aufblitzen ließen, ist nicht mehr viel übriggeblieben. Sie bewegen sich wieder in den alten Trampelpfaden Ihrer drei Vorgänger, die seit 1982 Verantwortung für die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland trugen.

(Peter Kurt Würzbach [CDU/CSU]: Zur Sache!)

Wie großmundig waren damals die Ankündigungen dieser Minister, Kollege Würzbach, was man alles aus dieser Bundeswehr machen werde! In der Tat, es gehört schon eine Menge „Können" dazu, die Bundeswehr dahin zu bringen, wo sie heute steht, sie so herunterzuwirtschaften. Das macht Ihnen so schnell keiner nach.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja lächerlich!)

Mit jedem neuen Minister erfolgten angebliche Neuorientierungen, die aber sehr bald im Archiv verschwanden. Mit einer solchen Politik, Herr Rühe, motiviert man aber weder Soldaten noch zivile Mitarbeiter.
Mit der von der Koalition betriebenen Politik wurden viele Menschen in der Bundeswehr getäuscht und enttäuscht. Ehrlich gesagt, mit dieser Politik konnten Sie keinen Staat machen. Daran ändert auch die Beförderungsschwemme nichts, die Sie für das nächste Jahr vorsehen.




Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212317600
Kollege Heistermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Dieter Heistermann (SPD):
Rede ID: ID1212317700
Wenn sie so qualifiziert ist wie seine Anmerkungen, dann gerne.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1212317800
Sie ist bestimmt qualifiziert. — Lieber Herr Kollege Heistermann, können Sie uns mal mitteilen, warm Sie das letzte mal Ihren Truppenbesuch gemacht haben? Das scheint schon sehr lange her zu sein.

Dieter Heistermann (SPD):
Rede ID: ID1212317900
Also, Kollege Koppelin, ich bin gerne bereit, mit Ihnen meinen Terminkalender auszutauschen. Wenn Sie noch ein bißchen zuhören, dann werden Sie noch viel Neues erfahren können.
Mit der von der Koalition betriebenen Politik wurden viele Menschen in der Bundeswehr, wie ich eben sagte, getäuscht und enttäuscht. Die großen Herausforderungen und Aufgaben für die nächsten Jahre lagen bereits 1990 fest. Es bestand Auftragsklarheit darüber, die Bundeswehr einschließlich ehemaliger NVA-Soldaten auf 370 000 Mann zu reduzieren. Fest stand auch, daß eine Umgliederung auf die neuen Aufgabenstellungen notwendig war und eine Neustationierung der Truppe erfolgen mußte. Ebenso war klar, daß der Abbau des Personals im militärischen und zivilen Bereich sozial abgefedert vorzunehmen war.
Wie hat die Bundesregierung diese Aufgaben angepackt? Welche Lösungsschritte hat sie umgesetzt? Wir halten fest: Keines der vorgenannten Probleme ist gelöst. In all den Jahren wurde nicht neugestaltet und sinnvoll geplant. Da wurde faktisch für den Papierkorb gearbeitet. In der von Ihnen zu vertretenden Politik kommt zum Ausdruck, wie hilflos Sie gegenüber diesen Problemen standen und stehen.
Lassen Sie mich hierfür nur einige wenige Beispiele anführen. Der Bundesminister der Verteidigung sieht sich nicht in der Lage, die Infrastrukturkosten im Zusammenhang mit der Um-, Zwischen- und Neustationierung der Streitkräfte der Bundeswehr zu benennen. Der zuständige Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung räumt inzwischen ein, daß die Streitkräftestationierungsplanungen in Ost und West im Detail noch „nachgesteuert" werden müssen. Auf gut deutsch heißt das: Wir haben uns vergaloppiert.
Inzwischen pfeifen es nämlich die Spatzen von den Dächern, daß die Stationierungsentscheidung vom August 1991 große Folgekosten nach sich ziehen wird. In vielen Standorten fehlen die militärischen Einrichtungen sowie die Infrastruktur, um die neuen Truppenteile sachgerecht unterzubringen. An vielen Stellen ist das Stationierungskonzept sozusagen in den Sand gesetzt.
Angesichts leerer Haushaltskassen ist es unverantwortlich, eine Politik des „Weiter so" fortzusetzen. Wer geglaubt hatte, mit dem Bundeshaushalt 1993 würden weisungs- und richtungsgebende Beschlüsse gefaßt, sieht sich abermals enttäuscht. Da werden keine klaren Entscheidungen getroffen, sondern man behilft sich auch diesmal wieder mit globalen Minderausgaben und tut so, als könne man in der Kontinuität von einer in sich geschlossenen Politik ausgehen. Von einer ordnenden Hand ist jedenfalls nichts zu spüren. In der Tat, jetzt wären handelnde Personen gefragt, die sich diesen neuen Herausforderungen ganz bewußt widmen, die die inneren Probleme der Bundeswehr lösen.
Und womit beschäftigt sich unser Verteidigungsminister vordringlich? Seine größere Sorge gilt anscheinend dem Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes. Inzwischen trifft auch schon der Innenminister Überlegungen, die Bundeswehr an den deutschen Ostgrenzen einzusetzen, ohne auf den Widerspruch des zuständigen Bundesverteidigungsministers zu stoßen. Der Verteidigungsminister seinerseits fabuliert statt dessen über ein „Entsendegesetz" der Bundeswehr, ohne die Verfassungslage zu berücksichtigen. Die Probleme im eigenen Hause scheint er nicht mehr wahrzunehmen. Es scheint vielmehr so, daß das Haus ihn wieder auf Linie gebracht hat:

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ein etwas plötzlicher Gesinnungswandel von wohlüberlegter Konsenspolitik zu parteitaktisch motivierter Konfrontationspolitik. „Der Verteidigungsminister kriecht zu Kreuze" kommentiert heute zutreffend eine Tageszeitung. Er opfert tatsächlich die eigene Glaubwürdigkeit dem sehr durchsichtigen Kalkül des Kanzlers. Dabei ist klar — ich freue mich, daß wir das hier bestätigt bekommen haben —, daß auch die F.D.P. dabei nicht mitmachen kann und wird.
Das „Haus Bundeswehr" — um es in diesem Bild einmal auszudrücken, Herr Minister — bedarf aber dringend der Renovierung. Die Probleme der Bundeswehr liegen nicht im Außenbereich, sondern sie liegen im Innern. Zu Recht erwarten die Soldaten bei der Umstrukturierung, daß ihre persönlichen Belange und die Belange ihrer Familien Bach- und zeitgerecht berücksichtigt werden. Da sind Sie tatsächlich gefragt. Noch immer herrscht große Unsicherheit darüber, wo sie letztlich mit ihren Familien verbleiben. Bevor Sie sich mit den Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr befassen, Herr Rühe, schaffen Sie erst einmal klare Rechtsverhältnisse für unsere Soldaten. Denn die müssen nämlich den Kopf hinhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann Ihnen nur raten, diese Gesetze und Vorschriften alsbald im Bundestag einzubringen.
Nicht mehr zu übersehen sind die Instabilitäten innerhalb der Bundeswehr. Noch immer fehlt eine klare Positionierung der Personalstruktur von 370 000 Soldaten. Immer offenbarer werden die Zielkonflikte bei der weiteren Entwicklung der Bundeswehr. Die Einflußgrößen Auftrag der Streitkräfte, Umfang und Struktur, Ausrüstungs- und Haushaltsmittel bilden ein magisches Viereck, da jede Veränderung einer dieser Größen die Anpassung von wenigstens einer der anderen unausweichlich macht.
Das Feldheer umfaßt heute drei Korpskommandos, denen jeweils — entsprechend dem Einzelauftrag — eine unterschiedliche Zahl von Divisionen zugeordnet ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist weniger denn je gefährdet. Dennoch kommen zu den drei Korpsstä-



Dieter Heistermann
ben das Eurokorps, und ein fünftes, das Deutsch/ Niederländische Korps, ist in Planung. Das ist geradezu eine Inflation von Stäben. Die Entscheidung zur Aufstellung weiterer Korpsstäbe kann nur schärfstens kritisiert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Offenbar scheint auf diesem Wege der Kampfeinsatz von Truppenteilen der Streitkräfte außerhalb des NATO-Vertragsgebietes vorgesehen zu sein. Das ist von unserer Verfassung aber nicht gedeckt und wird sich auch in absehbarer Zeit nicht ändern. Allen Bestrebungen, auf kaltem Wege die Streitkräfte der Bundeswehr zu Einsätzen außerhalb des Bündnisgebiets heranzuziehen, muß eine klare und deutliche Absage erteilt werden.

(Beifall bei der SPD)

Es ist schon eine Zumutung, Herr Minister, daß im Haushalt 1993 noch Projekte enthalten sind, von denen wir wissen, daß sie das Jahresende nicht überleben werden. Der Bundeswehrplan 1994 wird zeigen, was überhaupt noch geht. Die Wahrheit und Klarheit des Bundeshaushalts gilt natürlich nicht nur für den Finanzminister. Auch der Verteidigungsminister hat seinen Haushalt zu verantworten. Erst nach der Verabschiedung des Etats soll über die Neuplanung der Streitkräfte und deren Ausrüstung entschieden werden. Ob daraus wirklich mehr als ein Windei wie bei Ihrem Vorgänger Stoltenberg wird, kann mit Recht bezweifelt werden.
Wenn man dann aus der Bundeswehr hört, daß sogar die Musterung von Wehrpflichtigen eingestellt werden muß, weil die Haushaltsmittel verbraucht sind, und auch keine Eignungsverwendungsprüfungen mehr durchgeführt werden können,

(Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Und da wollt ihr immer noch sparen!)

wird die falsche Prioritätensetzung im Verteidigungshaushalt deutlich.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Haben Sie schon einmal einem nackten Mann in die Tasche gefaßt?)

Wenn dann berichtet wird, daß Dienstreisen bereits persönlich vorfinanziert werden müssen, aber im Januar erst abgerechnet werden dürfen, dann rundet sich das Bild so richtig ab.
Seit Jahren werden bei den Gebührnisämtern Oberstunden angeordnet, aber man ist nicht in der Lage, die Organisationskraft durch moderne Mittel zu verstärken. Anstatt unnötigen Ballast abzuwerfen, rudert man hilflos weiter. Macht es angesichts der Haushaltslage eigentlich Sinn, mit riesigem Finanzaufwand Standorte und Standortverwaltungen aufzulösen, um diese an neuer Stelle wieder aufzubauen, intakte Kreiswehrersatzämter zu verlegen und Bekleidungslager neu zu errichten? Was ist das für eine Politik, die Geld für nicht nötige Neubauten hat, aber kein Geld für Untersuchungen von Wehrpflichtigen?
Wir empfehlen Ihnen deshalb dringend, die Neuorganisation der Territorialen Wehrverwaltung und des Rüstungsbereichs einer erneuten Überprüfung zu unterziehen. Noch haben Sie die Möglichkeit, umzusteuern und wesentliche Kosten zu sparen.
Bei aller notwendigen Kritik — Kollege Müller (Wadern), Sie haben es angesprochen — wollen wir nicht verschweigen, daß mit der Öffnung der Besoldungsgruppe A 13 für die Offiziere des militärfachlichen Dienstes und der Möglichkeit, vorübergehend über tausend Planstellen der Besoldungsgruppe A 7 zu nutzen,

(Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Wir nehmen das Lob entgegen!)

um die im Beförderungsstau stehenden Soldaten zum Oberfeldwebel/Oberbootsmann zu befördern, ein Durchbruch gelungen ist. Gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen wurde erreicht, für die betroffenen Soldaten endlich etwas zu tun. Wir sollten darauf achten, daß das Umsetzen dieser Maßnahmen recht bald erfolgt.
Zum Antrag der Koalitionsfraktionen auf Privatisierung der Heimbetriebsgesellschaften einige kurze Anmerkungen. Staatssekretär Dr. Wichert erteilte Ihrem Organisationsstab die Weisung, Verbesserungsvorschläge für ein funktionierendes und wirtschaftliches Kantinensystem zu erarbeiten. Nun liegt eine Lösung mit einer Empfehlung vor, die den Belangen im Sinne der Bundeswehr und der Soldaten gerecht wird. Entgegen dieser Empfehlung wollen die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zum 1. Januar 1993 das Kantinenwesen der Bundeswehr privatisieren. Das ist aber der falsche Weg. Wir lehnen ihn ab. Wie wollen Sie als Dienstherr, Herr Minister, Ihrer Fürsorgepflicht nach § 31 des Soldatengesetzes eigentlich gerecht werden? Was machen Sie eigentlich, wenn die 2,5%ige Abgabe der Heimbetriebsleiter als Betreuungsmittel ausbleiben? Ich schätze, hier geht es um eine Summe von rund 9 Millionen DM jährlich.
Lassen Sie mich noch eine kurze Anmerkung zum Jäger 90 machen. Wir begrüßten im Juli 1992 Ihre Entscheidung, den Jäger 90 nicht zu beschaffen. Nun hört man vom Kollegen Bötsch und zahlreichen Veröffentlichungen in den Medien in den letzten Tagen, daß Sie sich nicht an den Beschluß vom 30. Juni 1992 halten werden. Das ist eine schöne Mogelpackung, die Sie, Herr Minister, der Öffentlichkeit angeboten haben. Erlauben Sie mir deshalb die offene Frage: Hat Sie Ihr Wahlergebnis auf dem CDU-Parteitag etwa zum Umfallen bewogen?
Im übrigen: Wie sieht die künftige Luftverteidigung in der jetzigen sicherheitspolitische Lage aus? Welches Konzept für eine Luftverteidigung haben Sie, Herr Minister, das es erlaubt, eine abgespeckte Version des Jägers 90 mit mehr als 90 Millionen DM pro Stück einzuführen, obwohl sich die vom Verteidigungsausschuß eigens eingesetzte Arbeitsgruppe „Künftige Luftverteidigung" damit noch nicht hinreichend befassen konnte? Das zeigt auch, wie ernst — oder besser gesagt: wie wenig ernst — Sie das Parlament nehmen. Angesichts der großen Haushaltsprobleme sollte weder das Flugzeug Jäger 90 noch eine abgemagerte Version, ein Jäger light, für die Bundeswehr beschafft werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)




Dieter Heistermann
Die fundamental geänderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen — Sie selbst haben festgestellt —: „Eine existentielle militärische Bedrohung Deutschlands gibt es nicht mehr" — lassen nicht zu, neue Rüstungsprojekte zu beginnen und laufende fortzuschreiben. Bestimmen Sie erst einmal den Auftrag der Bundeswehr unter den neuen sicherheitspolitischen Bedingungen! Schaffen Sie damit Planungssicherheit! Wenn man sich dann noch die hohe Bindungswirkung der Verpflichtungsermächtigungen für den mittelfristigen Finanzplan anschaut, erkennt man sehr schnell, daß sie nicht nur mit heißer Nadel, sondern so hart auf Rand genäht worden ist, daß die parlamentarischen Spielräume faktisch genommen sind.
Lassen Sie mich noch eine kurze Anmerkung zum Übungsplatz Nordhorn-Range machen. Die Regierung ist verpflichtet — ich kann nur unterstreichen, was Kollege Strube hier gesagt hat —, endlich mit den anderen alliierten Streitkräften Verhandlungen darüber aufzunehmen, daß es zu einer erheblichen Reduzierung der Belastung der Nordhorn-Range kommt. Ich hoffe, daß der Bericht, wie die Verhandlungen und Gespräche mit den anderen Partnern geführt worden sind, recht bald den Verteidigungsausschuß erreichen wird.
Herr Minister, halten Sie Ordnung im eigenen Haus! Es bedarf dringend der Renovierung, sonst wird aus einer ehemals intakten Armee eine orientierungslose, in tiefer Sinn- und Identitätskrise befindliche Bundeswehr.

(Zuruf von der CDU/CSU: Fast wie die SPD!)

Diese Kritik galt damals dem Minister Stoltenberg. Sie sind auf dem besten Wege, die gleichen Fehler zu wiederholen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Draußen reden Sie immer von einer engen Zusammenarbeit mit der SPD-Fraktion. Nicht darüber reden, sondern tun, das sollten Sie! Wir haben uns im Interesse der vielen Menschen, die in der Bundeswehr verantwortungsvoll ihren Dienst leisten, militärisch und zivil, Sachlösungen nie verschlossen. So werden wir auch künftig politisch handeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212318000
Nun hat der Kollege Karl Stockhausen das Wort.

Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1212318100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heistermann, Sie sprachen von dem „Haus Bundeswehr". Wir sind uns ja wohl einig, daß dieses Haus einen sehr wichtigen Punkt in unserer Gesellschaft darstellt. Dann muß ich Ihnen sagen: Wenn man in dieses Haus noch gute Mieter hineinhaben will, kann man doch nicht anfangen, es abzureißen und zu demontieren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das kann man ja nicht mehr hören!)

Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie das weiterführen und ein Zimmer nach dem anderen
ausräumen wollen — Sie sprechen von 5 Milliarden und 10 Milliarden DM, die gar nicht im Haushalt sind, die Sie aber herausnehmen wollen —, werden Sie nicht erreichen können, daß in dieses Haus gute, solide Mieter einziehen. Darin unterscheiden wir uns von Ihnen. Wir machen eine Sicherheitspolitik; aber mit Ihren Argumenten machen Sie eine Verunsicherungspolitik in unserer Bundeswehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Kollege Heistermann, Sie machen es mal wieder elegant: Sie berufen sich auf eine Stellungnahme der Hardthöhe zur Heimbetriebsgesellschaft. Herr Kollege Heistermann, ich würde mir wünschen, daß Sie sich bei anderen Entscheidungen im Verteidigungsbereich auch einmal auf die Anregungen und Argumente der Hardthöhe beziehen würden. Da hätten wir viel mehr Einigkeit. Sie machen es so, wie es ihnen gerade paßt. Aber diese Argumentation zur Ablehnung unseres Vorschlages ist sehr schwach.
Meine Damen und Herren, die Haushaltsberatungen geben regelmäßig Gelegenheit, zwischen Regierung und Opposition über den richtigen Weg der Politik zu streiten. Dies trifft vor allem dann zu, wenn sich herausgestellt hat, daß Lösungen aus der Vergangenheit nachweislich heute nicht mehr die Problemlösungen für die Zukunft sein können, auch wenn einzelne das behaupten.
Meine Damen und Herren, ich spreche über die Betreuung unserer Soldaten in den einzelnen Kasernen und Standorten durch die bislang staatliche Heimbetriebsgesellschaft. Ich möchte gleich deutlich machen: Ich spreche nicht über die Unteroffiziers- und Offiziersheimgesellschaft, sondern lediglich über die Heimbetriebsgesellschaften, in denen die Heimbetriebsleiter vor Ort ihre Aufgaben erfüllen.
Das seit 1975 bestehende Betreuungssystem unter der Federführung der HBG muß mittlerweile in einem ganz anderen Umfeld arbeiten als noch Mitte oder Ende der 70er Jahre. Nach altem Strickmuster ist dieses System für die Zukunft nicht mehr tragfähig. Wir stehen in der Verantwortung für ein tragfähiges, effizientes Betreuungssystem. Wir tragen die Verantwortung für die Betreuung unserer Soldaten heute und in der Zeit nach der geplanten Truppenreduzierung und nach der neuen Standortfestsetzung. Dieser Verantwortung wollen wir gerecht werden. Die staatliche Heimbetriebsgesellschaft wird privatisiert.
Warum wollen wir sie privatisieren? Zum einen aus grundsätzlichen Erwägungen. Unser Regierungsprogramm will die bislang erfolgreich geleistete Privatisierungsarbeit fortsetzen, wo es nur geht und wo aus übergeordneten Gesichtspunkten ein Zwang zum öffentlichen Unternehmen nicht besteht. Ich denke mich hier einig mit allen. Die Aufgaben der HBG gehören nicht zum Kern der Staatsaufgaben; sie ist folglich zu privatisieren. Es soll auch hier das Prinzip der Subsidiarität gelten.
Zum anderen wollen wir eine Privatisierung, um bestehende Mängel zu beheben. Ein grundlegender Mangel des bestehenden Kantinensystems besteht darin, daß die vermeintlich selbständigen Kantinenpächter keinen bedeutsamen Einfluß auf die Aufgabenwahrnehmung der HBG als zentraler Einkaufsge-



Karl Stockhausen
sellschaft haben. Die Pächter können Kosten und Leistungen der staatlichen Gesellschaft weder beeinflussen noch überwachen, obwohl ihr wirtschaftlicher Erfolg in wesentlichen Teilen von der HBG abhängt.
Beide Gründe sprechen dafür, die HBG als staatlich beherrschtes Unternehmen aufzugeben. Die Privatisierung der HBG soll am 1. Januar 1993 beginnen und nach und nach, aber zügig und vollständig umgesetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden dafür sorgen, daß auch zukünftig für das Wohl der Soldaten gesorgt ist, wie es unsere Verpflichtung ist.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212318200
Kollege Stockhausen, Kollege Walther hätte eine Zwischenfrage.

Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1212318300
Aber selbstverständlich, mein Kollege Rudi Walther immer!

Rudi Walther (SPD):
Rede ID: ID1212318400
Herr Kollege Stockhausen, Ihre sachkundigen Ausführungen lassen bei mir die Schlußfolgerung zu, daß Sie der kantinenpolitische Sprecher Ihrer Fraktion im Verteidigungsausschuß sind.

(Heiterkeit bei der SPD)

In dieser Eigenschaft werden Sie mir sicherlich erklären können, warum zwar die Kantinen für die Mannschaften, aber nicht für Unteroffiziere und Offiziere privatisiert werden sollen. Können Sie sicherstellen, daß nach der Privatisierung der Kantinen für die Mannschaften dort die gleichen geistigen Getränke wie für Unteroffiziere und Offiziere ausgeschenkt werden?

(Heiterkeit)


Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1212318500
Herr Kollege Walther, wir machen es so, wie es ein vernünftiger Mensch beim Essen von Klößen macht: Wir essen einen nach dem andern und nicht alle auf einmal.

(Rudi Walther [SPD]: Ich spreche nicht von Klößen, sondern von geistigen Getränken!)

Zum zweiten, Herr Kollege Walther, sind wir sogar noch durch die Ausführungen eines sehr bedeutenden SPD-Politikers ermutigt worden. Johannes Rau hat laut einer Zeitungsmeldung vom 12. November erklärt, daß er alle Funktionen, die in NordrheinWestfalen der Staat ausübt, überprüfen und ganz rigoros dort privatisieren wird, wo nicht Staatsinteressen irgendwie tangiert werden.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212318600
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Rudi Walther (SPD):
Rede ID: ID1212318700
Ich möchte doch gerne wissen, wo das überwiegend staatliche Interesse bei den Kantinen für Unteroffiziere und Offiziere liegt.

Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1212318800
Ich habe gerade gesagt, daß wir unsere Aufgaben nach und nach erfüllen. Wir werden auch alle anderen anstehenden
Probleme angehen. Da gibt es bei uns keinen Pardon. Also, Rudi, abwarten; wir haben noch einige Zeit!

(Heiterkeit)

Meine Damen und Herren, wir werden dabei sicherstellen, daß auch zukünftig für das Wohl der Soldaten gesorgt ist, wie es unserer Verpflichtung entspricht. Wir werden auch die Versorgung der Soldaten in entlegenen und kleinen Standorten weiter gewährleisten. Das läßt sich vertraglich zwischen den Verantwortlichen des Bundes und den Kantinenpächtern regeln. Dazu bedarf es noch nicht einmal einer Gesetzesänderung.
Im Zuge der Umsetzungen werden wir neue Überlegungen anstellen und neue Versorgungsstrategien mit dem Ziel einer optimalen Betreuung und einer abwechslungsreichen, bedarfsgerechten Verpflegung zu wirtschaftlichen Bedingungen verfolgen.
Die Notwendigkeit, die materiellen und personellen Ressourcen der Bundeswehr in Zukunft zu konzentrieren, verlangt auch Konsequenzen für die Bewirtschaftung von Truppenküchen und Betreuungseinrichtungen. Sie zwingt uns alle, den eingefahrenen Trott zu überdenken und zu überlegen, ob neue, tragfähige Konzepte hier helfen und Haushaltsmittel effizienter eingesetzt werden können. — Das war nur ein Tip, Rudi. Hättest du zugehört, hättest du es gemerkt.
Meine Damen und Herren, wir müssen aus starren, unabänderlichen Systemkorsetten heraus und uns mehr an wirtschaftlich vertretbaren Lösungen orientieren. Darüber müssen wir mit der Truppe, mit den Verantwortlichen in der Verwaltung und mit dem Bundesverband der Heimbetriebsleiter reden.
Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition will das Betreuungssystem für die Zukunft fit machen. Da soll an erster Stelle die Leistung stehen, eine Leistung, die die Nachfrage deckt und den Anforderungen gerecht wird, aber auch eine Leistung, die sich lohnt.
Die uns ans Herz gelegten Belange der Soldaten werden auch in Zukunft höchsten Stellenwert besitzen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212318900
Nun hat der Bundesminister der Verteidigung, Herr Volker Rühe, das Wort.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1212319000
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Verteidigungshaushalt 1993 wird um real 8 % unter dem Haushalt dieses Jahres liegen. Es sind gewaltige Einschnitte mit tiefgreifenden Kosequenzen vorgenommen worden. Dennoch gilt mein erstes Wort des Dankes den Berichterstattern des Einzelplans 14; denn es ist zu einer verantwortungsvollen Kooperation gekommen. Ich kann sagen, daß das Haushaltsergebnis insgesamt, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, für die Bundeswehr tragbar sein



Bundesminister Volker Rühe
wird. Vielen Dank für diese verantwortungsvolle Kooperation!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ein Wort des Dankes geht auch an die Redner der Fraktionen, vor allem an die SPD-Kollegen. Es ist gut, daß Sie endlich die alte Schlachtordnung wiederhergestellt haben. Das ist sehr beruhigend für mich und auch für Herrn Koppelin, wie Sie gemerkt haben.

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Die Opposition muß Kritik üben. Dazu möchte ich ihr einen heißen Tip geben: Sie sollte an die Realität anknüpfen. Wer ein Zerrbild der Bundeswehr zeichnet, der wird nicht verstanden, weder in der Bundeswehr noch in der Bevölkerung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wer hat das gemacht?)

— Zum Beispiel der Kollege Heistermann. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber bei dem einen oder anderen Teil der Debatte bzw. bei einigen Bemerkungen habe ich an die Soldaten gedacht. Vielleicht denken wir alle zuwenig an die Soldaten. Unsere Soldaten tun ihre Arbeit heute nicht nur in Deutschland, sondern sie sind auch im Ausland im Einsatz. Wie hätte sich die Übertragung wohl auf dem Zerstörer in der Adria oder auf dem Flug nach Sarajewo oder in Kambodscha oder in Somalia angehört? — Ich bin dankbar für die Worte der Unterstützung, die hier gesagt worden sind. Nur, insgesamt wird diese neue Dimension des Einsatzes deutscher Soldaten nicht ausreichend — auch in dieser Debatte — gewürdigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Kollege Jungmann, Sie haben gesagt, ich würde das Ministerium noch nicht genug umorganisieren. Ich könnte Ihnen Gesprächspartner vermitteln, die sagen, ich sollte ein bißchen langsamer vorangehen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber das wird ein Hauptthema im nächsten Jahr sein. Ich werde das Ministerium auf die ministeriellen Aufgaben zurückschneiden und über alternative Strukturen nachdenken. Wenn Sie sagen, der Blankenese-Erlaß von Helmut Schmidt sei für Sie kein Tabu, dann bin ich dankbar dafür; denn das wird mir in der Tat helfen, ab dem nächsten Jahr hier die notwendigen Reformen durchzusetzen.
Die Bemerkung der Sozialdemokraten, daß auf Grund der Tatsache, daß die Planungskonferenz jetzt im Dezember stattfindet, die Beratung des Haushalts wertlos sei, entbehrt jeder Grundlage. Die Planungskonferenz im Dezember beschäftigt sich mit dem Bundeswehrplan 94. Das ist der Zeitraum 1994 bis 2006. Der Haushalt 93 ist davon überhaupt nicht betroffen. Insofern haben Sie da ein Eigentor geschossen, Herr Kollege Jungmann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nicht nur eins!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kürzungen wirken sich besondes bei militärischen Beschaffungen aus, die Preissteigerungen unterworfen sind. Wir haben erhebliche Substanzverluste — zum Teil von mehr als einem Drittel — hinnehmen müssen. Die Bundeswehr hat damit eindeutig die Schmerzgrenze erreicht. Wer nun noch weiter in den Verteidigungshaushalt einschneidet — ohne konkrete Vorschläge, wie bei den Sozialdemokraten —, der nimmt der Bundeswehr die Chance, wenigstens ihren Kern modern zu erhalten und sich auf neue Prioritätsaufgaben vorzubereiten.
Ich bin überzeugt, daß dieser Beitrag, den die Bundeswehr leistet, der deutschen Einheit dient. Ein großer Teil dieses 50-Milliarden-Etats, nämlich mehrere Milliarden DM, wird eigentlich für die deutsche Einheit eingesetzt: Wir verlassen hervorragende Kasernen im Westen und gehen in den Osten. Wir verlassen Flugfelder im Westen und gehen in den Osten. Das sind Investitionen für Deutschland, für die deutsche Einheit. Auch das sollten Sie bei Ihrer Kritik berücksichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212319100
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jungmann?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1212319200
Gern.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1212319300
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß Verteidigungsausgaben nach volkswirtschaftlichen Kriterien zu den konsumtiven und nicht zu den investiven Ausgaben gehören und daß damit den investiven Aufgaben im Bereich der industriellen Produktion Mittel entzogen werden?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1212319400
Wir investieren sehr wohl im Osten. Wir tun eine ganze Menge für die deutsche Einheit, und darauf kann die Bundeswehr auch stolz sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber die Konsequenzen dieses Etats müssen klar sein: Wir werden in den nächsten Jahren kaum neue Vorhaben realisieren können. Begonnene Projekte werden wir strecken oder verschieben müssen. Ich lasse auch den Verzicht auf bisher fest eingeplante Großprojekte prüfen.
Problematisch bleiben die Betriebsausgaben. Nachdem die Lohnrunde 1992 und unabweisbarer Mehrbedarf in einem Umfang von etwa 3 Milliarden DM zu erwirtschaften waren, haben wir auch hier die Grenze des Erträglichen erreicht. Vermutlich werden aus dem Engagement unseres Landes für humanitäre Leistungen im internationalen Kontext umfangreiche zusätzliche Lasten entstehen. Der Verteidigungshaushalt kann diese Lasten nicht tragen. Ich bin dankbar, daß wir zu einer Begrenzung gekommen sind.
Ich habe letzte Woche einen Besuch in Den Haag bei meinem niederländischen Kollegen gemacht: Wie Sie wissen, fliegen unsere Flugzeuge — die Transall — nach Somalia. Jeden Liter Kerosin, der dafür erforderlich ist, bezahlen wir aus dem Verteidigungshaushalt;



Bundesminister Volker Rühe
auch die Flugzeuge werden von uns bezahlt. Der niederländische Kollege dagegen kriegt Zuschüsse für die Flugzeuge, die in der Dritten Welt eingesetzt werden, und zwar vom Entwicklungshilfeminister. Um der Klarheit und der Transparenz des Verteidigungshaushalts willen sollte man deutlich machen: Das sind Aufgaben, die über den eigentlichen Verteidigungsbereich hinausgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Bundeswehr braucht Planungssicherheit für ihren Weg in die Zukunft. Dazu gehören finanzielle Rahmenbedingungen, wie sie im 26. Finanzplan festgelegt worden sind. Ich bin froh, lieber Kollege Müller, über die Zustimmung des Parlaments zum Personalstrukturmodell 370 000. Damit haben wir für die Personalplanung der Streitkräfte eine hinreichend sichere Basis.
Ich muß aber auch dem Kollegen Thiele sagen: Es wäre unverantwortlich, die Zahl von 370 000 jetzt in Frage zu stellen. Wir brauchen Planungssicherheit. In den 90er Jahren sollen erst einmal die anderen Staaten in Europa beim Personalabbau so weit gehen, wie die deutsche Bundeswehr das getan hat. Dann können wir uns in der zweiten Hälfte der 90er Jahre darüber unterhalten, ob wir weitere Schritte machen können. Erst einmal müssen sich aber die anderen in diese Richtung bewegen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben tiefgreifende Veränderungen in der Bundeswehr. Damit sind Versetzungen und Umzüge von Soldaten in einem bisher nicht gekannten Ausmaß verbunden. Ich danke den Soldaten für ihre treue Pflichterfüllung, die sich auch in der Mobilität äußert. Wenn ich sehe, wie immobil wir alle miteinander sind, dann verdient ihre Mobilität große Anerkennung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deutschland ist vereinigt. Die Bundeswehr ist eine Armee der Einheit. Heute wissen wir: Die Streitkräfte haben im Einigungsprozeß Vorbildliches geleistet. Diese großartige Leistung verlangt Lob und Anerkennung. — Die Bundeswehr ist vielen Bereichen der Gesellschaft voraus, was die deutsche Einheit angeht. —

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie zeigt aber auch, über welch' innere Kraft und Moral die Bundeswehr verfügt. Ich meine, so können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern.
Wenn jetzt über rechtsradikale Ausschreitungen von Soldaten der Bundeswehr berichtet wird, dann muß klar gesagt werden: Hierbei handelt es sich um eine geringe Zahl von Einzelfällen. Doch wir müssen diese Vorgänge ernstnehmen. Jeder Fall wird untersucht und vollständig aufgeklärt werden; die Disziplinar- und Strafverfahren laufen. Als Bundesminister der Verteidigung werde ich alles tun, damit das hohe Ansehen der Bundeswehr im In- und Ausland nicht durch Gewalttaten einzelner Angehöriger beschädigt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für Rechtsradikale und Linksradikale ist in dieser Bundeswehr unseres freiheitlich- demokratischen Staates kein Platz. Ich bin dankbar, daß wir alle darin übereinstimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte mich bei den Sprechern aller Fraktionen, also auch der Opposition, dafür bedanken, daß sie sich in einer konkreten Situation vor die Bundeswehr gestellt haben. Wir werden uns jedenfalls nicht mit gewaltsamen rechtsradikalen Ausschreitungen abfinden, weder von Angehörigen der Bundeswehr noch in der Gesellschaft insgesamt.
Am 15. Dezember werde ich, wie in der Debatte schon mehrfach angesprochen, Entscheidungen zur Anpassung der Bundeswehr treffen, die sich am notwendigen konzeptionellen Neuansatz der deutschen Sicherheitspolitik orientieren.
Was bedeutet das für unsere Ausrüstungsplanung? — Wir brauchen in Zukunft weniger und anderes Material. Wir müssen sowohl quantitativ als auch qualitativ umsteuern. Die großangelegte Aggression mit kurzer Vorwarnzeit ist nicht mehr Planungsgrundlage. Für die Streitkräfteplanung können wir eine militärisch begründete Vorwarnzeit von über einem Jahr zugrunde legen. Die Sicherheitslage erlaubt, daß wir den Krisenreaktionskräften planerische Priorität geben. Zugleich stärken wir damit die Schildkräfte für den Fall einer Mobilmachung.
Insgesamt ist die Bundeswehr für die reine Verteidigungsaufgabe modern ausgerüstet. Die Materialausstattung kann in den 90er Jahren im großen und ganzen so belassen werden. Rüstungspriorität haben die Krisenreaktionskräfte. Sie müssen mobil, weiträumig und flexibel einsetzbar sein. Hier bestehen noch Defizite, die schrittweise abgebaut werden müssen.
Eine leistungsfähige nationale wehrtechnische Industrie liegt im Interesse unseres Landes. Diese Basis muß jedoch sicherheitspolitisch begründet sein, und sie muß die neue Lage widerspiegeln. Sie ist auch Voraussetzung zur Rüstungskooperation und daher ein unverzichtbares Element der Bündnisfähigkeit Deutschlands.
Zugleich brauchen wir aber auch eine Bündelung der wehrtechnischen industriellen Fähigkeiten in Europa. Allen Staaten Europas geht es doch ähnlich. Drei Parameter sind unstreitig: Wir brauchen weniger Material; alle haben weniger Geld — das gilt wirklich für alle Länder in Europa —; alle haben Überkapazitäten in der wehrtechnischen Industrie. In dieser Situation brauchen wir dringend eine europäische Schwerpunktbildung. Denn wir können es uns mit Blick auf die nächsten zehn bis 15 Jahre nicht leisten, daß drei verschiedene Panzer, drei verschiedene Jagdflugzeuge, drei verschiedene U-Boote in Europa entwickelt werden. Wer das nicht begreift, der zerstört die industrielle Basis in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun zum Sachstand Jagdflugzeug. — Ich muß sagen, ich habe mich selten so gefreut, hier im Plenum sprechen zu können, weil es zu dieser Frage jede



Bundesminister Volker Rühe
Menge Desinformationen gegeben hat und das Faszinierende am Plenum des Deutschen Bundestages ist, daß wirklich jeder exakt verfolgen kann, was man sagt, und das genau festgehalten wird. Deswegen freue ich mich, jetzt hier einen Bericht geben zu können. —

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Und well jeder zuhört!)

Ich möchte diese Problematik gern im Gesamtzusammenhang darstellen.
Ich habe mich von Anfang an von der Logik eines klaren politisch-strategischen und ökonomischen Ansatzes leiten lassen. Das heißt: Die sicherheitspolitische Lage in und für Europa hat sich signifikant verändert und vor allem für uns Deutsche dramatisch verbessert.
Eine grundlegend veränderte Lage verlangt eine neue Lagebeurteilung.
Aus dieser Lagebeurteilung sind die militärischen Anforderungen abzuleiten, die für ein europäisches Jagdflugzeug gelten sollen; wir brauchen ein anderes Flugzeug für eine andere Zeit — so habe ich es formuliert —, und wir wollen dafür möglichst eine europäische Lösung.
Diese neu abgeleiteten militärischen Anforderungen sind dann in Beziehung zu setzen zu einer angemessenen technischen Lösung. Angemessen heißt: zu vertretbaren Kostenobergrenzen.
Dabei ist das bisherige Entwicklungsergebnis zu berücksichtigen, jedenfalls soweit es kompatibel mit den neuen militärischen Anforderungen ist.
Schließlich ist die laufende Entwicklung alsbald umzusteuern in Richtung auf die neu definierten Forderungen — und dies unter Berücksichtigung des Zeitfaktors, der unseren Bedarf bestimmt.
Wie ist der Stand der internationalen Verhandlungen? — Ich habe diesen Ansatz, den ich soeben noch einmal geschildert habe, bei unseren Partnern auf der Ebene der Verteidigungsminister und der Regierungschefs beharrlich vertreten. Dabei hat es zur Logik dieses Ansatzes keinen Widerspruch gegeben. Im Gegenteil: Es gab wachsende Zustimmung.
Wo stehen wir konkret? — Die Anfang August in Madrid von den vier Verteidigungsministern angeforderte neue Lagebeurteilung mit entsprechenden Schlußfolgerungen für die militärischen Anforderungen an ein Jagdflugzeug ist am 20. November in Rom von den Generalstabschefs schlußberaten worden; das Ergebnis wird nun den Ministern vorgelegt.
Hier zeichnet sich — es soll sich nachher niemand beschweren, er habe keine präzise Auskunft bekommen — folgendes ab: Konsens in der Lagebeurteilung.

(Unruhe)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212319500
Herr Minister, darf ich einen Moment um Aufmerksamkeit bitten. — Es geht hier um ein wichtiges Problem, dennoch führen eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen hier Unterhaltungen. Ich habe die Bitte an diese Kolleginnen und Kollegen, daß sie, soweit sie der
Debatte folgen wollen, Platz nehmen — auch im Hintergrund des Saales sind noch genügend Plätze vorhanden — oder aber, falls sie sich unterhalten wollen, den Raum verlassen.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1212319600
Vielen Dank! — Wir haben erstens Konsens in der Lagebeurteilung und des operativen Umfelds für ein neues Jagdflugzeug, zweitens Konsens in der konzeptionellen Linie für die künftigen Bedürfnisse der Luftverteidigung in einer neuen sicherheitspolitischen Lage und drittens Konsens in der Beurteilung der grundsätzlichen Möglichkeit, die qualitativen Merkmale des Jagdflugzeugs kostensparend zu reduzieren. Es herrscht Einigkeit über die wesentlichen Bestimmungsmerkmale. Allerdings gibt es ein Spektrum von Einzelmerkmalen, die für die beteiligten Nationen unterschiedlich sind. Es gilt zu prüfen, ob auch dafür noch weitere Harmonisierung möglich oder notwendig ist.
Die Studie der Generalstabschefs ist nun in Beziehung zu setzen zur Industriestudie, die auch Anfang August in Madrid in Auftrag gegeben war, um technische Alternativen zu untersuchen. Diese Studie liegt vor und sagt schon jetzt, daß Lösungen möglich sind, die der Preisvorgabe 90 Millionen DM nahekommen. Da die Industriestudie rein technisch angelegt ist — es werden exakte Vergleichsmaßstäbe gewählt; wer glaubt, er könne mit Tricks durchkommen, etwa dem, daß er die Mehrwertsteuer einmal hineinrechnet und einmal nicht, der schätzt mich und Sie falsch ein; es werden exakt dieselben Anforderungen gestellt —, muß sie nun den neu definierten militärischen Anforderungen angepaßt werden.
Die Reduzierung qualitativer Anforderungen wird Kostensenkungen möglich machen; denn der Verzicht auf Forderungen wie die nach der Zahl gleichzeitig zu bekämpfender Ziele, langanhaltender Verfolgungsfähigkeit mit Höchstgeschwindigkeit, nuklearer Härtung, extrem kurzen Start- und Landefähigkeit, die Bestandteil der Konzeption des Jägers 90 waren, und weiteren Merkmalen hat natürlich kostensparende Auswirkungen auf Elektronik, Avionik und Triebwerk eines Flugzeugs.
Als Zwischenfazit läßt sich danach viererlei festhalten:
Erstens. Wir werden ein qualitativ grundlegend anderes Anforderungsprofil für ein europäisches Jagdflugzeug verfolgen.
Zweitens. Falls dieses Flugzeug entsteht, wird es also ein anderes Flugzeug für eine andere Zeit sein.
Drittens. Schon jetzt besteht die berechtigte Erwartung, eine dramatische Kostenverringerung des Projekts in der Größenordnung von 45 Millionen DM pro Flugzeug zu erreichen.
Viertens. Die in der Entwicklung noch verfügbaren Mittel müssen nun einvernehmlich in Richtung des neu definierten Projekts umgesteuert werden. Da wir zur Zeit andere Haushaltsprioritäten haben und das Flugzeug erst in rund zehn Jahren brauchen, kann die Entwicklung verlangsamt werden.
Ich möchte dem Kollegen Thiele ausdrücklich zustimmen, daß es überhaupt keine Bedrängnis gibt,



Bundesminister Volker Rühe
hier etwas zu entscheiden. Deswegen ist der Antrag der Sozialdemokraten auch völlig unsinnig, eine Beschaffung jetzt abzulehnen. Das steht überhaupt nicht zur Diskussion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen erst nach einer Verlangsamung und Umorientierung der Entwicklung in einigen Jahren zu entscheiden, ob dieses Flugzeug gebaut und angeschafft wird. Das wird von vielen durcheinandergebracht. Hier geht es um die Entwicklung, und ich werde gleich etwas dazu sagen, wie wir in diese Entwicklung eingebunden sind.
Wir haben die Entwicklung des Jagers 90 unter anderen Randbedingungen mit Zustimmung des Parlaments begonnen und dazu Verträge mit den Regierungen unserer Partnerländer und der Industrie geschlossen. Niemand hindert uns heute daran, diese Verträge neu zu fassen, wenn alle Beteiligten dies wirklich wollen. Und ich meine, daß dies für unsere Partner und die Industrie zutrifft.
Jetzt etwas zu der Vertragssituation: Erstens. Es gibt einen Entwicklungsvertrag zwischen den vier Partnern, aus dem ein Partner nur nach dreimonatigen Konsultationen und anschließender sechsmonatiger Kündigungsfrist aussteigen kann. Falls gekündigt wird, werden Know-how und Arbeitsleistung auf die im Projekt verbleibenden Partner transferiert. Daraus ergibt sich: Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um gemeinsam zu einer Umsteuerung in Richtung eines neuen Flugzeuges zu kommen.
Zweitens. Die Entwicklungsarbeiten werden für die Partner durch eine internationale Behörde gemanagt — die NEFMA. Die Verträge mit der deutschen Industrie zum Preisstand 12/87 decken mit einem Volumen von 5,85 Milliarden DM den gesamten deutschen Projektanteil in ihrem Verpflichtungscharakter ab.
Drittens. Der deutsche Industrieanteil unterliegt Vereinbarungen zur Einhaltung der Kostenobergrenze in der Entwicklungsphase, die auf Druck des Parlaments zwischen dem Verteidigungsministerium und den Firmen MBB und MTU geschlossen wurden. Die Preissteigerungsrate für die Fortschreibung der Kostenobergrenze wird damit jährlich auf maximal 3,5 % begrenzt.
Ich lasse prüfen, ob diese Vereinbarungen sachgerecht eingehalten worden sind — dies unter Einbeziehung externen Sachverstandes.
Ziel dieser Prüfung ist es, auf der Basis eines genauen Finanzstatus Vorstellungen für ein effizientes Kostenmanagement in der Zukunft zu entwickeln. Ich habe deshalb auch angeordnet, daß in der Rüstungsabteilung ein zentrales Controlling eingerichtet wird.

