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    Plenarprotokoll 12/123 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 123. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Inhalt: Tagesordnungspunkt III: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993 (Haushaltsgesetz 1993) (Drucksachen 12/3000, 12/3541) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes (Drucksachen 12/3504, 12/3530) Hans-Ulrich Klose SPD 10451B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10458D Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 10465 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 10469A Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10471 D Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler BK 10474A Ingrid Matthäus-Maier SPD 10487 C Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 10491 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10491D Dr. Wolfgang Bötsch CDU/CSU 10492D Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 10496C, 10503 D Rolf Schwanitz SPD 10500D, 10503 D Dietrich Austermann CDU/CSU 10504 A Rudolf Dreßler SPD 10506D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 10510D Hinrich Kuessner SPD 10511B Karl Diller SPD 10512B Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10512D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10515 A Ortwin Lowack fraktionslos 10517 C Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10519B Namentliche Abstimmung 10520 B Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes (Drucksachen 12/3505, 12/3530) Ernst Waltemathe SPD 10522 D Dr. Klaus Rose CDU/CSU 10525 B Freimut Duve SPD 10526 C Dr. Sigrid Hoth F.D.P. 10528 A Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste 10529B Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10530C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 10531 D Ortwin Lowack fraktionslos 10534 A Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 10535 C Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/ CSU 10538 C Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung (Drucksachen 12/3514, 12/3530) in Verbindung mit II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksache 12/3527) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 17: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Stand der Verhandlungen mit den NATO-Entsendestreitkräften über die Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes „Nordhorn-Range" (Drucksachen 12/537, 12/3691) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 18: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Dr. Sigrid Semper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Privatisierung der Heimbetriebsgesellschaft mbH der Bundeswehr (Drucksachen 12/1292, 12/3693) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 19: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der an den Haushaltsausschuß zurückverwiesenen Entschließung auf Nummer II der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksachen 12/100, 12/494, 12/531, 12/3758 [neu]) Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10542A Helmut Esters SPD 10545 C Hans-Gerd Strube CDU/CSU 10546A Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD 10546B, 10548A Karl-Ludwig Thiele F.D.P. 10548 B Jan Oostergetelo SPD 10548D Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10550B, 10563 C Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10551A Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10552 C Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 10554 B Jürgen Koppelin F.D.P. 10556 B Walter Kolbow SPD 10556 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 10557 C Dieter Heistermann SPD 10558 A Jürgen Koppelin F.D.P. 10559A Karl Stockhausen CDU/CSU 10561 B Rudi Walther (Zierenberg) SPD 10562 A Volker Rühe, Bundesminister BMVg 10562D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 10567A Walter Kolbow SPD 10567 D Dr. Werner Hoyer F.D.P. 10568A Namentliche Abstimmung 10568 C Ergebnis 10573 C Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 12/3521, 12/3530) Einzelplan 06 Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern (Drucksachen 12/3506, 12/3530) in Verbindung mit Einzelplan 33 Versorgung (Drucksache 12/3526) in Verbindung mit Einzelplan 36 Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/3528, 12/3530) Rudolf Purps SPD 10569 C Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD 10570 D Karl Deres CDU/CSU 10575 D Ina Albowitz F.D.P. 10578 A Erwin Marschewski CDU/CSU 10580 C Ina Albowitz F.D.P. 10582B, 10589B Günter Graf SPD 10583 B Rudolf Seiters, Bundesminister BMI 10586B Nächste Sitzung 10590 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 10591* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt II 20 — Einzelplan 23, Ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 III schäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit —Helmut Esters SPD 10591* B Dr. Christian Neuling CDU/CSU 10593* A Werner Zywietz F.D.P. 10595* C Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 10596* C Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10597 B Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 10598* A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10599* D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Tagesordnungspunkten III 21 — Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versorgung —, III 23 — Einzelplan 36, Zivile Verteidigung — Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10600* C Angela Stachowa PDS/Linke Liste 10602* B Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 10603* B Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Helmut Schäfer (Mainz) F.D.P. zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 10605* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10451 123. Sitzung Bonn, den 25. November 1992 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 25. 11. 92 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25. 11. 92 Burchardt, Ulla SPD 25. 11. 92 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 25. 11. 92 Peter Harry Clemens, Joachim CDU/CSU 25. 11. 92 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 25. 11. 92 ** Ganseforth, Monika SPD 25. 11. 92 ** Gattermann, Hans H. F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 25. 11. 92 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 25. 11. 92 Gries, Ekkehard F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Holtz, Uwe SPD 25. 11. 92 Homburger, Birgit F.D.P. 25. 11. 92 Kolbe, Regina SPD 25. 11. 92 Kubatschka, Horst SPD 25. 11. 92 ** Marx, Dorle SPD 25. 11. 92 Mischnick, Wolfgang F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 25. 11. 92 ** Müller (Pleisweiler), SPD 25. 11. 92 Albrecht Niggemeier, Horst SPD 25. 11. 92 Odendahl, Doris SPD 25. 11. 92 Oesinghaus, Günther SPD 25. 11. 92 Rempe, Walter SPD 25. 11. 92 Reuter, Bernd SPD 25. 11. 92 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25. 11. 92 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 25. 11. 92 * Scheffler, Siegfried Willy SPD 25. 11. 92 Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25. 11. 92 Dr. Seifert, Ilja PDS/LL 25. 11. 92 Dr. Sonntag-Wolgast, SPD 25. 11. 92 Cornelie Thierse, Wolfgang SPD 25. 11. 92 Welt, Jochen SPD 25. 11. 92 Dr. Zöpel, Christoph SPD 25. 11. 92 *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt II 20 - Einzelplan 23, Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit -*) Helmut Esters (SPD): In der überwiegenden Mehrheit der Entwicklungsländer sind die Lebensum*) Vgl. Seite 10569 Anlagen zum Stenographischen Bericht stände gegenwärtig schlechter als vor einem Jahrzehnt: statt Entwicklung nur Rückschritte. Und auch dort, wo reales wirtschaftliches Wachstum war - wie bei uns -, wurde krasse soziale Ungerechtigkeit noch längst nicht aus der Welt geschafft. Auch der Einzelplan 23, also der des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, liegt mit 1,7 % Steigerung im Vergleich zum Vorjahr unterhalb der Marke des Gesamthaushalts. Verglichen mit der Entwicklungshilfe von vor 10 Jahren, die damals 0,49 des Bruttosozialprodukts betrug und im Entwurf 1993 auf magere 0,34 % des BSP kommt, unterstreichen die nackten Zahlen diese Rückwärtsentwicklung. Dabei hatte sich der Deutsche Bundestag bereits noch zu sozial-liberalen Regierungszeiten - einstimmig - hinter das Ziel der Vereinten Nationen gestellt, jeweils 0,7 % des Bruttosozialproduktes für Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen. Zwar ist Geld nicht alles, aber wer wollte angesichts der notwendigen Transferleistungen in unserem eigenen Land bestreiten, daß neben rein monetärer auch technische Hilfe für strukturschwache Regionen benötigt wird. Finanziert werden muß beides. Der Bundeskanzler hatte sich noch im Juni auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio erneut auf das Ziel 0,7 % des Bruttosozialprodukts bis zum Jahre 2000 verpflichtet. Durch den eingebrachten Haushalt '93 wird das Ziel 0,7 % aus den Augen verloren, wird das Auseinanderklaffen zwischen Worten und Taten deutlich. Auch in der Entwicklungspolitik wird die Schwäche dieser Regierung deutlich, die in nahezu allen Bereichen konzeptionslos agiert, sich kurzatmig über die Runden zu retten versucht. Gerade im Bereich der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sind jedoch langfristig angelegte Konzepte bitter nötig, um eine Aufwärtsentwicklung der Länder der Zweiten und Dritten Welt für die Eine Welt zu sichern. Armut, Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und wirtschaftliche Abhängigkeit in den Entwicklungsländern erfordern mehr, als durch diesen Haushalt von der Bundesrepublik getan wird. Folglich fordern wir Sozialdemokraten - auch in einer zugegebenermaßen gesamtpolitisch nicht einfachen Lage - eine realistische Erhöhung des Einzelplanes 23, wissend, daß dieses Geld gleichsam mehr als eine Investition für die Zukunft ist. Zwischen den armen und reichen Weltregionen klaffen Welten. Die Kluft bei den Durchschnittseinkommen nimmt zu statt ab. Die brutalen Trennlinien auf der Ost-West-Achse haben sich aufgelöst, auf der Nord-Süd-Schiene soweit verschoben, daß alte Klischees von dem Norden oder dem Süden keinen Sinn mehr ergeben. Mittlerweile bestehen Arm-ReichGefälle in allen Weltregionen, quer zu allen Himmelsrichtungen. Die globalen Umweltgefahren und die Bevölkerungsexplosion, das soziale Elend und die hoffnungslose Wirtschaftsmisere in vielen Teilen der Welt sollten den Ignoranten die Folgen fehlender Entwick- 10592* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit — auch im eigenen Land — bewußt machen: Der Strom von Asylbewerbern und Elendsflüchtlingen überfordert vielerorts die Menschen, löst Übergriffe von Extremisten aus, die selbst vor Mord, wie wir zu Beginn der Woche schmerzvoll erfahren mußten, nicht mehr zurückschrecken; eine Klimakatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes droht. Deshalb ist eine Steigerung des Anteils der Entwicklungshilfe am Sozialprodukt überfällig, muß eine entwicklungspolitische Offensive aus Gründen der Solidarität und Humanität eingeleitet werden. Die Bundesregierung muß daher die Entwicklung regionaler Zusammenschlüsse fördern und regionale Wirtschaftspolitik unterstützen. Das Nebeneinander wirtschaftlich nicht lebensfähiger Entwicklungsländer angesichts der Zusammenschlüsse wirtschaftlich starker Industrie- und Schwellenländer ist eine Entwicklung in die falsche Richtung. Hierdurch kommen die Entwicklungsländer in immer größere Abhängigkeit, und die Chance, sich auf eigene Füße zu stellen, wird geringer. Am Prinzip bilateraler Hilfe ist festzuhalten, wenn dies effizienter ist als multilaterale Förderung. Ein Konzept für eine regionale Entwicklungszusammenarbeit in Teilen Afrikas, Mittelamerikas, im Nahen Osten und in den südlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion ist überfällig. Die diesbezüglichen Bestrebungen im südlichen Afrika (SADDC) sollte die Bundesregierung aufgreifen. Die bisherige Zurückhaltung bei der Förderung regionaler, wirtschaftlicher Zusammenschlüsse im südlichen Afrika muß sich in eine entwicklungspolitische Offensive für Afrika umwandeln. Die steigende Not in Afrika erfordert eine Erhöhung der Finanzmittel, um dem Kontinent überhaupt wieder eine Chance für Entwicklung zu eröffnen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen mit friedenspolitischen Konzepten zu Abrüstung, Waffenexportkontrolle und Aufbau regionaler Sicherheitssysteme verbunden werden. Zwar lassen sich europäische Erfahrungen nicht schematisch auf andere Regionen der Welt übertragen, aber es ist kein Zweifel, daß sowohl der Helsinki-Prozeß wie die sich erweiternde Europäische Gemeinschaft viel internationales Interesse gefunden haben oder sogar als beispielgebend empfunden werden. Eine entwicklungspolitische Offensive muß mithelfen, einen grundlegenden Strukturwandel in den Entwicklungsländern zu bewirken. Dabei sollte immer wieder betont werden, daß die Hilfe für Osteuropa nicht auf Kosten der Zusammenarbeit mit den klassischen Entwicklungsländern gehen darf: Kein „entweder Zweite oder Dritte Welt", sondern ein entschiedenes Handeln für die Eine Welt. Eine auf langfristige wirtschaftliche Gesundung und Entwicklung gerichtete Strukturanpassung kann nur Erfolg haben, wenn folgende Bedingungen hergestellt werden: Erstens muß die Grundbildung und berufliche Qualifizierung breiter Bevölkerungsschichten angestrebt werden. Die Fähigkeit, sich selbst zu helfen, muß verbessert werden. Folglich müssen die Ausgaben für Bildung aufgestockt werden. Zweitens müssen die Rahmenbedingungen für eine effektivere Wirtschaft und eine rechtsstaatliche, funktionierende Verwaltung sowie eine unabhängige Justiz geschaffen werden. Drittens muß das Bevölkerungswachstum gedämpft werden; Strukturen müssen angepaßt werden, soll heißen, Programme für Armutsbekämpfung und Gesundheit, müssen aufgelegt werden. Viertens muß die Förderung von Eigenmaßnahmen beim Umweltschutz erreicht werden. Hierzu könnte ein eigener Titel im Haushalt eingerichtet werden, woraus die Länder gefördert werden sollten, die auf Eingriffe in die Natur weitgehend verzichten. Doch wie kann man hier glaubwürdig einfordern, wozu man selbst nicht bereit ist? Noch in Rio hat Bundeskanzler Kohl sein nationales CO2-Minderungsprogramm verkündet, 25-30 % weniger an Emissionen bis zum Jahre 2005 zu erreichen. Damit sollte auch das Stabilisierungsziel der EG bis zum Jahre 2000 (CO2-Emissionen auf Stand von 1990) übertroffen werden. Nach dem vorliegenden Verkehrswegeplan ist nach vorsichtigen Schätzungen eher ein Ansteigen der CO2-Emissionen um 50 % zu befürchten. Auch hier wird der Widerspruch zwischen Sonntagsreden und Alltag deutlich. Dabei wissen wir: Um den globalen Umweltkollaps zu verhindern, deren Hauptverursacher wir reichen Industriegesellschaften im Norden sind, ist schnelles Handeln erforderlich. Wir wissen, daß selbst bei sofortigem Umsteuern schlimmste Umweltzerstörungen schon heute nicht mehr zu verhindern sind. Ebenso zwingen Bevölkerungsexplosion und soziales Elend zum Handeln. Wahre Völkerwanderungen, bedingt durch die Wirtschaftsmiseren in vielen Teilen der Welt im Süden wie im Osten sollten uns bewußt machen, daß es längst keine Fragen von Herausforderungen im überkommenen Sinne mehr sind, sondern daß es sich um Fragen des Überlebens der Einen Welt handelt. Eine entscheidende Aufgabe wird deshalb darin liegen, die wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und politischen Verhältnisse so zu verändern, daß die Fluchtursachen beseitigt werden. Dazu bedarf es aber nicht nur der Maßnahmen in den Entwicklungsländern, den Ländern Osteuropas und Änderungen im Nord-Süd-Verhältnis, sondern ganz konkreter Schritte der Bundesregierung hinsichtlich gemeinsam aufeinander abgestimmter Initiativen der Industrienationen, sowie der nationalen und internationalen Hilfsorganisationen. Beim Technologietransfer sind adäquate Eigenanstrengungen zu fördern und gewachsene Handelsbeziehungen, besonders in Osteuropa, zu nutzen. Die Maßnahmen der Außen-, Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Entwicklungspolitik müssen stärker aufeinander abgestimmt werden. Die Bundesregierung muß sich national wie international zu einer Politik verpflichten, die staatliches und privatwirtschaftliches Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10593* Handeln im Sinne eines fairen Nord-Süd-, WestOst-Ausgleichs ausrichtet. In diesem Sinne Willy Brandts, der früh darauf hingewiesen und eine Friedensdividende für die Dritte Welt immer wieder eingeklagt hat, sollten Opposition und Regierung gemeinschaftlich handeln. Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit. Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Lassen Sie mich zu Anfang zu einem aktuellen Problem Stellung nehmen. Den Verlust, den die Entwicklungsländer aus Protektionismus und Handelsbeschränkungen erleiden, ist um ein Vielfaches höher als die weltweit geleistete Entwicklungshilfe. Alle Forderungen an die Entwicklungsländer, marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, bleiben unglaubwürdig, wenn die Industrieländer sich nicht selbst an diese Prinzipien halten. Auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse gilt die Erkenntnis, daß freie Handelsgrenzen der beste Entwicklungshelfer sind. Die aktuellen GATT-Verhandlungen, die aktive Entwicklungspolitik darstellen, müssen zügig und erfolgreich beendet werden. Seit zwei Jahren befindet sich die Welt in einer historischen Umbruchsituation. Der Wegfall des OstWest Konfliktes gibt uns die einzigartige Chance, die globalen Probleme erfolgreich anzugehen: — Stärkung und Förderung der jeweils inländischen wirtschaftlichen Wachstumskräfte, um die Armut vor Ort zu bekämpfen. Hierin liegt sicherlich die wirkungsvollste Maßnahme, um die Wanderungsbewegung zu stoppen, deren Ursache in den wenigsten Fällen die politische Verfolgung, sondern in der Regel die wirtschaftliche Not ist. — Stärkung und Förderung von politischen Reformkräften, damit die Freiheit des einzelnen sowie die Eigeninitiative und Eigenverantwortung des einzelnen gestärkt werden als Ausgangspunkt für die Entwicklung von freiheitlichen Gesellschaftssystemen, sowie — Stärkung und Förderung all der Kräfte, die sich für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen. Jede „Mark", die erfolgreich in Entwicklungspolitik investiert wird, leistet hier einen wichtigen Beitrag bei der Lösung dieser globalen Probleme und ist somit eine lebensnotwendige Investition in unsere Zukunft. Diese generelle Vorbemerkung vorausgeschickt, möchte ich zunächst auf wichtige Eckpunkte eingehen, die die Diskussioin über den Einzelplan des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit bei der Beratung bestimmt haben: 1. Mit einer Steigerungsrate von 2,2 % (im Vergleich zum Soll-Ansatz 1992) liegt der Etat des BMZ im allemeinen Trend des Bundeshaushaltes '93 insgesamt. Seitens der Bundesregierung wie auch des Parlaments wird seit vielen Jahren die Erhöhung der ODA-Quote auf ca. 0,7 % im internationalen Vergleich gefordert. An diesem Ziel halten wir in der Koalition fest. Der eben noch eingegangene Antrag der SPD-Fraktion, die Mittel für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Haushaltsjahr 1993 noch um 2 Milliarden DM aufzustocken, ist angesichts der enormen Belastungen des Bundeshaushalts im Zusammenhang mit der Stärkung der Wachstumskräfte in den NBL kurzfristig nicht realisierbar. Deshalb ist auch die Forderung der SPD-Fraktion nach einer Steigerung der ODA-Quote auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts in dieser Form nicht haltbar. Wir lehnen diesen Antrag deshalb ab. Ich selbst hatte und habe immer meine Skepsis gegenüber einer derartigen Meßgröße geäußert, da sie im Widerspruch steht zu einer auf strikte Konsolidierung der öffentlichen Finanzen angelegten Politik. Für die kommenden Jahre sollten wir jedoch als Ziel anstreben, daß wir uns an der durchschnittlichen ODA-Quote der Industrieländer mit 0,34 % orientieren, mit der Konsequenz, daß in der mittelfristigen Finanzplanung die Steigerung des EP 23 unter Einschluß der Hilfen für die MOE- und GUS-Staaten sich am Wachstum des nominalen BSP orientieren, d. h. in den Jahren bis 1996 um durchschnittlich ca. 4-5 % wachsen sollte. 2. Einen weiteren Schwerpunkt haben wir in diesem Jahr mit der Steigerung der Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa gesetzt, der nunmehr mit 82 Millionen in diesem Einzelplan liegen wird. Zur Erinnerung: gemeinsam über die Fraktionen hinweg haben wir erstmals im Jahr 1990 hierfür einen Ansatz in Höhe von 10 Millionen bei den Berichterstattergesprächen eingestellt. Im Vergleich zu 1993 entspräche dies nunmehr einer Steigerung von 800 %, womit die enorm gewachsene Bedeutung dieses Bereiches in der Entwicklungspolitik deutlich zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig begrüßen wir es, daß nun endlich eine Koordinierungsstelle beim Bundeskanzleramt eingerichtet worden ist, um die Hilfe insgesamt für diesen Bereich zu koordinieren. Wir begrüßen ausdrücklich, daß die hervorragend bewährten Instrumente des BMZ im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nun auch für diese Länder genutzt werden. 3. Das Stammkapital der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) wird um 200 Millionen auf dann 1,2 Milliarden erhöht. Hierdruch wird die DEG in die Lage versetzt, auch zusätzliche Kapitalmarktkmittel aufzunehmen und ihr Umsatzvolumen entsprechend zu erhöhen. Der DEG wird zukünftig ein wichtiger Beitrag zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa sowie in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zufallen. Hierbei muß ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer unternehmerischen Tätigkeit in der Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen diesen Staaten und insbesondere den Neuen Bundesländern liegen. 4. Wir haben erneut die Deckelung bei der internationalen Ernährungshilfe in der Bereinigungsrunde im Haushaltsausschuß aufgegriffen und der Bundesregierung entsprechende Verhaltensregelungen — im Rahmen einer Protokollnotiz — bei der Bereinigungsrunde im Haushaltsausschuß ins Stammbuch geschrieben. Der EP 23 ist in seiner finanziellen Ausgestaltung so eng, daß weitere Spielräume für überplanmäßige Ausgaben nicht gegeben sind. Über- 10594* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 planmäßige Ausgaben müssen gegebenenfalls dann aus dem Bundesetat insgesamt finanziert werden. 5. Die langwierige Diskussion über die Privatisierung von DEG und GTZ sind ebenfalls im Rahmen der Berichterstattergespräche sowie in ausführlicher Diskussion im Fachausschuß abschließend behandelt worden. Eine Privatisierung kommt für beide nicht in Betracht, weil eine wettbewerbsorientierte marktwirtschaftliche Ersatzlösung nicht erkennbar ist aufgrund der besonderen Aufgaben, die beide Organisationen für die Bundesrepublik Deutschland zu erfüllen haben. Bei der GTZ bleibt allerdings anzumerken, daß nunmehr zügig die Optimierung des Vorfeldes umgesetzt wird, daß insbesondere auch die Kooperationsmöglichkeiten mit den privaten Consulting-Unternehmen voll genutzt und gleichzeitig die SynergieEffekte zwischen GTZ (zuständig für die TZ) und der KfW (verantwortlich für die FZ) genutzt werden. Die Eigenständigkeit der GTZ darf allerdings nicht berührt werden. Ein weiterer Schwerpunkt während der Beratungen lag in der Diskussion über die zukünftige Bedeutung der multilateralen Entwicklungspolitik und hierbei insbesondere ihre Stellung zu der bilateralen, zur nationalen Entwicklungshilfe. Sorgenvoll betrachten wir, daß durch eine vom Parlament aus nicht zu kontrollierende Entwicklung im multilateralen Sektor die nationale Entwicklungszusammenarbeit zunehmend in einen immer enger werdenden finanziellen Rahmen gepresst wird und oftmals als „Reservekasse" oder „Notgroschen" für internationale Zusagen herhalten muß. Folgendes ist festzuhalten: 1. Die finanziellen Zuwendungen an bestimmte internationale Organisationen bzw. Fonds haben in den letzten Jahren eine überproportionale Steigerung erfahren. Gravierendstes Beispiel hierbei ist der Europäische Entwicklungsfonds, der in den letzten 10 Jahren (83/93) eine Steigerung um 110 %, von 440 Millionen auf jetzt 940 Mio erfahren hat. 2. Der multilaterale Bereich ist generell einer direkten parlamentarischen Kontrolle entzogen. Einer derartigen Entwicklung kann ein selbstbewußtes Parlament kein Interesse haben. 3. Die Effizienz von großen Organisationen — national wie international — ist in der Regel nicht besonders ausgeprägt. Gerade aber in Zeiten knappster Kassen kommt es darauf an, mit jeder eingesetzten Mark auch ein Höchstmaß an Wirkung zu erzielen. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, folgendes sicherzustellen: 1. Der Anteil der multilateralen Entwicklungshilfe im EP 23 muß bei ca. 30 % verbleiben. 2. Falls aufgrund von Zusagen Aufstockungen für internationale Organisationen erforderlich sind, die über der allgemeinen Steigerungsrate des Einzelplanes liegen, muß der gesamte Einzelplan so angehoben werden, daß die bilaterale Hilfe in gleichem Umfang steigt. Gegebenenfalls müssen auf internationaler Ebene auch einmal die Schlüssel der Beitragsverpflichtungen entsprechend neu festgelegt bzw. zur Diskussion gestellt werden. 3. In jedem Fall ist sicherzustellen, daß die deutschen Lieferanteile den deutschen Kapitalanteilen in den einzelnen Organisationen bzw. Banken entsprechen. Ein besonders negatives Beispiel ist hierbei erneut der EEF: Deutschland ist mit 26 % der größte Geber, bei den Lieferanteilen aber nur mit 10,7 % vertreten. Im Rahmen der Haushaltsberatungen haben wir als weiteren Schwerpunkt die Abstimmung von entwicklungspolitischen Zielen auf internationaler Ebene angesprochen. Wir betrachten auf internationaler Ebene eine Entwicklung, die nur scheinbar mit der Entwicklungspolitik nicht zusammenhängt. Zunehmend bilden sich in wichtigen Regionen unserer Welt größere Wirtschaftsräume und Handelsblöcke (Trend zur Regionalisierung des Welthandels), so z. B. in Afrika: SADCC, Southern African Development Coordination Conference, in Südostasien: AFTA, Regionale Freihandelszone der ASEAN-Staaten (ca. 500 Millionen), in Südamerika (insgesamt 297 Millionen Menschen): Andenpakt — Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela — und Mercuosur — Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay —, in Nordamerika (insgesamt 427 Miollionen Menschen): NAFTA ab 1994 — USA / Kanada / Mexiko. Nicht zu vergessen ist hierbei das global gesehen größte nationale Absatzgebiet nämlich China mit einer Bevölkerung von ca. 1,2 Milliarden Menschen. Ehemalige Entwicklungsländer wie z. B. Südkorea, Hongkong, Taiwan und Singapur wachsen zu vollwertigen Industrieländern heran und sind inzwischen harte Wettbewerber der „Exportnation Deutschland". Derzeitig „noch Schwellenländer" wie Thailand, Malaysia, Indonesien sowie möglicherweise in naher Zukunft auch Argentinien und Chile, werden sich bald zu sogenannten „kleinen Tigern" gemausert haben. China — wie gleichermaßen Vietnam — leiten bereits unbeirrt und sehr schnell pragmatische Wege zu einer marktwirtschaftlichen Entwicklung ein. Als „wirtschafts-politische Sphinx" in der asiatischen Region handelt Japan offensichtlich nach der Devise: „Jede Entwicklungsmark muß insbesondere die Exportbemühungen der eigenen Industrie fördern." Angesichts dieser Entwicklung sehe ich folgende Orientierungspunkte, die von der Bundesregierung zukünftig stärker zu beachten sind: 1. Die im vergangenen Jahr festgelegten verschärften Kriterien für die Vergabe von bundesdeutschen Mitteln für die Entwicklungshilfe (Einhaltung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtssicherheit, marktfreundliche Wirtschaftsordnung sowie Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns) können für einen sichtbar größeren Wirkungsgrad in der Entwicklungspolitik sorgen. Eine ständige Überprüfung der Länderquoten ist gerade auch im Hinblick auf eine politische Akzeptanz bei uns im Lande sowie angesichts der engen finanziellen Grenzen der öffentlichen Haushalte mehr als erforderlich. Zu begrüßen ist, daß der Bundesminister im Rahmen der Beratung erlärt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10595* hat, daß diese Vergabepraxis ihren Niederschlag bereits in der Zusammenarbeit mit einzelnen Ländern gefunden hat. So kam es zu reduzierten Ansätzen wegen mangelnder Eigenanstrengungen und mangelnder Bereitschaft zu notwendigen Strukturanpassungen z. B. in Brasilien, in der Dominikanischen Republik und in Pakistan. Umgekehrt kam es zu einer Anhebung der Quoten wegen positiver Entwicklung z. B. bei den Ländern Bolivien, Nicaragua und Sambia. Die Einhaltung bzw. Umsetzung dieser Kriterien muß konsequent fortgesetzt werden. Entwicklungshilfe kann und wird nur dann effektiv sein, wenn in den Nehmerländern selbst entsprechende Rahmenbedingungen gezielt angestrebt und auch umgesetzt werden. 2. Auf der internationalen Ebene müssen die Geberländer ihre Bemühungen eindeutig verstärken, damit die soeben erwähnten Vergabekriterien als internationaler Maßstab für Entwicklungshilfe allgemein akzeptiert und insbesondere auch von allen praktiziert werden. Folgende Arbeitsteilung wird auf Dauer nicht mehr funktionieren: Wir in Deutschland halten an den Vergabekriterien fest, da sie letztendlich die Umsetzung von Entwicklungshilfe effektiver gestalten. Ggf. reduzieren wir dann auch unsere Entwicklungshilfe auf Kernbereiche, wie z. B. die Aus- und Fortbildung, oder — um in einem Bild zu bleiben — auf die sogenannte „Software" der Entwicklungshilfe. Andere Länder wiederum, wie z. B. Japan, gehen großzügiger mit den Vergabekriterien um, da sie mehr daran interessiert sind, die eigene Industrie bei der Erschließung von Zukunftsmärkten zu unterstützen, z. B. durch die Finanzierung von Großprojekten im Verkehrsbereich; am besten dann noch finanziert über eine internationale Entwicklungsbank; um wieder im Bild zu bleiben: sie konzentrieren sich auf die sogenannte „Hardware". Eine derartige internationale Arbeitsteilung — oder etwas humorvoll ausgedrückt: „burden sharing à la Entwicklungshilfe" hat dann folgende Konsequenz: Wir bilden die Mechaniker aus, damit diese anschließend auch die Toyotas entsprechend warten können, die dann auf den von Südkorea gebauten Straßen fahren können. Eine derartige internationale Aufgabenteilung werden wir nicht weiter tolerieren. Wir müssen bei den internationalen Partnern nachhaltig um Verständnis werben, daß die globalen Probleme auch ein globales abgestimmtes Vorgehen und keine Verfolgung von Partikulärinteressen erfordern. 