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    Plenarprotokoll 12/123 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 123. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Inhalt: Tagesordnungspunkt III: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993 (Haushaltsgesetz 1993) (Drucksachen 12/3000, 12/3541) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes (Drucksachen 12/3504, 12/3530) Hans-Ulrich Klose SPD 10451B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10458D Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 10465 A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 10469A Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10471 D Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler BK 10474A Ingrid Matthäus-Maier SPD 10487 C Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 10491 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10491D Dr. Wolfgang Bötsch CDU/CSU 10492D Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 10496C, 10503 D Rolf Schwanitz SPD 10500D, 10503 D Dietrich Austermann CDU/CSU 10504 A Rudolf Dreßler SPD 10506D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 10510D Hinrich Kuessner SPD 10511B Karl Diller SPD 10512B Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10512D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10515 A Ortwin Lowack fraktionslos 10517 C Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10519B Namentliche Abstimmung 10520 B Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes (Drucksachen 12/3505, 12/3530) Ernst Waltemathe SPD 10522 D Dr. Klaus Rose CDU/CSU 10525 B Freimut Duve SPD 10526 C Dr. Sigrid Hoth F.D.P. 10528 A Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste 10529B Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10530C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 10531 D Ortwin Lowack fraktionslos 10534 A Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 10535 C Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/ CSU 10538 C Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung (Drucksachen 12/3514, 12/3530) in Verbindung mit II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksache 12/3527) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 17: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Stand der Verhandlungen mit den NATO-Entsendestreitkräften über die Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes „Nordhorn-Range" (Drucksachen 12/537, 12/3691) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 18: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Dr. Sigrid Semper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Privatisierung der Heimbetriebsgesellschaft mbH der Bundeswehr (Drucksachen 12/1292, 12/3693) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 19: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der an den Haushaltsausschuß zurückverwiesenen Entschließung auf Nummer II der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksachen 12/100, 12/494, 12/531, 12/3758 [neu]) Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10542A Helmut Esters SPD 10545 C Hans-Gerd Strube CDU/CSU 10546A Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD 10546B, 10548A Karl-Ludwig Thiele F.D.P. 10548 B Jan Oostergetelo SPD 10548D Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10550B, 10563 C Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10551A Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10552 C Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 10554 B Jürgen Koppelin F.D.P. 10556 B Walter Kolbow SPD 10556 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 10557 C Dieter Heistermann SPD 10558 A Jürgen Koppelin F.D.P. 10559A Karl Stockhausen CDU/CSU 10561 B Rudi Walther (Zierenberg) SPD 10562 A Volker Rühe, Bundesminister BMVg 10562D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 10567A Walter Kolbow SPD 10567 D Dr. Werner Hoyer F.D.P. 10568A Namentliche Abstimmung 10568 C Ergebnis 10573 C Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 12/3521, 12/3530) Einzelplan 06 Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern (Drucksachen 12/3506, 12/3530) in Verbindung mit Einzelplan 33 Versorgung (Drucksache 12/3526) in Verbindung mit Einzelplan 36 Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/3528, 12/3530) Rudolf Purps SPD 10569 C Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD 10570 D Karl Deres CDU/CSU 10575 D Ina Albowitz F.D.P. 10578 A Erwin Marschewski CDU/CSU 10580 C Ina Albowitz F.D.P. 10582B, 10589B Günter Graf SPD 10583 B Rudolf Seiters, Bundesminister BMI 10586B Nächste Sitzung 10590 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 10591* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt II 20 — Einzelplan 23, Ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 III schäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit —Helmut Esters SPD 10591* B Dr. Christian Neuling CDU/CSU 10593* A Werner Zywietz F.D.P. 10595* C Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 10596* C Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10597 B Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 10598* A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10599* D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Tagesordnungspunkten III 21 — Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versorgung —, III 23 — Einzelplan 36, Zivile Verteidigung — Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10600* C Angela Stachowa PDS/Linke Liste 10602* B Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 10603* B Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Helmut Schäfer (Mainz) F.D.P. zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 10605* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10451 123. Sitzung Bonn, den 25. November 1992 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 25. 11. 92 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25. 11. 92 Burchardt, Ulla SPD 25. 11. 92 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 25. 11. 92 Peter Harry Clemens, Joachim CDU/CSU 25. 11. 92 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 25. 11. 92 ** Ganseforth, Monika SPD 25. 11. 92 ** Gattermann, Hans H. F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 25. 11. 92 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 25. 11. 92 Gries, Ekkehard F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Holtz, Uwe SPD 25. 11. 92 Homburger, Birgit F.D.P. 25. 11. 92 Kolbe, Regina SPD 25. 11. 92 Kubatschka, Horst SPD 25. 11. 92 ** Marx, Dorle SPD 25. 11. 92 Mischnick, Wolfgang F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 25. 11. 92 ** Müller (Pleisweiler), SPD 25. 11. 92 Albrecht Niggemeier, Horst SPD 25. 11. 92 Odendahl, Doris SPD 25. 11. 92 Oesinghaus, Günther SPD 25. 11. 92 Rempe, Walter SPD 25. 11. 92 Reuter, Bernd SPD 25. 11. 92 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25. 11. 92 Ingrid Dr. Scheer, Hermann SPD 25. 11. 92 * Scheffler, Siegfried Willy SPD 25. 11. 92 Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25. 11. 92 Dr. Seifert, Ilja PDS/LL 25. 11. 92 Dr. Sonntag-Wolgast, SPD 25. 11. 92 Cornelie Thierse, Wolfgang SPD 25. 11. 92 Welt, Jochen SPD 25. 11. 92 Dr. Zöpel, Christoph SPD 25. 11. 92 *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt II 20 - Einzelplan 23, Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit -*) Helmut Esters (SPD): In der überwiegenden Mehrheit der Entwicklungsländer sind die Lebensum*) Vgl. Seite 10569 Anlagen zum Stenographischen Bericht stände gegenwärtig schlechter als vor einem Jahrzehnt: statt Entwicklung nur Rückschritte. Und auch dort, wo reales wirtschaftliches Wachstum war - wie bei uns -, wurde krasse soziale Ungerechtigkeit noch längst nicht aus der Welt geschafft. Auch der Einzelplan 23, also der des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, liegt mit 1,7 % Steigerung im Vergleich zum Vorjahr unterhalb der Marke des Gesamthaushalts. Verglichen mit der Entwicklungshilfe von vor 10 Jahren, die damals 0,49 des Bruttosozialprodukts betrug und im Entwurf 1993 auf magere 0,34 % des BSP kommt, unterstreichen die nackten Zahlen diese Rückwärtsentwicklung. Dabei hatte sich der Deutsche Bundestag bereits noch zu sozial-liberalen Regierungszeiten - einstimmig - hinter das Ziel der Vereinten Nationen gestellt, jeweils 0,7 % des Bruttosozialproduktes für Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen. Zwar ist Geld nicht alles, aber wer wollte angesichts der notwendigen Transferleistungen in unserem eigenen Land bestreiten, daß neben rein monetärer auch technische Hilfe für strukturschwache Regionen benötigt wird. Finanziert werden muß beides. Der Bundeskanzler hatte sich noch im Juni auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio erneut auf das Ziel 0,7 % des Bruttosozialprodukts bis zum Jahre 2000 verpflichtet. Durch den eingebrachten Haushalt '93 wird das Ziel 0,7 % aus den Augen verloren, wird das Auseinanderklaffen zwischen Worten und Taten deutlich. Auch in der Entwicklungspolitik wird die Schwäche dieser Regierung deutlich, die in nahezu allen Bereichen konzeptionslos agiert, sich kurzatmig über die Runden zu retten versucht. Gerade im Bereich der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sind jedoch langfristig angelegte Konzepte bitter nötig, um eine Aufwärtsentwicklung der Länder der Zweiten und Dritten Welt für die Eine Welt zu sichern. Armut, Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und wirtschaftliche Abhängigkeit in den Entwicklungsländern erfordern mehr, als durch diesen Haushalt von der Bundesrepublik getan wird. Folglich fordern wir Sozialdemokraten - auch in einer zugegebenermaßen gesamtpolitisch nicht einfachen Lage - eine realistische Erhöhung des Einzelplanes 23, wissend, daß dieses Geld gleichsam mehr als eine Investition für die Zukunft ist. Zwischen den armen und reichen Weltregionen klaffen Welten. Die Kluft bei den Durchschnittseinkommen nimmt zu statt ab. Die brutalen Trennlinien auf der Ost-West-Achse haben sich aufgelöst, auf der Nord-Süd-Schiene soweit verschoben, daß alte Klischees von dem Norden oder dem Süden keinen Sinn mehr ergeben. Mittlerweile bestehen Arm-ReichGefälle in allen Weltregionen, quer zu allen Himmelsrichtungen. Die globalen Umweltgefahren und die Bevölkerungsexplosion, das soziale Elend und die hoffnungslose Wirtschaftsmisere in vielen Teilen der Welt sollten den Ignoranten die Folgen fehlender Entwick- 10592* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit — auch im eigenen Land — bewußt machen: Der Strom von Asylbewerbern und Elendsflüchtlingen überfordert vielerorts die Menschen, löst Übergriffe von Extremisten aus, die selbst vor Mord, wie wir zu Beginn der Woche schmerzvoll erfahren mußten, nicht mehr zurückschrecken; eine Klimakatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes droht. Deshalb ist eine Steigerung des Anteils der Entwicklungshilfe am Sozialprodukt überfällig, muß eine entwicklungspolitische Offensive aus Gründen der Solidarität und Humanität eingeleitet werden. Die Bundesregierung muß daher die Entwicklung regionaler Zusammenschlüsse fördern und regionale Wirtschaftspolitik unterstützen. Das Nebeneinander wirtschaftlich nicht lebensfähiger Entwicklungsländer angesichts der Zusammenschlüsse wirtschaftlich starker Industrie- und Schwellenländer ist eine Entwicklung in die falsche Richtung. Hierdurch kommen die Entwicklungsländer in immer größere Abhängigkeit, und die Chance, sich auf eigene Füße zu stellen, wird geringer. Am Prinzip bilateraler Hilfe ist festzuhalten, wenn dies effizienter ist als multilaterale Förderung. Ein Konzept für eine regionale Entwicklungszusammenarbeit in Teilen Afrikas, Mittelamerikas, im Nahen Osten und in den südlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion ist überfällig. Die diesbezüglichen Bestrebungen im südlichen Afrika (SADDC) sollte die Bundesregierung aufgreifen. Die bisherige Zurückhaltung bei der Förderung regionaler, wirtschaftlicher Zusammenschlüsse im südlichen Afrika muß sich in eine entwicklungspolitische Offensive für Afrika umwandeln. Die steigende Not in Afrika erfordert eine Erhöhung der Finanzmittel, um dem Kontinent überhaupt wieder eine Chance für Entwicklung zu eröffnen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen mit friedenspolitischen Konzepten zu Abrüstung, Waffenexportkontrolle und Aufbau regionaler Sicherheitssysteme verbunden werden. Zwar lassen sich europäische Erfahrungen nicht schematisch auf andere Regionen der Welt übertragen, aber es ist kein Zweifel, daß sowohl der Helsinki-Prozeß wie die sich erweiternde Europäische Gemeinschaft viel internationales Interesse gefunden haben oder sogar als beispielgebend empfunden werden. Eine entwicklungspolitische Offensive muß mithelfen, einen grundlegenden Strukturwandel in den Entwicklungsländern zu bewirken. Dabei sollte immer wieder betont werden, daß die Hilfe für Osteuropa nicht auf Kosten der Zusammenarbeit mit den klassischen Entwicklungsländern gehen darf: Kein „entweder Zweite oder Dritte Welt", sondern ein entschiedenes Handeln für die Eine Welt. Eine auf langfristige wirtschaftliche Gesundung und Entwicklung gerichtete Strukturanpassung kann nur Erfolg haben, wenn folgende Bedingungen hergestellt werden: Erstens muß die Grundbildung und berufliche Qualifizierung breiter Bevölkerungsschichten angestrebt werden. Die Fähigkeit, sich selbst zu helfen, muß verbessert werden. Folglich müssen die Ausgaben für Bildung aufgestockt werden. Zweitens müssen die Rahmenbedingungen für eine effektivere Wirtschaft und eine rechtsstaatliche, funktionierende Verwaltung sowie eine unabhängige Justiz geschaffen werden. Drittens muß das Bevölkerungswachstum gedämpft werden; Strukturen müssen angepaßt werden, soll heißen, Programme für Armutsbekämpfung und Gesundheit, müssen aufgelegt werden. Viertens muß die Förderung von Eigenmaßnahmen beim Umweltschutz erreicht werden. Hierzu könnte ein eigener Titel im Haushalt eingerichtet werden, woraus die Länder gefördert werden sollten, die auf Eingriffe in die Natur weitgehend verzichten. Doch wie kann man hier glaubwürdig einfordern, wozu man selbst nicht bereit ist? Noch in Rio hat Bundeskanzler Kohl sein nationales CO2-Minderungsprogramm verkündet, 25-30 % weniger an Emissionen bis zum Jahre 2005 zu erreichen. Damit sollte auch das Stabilisierungsziel der EG bis zum Jahre 2000 (CO2-Emissionen auf Stand von 1990) übertroffen werden. Nach dem vorliegenden Verkehrswegeplan ist nach vorsichtigen Schätzungen eher ein Ansteigen der CO2-Emissionen um 50 % zu befürchten. Auch hier wird der Widerspruch zwischen Sonntagsreden und Alltag deutlich. Dabei wissen wir: Um den globalen Umweltkollaps zu verhindern, deren Hauptverursacher wir reichen Industriegesellschaften im Norden sind, ist schnelles Handeln erforderlich. Wir wissen, daß selbst bei sofortigem Umsteuern schlimmste Umweltzerstörungen schon heute nicht mehr zu verhindern sind. Ebenso zwingen Bevölkerungsexplosion und soziales Elend zum Handeln. Wahre Völkerwanderungen, bedingt durch die Wirtschaftsmiseren in vielen Teilen der Welt im Süden wie im Osten sollten uns bewußt machen, daß es längst keine Fragen von Herausforderungen im überkommenen Sinne mehr sind, sondern daß es sich um Fragen des Überlebens der Einen Welt handelt. Eine entscheidende Aufgabe wird deshalb darin liegen, die wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und politischen Verhältnisse so zu verändern, daß die Fluchtursachen beseitigt werden. Dazu bedarf es aber nicht nur der Maßnahmen in den Entwicklungsländern, den Ländern Osteuropas und Änderungen im Nord-Süd-Verhältnis, sondern ganz konkreter Schritte der Bundesregierung hinsichtlich gemeinsam aufeinander abgestimmter Initiativen der Industrienationen, sowie der nationalen und internationalen Hilfsorganisationen. Beim Technologietransfer sind adäquate Eigenanstrengungen zu fördern und gewachsene Handelsbeziehungen, besonders in Osteuropa, zu nutzen. Die Maßnahmen der Außen-, Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Entwicklungspolitik müssen stärker aufeinander abgestimmt werden. Die Bundesregierung muß sich national wie international zu einer Politik verpflichten, die staatliches und privatwirtschaftliches Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10593* Handeln im Sinne eines fairen Nord-Süd-, WestOst-Ausgleichs ausrichtet. In diesem Sinne Willy Brandts, der früh darauf hingewiesen und eine Friedensdividende für die Dritte Welt immer wieder eingeklagt hat, sollten Opposition und Regierung gemeinschaftlich handeln. Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit. Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Lassen Sie mich zu Anfang zu einem aktuellen Problem Stellung nehmen. Den Verlust, den die Entwicklungsländer aus Protektionismus und Handelsbeschränkungen erleiden, ist um ein Vielfaches höher als die weltweit geleistete Entwicklungshilfe. Alle Forderungen an die Entwicklungsländer, marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, bleiben unglaubwürdig, wenn die Industrieländer sich nicht selbst an diese Prinzipien halten. Auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse gilt die Erkenntnis, daß freie Handelsgrenzen der beste Entwicklungshelfer sind. Die aktuellen GATT-Verhandlungen, die aktive Entwicklungspolitik darstellen, müssen zügig und erfolgreich beendet werden. Seit zwei Jahren befindet sich die Welt in einer historischen Umbruchsituation. Der Wegfall des OstWest Konfliktes gibt uns die einzigartige Chance, die globalen Probleme erfolgreich anzugehen: — Stärkung und Förderung der jeweils inländischen wirtschaftlichen Wachstumskräfte, um die Armut vor Ort zu bekämpfen. Hierin liegt sicherlich die wirkungsvollste Maßnahme, um die Wanderungsbewegung zu stoppen, deren Ursache in den wenigsten Fällen die politische Verfolgung, sondern in der Regel die wirtschaftliche Not ist. — Stärkung und Förderung von politischen Reformkräften, damit die Freiheit des einzelnen sowie die Eigeninitiative und Eigenverantwortung des einzelnen gestärkt werden als Ausgangspunkt für die Entwicklung von freiheitlichen Gesellschaftssystemen, sowie — Stärkung und Förderung all der Kräfte, die sich für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen. Jede „Mark", die erfolgreich in Entwicklungspolitik investiert wird, leistet hier einen wichtigen Beitrag bei der Lösung dieser globalen Probleme und ist somit eine lebensnotwendige Investition in unsere Zukunft. Diese generelle Vorbemerkung vorausgeschickt, möchte ich zunächst auf wichtige Eckpunkte eingehen, die die Diskussioin über den Einzelplan des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit bei der Beratung bestimmt haben: 1. Mit einer Steigerungsrate von 2,2 % (im Vergleich zum Soll-Ansatz 1992) liegt der Etat des BMZ im allemeinen Trend des Bundeshaushaltes '93 insgesamt. Seitens der Bundesregierung wie auch des Parlaments wird seit vielen Jahren die Erhöhung der ODA-Quote auf ca. 0,7 % im internationalen Vergleich gefordert. An diesem Ziel halten wir in der Koalition fest. Der eben noch eingegangene Antrag der SPD-Fraktion, die Mittel für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Haushaltsjahr 1993 noch um 2 Milliarden DM aufzustocken, ist angesichts der enormen Belastungen des Bundeshaushalts im Zusammenhang mit der Stärkung der Wachstumskräfte in den NBL kurzfristig nicht realisierbar. Deshalb ist auch die Forderung der SPD-Fraktion nach einer Steigerung der ODA-Quote auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts in dieser Form nicht haltbar. Wir lehnen diesen Antrag deshalb ab. Ich selbst hatte und habe immer meine Skepsis gegenüber einer derartigen Meßgröße geäußert, da sie im Widerspruch steht zu einer auf strikte Konsolidierung der öffentlichen Finanzen angelegten Politik. Für die kommenden Jahre sollten wir jedoch als Ziel anstreben, daß wir uns an der durchschnittlichen ODA-Quote der Industrieländer mit 0,34 % orientieren, mit der Konsequenz, daß in der mittelfristigen Finanzplanung die Steigerung des EP 23 unter Einschluß der Hilfen für die MOE- und GUS-Staaten sich am Wachstum des nominalen BSP orientieren, d. h. in den Jahren bis 1996 um durchschnittlich ca. 4-5 % wachsen sollte. 2. Einen weiteren Schwerpunkt haben wir in diesem Jahr mit der Steigerung der Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa gesetzt, der nunmehr mit 82 Millionen in diesem Einzelplan liegen wird. Zur Erinnerung: gemeinsam über die Fraktionen hinweg haben wir erstmals im Jahr 1990 hierfür einen Ansatz in Höhe von 10 Millionen bei den Berichterstattergesprächen eingestellt. Im Vergleich zu 1993 entspräche dies nunmehr einer Steigerung von 800 %, womit die enorm gewachsene Bedeutung dieses Bereiches in der Entwicklungspolitik deutlich zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig begrüßen wir es, daß nun endlich eine Koordinierungsstelle beim Bundeskanzleramt eingerichtet worden ist, um die Hilfe insgesamt für diesen Bereich zu koordinieren. Wir begrüßen ausdrücklich, daß die hervorragend bewährten Instrumente des BMZ im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nun auch für diese Länder genutzt werden. 3. Das Stammkapital der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) wird um 200 Millionen auf dann 1,2 Milliarden erhöht. Hierdruch wird die DEG in die Lage versetzt, auch zusätzliche Kapitalmarktkmittel aufzunehmen und ihr Umsatzvolumen entsprechend zu erhöhen. Der DEG wird zukünftig ein wichtiger Beitrag zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa sowie in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zufallen. Hierbei muß ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer unternehmerischen Tätigkeit in der Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen diesen Staaten und insbesondere den Neuen Bundesländern liegen. 4. Wir haben erneut die Deckelung bei der internationalen Ernährungshilfe in der Bereinigungsrunde im Haushaltsausschuß aufgegriffen und der Bundesregierung entsprechende Verhaltensregelungen — im Rahmen einer Protokollnotiz — bei der Bereinigungsrunde im Haushaltsausschuß ins Stammbuch geschrieben. Der EP 23 ist in seiner finanziellen Ausgestaltung so eng, daß weitere Spielräume für überplanmäßige Ausgaben nicht gegeben sind. Über- 10594* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 planmäßige Ausgaben müssen gegebenenfalls dann aus dem Bundesetat insgesamt finanziert werden. 5. Die langwierige Diskussion über die Privatisierung von DEG und GTZ sind ebenfalls im Rahmen der Berichterstattergespräche sowie in ausführlicher Diskussion im Fachausschuß abschließend behandelt worden. Eine Privatisierung kommt für beide nicht in Betracht, weil eine wettbewerbsorientierte marktwirtschaftliche Ersatzlösung nicht erkennbar ist aufgrund der besonderen Aufgaben, die beide Organisationen für die Bundesrepublik Deutschland zu erfüllen haben. Bei der GTZ bleibt allerdings anzumerken, daß nunmehr zügig die Optimierung des Vorfeldes umgesetzt wird, daß insbesondere auch die Kooperationsmöglichkeiten mit den privaten Consulting-Unternehmen voll genutzt und gleichzeitig die SynergieEffekte zwischen GTZ (zuständig für die TZ) und der KfW (verantwortlich für die FZ) genutzt werden. Die Eigenständigkeit der GTZ darf allerdings nicht berührt werden. Ein weiterer Schwerpunkt während der Beratungen lag in der Diskussion über die zukünftige Bedeutung der multilateralen Entwicklungspolitik und hierbei insbesondere ihre Stellung zu der bilateralen, zur nationalen Entwicklungshilfe. Sorgenvoll betrachten wir, daß durch eine vom Parlament aus nicht zu kontrollierende Entwicklung im multilateralen Sektor die nationale Entwicklungszusammenarbeit zunehmend in einen immer enger werdenden finanziellen Rahmen gepresst wird und oftmals als „Reservekasse" oder „Notgroschen" für internationale Zusagen herhalten muß. Folgendes ist festzuhalten: 1. Die finanziellen Zuwendungen an bestimmte internationale Organisationen bzw. Fonds haben in den letzten Jahren eine überproportionale Steigerung erfahren. Gravierendstes Beispiel hierbei ist der Europäische Entwicklungsfonds, der in den letzten 10 Jahren (83/93) eine Steigerung um 110 %, von 440 Millionen auf jetzt 940 Mio erfahren hat. 2. Der multilaterale Bereich ist generell einer direkten parlamentarischen Kontrolle entzogen. Einer derartigen Entwicklung kann ein selbstbewußtes Parlament kein Interesse haben. 3. Die Effizienz von großen Organisationen — national wie international — ist in der Regel nicht besonders ausgeprägt. Gerade aber in Zeiten knappster Kassen kommt es darauf an, mit jeder eingesetzten Mark auch ein Höchstmaß an Wirkung zu erzielen. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, folgendes sicherzustellen: 1. Der Anteil der multilateralen Entwicklungshilfe im EP 23 muß bei ca. 30 % verbleiben. 2. Falls aufgrund von Zusagen Aufstockungen für internationale Organisationen erforderlich sind, die über der allgemeinen Steigerungsrate des Einzelplanes liegen, muß der gesamte Einzelplan so angehoben werden, daß die bilaterale Hilfe in gleichem Umfang steigt. Gegebenenfalls müssen auf internationaler Ebene auch einmal die Schlüssel der Beitragsverpflichtungen entsprechend neu festgelegt bzw. zur Diskussion gestellt werden. 3. In jedem Fall ist sicherzustellen, daß die deutschen Lieferanteile den deutschen Kapitalanteilen in den einzelnen Organisationen bzw. Banken entsprechen. Ein besonders negatives Beispiel ist hierbei erneut der EEF: Deutschland ist mit 26 % der größte Geber, bei den Lieferanteilen aber nur mit 10,7 % vertreten. Im Rahmen der Haushaltsberatungen haben wir als weiteren Schwerpunkt die Abstimmung von entwicklungspolitischen Zielen auf internationaler Ebene angesprochen. Wir betrachten auf internationaler Ebene eine Entwicklung, die nur scheinbar mit der Entwicklungspolitik nicht zusammenhängt. Zunehmend bilden sich in wichtigen Regionen unserer Welt größere Wirtschaftsräume und Handelsblöcke (Trend zur Regionalisierung des Welthandels), so z. B. in Afrika: SADCC, Southern African Development Coordination Conference, in Südostasien: AFTA, Regionale Freihandelszone der ASEAN-Staaten (ca. 500 Millionen), in Südamerika (insgesamt 297 Millionen Menschen): Andenpakt — Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela — und Mercuosur — Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay —, in Nordamerika (insgesamt 427 Miollionen Menschen): NAFTA ab 1994 — USA / Kanada / Mexiko. Nicht zu vergessen ist hierbei das global gesehen größte nationale Absatzgebiet nämlich China mit einer Bevölkerung von ca. 1,2 Milliarden Menschen. Ehemalige Entwicklungsländer wie z. B. Südkorea, Hongkong, Taiwan und Singapur wachsen zu vollwertigen Industrieländern heran und sind inzwischen harte Wettbewerber der „Exportnation Deutschland". Derzeitig „noch Schwellenländer" wie Thailand, Malaysia, Indonesien sowie möglicherweise in naher Zukunft auch Argentinien und Chile, werden sich bald zu sogenannten „kleinen Tigern" gemausert haben. China — wie gleichermaßen Vietnam — leiten bereits unbeirrt und sehr schnell pragmatische Wege zu einer marktwirtschaftlichen Entwicklung ein. Als „wirtschafts-politische Sphinx" in der asiatischen Region handelt Japan offensichtlich nach der Devise: „Jede Entwicklungsmark muß insbesondere die Exportbemühungen der eigenen Industrie fördern." Angesichts dieser Entwicklung sehe ich folgende Orientierungspunkte, die von der Bundesregierung zukünftig stärker zu beachten sind: 1. Die im vergangenen Jahr festgelegten verschärften Kriterien für die Vergabe von bundesdeutschen Mitteln für die Entwicklungshilfe (Einhaltung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtssicherheit, marktfreundliche Wirtschaftsordnung sowie Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns) können für einen sichtbar größeren Wirkungsgrad in der Entwicklungspolitik sorgen. Eine ständige Überprüfung der Länderquoten ist gerade auch im Hinblick auf eine politische Akzeptanz bei uns im Lande sowie angesichts der engen finanziellen Grenzen der öffentlichen Haushalte mehr als erforderlich. Zu begrüßen ist, daß der Bundesminister im Rahmen der Beratung erlärt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10595* hat, daß diese Vergabepraxis ihren Niederschlag bereits in der Zusammenarbeit mit einzelnen Ländern gefunden hat. So kam es zu reduzierten Ansätzen wegen mangelnder Eigenanstrengungen und mangelnder Bereitschaft zu notwendigen Strukturanpassungen z. B. in Brasilien, in der Dominikanischen Republik und in Pakistan. Umgekehrt kam es zu einer Anhebung der Quoten wegen positiver Entwicklung z. B. bei den Ländern Bolivien, Nicaragua und Sambia. Die Einhaltung bzw. Umsetzung dieser Kriterien muß konsequent fortgesetzt werden. Entwicklungshilfe kann und wird nur dann effektiv sein, wenn in den Nehmerländern selbst entsprechende Rahmenbedingungen gezielt angestrebt und auch umgesetzt werden. 2. Auf der internationalen Ebene müssen die Geberländer ihre Bemühungen eindeutig verstärken, damit die soeben erwähnten Vergabekriterien als internationaler Maßstab für Entwicklungshilfe allgemein akzeptiert und insbesondere auch von allen praktiziert werden. Folgende Arbeitsteilung wird auf Dauer nicht mehr funktionieren: Wir in Deutschland halten an den Vergabekriterien fest, da sie letztendlich die Umsetzung von Entwicklungshilfe effektiver gestalten. Ggf. reduzieren wir dann auch unsere Entwicklungshilfe auf Kernbereiche, wie z. B. die Aus- und Fortbildung, oder — um in einem Bild zu bleiben — auf die sogenannte „Software" der Entwicklungshilfe. Andere Länder wiederum, wie z. B. Japan, gehen großzügiger mit den Vergabekriterien um, da sie mehr daran interessiert sind, die eigene Industrie bei der Erschließung von Zukunftsmärkten zu unterstützen, z. B. durch die Finanzierung von Großprojekten im Verkehrsbereich; am besten dann noch finanziert über eine internationale Entwicklungsbank; um wieder im Bild zu bleiben: sie konzentrieren sich auf die sogenannte „Hardware". Eine derartige internationale Arbeitsteilung — oder etwas humorvoll ausgedrückt: „burden sharing à la Entwicklungshilfe" hat dann folgende Konsequenz: Wir bilden die Mechaniker aus, damit diese anschließend auch die Toyotas entsprechend warten können, die dann auf den von Südkorea gebauten Straßen fahren können. Eine derartige internationale Aufgabenteilung werden wir nicht weiter tolerieren. Wir müssen bei den internationalen Partnern nachhaltig um Verständnis werben, daß die globalen Probleme auch ein globales abgestimmtes Vorgehen und keine Verfolgung von Partikulärinteressen erfordern. 3. Diese Diskussion zeigt allerdings auch, daß wir in Zukunft zu einer engeren Verzahnung von Entwicklungs-, Wirtschafts- und Außenpolitik kommen müssen. Die Eigenständigkeit eines eigenen Ministeriums für die wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bestens bewährt. Dies muß auch von den anderen Ressorts so akzeptiert werden. Unterschwellige bis offene interministerielle Eifersüchteleien, die so manches Mal zutage treten, müssen angesichts der großen Probleme zukünftig vermieden werden. Es geht letztendlich um unsere Gesamtverantwortung, der man am besten durch gemeinsames Handeln national wie international gerecht wird. Werner Zywietz (F.D.P.): Die diesjährige Haushaltsdebatte findet in einer Phase konjunktureller Abschwächung statt, die nicht nur Bereitschaft zur Ausgabenbegrenzung in allen Politikbereichen verlangt, sondern in der die Bundesrepublik Deutschland insgesamt vor außergewöhnlichen Herausforderungen steht. Die gewaltigen Erblasten von über 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft müssen beseitigt, der Infrastrukturausbau und die wirtschaftliche Erneuerung in den östlichen Bundesländern im Interesse einer Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zügig fortgesetzt werden. Gleichzeitig geht es um die Bewältigung der ausufernden Asyl- und Flüchtlingsproblematik und die Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung bei der Lösung regionaler Konflikte, zur Unterstützung des Reformprozesses in Osteuropa und der GUS sowie zur weltweiten Überwindung von Hunger und Armut. Dies erfordert Augenmaß und eine Politik, die klare Prioritäten setzt. Erste Priorität muß in dieser Situation der Bewältigung unserer Aufgaben auf nationaler Ebene zukommen. Damit schaffen wir gleichzeitig die nötigen Voraussetzungen, um in Zukunft noch größere Leistungen im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen erbringen zu können. Der Etat des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 ist ein Beleg dafür, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen zu ihrer Verantwortung stehen, durch eine qualitativ und quantitativ verbesserte Entwicklungszusammenarbeit zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungsprobleme beizutragen. In einer Zeit größter finanzpolitischer Herausforderungen ist das Ausgabevolumen dieses Etats nicht etwa gesunken, wie es von Pessimisten und Kritikern bereits vorausgesagt wurde, sondern weiter erhöht worden. Mit einem Plafond von 8,457 Milliarden DM steigt der Einzelplan 23 gegenüber dem Vorjahr um 2,2 %. Damit werden die finanziellen Voraussetzungen für eine Fortsetzung unserer langfristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit geschaffen. So wichtig eine weitere Erhöhung der Mittel für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit auch ist, ohne strukturelle Reformen und Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer selbst werden alle Bemühungen der Unterstützung von außen vergeblich sein. Die Nord-Süd-Beziehungen sind heute duch das gemeinsame Bekenntnis zu Marktwirtschaft und guter Regierungsführung geprägt. Eigenanstrengungen und marktwirtschaftliche Reformen in einer Reihe von Entwicklungsländern zeigen erste Erfolge. Wirtschaftliche Fortschritte konnten inzwischen vor allem asiatische und lateinamerikanische Länder erzielen. Der dort festzustellende Anstieg der Direktinvestitionen und der starke Rückfluß von Fluchtkapital sind ein deutliches Indiz dafür, daß die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Mobilisierung privaten Kapitals, wirtschaftliche Gesundung und die Überwindung der Verschuldungsprobleme unverzichtbar sind. Funktionierende Märkte und Freiräume für private unternehmerische Initiative sind damit der entscheidende Ansatzpunkt auch für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Entwicklungsländern. Auf diese Weise wird zugleich ein nachhaltiger Beitrag zur Armutsbekämpfung geleistet. Das Konzept der deutschen Entwick- 10596* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit mißt der Schaffung solcher Rahmenbedingungen, der Privatinitiative und der Förderung eines privaten Unternehmertums große Bedeutung bei. Im Haushalt 1993 sehen die entsprechenden Ausgabetitel hierfür deutliche Steigerungen vor. Ein besonderes Signal für den Ausbau der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde mit der im Zuge der parlamentarischen Beratungen vorgenommenen Bereitstellung einer Verpflichtungsermächtigung in Höhe von 200 Millionen DM für die Kapitalerhöhung der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH (DEG) gesetzt. Hierdurch wird nicht nur eine Förderung von Vorhaben im privaten Sektor ausgeweitet, sondern auch die Grundlage für eine zusätzliche Mobilisierung privaten Kapitals geschaffen. Die Übernahme globaler Verantwortung darf sich allerdings nicht nur auf eine qualitativ und quantitativ verbesserte Entwicklungszusammenarbeit beschränken. Durch eine verantwortungsbewußte und glaubwürdige eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen die Industriestaaten gleichzeitig ihrer Mitverantwortung für stabile weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen gerecht werden. Die konsequente Fortsetzung der auf wirtschaftliches Wachstum und finanzpolitische Stabilität gerichteten Politik dieser Regierungskoalition verdient daher auch unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten nachdrückliche Unterstützung. Angesichts der vor uns liegenden enormen Herausforderungen bedeutet dies weitere Einsparungen in allen öffentlichen Haushalten, Subventionsabbau und eine Lohnpolitik, die den Prozeß der Strukturanpassung und der Schaffung von günstigen Bedingungen für Investitionen, Wachstum und Beschäftigung nicht behindert. Das heißt allerdings auch, daß nunmehr die Chancen für einen erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Verhandlungsrunde des GATT entschlossen genutzt werden müssen. Der inzwischen mit den USA im Agrarbereich erzielte Kompromiß ist akzeptabel und vernünftig. Damit ist der Weg freigeworden für eine Gesamteinigung im Rahmen der GATT-Verhandlungen. Der in greifbare Nähe gerückte Erfolg der Uruguay-Runde darf nicht durch Partikularinteressen gefährdet werden. Ein solcher Erfolg wäre ein wichtiger Wachstumsimpuls in einer Phase geschwächter weltwirtschaftlicher Entwicklung und liegt in unserem ureigenen Interesse. Er ist aber auch von besonderer Bedeutung für die Entwicklungsländer. Fortschritte bei der weltweiten Handelsliberalisierung und ein verbesserter Marktzugang bedeuten für die Entwicklungsländer Deviseneinnahmen und ermöglichen ihnen, industrielle Produkte und Dienstleistungen anderer Welthandelspartner zu kaufen. Eine weitere Liberalisierung des Welthandels fördert nicht nur die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft, sondern schafft zugleich auch günstige Voraussetzungen für die Effizienz und Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit. Freier Welthandel und umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit müssen zu den tragenden Säulen globaler Entwicklungspartnerschaft gemacht werden. Aufgabe der Entwicklungspolitik ist es, ihren Beitrag zu einer solchen Strategie der Zukunftssicherung zu leisten. Der Aufbau demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen, die Bekämpfung der Armut und ihrer Ursachen sowie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen müssen daher zentrale Ziele künftiger Entwicklungszusammenarbeit sein. Ich begrüße, daß die Bundesregierung diesen Erfordernissen Rechnung trägt und die wichtigsten Handlungsfelder des beim Rio-Gipfel verabschiedeten Aktionsprogramms „Agenda 21" zu Schwerpunkten deutscher Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat. Zu dieser konsequenten und sachgerechten Politik gibt es keine Alternative. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt dem heute zur Beratung vorliegenden Einzelplan 23 zu. Wir erwarten, daß die dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 bereitgestellten Mittel und Verpflichtungsermächtigungen zur Lösung der anstehenden entwicklungspolitischen Aufgaben eingesetzt werden. Hierbei haben Sie, Herr Minister Spranger, und die Mitarbeiter Ihres Hauses unsere volle Unterstützung. Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): In der ersten Lesung des Haushaltsgesetzes am 9. September habe ich den Entwurf des Einzelplanes 23 als quantitativ und qualitativ unzureichend und nicht den Erfordernissen der Zeit angemessen bezeichnet. Heute sprechen wir über einen qualitativ unwesentlich veränderten und um 62 Millionen DM gekürzten Etat. An meiner Einschätzung und daraus folgenden Ablehnung des vorliegenden Haushaltsplanes des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich verständlicherweise nichts geändert. Was während der ersten Lesung des Haushaltes von Herrn Minister Spranger noch als leiser Zweifel angedeutet wurde, ist inzwischen auch mit den raffiniertesten Rechentricks nicht mehr zu verschleiern: Die Mittelausstattung des BMZ wird mit den gewachsenen und weiter wachsenden Herausforderungen nicht Schritt halten können. Die Reaktion des Hauses Spranger ist symptomatisch: Der Minister selbst tritt die Flucht nach vorn an und verteidigt (wider besseres Wissen?) das Ergebnis der Haushaltsberatungen als das Optimum dessen, was heute möglich war. Noch einen Schritt weiter geht Frau Geiger mit ihrem Versuch, dieses blamable Ergebnis der Haushaltsberatungen zu beschönigen. Ich frage mich wirklich, welchen Nutzen es hat, über eine Anrechnung der Aufwendung für Asylbewerber in der Bundesrepublik auf die Entwicklungshilfe für die Herkunftsländer auch nur laut nachzudenken. Es ist in der letzten Zeit schon zu viel und unverantwortlich in der Asylfrage argumentiert und propagiert worden. Muß da auch die Menschenrechtsbeauftragte des BMZ ihr Scherflein beitragen, indem sie durch unzulässige, aber eingängige Zahlenspielereien deutsches Selbstwertgefühl steigert frei nach dem Motto: Seht her, was wir leisten? Den Opfern der nach wie vor und auch perspektivisch ungerechten Weltwirtschaftsordnung nützt das herzlich wenig. Um Mißdeutungen vorzubeugen: Schwerpunkt unserer Kritik und Ablehnung des vorliegenden Haushaltsentwurfes ist nicht vorrangig die Quantität Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10597* der bereitzustellenden Mittel, auch nicht die Tatsache, daß das zu kurze Hemd jetzt kaum noch bis unter die Achseln reicht. Wir kritisieren in erster Linie die Disproportionen innerhalb des Gesamthaushaltes, in dem Entwicklungszusammenarbeit marginalisiert und neben Wirtschafts- und Außenpolitik zur Bedeutungslosigleit verdammt wird. Oder, mit anderen Worten, was Herr Minister Spranger mühsam aufbaut, reißen Herr Möllemann und Herr Kinkel in der Regel wieder ein. Die Weigerung, bei Hermes-Bürgschaften auch entwicklungspolitische Kriterien anzulegen, illustriert diesen Vorgang anschaulich. Welchen Wert haben Vergabekriterien, Schwerpunktverschiebungen innerhalb des Entwicklungsressorts, wie sie von Herrn Minister Spranger im September in seiner Nachfrage an den Kollegen Hauchler nahezu erbittert aufgezählt wurden, wenn es nur ausreichend gewichtiger wirtschaftlicher oder geostrategischer Gründe bedarf, um sie vom Tisch zu kehren? Es ist, als ob es Rio nie gegeben hätte. Außer Beteuerungen, Versprechen und großen Gesten geschieht nichts, was die brennenden globalen Probleme einer Lösung auch nur näherbringt. 0,37 Prozent des Bruttosozialproduktes für eine immer größer werdende Gruppe von Entwicklungsländern, davon ein beträchtlicher Anteil für Großprojekte und Großabnehmer — es ist wirklich zum Verzweifeln. Solange der Teufelskreis von Abhängigkeit, Verschuldung, Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung nicht durch radikale Entschuldung und gleichzeitige Umgestaltung der weltwirtschaftlichen Strukturen nachhaltig durchbrochen wird, kann von einer Bewältigung der existentiellen Probleme der Einen Welt keine Rede sein. Im Entwurf des Gesamthaushaltes deutet nichts darauf hin, daß die Bundesregierung verstanden hätte, wie ernst die Lage bereits ist. In unser aller Interesse bleibt zu hoffen, daß sich in der Kosten-Nutzen-Rechnung der verantwortlichen Politiker die von ihnen praktizierte Schadensbegrenzung bald als wirtschaftlich unvorteilhaft erweist. Auf den gesunden Menschenverstand und die Einsicht in die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen in Nord und Süd wage ich bald nicht mehr zu hoffen. Dem Entschließungsantrag der SPD zur Steigerung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des BSP bis zum Jahr 2000 stimme ich zu. Zwar ist das Problem der bundesdeutschen Entwicklungspolitik nicht nur die Quantität der bereitgestellten Mittel, aber eine Steigerung des BMZ-Haushaltes um 2 Milliarden im Jahre 1993 wäre zumindest ein Signal, daß die Bundesregierung die Zeichen der Zeit erkannt hat. Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits der Entwurf des Einzelplans 23 signalisierte schwerwiegende Kürzungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, die, bei allem Verständnis für die angespannte Haushaltslage, für Entwicklungspolitiker kaum zu akzeptieren waren. Die jetzt zur Debatte stehenden Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses sind erst recht kritikwürdig. Er stößt nicht nur eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern vor den Kopf, denen Bundesminister Spranger in seiner Rede zur ersten Lesung des Haushalts ausdrücklich für „ihren großen Einsatz, sich mit viel Idealismus und Zuversicht für die Bekämpfung des Elends in der Welt einzusetzen" dankt, sondern auch die Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit müssen sich düpiert fühlen. Die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses lassen jedenfalls nicht den Schluß zu, daß die Kompetenz und der Sachverstand des für die Entwicklungspolitik zuständigen Ausschusses in irgendeiner Weise an entscheidender Stelle berücksichtigt worden sind. Vorgeschlagene Titelerhöhungen wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, abgelehnt, oder aber die finanziellen Mittel der betreffenden Titel wurden sogar noch gekürzt. Damit werden entwicklungspolitische Beschlüsse des Fachausschusses über Bord geworfen. Der Frauenförderung in der Entwicklungszusammenarbeit wird nach unserer Auffassung nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Eine Erhöhung für den Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen ließ sich, trotz Unterstützung von einigen Kolleginnen und Kollegen der Koalition, nicht durchsetzen. Die Konferenz in Rio hat erneut und nachdrücklich deutlich gemacht, daß für eine weltweite umweltverträgliche und soziale Entwicklung eine Umgestaltung der Lebensverhältnisse auch im Norden notwendig ist. Die Signale, die hierfür von diesem Haushalt ausgehen, sind nicht deutlich genug. Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und die Ausschreitungen gegen Ausländer haben die besondere Bedeutung einer entwicklungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit dringend deutlich gemacht. Deshalb ist gerade die Kürzung des Titels „Förderung der entwicklungspolitischen Bildung" um 1,5 Millionen unverständlich und nicht zu akzeptieren. Der Zusammenhang ist doch deutlich: Immer häufiger wird zur Rechtfertigung des „Stiefkindes" Entwicklungspolitik die Fluchtursachenbekämpfung herangezogen. Ich frage mich, was soll Entwicklungspolitik eigentlich anderes sein. Jede Entwicklungspolitik sollte nach meinem Verständnis zu einer Verbesserung in dem betreffenden Land führen und damit helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Förderung der deutschen Wirtschaft kann immer nur ein Nebenprodukt, nie aber Hauptzweck sein. Ich denke, daß alle Entwicklungspolitiker dieses Hohen Hauses sich darin einig sind. Deshalb ist mir nicht verständlich, weshalb die vom Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorgeschlagene Ergänzung zum Titel 68606 „Förderung von Ernährungssicherungsprogrammen in Entwicklungsländern" nicht aufgenommen wurde. Sie fordert, daß die notwendige Nahrungsmittelhilfe vorrangig durch den Kauf von Überschußangeboten anderer Entwicklungsländer ermöglicht werden soll. Insgesamt wird der ohnehin knappe Etat für die Entwicklungszusammenarbeit nochmals um ca. 98 Millionen gekürzt. Allein der Titel der Finanziellen 10598* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Zusammenarbeit wird um 75 Millionen gekürzt. Die Mittel für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Ländern Mittel- und Osteuropas und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten werden um fast 12 Millionen gekürzt. Nach unserer Auffassung spart in diesem Falle die Bundesregierung am verkehrten Objekt. Einsparungen in der Entwicklungszusammenarbeit führen immer zu Spätfolgekosten, die um ein Vielfaches höher sind. Mehrausgaben sind für eine Reihe von Titeln insgesamt in einer Höhe von ca. 35 Millionen geplant. Nur ein Bruchteil dieser Erhöhungen basiert auf Empfehlungen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der entwicklungspolitische Sachverstand der Haushälter läßt sich noch an anderer Stelle bezweifeln. So werden die Einnahmen aus Zinsen und Tilgungen von Darlehen der bilateralen Finanziellen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern um insgesamt 88 Millionen erhöht. Zwischen Entwurf und Beschlußempfehlung zum Haushalt liegen ein paar Monate. Ich glaube nicht, daß sich in dieser Zeit die internationale Weltwirtschaftslage so verbessert hat, daß ein derartiger hoher Anstieg der Einnahmen — bei den Zinsen sind es 25 % — zu erwarten ist, es sei denn, schon die erste Schätzung war unseriös. Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Trotz der schwierigen Finanzlage wird der Haushalt des BMZ auch 1993 gesteigert. Dies unterstreicht den hohen Stellenwert der Entwicklungspolitik in der politischen Zielsetzung der Bundesregierung. Den Mitgliedern des Haushaltsausschusses — insbesondere den Berichterstattern — und den Kollegen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die sich für diese Steigerung eingesetzt haben, möchte ich meinen herzlichen Dank für die großartige Arbeit aussprechen. Ich werte das Ergebnis der Haushaltsberatungen auch als eine erneute Zustimmung zu unserer entwicklungspolitischen Gesamtkonzeption. Diese Gesamtkonzeption — beruhend auf transparenten Vergabekriterien, einer Konzentration der Zusammenarbeit auf Schwerpunktsektoren und spezifischen Länderkonzepten — hat national und international breite Zustimmung gefunden. Aber auch die Erwartungen an uns sind gestiegen. Vom geeinten Deutschland wird die Übernahme von mehr Verantwortung in der Welt gefordert. Gleichzeitig kommen neue Herausforderungen auf uns zu. Die Beseitigung der Hinterlassenschaft des Kommunismus im ehemaligen Ostblock fordert auch die Entwicklungspolitik. Die Zahl unserer Partnerländer ist durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums gestiegen, ebenso wie der Problemdruck durch Armut, Umweltzerstörung und Naturkatastrophen. Wir müssen uns diesen neuen Herausforderungen stellen. Deshalb bin ich froh über den — wenn auch bescheidenen — Zuwachs unserer Haushaltsmittel, vor allem aber über wichtige strukturelle Verbesserungen, die in den Beratungen erreicht wurden. Dazu zählt insbesondere die Erhöhung des Stammkapitals der „Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft " (DEG) für zusätzliche Aufgaben beim Aufbau der Wirtschaft in Mittel- und Osteuropa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die Staaten im Osten brauchen die marktwirtschaftlichen Erfahrungen der DEG bei der Transformation ihrer Wirtschaften. Die Förderung der Privatwirtschaft als wesentlicher Bestandteil deutscher Entwicklungspolitik erhält damit zusätzliches Gewicht. Ludwig Erhards Modell einer „sozialen Marktwirtschaft" ist gerade in Osteuropa zum Leitbild geworden. Dieses Leitbild schafft die Basis für westliches Kapital und entsandte Experten. Neben der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit hat die multilaterale Kooperation wachsende Bedeutung. Für globale Aufgaben sind multilaterale Institutionen besser geeignet. Maßnahmen des Klimaschutzes, der Meeresverschmutzung und zur Bekämpfung von AIDS können sinnvoll nur weltweit angegangen werden und überfordern auch die Leistungsfähigkeit einzelner Geber. Bei der Bevölkerungspolitik, bei Strukturanpassungsprogrammen und bei der Bewältigung der Schuldenkrise ist multilaterale Zusammenarbeit ebenfalls unverzichtbar. Die gezielten Aufstockungen im multilateralen Bereich, die uns erlauben, die Ergebnisse der Rio-Konferenz im Rahmen des finanziell Möglichen umzusetzen, sind deshalb zu begrüßen. Umgekehrt gilt aber auch: Multilaterale Entwicklungshilfe darf nicht unbegrenzt zu Lasten unserer bilateralen Zusammenarbeit ausgeweitet werden. Ich werde deshalb darauf achten, die gegenwärtige Relation zwischen bilateralen und multilateralen Ausgaben zu halten. Auch in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit müssen Effizienz und Wirksamkeit im Vordergrund stehen. So wie wir mit der Einführung unserer Vergabekriterien eine Qualitätssteigerung unserer bilateralen Hilfe eingeleitet haben, müssen wir auch international einen höheren Effizienzstandard erreichen. Wir werden daher die strikte Anwendung unserer — von der EG-Kommission weitgehend übernommenen — Vergabekriterien fordern und überprüfen. Die parlamentarischen Beratungen zum Haushalt 1993 haben die wichtige Stellung des BMZ bei den Hilfen für Mittel- und Osteuropa und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten erneut bekräftigt. Dies ist um so wichtiger, als die OECD gerade fünf asiatische GUS-Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan) offiziell als Entwicklungsländer anerkannt hat. Weitere GUS- und MOE-Länder werden bald folgen. Die Ausweisung der bilateralen Beratungsmaßnahmen in einem eigenen Titel stellt sicher, daß diese Hilfen zusätzlich und nicht auf Kosten der klassischen Entwicklungsländer erfolgen. An diesem Grundsatz, über den es einen breiten Konsens in diesem Hause gibt, will ich konsequent festhalten. Meine Damen und Herren, bei all diesen positiven Entwicklungen im Einzelplan 23 läßt sich nicht verhehlen, daß die Steigerungsrate hinter dem zurück- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10599 * bleibt, was eigentlich erforderlich wäre und auch international von uns erwartet wird. Der Zuwachs ist gemessen an den neuen Aufgaben und an der gestiegenen Anzahl der Entwicklungsländer gering. Doch um nicht mißverstanden zu werden, sage ich: Mir geht es dabei nicht um ein schlichtes Ressortinteresse. Mein Anliegen ist es, daß Deutschland seine Verpflichtungen gegenüber den Partnern in der Welt erfüllen kann und angesichts der Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, auch erfüllen muß. Genauso wie wir die innere Einheit Deutschlands ohne finanzielle Opfer nicht vollenden können, müssen wir unserer gewachsenen Verantwortung für Frieden und Humanität in der Welt durch eine Steigerung der Hilfe für die ärmeren Lander gerecht werden. Natürlich ist die beschränkte Steigerung des BMZ-Haushalts eine Folge der Beseitigung der verheerenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Erblasten des kommunistischen Systems der ehemaligen DDR. Aber der massenhafte Zustrom von Asylbewerbern, von Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen ist eine vielleicht letzte Mahnung, bei der Bewältigung unserer inneren Probleme den weltweiten Teufelskreis von Unterentwicklung, Armut, Flüchtlingsströmen und Umweltzerstörung nicht aus dem Auge zu verlieren. Diese Probleme wachsen ständig. Dazu kommen die zusätzlichen Aufgaben