(Beifall bei der F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: Endlich!)

Neben den Prüfaufträgen und den organisatorischen
Änderungen ist es mein zentrales Anliegen, zu
gewährleisten, daß keine Forderungen der Industrie
entstehen können, die nicht durch den vom Parlament gebilligten Haushalt abgedeckt sind.

(Unruhe)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212319700
Herr Minister, bitte einen Moment. — Ich hatte vorhin gebeten
— einige Kollegen sind in der Zwischenzeit hinzugekommen —, den Geräuschpegel etwas zu senken. Diesen Wunsch wiederhole ich jetzt noch etwas dringlicher. — Herr Minister, Sie dürfen jetzt gerne weiterreden.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1212319800
Weil das, was ich soeben gesagt habe, eine gewisse Bedeutung für die Zukunft hat — das werden Sie in Kürze feststellen —, habe ich das hier sehr stur vorgetragen, um es exakt festzulegen.
Jetzt lassen Sie mich noch etwas zu dem heute viel diskutierten Thema neuer internationaler Einsätze deutscher Soldaten sagen. Da Herr Klose die Frage gestellt hat, ob die anderen uns wirklich wollen und ob wir uns nicht aufdrängen, wenn wir hier in Deutschland solche Beschlüsse fassen, darf ich den Kollegen von der SPD von einem Beschluß Kenntnis geben, der in Dänemark — in unserem freundlichen, von mir übrigens geschätzten Nachbarland im Norden — vor ganz kurzer Zeit gefaßt wurde. Es wurde von der Sozialdemokratischen Partei, der Konservativen Partei, der Liberalen Partei, praktisch von allen Parteien des dänischen Parlaments, eine Vereinbarung über die Verteidigungspolitik der nächsten beiden Jahre unterschrieben. Darin heißt es — ich übersetze aus dem Englischen; ich hoffe, korrekt —:
Eine neue internationale Einheit von ungefähr 4 500 Soldaten wird eingerichtet und ausgebildet. Diese Einheit soll mit kurzer Warnzeit eingesetzt werden für friedenserhaltende Maßnahmen
— peace keeping —
und friedenschaffende, also Kampfmaßnahmen,
— peace making —
für humanitäre Zwecke und ähnliche Operationen unter dem Dach der UN und der KSZE.
Wenn ein Land wie Dänemark eine Einheit von 4 500 Soldaten aufstellt und auch sieht, daß man eben nicht fein säuberlich zwischen „friedenserhaltend" und „friedensschaffend" unterscheiden kann, dann ist doch klar, daß wir die Verfassung nicht einseitig ändern können, sondern daß wir eine umfassende Veränderung brauchen, damit sichergestellt ist, daß unsere Soldaten so wie die dänischen Soldaten eingesetzt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Und ich frage hier noch einmal den Deutschen Bundestag — ich habe das vor einiger Zeit im Hinblick auf Frankreich gemacht —: Wer in diesem Hause kann begründen — und angesichts der Tatsache, daß mehrere Hunderte von dänischen Soldaten in Jugoslawien und anderswo sind —, daß ein 19jähriger dänischer Soldat ein größeres Risiko für die Sicherheit Europas



Bundesminister Volker Rühe
trägt als ein 19jähriger deutscher Soldat? Ich kann das nicht begründen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212319900
Herr Minister, Herr Kollege Voigt hat den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1212320000
Der Wunsch wird erfüllt.

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1212320100
Kollege Rühe, da ich das Vergnügen habe, die dänischen Zeitungen relativ regelmäßig zu lesen: Nehmen Sie auch zur Kenntnis, daß die Entschließung des dänischen Parlaments gleichbedeutend ist mit einer Absage an Outof-area-Einsätze der Westeuropäischen Union? Und wenn Sie das dänische Parlament und seine Entscheidung in dieser Beziehung so sehr loben, dann frage ich Sie, ob Sie gleichermaßen der Meinung sind, daß Kampfeinsätze oder Friedenseinsätze nur noch unter Kommandokontrolle der Vereinten Nationen stattfinden sollten; denn genau darauf zielt dieser dänische Vorgang. Und wenn Sie allein dies wollen und Ihre bisherige Position in bezug auf die WEU revidieren, dann bin ich bereit, mit Ihnen auch über die anderen Dinge zu reden.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1212320200
Herr Kollege Voigt, wir haben ja vor wenigen Tagen neue Staaten in die WEU aufgenommen. Dänemark ist dort nach wie vor nur Beobachter. Das erklärt die Situation.
Ich habe immer gesagt, daß Einsätze der WEU — aber auch des Eurokorps — etwa auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen vorgenommen werden müssen. Das ist eine solide Grundlage.
Ich bleibe dabei, die Dänen stellen Streitkräfte auf, die den Frieden erhalten und notfalls auch den Frieden schaffen sollen. Alles spricht dafür — und das wäre der Königsweg —, auch in Deutschland eine verfassungsrechtliche verfassungspolitische Klarstellung vorzunehmen, um — ähnlich wie Dänemark — Streitkräfte in diesem Rahmen einsetzen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wie ist unsere Situation? — Das möchte ich gern noch darstellen; denn der Verteidigungsminister kann ja keine philosophische Debatte führen. Das Schiff, das in der Adria fährt, ist keine philosophische Veranstaltung, sondern es braucht konkrete Weisungen und Befehle. — Wir sind in einer internationalen Krisensituation, die ständig neue Entscheidungen von uns verlangt hat, und — das sage ich Ihnen heute schon voraus — das wird auch in Zukunft so sein.
In dieser Situation ist es notwendig, daß Deutschland seine Handlungsfähigkeit herstellt. Deswegen muß die Selbstblockade überwunden werden, zu der wir es gebracht haben. Wir müssen handlungsfähig werden!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das zweite: Der Einsatz unserer Soldaten muß politisch und rechtlich zweifelsfrei gesichert sein.
Deswegen weise ich all das zurück, was hier zum Teil über meine Vorschläge gesagt worden ist.
Herr Kollege Voigt, was Sie gesagt haben, will ich eben nicht machen — Sie haben gesagt: Entweder ist man der Meinung, das Grundgesetz gibt das nicht her, oder man ist der Meinung, es gibt das her —: Ich will Soldaten nicht als Versuchskaninchen einsetzen, indem ich Einsätze einfach befehle, so nach dem Motto: Dann soll doch das Verfassungsgericht feststellen, ob das Rechtens war oder nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das können wir gegenüber unseren Soldaten nicht verantworten. Die brauchen für ihre Einsätze eine klare rechtliche und politische Grundlage.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In diesem Zusammenhang habe ich gefragt: Wie wollen Sie, wenn es nicht gelingt, zu einer verfassungspolitischen Klarstellung zu kommen, die Blokkade aufbrechen? — Da könnte ein Gesetz ein Weg sein, aber nicht, um Soldaten gleich einzusetzen — das weise ich zurück —, sondern um hier zu einer Klärung vor dem Verfassungsgericht zu kommen. Das ist für mich die oberste Richtschnur. Wir brauchen eine klare rechtliche und politische Grundlage für die Soldaten.
Ich bleibe auch dabei: Die Soldaten brauchen möglichst die Unterstützung des ganzen Deutschen Bundestages für diese schwierigen neuen Einsätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist die Verantwortung, der Sie sich als sozialdemokratische Fraktion in diesem Hause stellen müssen. Wir müssen die Handlungsunfähigkeit Deutschlands überwinden, und wir müssen den Soldaten eine klare rechtliche Basis geben. Das schulden wir den Soldaten, das schulden wir auch der internationalen Rolle Deutschlands. Deshalb müssen wir diese Selbstblokkade jetzt möglichst schnell gemeinsam auflösen und die Grundlagen für solche Einsätze Schulter an Schulter mit unseren europäischen Nachbarstaaten schaff en.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212320300
Der Kollege Kolbow erhält jetzt noch das Wort für eine Kurzintervention.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die Betonung liegt auf „kurz" ! )


Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1212320400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen einer Kurzintervention kann man nicht auf all das entgegnen, was der Kollege Rühe in seiner 25minütigen Rede zur Opposition gesagt hat. Zu dem letzten, was Sie, Herr Kollege Rühe, hier gesagt haben, muß ich allerdings kurz etwas darstellen. Ich tue dies, weil der internationale Einsatz von Streitkräften in unserer Gesellschaft sehr umstritten ist, hier ausnahmsweise nicht mit der Auffassung meiner Fraktion, sondern mit der des Deutschen Bundeswehrverbandes, der die Interessen der Soldaten vertritt.



Walter Kolbow
Dieser Deutsche Bundeswehrverband hat sich mit Nachdruck gegen die Pläne von Bundesverteidigungsminister Rühe gewandt — ich zitiere — „deutsche Soldaten notfalls mit einem Entsendegesetz ohne Grundgesetzänderung an UNO-Kampfeinsätzen zu beteiligen. Man werde nicht hinnehmen, daß auf einer so brüchigen Grundlage die Menschen in den Streitkräften ihr Leben riskierten, während die Politiker in der Heimat darüber stritten, ob der internationale Kriseneinsatz der Soldaten überhaupt rechtmäßig sei.
Der Konsens, Herr Kollege Rühe, zwischen Regierung und Opposition wäre möglich, wenn Sie als Regierung auch mit der F.D.P. eine Gemeinsamkeit herstellen könnten

(Beifall bei der SPD)

und wenn Sie auf unseren Gesetzentwurf zur Verfassungsänderung für den internationalen Einsatz zu friedenserhaltenden Maßnahmen eingingen. Dann würden wir Rechtssicherheit schaffen und auch unsere internationalen Pflichten im Konsens dieses Landes erfüllen. Das verweigern Sie, und dies werfen wir Ihnen vor.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212320500
Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege Hoyer das Wort.

Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1212320600
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wäre sicher sehr leicht, den Konsens in diesem Hause herzustellen, wenn jene Sozialdemokraten, die der Meinung sind, daß Blauhelm-Aktionen nicht das Ende der Straße sein können, sondern daß wir unseren Verpflichtungen notfalls auch durch die Bereitschaft gerecht werden müssen, friedenschaffende Aktionen der Vereinten Nationen zu unterstützen, der Meinung der Liberalen und, wie ich annehme, auch der Meinung der Christdemokraten und Christsozialen und nicht einem imperativen Mandat eines Parteitags folgten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Walter Kolbow [SPD]: Billig! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Ungehoyerlich!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212320700
Herr Kollege Hoyer, es tut mir jetzt leid, daß ich diese Kurzintervention zugelassen habe. Nach unserer Geschäftsordnung ist sie nur zulässig auf die Rede des Herrn Ministers.

(Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sie war aber gut!)

Eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention ist nicht zulässig. Ein zweites Mal machen Sie mir das nicht! So.
Nun liegt mir keine weitere Wortmeldung vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Bevor wir in die Abstimmungen eintreten, möchte ich Ihnen sagen, daß wir eine ganze Reihe von Abstimmungen durchzuführen haben, darunter eine namentliche, aber auch eine Reihe strittiger Abstimmungen. Ich bitte Sie, es mir während jener Abstimmungen, die keine namentlichen sind, nicht zu
erschweren, die Mehrheitsverhältnisse zu erkennen. Die namentliche Abstimmung ist übrigens nicht die erste.
Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Einzelplan 14 — Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung — auf der Drucksache 12/3818. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag bei wenigen Stimmenthaltungen mit großer Mehrheit abgelehnt worden.
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD zum Einzelplan 14 auf der Drucksache 12/3811 ab. Dazu verlangt die SPD namentliche Abstimmung. Ich sage noch einmal: Nach dieser namentlichen Abstimmung folgen andere strittige Abstimmungen.
Ich eröffne die Abstimmung. —
Ich frage, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimme noch abgeben möchte. — Ich frage noch einmal, ob es noch ein Mitglied des Hauses gibt, das seine Stimme abzugeben wünscht, und dazu noch keine Gelegenheit hatte. — Ich frage, ob es noch ein Mitglied dieses Hauses gibt, das noch abstimmen möchte. — Dies scheint nicht der Fall zu sein.
Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen, und bitte Sie, den Volksauflauf zu beenden.
Das Ergebnis der Abstimmung über diesen Änderungsantrag werden wir Ihnen später bekanntgeben *). Erst dann können wir über den Einzelplan 14 abstimmen.

(Unruhe)

— Ich darf Sie noch einmal ganz herzlich bitten, Platz zu nehmen. Das gilt übrigens für alle hier, auch für die Schriftführer.

(Anhaltende Unruhe)

— Ich darf auch die Damen und Herren von der Regierungsbank bitten, Platz zu nehmen.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Aber selbstverständlich, Frau Präsidentin!)

— Herzlichen Dank. — Das gilt für alle dort! — Wunderbar. Irgendwann schafft man hier schon wieder Ordnung. So.
Wir kommen jetzt zu den weiteren Abstimmungen.
Wer stimmt für den Einzelplan 35 — Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte — in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 35 in der Ausschußfassung angenommen.
Jetzt stimmen wir ab über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Bericht zur Schließung des Übungsplatzes Nordhorn-Range —
*) Ergebnis Seite 10573C



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Drucksachen 12/537 und 12/3691. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Privatisierung der Heimbetriebsgesellschaft der Bundeswehr — Drucksachen 12/1292 und 12/3693. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Jetzt kommen wir noch zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer zurückverwiesenen Entschließung zum Haushaltsgesetz 1991 auf der Drucksache 12/3758 (neu). Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei wenigen Gegenstimmen und wenigen Stimmenthaltungen angenommen.
Ich rufe den Einzelplan 23 auf: Einzelplan 23
Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit
— Drucksachen 12/3521, 12/3530 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Esters Dr. Christian Neuling
Werner Zywietz
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Das ist im Prinzip beschlossen.
Nun haben die Kollegen Helmut Esters, Christian Neuling, Konrad Weiß, Ulrich Briefs, Werner Zywietz, die Kollegin Ulla Fischer und der Bundesminister Carl-Dieter Spranger das dringende Bedürfnis, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Dazu bräuchte ich Ihr Einverständnis. Sehe ich irgendeinen Widerspruch dagegen, dieses zu erteilen?

(Beifall)

— Das ist nicht der Fall. Das ist beschlossen. *) Damit ist die Aussprache geschlossen.
Ich darf zur Abstimmung kommen. Ich frage, wer für den Einzelplan 23 in der Ausschußfassung stimmt. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 23 angenommen.
Ich rufe jetzt auf: Einzelplan 06
Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern
— Drucksachen 12/3506, 12/3530 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Deres
Rudolf Purps
Ina Albowitz
*) Anlage 2
Einzelplan 33
Versorgung
— Drucksache 12/3526 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Ina Albowitz
Rudolf Purps
Einzelplan 36
Zivile Verteidigung
— Drucksachen 12/3528, 12/3530 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Rudolf Purps
Ina Albowitz
Zu den Einzelplänen 06 und 36 liegt je ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache über alle drei Einzelpläne zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Das ist beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Kollege Rudolf Purps.

Rudolf Purps (SPD):
Rede ID: ID1212320800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist eine etwas ungewöhnliche Situation, daß der Innenhaushalt mit seinen zentralen Themen, die ja heute morgen unsere Vorreiter zu Pferde stark bewegten, nämlich von Asyl über Rassismus bis hin zur inneren Sicherheit, zu einer Zeit verhandelt wird, wie wir das in der Vergangenheit nicht gekannt haben, Herr Minister. Zu den guten Presse- und Medienzeiten wurde heute die Außenpolitik — F.D.P. — verhandelt und soll morgen die Wirtschaftspolitik — F.D.P. — verhandelt werden. Das zeigt: Der Innenminister kann sich nicht durchsetzen oder kann sich auf seine Truppen nicht mehr verlassen. Er wird am Abend versteckt; denn mit ihm ist nicht mehr so viel Staat zu machen — mit seinem Haushalt übrigens auch nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schon bei der Aufstellung dieses Haushalts, Herr Minister, wurde kräftig geschludert; denn wie sonst wäre es möglich, daß zu den Berichterstattergesprächen am 12. Oktober aus Ihrem Hause schon 200 Blatt Änderungsanträge gekommen sind? Schon da war also das, was Sie dem Kabinett vorgelegt hatten, Makulatur. Sie mußten 200 Änderungen nachschieben. Das zeigt: In Ihrem Haus haben Sie nichts im Griff. Ein Haushalt, der drei Monate später schon in einem solchen Umfang korrigiert werden muß, ist nicht sorgfältig erarbeitet.
Auch das jetzt vorliegende Ergebnis, nach dem Durchgang durch den Haushaltsausschuß, Herr Minister, ist Makulatur. Der Nachtrag steht vor der Tür. Sie werden da, wie man hört, kräftig bluten müssen.
Haushaltsdebatte heißt Bewertung des kommenden Haushaltsjahrs, dessen, was vorgelegt worden ist, unter Berücksichtigung dessen, was im laufenden Haushaltsjahr gewesen ist. Beim Haushalt 1993 wird nun deutlich, daß der Innenminister den Aufgaben



Rudolf Purps
und Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht wird.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ist ja unglaublich!)

Ich frage: Ist er seinem Arbeitsauftrag nachgekommen, oder hat er ihn nicht ausgeführt, hat er ihn schlecht ausgeführt, hat er ihn falsch ausgeführt, oder hat er ihn nur unter erheblichem Druck ausgeführt?

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr gut hat er ihn ausgeführt!)

Das Studium des Haushalts des Innenministers zeigt in jedem Falle: Von tatkräftiger Bewältigung anstehender Probleme und von zukunftsweisender Zielrichtung kann überhaupt nicht die Rede sein.

(Beifall bei der SPD — Johannes Gerster [Mainz)

CSU]: Das kann nur einer von der SPD
gewesen sein! So ein Quatsch! — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das nehmen Sie
sofort zurück! — Weitere Zurufe von der
CDU/CSU)
Wie ich schon sagte: Der Haushaltsentwurf 1993 ist nicht ausgereift. Wenn nach drei Monaten — wie eben schon gesagt — bereits 200 Blatt neu belegt werden müssen, dann sage ich: Dies hätte bei sauberer Haushaltsaufstellung eingearbeitet werden können. Wie wir festgestellt haben, wird all das, was eigentlich hätte eingearbeitet werden können, in den Nachtragshaushalt verschoben. So ist man immer schön am Rande des Verfassungsgemäßen herumgeschlichen. Ich muß Ihnen sagen: Dies liegt nicht an Ihrer Haushaltsabteilung, sondern es liegt eindeutig an dem Durcheinander und an dem Tohuwabohu in Ihrem Haus allgemein.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das geht aber entschieden zu weit!)

Durcheinander Nummer eins, Herr Kollege Bötsch:

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Nur in der SPD ist Ordnung! Das wissen wir!)

die Neuordnung der Rundfunkanstalten. Durch Verzögerung und Taktiererei, die im wesentlichen von der Regierung gegenüber den Ländern ausging, ist es nun so weit gekommen, daß der deutsche Gebührenzahler seit einem Jahr 75 Pfennige monatlich für einen Geisterrundfunk ausgibt, der sich „Nationales Hörfunkprogramm" nennt. Die 75 Pfennige liegen — von den Rundfunkanstalten wohlbehütet und verwaltet—auf Festgeldkonten — das bringt ja zur Zeit gutes Geld —, nämlich insgesamt mehr als 200 Millionen DM.
Dieser meines Erachtens rechtlich nicht haltbare Zustand wird natürlich dadurch verschärft, daß der Deutschlandfunk bis zur endgültigen gebührenrechtlichen Klärung aus dem Bundeshaushalt bezahlt werden muß. So wird weiterhin der Bürger zweimal zur Kasse gebeten: einmal über die Gebühren und einmal über die Steuern. Ob es dem Bund gelingen wird, seine Aufwendungen für 1993 und das zweite Halbjahr 1992 aus dem Gebührenaufkommen erstattet zu
bekommen, wage ich bei der Gripsigkeit der Rundfunkanstalten und ihrer guten Rechtsabteilungen sehr zu bezweifeln. Jedenfalls steht eines fest: Der Bürger ist der Dumme; er zahlt doppelt.
Durcheinander Nummer zwei: die Sportförderung. Während es noch im Frühjahr dieses Jahres so aussah, Herr Minister Seiters, als könnten Sie sich dafür erwärmen, den Breitensport in den neuen Ländern nach dem Muster des Goldenen Plans eine Anschubfinanzierung zu gewähren — wir haben darüber gesprochen, und ich war ganz erschrocken, daß Sie sich sozialdemokratischen Positionen näherten —, so ist dies mit Beginn der Haushaltsberatungen in der Koalition wieder gestorben.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wenn der Goldene Plan eine SPD-Erfindung ist, kommt Frau Matthäus-Maier aus Marokko!)

— Aber Herr Marschewski, nun hören Sie einmal gut zu, Sie sind doch ein lernfähiges Instrument!
Statt den unabweisbaren Sportstättenbedarf in den neuen Ländern zu unterstützen und mit einem Goldenen Plan den Aufbau der Sportstätten im investiven Bereich — ich betone: im investiven Bereich — zu fördern, haben Sie wieder einmal Doppelstrategie gespielt. Im Sportausschuß wird gefordert, da ist man sich einig, und im Haushaltsausschuß auch, nur andersherum, da wird gestrichen. Das geht immer nach dem Motto: Zustimmung im Sportausschuß erteilt, da Ablehnung im Haushaltsausschuß gesichert.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist bei euch auch so!)

Diese Strategie, meine Damen und Herren von der Koalition, mögen Sie bitte den Sportlern draußen erklären. Ich hoffe, es sind noch einige da, die das vielleicht einmal nachlesen oder sonstwie zur Kenntnis gebracht bekommen. Ich gehe davon aus, daß unsere Kollegen aus dem Sportausschuß dies nicht nur bereits in der Sportausschußsitzung kräftig angemahnt haben, sondern auch durch entsprechende Hinweise gegenüber der Presse deutlich machen werden.