3. Diese Diskussion zeigt allerdings auch, daß wir in Zukunft zu einer engeren Verzahnung von Entwicklungs-, Wirtschafts- und Außenpolitik kommen müssen. Die Eigenständigkeit eines eigenen Ministeriums für die wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bestens bewährt. Dies muß auch von den anderen Ressorts so akzeptiert werden. Unterschwellige bis offene interministerielle Eifersüchteleien, die so manches Mal zutage treten, müssen angesichts der großen Probleme zukünftig vermieden werden. Es geht letztendlich um unsere Gesamtverantwortung, der man am besten durch gemeinsames Handeln national wie international gerecht wird. Werner Zywietz (F.D.P.): Die diesjährige Haushaltsdebatte findet in einer Phase konjunktureller Abschwächung statt, die nicht nur Bereitschaft zur Ausgabenbegrenzung in allen Politikbereichen verlangt, sondern in der die Bundesrepublik Deutschland insgesamt vor außergewöhnlichen Herausforderungen steht. Die gewaltigen Erblasten von über 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft müssen beseitigt, der Infrastrukturausbau und die wirtschaftliche Erneuerung in den östlichen Bundesländern im Interesse einer Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zügig fortgesetzt werden. Gleichzeitig geht es um die Bewältigung der ausufernden Asyl- und Flüchtlingsproblematik und die Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung bei der Lösung regionaler Konflikte, zur Unterstützung des Reformprozesses in Osteuropa und der GUS sowie zur weltweiten Überwindung von Hunger und Armut. Dies erfordert Augenmaß und eine Politik, die klare Prioritäten setzt. Erste Priorität muß in dieser Situation der Bewältigung unserer Aufgaben auf nationaler Ebene zukommen. Damit schaffen wir gleichzeitig die nötigen Voraussetzungen, um in Zukunft noch größere Leistungen im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen erbringen zu können. Der Etat des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 ist ein Beleg dafür, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen zu ihrer Verantwortung stehen, durch eine qualitativ und quantitativ verbesserte Entwicklungszusammenarbeit zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungsprobleme beizutragen. In einer Zeit größter finanzpolitischer Herausforderungen ist das Ausgabevolumen dieses Etats nicht etwa gesunken, wie es von Pessimisten und Kritikern bereits vorausgesagt wurde, sondern weiter erhöht worden. Mit einem Plafond von 8,457 Milliarden DM steigt der Einzelplan 23 gegenüber dem Vorjahr um 2,2 %. Damit werden die finanziellen Voraussetzungen für eine Fortsetzung unserer langfristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit geschaffen. So wichtig eine weitere Erhöhung der Mittel für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit auch ist, ohne strukturelle Reformen und Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer selbst werden alle Bemühungen der Unterstützung von außen vergeblich sein. Die Nord-Süd-Beziehungen sind heute duch das gemeinsame Bekenntnis zu Marktwirtschaft und guter Regierungsführung geprägt. Eigenanstrengungen und marktwirtschaftliche Reformen in einer Reihe von Entwicklungsländern zeigen erste Erfolge. Wirtschaftliche Fortschritte konnten inzwischen vor allem asiatische und lateinamerikanische Länder erzielen. Der dort festzustellende Anstieg der Direktinvestitionen und der starke Rückfluß von Fluchtkapital sind ein deutliches Indiz dafür, daß die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Mobilisierung privaten Kapitals, wirtschaftliche Gesundung und die Überwindung der Verschuldungsprobleme unverzichtbar sind. Funktionierende Märkte und Freiräume für private unternehmerische Initiative sind damit der entscheidende Ansatzpunkt auch für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Entwicklungsländern. Auf diese Weise wird zugleich ein nachhaltiger Beitrag zur Armutsbekämpfung geleistet. Das Konzept der deutschen Entwick- 10596* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit mißt der Schaffung solcher Rahmenbedingungen, der Privatinitiative und der Förderung eines privaten Unternehmertums große Bedeutung bei. Im Haushalt 1993 sehen die entsprechenden Ausgabetitel hierfür deutliche Steigerungen vor. Ein besonderes Signal für den Ausbau der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde mit der im Zuge der parlamentarischen Beratungen vorgenommenen Bereitstellung einer Verpflichtungsermächtigung in Höhe von 200 Millionen DM für die Kapitalerhöhung der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH (DEG) gesetzt. Hierdurch wird nicht nur eine Förderung von Vorhaben im privaten Sektor ausgeweitet, sondern auch die Grundlage für eine zusätzliche Mobilisierung privaten Kapitals geschaffen. Die Übernahme globaler Verantwortung darf sich allerdings nicht nur auf eine qualitativ und quantitativ verbesserte Entwicklungszusammenarbeit beschränken. Durch eine verantwortungsbewußte und glaubwürdige eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen die Industriestaaten gleichzeitig ihrer Mitverantwortung für stabile weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen gerecht werden. Die konsequente Fortsetzung der auf wirtschaftliches Wachstum und finanzpolitische Stabilität gerichteten Politik dieser Regierungskoalition verdient daher auch unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten nachdrückliche Unterstützung. Angesichts der vor uns liegenden enormen Herausforderungen bedeutet dies weitere Einsparungen in allen öffentlichen Haushalten, Subventionsabbau und eine Lohnpolitik, die den Prozeß der Strukturanpassung und der Schaffung von günstigen Bedingungen für Investitionen, Wachstum und Beschäftigung nicht behindert. Das heißt allerdings auch, daß nunmehr die Chancen für einen erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Verhandlungsrunde des GATT entschlossen genutzt werden müssen. Der inzwischen mit den USA im Agrarbereich erzielte Kompromiß ist akzeptabel und vernünftig. Damit ist der Weg freigeworden für eine Gesamteinigung im Rahmen der GATT-Verhandlungen. Der in greifbare Nähe gerückte Erfolg der Uruguay-Runde darf nicht durch Partikularinteressen gefährdet werden. Ein solcher Erfolg wäre ein wichtiger Wachstumsimpuls in einer Phase geschwächter weltwirtschaftlicher Entwicklung und liegt in unserem ureigenen Interesse. Er ist aber auch von besonderer Bedeutung für die Entwicklungsländer. Fortschritte bei der weltweiten Handelsliberalisierung und ein verbesserter Marktzugang bedeuten für die Entwicklungsländer Deviseneinnahmen und ermöglichen ihnen, industrielle Produkte und Dienstleistungen anderer Welthandelspartner zu kaufen. Eine weitere Liberalisierung des Welthandels fördert nicht nur die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft, sondern schafft zugleich auch günstige Voraussetzungen für die Effizienz und Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit. Freier Welthandel und umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit müssen zu den tragenden Säulen globaler Entwicklungspartnerschaft gemacht werden. Aufgabe der Entwicklungspolitik ist es, ihren Beitrag zu einer solchen Strategie der Zukunftssicherung zu leisten. Der Aufbau demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen, die Bekämpfung der Armut und ihrer Ursachen sowie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen müssen daher zentrale Ziele künftiger Entwicklungszusammenarbeit sein. Ich begrüße, daß die Bundesregierung diesen Erfordernissen Rechnung trägt und die wichtigsten Handlungsfelder des beim Rio-Gipfel verabschiedeten Aktionsprogramms „Agenda 21" zu Schwerpunkten deutscher Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat. Zu dieser konsequenten und sachgerechten Politik gibt es keine Alternative. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt dem heute zur Beratung vorliegenden Einzelplan 23 zu. Wir erwarten, daß die dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 bereitgestellten Mittel und Verpflichtungsermächtigungen zur Lösung der anstehenden entwicklungspolitischen Aufgaben eingesetzt werden. Hierbei haben Sie, Herr Minister Spranger, und die Mitarbeiter Ihres Hauses unsere volle Unterstützung. Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): In der ersten Lesung des Haushaltsgesetzes am 9. September habe ich den Entwurf des Einzelplanes 23 als quantitativ und qualitativ unzureichend und nicht den Erfordernissen der Zeit angemessen bezeichnet. Heute sprechen wir über einen qualitativ unwesentlich veränderten und um 62 Millionen DM gekürzten Etat. An meiner Einschätzung und daraus folgenden Ablehnung des vorliegenden Haushaltsplanes des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich verständlicherweise nichts geändert. Was während der ersten Lesung des Haushaltes von Herrn Minister Spranger noch als leiser Zweifel angedeutet wurde, ist inzwischen auch mit den raffiniertesten Rechentricks nicht mehr zu verschleiern: Die Mittelausstattung des BMZ wird mit den gewachsenen und weiter wachsenden Herausforderungen nicht Schritt halten können. Die Reaktion des Hauses Spranger ist symptomatisch: Der Minister selbst tritt die Flucht nach vorn an und verteidigt (wider besseres Wissen?) das Ergebnis der Haushaltsberatungen als das Optimum dessen, was heute möglich war. Noch einen Schritt weiter geht Frau Geiger mit ihrem Versuch, dieses blamable Ergebnis der Haushaltsberatungen zu beschönigen. Ich frage mich wirklich, welchen Nutzen es hat, über eine Anrechnung der Aufwendung für Asylbewerber in der Bundesrepublik auf die Entwicklungshilfe für die Herkunftsländer auch nur laut nachzudenken. Es ist in der letzten Zeit schon zu viel und unverantwortlich in der Asylfrage argumentiert und propagiert worden. Muß da auch die Menschenrechtsbeauftragte des BMZ ihr Scherflein beitragen, indem sie durch unzulässige, aber eingängige Zahlenspielereien deutsches Selbstwertgefühl steigert frei nach dem Motto: Seht her, was wir leisten? Den Opfern der nach wie vor und auch perspektivisch ungerechten Weltwirtschaftsordnung nützt das herzlich wenig. Um Mißdeutungen vorzubeugen: Schwerpunkt unserer Kritik und Ablehnung des vorliegenden Haushaltsentwurfes ist nicht vorrangig die Quantität Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10597* der bereitzustellenden Mittel, auch nicht die Tatsache, daß das zu kurze Hemd jetzt kaum noch bis unter die Achseln reicht. Wir kritisieren in erster Linie die Disproportionen innerhalb des Gesamthaushaltes, in dem Entwicklungszusammenarbeit marginalisiert und neben Wirtschafts- und Außenpolitik zur Bedeutungslosigleit verdammt wird. Oder, mit anderen Worten, was Herr Minister Spranger mühsam aufbaut, reißen Herr Möllemann und Herr Kinkel in der Regel wieder ein. Die Weigerung, bei Hermes-Bürgschaften auch entwicklungspolitische Kriterien anzulegen, illustriert diesen Vorgang anschaulich. Welchen Wert haben Vergabekriterien, Schwerpunktverschiebungen innerhalb des Entwicklungsressorts, wie sie von Herrn Minister Spranger im September in seiner Nachfrage an den Kollegen Hauchler nahezu erbittert aufgezählt wurden, wenn es nur ausreichend gewichtiger wirtschaftlicher oder geostrategischer Gründe bedarf, um sie vom Tisch zu kehren? Es ist, als ob es Rio nie gegeben hätte. Außer Beteuerungen, Versprechen und großen Gesten geschieht nichts, was die brennenden globalen Probleme einer Lösung auch nur näherbringt. 0,37 Prozent des Bruttosozialproduktes für eine immer größer werdende Gruppe von Entwicklungsländern, davon ein beträchtlicher Anteil für Großprojekte und Großabnehmer — es ist wirklich zum Verzweifeln. Solange der Teufelskreis von Abhängigkeit, Verschuldung, Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung nicht durch radikale Entschuldung und gleichzeitige Umgestaltung der weltwirtschaftlichen Strukturen nachhaltig durchbrochen wird, kann von einer Bewältigung der existentiellen Probleme der Einen Welt keine Rede sein. Im Entwurf des Gesamthaushaltes deutet nichts darauf hin, daß die Bundesregierung verstanden hätte, wie ernst die Lage bereits ist. In unser aller Interesse bleibt zu hoffen, daß sich in der Kosten-Nutzen-Rechnung der verantwortlichen Politiker die von ihnen praktizierte Schadensbegrenzung bald als wirtschaftlich unvorteilhaft erweist. Auf den gesunden Menschenverstand und die Einsicht in die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen in Nord und Süd wage ich bald nicht mehr zu hoffen. Dem Entschließungsantrag der SPD zur Steigerung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des BSP bis zum Jahr 2000 stimme ich zu. Zwar ist das Problem der bundesdeutschen Entwicklungspolitik nicht nur die Quantität der bereitgestellten Mittel, aber eine Steigerung des BMZ-Haushaltes um 2 Milliarden im Jahre 1993 wäre zumindest ein Signal, daß die Bundesregierung die Zeichen der Zeit erkannt hat. Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits der Entwurf des Einzelplans 23 signalisierte schwerwiegende Kürzungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, die, bei allem Verständnis für die angespannte Haushaltslage, für Entwicklungspolitiker kaum zu akzeptieren waren. Die jetzt zur Debatte stehenden Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses sind erst recht kritikwürdig. Er stößt nicht nur eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern vor den Kopf, denen Bundesminister Spranger in seiner Rede zur ersten Lesung des Haushalts ausdrücklich für „ihren großen Einsatz, sich mit viel Idealismus und Zuversicht für die Bekämpfung des Elends in der Welt einzusetzen" dankt, sondern auch die Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit müssen sich düpiert fühlen. Die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses lassen jedenfalls nicht den Schluß zu, daß die Kompetenz und der Sachverstand des für die Entwicklungspolitik zuständigen Ausschusses in irgendeiner Weise an entscheidender Stelle berücksichtigt worden sind. Vorgeschlagene Titelerhöhungen wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, abgelehnt, oder aber die finanziellen Mittel der betreffenden Titel wurden sogar noch gekürzt. Damit werden entwicklungspolitische Beschlüsse des Fachausschusses über Bord geworfen. Der Frauenförderung in der Entwicklungszusammenarbeit wird nach unserer Auffassung nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Eine Erhöhung für den Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen ließ sich, trotz Unterstützung von einigen Kolleginnen und Kollegen der Koalition, nicht durchsetzen. Die Konferenz in Rio hat erneut und nachdrücklich deutlich gemacht, daß für eine weltweite umweltverträgliche und soziale Entwicklung eine Umgestaltung der Lebensverhältnisse auch im Norden notwendig ist. Die Signale, die hierfür von diesem Haushalt ausgehen, sind nicht deutlich genug. Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und die Ausschreitungen gegen Ausländer haben die besondere Bedeutung einer entwicklungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit dringend deutlich gemacht. Deshalb ist gerade die Kürzung des Titels „Förderung der entwicklungspolitischen Bildung" um 1,5 Millionen unverständlich und nicht zu akzeptieren. Der Zusammenhang ist doch deutlich: Immer häufiger wird zur Rechtfertigung des „Stiefkindes" Entwicklungspolitik die Fluchtursachenbekämpfung herangezogen. Ich frage mich, was soll Entwicklungspolitik eigentlich anderes sein. Jede Entwicklungspolitik sollte nach meinem Verständnis zu einer Verbesserung in dem betreffenden Land führen und damit helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Förderung der deutschen Wirtschaft kann immer nur ein Nebenprodukt, nie aber Hauptzweck sein. Ich denke, daß alle Entwicklungspolitiker dieses Hohen Hauses sich darin einig sind. Deshalb ist mir nicht verständlich, weshalb die vom Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorgeschlagene Ergänzung zum Titel 68606 „Förderung von Ernährungssicherungsprogrammen in Entwicklungsländern" nicht aufgenommen wurde. Sie fordert, daß die notwendige Nahrungsmittelhilfe vorrangig durch den Kauf von Überschußangeboten anderer Entwicklungsländer ermöglicht werden soll. Insgesamt wird der ohnehin knappe Etat für die Entwicklungszusammenarbeit nochmals um ca. 98 Millionen gekürzt. Allein der Titel der Finanziellen 10598* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Zusammenarbeit wird um 75 Millionen gekürzt. Die Mittel für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Ländern Mittel- und Osteuropas und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten werden um fast 12 Millionen gekürzt. Nach unserer Auffassung spart in diesem Falle die Bundesregierung am verkehrten Objekt. Einsparungen in der Entwicklungszusammenarbeit führen immer zu Spätfolgekosten, die um ein Vielfaches höher sind. Mehrausgaben sind für eine Reihe von Titeln insgesamt in einer Höhe von ca. 35 Millionen geplant. Nur ein Bruchteil dieser Erhöhungen basiert auf Empfehlungen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der entwicklungspolitische Sachverstand der Haushälter läßt sich noch an anderer Stelle bezweifeln. So werden die Einnahmen aus Zinsen und Tilgungen von Darlehen der bilateralen Finanziellen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern um insgesamt 88 Millionen erhöht. Zwischen Entwurf und Beschlußempfehlung zum Haushalt liegen ein paar Monate. Ich glaube nicht, daß sich in dieser Zeit die internationale Weltwirtschaftslage so verbessert hat, daß ein derartiger hoher Anstieg der Einnahmen — bei den Zinsen sind es 25 % — zu erwarten ist, es sei denn, schon die erste Schätzung war unseriös. Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Trotz der schwierigen Finanzlage wird der Haushalt des BMZ auch 1993 gesteigert. Dies unterstreicht den hohen Stellenwert der Entwicklungspolitik in der politischen Zielsetzung der Bundesregierung. Den Mitgliedern des Haushaltsausschusses — insbesondere den Berichterstattern — und den Kollegen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die sich für diese Steigerung eingesetzt haben, möchte ich meinen herzlichen Dank für die großartige Arbeit aussprechen. Ich werte das Ergebnis der Haushaltsberatungen auch als eine erneute Zustimmung zu unserer entwicklungspolitischen Gesamtkonzeption. Diese Gesamtkonzeption — beruhend auf transparenten Vergabekriterien, einer Konzentration der Zusammenarbeit auf Schwerpunktsektoren und spezifischen Länderkonzepten — hat national und international breite Zustimmung gefunden. Aber auch die Erwartungen an uns sind gestiegen. Vom geeinten Deutschland wird die Übernahme von mehr Verantwortung in der Welt gefordert. Gleichzeitig kommen neue Herausforderungen auf uns zu. Die Beseitigung der Hinterlassenschaft des Kommunismus im ehemaligen Ostblock fordert auch die Entwicklungspolitik. Die Zahl unserer Partnerländer ist durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums gestiegen, ebenso wie der Problemdruck durch Armut, Umweltzerstörung und Naturkatastrophen. Wir müssen uns diesen neuen Herausforderungen stellen. Deshalb bin ich froh über den — wenn auch bescheidenen — Zuwachs unserer Haushaltsmittel, vor allem aber über wichtige strukturelle Verbesserungen, die in den Beratungen erreicht wurden. Dazu zählt insbesondere die Erhöhung des Stammkapitals der „Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft " (DEG) für zusätzliche Aufgaben beim Aufbau der Wirtschaft in Mittel- und Osteuropa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die Staaten im Osten brauchen die marktwirtschaftlichen Erfahrungen der DEG bei der Transformation ihrer Wirtschaften. Die Förderung der Privatwirtschaft als wesentlicher Bestandteil deutscher Entwicklungspolitik erhält damit zusätzliches Gewicht. Ludwig Erhards Modell einer „sozialen Marktwirtschaft" ist gerade in Osteuropa zum Leitbild geworden. Dieses Leitbild schafft die Basis für westliches Kapital und entsandte Experten. Neben der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit hat die multilaterale Kooperation wachsende Bedeutung. Für globale Aufgaben sind multilaterale Institutionen besser geeignet. Maßnahmen des Klimaschutzes, der Meeresverschmutzung und zur Bekämpfung von AIDS können sinnvoll nur weltweit angegangen werden und überfordern auch die Leistungsfähigkeit einzelner Geber. Bei der Bevölkerungspolitik, bei Strukturanpassungsprogrammen und bei der Bewältigung der Schuldenkrise ist multilaterale Zusammenarbeit ebenfalls unverzichtbar. Die gezielten Aufstockungen im multilateralen Bereich, die uns erlauben, die Ergebnisse der Rio-Konferenz im Rahmen des finanziell Möglichen umzusetzen, sind deshalb zu begrüßen. Umgekehrt gilt aber auch: Multilaterale Entwicklungshilfe darf nicht unbegrenzt zu Lasten unserer bilateralen Zusammenarbeit ausgeweitet werden. Ich werde deshalb darauf achten, die gegenwärtige Relation zwischen bilateralen und multilateralen Ausgaben zu halten. Auch in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit müssen Effizienz und Wirksamkeit im Vordergrund stehen. So wie wir mit der Einführung unserer Vergabekriterien eine Qualitätssteigerung unserer bilateralen Hilfe eingeleitet haben, müssen wir auch international einen höheren Effizienzstandard erreichen. Wir werden daher die strikte Anwendung unserer — von der EG-Kommission weitgehend übernommenen — Vergabekriterien fordern und überprüfen. Die parlamentarischen Beratungen zum Haushalt 1993 haben die wichtige Stellung des BMZ bei den Hilfen für Mittel- und Osteuropa und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten erneut bekräftigt. Dies ist um so wichtiger, als die OECD gerade fünf asiatische GUS-Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan) offiziell als Entwicklungsländer anerkannt hat. Weitere GUS- und MOE-Länder werden bald folgen. Die Ausweisung der bilateralen Beratungsmaßnahmen in einem eigenen Titel stellt sicher, daß diese Hilfen zusätzlich und nicht auf Kosten der klassischen Entwicklungsländer erfolgen. An diesem Grundsatz, über den es einen breiten Konsens in diesem Hause gibt, will ich konsequent festhalten. Meine Damen und Herren, bei all diesen positiven Entwicklungen im Einzelplan 23 läßt sich nicht verhehlen, daß die Steigerungsrate hinter dem zurück- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10599 * bleibt, was eigentlich erforderlich wäre und auch international von uns erwartet wird. Der Zuwachs ist gemessen an den neuen Aufgaben und an der gestiegenen Anzahl der Entwicklungsländer gering. Doch um nicht mißverstanden zu werden, sage ich: Mir geht es dabei nicht um ein schlichtes Ressortinteresse. Mein Anliegen ist es, daß Deutschland seine Verpflichtungen gegenüber den Partnern in der Welt erfüllen kann und angesichts der Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, auch erfüllen muß. Genauso wie wir die innere Einheit Deutschlands ohne finanzielle Opfer nicht vollenden können, müssen wir unserer gewachsenen Verantwortung für Frieden und Humanität in der Welt durch eine Steigerung der Hilfe für die ärmeren Lander gerecht werden. Natürlich ist die beschränkte Steigerung des BMZ-Haushalts eine Folge der Beseitigung der verheerenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Erblasten des kommunistischen Systems der ehemaligen DDR. Aber der massenhafte Zustrom von Asylbewerbern, von Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen ist eine vielleicht letzte Mahnung, bei der Bewältigung unserer inneren Probleme den weltweiten Teufelskreis von Unterentwicklung, Armut, Flüchtlingsströmen und Umweltzerstörung nicht aus dem Auge zu verlieren. Diese Probleme wachsen ständig. Dazu kommen die zusätzlichen Aufgaben in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in Osteuropa. Entwicklungszusammenarbeit ist deshalb auch eine Investition in unsere eigene Zukunft. Wenn die Probleme in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa nicht vor Ort gelöst werden, dann werden wir sie bald innerhalb unserer Grenzen haben. Und dann wird ihre Lösung um vieles teurer, von den psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen in unserem Land ganz zu schweigen. Nichts verdeutlicht diese Zwangsläufigkeit klarer als das Asylthema. Wieviel sinnvoller könnten die Milliarden, die wir in Deutschland für Wirtschaftsflüchtlinge ausgeben, zur Bekämpfung der Fluchtursachen eingesetzt werden! Wieviel könnte gespart werden, wenn Flüchtlinge in ihren Heimatländern blieben und ihre Kraft und Fähigkeiten zum Aufbau ihres Landes einsetzen würden! Entwicklungszusammenarbeit verringert Fluchtursachen, sie kann jedoch nicht — das möchte ich noch einmal ausdrücklich klarstellen — das ausbügeln, was innenpolitisch zu regeln ist: Dem Massenmißbrauch des Asylrechts endlich einen Riegel vorschieben. Nach 10jähriger Diskussion und steigenden Asylbewerberzahlen hat ja offenbar auch die SPD einen Handlungsbedarf erkannt. Entwicklungspolitik greift unsere eigenen Zukunftsinteressen auf — daher darf sie bei finanziellen Einsparungen nicht pauschal gekürzt werden! Dies gilt auch für scheinbar Nebensächliches: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird den Herausforderungen nur gerecht werden können, wenn sich das Mißverhältnis zwischen den ständig zunehmenden Aufgaben und der administrativen Ausstattung des Ministeriums nicht noch weiter verschärft. Die ehemalige DDR hat uns Projekte in etlichen früheren „sozialistischen Bruderländern" hinterlassen. Der Zerfall der Sowjetunion und die Entwicklung auf dem Balkan haben voraussichtlich das Entstehen von über einem Dutzend neuer Entwicklungsländer zur Folge. Wir haben schon jetzt weit über 100 Partnerländer in der Welt. Die Rio-Konferenz hat verdeutlicht, welche neuen sektoralen Anforderungen auf uns zukommen. Mit diesem Aufgabenzuwachs hat die Personalentwicklung im BMZ alles andere als Schritt gehalten. Ich bin jedoch dankbar, daß der Haushaltsausschuß dieses Problem auf gegriffen hat und bin zuversichtlich, daß bald auch Lösungen gefunden werden. Meine Damen und Herren, die weltpolitischen Umwälzungen in den letzten drei Jahren haben dramatische Entwicklungen ausgelöst. Wir dürfen uns bei aller Konzentration auf die Auswirkungen in unserem Land nicht davor verschließen, daß in vielen Entwicklungsländern und jetzt auch im Osten Elend und Not herrschen. Wir dürfen die Relationen nicht aus den Augen verlieren: Während bei uns um Erhalt oder Ausbau des Wohlstandes gestritten wird, geht es in Afrika und weiten Teilen Asiens um Leben oder Tod. Diese Erkenntnis verpflichtet uns, unsere Entwicklungszusammenarbeit weiter zu verbessern, trotz oder gerade auch wegen der schwierigen Finanzlage. Es kann nicht sein, daß ein kleiner Teil der Menschheit immer besser lebt und der Großteil immer schlechter. Je konsequenter wir diese Erkenntnis in praktisches Handeln umsetzen, desto sicherer wird die Zukunft für alle auf diesem Planeten sein. Ich werde nicht nachlassen, dafür einzutreten und hoffe auf die Unterstützung dieses Hauses. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Der Einzelplan 23 legt die Heuchelei in der Politik dieser Bundesregierung offen. Da wird die Asyldebatte vom Zaun gebrochen. Eine Welle rassistischer Gewaltkriminalität entwickelt sich, weil die alte/neue deutsche Rechte mit pogromartigen Ausschreitungen reagiert. Die Bundesregierung antwortet, in dem sie den Opfern, Flüchtlingen aus der „Dritten Welt" und aus Ost- und Südosteuropa, die Schuld anheftet. Wenn es dagegen um die Bekämpfung der Fluchtursachen geht, zieht die Bundesregierung sich zurück. Nicht nur, daß die reiche Bundesrepublik noch nie die UN-Norm von 0,7 % des Bruttosozialprodukts erfüllt hat. Die derzeitige Bundesregierung kürzt die viel zu geringe Entwicklungshilfe im Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit noch weiter. Schon im Haushalt für 1992 sank die Entwicklungshilfe real ab, in diesem Haushalt für 1993 sinkt sie real noch weiter. Die UN-Norm wird sogar nur noch zur Hälfte erfüllt. Das ist ein politischer Skandal aller erster Ordnung. Ich habe daher in einem Gruppenantragsentwurf vorgeschlagen, den Entwicklungshilfeetat durch Umlenkung von Mitteln aus dem Rüstungsetat auf die Höhe der UN-Norm aufzustocken. Das Echo war außerordentlich gering. Aber wir bleiben am Ball und werden Ihnen für die nächste Haushaltsrunde erneut 10600* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 einen entsprechenden Antrag mit entsprechend veränderten Zahlen unterbreiten. Doch die direkte Entwicklungshilfe ist wichtig, ihre erhebliche Ausweitung unerläßlich, sie kann jedoch bei weitem nicht die Probleme der „Dritten Welt" lösen. Notwendig sind vielmehr viel umfassendere Lösungen, wie der Schuldenerlaß und die nachhaltige Verbesserung der terms of trade zugunsten der Entwicklungsländer. Doch auch hier sperrt sich bekanntlich die Bundesregierung. Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen und aufzeigen, daß selbst der Schuldenerlaß und die Gewährleistung „gerechter" oder äquivalenter Preise, z. B. durch Rohstoffabkommen und ähnliches, die Probleme der zunehmenden Disparität zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden nicht zu lösen vermögen. In dem Maße, wie sich unsere Wirtschaftsstruktur immer stärker auf moderne, kapitalintensiv erzeugte High-Tech-Produkte hin entwickelt, müssen die Länder der Dritten Welt immer mehr von ihrer Arbeitsproduktivität und ihren natürlichen Reichtümern — verbunden auch mit eskalierenden ökologischen Schäden — beim Tausch gegen unsere High-TechProdukte liefern. Mit den Preisen für diese HighTech-Produkte und dabei wieder gerade für die zur Behauptung in der Weltmarktkonkurrenz notwendigen Investitionsgüter müssen die Entwicklungsländer nämlich Zinsen, Abschreibungen, Wagnisse und anderes auf das riesige und gerade mit neuen Technologien bei uns rasant weiter wachsende industrielle und sonstige Anlagevermögen zahlen. Diese Zinsen tauchen in keiner Verschuldungsstatistik auf. Sie fallen auch an, wenn die Entwicklungsländer, ohne Kredite aufzunehmen, zahlen können. Mit anderen Worten: Nach einem Schuldenerlaß und auch bei Schaffung gerechter Austauschrelationen auf dem Weltmarkt werden die Entwicklungsländer durch diese verdeckten Zinszahlungen in eine neue Verschuldenskrise getrieben. Die Lösung der Probleme der Entwicklungsländer, die Beseitigung eines Großteils der Ursachen für die Flucht von Menschen aus dem armen Süden in den reichen Norden sind sehr viel komplizierter. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung muß auch eine in weiten Bereichen alternative Weltwirtschaftsordnung sein, die auch die Entwicklung angepaßter Technologien und angepaßter Infrastrukturen zur Lieferung an die „Dritte Welt" umfaßt. Dieser mit geradezu mathematischer Präzision verfolgbare Zusammenhang wird in der Entwicklungshilfe dieser Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt, vermutlich gar nicht gesehen. Die Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung verstärkt die Zwangsläufigkeit zunehmender Disparität zu Lasten der Entwicklungsländer sogar mit vielen Maßnahmen noch zusätzlich. Nur eine wirklich alternative Entwicklungspolitik, die wesentliche Strukturkonstanten der modernen kapitalistischen Produktionsweise, darunter gerade auch die ökologisch destruktiven Strukturkonstanten dieser Produktionsweise in Frage stellt, kann Lösungen für den Nord-Süd-Konflikt beisteuern. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Tagesordnungspunkten III 21 — Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versorgung —, III 23 — Einzelplan 36, Zivile Verteidigung — *) Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wissen nicht, ob der vorgesehene Haushalt Makulatur sein wird, bevor die darin anvisierten Zielsetzungen realisiert werden. Denn schon wird ein Nachtragshaushalt vorbereitet, der alles wieder in Frage stellen soll. Aber was noch wichtiger ist: wenn wir uns die brennenden innenpolitischen Probleme der heutigen Zeit ansehen, frage ich mich, welchen Beitrag eigentlich Bundesregierung und Bundestag dazu mit dem jetzt zur Verabschiedung anstehenden Haushalt leisten wollen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Großzügig bekommt der Bundesgrenzschutz seine erste im letzten Haushalt um 30 % erhöhte Ausstattung nun mit der Rekordhöhe von über 2 Milliarden DM garantiert. Ich frage mich, wie man das beim Wegfall der innereuropäischen Grenzen auf Dauer rechtfertigen will. Und warum werden die beim BKA umfangreich aufgebauten Potentiale zur Bekämpfung des Linksterrorismus nicht endlich abgebaut, wo doch klar ist, daß dieses Phänomen in der Bundesrepublik der Vergangenheit angehört? Sollten wir nicht statt dessen fordern, daß der wissenschaftliche Apparat des BKA sich vermehrt etwa um den Einfluß rechtsextremistischer Einflüsse und Beteiligung an Gewaltakten aus dem Ausland kümmert, wie es seine Aufgabe wäre? Oder daß der wissenschaftliche Apparat sich vermehrt um die gesellschaftlich-politische Prävention des Rechtsextremismus kümmert, so wie er sich etwa um das Thema sexuelle Gewalttaten gekümmert hat? Oder scheut etwa die Bundesregierung erwartbare Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die ihr die eigenen Sünden um die Ohren hauen könnten? Unverantwortlich finde ich es auch, wenn entgegen allen Ankündigungen über notwendige Sparmaßnahmen im Haushalt der Geheimdienste z. B. die Sachkosten des Bundesamtes für den Verfassungsschutz nicht etwa drastisch gesenkt werden, sondern noch immer stolze 232,816 Millionen DM betragen, von den Personalkosten einmal ganz zu schweigen. Dies korrespondiert mit den im Haushalt des Bundeskanzlers vorgesehenen Erhöhungen der sächlichen Verwaltungskosten für den Bundesnachrichtendienst auf die Rekordhöhe von 242,1 Millionen DM. Hierzu paßt es, daß der Verfassungsschutz für sogenannte Maßnahmen der politischen Bildung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eine Etaterhöhung zugeschanzt bekommt, während der Etat für entsprechende Maßnahmen der Bundeszentrale für politische Bildung eingefroren oder gekürzt werden soll. Mickrige 400 000 DM wird die Bundeszentrale z. B. für Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und anderer Vorurteile bekommen! Ich sage das angesichts der Tatsache, daß der Verfassungsschutz in den letzten Jahren bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus vollkommen versagt hat. Wer wie wir der *) Vgl. Seite 10575D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10601* Auffassung ist, daß die Geheimdienste nachweislich eher Schaden anrichten als nutzen, kann den Etatposten für die Nachrichtendienste, die mittlerweile mit Personalkostenanteil die Milliardengrenze weit überschritten haben, unmöglich zustimmen. Fast 60 Millionen DM ist der Bundesregierung auch der Jahresetat des umstrittenen Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik wert, dessen Mitarbeiter sich überwiegend aus den Nachrichtendiensten rekrutieren. Umfassend sind wir bereits bei den letzten Haushaltsberatungen auf die nach unserer Auffassung völlig überflüssigen Mittelzuweisungen im Rahmen des Einzelplanes 36 für zivile Verteidigungsmaßnahmen eingegangen. Hier hat es zwar Mittelumschichtungen und geringfügige Kürzungen gegeben, im Kern aber hat sich nichts geändert. Auch die weitere Privilegierung des Technischen Hilfswerkes ist unerträglich. Wofür brauchen wir in Mitteleuropa nach Überwindung des Ost-West-Gegensatzes weiterhin einen zivilen Bunkerbau oder den Neubau von Lagern des technischen Hilfswerkes? Wir sagen: Katastrophenschutz ja, aber zivilmilitärische Ausgaben für den Verteidigungsfall nein! Hier unterstütze ich auch den Streichungsantrag der PDS zu diesem Haushaltsansatz. Noch lange nicht ausgelotet sind umfangreiche Sparpotentiale, die sich seit den Zeiten des Revanchismus umfangreicher sogenannter Kulturförderung erfreuen können, etwa die Bismarck-Stiftung und politisch recht zweifelhafte Maßnahmen der Vertriebenenverbände, die weniger etwas mit Kultur als mit großdeutschen Phantasien zu tun haben. Es wird also viel Geld für zweifelhafte Aktivitäten ausgegeben, während dort, wo es notwendig ist, unverantwortlich gespart wird. Es ist das Elend dieser Politik, daß sie mit ordnungspolitischen Maßnahmen und Zugriffen der Sicherheitsbehörden das versucht wettzumachen, was sie wirtschaftspolitisch, sozialpolitisch und jugendpolitisch nicht nur versäumt hat, sondern geradezu anrichtet. Wenn 90 % aller Jugendclubs und ähnlicher Einrichtungen in Ostdeutschland, die vormals bestanden, nunmehr geschlossen sind, wenn das Jahresbudget des Ministeriums für Frauen und Jugend noch gerade 5,5 % des Budgets des Verteidigungshaushaltes ausmacht, wenn die Arbeitsförderungsmaßnahmen nach dem AFG so drastisch gekürzt werden wie in der AFG-Novelle, wen wundern da noch die Anstiege des Drogenkonsums, der Kleinkriminalität, der Gewalt unter Jugendlichen und — leider auch — die Suche nach Sündenböcken für diese Misere? Und diese Sündenböcke werden dann auch noch nach ideologischer Steilvorlage der Bundesregierung bei Asylbewerbern, hier lebenden Ausländern oder Minderheiten gesucht. Wichtiger scheint es Koalition und Bundesregierung wohl zu sein, 16 Millionen DM im Zusammenhang mit der sogenannten „Rückführung" von Flüchtlingen etwa nach Rumänien bereitzustellen — eine überaus bedenkliche Aktion! Das Kernproblem der Innen- und Rechtspolitik dieser Regierung und der Koalitionsfraktionen ist für mich aber nicht, wofür mit diesem Haushalt insgesamt Geld ausgegeben wird oder nicht, sondern welche politischen Probleme vernachlässigt oder umgekehrt geradezu geschaffen und dramatisiert werden. Hier ist als herausragende Frage der Umgang mit der Asylproblematik zu nennen. Mehr als einmal haben wir die Mitverantwortung der Politik als Biedermann und Brandstifter angeklagt, leider vergeblich. Völkische und ethnische Argumente werden instrumentalisiert, um wahltaktische Vorteile zu erlangen. Die Debatte um das Grundrecht auf Asyl, die eine Lösung der Probleme auch nicht ansatzweise erkennen läßt, hat in verantwortungsloser Weise davon abgelenkt, daß es urn die rationale Behandlung von Problemen geht. Vertuscht werden sollen mit dem öffentlichen Zulassen von Sündenböcken jahrelange Versäumnisse der Bundesregierung etwa im Bereich der Wohnungspolitik, als wäre es die Schuld von Asylbewerbern oder Aussiedlern, daß die Bundesregierung im sozialen Wohnungsbau einen Kahlschlag angerichtet hat. Der Rechtsextremismus ist, außer für den gar nicht so kompetenten Verfassungsschutz, eigentlich gar kein wirkliches Thema für diese Regierung, sondern nur, wenn er zu strafrechtlich zu ahndenden Gewaltakten führt, und insbesondere, wenn sich diese gegen die Staatsmacht selbst richten oder wenn dies zum „Ansehensverlust im Ausland" führt. Wäre es wirklich ein Thema, würde man sich mehr um die Opfer und den Opferschutz kümmern. Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate, d. h. die Angriffe, Überfälle und Mordanschläge auf Flüchtlinge und Einwanderer, sowie die Form der politischen Instrumentalisierung dieses Themas weisen auf eine neue Dimension der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland hin. Die These von einer zunehmenden „Überfremdung" und der Bundesrepublik als Magnet für alle Flüchtlinge dieser Welt wird wider alle Realitäten verbreitet. Tatsächlich finden zur Zeit aber mehr als 90 % der Flüchtlinge in den Ländern der Dritten Welt Aufnahme, dagegen nur etwa 10 % in den ungleich wohlhabenderen Ländern Nordamerikas und Europas. Dies ist eine beschämende Bilanz. Eine ganz konkrete Forderung möchte ich hier an diese Bundesregierung richten. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR haben nach unserer Kenntnis umfangreiche Repressalien zu erwarten, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Gewähren Sie diesen Menschen ein Bleiberecht in der Bundesrepublik, um sie vor drohenden Verletzungen ihrer Menschenrechte zu schützen! Zur „inneren Sicherheit": Die Furcht vor zunehmender Kriminalität, die mit den realen Verhältnissen kaum übereinstimmt und oft aus existenzieller Verunsicherung geboren ist, darf nicht durch unverantwortliche Kampagnen weiter geschürt werden. Lückenlose Sicherheit vor Kriminalität kann es nicht geben, und größerer Schutz ist häufig nur um den Preis der Einschränkung von Freiheitsrechten zu haben. Die Balance beider Anliegen muß in einem sachlichen Diskurs entschieden werden. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen zur Kriminalitätsbekämpfung muß eine Konzentration der Kräfte auf 10602* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Abwehr von bzw. Schutz vor besonders sozialschädlichen Delikten erfolgen. Ich nenne hier nur die rechtsextremen Terrorakte. Umgekehrt bedarf es aber vor allem einer Streichung bzw. Herabstufung überkommener und verzichtbarer Straftatbestände. Ich führe nur ein zentrales Aufgabengebiet an: Sie wissen nur zu gut, daß die repressive Drogenpolitik, der die Bundesregierung anhängt, ihr Scheitern umfassend unter Beweis gestellt hat. Weder hat sie zum Rückgang des Drogenkonsums noch der Drogentoten geführt. In den USA hat der Kongreß dieser Politik unlängst eine katastrophale Bilanz attestiert. Der überwiegende Teil unserer Drogenkriminalität besteht in der Besorgung kleiner Mengen für den Eigenbedarf, ansonsten in der Beschaffungskriminalität durch Autoaufbrüche und Kleindiebstahl, um das Geld für Drogen zusammenzubekommen. Aus diesem Teufelskreis staatlicher Kriminalitätsproduktion. müssen Regierung und Koalition endlich ausbrechen. Ein erster, aber grundlegender Schritt wäre die Legalisierung weicher Drogen. Innere Sicherheit ohne Polizeistaat: Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten soll die Bundesregierung dazu beitragen, die Voraussetzungen besonders bei ostdeutschen Strafverfolgungsbehörden/Polizei zum Schutz vor Alltagskriminalität zu verbessern, z. B. durch Überlassung von Ausstattung und durch fachliche Beratung. Das, was in letzter Zeit als Notwendigkeit zusätzlicher Gesetze öffentlichkeitswirksam verkauft wurde, wird das Gegenteil von dem hervorrufen: nicht nur bei fremdenfeindlichen oder neonazistischen Straftaten brauchen wir im Rahmen weniger neue Gesetze als die Bereitschaft, die bestehenden konsequent anzuwenden. Was nützen neue Gesetze, wenn die Polizei auch schon bei den bestehenden untätig zuguckt, wegguckt, zu spät am Tatort erscheint oder vor Gewalttätern flüchtet? Entschieden werden wir etwa die Erweiterung des Landfriedensbruchparagraphen bekämpfen, wie dies Regierung und Koalition off en-sichtlich baldigst durchziehen wollen. Nicht Einschränkungen der Grundrechte und des Demonstrationsrechts sind gefragt, sondern ihre Garantie und Ergänzung durch demokratische Beteiligungsrechte und, um es noch einmal zu sagen, ein effizienter Einsatz der Polizei dort, wo es notwendig ist zum Schutz potentieller Opfer. Der vorgelegte Haushaltsentwurf zeigt: Weiterhin wird der Ausbau eines zweifelhaften Modells der „inneren Sicherheit" betrieben. Verbaut wird damit zugleich die Alternative der sozialen Sicherheit, deren Fehlen eben erst die Ursachen für zunehmende Kriminalität und rechtsextremistisches Gedankengut z. B. unter Jugendlichen mitherbeiführt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt diesen Haushalt ab. Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Die Behandlung des Einzelplanes des BMI provoziert geradezu, ein Wort zu den schrecklichen Ereignissen von Mölln und überhaupt zu den anwachsenden Ausschreitungen der vergangenen Wochen und Monate zu sagen. Es klingt beinahe wie Ironie des Schicksals, daß in den Bereich des BMI nicht nur der Kampf gegen Kriminalität, der Einsatz für die Achtung der Würde des Menschen gehören, sondern auch Fragen von Kunst und Kultur, und damit eigentlich auch die Sorge um einen kulturvollen Umgang miteinander. Die Verarmung einer Gesellschaft läßt sich nicht nur in Geld ausdrücken; sie beginnt im gesellschaftlichen Maßstab — zu Beginn oft nahezu unbemerkt — dort, wo Kultur, kulturelle Identität verloren gehen und Vandalismus an die Stelle von kulturvollem Umgang tritt. Wir sind leider gegenwärtig Zeugen eines gewaltigen Kulturverlustes, wenn solche Aktionen wie in Rostock oder Mölln oder anderswo unsere tagtäglichen Nachrichten bestimmen. Die gegenwärtig laufende Haushaltsdebatte verdeutlicht sehr drastisch, daß für das geeinte, größer gewordene Deutschland Sparen angesagt ist, aber es unsäglich viele Meinungen darüber gibt, wie und wo gespart werden soll. Kulturförderung ist zwar Ländersache, nur scheint nicht immer allen bewußt zu sein, daß mit dem Einigungsvertrag und seinem Artikel 35 der Bund Verpflichtungen eingegangen ist, die weit über das vorherige Engagement in Sachen Kunst und Kultur hinausgehen. Die Verpflichtung, alles zu tun, damit die kulturelle Substanz in den neuen Bundesländern keinen Schaden nimmt und die kulturelle Infrastruktur gefördert wird, muß schon heute als mißlungen verbucht werden. Zu viel Bewahrenswertes ist inzwischen verloren gegangen. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn einige vom Massensterben kultureller Einrichtungen sprechen. Zwei Drittel von 7 322 befragten Bürgermeistern im Osten Deutschlands schätzen das kulturelle Angebot als schlechter im Vergleich zur Zeit vor der Wende ein. Sie alle beklagen den Verlust von Jugendzentren, Kinos, Bibliotheken. Unvollständige Statistiken sagen aus, daß 40 % aller Freizeiteinrichtungen und 50 % aller Kinos in den vergangenen Jahren geschlossen wurden. Durch die Kultursparprogramme in den neuen Bundesländern droht der Zusammenbruch jahrhundertealter Kulturszenen, warnen die Theater-Intendanten der Stadt Dresden. Es ist doch wohl offensichtlich geworden, daß sich die führenden Politiker dieses Landes geirrt haben, was den Zeitraum der tatsächlichen Vereinigung betrifft. Wer diesen Irrtum zugibt, der muß auch die Vorstellungen über die Kulturförderung revidieren. Wenn Björn Engholm nach seinem Treffen mit Bundeskanzler Kohl am Montagabend im Fernsehen von „Dramatik" in der Entwicklung im Osten Deutschlands spricht, so hatte er dabei sicher nicht die Kultur im Sinn, hat aber damit die Ursachen auch für kulturelle Schwierigkeiten indirekt benannt. Experten schätzen ein, daß die Finanzkraft der neuen Bundesländer 1995 erst 30 % vergleichbarer westdeutscher Gemeinden betragen werde. Woher sollen diese denn das Geld nehmen, um überhaupt etwas für die Kultur zu tun? Es geht also meines Erachtens nicht nur darum, die Kulturförderung seitens des Bundes auch weit über das Jahr 1993 fortzusetzen, worin ich mir sicher mit vielen Kolleginnen und Kollegen einig bin, sondern schon für 1993 so zu sichern, daß weitere irreparable Schäden im Kulturbereich der neuen Bundesländer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10603* vermieden werden. Deshalb ist für mich die Aussage in der Drucksache 12/3591 — Bericht des Haushaltsausschusses — auf Seite 20, wonach die haushaltsrechtlichen Bedingungen geschaffen wurden, „um die einigungsbedingte Kulturförderung des Bundes in den neuen Bundesländern etwa in der vorjährigen Höhe weiterzuführen", zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben nur ein halbherziger, der keinesfalls den Anforderungen entspricht. Dies bedeutet zwar eine Korrektur des ursprünglichen Planes, die Hilfe des Bundes auf 310 Millionen DM zurückzufahren, wird aber dennoch viele Schlösser, Theater, Museen, Künstler und Künstlergruppen nicht vor dem Ruin bewahren helfen. In Anbetracht der steigenden Kosten im Osten Deutschlands für Löhne, Mieten für Ateliers und andere Objekte, Unterhalt von Einrichtungen, im Verwaltungsbereich, praktisch für alles, was auch Kunst und Kultur betrifft, sind weitere eklatante Einbrüche in Qualität und Quantität in allen Bereichen der Kulturszene bereits vorprogrammiert. Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf wird die Kultur im Osten Deutschlands nicht gefördert, sondem maximal deren Nachlaß verwaltet. Dem kann ich so nicht zustimmen. Aber da ich auch die finanziellen Nöte dieses Haushaltes verstehe, erlaube ich mir den Gedanken zu unterbreiten, ob der in der DDR bewährte „Kulturgroschen" als Mittel zur Unterstützung von Kunst und Kultur nicht auch in der heutigen Zeit im geeinten Deutschland eine kulturfördernde Rolle spielen könnte. Dieses Geld könnte auch genutzt werden, um Freizeiteinrichtungen wieder erstehen zu lassen, die Jugendlichen helfen zu verstehen, daß Sinn und Inhalt des Lebens nicht im Randalieren auf der Straße, in Rassenhaß und Asylantenverfolgung besteht. Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Allein in den letzten Tagen wurden fünf Menschen von Neofaschisten umgebracht. Die Brutalität der Taten ist erschrekkend. Es muß aber festgestellt werden, daß sich das, was sich in Mölln ereignet hat, in zig hundert Fällen genauso hätte ereignen können. Die mörderische Absicht der Neofaschisten war bei all den zig hundert Brandanschlägen vorhanden und erkennbar. Zum Glück hat hier der Zufall in vielen Fällen das Schlimmste verhindert. Nur wenige Stunden danach sprach der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Werthebach von einer neuen Qualität fremdenfeindlicher Gewalt, dies angesichts der Tatsache, daß es bereits 17 Tote in diesem Jahr gibt, die aus rassistischen Motiven getötet worden sind. Erschreckend ist aber auch die Kaltschnäuzigkeit eines CSU-Politikers wie Huber, der nur wenige Tage nach diesen schrecklichen Ereignissen sich in das Frühstücksfernsehen setzt, und erneut damit Stimmung macht, daß dieses Land es nicht aushält, wenn Jahr für Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land kommen. Huber weiß natürlich genau, daß in keinem einzigen Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land gekommen sind. Er weiß auch ganz genau, daß er hier gezielt die Stimmung in diesem Land mit solchen Äußerungen anheizt. Ja, und er weiß, daß er den Brandgeruch, der durch dieses Land weht, dazu nutzt, seine politischen Ziele durchzusetzen. Aber Huber ist nicht der einzige. Man kann ihn nicht einmal als besonderen Scharfmacher bezeichnen. Er steht eher für den Durchschnittstypus christdemokratischer Politiker. Nicht umsonst muß der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Bubis, heute wiederholt in der Presse feststellen, daß die „Diskussion um die Änderung des Asylartikels im Grundgesetz die Straftäter ermuntert habe". Man muß länger darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn heute selbst der BKA-Präsident Zachert in der Zeitung „Polizei" 11/92 schreibt: „Besonders auffällig ist der quantitative Anstieg von Straftaten in den alten Bundesländern im 4. Quartal 1991. Als Auslöser dürften die Asyldebatte im Deutschen Bundestag, die Verlegung von Asylbewerbern aus Hoyerswerda und der Jahrestag der Deutschen Einheit anzusehen sein." BKA-Präsident Zachert unterstreicht damit die Kritik, die von Menschenrechtsorganisationen und Zeitungen immer wieder vorgetragen worden sind. Die politische Mitverantwortung der Bundesregierung an diesem neofaschistischen Terror und auch der Unwille von Seiten staatlicher Stellen, mit diesem Terror aufzuräumen, wird im Inland und Ausland immer besorgter zur Kenntnis genommen. Nimmt man nur einige Schlagzeilen von heute: „Antideutsche Stimmung in Griechenland" (FAZ), „Bestürzung und Ratlosigkeit in Brüssel" (FAZ), „Israels Parlament verurteilt rassistische Gewalt" (FAZ), Italien: „Der häßliche Deutsche heißt jetzt Nazi-Skin" (Kölner Stadtanzeiger), „Die Nazis steckten drei Türken in Brand! " (Hürriyet). Die Unlust, neofaschistische Straftäter zu verfolgen, oder, wie in Rostock geschehen, die Polizei vor den anrückenden Neofaschisten zurückzuziehen, hat dazu geführt, daß ausländische Mitbürger oder Juden und Roma und Sinti immer mehr den „Glauben und die Hoffnung verloren haben", daß die Bundesregierung „einen wirksamen Schutz gegen den Rechtsextremismus und seine antisemitischen Gewalttäter bieten könnte", wie es Ralph Giordano in einem Brief an den Bundeskanzler ausgedrückt hat. Daß der CDU-Generalsekretär Hintze und der Kanzleramtschef Bohl diese Kritik, aber auch die Ängste und Befürchtungen Giordanos als „unerträglich" bezeichnen, zeigt, wie arrogant und unsensibel mit der Kritik eines jüdischen Schriftstellers — einem der Überlebenden des Holocaust — umgegangen wird. Es muß hier ganz klar festgestellt werden: Einen derartigen neofaschistischen Terror gegen Flüchtlinge und Immigrantinnen, wie wir ihn derzeit in der BRD erleben, hat die Weimarer Republik nicht gekannt. Er gibt in der Tat zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß. Hinzu kommt, daß Bohl in einer Pressemitteilung „mit aller Entschiedenheit und großer Empörung" Giordanos Kritik zurückweist und die Kritik Giordanos damit widerlegen will, daß u. a. der Generalbundesanwalt im Falle der Möllner Anschläge das Verfahren an sich gezogen hat. Ja, Herr Bohl, das ist es ja gerade. Nach einer Steigerung der ausländerfeindlichen Straftaten im Jahre 1991 um 1 200 Prozent, nach allein 1 900 fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten in diesem Jahr, da hat der Generalbundesanwalt in einem Fall die Ermittlungen an sich gezogen. 10604* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Und wer die Begründung hören mußte, wieso der Generalbundesanwalt von Stahl erst jetzt die Ermittlungen übernommen hat, der weiß, warum Ralph Giordano dem Kanzler geschrieben hat. Von Stahl begründete seine bisherige Tatenlosigkeit in Sachen neofaschistischer Terror im „heute Journal" wie folgt: „ ... Der Generalbundesanwalt kann nicht nur in Fällen ermitteln, wo es sich um eine terroristische Vereinigung handelt, sondern auch dann, wenn die Einzeltat bestimmt und geeignet ist, die Sicherheit der Bundesrepublik zu gefährden, und von besonderer Bedeutung ist. Drei Tote, mehrere Verletzte, zweimal schwere Brandstiftung und das Verhalten nach der Tat — zwei Telefonanrufe, die kurz hintereinander gekommen sind und wo die anonymen Anrufer sich mit „Heil Hitler" verabschiedet haben — lassen im Ansatz erkennen, daß es sich hier möglicherweise um neonazistische Organisationen, sprich verfassungsfeindliche Organisationen handelt oder ein verfassungsfeindlicher Hintergrund zu vermuten ist. (...) Bisher hat es sich immer — sofern die Fälle aufgeklärt werden konnten — gezeigt, daß es sich im wesentlichen um Einzeltäter, Jugendliche oder Leute gehandelt hat, die sich kurzfristig zusammengefunden haben. Außerdem hat es auch noch nicht drei Tote auf einmal gegeben. Also die besondere Bedeutung des Falles und der Hintergrund waren nicht so, daß ich meine Kompetenz angenommen habe ... " So also sieht der Wille des Generalbundesanwalts aus, gegen die Gewalt von rechts vorzugehen. Unter drei Toten wird er offenbar nicht tätig, folgt man seinem zynischen Kommentar. Und den verfassungsfeindlichen Hintergrund, wenn Personen gegen Flüchtlinge und Immigrantinnen vorgehen, erkennt er nur, wenn sie sich mit „Heil Hitler" melden. Nimmt man den Generalbundesanwalt ernst, und so ist ja auch die Praxis, dann steht schon vor der polizeilichen Ermittlungstätigkeit fest, daß jeder Brandanschlag auf eine Unterkunft von Flüchtlingen und Immigrantinnen keinen verfassungsfeindlichen Hintergrund hat. Ich will hier auch noch auf einen kleinen Ausschnitt dieser Verantwortung der Bundesregierung verweisen. Da muß der Wehrbeauftragte darauf hinweisen, daß allein 24 Bundeswehrangehörige an den rassistischen Straftaten beteiligt sind. Es mag da ein direkter Zusammenhang bestehen, daß in der BundeswehrZeitung „Information für die Truppe" rassistische Artikel abgedruckt werden. So u. a. von Clemens Range über „Perspektiven einer neuen Einwanderung", das im wesentlichen auf dem Buch „Invasion der Armen" basiert, geschrieben vom Berliner REP-Vorsitzenden (IFDT, 3/92). Diese Zustände drücken sich auch im Haushalt aus. Während alle verantwortlichen Politiker mit den angeblichen hohen Kosten für die Unterbringung und Sozialhilfe für Flüchtlinge in Deutschland Stimmung machen, muß man feststellen, dies kostet 1991 vier Milliarden DM. Der niedersächsische Minister Trittin hat in einer Landtagsdebatte angeführt, daß nach Berechnungen der Zeitschrift „Publik-Forum" der Bundesbürger und die Bundesbürgerin 1991 für die Flüchtlinge 52 DM aufzubringen hatte. Der gleiche Bundesbürger hatte aber im selben Jahr 43 DM allein zur Begleichung des Schuldendienstes für die atomare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf gezahlt. Für die geplanten Massenabschiebungen rumänischer Flüchtlinge wurden in aller Eile 4,7 Millionen DM allein für die Flugbegleitung durch den BGS in den Innenhaushalt aufgenommen. Die Durchführung des Abkommens wird mit über 8,5 Millionen DM veranschlagt. Der BGS erhält allein 180 Millionen DM mehr in diesem Jahr. Andererseits hat man für antifaschistische Aufklärung gerade 7 Millionen DM im Haushalt des BMI vorgesehen, diese Gelder sind aber noch gesperrt. Die bundesdeutsche Industrie gibt allein für die Werbung in diesem Jahr 45 Milliarden DM aus. Allein von jeder Mark einen Pfennig wären 450 Millionen Deutsche Mark für eine antirassistische Aufklärung. Nach dem Pogrom von Rostock hat es die Bundesregierung kategorisch abgelehnt, eine Aufklärungsbroschüre über die Lage der Roma und Sinti in Osteuropa zu erstellen und zu verteilen. Zur gleichen Zeit aber produzierte das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien eine volksverhetzende „Studie" über die Roma und Sinti, in denen es heißt: „Gelegentliche Ausschreitungen gegen Zigeuner wurden durch vorhergehende delinquente Handlungen der Zigeuner selbst provoziert". Dieses Institut erhält 8,5 Millionen DM. Auch die Vertriebenenverbände und der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) erhalten wieder zig Millionen DM, Gruppierungen, die in erster Linie eine Völkerverständigung hintertreiben und die von Rechtsextremisten durchsetzt sind. Gerade der VDA, der für seine Arbeit in diesem Geiste mit 120 Millionen aus dem Bundeshaushalt bedient worden ist, fiel vor allem dem Bundesrechnungshof auf, weil hier Steuergelder versickerten. Der „Spiegel" 35/92 berichtet, daß aus dem BMI 1990 die Anweisung erging, „ohne das normalerweise schriftliche Antragsverfahren" dem VDA 34,6 Millionen DM zu bewilligen. Daß dies so problemlos ging, mag daran liegen, daß 1989 neben einigen Rechtsextremisten auch der Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Waffenschmidt, in den Vorstand des VDA gewählt worden ist. Mit diesem Haushalt werden die rassistischen Strukturen in dieser Gesellschaft gefestigt. Den Reden über das Entsetzen nach den Morden vom Wochenende folgen keine Taten, die eine Umkehr in der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch nur andeuten. Kein Fünkchen von Nachdenklichkeit und Selbstkritik ist zu spüren. Angesagt wäre jetzt eine sofortige Beendigung der Asyldiskussion, ein unbedingtes Ernstnehmen der Warnungen aus dem In- und Ausland über den Zusammenhang zwischen der Asyldiskussion und den Anschlägen. Die Forderungen der Immigrantinnenorganisationen, der Organisationen der Roma und Sinti, des Zentralrates der Juden müssen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch geprüft werden. Wir fordern einen Bericht einer unabhängigen internationalen Kommission, die diesen Zusammenhang untersuchen soll. Schluß mit der Asyldiskussion! Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10605* Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Helmut Schäfer (Mainz) (F.D.P.) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 Bei der namentlichen Abstimmung am Mittwoch, 25. November abends, unterlief mir ein Fehler. Meine Absicht war es, den Änderungsantrag der SPD über „den Jäger 90" abzulehnen. Fälschlicherweise habe ich die blaue Stimmkarte benutzt. *) Ich bitte, das im Protokoll zu berücksichtigen. *) Vgl. Seite 10573 C
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Ullmann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, „videant consules" zu rufen, damit es die Demokratie