in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in Osteuropa. Entwicklungszusammenarbeit ist deshalb auch eine Investition in unsere eigene Zukunft. Wenn die Probleme in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa nicht vor Ort gelöst werden, dann werden wir sie bald innerhalb unserer Grenzen haben. Und dann wird ihre Lösung um vieles teurer, von den psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen in unserem Land ganz zu schweigen. Nichts verdeutlicht diese Zwangsläufigkeit klarer als das Asylthema. Wieviel sinnvoller könnten die Milliarden, die wir in Deutschland für Wirtschaftsflüchtlinge ausgeben, zur Bekämpfung der Fluchtursachen eingesetzt werden! Wieviel könnte gespart werden, wenn Flüchtlinge in ihren Heimatländern blieben und ihre Kraft und Fähigkeiten zum Aufbau ihres Landes einsetzen würden! Entwicklungszusammenarbeit verringert Fluchtursachen, sie kann jedoch nicht — das möchte ich noch einmal ausdrücklich klarstellen — das ausbügeln, was innenpolitisch zu regeln ist: Dem Massenmißbrauch des Asylrechts endlich einen Riegel vorschieben. Nach 10jähriger Diskussion und steigenden Asylbewerberzahlen hat ja offenbar auch die SPD einen Handlungsbedarf erkannt. Entwicklungspolitik greift unsere eigenen Zukunftsinteressen auf — daher darf sie bei finanziellen Einsparungen nicht pauschal gekürzt werden! Dies gilt auch für scheinbar Nebensächliches: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird den Herausforderungen nur gerecht werden können, wenn sich das Mißverhältnis zwischen den ständig zunehmenden Aufgaben und der administrativen Ausstattung des Ministeriums nicht noch weiter verschärft. Die ehemalige DDR hat uns Projekte in etlichen früheren „sozialistischen Bruderländern" hinterlassen. Der Zerfall der Sowjetunion und die Entwicklung auf dem Balkan haben voraussichtlich das Entstehen von über einem Dutzend neuer Entwicklungsländer zur Folge. Wir haben schon jetzt weit über 100 Partnerländer in der Welt. Die Rio-Konferenz hat verdeutlicht, welche neuen sektoralen Anforderungen auf uns zukommen. Mit diesem Aufgabenzuwachs hat die Personalentwicklung im BMZ alles andere als Schritt gehalten. Ich bin jedoch dankbar, daß der Haushaltsausschuß dieses Problem auf gegriffen hat und bin zuversichtlich, daß bald auch Lösungen gefunden werden. Meine Damen und Herren, die weltpolitischen Umwälzungen in den letzten drei Jahren haben dramatische Entwicklungen ausgelöst. Wir dürfen uns bei aller Konzentration auf die Auswirkungen in unserem Land nicht davor verschließen, daß in vielen Entwicklungsländern und jetzt auch im Osten Elend und Not herrschen. Wir dürfen die Relationen nicht aus den Augen verlieren: Während bei uns um Erhalt oder Ausbau des Wohlstandes gestritten wird, geht es in Afrika und weiten Teilen Asiens um Leben oder Tod. Diese Erkenntnis verpflichtet uns, unsere Entwicklungszusammenarbeit weiter zu verbessern, trotz oder gerade auch wegen der schwierigen Finanzlage. Es kann nicht sein, daß ein kleiner Teil der Menschheit immer besser lebt und der Großteil immer schlechter. Je konsequenter wir diese Erkenntnis in praktisches Handeln umsetzen, desto sicherer wird die Zukunft für alle auf diesem Planeten sein. Ich werde nicht nachlassen, dafür einzutreten und hoffe auf die Unterstützung dieses Hauses. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Der Einzelplan 23 legt die Heuchelei in der Politik dieser Bundesregierung offen. Da wird die Asyldebatte vom Zaun gebrochen. Eine Welle rassistischer Gewaltkriminalität entwickelt sich, weil die alte/neue deutsche Rechte mit pogromartigen Ausschreitungen reagiert. Die Bundesregierung antwortet, in dem sie den Opfern, Flüchtlingen aus der „Dritten Welt" und aus Ost- und Südosteuropa, die Schuld anheftet. Wenn es dagegen um die Bekämpfung der Fluchtursachen geht, zieht die Bundesregierung sich zurück. Nicht nur, daß die reiche Bundesrepublik noch nie die UN-Norm von 0,7 % des Bruttosozialprodukts erfüllt hat. Die derzeitige Bundesregierung kürzt die viel zu geringe Entwicklungshilfe im Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit noch weiter. Schon im Haushalt für 1992 sank die Entwicklungshilfe real ab, in diesem Haushalt für 1993 sinkt sie real noch weiter. Die UN-Norm wird sogar nur noch zur Hälfte erfüllt. Das ist ein politischer Skandal aller erster Ordnung. Ich habe daher in einem Gruppenantragsentwurf vorgeschlagen, den Entwicklungshilfeetat durch Umlenkung von Mitteln aus dem Rüstungsetat auf die Höhe der UN-Norm aufzustocken. Das Echo war außerordentlich gering. Aber wir bleiben am Ball und werden Ihnen für die nächste Haushaltsrunde erneut 10600* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 einen entsprechenden Antrag mit entsprechend veränderten Zahlen unterbreiten. Doch die direkte Entwicklungshilfe ist wichtig, ihre erhebliche Ausweitung unerläßlich, sie kann jedoch bei weitem nicht die Probleme der „Dritten Welt" lösen. Notwendig sind vielmehr viel umfassendere Lösungen, wie der Schuldenerlaß und die nachhaltige Verbesserung der terms of trade zugunsten der Entwicklungsländer. Doch auch hier sperrt sich bekanntlich die Bundesregierung. Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen und aufzeigen, daß selbst der Schuldenerlaß und die Gewährleistung „gerechter" oder äquivalenter Preise, z. B. durch Rohstoffabkommen und ähnliches, die Probleme der zunehmenden Disparität zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden nicht zu lösen vermögen. In dem Maße, wie sich unsere Wirtschaftsstruktur immer stärker auf moderne, kapitalintensiv erzeugte High-Tech-Produkte hin entwickelt, müssen die Länder der Dritten Welt immer mehr von ihrer Arbeitsproduktivität und ihren natürlichen Reichtümern — verbunden auch mit eskalierenden ökologischen Schäden — beim Tausch gegen unsere High-TechProdukte liefern. Mit den Preisen für diese HighTech-Produkte und dabei wieder gerade für die zur Behauptung in der Weltmarktkonkurrenz notwendigen Investitionsgüter müssen die Entwicklungsländer nämlich Zinsen, Abschreibungen, Wagnisse und anderes auf das riesige und gerade mit neuen Technologien bei uns rasant weiter wachsende industrielle und sonstige Anlagevermögen zahlen. Diese Zinsen tauchen in keiner Verschuldungsstatistik auf. Sie fallen auch an, wenn die Entwicklungsländer, ohne Kredite aufzunehmen, zahlen können. Mit anderen Worten: Nach einem Schuldenerlaß und auch bei Schaffung gerechter Austauschrelationen auf dem Weltmarkt werden die Entwicklungsländer durch diese verdeckten Zinszahlungen in eine neue Verschuldenskrise getrieben. Die Lösung der Probleme der Entwicklungsländer, die Beseitigung eines Großteils der Ursachen für die Flucht von Menschen aus dem armen Süden in den reichen Norden sind sehr viel komplizierter. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung muß auch eine in weiten Bereichen alternative Weltwirtschaftsordnung sein, die auch die Entwicklung angepaßter Technologien und angepaßter Infrastrukturen zur Lieferung an die „Dritte Welt" umfaßt. Dieser mit geradezu mathematischer Präzision verfolgbare Zusammenhang wird in der Entwicklungshilfe dieser Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt, vermutlich gar nicht gesehen. Die Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung verstärkt die Zwangsläufigkeit zunehmender Disparität zu Lasten der Entwicklungsländer sogar mit vielen Maßnahmen noch zusätzlich. Nur eine wirklich alternative Entwicklungspolitik, die wesentliche Strukturkonstanten der modernen kapitalistischen Produktionsweise, darunter gerade auch die ökologisch destruktiven Strukturkonstanten dieser Produktionsweise in Frage stellt, kann Lösungen für den Nord-Süd-Konflikt beisteuern. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Tagesordnungspunkten III 21 — Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versorgung —, III 23 — Einzelplan 36, Zivile Verteidigung — *) Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wissen nicht, ob der vorgesehene Haushalt Makulatur sein wird, bevor die darin anvisierten Zielsetzungen realisiert werden. Denn schon wird ein Nachtragshaushalt vorbereitet, der alles wieder in Frage stellen soll. Aber was noch wichtiger ist: wenn wir uns die brennenden innenpolitischen Probleme der heutigen Zeit ansehen, frage ich mich, welchen Beitrag eigentlich Bundesregierung und Bundestag dazu mit dem jetzt zur Verabschiedung anstehenden Haushalt leisten wollen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Großzügig bekommt der Bundesgrenzschutz seine erste im letzten Haushalt um 30 % erhöhte Ausstattung nun mit der Rekordhöhe von über 2 Milliarden DM garantiert. Ich frage mich, wie man das beim Wegfall der innereuropäischen Grenzen auf Dauer rechtfertigen will. Und warum werden die beim BKA umfangreich aufgebauten Potentiale zur Bekämpfung des Linksterrorismus nicht endlich abgebaut, wo doch klar ist, daß dieses Phänomen in der Bundesrepublik der Vergangenheit angehört? Sollten wir nicht statt dessen fordern, daß der wissenschaftliche Apparat des BKA sich vermehrt etwa um den Einfluß rechtsextremistischer Einflüsse und Beteiligung an Gewaltakten aus dem Ausland kümmert, wie es seine Aufgabe wäre? Oder daß der wissenschaftliche Apparat sich vermehrt um die gesellschaftlich-politische Prävention des Rechtsextremismus kümmert, so wie er sich etwa um das Thema sexuelle Gewalttaten gekümmert hat? Oder scheut etwa die Bundesregierung erwartbare Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die ihr die eigenen Sünden um die Ohren hauen könnten? Unverantwortlich finde ich es auch, wenn entgegen allen Ankündigungen über notwendige Sparmaßnahmen im Haushalt der Geheimdienste z. B. die Sachkosten des Bundesamtes für den Verfassungsschutz nicht etwa drastisch gesenkt werden, sondern noch immer stolze 232,816 Millionen DM betragen, von den Personalkosten einmal ganz zu schweigen. Dies korrespondiert mit den im Haushalt des Bundeskanzlers vorgesehenen Erhöhungen der sächlichen Verwaltungskosten für den Bundesnachrichtendienst auf die Rekordhöhe von 242,1 Millionen DM. Hierzu paßt es, daß der Verfassungsschutz für sogenannte Maßnahmen der politischen Bildung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eine Etaterhöhung zugeschanzt bekommt, während der Etat für entsprechende Maßnahmen der Bundeszentrale für politische Bildung eingefroren oder gekürzt werden soll. Mickrige 400 000 DM wird die Bundeszentrale z. B. für Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und anderer Vorurteile bekommen! Ich sage das angesichts der Tatsache, daß der Verfassungsschutz in den letzten Jahren bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus vollkommen versagt hat. Wer wie wir der *) Vgl. Seite 10575D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10601* Auffassung ist, daß die Geheimdienste nachweislich eher Schaden anrichten als nutzen, kann den Etatposten für die Nachrichtendienste, die mittlerweile mit Personalkostenanteil die Milliardengrenze weit überschritten haben, unmöglich zustimmen. Fast 60 Millionen DM ist der Bundesregierung auch der Jahresetat des umstrittenen Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik wert, dessen Mitarbeiter sich überwiegend aus den Nachrichtendiensten rekrutieren. Umfassend sind wir bereits bei den letzten Haushaltsberatungen auf die nach unserer Auffassung völlig überflüssigen Mittelzuweisungen im Rahmen des Einzelplanes 36 für zivile Verteidigungsmaßnahmen eingegangen. Hier hat es zwar Mittelumschichtungen und geringfügige Kürzungen gegeben, im Kern aber hat sich nichts geändert. Auch die weitere Privilegierung des Technischen Hilfswerkes ist unerträglich. Wofür brauchen wir in Mitteleuropa nach Überwindung des Ost-West-Gegensatzes weiterhin einen zivilen Bunkerbau oder den Neubau von Lagern des technischen Hilfswerkes? Wir sagen: Katastrophenschutz ja, aber zivilmilitärische Ausgaben für den Verteidigungsfall nein! Hier unterstütze ich auch den Streichungsantrag der PDS zu diesem Haushaltsansatz. Noch lange nicht ausgelotet sind umfangreiche Sparpotentiale, die sich seit den Zeiten des Revanchismus umfangreicher sogenannter Kulturförderung erfreuen können, etwa die Bismarck-Stiftung und politisch recht zweifelhafte Maßnahmen der Vertriebenenverbände, die weniger etwas mit Kultur als mit großdeutschen Phantasien zu tun haben. Es wird also viel Geld für zweifelhafte Aktivitäten ausgegeben, während dort, wo es notwendig ist, unverantwortlich gespart wird. Es ist das Elend dieser Politik, daß sie mit ordnungspolitischen Maßnahmen und Zugriffen der Sicherheitsbehörden das versucht wettzumachen, was sie wirtschaftspolitisch, sozialpolitisch und jugendpolitisch nicht nur versäumt hat, sondern geradezu anrichtet. Wenn 90 % aller Jugendclubs und ähnlicher Einrichtungen in Ostdeutschland, die vormals bestanden, nunmehr geschlossen sind, wenn das Jahresbudget des Ministeriums für Frauen und Jugend noch gerade 5,5 % des Budgets des Verteidigungshaushaltes ausmacht, wenn die Arbeitsförderungsmaßnahmen nach dem AFG so drastisch gekürzt werden wie in der AFG-Novelle, wen wundern da noch die Anstiege des Drogenkonsums, der Kleinkriminalität, der Gewalt unter Jugendlichen und — leider auch — die Suche nach Sündenböcken für diese Misere? Und diese Sündenböcke werden dann auch noch nach ideologischer Steilvorlage der Bundesregierung bei Asylbewerbern, hier lebenden Ausländern oder Minderheiten gesucht. Wichtiger scheint es Koalition und Bundesregierung wohl zu sein, 16 Millionen DM im Zusammenhang mit der sogenannten „Rückführung" von Flüchtlingen etwa nach Rumänien bereitzustellen — eine überaus bedenkliche Aktion! Das Kernproblem der Innen- und Rechtspolitik dieser Regierung und der Koalitionsfraktionen ist für mich aber nicht, wofür mit diesem Haushalt insgesamt Geld ausgegeben wird oder nicht, sondern welche politischen Probleme vernachlässigt oder umgekehrt geradezu geschaffen und dramatisiert werden. Hier ist als herausragende Frage der Umgang mit der Asylproblematik zu nennen. Mehr als einmal haben wir die Mitverantwortung der Politik als Biedermann und Brandstifter angeklagt, leider vergeblich. Völkische und ethnische Argumente werden instrumentalisiert, um wahltaktische Vorteile zu erlangen. Die Debatte um das Grundrecht auf Asyl, die eine Lösung der Probleme auch nicht ansatzweise erkennen läßt, hat in verantwortungsloser Weise davon abgelenkt, daß es urn die rationale Behandlung von Problemen geht. Vertuscht werden sollen mit dem öffentlichen Zulassen von Sündenböcken jahrelange Versäumnisse der Bundesregierung etwa im Bereich der Wohnungspolitik, als wäre es die Schuld von Asylbewerbern oder Aussiedlern, daß die Bundesregierung im sozialen Wohnungsbau einen Kahlschlag angerichtet hat. Der Rechtsextremismus ist, außer für den gar nicht so kompetenten Verfassungsschutz, eigentlich gar kein wirkliches Thema für diese Regierung, sondern nur, wenn er zu strafrechtlich zu ahndenden Gewaltakten führt, und insbesondere, wenn sich diese gegen die Staatsmacht selbst richten oder wenn dies zum „Ansehensverlust im Ausland" führt. Wäre es wirklich ein Thema, würde man sich mehr um die Opfer und den Opferschutz kümmern. Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate, d. h. die Angriffe, Überfälle und Mordanschläge auf Flüchtlinge und Einwanderer, sowie die Form der politischen Instrumentalisierung dieses Themas weisen auf eine neue Dimension der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland hin. Die These von einer zunehmenden „Überfremdung" und der Bundesrepublik als Magnet für alle Flüchtlinge dieser Welt wird wider alle Realitäten verbreitet. Tatsächlich finden zur Zeit aber mehr als 90 % der Flüchtlinge in den Ländern der Dritten Welt Aufnahme, dagegen nur etwa 10 % in den ungleich wohlhabenderen Ländern Nordamerikas und Europas. Dies ist eine beschämende Bilanz. Eine ganz konkrete Forderung möchte ich hier an diese Bundesregierung richten. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR haben nach unserer Kenntnis umfangreiche Repressalien zu erwarten, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Gewähren Sie diesen Menschen ein Bleiberecht in der Bundesrepublik, um sie vor drohenden Verletzungen ihrer Menschenrechte zu schützen! Zur „inneren Sicherheit": Die Furcht vor zunehmender Kriminalität, die mit den realen Verhältnissen kaum übereinstimmt und oft aus existenzieller Verunsicherung geboren ist, darf nicht durch unverantwortliche Kampagnen weiter geschürt werden. Lückenlose Sicherheit vor Kriminalität kann es nicht geben, und größerer Schutz ist häufig nur um den Preis der Einschränkung von Freiheitsrechten zu haben. Die Balance beider Anliegen muß in einem sachlichen Diskurs entschieden werden. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen zur Kriminalitätsbekämpfung muß eine Konzentration der Kräfte auf 10602* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Abwehr von bzw. Schutz vor besonders sozialschädlichen Delikten erfolgen. Ich nenne hier nur die rechtsextremen Terrorakte. Umgekehrt bedarf es aber vor allem einer Streichung bzw. Herabstufung überkommener und verzichtbarer Straftatbestände. Ich führe nur ein zentrales Aufgabengebiet an: Sie wissen nur zu gut, daß die repressive Drogenpolitik, der die Bundesregierung anhängt, ihr Scheitern umfassend unter Beweis gestellt hat. Weder hat sie zum Rückgang des Drogenkonsums noch der Drogentoten geführt. In den USA hat der Kongreß dieser Politik unlängst eine katastrophale Bilanz attestiert. Der überwiegende Teil unserer Drogenkriminalität besteht in der Besorgung kleiner Mengen für den Eigenbedarf, ansonsten in der Beschaffungskriminalität durch Autoaufbrüche und Kleindiebstahl, um das Geld für Drogen zusammenzubekommen. Aus diesem Teufelskreis staatlicher Kriminalitätsproduktion. müssen Regierung und Koalition endlich ausbrechen. Ein erster, aber grundlegender Schritt wäre die Legalisierung weicher Drogen. Innere Sicherheit ohne Polizeistaat: Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten soll die Bundesregierung dazu beitragen, die Voraussetzungen besonders bei ostdeutschen Strafverfolgungsbehörden/Polizei zum Schutz vor Alltagskriminalität zu verbessern, z. B. durch Überlassung von Ausstattung und durch fachliche Beratung. Das, was in letzter Zeit als Notwendigkeit zusätzlicher Gesetze öffentlichkeitswirksam verkauft wurde, wird das Gegenteil von dem hervorrufen: nicht nur bei fremdenfeindlichen oder neonazistischen Straftaten brauchen wir im Rahmen weniger neue Gesetze als die Bereitschaft, die bestehenden konsequent anzuwenden. Was nützen neue Gesetze, wenn die Polizei auch schon bei den bestehenden untätig zuguckt, wegguckt, zu spät am Tatort erscheint oder vor Gewalttätern flüchtet? Entschieden werden wir etwa die Erweiterung des Landfriedensbruchparagraphen bekämpfen, wie dies Regierung und Koalition off en-sichtlich baldigst durchziehen wollen. Nicht Einschränkungen der Grundrechte und des Demonstrationsrechts sind gefragt, sondern ihre Garantie und Ergänzung durch demokratische Beteiligungsrechte und, um es noch einmal zu sagen, ein effizienter Einsatz der Polizei dort, wo es notwendig ist zum Schutz potentieller Opfer. Der vorgelegte Haushaltsentwurf zeigt: Weiterhin wird der Ausbau eines zweifelhaften Modells der „inneren Sicherheit" betrieben. Verbaut wird damit zugleich die Alternative der sozialen Sicherheit, deren Fehlen eben erst die Ursachen für zunehmende Kriminalität und rechtsextremistisches Gedankengut z. B. unter Jugendlichen mitherbeiführt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt diesen Haushalt ab. Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Die Behandlung des Einzelplanes des BMI provoziert geradezu, ein Wort zu den schrecklichen Ereignissen von Mölln und überhaupt zu den anwachsenden Ausschreitungen der vergangenen Wochen und Monate zu sagen. Es klingt beinahe wie Ironie des Schicksals, daß in den Bereich des BMI nicht nur der Kampf gegen Kriminalität, der Einsatz für die Achtung der Würde des Menschen gehören, sondern auch Fragen von Kunst und Kultur, und damit eigentlich auch die Sorge um einen kulturvollen Umgang miteinander. Die Verarmung einer Gesellschaft läßt sich nicht nur in Geld ausdrücken; sie beginnt im gesellschaftlichen Maßstab — zu Beginn oft nahezu unbemerkt — dort, wo Kultur, kulturelle Identität verloren gehen und Vandalismus an die Stelle von kulturvollem Umgang tritt. Wir sind leider gegenwärtig Zeugen eines gewaltigen Kulturverlustes, wenn solche Aktionen wie in Rostock oder Mölln oder anderswo unsere tagtäglichen Nachrichten bestimmen. Die gegenwärtig laufende Haushaltsdebatte verdeutlicht sehr drastisch, daß für das geeinte, größer gewordene Deutschland Sparen angesagt ist, aber es unsäglich viele Meinungen darüber gibt, wie und wo gespart werden soll. Kulturförderung ist zwar Ländersache, nur scheint nicht immer allen bewußt zu sein, daß mit dem Einigungsvertrag und seinem Artikel 35 der Bund Verpflichtungen eingegangen ist, die weit über das vorherige Engagement in Sachen Kunst und Kultur hinausgehen. Die Verpflichtung, alles zu tun, damit die kulturelle Substanz in den neuen Bundesländern keinen Schaden nimmt und die kulturelle Infrastruktur gefördert wird, muß schon heute als mißlungen verbucht werden. Zu viel Bewahrenswertes ist inzwischen verloren gegangen. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn einige vom Massensterben kultureller Einrichtungen sprechen. Zwei Drittel von 7 322 befragten Bürgermeistern im Osten Deutschlands schätzen das kulturelle Angebot als schlechter im Vergleich zur Zeit vor der Wende ein. Sie alle beklagen den Verlust von Jugendzentren, Kinos, Bibliotheken. Unvollständige Statistiken sagen aus, daß 40 % aller Freizeiteinrichtungen und 50 % aller Kinos in den vergangenen Jahren geschlossen wurden. Durch die Kultursparprogramme in den neuen Bundesländern droht der Zusammenbruch jahrhundertealter Kulturszenen, warnen die Theater-Intendanten der Stadt Dresden. Es ist doch wohl offensichtlich geworden, daß sich die führenden Politiker dieses Landes geirrt haben, was den Zeitraum der tatsächlichen Vereinigung betrifft. Wer diesen Irrtum zugibt, der muß auch die Vorstellungen über die Kulturförderung revidieren. Wenn Björn Engholm nach seinem Treffen mit Bundeskanzler Kohl am Montagabend im Fernsehen von „Dramatik" in der Entwicklung im Osten Deutschlands spricht, so hatte er dabei sicher nicht die Kultur im Sinn, hat aber damit die Ursachen auch für kulturelle Schwierigkeiten indirekt benannt. Experten schätzen ein, daß die Finanzkraft der neuen Bundesländer 1995 erst 30 % vergleichbarer westdeutscher Gemeinden betragen werde. Woher sollen diese denn das Geld nehmen, um überhaupt etwas für die Kultur zu tun? Es geht also meines Erachtens nicht nur darum, die Kulturförderung seitens des Bundes auch weit über das Jahr 1993 fortzusetzen, worin ich mir sicher mit vielen Kolleginnen und Kollegen einig bin, sondern schon für 1993 so zu sichern, daß weitere irreparable Schäden im Kulturbereich der neuen Bundesländer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10603* vermieden werden. Deshalb ist für mich die Aussage in der Drucksache 12/3591 — Bericht des Haushaltsausschusses — auf Seite 20, wonach die haushaltsrechtlichen Bedingungen geschaffen wurden, „um die einigungsbedingte Kulturförderung des Bundes in den neuen Bundesländern etwa in der vorjährigen Höhe weiterzuführen", zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben nur ein halbherziger, der keinesfalls den Anforderungen entspricht. Dies bedeutet zwar eine Korrektur des ursprünglichen Planes, die Hilfe des Bundes auf 310 Millionen DM zurückzufahren, wird aber dennoch viele Schlösser, Theater, Museen, Künstler und Künstlergruppen nicht vor dem Ruin bewahren helfen. In Anbetracht der steigenden Kosten im Osten Deutschlands für Löhne, Mieten für Ateliers und andere Objekte, Unterhalt von Einrichtungen, im Verwaltungsbereich, praktisch für alles, was auch Kunst und Kultur betrifft, sind weitere eklatante Einbrüche in Qualität und Quantität in allen Bereichen der Kulturszene bereits vorprogrammiert. Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf wird die Kultur im Osten Deutschlands nicht gefördert, sondem maximal deren Nachlaß verwaltet. Dem kann ich so nicht zustimmen. Aber da ich auch die finanziellen Nöte dieses Haushaltes verstehe, erlaube ich mir den Gedanken zu unterbreiten, ob der in der DDR bewährte „Kulturgroschen" als Mittel zur Unterstützung von Kunst und Kultur nicht auch in der heutigen Zeit im geeinten Deutschland eine kulturfördernde Rolle spielen könnte. Dieses Geld könnte auch genutzt werden, um Freizeiteinrichtungen wieder erstehen zu lassen, die Jugendlichen helfen zu verstehen, daß Sinn und Inhalt des Lebens nicht im Randalieren auf der Straße, in Rassenhaß und Asylantenverfolgung besteht. Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Allein in den letzten Tagen wurden fünf Menschen von Neofaschisten umgebracht. Die Brutalität der Taten ist erschrekkend. Es muß aber festgestellt werden, daß sich das, was sich in Mölln ereignet hat, in zig hundert Fällen genauso hätte ereignen können. Die mörderische Absicht der Neofaschisten war bei all den zig hundert Brandanschlägen vorhanden und erkennbar. Zum Glück hat hier der Zufall in vielen Fällen das Schlimmste verhindert. Nur wenige Stunden danach sprach der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Werthebach von einer neuen Qualität fremdenfeindlicher Gewalt, dies angesichts der Tatsache, daß es bereits 17 Tote in diesem Jahr gibt, die aus rassistischen Motiven getötet worden sind. Erschreckend ist aber auch die Kaltschnäuzigkeit eines CSU-Politikers wie Huber, der nur wenige Tage nach diesen schrecklichen Ereignissen sich in das Frühstücksfernsehen setzt, und erneut damit Stimmung macht, daß dieses Land es nicht aushält, wenn Jahr für Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land kommen. Huber weiß natürlich genau, daß in keinem einzigen Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land gekommen sind. Er weiß auch ganz genau, daß er hier gezielt die Stimmung in diesem Land mit solchen Äußerungen anheizt. Ja, und er weiß, daß er den Brandgeruch, der durch dieses Land weht, dazu nutzt, seine politischen Ziele durchzusetzen. Aber Huber ist nicht der einzige. Man kann ihn nicht einmal als besonderen Scharfmacher bezeichnen. Er steht eher für den Durchschnittstypus christdemokratischer Politiker. Nicht umsonst muß der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Bubis, heute wiederholt in der Presse feststellen, daß die „Diskussion um die Änderung des Asylartikels im Grundgesetz die Straftäter ermuntert habe". Man muß länger darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn heute selbst der BKA-Präsident Zachert in der Zeitung „Polizei" 11/92 schreibt: „Besonders auffällig ist der quantitative Anstieg von Straftaten in den alten Bundesländern im 4. Quartal 1991. Als Auslöser dürften die Asyldebatte im Deutschen Bundestag, die Verlegung von Asylbewerbern aus Hoyerswerda und der Jahrestag der Deutschen Einheit anzusehen sein." BKA-Präsident Zachert unterstreicht damit die Kritik, die von Menschenrechtsorganisationen und Zeitungen immer wieder vorgetragen worden sind. Die politische Mitverantwortung der Bundesregierung an diesem neofaschistischen Terror und auch der Unwille von Seiten staatlicher Stellen, mit diesem Terror aufzuräumen, wird im Inland und Ausland immer besorgter zur Kenntnis genommen. Nimmt man nur einige Schlagzeilen von heute: „Antideutsche Stimmung in Griechenland" (FAZ), „Bestürzung und Ratlosigkeit in Brüssel" (FAZ), „Israels Parlament verurteilt rassistische Gewalt" (FAZ), Italien: „Der häßliche Deutsche heißt jetzt Nazi-Skin" (Kölner Stadtanzeiger), „Die Nazis steckten drei Türken in Brand! " (Hürriyet). Die Unlust, neofaschistische Straftäter zu verfolgen, oder, wie in Rostock geschehen, die Polizei vor den anrückenden Neofaschisten zurückzuziehen, hat dazu geführt, daß ausländische Mitbürger oder Juden und Roma und Sinti immer mehr den „Glauben und die Hoffnung verloren haben", daß die Bundesregierung „einen wirksamen Schutz gegen den Rechtsextremismus und seine antisemitischen Gewalttäter bieten könnte", wie es Ralph Giordano in einem Brief an den Bundeskanzler ausgedrückt hat. Daß der CDU-Generalsekretär Hintze und der Kanzleramtschef Bohl diese Kritik, aber auch die Ängste und Befürchtungen Giordanos als „unerträglich" bezeichnen, zeigt, wie arrogant und unsensibel mit der Kritik eines jüdischen Schriftstellers — einem der Überlebenden des Holocaust — umgegangen wird. Es muß hier ganz klar festgestellt werden: Einen derartigen neofaschistischen Terror gegen Flüchtlinge und Immigrantinnen, wie wir ihn derzeit in der BRD erleben, hat die Weimarer Republik nicht gekannt. Er gibt in der Tat zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß. Hinzu kommt, daß Bohl in einer Pressemitteilung „mit aller Entschiedenheit und großer Empörung" Giordanos Kritik zurückweist und die Kritik Giordanos damit widerlegen will, daß u. a. der Generalbundesanwalt im Falle der Möllner Anschläge das Verfahren an sich gezogen hat. Ja, Herr Bohl, das ist es ja gerade. Nach einer Steigerung der ausländerfeindlichen Straftaten im Jahre 1991 um 1 200 Prozent, nach allein 1 900 fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten in diesem Jahr, da hat der Generalbundesanwalt in einem Fall die Ermittlungen an sich gezogen. 10604* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 Und wer die Begründung hören mußte, wieso der Generalbundesanwalt von Stahl erst jetzt die Ermittlungen übernommen hat, der weiß, warum Ralph Giordano dem Kanzler geschrieben hat. Von Stahl begründete seine bisherige Tatenlosigkeit in Sachen neofaschistischer Terror im „heute Journal" wie folgt: „ ... Der Generalbundesanwalt kann nicht nur in Fällen ermitteln, wo es sich um eine terroristische Vereinigung handelt, sondern auch dann, wenn die Einzeltat bestimmt und geeignet ist, die Sicherheit der Bundesrepublik zu gefährden, und von besonderer Bedeutung ist. Drei Tote, mehrere Verletzte, zweimal schwere Brandstiftung und das Verhalten nach der Tat — zwei Telefonanrufe, die kurz hintereinander gekommen sind und wo die anonymen Anrufer sich mit „Heil Hitler" verabschiedet haben — lassen im Ansatz erkennen, daß es sich hier möglicherweise um neonazistische Organisationen, sprich verfassungsfeindliche Organisationen handelt oder ein verfassungsfeindlicher Hintergrund zu vermuten ist. (...) Bisher hat es sich immer — sofern die Fälle aufgeklärt werden konnten — gezeigt, daß es sich im wesentlichen um Einzeltäter, Jugendliche oder Leute gehandelt hat, die sich kurzfristig zusammengefunden haben. Außerdem hat es auch noch nicht drei Tote auf einmal gegeben. Also die besondere Bedeutung des Falles und der Hintergrund waren nicht so, daß ich meine Kompetenz angenommen habe ... " So also sieht der Wille des Generalbundesanwalts aus, gegen die Gewalt von rechts vorzugehen. Unter drei Toten wird er offenbar nicht tätig, folgt man seinem zynischen Kommentar. Und den verfassungsfeindlichen Hintergrund, wenn Personen gegen Flüchtlinge und Immigrantinnen vorgehen, erkennt er nur, wenn sie sich mit „Heil Hitler" melden. Nimmt man den Generalbundesanwalt ernst, und so ist ja auch die Praxis, dann steht schon vor der polizeilichen Ermittlungstätigkeit fest, daß jeder Brandanschlag auf eine Unterkunft von Flüchtlingen und Immigrantinnen keinen verfassungsfeindlichen Hintergrund hat. Ich will hier auch noch auf einen kleinen Ausschnitt dieser Verantwortung der Bundesregierung verweisen. Da muß der Wehrbeauftragte darauf hinweisen, daß allein 24 Bundeswehrangehörige an den rassistischen Straftaten beteiligt sind. Es mag da ein direkter Zusammenhang bestehen, daß in der BundeswehrZeitung „Information für die Truppe" rassistische Artikel abgedruckt werden. So u. a. von Clemens Range über „Perspektiven einer neuen Einwanderung", das im wesentlichen auf dem Buch „Invasion der Armen" basiert, geschrieben vom Berliner REP-Vorsitzenden (IFDT, 3/92). Diese Zustände drücken sich auch im Haushalt aus. Während alle verantwortlichen Politiker mit den angeblichen hohen Kosten für die Unterbringung und Sozialhilfe für Flüchtlinge in Deutschland Stimmung machen, muß man feststellen, dies kostet 1991 vier Milliarden DM. Der niedersächsische Minister Trittin hat in einer Landtagsdebatte angeführt, daß nach Berechnungen der Zeitschrift „Publik-Forum" der Bundesbürger und die Bundesbürgerin 1991 für die Flüchtlinge 52 DM aufzubringen hatte. Der gleiche Bundesbürger hatte aber im selben Jahr 43 DM allein zur Begleichung des Schuldendienstes für die atomare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf gezahlt. Für die geplanten Massenabschiebungen rumänischer Flüchtlinge wurden in aller Eile 4,7 Millionen DM allein für die Flugbegleitung durch den BGS in den Innenhaushalt aufgenommen. Die Durchführung des Abkommens wird mit über 8,5 Millionen DM veranschlagt. Der BGS erhält allein 180 Millionen DM mehr in diesem Jahr. Andererseits hat man für antifaschistische Aufklärung gerade 7 Millionen DM im Haushalt des BMI vorgesehen, diese Gelder sind aber noch gesperrt. Die bundesdeutsche Industrie gibt allein für die Werbung in diesem Jahr 45 Milliarden DM aus. Allein von jeder Mark einen Pfennig wären 450 Millionen Deutsche Mark für eine antirassistische Aufklärung. Nach dem Pogrom von Rostock hat es die Bundesregierung kategorisch abgelehnt, eine Aufklärungsbroschüre über die Lage der Roma und Sinti in Osteuropa zu erstellen und zu verteilen. Zur gleichen Zeit aber produzierte das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien eine volksverhetzende „Studie" über die Roma und Sinti, in denen es heißt: „Gelegentliche Ausschreitungen gegen Zigeuner wurden durch vorhergehende delinquente Handlungen der Zigeuner selbst provoziert". Dieses Institut erhält 8,5 Millionen DM. Auch die Vertriebenenverbände und der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) erhalten wieder zig Millionen DM, Gruppierungen, die in erster Linie eine Völkerverständigung hintertreiben und die von Rechtsextremisten durchsetzt sind. Gerade der VDA, der für seine Arbeit in diesem Geiste mit 120 Millionen aus dem Bundeshaushalt bedient worden ist, fiel vor allem dem Bundesrechnungshof auf, weil hier Steuergelder versickerten. Der „Spiegel" 35/92 berichtet, daß aus dem BMI 1990 die Anweisung erging, „ohne das normalerweise schriftliche Antragsverfahren" dem VDA 34,6 Millionen DM zu bewilligen. Daß dies so problemlos ging, mag daran liegen, daß 1989 neben einigen Rechtsextremisten auch der Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Waffenschmidt, in den Vorstand des VDA gewählt worden ist. Mit diesem Haushalt werden die rassistischen Strukturen in dieser Gesellschaft gefestigt. Den Reden über das Entsetzen nach den Morden vom Wochenende folgen keine Taten, die eine Umkehr in der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch nur andeuten. Kein Fünkchen von Nachdenklichkeit und Selbstkritik ist zu spüren. Angesagt wäre jetzt eine sofortige Beendigung der Asyldiskussion, ein unbedingtes Ernstnehmen der Warnungen aus dem In- und Ausland über den Zusammenhang zwischen der Asyldiskussion und den Anschlägen. Die Forderungen der Immigrantinnenorganisationen, der Organisationen der Roma und Sinti, des Zentralrates der Juden müssen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch geprüft werden. Wir fordern einen Bericht einer unabhängigen internationalen Kommission, die diesen Zusammenhang untersuchen soll. Schluß mit der Asyldiskussion! Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10605* Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Helmut Schäfer (Mainz) (F.D.P.) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 Bei der namentlichen Abstimmung am Mittwoch, 25. November abends, unterlief mir ein Fehler. Meine Absicht war es, den Änderungsantrag der SPD über „den Jäger 90" abzulehnen. Fälschlicherweise habe ich die blaue Stimmkarte benutzt. *) Ich bitte, das im Protokoll zu berücksichtigen. *) Vgl. Seite 10573 C
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Graf Otto Lambsdorff