(Uwe Lambinus [SPD]: Sehr richtig! — Ina Albowitz [F.D.P.]: Nur der Schmidt ist dabei! Ihr müßt da erst Fraktionsberatungen machen!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212320900
Herr Kollege Purps, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?

Rudolf Purps (SPD):
Rede ID: ID1212321000
Aber gern.

Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212321100
Herr Kollege Purps, können Sie bestätigen, daß die Kürzungen im Sporthaushalt mit mehr als 7 % weit über dem Durchschnitt aller Kürzungen in diesem Haushalt liegen?

Rudolf Purps (SPD):
Rede ID: ID1212321200
Das kann ich selbstverständlich, Herr Kollege Schmidt, bestätigen. Ich kann darüber hinausgehen und sagen, daß das Damoklesschwert der globalen Minderausgaben natürlich weiterhin über allen Sporttiteln schwebt. Wenn man einmal 50 Millionen DM in der Steinbruchliste vorge-



Rudolf Purps
sehen hatte und das alles dann, weil man ein bißchen Angst davor hatte, beschossen zu werden, in die globale Minderausgabe packt, dann muß man sich nicht wundern, wenn über die Ausführung der globalen Minderausgabe der Sport noch einmal kräftig zur Kasse gebeten wird. Aber dann war es ja nicht die Koalition, dann war es nicht der Minister; dann waren es irgendwelche Beamte. Was hier geschieht, ist unfair und parlamentarisch höchst unsauber.

(Beifall bei der SPD)

Jedenfalls sollten Sie sich, Herr Kollege Seiters, als Sportminister in Zukunft verkneifen, auf die großzügige Förderung des Sports durch die Bundesregierung hinzuweisen; Sie könnten Pfiffe oder Lachsalven ernten, und das möchte ich Ihnen ersparen.
Daß das Kölner Sportmuseum ohne Bundesförderung praktisch nicht mehr errichtbar ist und die sportwissenschaftliche Forschung durch weitere Kappungen beeinträchtigt wurde, will ich nur am Rande erwähnen. Da kann auch die Tatsache nicht trösten, daß das umstrittene Rehabilitationszentrum Königsbrunn, eines der interessantesten Gebilde der letzten Zeit, nun endgültig durch die Maschen fällt.
Wir kommen zum Durcheinander Nummer drei. Das ist die Kulturpolitik. Bei den Beratungen im vorigen Jahr wurde beschlossen, mit Ende dieses Jahres das Sonderprogramm zur Substanzerhaltung der Kultur in den neuen Bundesländem auslaufen zu lassen. Schon damals, sehr geehrter Herr Minister, habe ich Sie aufgefordert, diesen Beschluß der Koalition im Haushaltsausschuß rückgängig zu machen, da er völlig an der Sache vorbeiging.
Manchmal ist es schön, wenn man sich selber zitieren darf. Ich tue das. Ich zitiere aus meiner Haushaltsrede vom 28. November 1991:
Ich prophezeie Ihnen: Dieser Titel wird wieder aufgemacht werden. Ich fordere Sie, Herr Bundesminister Seiters, auf, für den Haushalt 1993 diesen Titel wieder zu öffnen und mit den notwendigen Mitteln auszustatten.

(Beifall bei der SPD)

Insoweit, Herr Minister, muß ich Sie loben. Sie sind dieser Aufforderung nachgekommen und haben im Haushaltsentwurf 310 Millionen DM für die Kulturförderung wieder eingestellt, die dann, nachdem sich auch der Bundeskanzler der Angelegenheit angenommen hatte, auf 600 Millionen DM aufgestockt wurden. Damit ist die Koalition einem Anliegen der SPD-Fraktion gefolgt, die in diesem Jahr bereits in einem Antrag die Weiterführung und Verstetigung der Kulturförderung in den neuen Bundesländern bis 1995 gefordert hatte.
Die Frage ist nur, meine Damen und Herren von der Koalition und Herr Bundesminister: Warum muß dies immer alles nach dem Motto: „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln" gehen?

(Ina Albowitz [F.D.P.]: So ist das Leben!)

Wenn nach vielen Konferenzen, Gesprächen, Dienstreisen, Besprechungen — auch die kosten schließlich eine Menge Geld — nach einem Jahr letztlich nichts anderes herauskommt als das, was die SPD schon vor
einem Jahr gefordert hat, dann hätten Sie sich diesen ganzen Wust von Arbeit und Besprechungen doch sparen können.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Sag' das nicht!)

Ich schlage Ihnen vor: Lassen Sie uns in ähnlich gelagerten Fällen in Zukunft bei Anträgen der SPD als Antragsteller die CDU/CSU und F.D.P. hinzufügen und dann die Dinge in einem gemeinsamen Antrag „Sparen für den Bürger" erledigen.

(Beifall bei der SPD)

Wann, Herr Bundesminister, werden wir endlich das Gesamtkonzept der Gedenk- und Mahnstätten in der Bundesrepublik Deutschland erhalten? Selbst unter Berücksichtigung, daß es sich um ein äußerst sensibles und schwieriges Aufgabengebiet handelt, ist festzustellen, daß zwei Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit diese Aufgabe erst in den groben Umrissen geleistet ist und noch in den Feinarbeiten ausgeführt werden muß. Ich glaube auch, daß es gerade in Hinsicht auf die Diskussion der letzten Monate und der letzten Tage über Ausländerfeindlichkeit und Radikalismus nötig ist, dieses Konzept so schnell wie möglich und — ich betone — so einvernehmlich wie möglich vorzulegen und zu beschließen. Ich fordere Sie auf, diese nationale Aufgabe mit Nachdruck voranzutreiben, damit wir 1993 zu einem positiven Abschluß kommen können.
Zwei Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit fragen sich immer mehr Bürger, ob wirklich zusammenwächst, was zusammengehört. Ich möchte hier nicht auf wirtschaftliche Prozesse eingehen, sondern auf das, was in den Köpfen und den Herzen der Menschen in den neuen und den alten Bundesländern vorgeht. Jene Barrieren, die in 40 Jahren Teilung gewachsen sind, können — darüber waren sich eigentlich alle klar —, nicht in kürzester Zeit fortgeräumt werden.
Die Freude über die Einheit, die Euphorie der ersten Monate, die im finanziellen Bereich durch diese Bundesregierung in unverantwortlicher Weise geschürt wurde, können über eines nicht hinwegtäuschen: Der jetzt einsetzende graue Alltag verlangt mehr und konstantere Arbeit im Überwinden dieser Barriere „hüben" und „drüben"; ich verwende im Augenblick bewußt diese alten Formulierungen.
Aber statt, Herr Innenminister, die notwendigen Mittel für die Bildungsarbeit — heute wurde hier auch viel von Bildung und Erziehung gesprochen — aufzustocken, um Toleranz und Miteinander als grunddemokratische Werte zu erlernen und zu erleben, werden die Mittel für den Bildungsbereich, auch im deutschlandpolitischen Bildungsbereich, gegen den energischen Widerstand der Sozialdemokraten seit Jahren gekürzt.
Sparen Sie sich bitte — auch bei der Bundesanstalt für politische Bildung; Sie waren heute da, Herr Staatssekretär — die großen Worte, wenn Sie die Mittel nicht zur Verfügung stellen, die dringend notwendig sind, um auch in diesem Bereich dafür zu sorgen, daß das, was wir alle wünschen, Wirklichkeit wird: das Zusammenwachsen dieses Landes und das



Rudolf Purps
Mehr an Miteinander statt des Gegeneinanders, wie es sich in vielen Bereichen zur Zeit zeigt.
Ich will nicht behaupten, daß Ausschreitungen gegen Ausländer, Tendenzen zum Rechtsradikalismus und alle diese häßlichen und entsetzlichen Dinge der letzten Jahre und insbesondere der letzten Tage durch vermehrte Bildungsarbeit hätte vermieden werden können. Aber ich sage Ihnen: Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß durch die Vernachlässigung des Bildungsbereichs, die in den letzten Jahren eingetreten ist, dieser unsäglichen Entwicklung nicht genügend entgegengesteuert wurde.
Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind neben anderem Nährböden des Radikalismus; das wissen wir. Aber man kann diese Entwicklungen nicht nur durch AB-Maßnahmen — die kürzen Sie auch noch — entgegenwirken. Hier muß die Bildungspolitik tätig werden. Dies ist nicht in genügendem Umfang geschehen. Wir können uns die großen Worte über die Notwendigkeit neuer Bildungs- und Erziehungsarbeit sparen, wenn wir nicht zugleich die Mittel für diesen Bereich zur Verfügung stellen.
Ich hätte erwartet, Herr Kollege Seiters, daß Sie in diesem Bereich Ihre Kraft und Ihren Einfluß im Kabinett stärker geltend gemacht hätten, auch gegenüber dem Finanzminister.

(Beifall bei der SPD)

Es handelt sich hierbei nicht um viel Geld; es sind nicht die großen Millionen- und Milliardenbeträge. 10 oder 15 Millionen DM, in diesen Bereichen zusätzlich eingesetzt, hätten Ihnen gut angestanden und wären im Einzelplan 06 auch ohne weiteres durch Umschichtungen zu bewirtschaften gewesen.
Statt dessen haben Sie sich mit anderen Dingen zu beschäftigen gehabt: mit der isolierten Forderung nach Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes und damit, eine Situation und eine Stimmung zu schüren, die schon explosiv genug ist.
Anstatt dafür zu sorgen, daß die im letzten Jahr gefaßten Beschlüsse zur Personalausstattung in Zirndorf so zügig und schnell wie möglich durchgeführt werden, hat man eher den Eindruck gehabt, daß Sie, da Sie ja eigentlich eine ganz andere Lösung wollen, dieser Aufgabe nur unzulänglich nachkommen.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Also, das ist nun wirklich nicht richtig! Das können Sie vergessen!)

Ich bestreite nicht, daß auch die Länder ihren Pflichten im Bereich der Entscheider unzureichend nachgekommen sind.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na also!)

Und ich kritisiere dies genauso. Aber dann habe ich, Herr Kollege, das Recht, den Innenminister da zu kritisieren, wo er offensichtlich Defizite hatte und weiterhin hat.

(Beifall bei der SPD)

Selbst wenn die Länder so gehandelt haben, entbindet das Sie, Herr Innenminister, keineswegs von der Verpflichtung, in Ihrem ureigensten Bereich nachdrücklich dafür zu sorgen, daß die angestrebten Ziele des Beschleunigungsgesetzes so schnell wie möglich erreicht werden konnten.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1212321300
Herr Kollege Purps, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Gerster?

Rudolf Purps (SPD):
Rede ID: ID1212321400
Nein, ich möchte meine Ausführungen jetzt zu Ende bringen können, weil meine Zeit es kaum noch zuläßt und ich die Ökonomie der Kollegen auch nicht überstrapazieren möchte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine gute Rede soll man nicht unterbrechen!)

Wenn Sie erst nach ernsthaften Hinweisen aus der Öffentlichkeit und aus der SPD dazu übergegangen sind, in einer von Ihnen so genannten „Zwangskollekte" Mitarbeiter aus den Ministerien herauszukämmen und für ein Jahr — übrigens mit einem sehr guten Zubrot versehen, das muß man sagen — nach Zirndorf zu schicken, dann hätten Sie diese Maßnahme bereits im Frühjahr dieses Jahres einleiten können und nicht erst dann, wenn die Situation unerträglich wird.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der Mann hat keine Ahnung!)

Sie haben im Haushaltsausschuß angesichts der neuen Situation, nämlich der Tatsache, daß 150 000 Menschen mehr Asylanträge gestellt haben oder stellen werden, eine nochmalige Aufstockung des BAFL gefordert und sind damit Ihren Pflichten, Herr Minister, formal nachgekommen. Daß Ihre ständige Forderung nach Änderung des Art. 16 in keiner Weise zu dieser Forderung paßt, will ich hier nur am Rande erwähnen.
Die Koalition ist Ihrem berechtigten Begehren — ich sage: berechtigten Begehren — nicht nachgekommen. Sie, Herr Innenminister, sind vor der Koalition und dem Finanzminister zurückgewichen. Eine Woche, nachdem Sie mit guten Argumenten im Haushaltsausschuß diese Forderung vorgetragen haben und die Unterstützung der SPD fanden, war kein Wort des Protestes von Ihrem Haus und von Ihnen zu hören. Also, entweder war das ganze ein Scheingefecht, oder, Herr Minister, Sie haben nicht die Kraft, berechtigte Forderungen gegenüber dem Finanzminister durchzusetzen. Sei es, wie es sei, der Innenminister ist am Finanzminister gescheitert.
Statt gebetsmühlenartig immer wieder die Forderung nach Änderung des Art. 16 zu erheben, hätten Sie längst darauf drängen müssen, eine Vorlage der Koalition zur Lösung der Gesamtproblematik vorzulegen,

(Beifall bei der SPD)

und zwar zur Lösung der Gesamtproblematik von Zuwanderung, Einwanderung, Kriegsflüchtlingen und Armutswanderungen sowie Asyl. Die SPD hat auf dem Bundesparteitag ihren Teil geleistet. Die Bürger erwarten Lösungen von uns, wenn nicht am Ende Demokratieverdrossenheit das Ergebnis der Auseinandersetzung sein soll.
Und wenn das nicht so sein soll, so ist es in dieser Situation notwendig, Maßanzüge, Herr Minister, für



Rudolf Purps
die unterschiedlichen Motive und Hintergründe von Zu- und Einwanderung zu schneidern, anstatt die Problematik durch die isolierte Änderung des Art. 16 einer Scheinlösung zuführen zu wollen. Denn Sie, Herr Kollege Seiters, und alle anderen in diesem Hause wissen, daß eine rein isolierte Änderung des Art. 16 nichts, aber auch gar nichts löst, sondern nur jetzige Asylbewerber in die illegale Einwanderung drückt.
Obwohl Sie wissen, daß es so kommen wird, ist der von Ihnen zu verantwortende Bundesgrenzschutz überhaupt nicht in der Lage, die illegale Einwanderung wirkungsvoll zu stoppen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im übrigen sind Sie als Chef des Bundesgrenzschutzes Ihrer Fürsorgepflicht gegenüber diesem nicht nachgekommen. Über 4 000 Stellen sind erstens nicht besetzt, und die dringend notwendige Umwandlung von Stellen des mittleren Dienstes in Stellen des gehobenen Dienstes, so wie das bei den Länderpolizeien nun geschieht, wird von Ihnen nur äußerst unzulänglich angegangen. So ist es schon eine groteske Situation.
Die illegale Einwanderung, die Sie provozieren,

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na, also jetzt hören Sie auf!)

können Sie aus Personalmangel, verschuldet durch Ihre Personalpolitik beim Bundesgrenzschutz, nicht stoppen. Statt dessen fordern Sie die Bundeswehr an und wissen, daß die Bundeswehr für diese Aufgaben nicht zur Verfügung steht.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So stellt sich Fritzchen die große Politik vor! Es ist entsetzlich, was Sie da reden!)

Die ganze Situation, Herr Kollege Gerster, ist ein Dokument der Hilflosigkeit dieser Regierung, gemischt mit Unfähigkeit und einer ganz gehörigen Portion Ignoranz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Minister Seiters, ich fordere Sie auf, mit den Sozialdemokraten gemeinsam zu einer konstruktiven Lösung der Zuwanderungs- und Asylproblematik zu kommen. Sie haben Gelegenheit, am Wochenende hier Entscheidendes zu bewegen. Die Bürger warten bei Ihnen darauf. Sie warten auch bei der SPD darauf.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Nach dieser Rede erwarten sie von der SPD nichts mehr!)

Wenn wir uns hier bewegen, werden wir zu einem Ergebnis kommen. Nur muß bitte auch klargestellt werden, wer in der Vergangenheit mehr Brandstifter als Biedermann gewesen ist. Und, Herr Gerster, Sie verstehen davon sehr viel.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie allerdings, meine Damen und Herren von der CDU und insbesondere auch der CSU, Parteitaktik über staatspolitische Notwendigkeiten stellen wollen,

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Pakken Sie erst einmal die Hände aus der Hosentasche!)

dann sollten Sie besser das Feld räumen. Es steht mehr auf dem Spiel, Herr Kollege, als nur die Reputation der Parteien. Es stehen auf dem Spiel die Fragen der Akzeptanz der Demokratie in weiten Teilen unserer Bevölkerung.
Meine Damen und Herren und Kollegen, der Haushalt enthält auf die drängenden Fragen der Gegenwart nur unzulängliche oder gar keine Antworten. Wir lehnen ihn ab.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212321500
Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 bekanntgeben. Abgegebene Stimmen 541, ungültig keine. Mit Ja haben 201 gestimmt, mit Nein haben 337 gestimmt. Enthaltungen 3.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 541; davon:
j a: 200
nein: 338
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Dr. Faltlhauser, Kurt SPD
Adler, Brigitte
Antretter, Robert
Bachmaier, Hermann
Barbe, Angelika
Bartsch, Holger
Becker (Nienberge), Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf
Blunck, Lieselott
Bock, Thea
Dr. Böhme (Unna), Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, Anni
Dr. Brecht, Eberhard
Büchner (Speyer), Peter Dr. von Bülow, Andreas Bulmahn, Edelgard
Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter
Dr. Däubler-Gmelin, Herta Dr. Diederich (Berlin), Nils Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese Ebert, Eike
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke (Bonn), Horst
Eich, Ludwig
Dr. Elmer, Konrad Erler, Gernot
Esters, Helmut
Ewen, Carl
Ferner, Elke
Fischer (Gräfenhainichen), Evelin
Fischer (Homburg), Lothar Fuchs (Verl), Katrin Gansel, Norbert
Gilges, Konrad Gleicke, Iris
Dr. Glotz, Peter Graf, Günter
Großmann, Achim Haack (Extertal),
Karl Hermann Habermann, Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel Hasenfratz, Klaus
Dr. Hauchler, Ingomar Heistermann, Dieter Heyenn, Günther
Hiller (Lübeck), Reinhold Hilsberg, Stephan
Horn, Erwin
Huonker, Gunter Iwersen, Gabriele Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Janzen, Ulrich Dr. Jens, Uwe
Jung (Düsseldorf), Volker Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, Susanne
Kastning, Ernst Kirschner, Klaus Klappert, Marianne
Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, Siegrun
Dr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbow, Walter
Koltzsch, Rolf



Koschnick, Hans
Dr. Kübler, Klaus
Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe
Lambinus, Uwe
Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev Leidinger, Robert
Dr. Leonhard-Schmid, Elke Dr. Lucyga, Christine Maaß (Herne), Dieter Mascher, Ulrike
Matschie, Christoph Dr. Matterne, Dietmar Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Meißner, Herbert
Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Mosdorf, Siegmar
Müller (Düsseldorf), Michael Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Neumann (Bramsche), Volker Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, Edith
Dr. Niese, Rolf
Oostergetelo, Jan
Opel, Manfred
Ostertag, Adolf
Dr. Otto, Helga
Paterna, Peter
Dr. Penner, Willfried Peter (Kassel), Horst Dr. Pfaff, Martin
Dr. Pick, Eckhart
Poß, Joachim
Purps, Rudolf
Reimann, Manfred Rennebach, Renate Rixe, Günter
Roth, Wolfgang Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter
Schily, Otto
Schloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer (Nürnberg),
Horst
Schmidt (Aachen), Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen Dr. Schnell, Emil
Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela
Schütz, Dietmar
Dr. Schuster, R. Werner Schwanitz, Rolf
Seidenthal, Bodo
Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Soell, Hartmut
Sorge, Wieland
Steen, Antje-Marie Steiner, Heinz-Alfred Stiegler, Ludwig
Dr. Struck, Peter
Tappe, Joachim
Dr. Thalheim, Gerald Titze, Uta
Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried Verheugen, Günter
Dr. Vogel, Hans-Jochen Voigt (Frankfurt), Karsten D. Wagner, Hans Georg Wallow, Hans
Waltemathe, Ernst
Walter (Cochem), Ralf Walther (Zierenberg), Rudi Wartenberg (Berlin), Gerd
Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weiler, Barbara
Weis (Stendal), Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Wetzel, Margrit
Weyel, Gudrun
Dr. Wieczorek, Norbert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, Dieter
Wimmer (Neuötting),
Hermann
Dr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Zapf, Uta
F.D.P.
Grünbeck, Josef
Schäfer (Mainz), Helmut Schüßler, Gerhard
PDS/Linke Liste
Bläss, Petra
Dr. Enkelmann, Dagmar
Dr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth
Jelpke, Ulla
Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philip, Ingeborg Stachowa, Angela
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, Ingrid
Poppe, Gerd
Schenk, Christina
Schulz (Berlin), Werner Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, Vera
Fraktionslos
Dr. Briefs, Ulrich Henn, Bernd
Nein
CDU/CSU
Dr. Ackermann, Else Adam, Ulrich
Dr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter
Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Bayha, Richard
Belle, Meinrad
Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert
Böhm (Melsungen), Wilfried Dr. Böhmer, Maria
Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang
Bohl, Friedrich
Bohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Brähmig, Klaus
Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler (Bruchsal), Klaus Büttner (Schönebeck),
Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens (Emstek), Manfred Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud
Deres, Karl
Deß, Albert
Diemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, Udo
Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eylmann, Horst
Eymer, Anke
Falk, Ilse
Dr. Fell, Karl H.
Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, Herbert
Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim
Ganz (St. Wendel), Johannes Geiger, Michaela
Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geis, Norbert
Dr. von Geldern, Wolfgang Gerster (Mainz), Johannes Gibtner, Horst
Glos, Michael
Göttsching, Martin Götz, Peter
Grochtmann, Elisabeth Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Günther (Duisburg), Horst Harries, Klaus
Haschke (Großhennersdorf), Gottfried
Haschke (Jena-Ost), Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer
Hauser (Esslingen), Otto Hauser (Rednitzhembach), Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen Heise, Manfred
Dr. Hellwig, Renate
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, Ernst
Hintze, Peter
Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, Joachim
Dr. Hoffacker, Paul Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, Hubert
Jäger, Claus
Jaffke, Susanne
Jagoda, Bernhard Janovsky, Georg Jeltsch, Karin
Dr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Jüttner, Egon Junghanns, Ulrich Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, Volker
Keller, Peter
Kiechle, Ignaz
Kittelmann, Peter Klein (Bremen), Günter
Klein (München), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler (Hainspitz),
Hans-Ulrich
Dr. Köhler (Wolfsburg), Volkmar
Kolbe, Manfred Koschyk, Hartmut Kossendey, Thomas Kraus, Rudolf
Dr. Krause (Bonese), Rudolf Karl
Krause (Dessau), Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf
Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert Lattmann, Herbert Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Dr. Lehr, Ursula Lenzer, Christian Limbach, Editha
Link (Diepholz), Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold (Offenbach),
Klaus W.
Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun Lohmann (Lüdenscheid),
Wolfgang
Louven, Julius
Dr. Luther, Michael
Maaß (Wilhelmshaven), Erich Männle, Ursula
Magin, Theo
Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Marten, Günter
Dr. Mayer (Siegertsbrunn),
Martin
Meckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf
Dr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup, Reinhard
Michalk, Maria Michels, Meinolf Dr. Mildner, Klaus Dr. Möller, Franz Molnar, Thomas
Müller (Kirchheim), Elmar Müller (Wadern),
Hans-Werner
Nelle, Engelbert
Dr. Neuling, Christian Nitsch, Johannes Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm Oswald, Eduard Otto (Erfurt), Norbert
Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm



Petzold, Ulrich
Pfeffermann, Gerhard O. Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero
Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Protzner, Bernd
Rahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf
Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm
Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika
Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert
Dr. Riedl (München), Erich Riegert, Klaus
Dr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode (Wietzen), Helmut Rönsch (Wiesbaden),
Hannelore
Romer, Franz
Dr. Rose, Klaus
Rossmanith, Kurt J. Roth (Gießen), Adolf Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker
Dr. Rüttgers, Jürgen Sauer (Salzgitter), Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Scharrenbroich, Heribert Schätzle, Ortrun
Schemken, Heinz Scheu, Gerhard
Schmalz, Ulrich
Schmidbauer, Bernd Schmidt (Fürth), Christian
Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke),
Joachim
Schmidt (Mülheim), Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),
Hans Peter
von Schmude, Michael
Dr. Schockenhoff, Andreas Graf von Schönburg-
Glauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,
Reinhard

(Schwäbisch Gmünd)

Schulz (Leipzig), Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, Stefan
Dr. Schwarz-Schilling, Christian
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst
Seesing, Heinrich Seibel, Wilfried
Seiters, Rudolf
Sikora, Jürgen
Skowron, Werner H.
Dr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter
Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika
Dr. Stercken, Hans
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd
Stübgen, Michael
Susset, Egon
Tillmann, Ferdi
Dr. Töpfer, Klaus
Uldall, Gunnar
Verhülsdonk, Roswitha Vogel (Ennepetal), Friedrich Vogt (Düren), Wolfgang
Dr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, Theodor
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Werner (Ulm), Herbert Wetzel, Kersten
Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek (Auerbach), Bertram
Dr. Wilms, Dorothee Wilz, Bernd
Wimmer (Neuss), Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz
Wittmann (Tännesberg), Simon
Wonneberger, Michael Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zierer, Benno
Zöller, Wolfgang
F.D.P.
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela Baum, Gerhart Rudolf
Dr. Blunk, Michaela Bredehorn, Günther Eimer (Fürth), Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, Jörg Friedhoff, Paul K. Friedrich, Horst Gallus, Georg Ganschow, Jörg
Genscher, Hans-Dietrich Grüner, Martin
Günther (Plauen), Joachim
Dr. Guttmacher, Karlheinz Hackel, Heinz-Dieter
Hansen, Dirk
Heinrich, Ulrich
Dr. Hitschler, Walter
Dr. Hoth, Sigrid Dr. Hoyer, Werner Irmer, Ulrich
Kleinert (Hannover), Detlef Dr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, Jürgen
Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Lüder, Wolfgang
Dr. Menzel, Bruno Möllemann, Jürgen W. Nolting, Günther Friedrich
Dr. Ortleb, Rainer Otto (Frankfurt), Hans-Joachim Paintner, Johann Peters, Lisa
Dr. Pohl, Eva
Richter (Bremerhaven), Manfred
Rind, Hermann Dr. Röhl, Klaus Schmalz-Jacobsen, Cornelia
Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schmieder, Jürgen Dr. Schnittler, Christoph Schuster, Hans
Sehn, Marita Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, Sigrid
Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Starnick, Jürgen
Dr. von Teichman, Cornelia Thiele, Carl-Ludwig
Dr. Thomae, Dieter
Timm, Jürgen
Walz, Ingrid
Dr. Weng (Gerlingen), Wolfgang
Wolfgramm (Göttingen), Torsten
Würfel, Uta
Zurheide, Burkhard Zywietz, Werner
Fraktionslos Lowack, Ortwin
Enthalten
F.D.P.
Dr. Funke-Schmitt-Rink, Margret
Dr. Hirsch, Burkhard Türk, Jürgen
Damit ist der Antrag abgelehnt.
Ich bin in der Lage, Sie zu bitten, über den Einzelplan 14, also Verteidigung, in der Ausschußfassung abzustimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —Enthaltungen? — Wohl keine, denn alle haben abgestimmt. Damit ist der Einzelplan 14, Verteidigung, mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Meine Damen und Herren, erfreulicherweise habe ich die Gelegenheit, Sie zu bitten, zuzustimmen, daß zu dem laufenden Tagesordnungspunkt III, also Einzelplan 06 und andere, drei Reden zu Protokoll gegeben worden sind, und zwar von den Abgeordneten Frau Köppe, Frau Stachowa und Frau Jelpke. Ich muß nur formal die Zustimmung des Hauses einholen, damit der Geschäftsordnung Genüge getan wird. — Die Zustimmung wird offensichtlich erteilt.*)
Wir können in der Debatte fortfahren. Herr Abgeordneter Deres hat das Wort.

Karl Deres (CDU):
Rede ID: ID1212321600
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Haushaltsausschuß häuft sich die Arbeit oft so, daß wir kaum in die politische Diskussion einsteigen können und uns mit der Sachdiskussion nur in sehr engem Rahmen befassen können. Der große Vorsitzende, der Kollege Rudi Walther von der SPD, sagt auch immer zwischendurch, wenn wir trotzdem in die Politik geraten: Das können wir alles im Plenum sagen. Ich gehe davon aus, daß das bei dem Kollegen Purps einen solchen Stau ausgelöst hat, daß er heute abend so viel Dampf abließ, daß selbst die Sache nicht mehr richtig aus der Lokomotive herauskam.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber da wir gerade bei der Lokomotive sind, lassen Sie mich bitte mit einem Bild beginnen, das, wie ich finde, treffend die hinter uns liegenden Beratungen illustriert. Ein alter Indianerhäuptling fuhr mit der frisch eröffneten Eisenbahn im Wilden Westen zu Verhandlungen mit den Weißen. Am Verhandlungsort angekommen, hatte er sich aber erst einmal auf die Gleise gesetzt. Auf die Frage, warum er nicht direkt ins Verhandlungszelt komme, antwortete er: „Mein Körper ist zwar schon da, aber mein Geist ist noch auf der Reise. " — So oder ähnlich ist es mir, vielleicht auch
*) Anlage 3



Karl Deres
manchem von Ihnen, in den vergangenen Wochen ergangen, während wir den Haushalt beraten haben.

(Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU und Zuruf: Sehr gut!)

Immer neue Probleme, neue Wünsche — Bedürfnisse sind ja auch unbegrenzte Wünsche — und immer neue Deckblätter wurden uns in die Hand gedrückt. Mit dem Kopf waren wir noch bei den Vorlagen der vergangenen Sitzung, während beide Hände mit neuen, druckfrischen Vorlagen beladen wurden.

(Zuruf von der SPD: Tohuwabohu!)

Diese Charakterisierung der parlamentarischen Beratung des Etats soll hier wegen der Kürze der Zeit ausreichen.

(Zuruf von der SPD: Die kamen vom Finanzministerium!)

Trotz allem: Das Ergebnis, das wir jetzt vorlegen, ist viel besser als erwartet, und das ist der besondere Ärger der Kollegen der SPD.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Regierungsentwurf sah schon keine Steigerung des Haushalts des Bundesministeriums des Innern mehr vor. Wir wollen ja sparen. In der jetzt vorliegenden Ausschußfassung haben wir darüber hinaus sogar eine Einsparung von über 160 Millionen DM erwirtschaftet. Mit knapp 8,4 Milliarden DM bleibt der Einzelplan 06 um ungefähr 2 % unter dem Regierungsentwurf. Das ist ein beachtliches Ergebnis unserer Spar- und Umschichtungsbeschlüsse.
Es ist uns allen klar: Der Einzelplan des Bundesministeriums des Innern ist mit seinen mehr als 30 Kapiteln schwierig strukturiert. Unter dem Dach dieses Ministeriums sind die unterschiedlichsten Aufgaben zusammengefaßt, die zudem weitgehend kaum etwas miteinander zu tun haben. Das reicht von Ausländer- und Asylangelegenheiten über das Dienstrecht bis hin zu Polizeifragen und Fragen der inneren Sicherheit. Gleichzeitig finden wir dort das Verfassungsrecht ebenso wie den Sport oder die Förderung gesamtstaatlich bedeutsamer Kultur — um nur einige Stichworte zu nennen. Alle diese Bereiche stecken voller aktueller Probleme. Ich werde dazu noch einige Beispiele nennen.
Doch zunächst zu der Struktur dieses Hauses und der nachgeordneten Behörden. Ein großer Teil der Ausgaben entfällt inzwischen auf Personalkosten. Gegenüber 1992 sollte der Personalkostenanteil von etwa 31 % im Regierungsentwurf für 1993 auf immerhin 34 % steigen. Die Personalkürzungen, die wir beschlossen haben, bremsen diese Entwicklung. Natürlich ist ohne qualifiziertes Personal eine funktionierende Verwaltung beim besten Willen nicht denkbar. Bei diesen Dimensionen wird aber auch klar, daß die Spielräume für Umschichtungen zwischen den einzelnen Aufgabenblöcken immer enger werden. Ohne die vielzitierte schlanke Verwaltung werden Investitionen und Zuwendungen, also die Finanzierung der Sachbereiche, nach und nach an Bedeutung verlieren. Das heißt aber im Klartext, daß die politischen Gestaltungsspielräume immer kleiner werden. Das Eingrenzen ausufernder Personalkosten liegt bei
genauer Betrachtung also auch im ureigensten Interesse der Exekutive, der Regierung.
Viele Titel sind unverzichtbar und im Interesse einer kontinuierlichen Aufgabenwahrnehmung auf Dauer angelegt. Dennoch ist es uns gelungen, beachtliche Veränderungen gegenüber dem Regierungsentwurf durchzusetzen. Wir haben den Etat damit flexibel und verantwortungsbewußt den aktuellen Herausforderungen angepaßt.
Lassen Sie mich als erstes Beispiel die enorme Aufstockung bei der personellen und finanziellen Ausstattung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf nennen, das damit auch an seine Grenzen stößt. Und jetzt stoßen wir auch noch einmal auf die Äußerungen des Kollegen Purps. Das BAFl wird dank unserer Beschlüsse seine Aufgaben in nächster Zeit bewältigen. Nur: Bei weiter steigenden Asylbewerberzahlen ist das nicht möglich. Jetzt müssen die Asylbewerberzahlen sinken. Das ist das Gebot der Stunde. Es ist höchste Zeit, die Blockade gegen eine vernünftige und erfolgversprechende Asylrechtsänderung aufzugeben. Die bisherige — so hoffe ich jedenfalls — Entscheidungsunfähigkeit der SPD

(Lachen und Zurufe bei der SPD)

hat nicht nur dem Ansehen der Demokratie geschadet, sie hat auch den Steuerzahler viel, viel Geld gekostet. -

(Beifall bei der CDU/CSU)

An der Entwicklung des Haushaltes des BAFl kann man diese nüchternen Zahlen exakt nachweisen. Zynisch könnte ich sogar einen Satz aus meiner letzten Haushaltsrede — ich zitiere mich auch immer gern —, nämlich: „Mehr Personal und mehr Sachkosten lösen die Probleme nicht" , in die Formulierung umwandeln: Je mehr Personal- und Sachmittel wir bisher bereitgestellt haben, um so mehr Asylbewerber sind gekommen. — Aber ich bitte, zu verstehen, daß das etwas zynisch war.
Zurück zur Sache! Der Innenminister hat die Möglichkeit, beim BAFl im Rahmen des Stellen-Solls des Jahres 1992 weitere 1 950 Mitarbeiter auf Dauer einzustellen. Diese Stellen stehen also jetzt schon das ganze Jahr bereit. Daneben gibt es 30 neue Stellen für die vom Bundesinnenminister neu eingerichtete Abteilung „Ausländer- und Asylangelegenheiten", und im Wege der Abordnung wird der Bund 1 300 Bedienstete auf freiwilliger Basis zum Bundesamt abordnen. Auf Grund der Bewerberzahlen können mittlerweile pro Monat 300 Bedienstete eingestellt werden.
Auf Bundesebene sind also die Hausaufgaben gemacht. Mittel für die Zentrale und die geplanten Außenstellen stehen bereit, um die Berge von Asylanträgen beschleunigt abzuarbeiten. Leider konnten die Außenstellen noch nicht überall eingerichtet werden, da die Länder ihre Aufnahmelager noch nicht flächendeckend eingerichtet haben. Das ist einer der Gründe dafür, daß sich die Personalgewinnung für das BAFl

Karl Deres
als äußerst schwierig erweist. Wer bewirbt sich schon, wenn er nicht weiß, wo er arbeiten soll?

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Auch haben die Länder ihre Versprechungen vom Oktober 1991, dem Bundesamt mit 500 qualifizierten Einzelentscheidern auszuhelfen, bis heute leider kaum erfüllt. All diejenigen, die versuchen, beim Problem der Personalgewinnung mit dem Finger auf den Bundesinnenminister zu zeigen, sollten sich daher genau überlegen, wieviel Finger dabei auf sie selbst zurückzeigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die konkreten Ergebnisse zeigen, wie beschämend das Verhalten der Länder gerade in diesem Punkt ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein zweites Beispiel für die Anpassung des BMI-Etats an aktuelle Erfordernisse nennen. Wir empfinden es als unsere humanitäre Verpflichtung, den Ländern bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina finanziell unter die Arme zu greifen. Der Bund trägt 50 % der Kosten, die 16 Länder teilen sich die andere Hälfte. An diesem Beispiel wird deutlich, daß auch unvorhergesehene Ereignisse im Ausland einen tiefgreifenden Einfluß auf den Etat des Bundesinnenministers haben können. Gleichzeitig möchte ich betonen, daß der Bund hier strenggenommen in einem Bereich einspringt, der in ureigenste Zuständigkeitsbereiche der Länder fällt. Dennoch stehen wir zu dieser Ausnahmeregelung, und zwar ohne Wenn und Aber.
Drittens: Es darf nicht zur Regel werden, daß sich die Länder von ihren finanziellen Verpflichtungen immer wieder und immer mehr zu Lasten des Bundes zu entlasten versuchen. Die bundesstaatliche Organisation der Bundesrepublik Deutschland darf nicht nur für Schönwetterlagen gelten. Es ist falsch, die finanzielle Verantwortung des Bundes immer dann einzufordern, wenn die Länder die Erfüllung ihrer Aufgaben als schwierig oder einfach nur als unangenehm einstufen.
Ein Beispiel: Jeder Ministerpräsident sonnt sich gern im Glanze kultureller Höhepunkte. Wer eröffnet nicht gern eine schöne Gemäldeausstellung? Kultur ist halt Ländersache. Wenn es aber ans Bezahlen geht, dann wird sehr schnell nach dem Bund gerufen.
Sicher kann man dieses Beispiel nicht ohne Abstriche auf das Kulturerhaltungsprogramm im Beitrittsgebiet anwenden. Die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Länder, Städte und Gemeinden ist noch nicht dergestalt ausgebaut, daß sie ihr kulturelles Erbe ohne Hilfe des Bundes bewahren können. Daher fanden sich im Regierungsentwurf noch einmal 310 Millionen DM, mit der großen Mehrheit des Haushaltsausschusses um weitere 300 Millionen DM für diesen Zweck aufgestockt, auch wenn die Übergangsfinanzierung ursprünglich Ende 1992 auslaufen sollte.
Ich bleibe bei meiner persönlichen Bewertung dieser Übergangsfinanzierung. Wir müssen ein kritisches Auge darauf behalten, daß diese Art der Förderung nicht, allen Regeln unseres Finanzverfassungsrechts
zum Trotz, langsam, aber sicher zu einer Dauerförderung überwiegend von Kulturkonsum wird. Wir kennen das: Wenn sich die Begünstigten erst einmal an die Gelder aus Bonn gewöhnt haben, ist eine Streichung der Mittel erfahrungsgemäß kaum noch umzusetzen. Das Substanzerhaltungsprogramm Kultur war von Anfang an degressiv angelegt. Ich befürchte, daß wir die ausgegebenen Mittel in der Finanzkontrolle nicht überall mehr nachweisen können.

(Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!)

Das ist die erste Befürchtung, die ich heute abend hier öffentlich sage, und für diese Befürchtung habe ich bedauerlicherweise Hintergründe. Die Übergangsphase darf also nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag ausgedehnt werden. Hierauf sollten sich alle Beteiligten rechtzeitig einstellen, damit es nicht auf einmal große Enttäuschungen gibt.
Es gibt aber auch hervorragende Beispiele für die konsequente Umsetzung von Sparbeschlüssen. Daher möchte ich an vierter Stelle drei Punkte nennen:
Die Mittel für die politischen Stiftungen werden um 5 % gekürzt, damit auch politische Weiterbildung, lieber Kollege Probst. Dadurch sparen wir immerhin etwa 30 Millionen DM.
Auch die Fraktionszuschüsse werden spürbar, nämlich um 10 % verringert.
Nicht zuletzt haben wir vor kurzem beschlossen, die Amtsgehälter der Mitglieder der Bundesregierung in den Jahren 1992 und 1993 nicht zu erhöhen.
Wir setzen damit auch eindeutig Zeichen, wie sie tagtäglich von Kommentatoren in deutschen Blättern und auf dem Bildschirmwald von den Politikern eingefordert werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Journalistengehälter kürzen! ZDF! ARD!)

Ob diese Beschlüsse wohl ihren Niederschlag in der öffentlichen Meinung finden werden? Ich wage es kaum zu hoffen.
Fünftens. Auch Maßnahmen zur Verbesserung der inneren Sicherheit stehen in diesen Tagen ganz besonders in der Diskussion. Ich will hier nur darauf hinweisen. Wir leisten mit diesem Haushalt auch unseren positiven Beitrag. Beim Bundesgrenzschutz werden 758 Stellen vom mittleren in den gehobenen Polizeivollzugsdienst angehoben.

(Zuruf von der SPD: Das ist eine Nullrunde, Herr Kollege!)

— Wenn das bei Ihnen Nullrunden sind, dann frage ich einmal, was denn bei Ihnen Minuswachstumsrunden sind. Erinnern Sie sich doch einmal an Ihre eigene Vergangenheit, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der SPD)

Wir machen damit den Dienst beim BGS attraktiv. Es wird nicht allein damit getan sein.
Meine Damen und Herren, meine Zeit ist abgelaufen. Ich hätte gerne noch einiges zur Aussiedlerproblematik gesagt. Aber das muß ich mir hier jetzt leider verkneifen.



Karl Deres
Meine Damen und Herren, dieser Haushalt ist gekennzeichnet von der Zeit. Er steht unter dem Prinzip der Sparsamkeit, unter dem Prinzip der Umschichtung. Wenn wir das, was an offiziellem Finanzumfang in diesem Haushalt steht, gut und effektiv umsetzen, haben wir für dieses Land viel bewirkt.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212321700
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Ina Albowitz.

Ina Albowitz (FDP):
Rede ID: ID1212321800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Purps!

(Rudolf Purps [SPD]: Jetzt geht es los!)

— Nein, nur eine Fairneßdebatte sollten wir hier führen, denn politisch können wir uns auseinandersetzen. Anderes finde ich nicht in Ordnung. Auch ich ärgere mich, daß wir heute abend um fast halb zehn die Debatte zum Haushalt des Innenministeriums führen, nachdem bis heute mittag schon die ganzen anderen Bereiche im Grunde in der großen Runde debattiert worden sind. Viele Dinge lassen sich nicht auf die Buchhalter der Nation reduzieren. Nur, das jetzt dem Innenminister zuzuschieben ist nicht in Ordnung. Die Rednerliste und die Etatdebatte werden von den Geschäftsführern ausgehandelt — und nicht vom Innenminister und nicht von mir; sonst hätte dieses Ressort mit Sicherheit an anderer Stelle gestanden —, und zwar interfraktionell und einvernehmlich.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Jetzt fängt es an, interessant zu werden! — Zuruf von der SPD)

— Also die Tagesordnung schon, Herr Kollege. Darauf sollten wir uns jetzt verständigen. Nur, wir sollten es nicht dem Innenminister zum Vorwurf machen. Das ist nicht fair und hilft auch nicht der Debatte hier.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich ärgere mich im übrigen ganz genauso.

Meine Damen und Herren, wer in diesen Tagen in Deutschland zur Innenpolitik redet — und heute sind es die Haushaltspolitiker zum Haushalt des Bundesministers des Innern —, von dem wird nicht nur erwartet, sondern der hat auch die Pflicht, sich zu den verheerenden Ausschreitungen in Deutschland zu äußern bzw. klar und unmißverständlich Stellung zu beziehen. Dabei hat die Öffentlichkeit nicht nur Anspruch auf die persönliche Stellungnahme der einzelnen Politikerinnen oder Politiker, sie hat auch einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie wir nicht nur gemeinsam Betroffenheit zeigen, sondern auch gemeinsam um Lösungen ringen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Genau neun Minuten lang hatte ich heute morgen den Eindruck, daß den Fraktionsvorsitzenden der SPD die gleichen Sorgen wie mich bewegen, nämlich wie wir den Bürgern unseres Landes sagen, daß die Probleme dieser Welt, die Probleme in Deutschland nicht mit Schwarzweißdenken und nicht mit starken
Sprüchen zu lösen sind. Der Kollege Purps hat das im übrigen auch versucht. Leider dauerte dieser Versuch von Herrn Klose noch nicht einmal die Hälfte seiner Redezeit. Der Rest war das übliche Strickmuster von Schuldzuweisungen und Unterstellungen, also genau die Sprache, die die Bürger unseres Landes inzwischen so leid sind, daß wir uns nicht wundern müssen, wenn von Politikverdrossenheit und von Unfähigkeit der Politiker geredet wird.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Und Vorabfeststellungen!)