    Dr. Wolfgang Ullmann
    ist, die das Heft des Handelns endlich wieder an sich reißt.
    Danke.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)



Rede von Hans Klein
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Ich erteile Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über den Haushalt des Bundeskanzlers ist traditionsgemäß auch die Generaldebatte über den Gesamthaushalt. Sie ist — darin stimme ich Ihnen, Herr Kollege Klose, ausdrücklich zu — eine gute Chance, eine nüchterne Bestandsaufnahme zu machen: Wie ist die Lage der Nation heute?
    Da diese Debatte wenige Wochen nach dem 1. Oktober stattindet, ist sie sicherlich auch eine gute Gelegenheit, einen kurzen Rückblick auf die zehn Jahre seit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Koalition der Mitte vorzunehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstbeweihräucherung!)

    Ich glaube, Sie tun sich schwer, meiner Bemerkung zuzustimmen, aber sie ist dennoch richtig: Es waren zehn gute Jahre für Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Es ist richtig und es ist wichtig — ich finde, der nachdenkliche Grundtenor der heutigen Debatte war gut —, jetzt ganz einfach die Frage zu stellen: Was ist jetzt notwendig, wenn wir im Blick auf die finanzielle und wirtschaftliche Situation eine Standortbestimmung für Deutschland vornehmen? Aber diese Frage muß nicht nur im Blick auf das Materielle gestellt werden, sondern auch im Blick auf unsere Denkgewohnheiten.
    Am Samstag sind es genau drei Jahre, seit ich hier im Hohen Haus das 10-Punkte-Programm für den Weg zur Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands aufgezeigt habe.
    Wenn ich die Ereignisse und auch die Erfahrungen während dieser drei Jahre bedenke, dann stelle ich fest, daß hier Ereignisse und Herausforderungen binnen kürzester Zeit zusammengekommen sind, die sonst in Generationen auf Menschen zukommen.
    Es ist in diesen drei Jahren vieles gut gelungen, anderes ist nicht gelungen; wir haben Erfolge gehabt, wir haben uns aber auch hier und da getäuscht, ich auch. Deswegen finde ich, ist es ganz richtig, nüchtern, aber mit der Emotion des Herzens darüber zu sprechen.
    Wir alle wissen, daß die Zustimmung all unser Nachbarn und Partner zur Wiedervereinigung unseres Landes nicht ohne das Vertrauen möglich gewesen wäre, das sich das demokratische Deutschland in der Welt in 40 Jahren erworben hat. Es war ein Vertrauen, meine Damen und Herren, an dem alle demokratischen Parteien, alle Bundesregierungen
    und alle meine Amtsvorgänger mitgearbeitet haben, das alle miterworben haben.
    Herr Abgeordneter Gysi, niemand von denen, die diese Wegstrecke gestaltet haben, braucht ausgerechnet von Ihnen einen Hinweis, wie man Demokratie gestaltet.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Trotz aller Probleme und mancherlei Sorgen glaube ich, daß wir allen Grund zur Zuversicht haben, zu der Zuversicht, daß wir die vor uns liegende Herausforderung meistern können. Es gehört ja zu den Ungewöhnlichkeiten unserer Tage, daß außerhalb der deutschen Staatsgrenzen jeder ganz selbstverständlich unterstellt: Die Deutschen werden es schaffen. Oder wie es François Mitterrand vor einigen Monaten formuliert hat: Es ist wahr, die Deutschen haben große Probleme, aber sie werden sie lösen, und sie werden dann stärker sein als je zuvor.
    Das Wort „stärker" ist in diesem Zusammenhang nicht der Begriff, den wir verwenden, aber wir wissen, daß wir die Probleme bewältigen können. Dies ist möglich, wenn wir im Bereich der Ökonomie und der Gesellschaftspolitik von einer konsequenten Politik der Sozialen Marktwirtschaft ausgehen und wenn wir damit die notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen schaffen. Herr Kollege Klose, es geht um die Soziale Marktwirtschaft. Es geht nicht um Reaganomics und Thatcherismus, wie es mir gelegentlich empfohlen wurde und wie Sie mir unterstellt haben, sondern ich will mit der Koalition der Mitte ein treuer Anhänger Ludwig Erhards bleiben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Diese Politik der letzten zehn Jahre hat in der alten Bundesrepublik zu gewaltigen Erfolgen geführt. Sie hat vor allem zu einem Wohlstand und zu einem Wachstum geführt, das von vielen inzwischen als ganz selbstverständlich betrachtet wird. Die Erkenntnis — das hat überhaupt nichts mit Ellenbogengesellschaft zu tun —, daß dieser Wohlstand und das Wachstum, das eine Voraussetzung für den Wohlstand ist, täglich neu erarbeitet werden müssen, ist in weiten Kreisen abhanden gekommen.
    Ich selbst stelle mir durchaus auch als Parteivorsitzender die Frage, ob nicht auch wir — aber alle anderen auch —, wenn wir über den Wohlstand geredet haben, zuwenig über die Notwendigkeit der Erarbeitung dieses Wohlstands gesprochen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Das Gebot der Stunde — und hier ist die Stunde der Wahrheit, meine Damen und Herren — ist, daß wir bei einer nüchternen Bestandsaufnahme ganz einfach sagen: Wir stehen vor der Notwendigkeit eines tiefgreifenden Umdenkens. Wenn wir nicht umdenken und dementsprechend handeln, werden wir unser Ziel nicht erreichen.
    Zu dieser Wahrheit gehört zuerst — das kann man nicht oft genug sagen, auch im Blick auf die Landsleute in den neuen Ländern —: Auch ohne die deutsche Wiedervereinigung wäre die Bundesrepublik Deutschland heute dringend gezwungen, von vielen Bequemlichkeiten und Gewohnheiten Ab-