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (F.D.P.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Bundeskanzler, für die F.D.P. möchte ich Ihnen in einem Punkte ausdrücklich zustimmen: Das waren zehn gute Jahre für Deutschland.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Wir haben von 1982 bis 1989 die finanz-, wirtschafts- und haushaltspolitischen Dinge und die sozialpolitischen Fragen in einer Weise angepackt und in Ordnung gebracht, wie es kaum einer erwartet hätte.
    Dann kam die deutsche Einheit. Das war ein historischer Glücksfall. Er ist von Ihnen und dem Außenminister Hans-Dietrich Genscher meisterhaft aufgegriffen worden. Und jetzt haben wir Probleme. Aber wer von uns hätte nicht lieber Probleme, die von Erfolgen herrühren, anstelle von Problemen, die aus Mißerfolgen stammen?

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Die Schwierigkeiten, die wir im wirtschaftlichen Bereich jetzt haben, sind uns neulich noch einmal vom Sachverständigenrat aufgeschrieben worden. Eine Belastung, so heißt es dort, für die konjunkturelle Entwicklung erwuchs aus einer um sich greifenden Verunsicherung darüber, ob die Politik überhaupt noch in der Lage ist, mit den anstehenden Herausforderungen fertig zu werden. — Hier liegt nach meiner Überzeugung in der Tat ein entscheidender Punkt. Wir haben es nicht in erster Linie oder gar ausschließlich mit einer Bedarfskrise zu tun. Wir haben es auch nicht in erster Linie oder gar ausschließlich mit einer Finanzkrise zu tun. Wir haben es vielmehr — leider — mit einer tiefsitzenden Vertrauenskrise zu tun. Wieder einmal ist die Stimmung im Lande viel schlechter als die Lage. Die Frage ist, ob es dabei ausschließlich um die Wirtschafts- und Finanzpolitik geht