Dabei wird zur Zeit von den Bürgerinnen und Bürgern die Gemeinsamkeit der Demokraten förmlich herbeigesehnt.
Da werden wegen vermeintlich parteitaktischer Vorteile wichtige Lösungen verzögert. Ich meine im übrigen jetzt uns alle, jeden an seinem Platz. Da werden wegen Bund- Länder-Kompetenz- und Finanzierungsstreitereien ganze Gesetze monatelang verhindert. Inzwischen wird in Deutschland gemordet, gebombt und geschändet. Und die Stammtischparolen greifen auch unter den Gewählten um sich. 16 unschuldige Menschen haben ihr Leben verloren, unzählige Verletzte lagen und liegen in den Krankenhäusern.
Wer, meine Damen und Herren, spricht eigentlich von den verletzten Kinderseelen? Gestern gingen in meiner Heimatstadt Gummersbach Kinder einer Lernbehindertenschule spontan auf die Straße, urn ihr Mitgefühl, ihre Trauer und ihre Solidarität mit den Kindern in Mölln — ich bin sehr bewegt — und ihren ausländischen Mitschülern zu zeigen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Ich möchte ihnen von dieser Stelle aus herzlich danken. Sie haben damit mehr Mut bewiesen, als es zur Zeit viele Erwachsene tun. Aber: Der Leiter der Schule, mit dem ich heute morgen telefonierte, erzählte mir auch von der Angst der Kinder, was sich täglich im Unterricht zeigt. Können wir das eigentlich noch verantworten? Was nützen eigentlich noch die Erklärungen, die jeder von uns seit Wochen abgibt, wenn den Worten keine Taten folgen? Unsere angeblich so heile Welt hat erhebliche Risse erhalten.
Ich appelliere daher nachdrücklich an Sie alle: Hören wir auf mit Schuldzuweisungen und taktischen Spielchen!

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie uns zusammenfinden, damit die Bürger wieder Vertrauen in die Politik gewinnen!
Mühsam wird dies bei der Gestaltung des Asylrechts. Da wurde im letzten Jahr das Asylverfahrensgesetz beschlossen, in das viele Hoffnungen gesetzt wurden. Doch politisches Kalkül, Kompetenzstreitigkeiten und allzu bürokratisches Handeln verhinderten, daß die Regelungen bislang wirksam in Kraft treten konnten. Die Erwartungen, die damit von Politikern erzeugt wurden, sind besonders beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge nicht erfüllt worden.
Deutscher Bundestag --- 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10579
Ina Albowitz
Auf Grund der steigenden Zahl von Asylbewerbern wurden Haushaltsansätze beim Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge für 1993 erhöht. Der Haushaltsausschuß hat dem Konzept des Innenministers zur Errichtung von 46 Außenstellen zugestimmt und die entsprechenden Sachtitel erhöht. Die Stellenmehranforderungen des Ministeriums wurden so wie beantragt nicht übernommen, da bis jetzt von den für 1992 genehmigten rund 3 600 Stellen noch nicht einmal die Hälfte besetzt sind. Eine nochmalige Ausweitung würde uns nicht nur unglaubwürdig machen, sondern wir würden mit einem nur auf dem Papier bestehenden riesigen Personalhaushalt wieder Erwartungen erzeugen, die zur Zeit nicht erfüllbar sind. Sollten aber im Laufe des Haushaltsjahres alle bisher genehmigten Stellen besetzt und darüber hinaus weitere Einstellungen möglich sein, kann dies aus Personalverstärkungsmitteln finanziert werden. Das hat die Koalition beschlossen.
Des weiteren hat die Koalition auf Antrag der Bundesregierung die Abordnung von 1 300 Bundesbediensteten aus obersten Bundesbehörden beschlossen. Dabei kann und will ich nicht verhehlen, daß durch dieses Verfahren und vor allem das Lockmittel der Prämienzahlung mein Bild des deutschen Beamtentums erhebliche Sprünge erhalten hat.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, jedem muß klar sein, daß die Beschlüsse, die dieses Haus in den nächsten Wochen über die Frage der Zuwanderung nach Deutschland zu fassen hat, außerordentlich viel Feingefühl erfordern. Art. 16 des Grundgesetzes ist keine beliebige Manövriermasse und kann nur einmal verändert werden. Deshalb ist es nach meiner Auffassung unumgänglich, in Ergänzung der Asylrechtsregelung auch ein Einwanderungsgesetz zu beschließen.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)

Nur durch eine solche Klarstellung, meine Kolleginnen und Kollegen, nehmen wir den rechtsradikalen Gewalttätern und den Sympathisanten jeden vermeintlichen Vorwand für ihr verwerfliches Tun, beenden die Verunsicherung bei unseren ausländischen Mitbürgern und verhindern, daß das Ansehen Deutschlands in der Welt weiteren Schaden nimmt.
In der Innenpolitik gehört auch dazu, daß die Bürger Vertrauen in die staatlichen Ordnungskräfte haben können. Dies gelingt aber nur, wenn sich die Ordnungskräfte von der Politik nicht im Stich gelassen fühlen. Der Bundesgrenzschutz, das Bundeskriminalamt und die Bereitschaftspolizeien der Länder können sich über den Haushaltsausschuß nicht beklagen.
Die Anforderungen, die zwischen den Leitungen der Behörden und der Bundesregierung ausverhandelt wurden, hat der Ausschuß ohne Kürzungen beschlossen. Der Bundesgrenzschutz und das BKA sind auch ausdrücklich von den Stellenkürzungen ausgenommen worden. Daß das Hebungsprogramm für den BGS im Ausschuß beschlossen wurde, freut mich besonders. Ich meine, wir haben damit ein Stück Glaubwürdigkeit der Politik realisieren können.
Die Beratung des Einzelplans 06 verlangt von den Mitgliedern des Haushaltsausschusses ein besonders
hohes Maß von Verständnis für die Vielfältigkeit des Haushaltes. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Wir Berichterstatter strapazieren die Kollegen reichlich. Wir tun das nicht, weil wir sie ärgern wollen, sondern weil das Spannungsfeld zwischen dem Bundesamt für Statistik und den sondergeschützten Pkws immens ist.
Während der Berichterstattergespräche wurden wir mit erheblichen Mehranforderungen konfrontiert. Einige waren unvermeidbar; anderen konnten wir auf Grund der Haushaltslage nicht Rechnung tragen. Insgesamt haben wir rund 610 Millionen DM einarbeiten müssen. Dem stehen Kürzungen von rund 774 Millionen DM gegenüber. Dazu kommt noch die globale Minderausgabe von 264 Millionen DM, die im Laufe des Haushaltsjahres in den Kapiteln 06 02, dem eigentlichen Haushalt, und 06 46, also bei der Kultur, erwirtschaftet werden muß.
Daß dies noch erhebliche schmerzliche Eingriffe in besonders empfindliche Bereiche erforderlich macht, wissen wir. Allerdings läßt uns die Gesamtsituation keine andere Wahl. Das gilt sowohl für den Sport als auch für die Kultur.
Bei der Kulturförderung hat der Haushaltsausschuß die größte Ausgabensteigerung für den Einzelplan gegenüber dem Etatentwurf beschlossen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr gut! 100 %!)

Hier wurde ein eindeutiges Zeichen zugunsten der neuen Länder gesetzt. Für die Erhaltung der dortigen Kulturlandschaft und den Denkmalschutz sind nun 650 Millionen DM im Bundeshaushalt vorgesehen, 300 Millionen DM mehr als ursprünglich geplant.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir tragen hiermit dem Wunsch der neuen Länder, aber auch der großen gemeinsamen Koalition in diesem Hause Rechnung, für die die kulturelle Infrastruktur erhebliche Bedeutung hat.
Allerdings muß ich darauf hinweisen, daß diese zusätzlichen Ausgaben für das Substanzerhaltungsprogramm zum Teil durch Kürzungen bei der Kulturförderung in den alten Bundesländern erwirtschaftet werden müssen. Ich hoffe und ich bitte herzlich darum, daß die Kulturfachleute im Innenministerium mit der nötigen Sensibilität auf eine gerechte Verteilung der Lasten achten.

(Beifall bei der F.D.P.)

Die Kürzungen im Sportetat des Bundes sind „schmerzlich, aber sachgerecht". In dieser Einschätzung stimme ich dem Präsidenten des Deutschen Sportbundes, Herrn Hansen, zu; das ist seine Diktion. Ich weiß aber auch, daß der DSB für die Erhaltung der Mittel gekämpft hat. Aber hier gilt auch wie für alle anderen Bereiche des gesamten Haushaltes: Nichts und niemand kann durch Tabus beim Sparen ausgeschlossen werden. Insoweit können auch von hier aus keine weiteren Sparbeschlüsse sakrosankt gestellt werden.

(Beifall bei der F.D.P.)




Ina Albowitz
In den letzten Tagen wurden wir über die Medien informiert, daß „dem Sport die Stasi-Welle droht". Ich kann den Deutschen Sportbund von dieser Stelle aus nur nachdrücklich auffordern, umgehend dafür zu sorgen, daß mit der kompromißlosen Aufarbeitung dieser belastenden Situation begonnen wird. Es kann nach meinem Verständnis nicht angehen, daß wir aus Steuergeldern Trainer und Funktionäre finanzieren, die jahrelang Sportler mißbraucht und bespitzelt haben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sollten sich die Veröffentlichungen der letzten Tage wirklich so bewahrheiten, muß der Druck auf die Fachverbände erhöht werden, notfalls durch eine Sperre von Haushaltsmitteln, ähnlich wie wir es bei der Dopingaffäre gemacht haben.

(Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD)

Zu einem medienpolitischen Skandal entwickelt sich offensichtlich die Neugestaltung der Rundfunklandschaft in Deutschland.

(Rudolf Purps [SPD]: Jawohl!)

Fast zwei Jahre wurden offensichtlich mit Nichtstun vergeudet, vor allem wohl wegen der Eitelkeiten der Ministerpräsidenten der Länder. Seit fast einem Jahr zahlen die Gebührenzahler in Deutschland jeden Monat 75 Pfennig für einen Rundfunk, den man nicht empfangen kann, weil er nicht sendet. Diese Zahlungen an das Phantom Nationaler Hörfunk summieren sich inzwischen auf eine viertel Milliarde DM.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Unglaublich!)

Der Gründungsausschuß für den Nationalen Hörfunk, der kürzlich seine Arbeit aufgenommen hat, muß mit dem vorrangigen Ziel arbeiten, daß dieser möglichst am 1. Juli 1993 — wie hier im Hause auch beschlossen — seine Arbeit aufnimmt. Wenn bereits jetzt Intendanten und Politiker davon reden, diesen Termin noch weiter nach hinten, auf 1994, zu schieben, empfinde ich das als skandalös.

(Beifall bei der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Kennt man die Schuldigen?)

— Ja, reichlich. — Eine möglichst schnelle Einigung erwarten nämlich nicht nur die Gebührenzahler — sonst sollten wir uns das mit dem Normenkontrollverfahren wirklich noch einmal überlegen —, sondern auch die Mitarbeiter der betroffenen Anstalten; denn sie brauchen Perspektiven, und sie brauchen eine Entscheidung über ihre Zukunft.
Zu dieser Perspektive gehört auch, daß der Nationale Hörfunk eine Bestands- und Entwicklungsgarantie erhalten muß und kein ungeliebtes Anhängsel von ARD und ZDF sein darf.

(Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!)

Der Nationale Hörfunk muß redaktionell unabhängig
und in ganz Deutschland zu empfangen sein. Um
diese unverzichtbaren Bedingungen zu erfüllen, müssen die Ministerpräsidenten endlich ihre Kirchturmspolitik aufgeben.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Bearbeitung des Einzelplanes 06 war dieses Jahr nur mit besonderen Kraftanstrengungen möglich; wer weiß das besser als wir drei! Dafür möchte ich aber auch allen anderen Beteiligten, vor allem den Mitarbeitern des Haushaltsreferates und den Mitarbeitern in den Außenstellen, herzlich danken. Ich glaube, wir haben gemeinsam unter diesen Voraussetzungen das Beste versucht und auch erreicht.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212321900
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Erwin Marschewski,

Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1212322000
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sage insbesondere: Sehr geehrte liebe Frau Kollegin Albowitz! Ihre Rede, so meine ich, war für mich ermutigend

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Nicht nur für Sie!)

— für uns alle, richtig, Herr Kollege Weng —,

(Beifall bei der F.D.P.)

und ich versuche, hieran anzuschließen.
Deswegen, meine Damen und Herren, zunächst einmal folgende Feststellung: Der Mordanschlag auf die türkischen Mitbürger, auf Frauen und Kinder in Mölln ist eine Schande, ist eine schreckliche Erfahrung, ein entsetzlicher Höhepunkt rechtsradikaler Gewalt. Nein, wir dürfen nicht zulassen, daß Menschen vor Gewalt Angst haben, daß sie sich selbst bewaffnen, wie es Ralph Giordano dem Bundeskanzler telegrafierte.
Ja, wir dürfen und wir müssen die Gesetze konsequenter anwenden; das ist richtig. Ja, wir müssen über ein Verbot rechtsextremer Organisationen schnell entscheiden; auch das ist richtig. Ja, aber wir müssen auch in der Gesellschaft Zeichen setzen und sagen, daß da, wo Fremdenhaß mordet, Gleichgültigkeit zur Beihilfe werden kann.
Aber darüber hinaus, meine Damen und Herren, meine Kollegen: Ist es nicht nunmehr höchste Zeit, über gesetzliche Maßnahmen zu reden, rassistisches Morden und brutale Gewalttaten bereits im Ansatz, schon im Vorfeld zu verhindern, weil eben die Gewalt, so meine ich, eine neue Qualität erlangt hat, wie wir es auch im Sicherheitsprogramm der Unionsfraktionen haben feststellen müssen?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen heute die haushaltsmäßigen Voraussetzungen dafür schaffen, wichtige Vorhaben der Innenpolitik fortzuführen. Dazu gehören natürlich an erster Stelle Maßnahmen zur Sicherung der inneren Sicherheit gegen Extremisten. Dazu gehören die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und die Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Dazu gehören aber weiterhin die Sicherung der Funktionsfähigkeit des



Erwin Marschewski
öffentlichen Dienstes, die Hilfe beim Aufbau der Verwaltung in den neuen Bundesländern und natürlich auch die Rettung der dortigen Kulturgüter. Dazu gehört vor allem, das Asylrecht sachgerechter zu novellieren und für eine Bewältigung der Flut von Asylanträgen zu sorgen.
Zum Asylrecht nur ein paar Worte: Das für die Bearbeitung der Asylanträge zuständige Bundesamt in Zirndorf gehört zu den Behörden, die trotz sehr angespannter Finanzlage erheblich mehr Personal bekommen werden. Sie kennen die Zahlen: 540 Stellen vor ein paar Jahren, im letzten Jahr 1 130 Stellen und jetzt sage und schreibe 3 600 Stellen; und ich glaube noch nicht, daß diese Zahl ausreichen wird.

(Rudolf Purps [SPD]: Na also!)

Was bedeutet dies? Das bedeutet doch, daß der Bundesinnenminister nun wirklich alles getan hat, um die Flut der Asylbewerber in diesem Lande zu brechen, um die Anträge zu erledigen. Mehr kann man doch nicht tun!

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein bißchen mehr kann man schon machen!)

Wir haben dies auch getan, um Geld zu sparen. Herr Kollege Purps, Sie als Haushälter wissen, daß es nötig ist, Geld zu sparen. Der Bundesinnenminister sagt, das Ganze koste sieben oder acht Milliarden DM oder mehr. Ihr Kollege Oberbürgermeister aus Pforzheim spricht sogar von über 30 Milliarden DM.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, der Herr Bekker ist ein guter Mann!)

Die Asylpolitik ist ein schwerwiegendes Thema. Ich hoffe, daß die Gespräche, die wir jetzt begonnen haben, erfolgreich sein werden, weil der Bürger dies von uns erwartet.

(Rudolf Purps [SPD]: Richtig!)

Wenn Sie mir zustimmen, dann sage ich auch: Dies kann nur bedeuten, kein Bleiberecht bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen zu gewähren, sondern nach der Verwaltungsentscheidung eine Klage nur vom Ausland aus zuzulassen. Das ist das Problem, das wir zu bewältigen haben.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Eine weitere Aufgabe der Innenpolitik ist die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und der Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Wir haben gerade hier die finanziellen Mittel für das Bundeskriminalamt erhöht. Unser Ziel ist es, die personellen Voraussetzungen zu schaffen, um das Konzept zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und der organisierten Kriminalität weiter auszubauen.
Was das organisierte Verbrechen anlangt: Zwar treffen die Horrormeldungen über sizilianische Verhältnisse in Deutschland nicht zu — ich sage: zum Glück treffen sie noch nicht zu —, aber es gilt zu verhindern, daß sich diese Mafia-Strukturen in unserem Lande festigen. Daher ist es notwendig, das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz nun endlich zu stärken. Das ist eine wesentliche Aufgabe, der wir uns zu stellen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Lieber Günter Graf, wir haben im Sommer das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beschlossen. Wir alle wissen — gerade Du als Polizist weißt es —, daß die Befugnisse, die wir der Polizei eingeräumt haben, in diesem Bereich nicht ausreichen. Ich appelliere an die SPD und an die F.D.P., über eine Grundgesetzänderung nachzudenken, die auch die Möglichkeit bietet, über den Einsatz technischer Mittel zu verfügen, was die Polizei will und was auch notwendig ist.
Ich weiß — der Herr Kollege Dr. Hirsch könnte mir das sagen —, daß die räumliche Privatsphäre des Bürgers Schutz verdient. Da sind wir ja vollkommen einer Meinung. Aber richtig ist auch, daß der Verbrecher nirgends einen Rückzugsraum haben darf, in dem er in Ruhe seine Untaten planen kann. Gerade das wollen wir verhindern. Das ist unsere Aufgabe. Deswegen brauchen wir Maßnahmen zur Verstärkung und zur Unterstützung beim Verfassungsschutz.
Ich weiß, die Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit, mit Gewalt und Extremismus von links wie von rechts kann nicht allein der Polizei und der Justiz überlassen werden. Normsetzende Erziehung bildet die Grundlage für unser Zusammenleben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine gesamtgesellschaftliche Aufklärungskampagne soll in der aktuellen Situation helfen, Fremdenfeindlichkeit abzubauen.
Notwendig ist es aber auch — ich sage dies noch einmal , den Verfassungsschutz in Bund und Ländern zu stärken. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn die rechtlichen Kompetenzen von Landesverfassungsschutzämtern wie in Niedersachsen eingeschränkt werden. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn das Personal wieder um ein Drittel abgebaut wird. Ich erhebe die Forderung, das Personal wieder aufzustocken. Wir brauchen die Leute, um dem organisierten Verbrechen Einhalt zu gebieten und um auch Straftäter aus dem rechtsextremistischen Bereich zu stoppen.
Ich will an meine einführenden Gedanken anschließen. Wir alle müssen mehr als bisher dazu beitragen, daß der Staat das ihm von der Verfassung übertragene Gewaltmonopol zum Schutz eben dieser Verfassung wirkungsvoll einsetzt. Wir sind auf keinem Auge blind, weder auf dem rechten Auge noch auf dem linken Auge. Das kann ich Ihnen eindeutig sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ein Wort zum Bundesgrenzschutz: Die gesamte Sicherheitslage erfordert eine Stärkung des Bundesgrenzschutzes. Sie haben es angesprochen. Diesbezüglich sind der Bundesinnenminister und wir völlig einer Meinung. Sie wissen, der Bundesgrenzschutz hat neue Aufgaben im Bereich der Bahnpolizei und im



Erwin Marschewski
Bereich der Luftsicherung bekommen. Er unterstützt die Länder bei polizeilichen Großlagen.
Wir wissen, wir brauchen qualifiziertes Personal. Ich darf Ihnen sagen: Es kann nicht richtig sein, daß die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes in die Privatwirtschaft abwandern oder zur Polizei gehen. Deswegen steht meine Fraktion, deswegen steht auch der Innenminister dafür ein, daß wir ein Programm auflegen, das Verbesserungen im Personalbereich vorsieht. Wir werden darüber diskutieren, und wir werden Ihnen dieses Programm vorlegen.
Wir tun dies einfach deswegen, weil wir wissen, daß innere Sicherheit keinesfalls zum Nulltarif zu haben ist. Wir sind ja an der deutsch-polnischen Grenze gewesen. Wir wissen, daß illegale Einreisen und daraus resultierende Gefahrenlagen nur mit Hilfe einer ausreichenden Zahl von Vollzugsbeamten abgewehrt werden können.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes. Auch der öffentliche Dienst weiß, Frau Kollegin Albowitz, daß wir uns im Augenblick keine Geschenke erlauben dürfen. Vielmehr müssen wir alle darauf achten das gilt auch für die Beamten, daß die einheitsbedingten Lasten von allen getragen werden. Aber wer dies anspricht, meine ich, müßte so fair sein, anzuerkennen, daß die Beamten durch eine Verschiebung des Inkrafttretens der Besoldungsrunde im vergangenen Jahr einen, wie ich meine, vergleichsweise sogar überproportionalen Solidarbeitrag zur Beseitigung der Altlasten des gescheiterten Sozialismus geleistet haben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212322100
Herr Kollege Marschewski, das veranlaßt die Kollegin Albowitz, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen.

Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1212322200
Ja, bitte schön.

Ina Albowitz (FDP):
Rede ID: ID1212322300
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich zum Beamtenbesoldungsgesetz kein einziges Wort gesagt habe?

(Zuruf von der F.D.P.: Das wurde vermutet!)

Ich habe von der Abordnung von 1 300 Beamten der obersten Bundesbehörden

(Zurufe von der CDU/CSU: Buschgeld!)

— nein, ich habe noch nicht einmal vom Buschgeld gesprochen —

(Zuruf von der CDU/CSU: Doch! Das haben Sie gesagt!)

und von der Zahlung von Prämien, und zwar aus Anlaß der Abordnung zum BAFl, gesprochen, zu nichts anderem. Ich habe noch nicht einmal von der Buschgeldzulage-Ost gesprochen,

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber Sie haben daran gedacht!)

die ich im übrigen befürwortet habe. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, Herr Kollege?

Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1212322400
Herzlichen Dank. Ich bin sehr erfreut, Frau Kollegin, daß wir in bezug
auf die wichtigen Positionen des Beamtentums einer Meinung sind. Sie sind sicherlich mit mir der Meinung, daß die Beamten dieses Landes gerade im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses Enormes geleistet haben. Deswegen sprechen wir ihnen unseren Dank aus.
Über eines sollten wir uns auch noch im klaren sein, nämlich darüber, daß es trotz schwieriger Rahmenbedingungen bei der strukturellen Fortentwicklung des Besoldungsrechts keinen Stillstand geben darf. Das ist ein Problem. Wir wollen ja die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes erhalten. Gerade deswegen wollen wir seine Attraktivität steigern

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Macht das doch mal!)

und seine Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zur privaten Wirtschaft erhöhen. Ich freue mich, daß wir in bezug auf diese Position völlig einer Meinung sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212322500
Das zieht eine Nachfrage der Abgeordneten Ina Albowitz nach sich.

(Zuruf von der SPD: Sie ist hartnäckig!)


Ina Albowitz (FDP):
Rede ID: ID1212322600
Herr Kollege, ich hatte nur gefragt, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich zu dem Punkt, den Sie angesprochen haben, überhaupt nichts gesagt, sondern zu einem ganz anderen Thema Stellung bezogen habe.

(Heiterkeit bei der SPD Zuruf von der SPD: Das hat er doch nicht verstanden!)

Sie könnten diese Frage jetzt mit einem schlichten Ja oder Nein beantworten.

Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1212322700
Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie dies noch einmal sagen und daß Sie mit mir völlig einer Meinung sind.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

Ich muß Ihnen aber auch sagen: Liebe Frau Kollegin, außergewöhnliche Notlagen — ich nenne die Zahl von über 400 000 Asylanträgen in Zirndorf — erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, und zu solchen außergewöhnlichen Maßnahmen haben wir uns durchgerungen.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß noch ein Wort zum Zivil- und Katastrophenschutz. Die auf den Vorstellungen der Koalition beruhende Neuordnung ist zur Steigerung der Effizienz der Arbeit der im Katastrophenschutz tätigen Organisationen geboten. Es freut mich, daß auch die Kollegen von der SPD in diesem Bereich unseren Vorstellungen gefolgt sind. Das Technische Hilfswerk, die Feuerwehr, das Rote Kreuz und die vielen anderen im Katastrophenschutz tätigen Organisationen können sich auf die Unterstützung der Union in ihrer wichtigen Aufgabenerfüllung voll verlassen.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!)




Erwin Marschewski
Ihnen und namentlich ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern, Herr Kollege Gerster, gebührt besonders Dank für ihre Tätigkeit, für ihr beispielgebendes Wirken für andere.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß meiner kurzen Ausführungen Dank sagen.

(Lachen bei der SPD)

— Innenpolitik ist ein weites Feld, meine Damen und Herren.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Auf dem weiten Feld haben Sie sich ein bißchen verlaufen!)

Sie werden verstehen, daß wir nur in der Lage waren, ein paar Positionen anzusprechen. Ich darf an erster Stelle dem Herrn Bundesinnenminister und seinen Mitarbeitern Dank sagen. Sie haben ihre Aufgaben in hervorragender Weise erfüllt. Dies stellen wir fest, und dies sagen uns auch die Bürger. Minister Seiters steht für den Rechtsstaat, aber für den wehrhaften Rechtsstaat, für die wehrhafte Demokratie. Ich sage ihm namens meiner Fraktion herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ist es nicht eigentlich, Herr Kollege Purps, auch Ihre Position, die wehrhafte Demokratie zu schützen? Warum denn diese unberechtigten Vorwürfe dem Innenminister gegenüber in einer wirklich nicht leichten Zeit?

(Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Nur mit einem anderen Innenminister!)

Ich darf, meine Damen und Herren, aber auch den Kollegen vom Innenausschuß herzlich Dank sagen. Wir sind, lieber Herr Kollege Wartenberg, sehr oft gar nicht so verschiedener Meinung. Sie wissen es, und ich weiß es auch: Dies gilt auch für die Hauptproblematik dieses Jahres, für die Lösung des Asylproblems. Wenn Geschichte lehren kann, so lehren die zwanziger Jahre und der Anfang der dreißiger Jahre eines: Weimar ist gescheitert, weil sich Demokraten nicht einigen konnten. Wir müssen uns bewähren, indem wir zeigen, daß wir zu Problemlösungen fähig sind — wir alle, meine Damen und Herren.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212322800
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Günter Graf das Wort.

Günter Graf (SPD):
Rede ID: ID1212322900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute hier über die Einzelpläne 06 und 36 des Haushalts des Bundesinnenministers beraten, dann müssen wir uns darüber im klaren sein, daß dies in einer Zeit geschieht, in der über Deutschland dunkle Wolken heraufgezogen sind. Die schrecklichen menschenverachtenden Gewalttaten der letzten Wochen und Monate machen uns alle, so denke ich, zutiefst betroffen. Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es reicht nicht aus, zu sagen: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. Vielmehr ist es notwendig, daß wir gemeinsam dafür sorgen, daß diesem Satz täglich
neue Geltung verschafft wird, und zwar nicht nur durch Reden, sondern durch aktives Handeln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die rechtsextremistische Gewalt, bis hin zu Mord und Totschlag, trägt dazu bei, das Bild vom häßlichen Deutschen wiederzubeleben. Dies schadet dem Ansehen der Deutschen und setzt auch die Interessen unseres größer gewordenden Deutschland aufs Spiel. Es ist zwingend geboten, daß wir uns mehr denn je der irregeleiteten jungen Menschen annehmen und uns den rechtsextremistischen Rattenfängern entgegenstellen.
Wenn ich schon den Rechtsextremismus erwähne, dann gehört dazu sicherlich auch die Erkenntnis, daß die Wortführer nur deshalb Resonanz finden, weil sie die alltäglichen Erfahrungen, die Sorgen und Nöte der Menschen für ihre inhumanen und undemokratischen Ziele mißbrauchen.
Sicher ist es in dieser Zeit mehr denn je notwendig, die bedrohten Menschen zu schützen und die Straftäter zu verfolgen. Aber, Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist auf Dauer noch wichtiger, daß wir den Rechtsextremisten den Resonanzboden für ihre verhetzenden Parolen entziehen. Stichworte wie wachsende Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit, Wohnungsnot und nicht zuletzt ungerechte Steuer- und Finanzpolitik seien hier auch erwähnt.
Besonders wichtig scheint mir aber auch zu sein, daß wir den Menschen in unserem Lande wieder eine Orientierung und eine persönliche Perspektive bieten; denn wenn diese nicht vorhanden ist, fallen rechtsextremistische Gedanken — und seien sie noch so wirr — leider auf fruchtbaren Boden, gerade auch bei den vielen alleingelassenen jungen Menschen, die die Schrecken des Nationalsozialismus und des Krieges höchstens noch vom Hörensagen kennen.
Lassen Sie mich hierzu noch eine kurze Anmerkung machen: Am letzten Wochenende fand eine von Schülerinnen des Friesoyther Gymnasiums veranstaltete Podiumsdiskussion unter dem Titel „Rock gegen Rechts" in einer Diskothek in meinem Wahlkreis statt.

(Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!)

An dieser Podiumsdiskussion beteiligte sich auch der bis vor kurzem amtierende Vorsitzende der Jungen Union dieses Kreisverbandes, ein Mitglied der CDU. Er antwortete auf die Frage des Moderators, worin er die Ursachen für die zunehmende Gewaltbereitschaft junger Menschen sehe: „Der Hauptgrund dürfte in mangelnden Perspektiven liegen." Ich denke, wenn ein junger Mensch vor ca. 500 jungen Leuten dies so deutlich sagt und für diese seine Äußerung tosenden Beifall bekommt — ich übertreibe nicht —, dann muß uns dies alles zum Nachdenken und vor allen Dingen zum Handeln anregen. Insoweit bitte ich Sie, was diesen Bereich angeht, die parteipolitische Brille beiseite zu legen, um mit dieser schwierigen Situation fertig zu werden.
Allerdings — auch das zu erwähnen erscheint mir notwendig — ist es wenig hilfreich, wenn der beamtete Staatssekretär des Innenministeriums, Herr



Günter Graf
Dr. Priesnitz, vor kommunalpolitischen Vertretern der Stadt Vechta in meinem Wahlkreis erklärt, ein Asylbewerber hier in Vechta lebe wie ein Fürst. Diese Aussage, die natürlich Schlagzeile der Presse war — was ich sehr bedauere —, ist in besonders hervorragender Weise geeignet, 01 in das Feuer zu gießen und eben nicht das Gegenteil zu bewirken.

(Rudolf Purps [SPD]: Der sollte mal zwei Monate lang Sozialhilfe kriegen!)

Die vielfach schädliche Diskussion zum Thema Asyl —vor dem Hintergrund, der Bevölkerung einreden zu wollen, daß mit einer Änderung des Art. 16 alle Probleme zu lösen seien — hat sicher auch dazu beigetragen, ein gutes Stück an Nährboden für rechtsextremistische Gewalt zu bereiten.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb, werte Kolleginnen und Kollegen, möchte ich von dieser Stelle aus Sie alle — besser gesagt: uns alle — ganz eindringlich auffordern, bedachter mit Äußerungen in der Öffentlichkeit umzugehen und sich stets vor Augen zu führen, welche Wirkungen erzielt werden, wenn Äußerungen wie die des Herrn Dr. Priesnitz gemacht werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jahren haben wir uns mehrfach über das Thema innere Sicherheit und über die soziale Situation bei den Polizeien in Bund und Ländern unterhalten. In der Bewertung der Situation waren wir meist gleicher Meinung. Gleicher Meinung waren wir in jedem Fall, wenn es darum ging, den Sicherheitskräften unseres Landes unseren Dank abzustatten. Allerdings: Das war es dann auch. Immer wenn es konkret wurde, um Verbesserungen in diesem Bereich zu erreichen, lehnte die Koalitionsmehrheit ab.
Beispielhaft erwähnt sei nur, daß in den Ländern seit 1991 eine Entwicklung eingeleitet worden ist, wonach zur Steigerung der Attraktivität und Sicherung der künftigen Funktionserfüllung im Bereich des Polizeivollzugsdienstes schrittweise nennenswerte Stellenanteile des mittleren in den gehobenen Polizeivollzugsdienst umgewandelt werden — Stichwort: zweigeteilte Laufbahn.
Am 22. Mai 1992 hat die Innenministerkonferenz auch im Interesse einer möglichst einheitlichen Laufbahn- und Besoldungsentwicklung den Beschluß gefaßt, folgende strukturelle Verbesserungen für Polizeivollzugsbeamte bis zum Jahr 2000 umzusetzen: Anhebung des Stellenanteils im gehobenen Dienst auf 40 % — mit dem Hinweis auf eine mögliche Abweichung von plus/minus 10 % — und Anhebung des Eingangsamtes zum mittleren Polizeivollzugsdienst von bisher A 6 nach A 7, in einer weiteren Stufe nach A 8. Dies hat dazu geführt, daß der durchschnittliche Stellenanteil des gehobenen Dienstes in den Ländern die 14-%-Marke bereits deutlich überschritten hat und sich weiter deutlich erhöhen wird.
Dies alles läßt die Bundesregierung und Sie, Herr Bundesinnenminister, offenbar völlig unberührt; denn der Anteil des gehobenen Dienstes im BGS betrug bisher 7 % und wird sich, wenn dieser Haushalt in Kraft treten sollte, auf 9 % erhöhen.
Gegenwärtig besteht beim Bundesgrenzschutz ein Personalfehl von rund 4 700 Beamten. Darauf ist bereits hingewiesen worden. Bei der augenblicklichen Personalpolitik der Bundesregierung kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß sich diese Situation in absehbarer Zeit verbessern wird. So ist das Attraktivitätsgefälle zur Landespolizei viel zu groß. Es ist unzweifelhaft, daß dem BGS eine akzeptable Berufsperspektive fehlt. Dies wird auch daran deutlich, daß allein innerhalb der ersten acht Monate des Jahres 1992 insgesamt 474 Beamte auf eigenen Antrag ausgeschieden sind.
Diese genannten Zahlen belegen den akuten Personal- und Nachwuchsmangel im BGS; hier besteht dringender Handlungsbedarf. Der vorgelegte Haushaltsentwurf wird diesem Handlungsbedarf in keiner Weise gerecht.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Handlungsbedarf besteht allerdings auch für den Bereich der sächlichen Ausrüstung und Ausstattung nicht nur des Bundesgrenzschutzes, sondern auch der Bereitschaftspolizei, insbesondere in den neuen Bundesländern.
Welche fatalen Folgen eine mangelhafte Ausrüstung und Ausstattung hat, haben die jüngsten Krawalle in Rostock gezeigt. Das brutale und menschenverachtende Vorgehen der Chaoten oder besser gesagt — und ich meine es auch so —: der Verbrecher in Rostock konnte mangels vorhandener Beweis- und Kommunikationstechniken nicht dokumentiert werden.
Die mangelnde Ausrüstung mit entsprechender Schutzbekleidung der Polizeien hat allein bei der Grenzschutzabteilung Ost 2 in Ahrensfelde zur Folge gehabt, daß 30 Polizeibeamte zum Teil schwer verletzt wurden. Dieses wäre — das sage ich in aller Deutlichkeit — vermeidbar gewesen, wäre man den Forderungen der SPD-Fraktion in den letzten beiden Jahren gefolgt. Es kann doch nicht wahr sein, daß der Bundesinnenminister erst jetzt darüber nachdenkt, die Ausrüstung mit neuer Körperschutzausstattung nunmehr stufenweise vorzunehmen.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch nicht wahr!)

Ich halte es für einen Skandal, wenn eine überschaubare Zahl von Polizeibeamten nicht mit der Ausstattung ausgerüstet wird, die ihr ein Höchstmaß an Schutz der körperlichen Unversehrtheit sichert.

(Beifall bei der SPD)

Insoweit zeigt dieser Haushalt auch, wie halbherzig im Grunde genommen mit diesem Thema umgegangen wird. Ich kann für mich persönlich nur feststellen: Das ist unverantwortlich, wenn man daran denkt, daß sich auch künftig Männer und Frauen der Polizeien brutalen Gewalttätern gegenübersehen. Dafür, Herr Bundesinnenminister, tragen Sie einen Teil Mitverantwortung. Dieses sollten Sie bedenken.
Leider reicht die begrenzte Redezeit nicht aus — aber das ist ja immer das Problem bei derartigen Debatten —, um auf alle Aspekte der Innenpolitik einzugehen. Dennoch, meine ich, ist folgender Hinweis unverzichtbar. Eingangs habe ich auf die Situa-



Günter Graf
tion der Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund des aufkommenden Rechtsextremismus und der Gewaltkriminalität hingewiesen. Auch habe ich die Perspektivlosigkeit der Jugend in dieser Zeit erwähnt.

(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Und was ist mit links?)

— Ich nehme gerne auf, was Sie gesagt haben, Kollege Zeitlmann: Wenn ich von Extremismus spreche, beziehe ich den Linksextremismus natürlich mit ein. Ich danke Ihnen für den Hinweis. Ich bitte um Nachsicht, daß ich das nicht so deutlich angesprochen habe.
Gerade vor diesem Hintergrund scheint es mir zwingend notwendig, die Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung nicht, wie von der Bundesregierung praktiziert, abzusenken, sondern ganz erheblich aufzustocken, um durch verstärkte Aufklärung dem wachsenden Radikalismus, insbesondere unter den Jugendlichen, entgegenwirken zu können. Ich denke, auch hieran wird deutlich, daß die Bundesregierung im Grunde genommen nicht erkannt hat oder nicht erkennen will, in welcher Situation sich dieses Land in dieser Zeit befindet.
Was die mangelnde Personalausstattung der Stiftung „Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR" vor dem Hintergrund der Kürzung des Stellenplans um 76 Stellen angeht, so behindert diese Kürzung nicht nur in unzulässiger Weise die Arbeit der Stiftung, sondern sie gefährdet auch die Umsetzung des vom Deutschen Bundestag am 13. März 1992 beschlossenen Gesetzes und kann daher von der SPD-Fraktion in keiner Weise akzeptiert werden.

(Beifall bei der SPD)

Als absolut befremdend muß es angesehen werden, wenn dieser Haushaltsplanentwurf die Zuwendungen an zentrale Organisationen und Verbände, die sich mit der Eingliederung der Aussiedler, Übersiedler, Vertriebenen und Flüchtlinge befassen, linear kürzt, zugleich aber dem Bund der Vertriebenen mehr Mittel zuschanzt. Ich denke, auch dieses ist ein besonderes Markenzeichen der Qualität der Politik dieser Regierung, und das in dieser Zeit.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt gehen Sie aber entschieden zu weit! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das sage ich auch! Ich bin da völlig Ihrer Meinung!)

— Herr Kollege Bötsch, wenn Sie sich ernsthaft bemühten, darüber nachzudenken, wenn Sie sich ernsthaft mit dem Haushalt beschäftigten und sich die Zahlen anschauten, hätten Sie diese Bemerkung nicht getan. Dann hätten Sie mir zustimmen müssen.

(Beifall bei der SPD Rudolf Purps [SPD]: Er kennt sich nur beim Fußball aus! —Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Herr Graf, bleiben Sie anständig!)

Kolleginnen und Kollegen, wenn es um Fragen der Innenpolitik, insbesondere um Fragen der inneren Sicherheit geht, dann ist die Bundesregierung, sind aber auch die Koalitionsparteien CDU und CSU schnell zur Hand mit Forderungen nach Strafverschärfungen und neuen Gesetzen, wie dies in den letzten Wochen geschehen ist.
Ich will nur an einem Beispiel deutlich machen, wie unsinnig es sein kann, in Einzelbereichen schärfere Gesetze zu fordern, wenn man nicht einmal in der Lage ist, dafür Sorge zu tragen, daß die vorhandenen Gesetze entsprechend angewandt werden und der Strafrahmen voll ausgeschöpft wird. Am 3. November 1992 habe ich mich mit schriftlichen Fragen an die Bundesregierung zum Thema Landfriedensbruch gewandt. Ich wollte von der Bundesregierung wissen, in wie vielen Fällen es im Zeitraum von 1980 bis 1990 zu Anklageerhebungen im Bereich des Landfriedensbruchs, §§ 125 und 125a StGB, gekommen ist.
Ich wollte darüber hinaus wissen, in wie vielen Fällen der §§ 125 und 125a StGB es zu Verurteilungen in dem genannten Zeitraum gekommen ist und in wie vielen Fällen das Höchstmaß der Strafe ausgeschöpft worden ist.
Die Antwort, die ich vorgestern erhalten habe, hat mich schon beeindruckt; deswegen spreche ich das an. Was § 125 StGB angeht, also den Landfriedensbruch, so gab es im Jahre 1980 67, 1983 107, 1986 100 und 1990 125 Fälle von Verurteilungen.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Was sagt uns das?)

— Ich bin noch nicht fertig. Das ist die Frage 3. Ich komme noch zur vierten Frage. Dann werden Sie vielleicht anders darüber denken.
Im Bereich des § 125a StGB, also des schweren Landfriedensbruchs, kam es im Jahre 1980 in 46, 1983 in 43, 1986 in 59 und 1990 in 54 Fällen zu einer Verurteilung.
Diese Zahlen belegen noch nicht viel. Was aber die Ausschöpfung des Strafmaßes der genannten Tatbestände angeht, so haben wir festzustellen, daß im Falle des § 125 StGB die Höchststrafe drei Jahre beträgt. Die Statistik bildet Fallgruppen, nämlich ein bis zwei Jahre und zwei bis drei Jahre. In dem Zehnjahreszeitraum von 1980 bis 1990 ist das Höchstmaß von zwei bis drei Jahren in einem einzigen Fall im Jahre 1986 zur Anwendung gekommen. Und dann reden wir heute davon, daß wir Strafverschärfungen in diesem Bereich brauchen. Ich kann das nicht nachvollziehen, wenn dieses Gesetz nicht entsprechend angewandt wird.

(Beifall bei der SPD — Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wir wollen den Tatbestand verändern! Das ist das Problem!)

Herr Kollege Marschewski, nunmehr komme ich zu § 125a StGB, zum schweren Landfriedensbruch. In dem Zeitraum von 1980 bis 1990, also in zehn Jahren, hat es nicht einen einzigen Fall gegeben, in dem eine Höchststrafe im Rahmen von fünf bis zehn Jahren ausgesprochen wurde. Ich denke, diese Zahlen unterstreichen die Situation so deutlich, daß es sich nicht lohnt, das überhaupt noch in irgendeiner Form zu kommentieren. Das sollte man zum Anlaß nehmen, über die Dinge nachzudenken.
Es wird pauschal immer gesagt: Wir regeln das mit Gesetzen. Wir, die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, haben immer gesagt: Wir sind bereit, dort mitzumachen, wo es notwendig ist, aber erst dann,



Günter Graf
wenn andere Dinge geprüft sind und das Material, über das wir verfügen, in entsprechender Weise ausgeschöpft ist. Das ist beispielsweise im Falle des Landfriedensbruchs ganz eindeutig nicht der Fall.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Warum gucken Sie denn so böse?)

— Ich gucke nicht böse. Ich habe früher viel böser geguckt, aber seit ich Sie kenne, Herr Gerster, bin ich schon wesentlich freundlicher geworden. Schön, daß Sie da sind.

(Heiterkeit im ganzen Hause — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Machen Sie weiter so!)

Lassen Sie mich zum Abschluß kommen und nur noch folgende Anmerkung machen. In allen Debatten der vergangenen Jahre haben wir immer wieder darauf hingewiesen — das gilt auch für die Koalitionsparteien —, daß es zwingend notwendig ist, das Konzept zur inneren Sicherheit aus dem Jahre 1974 fortzuschreiben. Ich denke, darüber gibt es eine breite Übereinstimmung in diesem Hause. Leider ist in diesem Bereich bis zum heutigen Tage so gut wie nichts geschehen.

(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Warum nicht?)

— Herr Kollege Zeitlmann, erst zuhören, dann weiß man Bescheid.
Man kann in diesem Punkt die Verantwortung nicht allein dem Bundesinnenminister unterschieben. Es ist sicherlich auch mit ein Teil mangelnde Bereitschaft der Bundesländer gewesen. Ich will das überhaupt nicht verheimlichen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Welcher?)