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    schied zu nehmen, Verkrustungen und Erstarrungen aufzubrechen.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Die Frage, die sich uns stellt, lautet: Wollen wir uns bequem zurücklehnen und weiter der Illusion anhängen, wir könnten so weitermachen wie bisher? Oder erkennen wir im November des Jahres 1992 im Blick auf die vor uns liegenden Jahre an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert die Zeichen der Zeit und nehmen die Herausforderungen an?
    Natürlich will ich die Notwendigkeit des Wechselspiels zwischen Regierung und Opposition nicht leugnen, wenn ich folgendes sage — selbstverständlich will ich mich dabei schon gar nicht aus der Verantwortlichkeit des Amtes stehlen —: Ich finde nur — so begrüße ich auch den ersten Teil Ihrer Ausführungen, Herr SPD-Fraktionsvorsitzender Klose —, daß es eine Reihe von Bereichen gibt, nicht allein bei den notwendigen Verfassungsänderungen — das wäre mir zuwenig —, bei denen es sich lohnt, im Interesse unseres gemeinsamen Staates miteinander zu sprechen. Dies gilt um so mehr, als wir ja in der föderalen Ordnung unseres Gemeinwesens nicht nur eine Gewaltenteilung, sondern auch eine beachtliche Machtteilung haben. Ich spreche jetzt nicht nur von Mehrheiten im Bundesrat, sondern ich spreche auch von dem breiten Feld kommunaler Verantwortung und all jenen, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen.
    Deutsche Einheit, europäische Einigung, der tiefgreifende Wandel in unserer Gesellschaft — dies alles muß uns doch eigentlich aufrütteln. Deutschland, meine Damen und Herren, ist, was immer in diesen Tagen geredet wird, weiterhin eine gute, eine erstklassige Adresse in der Welt. Das gilt für die Wirtschaft unseres Landes, das gilt für die Wissenschaft und für die Forschung, das gilt nicht zuletzt — ich möchte es eigentlich sogar an erster Stelle nennen — für den kulturellen Reichtum unseres Landes. Daß dies so bleibt, setzt voraus, daß wir bei all dem, was positiv zu vermelden ist, nicht die Augen vor jenen Hindernissen verschließen, die den Weg in die Zukunft verbauen könnten. Wir müssen viel mehr als bisher auch Fragen in den Mittelpunkt stellen, die außerhalb des bloß Materiellen liegen.
    Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Das hat nichts mit Populismus zu tun; denn das ist eine der Aufgaben, denen sich die Politik stellen muß. Deswegen finde ich es gut, daß in dieser Debatte über den Haushalt die Frage der inneren Sicherheit so eingehend behandelt wurde und wird.
    Der mörderische Brandanschlag von Mölln ist für uns alle ein bedrückendes Signal zunehmender Gewalt in unserem Land. Drei wehrlose Menschen, Ausländer, die mitten unter uns lebten, sind diesem abscheulichen Verbrechen zum Opfer gefallen. Ich will noch einmal für die Bundesregierung unser besonderes Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer
    zum Ausdruck bringen und dem türkischen Volk meine besondere Sympathie übermitteln.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Die erste Konsequenz aus den Erfahrungen dieser Woche muß sein, daß Gewaltanwendung, von welcher Seite auch immer sie kommt, in unserer Gesellschaft stets ein Tabu bleiben muß. Für Gewalt gibt es keinerlei Rechtfertigung, aus welchen Motiven heraus sie auch geschieht und gegen wen auch immer sie sich richtet.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Die zweite Konsequenz muß lauten: Das Gewaltmonopol des Staates darf von niemandem angetastet werden. Wer dies versucht, muß die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.
    Herr Abgeordneter Klose, wir sollten jetzt nicht in den Streit darüber eintreten, ob es neue Gesetze geben sollte oder nicht. Laßt uns doch nüchtern eine Bilanz aufstellen — ich will es wenigstens teilweise hier versuchen — und ergründen, inwieweit die bestehenden Gesetze ausreichen, wenn sie konsequent ausgeschöpft würden, und wieweit wir darüber hinaus aus den konkreten Erfahrungen, die wir jetzt machen, bereit sein müssen, bestehende Gesetze zu ändern,
    Die Frage der inneren Sicherheit des Landes ist eine Frage des inneren Friedens, und der Staat hat den Frieden nach außen und im Innern zu schützen. Ein Klima der Einschüchterung würde zu einer zunehmenden Bedrohung unserer freiheitlichen Gesellschaft. Wir müssen den Anfängen wehren — alle. Das kann man nicht nur an die Polizeibeamten oder an die Justiz delegieren, sondern alle Bürger unseres Landes müssen sich entschlossen und überall gegen jede Form von Gewalt wenden.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, die Blitzlichtaufnahme, die hier zu machen ist, ist bestürzend, weil sie ein Bild vermittelt, das nicht nur zur Nachdenklichkeit, sondern dringend zum Handeln auffordert. Ich gehöre nicht zu denen, die dieses jetzt unnötig dramatisieren. Aber ich gehöre zu denen — ich denke, die allermeisten hier erfahren das gleiche —, die im täglichen Gespräch mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern die bange Frage vernehmen: Ist dieser Staat, unser Staat, ein starker Rechtsstaat, der im besten Sinne des Wortes Recht und Ordnung und damit die Freiheit aller schützt?
    Die Zahl der von Straftaten Betroffenen nimmt ständig zu. Die Entwicklung ist dramatisch. Die Zahl der erfaßten Straftaten im ersten Halbjahr 1992 liegt schon bei fast 3 Millionen. Das bedeutet eine Zunahme um 22 % gegenüber dem Vorjahr. Mehr als die Hälfte der Straftaten sind Diebstähle — eine Zunahme um 12 % . Die Zahl der Straftaten mit Schußwaffengebrauch stieg um über 18 %. Bei den Raubdelikten haben wir — das ist eine wichtige Zahl — in den alten Ländern der Bundesrepublik eine Zunahme um 30 %. Auch an dieser Zahl zeigt sich, wie töricht das



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Gerede ist, das alles sei im wesentlichen ein Problem in den neuen Ländern. Im Alltagssprachgebrauch redet man mittlerweile in einer unerhört verharmlosenden Weise von „Alltagskriminalität", wenn man von Wohnungseinbrüchen, von Kfz-Diebstählen und ähnlichem spricht. Im ersten Halbjahr 1992, meine Damen und Herren, stieg die Zahl der Kfz-Diebstähle in der Bundesrepublik Deutschland um 36 %, in den alten Ländern sogar um sage und schreibe 80 % binnen zwölf Monaten.
    Dies alles ist natürlich überhaupt nicht hinnehmbar, genausowenig wie die immer stärker werdende Bedrohung unseres Gemeinwesens durch die Mafia, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere im Bereich des Drogenhandels. Der amerikanische Präsident hat in seinem diesjährigen Drogenbericht das Gesamtvolumen des weltweiten Drogenhandels auf 300 Milliarden US-Dollar geschätzt. Jeder von uns weiß: Ein Hauptziel der internationalen Drogenmafia ist inzwischen die Europäische Gemeinschaft geworden. Ich fürchte, den meisten von uns — auch in diesem Saal — ist die wahre Dimension der daraus erwachsenden Gefahren immer noch zu wenig bewußt.
    Ein Staat, meine Damen und Herren, der das Recht nicht mehr durchsetzt, verliert das Vertrauen seiner Bürger. Wo die Sicherheit der Bürger gefährdet ist oder wo sie den Eindruck haben — auch das ist ja von politischem Gewicht —, ihre Sicherheit sei gefährdet, steht immer auch die Freiheit auf dem Spiel.
    Es ist wahr: Viel zu lange ist Kriminalität bei uns bagatellisiert worden. Das hat teilweise zu einer unerträglichen Erosion des Rechtsbewußtseins geführt, im übrigen teilweise auch zu einem Stück Entwaffnung des Rechsstaates.
    Wir wollen gemeinsam — und das ist hier ja gesagt worden — durch strenge Anwendung der bestehenden Gesetze dem Recht den nötigen Respekt verschaffen. Aber — und das füge ich hinzu, weil wir. in anderem Zusammenhang im Augenblick viel über föderale Strukturen diskutieren — hier ist nicht nur — Herr Klose, Sie haben recht — der Bund gefordert, hier ist vor allem auch der ganze Einsatz der Bundesländer gefordert. Der Föderalismus steht auch in der Frage der inneren Sicherheit auf dem Prüfstand.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wer zuständig ist, hat auch die Pflicht zum Handeln. Die Bundesregierung — das will ich noch einmal klar aussprechen — wird alles tun, um hier ihren Beitrag zu leisten und im Gespräch mit den Ländern auch die notwendige Unterstützung zu geben und dort — ich sage es noch einmal —, wo wir gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, daß das geltende Recht nicht ausreicht, die notwendigen Veränderungen vorzunehmen.
    Wir können und dürfen nicht tatenlos zuschauen, wenn beispielsweise die Mafia in Deutschland dabei ist, Planungszentren zu errichten, weil Verbrecher bei der Vorbereitung ihrer Taten bei uns weniger als anderswo befürchten müssen, beobachtet zu werden. Wir können es auch nicht hinnehmen, daß nur jede hundertste bei einer Demonstration begangene Gewalttat zu einer Verurteilung führt. Das Straf- und
    Haftrecht muß seine Schutzfunktion auch wirklich erfüllen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Dies sind wir vor allem unseren Bürgern schuldig.
    Aber wir sind es — und das muß, meine Damen und Herren, dann eben mehr als ein Halbsatz in einer solchen Bundestagsrede sein — vor allem unseren Polizeibeamten schuldig. Die Art und Weise, wie hierzulande nicht zuletzt in den Medien — und ich nenne hier bewußt vor allem die elektronischen Medien — über die Arbeit und den Einsatz unserer Polizeibeamten berichtet wird, ist dem Ziel nicht dienlich, diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die den Einsatz für uns alle leisten, die notwendige Autorität zu geben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Sie verdienen unseren Dank, sie verdienen unsere Anerkennung, sie verdienen vor allem auch unsere Unterstützung.
    Wenn ich dies alles so sage, dann weiß ich natürlich, daß die Androhung von Strafe allein in gar keiner Weise ausreichend ist, um Menschen zu rechtmäßigem Handeln zu bewegen. Viel wichtiger als das Strafrecht — auch davon ist schon gesprochen worden — ist die Stärkung jener Institutionen, die jungen Leuten Halt und Orientierung geben können, die sie zu eigenständigen und eigenverantwortlichen Persönlichkeiten erziehen können. Hier tragen die Familien, die Schulen, die Kirchen eine ganz besondere Verantwortung. Ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aber man muß ihnen im Alltag unserer Gesellschaft auch den Raum lassen, diese Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen. Herr Kollege Klose, ich bin mit Ihnen der Meinung — das hat nichts mit Journalistenschelte und gar nichts mit Einschränkung von Pressefreiheit zu tun —, daß es das Gebot der Stunde ist, die Verantwortlichen bei privaten und öffentlichen Medien daran zu erinnern, welche spezielle Verantwortung sie in diesem Felde haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Es genügt eben nicht, meine Damen und Herren, daß Bund und Länder und viele verdienstvolle private Institutionen große Enqueten über Gewalt in den Medien und ihre Wirkung vor allem auf junge Leute veranstalten, wenn daraus nicht Konsequenzen gezogen werden. Ich finde, es gehört auch zu unseren Pflichten, daß wir gemeinsam — es ist ja nicht bestreitbar, daß auch die politischen Parteien im Bereich der Medien Verantwortung mittragen — diese Herausforderung nicht nur sehen, sondern endlich auch annehmen.
    Meine Damen und Herren, die Erosion des Rechtsbewußtseins hat insbesondere auch dazu geführt, daß sich rechts- und linksextremistische Gewalttäter zur Konfrontation mit dem Staat ermutigt fühlen. Ich lege