    (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Sehr gut!) oder ob die Malaise nicht viel tiefer sitzt.


    (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ja!)

    Nach meiner Meinung geht es um die Frage, ob unsere demokratischen Institutionen der gestellten Probleme noch Herr werden können. Anders gefragt, und zwar über Deutschland hinaus: Werden die par-



    Dr. Otto Graf Lambsdorff
    lamentarischen Demokratien westlicher Prägung immer schwerer regierbar oder gar unregierbar? Eigentlich, verehrte Kollegen, ist es doch eine Perversion der parlamentarischen Kontrolle, daß heute nicht die Parlamente, sondern die Regierungen auf Konsolidierung und Ausgabenbegrenzung drängen. Ich formuliere dabei ausdrücklich in der Mehrzahl, will mich aber an Selbstkritik nicht vorbeimogeln.
    Die Meinungsumfragen im Lande zeigen deutlich, was die Menschen zur Zeit von der Bundesregierung halten: sehr wenig. Sie zeigen auch, was sie von der Opposition halten: noch weniger.

    (Franz Müntefering [SPD]: Na? — Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt nicht!)

    Nur, meine Damen und Herren, das kann keinen freuen, und das kann niemandem zu Hohngelächter Anlaß geben, denn die Unzufriedenen neigen sich Leuten zu, die wir nicht hier im Parlament sitzen haben wollen, und das ist unser Problem.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Lennartz [SPD])

    Ich habe in der Mehrzahl formuliert, weil man all die Länder, in denen der Vertrauensverlust ebenso groß ist wie der, den wir bei uns feststellen,

    (Konrad Gilges [SPD]: Und wie ändern wir das?)

    ja gar nicht aufzählen kann. Bei unseren französischen Freunden hat es fast eine Mehrheit gegen Maastricht gegeben, obwohl die Mehrheit der Franzosen für Maastricht ist. In London stimmte die Labour-Opposition gegen Europa, weil sie zwar für Europa, aber gegen John Major ist. In Japan sieht es nicht besser aus. Auf der Bestsellerliste in den USA steht ein Buch mit dem schönen Titel: „ Why americans hate politics" , d. h. warum die Amerikaner die Politik hassen. Ob die Wahl des neuen Präsidenten eine Veränderung bringen wird? Wir wünschen es ihm, wir wünschen es den Amerikanern, und wir wünschen es uns.

    (Zustimmung bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

    Ich will die Gefahren und Risiken im Osten Europas nur der Vollständigkeit halber erwähnen. Wenn es nicht gelingt, den Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu öffnen, dann werden wir alle, aber die Deutschen zuerst und zumeist, die Folgen zu spüren bekommen. Bisher konnten wir den Menschen über die Wintersnöte hinweghelfen, mehr nicht. Nicht einmal die Zeitbombe der gefährlichen Kernkraftwerke in den früheren Ostblockstaaten haben wir entschärft.

    (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Sehr gut!) Nicht einmal das haben wir geschafft!

    Der Bundeskanzler hat die europäische Integration und den Weg zur Europäischen Union gepriesen. Das ist gut so. Wir sind in dieser Hinsicht einer Meinung. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß je eine Präsidentschaft — die britische — von einem Mitgliedstaat so beschimpft worden ist, wie das dieser Tage der Fall war. Der unendliche Streit um die UruguayRunde des GATT hat das Ansehen der Europäischen
    Gemeinschaft — ich bin ganz vorsichtig — nicht gerade gemehrt.
    Europäische Gemeinschaft und Jugoslawien: Das betrachtet die Welt als ein Trauerspiel von Versagen und Uneinigkeit;

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist so!)

    — häufig, Frau Matthäus-Maier, zu Unrecht, denn wer kennt ein Heilmittel gegen die furchtbaren Folgen dieses schrecklichen Nationalismus? Es ist leicht zu sagen „Wir verurteilen das ", aber es ist sehr schwer zu sagen, welches andere Rezept man denn mit Aussicht auf Erfolg und unter hinnehmbaren Kosten — Kosten heißt hier: Menschenopfer — empfehlen könnte.
    Jacques Delors sagte vorgestern wörtlich: Die EG befindet sich in einer schweren Krise. — Er sagte weiter, ein Flicken auf dem Holzbein mache dasselbe nicht lebendig. Ich kann ihm bestätigen, daß er recht hat.

    (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

    Das kann aber auch kein Verkehrsprogramm für 100 Milliarden ECU, die er gar nicht hat. Politik mit OPM, mit other people's money, wie die Amerikaner sagen, d. h. Politik mit anderer Leute Geld, das wird nicht funktionieren. Wer soll das denn bezahlen?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Immer die anderen Leute!)

    Politik werde heute von Politikern gemacht, nicht von Staatsmännern oder Staatsfrauen, hat William Pfaff in der vorigen Woche in der „Herald Tribune" geschrieben. Das mag hart sein; vielleicht ist es zu hart. — Ja, Herr Bundeskanzler, ich will Sie dabei auch gar nicht ansprechen.

    (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ich habe an der Stelle auch keine Probleme!)

    Es mag zu hart sein, aber ist es deshalb falsch?

    (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: In der gleichen Zeitung lesen Sie das seit 50 Jahren!)

    — Das stimmt nicht. In der gleichen Zeitung hat es sehr positive Ausführungen über Sie gegeben. Da müssen Sie ein paar Nummern überschlagen haben.

    (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

    Die Unzulänglichkeiten der Kommunikation, d. h. des Sich-Verstehens, nicht die technischen Unzulänglichkeiten, wachsen. Einander jagende Gipfel und Räte, Telefon und Fax reichen nicht, wenn der Wille zur Übereinkunft, wenn die Bereitschaft zum Kompromiß und wenn allerdings auch die Basis für Visionen, zum Entwickeln von Konzepten nicht ausreichend gegeben ist. Liegt es daran, daß mit dem Ende der Teilung der Welt die Bedrohung als Bindemittel nicht nur im Bereich der äußeren Sicherheit entfallen ist?
    Die F.D.P. sieht diese gesamtpolitische Entwicklung durchaus nicht ohne Sorge. Deswegen, Herr Bundeskanzler, begrüßen wir ausdrücklich Ihre Absicht, alle nur erdenklichen Mühen darauf zu verwenden, die bestehenden internationalen Institutionen zu stärken und zu festigen.



    Dr. Otto Graf Lambsdorff
    Aber diese Aufforderung richtet sich ebenso an die Opposition. Deutschland darf sich nicht der SPD wegen verweigern müssen, seine internationale Verantwortung — etwa im Bereich der kollektiven Sicherheit — wahrzunehmen.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Sie sind mit Ihrem Parteitagsbeschluß international nicht handlungsfähig und national nicht regierungsfähig.

    (Konrad Gilges [SPD]: Quatsch! Dummes Zeug!)

    Wenn es hier vorhin ein Zwischenspiel über die Position der F.D.P. gab, dann ist klar, daß wir im Jahre 1991 beschlossen haben, die Verfassung zu ändern, und zwar für Blauhelm-Einsätze und für militärische Einsätze unter der Oberaufsicht der Vereinten Nationen.

    (Konrad Gilges [SPD]: Dummes Zeug!)

    Im übrigen führen Sie in der SPD ein Schattenboxen auf, wenn Sie Unterschiede zwischen BlauhelmEinsätzen und anderen Einsätzen machen. Sprechen Sie einmal mit Ihrem sozialdemokratischen Kollegen Lord Owen, der mir vor drei Wochen auseinandergesetzt hat, was Blauhelm-Einsätze in Jugoslawien an Lebensgefahr bedeuten und daß es bei BlauhelmEinsätzen bisher 750 tote Soldaten auf der Welt gegeben hat. Worüber debattieren Sie eigentlich? Sie führen da halbe Scharaden auf!

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Unsere Aufforderung zur Stärkung der Institutionen gilt auch für die Vereinten Nationen, die finanzpolitisch und institutionell handlungsfähiger gemacht werden müssen. Unter diesem Gesichtspunkt müssen auch deutsche Wünsche gesehen werden. Das gilt auch für die NATO, die wir brauchen und deren Ziele und Grundlagen erneuert werden müssen. Ich möchte ausdrücklich unterstreichen, was heute morgen über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und über die Aufrechterhaltung amerikanischer Truppenpräsenz in Europa gesagt worden ist.
    Das gilt noch mehr für die Europäische Gemeinschaft, deren Fortschritte doch unverkennbar sind, die aber trotzdem an Anziehungskraft und an Prestige bei den Europäern verliert.
    Um eine Vertrauenskrise geht es auch in der deutschen Wirtschaft und in unserer Konjunktur. Der seit Jahren bewährte und respektierte Test des IfoInstituts über die Geschäftserwartungen der deutschen Unternehmen zeigt das mit erschreckender Deutlichkeit. Ich habe Ihnen diese Grafik einmal mitgebracht, um zu zeigen, daß ich keine Schwarzmalerei betreibe. Ich habe in der Zeit, in der ich Wirtschaftspolitik betreibe, eine so abfallende Kurve noch niemals gesehen und bitte deswegen, das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

    (Franz Müntefering [SPD]: In der Grafik ist viel blau und gelb! Ist das die LambsdorffKurve?)

    — Es geht ins Lila hinein; es entspricht etwa der Farbe Ihrer Jacke.
    Meine Damen und Herren, in der deutschen Wirtschaft werden — der Bundeskanzler hat das heute besprochen — konstitutionelle Schwächen sichtbar: Sie zeigen sich beim Export, sie zeigen sich bei der Preis- und Kostenentwicklung, sie zeigen sich im umfassenden Verteilungskonflikt oder im falschen „policy-mix" von Geld-, Finanz- und Lohnpolitik.
    Wirtschaftspolitischer Aktionismus macht sich breit und vermindert die Vertrauensbasis. Das, Frau Matthäus-Maier, ist der Grund, warum wir richtigerweise sagen: Steuererhöhungen nicht vor 1995; in 1995 aber wohl unvermeidlich, damit die Leute wissen, woran sie sind.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir werden sehen!)

    Ebenso ist es richtig, Steuermindereinnahmen nicht durch weitere Einsparungen, sondern durch zusätzliche Kreditinanspruchnahme zu beheben, weil man sonst prozyklisch handeln würde; das bestätigt uns das Wirtschaftsinstitut des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
    Weiterhin haben wir gesagt — wir verhehlen es ja gar nicht; es ist auch notwendig, es zu sagen —, daß eventuell, wenn die Straßenverkehrsabgaben, über die wir in Brüssel verhandeln, bei der Bahnreform nicht ausreichen, eine Erhöhung der Mineralölsteuer für den Zweck der Reform von Bundesbahn und Reichsbahn notwendig ist, jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann.

    (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Das werden wir nicht verschweigen.

    Ich will Ihnen noch eines sagen — da haben Sie recht, Frau Matthäus-Maier —: Wir wollen die Investitionspauschalen für die Kommunen 1993 erneuern,

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!)

    aber — ich verweise auf das, was der Bundeskanzler vorhin gesagt hat — mit den Ländern zusammen. Alles nur aus der Kasse des Bundes allein zu finanzieren geht nicht!

    (Franz Müntefering [SPD]: Jetzt können Sie die Lambsdorff-Kurve wieder wegschikken!)

    — Das ist nicht meine Kurve; ich bin nicht das If o-Institut.
    Angesichts der Kostendynamik und angesichts der finanzpolitischen Anspannung kann sich eine Lage zusammenbrauen, die den Alptraum der Ökonomen darstellt: Rezession bei steigenden Preisen und Zinsen, höhere Steuern und höhere staatliche Kreditaufnahme. Dann würden die Haushaltsprobleme unlösbar. Dann, Herr Schäuble, würden wir — wie Sie heute morgen mit Recht befürchtet haben — noch höhere Zahlen von Arbeitslosen — die zum Teil ohnehin ins Haus stehen — zu erwarten haben.
    Dabei stellt sich die Frage, jedenfalls für mich — erlauben Sie mir einen Augenblick eine Abschweifung von den Problemen Deutschlands —: Werden die Marktwirtschaften weltweit eigentlich überhaupt mit der Arbeitslosigkeit fertig? 30 Millionen bis 35 Millionen Arbeitslose in der Europäischen Gemeinschaft;



    Dr. Otto Graf Lambsdorff
    überall, wo Sie hinsehen, entweder verdeckte Arbeitslosigkeit — Beispiel Japan — oder offene Arbeitslosigkeit und steigende Arbeitslosigkeit: USA. Schaffen es die Marktwirtschaften? Die Staatswirtschaften haben es jedenfalls nicht geschafft.
    Oder, meine Damen und Herren — hier komme ich auf das zurück, was Herr Schäuble heute bedenkenswerterweise gesagt hat —, überfordern wir allesamt mit unseren Ansprüchen — noch vor dem Hintergrund einer Bevölkerungsexplosion mit wachsenden Menschenzahlen — die Leistungsfähigkeit und das Bruttosozialprodukt, das, was überhaupt erwirtschaftet werden kann? Werden wir weitere Arbeitslosigkeit produzieren, wenn wir uns nicht endlich etwas mäßigen, nicht nur in Deutschland, auch anderswo, bei uns aber, glaube ich, zuerst?