Aber ich weiß auch, daß die Bereitschaft der A-Länder zugenommen hat, weil sie erkannt haben, daß innere Sicherheit in diesem Land nur möglich ist, wenn wir Kriminalität bekämpfen, wozu wir verpflichtet sind. Das geht im Grunde genommen nur gemeinsam. Wir brauchen gemeinsame Richtlinien.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212323000
Das Wort hat nunmehr der Bundesinnenminister Rudolf Seiters.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1212323100
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der vorgeschrittenen Zeit möchte ich mich auf einige wenige Bemerkungen am Schluß dieser Debatte beschränken, zumal uns das wichtige und uns alle gemeinsam belastende Thema — wie sichern wir den Schutz politisch Verfolgter und wie stoppen und kontrollieren wir gleichzeitig die unkontrollierte Zuwanderung von Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik Deutschland kommen? — schon am heutigen Vormittag beschäftigt hat.
Wir stehen am Vorabend von Gesprächen zwischen CDU/CSU, SPD und F.D.P.. Deswegen will ich aus der Sicht des Bundesinnenministers heute abend nur
folgendes sagen. Die Bevölkerung will, daß sich die Parteien beim Asylproblem jetzt endlich einigen.

(Beifall im ganzen Hause) Ich will diese Einigung auch.

Die Bevölkerung erwartet jedoch in erster Linie, daß wir das Problem lösen. Die erste und beste Alternative. Die zwei weiteren Alternativen — und die belasten mich sehr — wären, daß die Gespräche zum Scheitern kämen — dies wäre auch staatspolitisch sehr schlimm , oder aber die Gespräche kommen zwar zu einem Ergebnis, aber das Ergebnis führt zu einer großen Enttäuschung nach einigen Monaten. Das bedeutet für mich, eine Grundgesetzänderung, die halbherzig ist und das Problem nicht löst, würde zu einem dramatischen Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber dem Staat und den politischen Parteien führen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Meinen Sie wirklich, daß das nur an der Grundgesetzänderung liegt, Herr Seiters?)

— Ich kann wirklich nicht verstehen, was Sie an diesem Satz auszusetzen haben: Eine Grundgesetzänderung, die die Parteien vornehmen und die nicht zu einer grundlegenden Lösung dieses Problems führt, wird zu einem dramatischen Vertrauensverlust der Öffentlichkeit gegenüber dem Staat und den politischen Parteien führen.
Deshalb darf es Scheinlösungen ebenso wenig geben wie Formelkompromisse. Wir alle tragen hier eine große politische Verantwortung. Wenn wir den Mißbrauch des Asylrechts — das heißt für mich allerdings auch den Mißbrauch des Bleiberechts in Deutschland in offensichtlich aussichtslosen Fällen; darauf habe ich immer Wert gelegt — nicht ganz rasch beenden, dann fügen wir unserem demokratischen Gemeinwesen großen Schaden zu. Das muß uns allen und insbesondere denen, die am Wochenende verhandeln, sehr wohl bewußt sein.
Ich habe in der vergangenen Woche in der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern vorgetragen, welche Maßnahmen wir bei der geltenden Rechts- und Verfassungslage ergriffen und welche Anstrengungen wir unternommen haben, verfahrensbeschleunigende Regelungen zu praktizieren — bis hin zu den fünf sogenannten Asylentscheidungszentren in Berlin, Lübeck, Hannover, Fulda und Coburg, befristet für die Dauer eines halben Jahres beschleunigte Verfahren für einfach gelagerte Fälle durchzuführen. Wir hatten in dieser Innenministerkonferenz eine sehr konstruktive Diskussion, weil — auf diesen zarten und vorsichtigen Hinweis will ich mich beschränken die Länderinnenminister sehr wohl wissen, daß nicht nur das Bundesamt, sondern auch die Ausländerbehörden der Länder und die Verwaltungsgerichte jeweils ihre eigenen Probleme haben.
Ich bin den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, insbesondere den Berichterstattern, dafür dankbar, daß durch ihre konstruktive Unterstützung die Etatausstattung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge an die heute erwartete Asylbewerberzahl von 465 000 angepaßt werden



Bundesminister Rudolf Setters
konnte. Vor diesem Hintergrund will ich aber meinen Appell an die Länder wiederholen — den ich auch auf der Innenministerkonferenz ausgesprochen habe —, ihrerseits die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.
Dazu gehören im Hinblick auf die erwarteten, rapide steigenden Asylentscheidungen des Bundesamtes auch die personelle Verstärkung der Verwaltungsgerichte und die Schaffung der Voraussetzungen für eine schnelle und unverzügliche Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. Denn was nützen mir 400 000 oder 350 000 Entscheidungen in Zierndorf, wenn anschließend die Zahlen bei den Verwaltungsgerichten nur noch steigen und sich die Abschiebungsquote bei den Ländern nicht erhöht? Darauf müssen wir uns also konzentrieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen — und würdige dies auch —, daß diese sachliche Einschätzung der Lage, bezogen auf die objektiven Schwierigkeiten der Länder und den Stand der Vorbereitungen der Länder auf steigende Asylentscheidungen des Bundesamtes, auch von der SPD-Arbeitsgruppe vorgenommen wurde, die vor wenigen Tagen unter Leitung des Kollegen Wartenberg in Zirndorf gewesen ist. Schuldzuweisungen helfen hier wirklich nicht weiter. Das wird sich in den kommenden Monaten auch bei den Ländern noch herausstellen. Ich jedenfalls habe nicht die Absicht, von mir aus diese Diskussion fortzusetzen, sondern ich möchte mich wirklich auf die Lösung dieses Problems konzentrieren.
Ich möchte zu diesem Punkt wiederholen: Alle verfahrensbeschleunigenden und -vereinfachenden Maßnahmen reichen auch nicht annähernd aus, um dem massenhaften Zustrom von Asylbewerbern zu begegnen. Dazu brauchen wir die Grundgesetzänderung; keine kosmetische, sondern eine wirksame, durchgreifende. Ich hoffe, daß die Verhandlungsdelegation der SPD den notwendigen Verhandlungsspielraum hat, um dieses uns alle — ich wiederhole mich — so unglaublich belastende Problem endlich wirksam und für die Bürger erkennbar zu lösen.
Gewährleistung der inneren Sicherheit — dazu wird von mir sicherlich auch ein Wort erwartet, obwohl es heute morgen in der Diskussion schon eine breite Übereinstimmung gegeben hat —: Wir müssen Anschläge auf den Staat und die Sicherheit seiner Bürger mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen. Seit Wochen überzieht eine Welle extremistischer Gewalt unser Land. Sie hat in dem erbärmlichen, verbrecherischen Mord in Mölln eine neue, traurige Steigerung erfahren. Die Welle der Gewalt wirft einen schweren Schatten auf das in mehr als 40 Jahren gewachsene und gefestigte Ansehen, das sich unser Land unter den freien Völkern der Welt erworben hat.
Die Gewalttaten gegen wehrlose Mitmenschen zählen zu den bittersten Erfahrungen dieser Zeit. Nichts und niemand gibt das Recht zu ausländerfeindlicher Hetze, zu Gewalt gegen Leben, Gesundheit, Eigentum und Sicherheitsgefühl der in unserem Land lebenden Menschen, unabhängig davon, ob sie Deutsche oder Ausländer sind. Deswegen muß sich unsere Demokratie mit aller Macht zur Wehr setzen gegen Straßenterror und brutale Gewalt, weil sie sich nicht nur gegen wehrlose Menschen richten, sondern auch gegen den Rechtsfrieden in unserem Lande.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Zur Bekämpfung und Eindämmung der Ausländerfeindlichkeit müssen wir alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten konsequent nutzen. Dies beginnt bei dem verstärkten Schutz der Asylbewerberunterkünfte, der operativen Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz, dem zielgerichteten Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel zur verbesserten Erkenntnisgewinnung und endet nicht zuletzt bei der geistig-politischen Auseinandersetzung mit den Phänomenen Extremismus und fremdenfeindliche Gewalt.
Zur Verbesserung des Informationsaustausches muß auch der von mir vorgeschlagene aktuelle Sondermeldedienst „Fremdenfeindliche Straftaten" zwischen Bund und Ländern als Instrument zur besseren Erkennung und Bekämpfung reisender Mehrfachtäter geschaffen werden. Im übrigen brauchen wir: konsequente Strafverfolgung, schnelle Verurteilungen, harte Strafen und nach sorgfältiger Prüfung gegebenenfalls auszusprechende Vereinsverbote gegen extremistische Organisationen. Wir sind hier in der aktuellen Phase einer Entscheidung.
Natürlich gibt der verstärkte Einsatz des vorhandenen Instrumentariums Ansatzpunkte auch zur Verringerung des gewaltbereiten Täterpotentials. Hierzu rechne ich die konsequente Nutzung der Möglichkeiten des Versammlungsrechts für befristete, räumlich begrenzte Demonstrationsverbote ebenso wie die in den Länderpolizeigesetzen eröffnete Möglichkeit, Personen zur Verhinderung von Straftaten oder erheblichen Ordnungswidrigkeiten in Gewahrsam zu nehmen. Ich begrüße insoweit ausdrücklich die einvernehmlichen Beschlüsse der Innenministerkonferenz.
Ich will aber auch noch einmal meinen Standpunkt unterstreichen, der über die Beschlüsse der Innenministerkonferenz hinausgeht. Meiner Meinung nach sind Konsequenzen auch für das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung unerläßlich. Wie meine Fraktion trete ich dafür ein, den Tatbestand des Landfriedensbruchs zu ergänzen, um es Gewalttätern zu erschweren, anonym aus einer Menge heraus zu handeln oder in ihr unterzutauchen.
Ich plädiere weiter für eine Verschärfung des Haftrechts, um des Landfriedensbruchs dringend Verdächtige bei Wiederholungsgefahr auch ohne Vorverurteilung in Untersuchungshaft nehmen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum letzten Punkt gibt es einen Prüfungsauftrag der Justizminister, bisher allerdings nur hinsichtlich des selten anwendbaren Tatbestands des schweren Landfriedensbruchs.
Ich weiß auch, daß die Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Extremismus von Polizei und Justiz alleine nicht geführt werden kann. Deswegen brauchen wir verstärkte Anstrengungen



Bundesminister Rudolf Seiters
aller Kräfte mit dem Ziel, extremistische Gewaltpotentiale, insbesondere unter jungen Menschen, schon im Keim zu unterbinden. Wir müssen alle Bemühungen unternehmen, um junge Menschen von der Kriminalität und Inhumanität solcher Angriffe zu überzeugen und all denen entschlossen entgegenzutreten, die zu Gewalttaten ermuntern oder sie dulden, d. h. in Familien und Schulen, in Vereinen und in Jugendverbänden verstärkt Werte und Normen vermitteln.
Auch die Medien — das wurde heute morgen schon gesagt; ich will das aus meinen Erkenntnissen, aus meiner Sicht nachdrücklich unterstreichen — tragen hier eine große Verantwortung. Auch sie müssen sich fragen lassen, ob sie dieser Verantwortung bisher wirklich gerecht geworden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich habe im Rahmen der Aufklärungskampagne gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit als Bundesinnenminister u. a. Unterrichtshilfen für Lehrer und Schüler, Seminare für Multiplikatoren aus den Bereichen der Jugendpresse, der Lehrerfortbildung, der Jugend- und Sozialarbeit und andere Einzelmaßnahmen im Rahmen eines Sofortprogramms initiiert, das von der Innenministerkonferenz am 20. November 1992 als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern beschlossen wurde.
Auch beim Verfassungsschutz blicke ich nicht in die Vergangenheit. Jedoch sage ich noch einmal: Wir haben uns nie übertreffen lassen, die Polizei bei ihrer schweren Arbeit zu unterstützen. Wir haben immer gefordert, daß der Verfassungsschutz auch in Zukunft seine Arbeit zu leisten hat. Mein Appell geht — in Übereinstimmung mit dem, was der Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion heute morgen gesagt hat — an die Länder, den Abbau des Personals bei den Verfassungsschutzämtern zu stoppen und mitzuhelfen, daß in den neuen Ländern die Verfassungsschutzbehörden konsequent aufgebaut werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Rudolf Purps [SPD]: Brandenburg ist Spitze!)

Der Verfassungsschutz muß das Vorfeld dieser Taten, die Szenerie, aus der heraus sie geschehen, aufklären. Nur ein funktionsfähiger Verfassungsschutz bei Bund und Ländern wird dazu in der Lage sein. Was den Bund betrifft, so ist die für die Beobachtung des rechtsextremistischen Bereichs zuständige Abteilung wesentlich verstärkt worden.
Ich habe darüber hinaus den Innenministern der Lander für den Bereich rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Gewalt die Einrichtung einer Polizei, Verfassungsschutz und Justiz umfassenden Bund-Länder-Koordinierungsgruppe vorgeschlagen, deren Vorsitz beim Bundesamt für Verfassungsschutz liegen sollte. Wir haben früher die Einrichtung der Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung — KGT — beim Bundeskriminalamt geschaffen. Eine vergleichbare Einrichtung wird es jetzt in diesem Bereich geben.
Stichwort Bundesgrenzschutz: Ich greife gerne das als Appell auf, Herr Kollege Graf, was Sie zu diesem Thema gesagt haben. Ich weiß, daß wir den Beamten des Bundesgrenzschutzes eine berufliche Perspektive geben müssen. Ich habe im Rahmen meiner Möglichkeiten im Jahre 1992 mit Blick auf Aufbau und Ausrüstung alles getan, was finanziell denkbar war. Aber ich weiß, daß wir hier noch eine Menge tun müssen, im übrigen auch bei der Personalgewinnung.
Wenn ich mich dafür eingesetzt habe, daß die Länder die Bereitschaftspolizeien vorhalten und aufstocken, dann auch deshalb, weil ich es angesichts der Tatsache, daß der Bundesgrenzschutz seit dem 3. Oktober 1990 bisher bei 145 Anlässen Hilfe geleistet hat — wir werden das auch in Zukunft tun —, lieber hätte, wenn diese Arbeit von den Bereitschaftspolizeien der Länder geleistet würde, damit ich die Beamten des Bundesgrenzschutzes dorthin schicken kann, wo sie dringend gebracht werden, nämlich an die Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei, um die illegale Zuwanderung stärker bekämpfen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe im übrigen Weisung erteilt, weitere Wege zu prüfen, um den Personaleinsatz des BGS an diesen Grenzen zu erhöhen. Da die Bundeswehr zur Zeit Personal abbaut, eröffnet sich hier möglicherweise eine Quelle für den Bundesgrenzschutz, zusätzliches Personal zu gewinnen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist sehr mißverständlich, Herr Minister!)

— Nein, das ist nicht mißverständlich. Angesichts der Tatsache, daß wir im ersten Halbjahr 1992 an den Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei Aufgriffe von illegalen Zuwanderern in einer Größenordnung von 18 000 gehabt haben — die Dunkelziffer beträgt sicher das Fünffache, also 90 000 bis 100 000 — und mir die Regierungen Polens und der Tschechoslowakei in Gesprächen gesagt haben, sie seien zu einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft und auch zur Verstärkung der Grenzüberwachungsmaßnahmen bereit, weil sie die illegalen Grenzübertritte auf Dauer nicht dulden könnten, sage ich: Ich werde auch künftig nicht nachlassen, nach Wegen — auch unkonventionellen — zu suchen,

(Rudolf Purps [SPD]: In Ordnung!)

um den Bundesgrenzschutz bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Wir wollen keine Festung in Deutschland und in Europa, aber wir müssen den Mißbrauch der illegalen Zuwanderung stoppen. Auch das ist ein ganz schwerwiegendes psychologisches und tatsächliches Problem für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zur organisierten Kriminalität will ich nur stichwortartig reden. Ich will das nicht im einzelnen vortragen; ich habe mich oft genug dazu geäußert. Aber wenn es stimmt, daß sich die organisierte Kriminalität, Mafia und mafiaähnliche Organisationen, zu einer Bedrohung für Staat und Gesellschaft entwickeln, müssen wir unsere Anstrengungen auch auf diesem Felde



Bundesminister Rudolf Seiters
verstärken. Deswegen bin ich mit Entschiedenheit dafür, daß dieses Parlament sehr bald die Voraussetzungen dafür schafft, daß wir wie andere europäische und außereuropäische Länder auch den Einsatz technischer Mittel zum Abhören des in Wohnungen nicht öffentlich gesprochenen Wortes ermöglichen.
Wir müssen diese organisierten Strukturen durchbrechen. Wir brauchen den Lauschangriff. Deswegen brauchen wir auch eine Verschärfung des Gesetzes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Wir brauchen das Gewinnaufspürungsgesetz. Wir brauchen auch die internationale Zusammenarbeit bis hin zu EUROPOL. Dessen Aufbaustab hat zum 1. September 1992 in Straßburg unter deutscher Leitung seine Tätigkeit aufgenommen.
Meine Damen und Herren, ich nenne jetzt noch drei Stichworte, weil man hin und wieder auf die Erfolge in einem solchen Etat hinweisen sollte, auch wenn es teilweise schon gewürdigt worden ist. Es ist mir mit Blick auf die Kulturförderung als jemand, der zweieinhalb Jahre in einer wichtigen Phase Chef des Kanzleramtes gewesen ist, der viele Gespräche geführt und viele Erkenntnisse gesammelt hat, immer ein Anliegen gewesen, daß wir die neuen Länder in dieser schwierigen Phase beim Schutz der kulturellen Substanz nicht alleine lassen, sondern daß wir helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Bund, Länder und Gemeinden haben in den beiden vergangenen Jahren gemeinsam wesentlich zur Erhaltung der kulturellen Substanz in den neuen Ländern beigetragen und die Grundlage dafür geschaffen, das kulturelle Leben auch unter veränderten Vorzeichen zu bewahren, alle wesentlichen kulturellen Einrichtungen offenzuhalten und die Basis für behutsame Umgestaltungen und neue Strukturierungen zu schaffen. Der Bund hat seit der Vereinigung 2,5 Milliarden DM für das Substanzerhaltungsprogramm, das Infrastrukturprogramm und das Denkmalschutzprogramm aufgewendet.
Sie werden sich erinnern, daß ich vor vielen Monaten, als es noch nicht unbedingt so aussah, daß es uns gemeinsam gelingen könnte, diese Millionen in den Haushalt hineinzubringen, an diesem Rednerpult gesagt habe, ich würde mich nachhaltig dafür einsetzen. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben. Ich sage aber auch: Für dieses Programm hat sich der Bundesminister des Innern auch mit dem Herzen sehr stark eingesetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212323200
Herr Bundesminister, die Abgeordnete Frau Albowitz möchte Ihnen gern eine Frage stellen. — Bitte sehr.

Ina Albowitz (FDP):
Rede ID: ID1212323300
Herr Minister, könnten Sie mir versprechen, sich beim nächsten Haushalt für das Substanzerhaltungsprogramm beim Finanzminister etwas stärker einzusetzen, damit es gleich in der Höhe eingestellt wird, in der wir es jetzt drin haben, wenn es dann noch nötig ist? Denn dieses Jahr war die Beratung dazu etwas mühsam.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1212323400
Das ist wohl richtig. Aber manchmal freut man sich über Erfolge mehr, wenn man vorher einen harten und langen Kampf geführt hat, als wenn es einem in den Schoß gefallen ist.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo er recht hat, hat er recht!)

Vielleicht wird in den neuen Ländern jetzt auch richtig gewürdigt, daß es so viele gegeben hat, die sich für diese Belange der neuen Länder eingesetzt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Schließlich noch ein Wort zum Sport. Ich kann ja verstehen, daß die Kollegen, die in der Opposition in besonderer Weise für die Sportpolitik zuständig sind, kritische Anmerkungen machen möchten und dies auch tun. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß wir in den den Jahren 1991 und 1992 die Sportfördermittel verdoppelt haben, daß wir zwar jetzt eine Absenkung von 267 Millionen auf 223 Millionen DM haben, dies aber immer noch eine gewaltige Spitzenleistung ist. Da wir wissen, daß im Jahre 1993 keine Olympischen Sommerspiele und keine Olympischen Winterspiele stattfinden und auch viele andere Kosten nicht entstehen, kann ich sagen: Es ist ein hoher Standard an Hilfen, die der Staat dem Sport gewährt.
Ich habe auch den Eindruck, daß der Einsatz des Bundesinnenministers, daß die Leistungen, die der Staat dem Sport gewährt, von den Sportlern selber und von den Sportorganisationen durchaus gewürdigt werden.

(Zuruf von der SPD)

Ich bin jedenfalls froh, daß wir keine globale Kürzung von 50 Millionen DM, sondern nur von 10 Millionen DM haben. Im übrigen biete ich Ihnen an, daß wir die Gespräche fortsetzen, wenn es darum geht, die anderen Mittel der globalen Minderausgabe zu erwirtschaften. Ich werde ein besonders freundliches Auge auf den Sport richten.
Allerdings will ich auch sagen, daß der Sport in Zukunft in vielerlei Hinsicht gefordert ist, so bei der Überprüfung der Leistungszentren und Olympiastützpunkte, der Nachwuchsförderung, der Verbandsstrukturen. Selbstverständlich ist für uns, daß wir nur einen Spitzensport ohne Doping akzeptieren und fördern werden. Der deutsche Sport ist mit der Durchführung der Trainingskontrollen auf dem richtigen Weg. Im Interesse der Chancengleichheit der Athleten müssen die deutschen Sportorganisationen energisch darauf hinwirken, daß auch in anderen Ländern ein vergleichbares Kontrollsystem in Anwendung kommt.
Wir haben harte Gespräche geführt, aber insgesamt haben wir doch mit dem Haushalt des BMI den Herausforderungen Rechnung getragen, die im Zuge der Herstellung der inneren Einheit zu bewältigen sind.
Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung auch für die Zukunft, verbinde dies mit meinem Dank an die Mitglieder des Haushaltsausschusses, insbesondere an die Berichterstatter, und an die Mitglieder des Innenausschusses für die vertrauensvolle Zusammen-



Bundesminister Rudolf Seiters
arbeit, die wir, Kollege Purps, trotz mancher Äußerungen, die wir schnell wieder vergessen wollen, auch in Zukunft fortsetzen werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1212323500
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt und kommen zur Abstimmung.
Zunächst zum Einzelplan 06. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3819 vor. Ich frage: Wer ist dafür? — Niemand. Wer ist dagegen? — Alle. Enthaltungen? — Keine. Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 06 in der Ausschußfassung. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der anwesenden Mitglieder der SPD-Fraktion ist der Einzelplan 06 angenommen.
Wir stimmen nun über den Einzelplan 33, Versorgung, in der Ausschußfassung ab. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 33 einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 36, Zivile Verteidigung, ab. Dazu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3820 vor. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Eine Enthaltung aus der SPD-Fraktion. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über den Einzelplan 36 in der Ausschußfassung ab. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der SPD-Fraktion ist der Einzelplan 36 in der Ausschußfassung angenommen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Donnerstag, den 26. November 1992, 9.00 Uhr ein und wünsche Ihnen einen erholsamen und vergnüglichen Restabend.
Die Sitzung ist geschlossen.