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Wert darauf, beide zu nennen: rechts- und linksextremistische Gewalttäter.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ich warne vor jener Verharmlosungstendenz, wie wir sie gerade eben von diesem Pult aus erlebt haben, daß die Zahlen der Toten, die solchen Verbrechen zum Opfer gefallen sind, gegeneinander aufgerechnet werden. Diese Republik ist weder auf dem rechten noch auf dem linken Auge blind, und diese Republik ist nicht Weimar. Darin sind wir uns einig. Dies ist ein freiheitlicher Rechtsstaat, der sich mit seiner ganzen Kraft gegen alle Feinde der Republik zur Wehr setzt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Unser Staat muß auch in den Augen seiner Bürger handlungsfähig sein. Ich will jetzt nicht viel zu dem folgenden Thema sagen, weil ich meine Hoffnung darauf setze, daß die Gespräche zum Erfolg führen. Aber wenn wir die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger wirklich ernst nehmen — ich spreche nicht von jenen, die hysterisch reagieren, sondern von den vielen besonnenen, die ihren Beitrag zum Bau der Bundesrepublik Deutschland in Jahrzehnten geleistet haben —, dann müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen, daß in der Frage des Asylmißbrauchs die Grenze der Belastbarkeit für viele überschritten ist. Das ist in der Tat keine parteipolitische Frage. Sie brauchen darüber nur mit Bürgermeistern, Landräten und mit in kommunaler Verantwortung stehenden Persönlichkeiten, Männern und Frauen, zu sprechen, und Sie werden überall das gleiche hören.
    Die Situation hat sich dramatisch zugespitzt. Wenn nicht gehandelt wird, besteht die Gefahr einer wirklich tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber dem demokratischen Staat. Die Menschen erwarten endlich Lösungen. Sie sagen: Ihr habt lange genug, zu lange geredet. Sie wollen Lösungen, die wirklich greifen und dem Mißbrauch einen wirksamen Riegel vorschieben. Alle, die von der Sache etwas verstehen, wissen natürlich, daß das, was jetzt diskutiert wird, für sich allein das Problem nicht löst. Auch das muß man klar und deutlich aussprechen.
    Ich hoffe sehr, daß die in dieser Woche beginnenden Gespräche möglichst rasch zu einer Übereinstimmung führen. Ich will deutlich sagen, daß wir seitens der Bundesregierung bei diesen Gesprächen den Fraktionen jede von ihnen gewünschte Unterstützung geben.
    Lassen Sie mich ein grundsätzliches Wort über das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern sagen. Wir Deutschen leben bis auf wenige Ausnahmen friedlich und nachbarschaftlich mit rund 6 Millionen Menschen zusammen, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind. Wir vergessen niemals, daß wir sie selbst hierhergeholt haben. Wir haben sie gebeten, zu uns zu kommen. Von den 1,9 Millionen ausländischen Arbeitnehmern in den alten Bundesländern arbeiten knapp eine Million in der Industrie und im Bergbau, knapp eine halbe Million am Bau, im Handel und im Gastgewerbe. Wenn Sie nicht da wären, wäre
    das Bruttosozialprodukt in Deutschland bei weitem geringer, als es tatsächlich ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Wahr ist auch, meine Damen und Herren, daß viele dieser Ausländer auf Arbeitsplätzen sind, die die Deutschen längst nicht mehr annehmen. Dazu gehört ja inzwischen vielfach auch schon die Alten- und Krankenpflege, die angesichts der Überalterung unseres Landes in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Ausländische Arbeitnehmer erarbeiteten 1991 im Westen unseres Landes nach Angaben des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung 9 % unseres Bruttosozialprodukts, also über 230 Milliarden DM. Wer den tumben, dumpfen Parolen des Ausländerhasses nachläuft, der soll, wenn er schon sonst nichts begreifen will, wenigstens erkennen, daß ohne die Arbeit dieser ausländischen Arbeitnehmer in unserem Land sein Wohlstand gar nicht möglich wäre.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ich bin sicher, daß die weit überwiegende Mehrheit unseres Volkes das weiß. Deswegen sage ich auch: Es ist zutiefst ungerecht — egal, wo es geschrieben wird: diesseits oder jenseits des Atlantiks, diesseits oder jenseits unserer Grenzen —, den Bürgern unseres Landes pauschal Fremdenfeindlichkeit zu unterstellen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Zu einer ehrlichen Lagebeschreibung gehört aber auch das, was Wolfgang Schäuble schon angesprochen hat. Das ist wiederum ein Problem der alten Bundesrepublik, nämlich die demographische Entwicklung. Heute sind mehr als 20 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland über 60 Jahre alt. Die Zahl der über 85jährigen steigt in den nächsten acht Jahren, bis zum Jahre 2000, auf 1 500 000 Bürger. Es ist eine höchst erfreuliche Tatsache, daß die Lebenserwartung durch die moderne Medizin und vieles andere mehr steigt. Aber kein Mensch kann die Augen davor verschließen, daß diese Entwicklung notwendigerweise zu einer völlig veränderten Situation etwa für unsere sozialen Sicherungssysteme führt. Es wird viel zuwenig darüber gesprochen, was es für die Rentenversicherung heißt, wenn immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentnern gegenüberstehen. 1985 standen 100 Beitragszahlern 54 Rentner gegenüber. In drei Jahren, 1995, werden es schon 59 sein. Die Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2030 — wir haben nicht die Ausrede, das gehe uns heute nichts an — wird es deutlich mehr Rentner als Beitragszahler geben. Das hat enorme Wirkungen in allen Bereichen. Wir müssen darüber reden, auch wenn es ans Sparen geht, Herr Kollege Klose, ob wir jetzt sagen: Die nach uns sollen das machen, oder ob wir in einer ehrlichen Bestandsaufnahme sagen: Wir müssen schon heute weiterdenken. Niemand ist aus der Verpflichtung



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    entlassen, den Menschen in diesem Land die Wahrheit zu sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Zu einer Bestandsaufnahme der Kultur- und Exportnation Deutschland gehört auch die Beschreibung der Lage unseres Bildungswesens. Ich lehne es strikt ab, mich auf eine Arbeitsteilung einzulassen — bei aller Anerkennung der föderalen Struktur unserer Verfassungsordnung — und zu sagen: Das geht den Bund überhaupt nichts an. Die Folgen einer verfehlten Politik in diesem Feld sind Folgen für den Gesamtstaat. Wenn wir davon ausgehen, daß in wenigen Wochen, am 1. Januar 1993, der Europäische Binnenmarkt kommt und daß nach menschlichem Ermessen 1995 Österreich, Finnland und Schweden — auch Norwegen und die Schweiz, wie ich hoffe; wenn nicht dann, so wenige Jahre später — der Gemeinschaft beitreten; daß sich die Gemeinschaft in späteren Jahren, vielleicht zu Beginn des nächsten Jahrhunderts, um die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Ungarn und Polen erweitern wird; dann müssen wir dafür sorgen, daß die jungen Leute aus Deutschland im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitsplätze innerhalb Europas bestehen können. Wir leisten uns die längsten Ausbildungszeiten für Akademiker. Im Durchschnitt verlassen 27 % der Studenten die Hochschule ohne Abschluß. In manchen Bereichen sind es jetzt bis zu 50 %. Das kann nicht nur an den jungen Leuten liegen. Das System ist der Aufgabe offensichtlich nicht mehr gewachsen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Deswegen müssen wir darüber reden. Denn die jungen Deutschen haben einen Anspruch, von der deutschen Politik — nicht nur von den Politikerinnen und Politikern im Bund, sondern auch in den Landtagen und den Landesregierungen sowie im kommunalen Bereich — Antwort auf die Frage zu bekommen: Wie stellt ihr euch die Zukunft vor?
    Ich will versuchen, im nächsten Jahr alle im Bereich der Bildungspolitik Verantwortlichen zu Gesprächen über dieses Thema zusammenzubringen. Ich mag den Begriff „Bildungsgipfel" nicht. Es soll aber ein Treffen werden, bei dem wir darüber reden, was jede Seite zu tun hat. Ein solches Treffen macht allerdings nur dann Sinn, wenn jeder bereit ist, die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Wenn wir lediglich den jetzigen Zustand beibehalten wollen, können wir uns Zeit und Mühe für ein solches Treffen sparen.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, im Bereich der Hochschulen geht es um Leistungsfähigkeit und Effizienz. Deswegen müssen wir zu einer Straffung, zu einer wirklichen Reform der Studiengänge fähig sein. Auch eine Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur ist unumgänglich. Wir sind jetzt im dritten Jahr der deutschen Einheit. Niemand kann im Ernst erwarten, nachdem wir in der alten Bundesrepublik gegenüber allen anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft eine Sondersituation hatten, daß jetzt die neuen Bundesländer die Zeit bis zum Abitur um ein Jahr verlängern.
    Ich halte das für ausgeschlossen. Ich finde es einfach überfällig, daß die Länder zu einer Vereinbarung kommen, damit wir in dieser Frage eine gemeinsame Linie haben, und nicht nur untereinander über die Zuschüsse des Bundes für den Hochschulbau reden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN )

    Meine Damen und Herren, eine weitere entscheidende Herausforderung, die wir bestehen müssen, um als eine der großen Wirtschaftsnationen der Welt unsere Spitzenposition im internationalen Wettbewerb halten zu können, betrifft die Frage nach der Qualifikation unserer Arbeitnehmer und die Frage nach dem Einsatz und der Ausnutzung von Maschinen. Jeder von uns weiß, daß die Kosten-NutzenRelation für Maschinen in den letzten Jahren ungünstiger geworden ist. Herr Abgeordneter Klose, Sie haben gefragt: Welche Vorschläge haben Sie? Wir müssen uns darüber unterhalten — und zwar nicht mit abgegriffenen Vokabeln wie „Sozialabbau" —: Was kann man tun, damit die Maschinenlaufzeiten in deutschen Unternehmen, gemessen an denen in der EG, nicht noch weiter abfallen? Dies ist eine Grundfrage der Wohlstandsentwicklung in unserem Land. Ich war am letzten Dienstag in Schwerin in einem großen Betrieb eines großen Konzerns. Wenn es jetzt in Mecklenburg-Vorpommern — jedenfalls für eine Übergangszeit — möglich ist, daß die Maschinenlaufzeit in diesem Betrieb fast ein Drittel länger ist als in vergleichbaren Betrieben im Westen, dann frage ich mich: Warum können wir nicht aus den neuen Bundesländern wirklich Positives für die alten Bundesländer übernehmen? Dort ist es doch offenkundig möglich.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ich bin im übrigen davon überzeugt, daß eine Abkehr von den starren Arbeitszeitregelungen sich nicht nur wirtschaftlich rechnet, sondern auch mehr Freiheitsräume für die Menschen öffnet.

    (Zuruf von der PDS/Linke Liste)

    Zu diesem Punkt gehört natürlich auch die Frage der Lebensarbeitszeit. Wolfgang Schäuble hat die Zahlen schon genannt. Glaubt denn wirklich jemand bei uns, es sei ein Zugewinn für das ganze Land, wenn immer jüngere Jahrgänge vorzeitig in den Ruhestand gehen? Ich halte es für eine Fehlentwicklung — auch wenn ich es jetzt aus Gründen der Arbeitsmarktlage und der betrieblichen Situation manchmal schon verstehen kann —, wenn jetzt im Westen — zu den Landsleuten in den neuen Ländern sage ich gleich in anderem Zusammenhang noch etwas — Leute mit 55 Jahren in den Ruhestand gehen. Das sind ja im Regelfall nicht gebrechliche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Ihre Lebenserfahrung und das, was sie einbringen können, auch ihre dynamische Kraft, das alles fällt dann weg, und wir können nicht erwarten, daß die nachrückende Generation das gleiche Maß an Lebenserfahrung einbringt.
    Die Geschichte aller zivilisierten Völker, die Kulturgeschichte der Menschheit weiß etwas davon, daß die Dynamik der Jüngeren und die Weisheit der Älteren in einer vernünftigen Verbindung stehen müssen. Wir



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    sind dabei, diesen Schatz zu verspielen. Ich halte das für falsch.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Spitzenleistungen in Forschung und Entwicklung sind entscheidende Voraussetzungen für die Zukunft. In einer ganzen Reihe von wichtigen Bereichen haben wir hier immer noch eine Spitzenstellung. Ich wünschte mir gelegentlich, daß auch in schwierigen Zeiten der eine oder andere aus dem Unternehmerlager nicht nur auf die schwierige Situation hinweist, in der wir uns befinden, sondern auch darauf, daß die Leistungen deutscher Forscher, Ingenieure, Unternehmer und Arbeitnehmer dazu geführt haben, daß wir in einer Reihe von wichtigen Bereichen nach wie vor Spitzenleistungen in der Welt erbringen.
    Aber es ist alarmierend, wenn in solchen Bereichen beispielsweise Forschungsinstitute ins Ausland verlegt werden, weil Regelungsdichte und Bürokratie bei uns den Fortschritt bremsen. Wir sind uns sicher einig, ich hoffe das jedenfalls: Es gilt, daß nicht alles, was technisch machbar ist, auch verwirklicht werden darf, daß hier Gebote zu beachten sind, die weit über das Materielle hinausgehen. Aber es kann doch nicht angehen, daß bei uns neue Produkte, die wünschenswert sind und Chancen haben, ein schier undurchdringliches Dickicht von Zulassungsverfahren und Verträglichkeitsprüfungen passieren müssen. Es ist die Wahrheit. Wir haben in über 40 Jahren auch Ballast angesammelt, und wir sollten jetzt im Zusammenhang mit der deutschen Einheit einen neuen Anfang machen und diesen Ballast abwerfen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir hatten kürzlich im Bundestag die Debatte über die Novellierung des Gentechnikrechts. Wenn die Genehmigung einer Anlage zur technischen Herstellung von Humaninsulin bei uns sechs Jahre braucht, dann brauchen wir uns über Konkurrenznachteile gegenüber anderen Ländern nicht zu wundern.
    Hinzu kommt noch etwas, das meistens totgeschwiegen wird, daß nämlich die Rahmenregelungen des Bundes regional ganz unterschiedlich ausgelegt werden.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist es!)

    Meine Damen und Herren, es ist doch ein absurder Zustand, wenn wir ab 1. Januar 1993 den Europäischen Binnenmarkt haben und in der nationalen Genehmigungspraxis bei wenigen Kilometern Distanz zwischen den Landeshauptstädten derartige Unterschiede von Bundesland zu Bundesland bestehen. Wir waren hier gemeinsam der Meinung — jedenfalls die große Mehrheit —, daß die Novellierung des Gentechnikrechts etwas mit der Verbesserung der Standortbedingungen für die Produktion in Deutschland zu tun hat. Das gilt genauso wie der Obersatz, daß die Wahrung des Schutzes der Menschen und der Umwelt oberstes Gebot bleibt. Weniger Bürokratie und der Verzicht darauf, auch noch das letzte Detail regeln zu wollen, ist für uns alle in den neuen und in den alten Bundesländern notwendig; aber, meine
    Damen und Herren, in den neuen Bundesländern ist dies absolut unverzichtbar. Wenn der Aufschwung Ost eine Chance haben soll, darf er nicht im dichten Netz von Vorschriften und Regelungen steckenbleiben. Dies ist für eine Aufbruchsituation in keiner Weise angemessen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Deshalb ist mein Ziel, nicht irgendwann, sondern jetzt, in diesen Wochen, in den Gesprächen über den Solidarpakt gemeinsam mit den Bundesländern Verwaltungs- und Rechtsvereinfachungen durchzusetzen. Mein Vorschlag zur Güte ist: Wenn es viele in den alten Ländern nicht glauben, dann laßt uns doch einmal einen Pakt der Vernunft für die neuen Länder schließen! Ich sage Ihnen voraus: In drei, vier Jahren werden wir das, was wir dann dort erprobt haben und was dann sehr viel mehr an Erhards Zeit als an unsere Zeit erinnert, gern auch in der ganzen Bundesrepublik übernehmen. Die Bundesregierung wird in ihrer Sitzung in der nächsten Woche die notwendigen Initiativen beschließen und dafür auch die notwendige Zustimmung des Parlaments erbitten.
    Ich will in diesem Zusammenhang ein Thema ansprechen, das, wie ich glaube, zu wenig beachtet wird. Genehmigungsverfahren ziehen sich bei uns auch deshalb oft unerträglich in die Länge, weil die zuständigen Behörden trotz aller Genehmigungschancen die Ermessensspielräume nur zaghaft nutzen. Meine Damen und Herren, ich bin weit davon entfernt, jetzt — was ja in Deutschland üblich ist — alles auf die Beamten abzuschieben und die Beamten zu beschimpfen. Die Erfahrung in unserem Staat, der ein Rechtsstaat ist und der sich auf den Weg des Rechtsmittelstaates begeben hat, ist, daß eben jeder Genehmigungsbescheid möglicherweise vor Gericht mit einer Vielzahl von Einsprüchen und Klagen angefochten wird. Diejenigen, die vor Gericht als die Beklagten, als die Vertreter der Behörden erscheinen müssen, machen oft die Erfahrung, daß sie als die ausgemachten Bösewichter der Nation betrachtet werden. Das ist doch die Wahrheit. Es kann doch hier im Raum niemand ernsthaft glauben, daß der notwendige rasche Aufbau in den neuen Ländern mit einer so zögerlichen Verhaltensweise möglich ist.
    Ein Großteil derer, die hier sitzen und zuhören, hat noch — zumindest aus unserer Schüler- und Studentenzeit — die Erfahrungen aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg vor Augen. Es steht doch außer Frage, Herr Kollege Klose: Wenn der Hamburger Bürgermeister jener Jahre oder der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Altmaier oder Georg August Zinn in Hessen oder Hans Ehard in Bayern — ich könnte viele nennen — oder die damalige Bundesregierung eine solche Verhaltensweise hingenommen hätte, wäre am Ende der zehn Jahre nach der Währungsreform, am Ende der 50er Jahre nicht von einem deutschen „Wirtschaftswunder" die Rede gewesen. Es war ja eigentlich auch kein Wunder. Es war die Schaffenskraft des Landes, es war die Hilfe des Marshallplans, es war die großartige Bereitschaft der Menschen, zuzupacken, weil sie Zukunftshoffnung hatten und nicht geistig auf der Couch des Psychiaters Platz genommen hatten,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)




    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    weil sie entscheidungsfreudig waren und das auch von ihrer Verwaltung zu Recht erwarteten, die das ermöglicht haben.
    Ich begrüße es — und ich möchte Sie herzlich bitten, das zu unterstützen —, daß im Haushaltsausschuß des Bundestages über alle Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestand und besteht, dem entscheidungsfreudigen und verantwortungsbewußten Beamten und der entscheidungsfreudigen und verantwortungsbewußten Beamtin politisch den Rücken zu stärken. Nunmehr geht es darum, in einer gemeinsamen Entschließung durch den ganzen Deutschen Bundestag die Botschaft auszusenden: Wenn jetzt in den neuen Ländern investiert wird, wenn jetzt Verwaltungsentscheidungen getroffen werden müssen, bei denen völliges Neuland beschritten wird, dann müssen die Verantwortlichen etwas wagen. Sie müssen von der politischen Klasse — ich mag das Wort nicht —, von den demokratischen Parteien, vom Parlament, den Regierungen, auch von der Bundesregierung ermutigt werden: Handelt! Riskiert etwas, auch wenn manchesmal ein besonderes Risiko dabei ist!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, die weltwirtschaftliche Entwicklung und damit auch die Konjunktur in Deutschland sind in ein schwieriges Fahrwasser geraten. Wenn man hier den Herrn Vorsitzenden der SPD-Fraktion gehört hat, könnte man meinen, die Bundesregierung sei dafür verantwortlich, daß wir jetzt eine weltweite Rezession haben.
    Wir haben sie. Sie hat uns in Deutschland, wenn wir ehrlich sind, später erreicht, weil wir auch in dieser Hinsicht — ökonomisch gesehen, und zwar bedingt durch die deutsche Einheit — Glück hatten. Folgendes möchte ich zu Äußerungen aus Teilen der Öffentlichkeit und der Wirtschaft sagen: Die deutsche Wirtschaft hat an der deutschen Einheit ungewöhnlich gut verdient.

    (Beifall im ganzen Hause)

    Manches Unternehmen stellt jetzt Vergleiche an und stellt fest, daß sein Ertrag gegenüber den letzten beiden Jahren gesunken ist. Unternehmen der Automobilindustrie z. B. sollten aber daran denken, daß die Menschen in Leipzig nicht jedes Jahr ein neues Auto kaufen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

    Bis zur deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hatten sie zehn Jahre auf ein Auto warten müssen. Jetzt können sie sich zwar eines leisten, aber es ist eine deutsche Angewohnheit, ein Auto besonders liebevoll zu pflegen und es nicht gleich nach einem Jahr wieder abzugeben. Also, es ist eine völlig törichte Diskussion, die im Zusammenhang mit dem Nachfragerückgang bei uns stattfindet.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Wir haben die Folgen dieser weltweiten Rezession zu verkraften. Deswegen ist es wichtig, daß wir alles tun — ich selber habe das mir Mögliche getan —, die
    gegenwärtig laufenden GATT-Verhandlungen zu einem guten Ende zu bringen. Wir alle brauchen das GATT. Allerdings vermisse ich in der deutschen Diskussion darüber die Umstellung der Reihenfolge, wie es moralisch richtig wäre: Nicht nur die Industrienationen brauchen das GATT, sondern viel dringender brauchen die Länder der Dritten Welt ein positives Ergebnis der GATT-Verhandlungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, wir können die Haushalte für Entwicklungshilfe so hoch aufstocken, wie wir wollen: Wir kämen mit noch so vielen Steuermitteln — aus Deutschland oder aus anderen Ländern — nicht annähernd in den Bereich der erforderlichen Hilfe, den ein freier Welthandel erreicht. Deswegen ist es ganz wichtig, daß wir sagen: Wir wollen einen positiven Abschluß der GATT-Verhandlungen auch als Hilfe für die Dritte Welt. Wir wollen ihn aber auch für uns als eine der großen Industrienationen. Wer glaubt, er könne sich in den 90er Jahren in die Schützengräben vergangener Zeiten zurückziehen und dort einen transatlantischen Handelskrieg überstehen, der lebt an der Wirklichkeit vorbei. Das hätte schlimmste Konsequenzen für breite Schichten auf beiden Seiten des Ozeans.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, deswegen füge ich hinzu: Ich erwarte, daß beide Seiten zu Kompromissen bereit sind.

    (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Waren sie doch!)

    Ich hätte mir gewünscht, Kompromißfähigkeit wäre auf beiden Seiten des Ozeans schon früher gezeigt worden. Wenn das, was jetzt auf dem Tisch liegt — das sage ich mit Bedacht —, schon im Juli auf dem Weltwirtschaftsgipfel in München auf dem Tisch gelegen hätte, dann hätten wir das damals an einem Abend abschließen können. Auch das ist die Wahrheit.
    Ebenfalls finde ich es nicht gut — auch das sage ich nicht ohne Grund —, daß wir den GATT-Abschluß zwar nachdrücklich bejahen, unseren Beitrag dazu leisten und auch die EG-Kommission in ihrer Haltung ermutigen, gleichzeitig aber die Gelegenheit wahrnehmen, diejenigen Partner in Europa, die das in besonderer Weise betrifft, sozusagen mit einem besonders negativen Soupçon zu versehen. Denn wir können in Europa das Ziel nur in Partnerschaft erreichen. Deswegen hoffe ich — auch wenn die Konsequenzen für die einzelnen Länder unterschiedlich sind — auf die Zustimmung unserer französischen Freunde. Aber ich bitte auch darum, für die Lage der Franzosen Verständnis zu haben. Meine diesbezügliche Bitte schließt auch die deutschen Bauern ein.
    Meine Damen und Herren, das, was ich in diesen Wochen in diesem Zusammenhang gehört habe, ist für mich inakzeptabel. Ich kenne keine Gruppe in der deutschen Bevölkerung, die auf Grund der EG-Politik



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    vergleichbare Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen wie die Bauern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wenn ich daran denke, wie sich ganz selbstverständlich „Größtkoalitionen" quer durch das Haus bilden — dafür habe ich Verständnis und viel Sympathie —, wenn es um die Kohle und um die Bergarbeiter geht, wenn ich sehe, wie geheimnisvolle Kräfte walten, die sozusagen dem Meer entsteigen, wenn es um die Erhaltung von Werften geht, dann empfinde ich es als eine große Heuchelei, wenn bei dem Thema „Bauern" alle so tun, als gehe sie das überhaupt nichts an.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.])

    — Lieber Herr Kollege Weng, ich weiß, daß die Gruppe der Apotheker noch kleiner ist als die der Bauern.

    (Heiterkeit)

    Aber, Herr Kollege Weng, es gibt gewisse Einkommensunterschiede, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.

    (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN)

    Wegen der Flut der Briefe, die ich daraufhin jetzt bekomme,

    (Heiterkeit)

    füge ich gleich hinzu, daß ich natürlich auch den Apothekern ihr Einkommen gönne.
    Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht in dem neuen Jahresgutachten davon aus — ich denke, das müssen wir sehr ernst nehmen —, daß die westdeutsche Wirtschaft erst in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres wieder wesentliche Wachstumskräfte entwickeln wird. Das alles hat enorme Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, auf das Steueraufkommen und auf vieles andere, was in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Deswegen sollten wir jetzt nicht nur feierlich erklären, es sei nicht die Zeit der Verteilungskämpfe, sondern diese auch einstellen; alles andere bringt uns nichts.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Jetzt geht es darum, Wachstum zu mobilisieren und die Konjunktur wieder in Schwung zu bringen. Ohne einen wirtschaftlichen Aufschwung in den alten Ländern werden wir überhaupt nicht die Mittel haben, um in den neuen Ländern das Notwendige zu tun. Gerade die große Aufgabe der Vollendung der inneren Einheit in Deutschland fordert jetzt verantwortungsvolles Handeln.
    Aber bevor ich etwas zum Materiellen sage, will ich feststellen: Wichtiger als Geld, Gesetze usw. ist, daß wir uns bewußt werden, daß die deutsche Teilung in 40 Jahren tiefere Spuren hinterlassen hat, als viele von uns — ausdrücklich sage ich: auch ich — geglaubt haben. Wir haben uns in nicht wenigen Bereichen weit auseinandergelebt. Wenn man darüber nachdenkt, dann ist das eigentlich ganz verständlich. Vielleicht haben wir zuwenig darüber nachgedacht, daß unsere Lebenserfahrungen, unsere Biographien eben grundverschieden sind.
    Es war eben ein Unterschied, daß ich mit 18 Jahren 1948 in Ludwigshafen und nicht in Leipzig lebte. Es ist ein Unterschied, daß ich in völlig freier Entfaltung leben konnte und nicht unter der Herrschaft des SED-Regimes, unter der Allgegenwart der Stasi leben mußte. Deswegen warne ich uns, die wir das Glück hatten, im Westen in Freiheit zu sein, davor, über Biographien von Zeitgenossen aus der früheren DDR herablassend zu urteilen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN)

    Wir brauchen jetzt mehr Geduld. Vorhin ist gesagt worden: Wir müssen mehr miteinander als übereinander reden. Wir müssen mehr — und hier müssen wir, die wir im Westen leben, den größeren Schritt tun — aufeinander zugehen und unsere Landsleute nehmen, wie sie sind. Wir dürfen sie nicht in ein Bild umformen, das wir hier gewonnen haben. So können sie auf Grund ihrer Lebenserfahrung gar nicht sein.
    Das gilt, ich betone es noch einmal, vor allem für die Menschen in den alten Bundesländern. Aber das gilt natürlich bis zu einem gewissen Grad auch umgekehrt: So wie die Bundesrepublik heute ist, hat sie sich nicht über Nacht entwickelt; das ist vielmehr das Ergebnis einer vierzigjährigen Entwicklung. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns immer daran erinnerten, daß die neuen Länder in einer ganzen Reihe von wichtigen ökonomischen Daten nicht mit den Ländern der alten Bundesrepublik im Jahre 1992, sondern in den 50er Jahren zu vergleichen sind.
    Ich sage dennoch, daß ich nicht den geringsten Zweifel daran habe, daß wir in den neuen Ländern auf dem richtigen Weg sind, und daß die positiven Veränderungen und Zeichen des Aufbruchs — ungeachtet aller Schwierigkeiten — unübersehbar sind. Aber das alles kann nicht verhindern, daß dann, wenn in der Nachbarstadt die Arbeitslosigkeit auf 40 % steigt, die Übergangsschwierigkeiten, Sorgen und Nöte in den Vordergrund rücken, von denen die wenigsten der heute in der alten Bundesrepublik Lebenden eine Vorstellung haben. Deswegen sollten wir weniger von Solidarität reden als vielmehr Solidarität leben und den Landsleuten in den neuen Ländern die notwendige Zeit für die Eingewöhnung geben, Zeit, die ihnen im Materiellen Sicherheit und Zuversicht für die Zukunft gibt.
    Es gibt — neben anderem — Positives zu berichten. Ich freue mich besonders darüber, daß es schon in diesem Jahr gelungen ist, denjenigen in den neuen Ländern, die eine Lehrstelle wollten, eine solche zu verschaffen, ihnen ein Ausbildungsangebot zu machen. Wir sind in diesem Jahr in den neuen Ländern bereits in einer Situation, die wir in der alten Bundesrepublik erst in den späten 50er Jahren erreicht hatten, daß nämlich die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze prozentual wesentlich höher ist als die der überbetrieblichen, was unserer Vorstellung vom dualen System entspricht.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Die Bundesregierung setzt das Instrumentarium der aktiven Arbeitsmarktpolitik in einem bisher nie gekannten Ausmaß ein. Es geht darum, diesen Umstrukturierungsprozeß sozial zu begleiten. Die Arbeitsmarktpolitik hat also eine wichtige Brückenfunktion. Bis zur Schaffung von neuen, dauerhaften Arbeitsplätzen sollen Arbeitnehmer Chancen zur beruflichen Fortbildung und zur sinnvollen Weiterbildung erhalten. Dazu dienen die neuen Bestimmungen im Arbeitsförderungsgesetz, die Zehntausenden von Arbeitnehmern zugute kommen. Mit unserem Konzept „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" kann erstmals Arbeitslosengeld in Lohnkostenzuschüsse umgewandelt werden.
    Ein deutliches Zeichen für bessere Entwicklungen im wirtschaftlichen Umfeld ist der kräftige Anstieg der gewerblichen Investitionen. Die Investitionsausgaben werden 1993 um 20 % zunehmen. Das Konzept setzt auf Investitionen, weil nur auf diesem Weg die erforderlichen neuen, wettbewerbsfähigen Arbeitsplätze entstehen können. Die entschlossene Unterstützung des Aufbaus zukunftsträchtiger Produktionsstätten ist nach meiner festen Überzeugung der einzige wirklich erfolgversprechende Weg zu einem modernen Industriestandort Ostdeutschland, und an dieser Strategie halten wir fest.
    Die massive Investitionsförderung, meine Damen und Herren, wird fortgesetzt und weiter aufgestockt. Hier müssen wir vor allem an den industriellen Mittelstand denken. Man muß sich immer wieder darüber klar sein, daß zu den schlimmsten Erblasten des SED-Regimes gehört, daß die mittelständischen Strukturen, die beim Aufbau der alten Bundesrepublik in den frühen 50er Jahren entscheidend dazu beigetragen haben, den Aufbau zu schaffen, weitgehend zerstört worden sind, daß wir heute verglichen mit den westlichen Bundesländern — in den östlichen Bundesländern im besten Fall ein Viertel der mittelständischen Existenzen haben; in manchen Fällen ist die Zahl noch sehr viel geringer. Deshalb wollen wir zusätzlich zu den bisherigen umfangreichen Hilfen Sonderinvestitionszulagen schaffen.
    Wir werden darüber hinaus — da haben wir dazugelernt, das ist wahr; ich habe kein Problem, das klar und deutlich auszusprechen — in Gesprächen mit der Treuhand, mit den Landesregierungen, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften dafür Sorge tragen, daß das — das Wort gefällt mir zwar nicht, aber es wird jetzt häufig gebraucht —, was man industrielle Kerne nennt, in den neuen Ländern erhalten bleibt.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN — Zurufe von der SPD)

    — Ich weiß nicht, warum Sie unruhig sind; das ist eine vernünftige Entwicklung. Die Entwicklung wäre natürlich anders verlaufen — aber das haben Sie sowenig gewußt wie ich , wenn die Sowjetunion noch existierte, wenn Michail Gorbatschow noch im Amt wäre und seine Zusage über einen Warenaustausch im Umfang von 25 Milliarden DM für 1991/92 hätte einhalten können. Dann wäre es eben möglich, daß eine der führenden Waggonfabriken Europas, die ihren Sitz in den neuen Ländern hat, ihre Produkte auf der alten Spur wie bisher dorthin liefert. Sie wissen
    doch so gut wie ich, daß die Entwicklung hier sehr dramatisch gewesen ist.
    Ich hoffe sehr, daß die SPD in den Landtagen der neuen Länder — auch dort, wo sie in der Landesregierung ist — dazu beiträgt, daß man dieses Konzept gemeinsam vernünftig aushandelt. Es ist mein dringender Wunsch, daß dieses Konzept nicht hier in Bonn, sondern im Gespräch mit den Landesregierungen, mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmern und mit der Treuhand vor Ort entworfen wird. Wenn wir schon gesamtdeutsche Entwicklungen haben, so ist eine davon auf einem bestimmten Gebiet jedenfalls auch in den neuen Ländern längst eingetreten: alle Verantwortung dort, wo sie unangenehm ist, auf Bonn abzuschieben. Das ist eine wirklich gesamtdeutsche Entwicklung geworden; jeder spürt das.
    Meine Damen und Herren, mit der Entwicklung in den neuen Ländern ist der Abbau von Personal verbunden. Wir erleben, daß der Schrumpfungsprozeß an Grenzen stößt. Deswegen bekenne ich mich zu diesem Konzept, das ich hier soeben angesprochen habe.
    Wir müssen jetzt — das war die Debatte von gestern, die ich nicht neu aufnehmen will — zusätzliche Mittel für die neuen Länder gewinnen. Das ist der Sinn des von Theo Waigel entworfenen föderalen Konsolidierungskonzeptes. Dabei geht es um notwendige Sparmaßnahmen, es geht um Umschichtungen, und es geht um die gesamtstaatliche Verantwortung.
    Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Ich verstehe die Kritik, die Sie in diesem Zusammenhang am Finanzminister geübt haben, überhaupt nicht, und in einem Punkt — das ist jetzt eine neue Variante, um ihm zu schaden — finde ich sie besonders unangemessen. Es wird gesagt: „Der ist doch Parteivorsitzender", als stünde irgendwo geschrieben, daß ein Parteivorsitzender nicht Finanzminister sein darf. Meine Damen und Herren, wenn wir dieses Kriterium an die deutsche Politik in den letzten 40 Jahren angelegt hätten, hätten viele Personalentscheidungen anders getroffen werden müssen. Wir sollten das seinlassen. Theo Waigel macht eine gute Arbeit. Er verdient unser Vertrauen.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch bei der SPD)

    Die Kollegen von der SPD können ihre Ritualübungen mit jeweiligen Rücktrittsaufforderungen ruhig fortsetzen. Meine Damen und Herren, ich war in diesem Haus sieben Jahre Oppositionsführer und erinnere mich, wie oft wir eine Erklärung oder eine Entscheidung der damaligen Bundesregierung mit der Formel aufgenommen haben: „Die CDU/CSU lehnt diesen Vorschlag mit Abscheu und Empörung ab! " — So machen Sie es auch; aber Sie können es sich sparen, es bringt überhaupt nichts. Niemand in diesem Land liest es. Und wenn es doch jemand tut, denkt er: Die haben alle nichts dazugelernt. Das ist doch die Erfahrung!

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Da ich vom Sparen gesprochen habe, möchte ich Sie darauf hinweisen, daß das für uns keine Verbalübung



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    ist; um die Mittel für die neuen Länder zu gewinnen, müssen wir jetzt tatsächlich das Sparen in die Praxis umsetzen.
    Im übrigen ist ein weiterer Beweis für meine These, daß die wahren Probleme in Deutschland nicht primär Probleme im Zusammenhang mit der deutschen Einheit sind, die Tatsache, daß es in anderen Ländern, die diese Probleme nicht haben, genauso ist. Was geschieht denn gegenwärtig in Italien, in den Niederlanden? Das sind vergleichbare Länder, in denen übrigens, wenn ich recht unterrichtet bin, ein Parteivorsitzender der Sozialisten Finanzminister ist, und zwar ein ganz besonders qualifizierter. Das möchte ich bei dieser Gelegenheit gern sagen. Die niederländische Regierung hat zum zehnten Amtsjubiläum meines Kollegen und Freunden Ruud Lubbers dazu eingeladen, mit den Gewerkschaften ein Gespräch über Lohnstopp zu führen, meine Damen und Herren. So feierte man dort diesen Jahrestag!

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    In Frankreich — allein das zu nennen, bringt einem den Vorwurf des brutalen Eingriffs in die Tarifautonomie ein — folgt die Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst der sehr niedrigen Preissteigerungsrate von derzeit 2,7 %.
    In Schweden — einem Land, das jahrelang, jahrzentelang als beispielhaft in allen Bereichen vorgestellt wurde — hat die Regierung mit der sozialdemokratischen Opposition gleich zwei drastische Einsparpakete vereinbart. Herr Kollege Klose, da Sie früher — das waren noch andere Zeiten — oft und gern nach Schweden gefahren sind, um dort Erfahrungen zu gewinnen: Fahren Sie doch einmal mit dem Fraktionsvorstand hin und lassen sich dort darüber beraten, was man gemeinsam machen könnte.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, ungeachtet der Gefahr, daß ich jetzt wieder gescholten werde, ich redete in die Tarifautonomie hinein — ich will das überhaupt nicht —, muß doch der Satz gelten, daß bei einem Gespräch über Gemeinsamkeit und Deutschlands Zukunft, über einen Solidarpakt auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Unternehmer ihre Verantwortung haben und daß gemeinsames Handeln notwendig ist.
    Die SPD hat auf ihrem Parteitag vor ein paar Tagen erklärt — ich zitiere hoffentlich korrekt —:
    ... im Rahmen einer Gemeinschaftsinitiative ein umfassendes Paket zur konjunkturgerechten Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung mitzutragen.
    Ich lade Sie ausdrücklich dazu ein, das gemeinsam mit uns zu gestalten. Ob das dann ein Mittragen wird, ist eine noch offene Frage. Ich sage auch noch einmal, ich will nicht die Verantwortlichkeiten verwischen; ich will keine Überkoalition. Wir haben eine gut funktionierende Koalition: die braucht keinen Ersatz. Aber wir brauchen eine Mithilfe; denn es geht ja auch um die Länderhaushalte.
    Wir haben allein auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für das Saarland und für Bremen Sonderregelungen zu treffen, und die sind eben nur zu treffen, wenn wir gemeinschaftlich miteinander wirken. Angesichts der drastisch verringerten Verteilungsspielräume müssen wir über die Prioritäten einig werden. Jeder muß beim Solidarpakt seinen Beitrag leisten.
    Ich nenne ein paar Kernfragen, die hier anstehen.
    Das ernüchternde Ergebnis von 40 Jahren SED-Wirtschaft ist ein Schuldenberg in der Größenordnung von 400 Milliarden DM. Er besteht aus dem Defizit der Treuhandanstalt und den Schulden des Kreditabwicklungsfonds. Wir wollen dafür 1995 einen Erblastfonds einrichten. Warum wir ihn so nennen? Weil doch die falschen Propheten schon überall im Land unterwegs sind, meine Damen und Herren. Ich weiß doch, wer in Instituten und sonstwo schon unterwegs ist — ein Prachtexemplar hat doch vorhin hier schon gesprochen —,

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    um dann im Jahre 1994 oder 1995 zu sagen: Das sind nicht die Schulden von Herrn Honecker und von Herrn Ulbricht, nein, das sind die Schulden von Theo Waigel und Helmut Kohl.

    (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    — Sie sehen, es ist wie bei den Pawlowschen Versuchen;

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    die Reaktion kommt sofort.
    Jeder in Deutschland muß wissen, worum es geht. Jeder muß wissen, daß dieses System bankrott war und daß man der Welt vorgegaukelt hat — leider haben es zu viele geglaubt —, als habe man es hier mit einer der großen Industrienationen zu tun gehabt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Das heißt: Wir müssen jährlich mindestens 40 Milliarden DM für diese Erblast aufbringen. Und ich frage: Warum sollen wir das nicht so nennen? Warum sollen wir die Zahlung dieser Mittel nicht strecken? Sind wir uns eigentlich darüber im klaren, was in den frühen 50er Jahren in einer vorbildlichen Arbeit der Demokraten mit Blick auf die Konsequenzen aus der Nazibarbarei in den Wiedergutmachungsvereinbarungen geleistet wurde? Wir zahlen jetzt noch dafür und stoßen gerade an die 100-Milliarden-Grenze.
    Damals haben Adenauer, Ollenhauer, Carlo Schmid und andere gesagt: Das ist eine so gewaltige Aufgabe; die müssen wir etwas strecken. — Ich kann eigentlich nicht erkennen, warum wir nicht das gleiche auch hier angesichts dieser einmaligen Herausforderung sagen sollten.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Ab 1995 werden die neuen Bundesländer in den Finanzausgleich einbezogen. Wir dürfen doch — wenn ich die Verschuldungsentwicklung in den neuen Ländern sehe — diese nicht in kurzer Zeit in eine Lage bringen, daß sie für ihre zukünftige Ent-



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    wicklung keinerlei landespolitische Handlungsspielräume mehr haben. Dies wäre kein wirklicher Föderalismus, sondern ein Föderalismus, der am Bonner Tropf hinge. Das kann auf die Dauer doch keine gesunde Struktur für die neuen Länder sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, wir müssen also einschneidende Sparmaßnahmen, Umschichtungen, den Abbau von Steuersubventionen, Finanzhilfen und die Anpassung im Bereich von Sozialleistungen vornehmen. Ohne diese Maßnahmen ist das, was ich soeben gesagt habe, nicht zu leisten. Ohne diese Maßnahmen werden wir auch die ab 1995 anstehende jährliche Belastung von möglicherweise 90 bis 100 Milliarden DM aus Erblast und Finanzausgleich der Länder nicht bewältigen können.
    Was jetzt nottut, ist, daß diese Entscheidungen bald getroffen werden. Ich lege mich jetzt nicht auf einen Tag oder eine Woche fest, aber unter „bald" verstehe ich, daß möglichst viel vor Weihnachten geregelt wird. Was das angeht, was im Bund-Länder-Verhältnis besprochen werden muß — da sind wir ja nicht allein Herr des Verfahrens —, so sollte das nicht über den Januar hinausgeschoben, sondern so früh wie möglich abgeschlossen werden. Aus meinem Gespräch mit dem Kollegen Engholm in diesen Tagen und mit anderen habe ich den Eindruck gewonnen, daß das eine Sicht ist, die nicht nur von mir, sondern auch von anderen Verantwortlichen geteilt wird. Wir brauchen gerade in dieser schwierigen Wirtschaftslage berechenbare Daten für die deutsche Wirtschaft,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    berechenbare Daten über das, was an Belastungen auf die Bürger zukommt und was an Belastungen für die Wirtschaft zu erwarten ist.
    Vorhin ist kritisiert worden, daß ich — als sei das ein Konjunkturhemmnis — auf dem letzten Parteitag der CDU mit Zustimmung des Parteitages mit Blick auf den Erblastfonds erklärt habe: Um die über 40 Milliarden DM jährlich an Zins und Tilgung tragen zu können, müssen wir ab 1995 die Steuern erhöhen. — Ja, meine Damen und Herren, Sie haben doch immer gesagt, ich solle den Menschen ehrlich sagen, wie die Lage sei, und wir haben es gesagt.

    (Zuruf von der SPD: Aber zu spät!)

    — Entschuldigung, Ihr Rezept ist doch, daß Sie schon jetzt die Steuern erhöhen wollen. Unser Rezept ist eben, das in dieser Phase der Rezession nicht zu tun; denn es wäre Gift für die Konjunktur, jetzt steuerliche Belastungen vorzunehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Damit es klar ausgesprochen ist: Ich werde der Koalition vorschlagen, die Entscheidung über Steuererhöhungen — auch über die Größenordnung — ebenfalls in den ersten Wochen und Monaten des neuen Jahres zu treffen und sie dann in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Sie sollen nicht die Möglichkeit haben, durchs Land zu ziehen und zu behaupten: Die sagen ja gar nicht, was wirklich ist. —
    Sie werden genau erfahren, was auf uns, auf den einzelnen Bürger zukommt.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und warum nicht heute, in der Haushaltsdebatte?)

    — Aber, verehrte Frau Kollegin, wir stehen mitten in den Gesprächen mit den Ländern. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Finanzminister — das ist ja eine Vorstellung, die Sie sicherlich haben;

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    dagegen ist auch gar nichts zu sagen — und einer von uns würde Ihnen in einem Zeitpunkt, in dem Sie als Finanzminister mitten in Gesprächen mit den Landesfinanzministern sind — Sie wissen ja, wie es da zugeht; es geht um Geben und Nehmen, niemand will was rausrücken —, hier im Saal sagen: Aber Sie müssen heute sagen, wie Sie in die Verhandlungen hineingehen! — Was würden Sie dann sagen? Wie ich Sie kenne, wären Sie viel unfreundlicher als ich jetzt im Augenblick.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P)

    Natürlich ist das, worum es jetzt geht, auch abhängig vom Ergebnis der Verhandlungen mit den Ländern. Wissen Sie eigentlich genau, Frau Kollegin, ob nicht die Länder dann zum Bund kommen und sagen: Können wir nicht auch ein bissel was an Steuererhöhungen machen, die unseren Kassen zugute kommen? Das ist doch, wie jeder erkennen kann, der Zusammenhang. Es ist doch die normalste Sache der Welt, daß man erst miteinander spricht und dann zu Ergebnissen zu kommen versucht.
    Bei dem Gerede, das man hier und da hört und von dem man liest, erscheint mir etwas anderes in diesem Zusammenhang viel wichtiger, nämlich einmal zu sagen, daß die deutsche Volkswirtschaft jährlich mehr als 3 000 Milliarden DM erwirtschaftet. Daß angesichts einer solchen Leistungskraft das, was auf uns zukommt, nicht zu leisten sein soll, verstehe ich überhaupt nicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir sollten klar und deutlich sagen: Die deutsche Volkswirtschaft, vor allem eine flottgemachte deutsche Volkswirtschaft, die in der Lage ist, auch weltwirtschaftlich ihren Part zu spielen, ist sehr wohl in der Lage, den auf sie zukommenden Herausforderungen gerecht zu werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, wenn ich über den Solidarpakt spreche, muß ich ein Wort zum Beitrag der Tarifpartner sagen. Der Beitrag kann darin bestehen, daß die Tarife den veränderten Bedingungen, der schwierigen Situation in den jeweiligen Branchen und Regionen angeglichen werden. Dabei ist eines für mich ganz klar, und das kann ich gar nicht oft genug sagen: Unser Interesse — erlauben Sie mir, das jetzt auch als Parteivorsitzender zu sagen — besteht nicht darin, die Position der Gewerkschaften zu schwächen. Es ist im staatspolitischen Interesse dieser Republik in höchstem Maße erwünscht, daß die Gewerkschaften starke Gewerkschaften sind und wirkliche Sprecher



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    ihrer Mitglieder. Wenn Sie sehen, daß auch Gewerkschaften einen erheblichen Mitgliederschwund haben, dann sehen Sie auch erhebliche Veränderungen. Deshalb möchte ich, daß wir in vernünftigen Gesprächen zu vernünftigen Ergebnissen kommen.
    Aber es ist doch einfach überfällig — da wir ja die Mitbestimmung haben, sind viele der Verantwortlichen in den Aufsichtsräten und kennen die Daten in den einzelnen Unternehmen besser als wir —, und es ist doch in höchstem Maße erwünscht, daß wir jetzt einmal fragen: Was für Konsequenzen ziehen wir im Metallbereich angesichts der Situation bei Stahl, angesichts der Situation in der Autoproduktion? Wir können doch nicht so tun, als sei dies alles nicht so gewesen. Das gilt noch mehr für die Entwicklung der neuen Länder.
    Aber ich denke, das gilt auch für die Wirtschaft. Ich erwarte, daß sich die deutsche Wirtschaft zu einer mehrjährigen Ausbildungsgarantie für junge Leute in den neuen Ländern bereit findet. Ich glaube, daß kann man abfordern. Wir haben das in den frühen 80er Jahren fertiggebracht. Das muß auch heute möglich sein.
    Ich hoffe auch, daß wir verstärkte Anstrengungen erleben, daß westdeutsche Großunternehmen einen größeren Teil ihrer Lieferungen aus den neuen Bundesländern beziehen und daß sie sich dazu verpflichten — so daß das nicht eine vage Ankündigung ist und sie in einer konkreten Situation nicht nur Vorteilsregeln wahrnehmen —, hier bewußt aus gesamtstaatlicher, aus patriotischer Gesinnung ihre Aufträge entsprechend zu plazieren.
    Das gilt aber auch für die öffentliche Hand. Ich bin nicht sicher, daß alle Bundesbehörden, Landesbehörden und Kommunalbehörden die Notwendigkeit eines solchen Denkens schon begriffen haben. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, daß sie es begreifen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Es geht uns, es geht mir darum, daß wir in diesen nächsten Wochen, in wenigen Monaten mit Blick auf den Solidarpakt zu einem Gesamtpaket kommen, indem die einzelnen ihren Beitrag leisten, indem wir im besten Sinne des Wortes „Neues Denken" praktizieren, indem althergebrachte Gewohnheiten nicht fortgeschrieben werden, sondern indem wir den Standort Deutschland unter besonderer Berücksichtigung auch der neuen Länder und unserer Landsleute in den neuen Ländern für die Zukunft einrichten.
    Aber in dieses Bild Deutschlands gehört, daß wir endlich damit aufhören, eine Nabelschau zu betreiben und uns kaum mehr um die Welt um uns herum zu kümmern. Das Schicksal unseres Landes — der Satz ist genau so richtig wir früher — wird auch in Zukunft entscheidend von der Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt. In dieser gewaltig veränderten Welt können wir nicht die bisherige Politik einfach fortschreiben. Wir bauen gemeinsam mit unseren Partnern den Weg in die Zukunft.
    Das heißt vor allem — ich sage dies, obwohl wir in der nächsten Woche die große Debatte haben werden —, daß die europäische Politik stärker denn je gefordert ist. Europa ist heute genauso wie in den vergangenen Jahren — in einer anderen Weise, aber genauso — auf das enge Zusammenwirken mit den Vereinigten Staaten angewiesen. Die deutschamerikanische Freundschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunft Deutschlands in Frieden und Freiheit. Wir wollen dieses enge Zusammenwirken. Ich will es auch mit dem neugewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten. In unserem ersten Telefonat haben wir darüber gesprochen. Ich denke, wir werden bald nach seiner Amtseinführung ein Treffen haben. Es geht ja darum, die Linie, die sich bewährt hat, konsequent fortzusetzen.
    Meine Damen und Herren, wir haben heute aber auch allen Grund, dem in ein paar Wochen aus dem Amt scheidenden Präsidenten George Bush zu danken.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

    Er hat uns in einer schwierigen Zeit — der Kollege Genscher weiß das aus vielen Besprechungen in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen; ich sage das, ohne anderen zu nahe zu treten — mehr geholfen als viele andere. Er hat aus seiner Freiheitsidee heraus zu keinem Zeitpunkt gezögert, die Deutschen zu unterstützen.
    Wir vertrauen darauf, daß auch die künftige amerikanische Regierung — beim Präsidenten bin ich ganz sicher — und der Kongreß an dieser Politik festhalten. Zu dieser Politik gehört auch eine substantielle Präsenz amerikanischer Soldaten in Europa. Sie sind uns in Deutschland herzlich willkommen, und sie sollen bleiben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Das atlantische Bündnis bleibt Sicherheitsanker für ganz Europa. Es wird diese Funktion aber nur dann ausüben können, wenn wir uns auf die neuen Gegebenheiten einrichten. Die Bereitschaft der Allianz, im Rahmen der KSZE auf Ersuchen der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens in Europa beizutragen, ist dazu ein wichtiger Schritt. Wir, die Deutschen, dürfen bei der Durchführung dieser neuen Aufgaben von NATO und WEU nicht abseits stehen.
    Nicht zuletzt die Probleme im Hinblick auf die deutsche Beteiligung am UN-Embargo gegen Serbien-Montenegro haben deutlich gemacht, daß die grundsätzliche Klärung, Herr Abgeordneter Klose, der deutschen Position in dieser Frage überfällig ist. Wir können nicht unsere Freude über die wiedergewonnene deutsche Einheit zum Ausdruck bringen und gleichzeitig nicht davon sprechen — andere sprechen noch viel mehr davon —, daß Deutschland jetzt eine andere Funktion in der Welt wahrzunehmen hat — nicht in dem Sinne „Wir sind wieder wer", sondern ganz einfach deshalb, weil wir auf Grund unserer politischen, geographischen und ökonomischen Lage diese Verantwortung zu tragen haben. Wir können uns, wenn die Unwetter der Geschichte hereinbrechen, nicht abwenden und sagen: Das geht uns nichts an.



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Als Mitglied der Vereinten Nationen dürfen wir nicht nur unsere Rechte, sondern müssen wir auch unsere Pflichten wahrnehmen. Deswegen muß das, was jetzt ansteht, geklärt werden. Ich halte einen deutschen Sonderweg auch in diesen Fragen für völlig inakzeptabel.

    (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Deswegen sage ich Ihnen auch, Herr Kollege Klose, daß der Beschluß Ihres Parteitags — das wissen Sie selbst am allerbesten — in dieser Form nicht ausreichend ist. Ich habe sehr viel Sinn dafür, daß Sie auf dem Parteitag andere Probleme hatten und daß die Diskussion hierüber deshalb zu kurz gekommen ist. Aber wenn Sie es mir schon nicht glauben — ich darf dies hier einmal so sagen —, dann sollten Sie es Ihrem verstorbenen Ehrenvorsitzenden Willy Brandt glauben, der zu dieser Frage in den letzten Monaten eine Position bezogen und das auch öffentlich immer wieder geäußert hatte, die jedenfalls mehr der Position der Bundesregierung als der Position entspricht, die Sie auf dem Parteitag zum Ausdruck gebracht haben.
    Meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht mit halbherzigen Lösungen ins Abseits begeben. Wenn wir im Westen Europas — um auch das noch zu sagen — auf Dauer Frieden und Freiheit erhalten wollen, dann gehört dazu auch, daß wir als Europäer unseren Beitrag zu der Verbesserung der sozialen und der politischen Verhältnisse in Mittel-, Ost- und Südosteuropa leisten.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

    Ich beklage — das sage ich ausdrücklich —, daß viele in Europa immer noch nicht begriffen haben, daß Europa nicht an Oder und Neiße endet,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    daß nicht nur im Blick auf die Erweiterung der künftigen Europäischen Union die Oder-Grenze niemals die Ostgrenze der Europäischen Union werden darf. Die Völker, die vor kurzem neu ihre Freiheit gewonnen haben, die jetzt den Weg der parlamentarischen Demokratie, des Pluralismus gehen, brauchen unsere Unterstützung.
    So, wie wir aufgerufen sind, im eigenen Land zu helfen, sind wir auch aufgerufen, denen zu helfen, die jetzt viel größere Schwierigkeiten als wir haben und die im übrigen unsere Klagen schwer verständlich finden. Jeder meiner Amtskollegen oder- kolleginnen aus diesen Ländern, der zu mir kommt, hört mir bei diesem Thema zwar höflich zu, hat aber, gemessen an den Sorgen im eigenen Land, nur sehr bedingt Verständnis für unsere Sorgen. Ich denke hierbei vor allem an die unmittelbaren Nachbarn.
    Wir haben ein geschichtlich besonders belastetes Verhältnis zu Polen. Wir haben gemeinsam versucht, das, wie bei der CSFR, durch Nachbarschaftsverträge mit Blick auf eine gute Zukunft in Ordnung zu bringen.
    Das Verhältnis zu Ungarn war immer frei von historischen Belastungen. Wir wollen nie vergessen,
    wer es war, der im Sommer 1989 den Eisernen Vorhang öffnete und unsere Landsleute freiließ.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

    Der Besuch der polnischen Ministerpräsidentin hat gezeigt, daß wir in den vergangenen zwei Jahren Gott sei Dank beachtliche Fortschritte im Verhältnis zu Polen erreicht haben, daß wir die intensiven Beziehungen fortsetzen wollen, daß wir vor allem — was ganz wichtig ist, auch für die neuen Länder — grenzüberschreitend zwischen Polen und den anderen Nachbarländern der Bundesrepublik eine sehr intensive regionale Zusammenarbeit aufbauen wollen.
    Ich will in diesem Zusammenhang hinzufügen: Im Verhältnis zu Polen ist dabei immer auch die Lage der deutschen Minderheit ein wichtiger Gradmesser. Dabei müssen wir aber darauf achten, daß die erreichten Fortschritte durch altes Mißtrauen und neue Mißverständnisse im Verhältnis der deutschen Minderheit zu den Polen nicht wieder in Frage gestellt werden.
    Nachdem die Entwicklung in der CSFR jetzt so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist — das ist eine Entscheidung, die Slowaken und Tschechen zu treffen hatten —, wollen wir alles tun, meine Damen und Herren, daß auch in der Nachfolge die neu aufgebauten guten Beziehungen fortbestehen. Wir gehen davon aus, daß der deutsch-tschechoslowakische Vertrag auch im Verhältnis zu den beiden Nachfolgerepubliken der CSFR gelten wird.
    Meine Damen und Herren, ein Kernelement deutscher Politik ist natürlich die Entwicklung der Beziehungen zu Rußland. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen habe eine grundlegende Bedeutung für Europa. Dieser Bedeutung entspricht es, daß wir Rußland und den anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion Hilfe und Unterstützung in großem Umfang gewährt haben. Angesichts der jetzt stattfindenden Reise des Finanzministers und auch meiner eigenen Reise muß ich aber ebenso klar sagen: Die Bundesrepublik Deutschland ist auch in dieser Frage an der Grenze ihres Leistungsvermögens angelangt.
    Wir wollen Präsident Jelzin und seinen Reformkurs stützen, und wir wollen vor allem auch bei dieser „Rückkehr nach Europa" helfen. Für unser Verhältnis ist dabei die Frage nach der Zukunft der Rußlanddeutschen wichtig. Das ist ein Punkt, an dem wir endlich weiterkommen müssen.
    Zu den bedrückenden Kapiteln gehört die Lage im ehemaligen Jugoslawien. Wir sind Zeugen, wie dort Menschen vor den Augen der Weltöffentlichkeit ermordet oder vertrieben werden. Wir wissen, daß hier vor allem die serbische Seite die Verantwortung trägt. Wir sehen bisher keine Zeichen, keine wirklichen Zeichen guten Willens. Die Sanktionen und die Isolierung von Serbien/Montenegro müssen deshalb in Kraft bleiben. Das wird mein Hauptgesprächsthema bei dem morgigen Besuch des Ministerpräsidenten Panie sein.
    Meine Damen und Herren, deutsche und europäische Haltung müssen eindeutig sein. Das Verhältnis



    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Europas zu Serbien/Montenegro mißt sich vor allem an der Bereitschaft Serbien/Montenegros zu territorialen Rückzug, zur Wiedergutmachung und zu einer friedlichen Lösung des blutigen Konflikts. Solange eine politische Lösung aussteht — auch das gehört zu dem, was wir zu leisten haben —, ist es ein oberstes humanitäres Gebot, den Menschen in Not zu helfen. Die EG und ihre Mitglieder haben wichtige Verantwortung übernommen, und wir Deutschen — das sage ich, wenn ich an den Beitrag denke, den wir aus guten Gründen, zu denen ich stehe, geleistet haben — brauchen uns nicht zu verstecken.
    Meine Damen und Herren, für uns Deutsche ist bei alledem, was ich hier sage, die Frage der europäischen Integration die Schicksalsfrage. Der Kollege Schäuble sprach soeben von der geograpisch-geopolitischen Lage unseres Landes. Wir sind mehr als alle anderen von unseren Nachbarn abhängig. Alles, was in Deutschland geschieht — das spürt man ja bei dem negativen Bild, das gegenwärtig ins Ausland hinein transportiert wird —, reflektiert sich dort in einer besonderen Weise. Unsere Geschichte steht jeden Tag neu vor uns.
    Deswegen ist es nicht gleichgültig, welchen Weg Europa geht, ob wir als Deutsche uns unwiderruflich auf den politisch-wirtschaftlichen Zusammenschluß festlegen oder ob wir in eine nationale bis nationalistische Rivalitätssituation zurückfallen. Die alten Gespenster in Europa sind überall noch präsent. Niemand soll glauben, daß jetzt das Paradies auf Erden angebrochen ist.
    Die Kernfrage der jetzigen Diskussion — neben allen wichtigen Details in der Europapolitik und in bezug auf den Vertrag von Maastricht — ist, ob wir auf Dauer Freiheit, Frieden und Wohlfahrt für die Völker Europas garantieren können.
    Wenn wir jetzt nicht die Europäische Union schaffen, versagen wir vor der Zukunft, und wir verspielen die Zukunft. Deswegen stehen die Bundesregierung und — dafür bin ich dankbar — die große Mehrheit in diesem Haus zum Vertrag von Maastricht.
    Ich sage noch einmal: Dies ist eine Politik, die alle meine Amtsvorgänger in dieser Richtung vorangebracht und getragen haben. Sie entspricht dem Auftrag unseres Grundgesetzes, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen.
    Das ist die Vollendung einer Vision — es wird ja oft gefragt: Habt ihr eigentlich noch Visionen? —, die viele von uns, die hier im Saal sitzen, als ganz junge Menschen gleich nach dem Kriege hatten und die die großen Gründergestalten wie Robert Schuman oder Paul Henri Spaak, Alcide De Gasperi oder Konrad Adenauer uns damals vorstellten. Was man als Visionen betrachtete, war in Wahrheit der wirkliche Realismus. Es waren Männer und Frauen, die weit über den Tag hinaus schauten und die etwas auf den Weg brachten, das wir heute vollenden müssen.
    Auch mit Blick auf diese Erfahrung der letzten 40 Jahre bei der Einigung Europas, beim Werden des neuen Europa haben wir, denke ich, allen Grund zu
    einem realistischen Optimismus. In diesem Sinne bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zu dieser Politik.

    (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU, anhaltender Beifall bei der F.D.P.)