    (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Es muß nicht zu einem solchen Horrorszenarium kommen. Zum größten Teil haben wir die Dinge selbst in der Hand.
    Umkehr ist geboten, vor allem in der Lohnpolitik, vor allem aber auch in der Finanzpolitik, nicht in erster Linie der des Bundes — da ist die Umkehr eingeleitet —, wohl aber bei Ländern und Gemeinden. Ordnungspolitische Konsistenz und wirtschaftspolitische Verläßlichkeit müssen wieder den Kurs prägen.
    Die Dimension der öffentlichen Transfers aus dem Westen Deutschlands in den Osten Deutschlands wird im historischen Vergleich deutlich: Wir transferieren heute 80 % des Bruttoinlandprodukts der fünf neuen Bundesländer. Die Marshallplanhilfe lag damals im Westen bei 2 % des Bruttoinlandproduktes der alten Bundesrepublik. Das sind im historischen Vergleich unsere Leistungen, die wahrlich nicht unter den Scheffel gestellt werden müssen.
    Herr Klose — er ist jetzt leider nicht hier — hat beklagt, es gebe zuwenig private Investitionen. Ich teile diese Klage. Aber private Investitionen können Sie nicht befehlen; die Leute investieren nur, wenn sie Aussicht auf Ertrag haben, denn investieren heißt, sein eigenes Geld zu riskieren.
    Ich empfehle Herrn Klose, bevor er über die Anwendung japanischer Technologie im Opel-Werk in Erfurt in Klagen ausbricht, sich auf die Reise zu machen und dorthin zu gehen. Ich habe aber vorsichtshalber nach seiner Rede angerufen: Wie in allen Automobilfabriken wird in der Frage der Arbeitsabläufe, der Arbeitsorganisation heute auf japanische Beispiele zurückgegriffen; das habe ich in der vorigen Woche bei Seat in Barcelona gesehen, und das können Sie auch in Erfurt sehen.

    (Zurufe von der SPD: Ich dachte, das sei in Eisenach! — Wo haben Sie denn jetzt angerufen?)

    — Angerufen habe ich in Rüsselsheim; es ist immer besser, man ruft in der Zentrale an. — Sie haben recht: natürlich in Eisenach. Sie können sich dort ansehen, daß bei dieser Neuinvestition in erster Linie bewährte Opel-Technologie angewandt worden ist.
    Meine Damen und Herren, es ist wichtig, festzustellen, daß die Kapitalmärkte ihr Vertrauen in die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht verloren haben. Aber das Vertrauen muß jetzt auch honoriert werden, und nicht zuletzt von uns. Bundesregierung und Koalition haben reagiert. Ich weiß, daß unsere Vorschläge nicht populär sind; sie können es auch nicht sein. Aber sie sind notwendig, damit Schaden auf Dauer vom Deutschen Volke abgewandt wird.
    Nicht nur der Bund ist gefordert; Länder und Gemeinden müssen eingebunden werden. Die Anstrengungen des Bundesfinanzministers auf diesem Gebiet, Herr Waigel, haben unsere volle Unterstützung. Zur Hilfe, zur Unterstützung der neuen Bundesländer sind zur Zeit unkonventionelle Maßnahmen erforderlich. Aber entgegen weit verbreiteter Ansicht behaupte ich — und dies mit Nachdruck —: Es gibt nur eine Unausgewogenheit, und es gibt nur eine Gerechtigkeitslücke, und das ist die viel zu hohe Arbeitslosigkeit.
    Wenn der Solidarpakt am Ende daraus bestehen soll, daß keiner dem anderen mehr weh tut als der andere dem einen, dann wird dabei nichts an Ergebnis und nichts an Wirkung erzielt werden. Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß" ist diese Operation nicht zu haben, meine Damen und Herren.
    Die viel zu hohe Arbeitslosigkeit ist die Gerechtigkeitslücke. Was der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dient, das müssen wir tun. Was die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verhindert, das muß unterbleiben. Umkehr ist deshalb auch in der Lohnpolitik geboten. Die Ankündigungen der Gewerkschaften geben zum Teil Anlaß zur Hoffnung.
    Es geht den Deutschen — meine Damen und Herren, stellen wir das hier doch einmal fest — seit 40 Jahren fast ununterbrochen gut und immer wieder besser.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ja!)

    Es ist vielleicht kein Trost, aber doch ein nötiger Hinweis, daß Finnen, Schweden, Japaner, ganz zu schweigen von Polen, Ungarn und Tschechen reale Einkommensverluste hinnehmen müssen, die weitaus höher sind als das, was uns vielleicht bevorstehen könnte.
    Im übrigen müssen wir jetzt zum erstenmal in der Geschichte des demokratischen Deutschland beweisen, daß unsere Demokratie Einkommenseinbußen

    (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Nein, nur Stillstand!)

    ebenso standhält wie rechten und linken Gewalttätern.

    (Beifall bei der F.D.P.)

    Diesen Test haben wir nämlich noch nicht bestanden.
    Die Gewalt in Deutschland erschreckt tief. Herr Bundeskanzler, Sie haben leider nicht recht, wenn man es ganz wörtlich nimmt. Deutschland — so haben



    Dr. Otto Graf Lambsdorff
    Sie gesagt — ist immer noch eine erste Adresse in der Welt.
    In der vorigen Woche war ich in Bangkok; die Touristen sagen ihre Reisen hierher ab, weil sie Angst haben zu kommen. Der deutsche Mitarbeiter eines Unternehmens fürchtet seine Rückversetzung in die Heimat, weil er Angst hat, seiner afrikanischen Ehefrau könnte in Deutschland etwas zustoßen. Und nun der dreifache Mord von Mölln.
    Wer jetzt noch erklärt, meine Damen und Herren, wer jetzt gar noch entschuldigt, der macht sich mit Mördern gemein.

    (Beifall bei der F.D.P. und der PDS/Linke Liste — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das hat mit Entschuldigung nichts zu tun!)

    Ich bitte alle unsere Mitbürger: Helfen Sie der Polizei bei der Bekämpfung der Verbrechen, beim Aufspüren der Verbrecher. Ich begrüße es dankbar — vielleicht hätte auch ein Unternehmen mit deutschen Eigentümern auf den Gedanken kommen können —, daß die Firma „Opel" zur Ergreifung der Täter 100 000 DM ausgesetzt hat.
    Im übrigen, Herr Bundeskanzler, haben Sie die Kriminalität beklagt. Ich will Ihnen das nur an einem Beispiel vorexerzieren dürfen, nämlich beim KfzDiebstahl, der unglaublich zugenommen hat. Erstens: Die Kraftfahrzeugindustrie weigert sich, die notwendigen technischen Vorkehrungen einzubauen, weil die Autos, die es heute gibt, dadurch teurer und wettbewerbsunfähiger werden.
    Zweitens. Das Kraftfahrt-Bundesamt läßt diese so ungenügend gesicherten Fahrzeuge trotzdem als für den Verkehr sicher zu. Die Versicherungswirtschaft bietet an, ein Auto, das vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Kauf geklaut wird, zum vollen Neuwert zu ersetzen. Folglich werden nur Autos geklaut, die nicht älter als 18 Monate sind. Das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen hält sich für unzuständig, dagegen etwas zu unternehmen.
    Der Bundesgrenzschutz — Herr Bundeskanzler, das sind wir — bewacht die Grenze nach Polen, über die diese Waren verschoben werden — es heißt ja: heute gestohlen, morgen in Polen —, nicht ausreichend. Gehen Sie bitte in die Mitte von Frankfurt an der Oder, und sehen Sie sich den Straßenübergang an der Oderbrücke an! Lassen Sie sich von dem wachhabenden Polizeioffizier erzählen, wie dort die Autos reihenweise über die Oder nach Polen gefahren werden und die Polizei überhaupt keine Möglichkeit hat, weil ihr die technischen Vorrichtungen fehlen, dem abzuhelfen!
    Wir sollten nicht immer nur über alles klagen, wir sollten uns endlich mit den Betroffenen zusammensetzen, um dieser Biesterei abzuhelfen. Ich habe es neulich auch im Bundesvorstand meiner Partei gesagt: Was sind wir eigentlich für eine Regierung, in was für einem Staat leben wir eigentlich, daß wir diesen Zustand einfach so weitersausen lassen?

    (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, der Solidarpakt ist darauf angelegt, die wirtschaftlichen Gefahren einzugrenzen und den Anpassungsprozeß im Osten voranzubringen. Er kann gelingen, wenn jeder seine Verantwortung wahrnimmt: die Tarifpartner für die Löhne und für die Beschäftigung und der Staat für günstige gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen. Wenn beide so verfahren, dann gibt es auch Raum für Entspannung in der Geldpolitik, für sinkende Zinsen.
    Nach dem zehnjährigen, durch Stabilität geprägten Aufschwung im Westen Deutschlands sind die Strukturen bei uns nicht aus dem Lot geraten. Es ist wichtig, das festzuhalten. Das gibt Anlaß, mit Zuversicht nach vorne zu blicken.
    Wir werden die deutsche Einheit vollenden können, wenn wir an der wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik festhalten: mehr produzieren und danach mehr verteilen — nur in dieser Reihenfolge geht es —, nicht die Staatswirtschaft fortsetzen, sondern Privatisierung und Marktwirtschaft durchsetzen. Das ist das Rezept, das der Bundesrepublik in der Zeit seit 1948 so großen Erfolg beschert hat.
    Die Soziale Marktwirtschaft und eine liberale Wirtschaftspolitik haben den Menschen in Westdeutschland ein Ausmaß von Wohlstand und sozialer Sicherheit gebracht, von dem unsere Eltern und Großeltern zu träumen nie auch nur gewagt hätten. Das werden wir mit dem Fleiß der Arbeitnehmer, der Initiative der Unternehmer und einer verantwortungsbewußten Politik der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. auch für das wiedervereinte Deutschland schaffen. Dann, Herr Bundeskanzler, werden auch die nächsten zehn Jahre gute Jahre für Deutschland sein.
    Ich bedanke mich fürs Zuhören.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rolf Schwanitz das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Rolf Schwanitz


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein Fraktionskollege Rudi Walther hat gestern in der Geschäftsordnungsdebatte in seiner ihm — vielleicht auch als Haushälter — eigenen Bescheidenheit und Vornehmheit gesagt, daß der Haushalt 1993 zuwenig Mittel für die neuen Bundesländer beinhaltet. Sie werden verstehen, daß ich als ostdeutscher Abgeordneter die Situation ein wenig dramatischer sehe.
    Die Bundesregierung hat einen Haushalt vorgelegt, bei dem klar ist, daß er nur wenige Monate so unverändert bleiben wird, bei dem klar ist, daß zuwenig Zeit für wichtige Detailfragen war. Ich möchte beispielsweise auch gern wissen, was der CDU-Kollege Dehnel den Menschen in seinem Wahlkreis sagt, wenn er dort begründen muß, daß für den Aufbau Ostdeutschlands die Mittel aus dem Etat der Wismut-Anstalt um 200 Millionen DM gekürzt werden. Das sind Fragen, die natürlich besprochen werden müssen.
    Diesen Haushalt verkauft die Bundesregierung in der Öffentlichkeit gleichzeitig — da wird es für mich natürlich interessant — als Wohltat für die neuen Bundesländer. Dies alles geschieht — ich sage das



    Rolf Schwanitz
    ohne Polemik — vor dem Hintergrund, daß der Bundeskanzler auf dem CDU-Parteitag von der Stunde der Wahrheit geredet hat.

    (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Es war ja auch nur eine Stunde!)

    Die Bürger im Land — ich meine die Bürger in beiden Teilen unseres Landes — haben diese Ankündigungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich bin sicher, daß der Umfang an Enttäuschung und das Ausmaß an Politikverdrossenheit in der Bevölkerung noch nicht so groß sind, daß wir die nationale Herausforderung, wie sie sich beim Aufbau Ostdeutschlands stellt, nicht mehr bestehen können.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Die Menschen haben nicht die Mentalität eines Drükkebergers, wie ich dies heute so halb den Worten des Bundeskanzlers entnehmen konnte. Ich weigere mich, dies verallgemeinernd anzunehmen. Es geht darum, für die Menschen Chancen zu schaffen. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung, und dies muß geleistet werden.
    Wenn diese Stunde der Wahrheit aber nun erneut eine Worthülse bleibt und nicht zu einer Kraftanstrengung neuer Qualität sowie einem gerechten Aufteilen der Lasten führt, wird nicht nur das Solidaritätsgefühl der Deutschen nachhaltig beschädigt. Unvermeidbar sind dann auch soziale Spannungen in Ostdeutschland in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß.
    Ich begrüße deshalb ausdrücklich die nun angekündigte Umkehr zur Wahrhaftigkeit und warne gleichzeitig vor einem neuerlichen Versagen vor den Augen der Menschen, so wie sich das mit dem Haushalt, den wir heute beraten, offensichtlich anbahnt.
    Zur Stunde der Wahrheit gehört mehr als der bloße Umgang mit dem Wort. Das Bekenntnis zur Wahrheit verpflichtet in erster Linie zur nüchternen Analyse, zur ungeschminkten Bestandsaufnahme dessen, was war und was versäumt worden ist. Da steht für mich an erster Stelle eine verfehlte Treuhandpolitik. Die Treuhandanstalt ist in Ostdeutschland zu einem Synonym für Arbeitsplatzabbau, für Entindustrialisierung und für Plattmachen von ostdeutschen Industrien geworden.
    Die Angestellten der Treuhandanstalt werden als Gegner der Belegschaft in Treuhandbetrieben empfunden. Dabei setzen sie ja nur um, was die politische Instanz — in diesem Fall der Bundesfinanzminister — dort als Marschroute vorgegeben hat.
    Die Theorie, daß allein durch eine schnelle Privatisierung die ostdeutsche Wirtschaft gesunden könne und man deshalb die Betriebe nur kurzfristig mit geringfügigen Transfusionen am Leben erhalten müsse, hat sich als tragischer Irrtum erwiesen. Natürlich begrüßen wir es, wenn CDU-Generalsekretär Hintze, wie gestern im „Handelsblatt" nachzulesen war, nun auch industriepolitische Maßnahmen vor allem für sogenannte industrielle Kernbereiche ankündigt. Was sagen Sie aber, Herr Bundeskanzler, den Tausenden von Arbeitslosen, für die dieser Umkehrungsprozeß zwei Jahre zu spät kommt?
    Wie viele Arbeitsplätze sind in Treuhandbetrieben abgebaut worden, obwohl das Unternehmen als sanierungsfähig eingestuft worden war? Wie viele Leute sind dadurch auf die Straße geflogen, daß sich der Käufer des Unternehmens nicht an die vertraglich vereinbarten Arbeitsplatzgarantien gehalten und die Treuhandanstalt tatenlos zugesehen hat?
    Was sagen wir den Leuten in Gera, wo heute der größte Arbeitgeber die öffentliche Verwaltung ist? Wo liegt dort noch der industrielle Kernbereich? Was sagen wir den noch Beschäftigten in der Zwischenzeit, hat doch Herr Hintze die Umstrukturierung, dieses Umsteuern an den noch ausstehenden Nachtragshaushalt geknüpft? Das soll ja laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" von gestern wohl erst im Mai 1993 stattfinden.
    Was wird in der Zwischenzeit? Einem Tickerdienst von heute morgen 6 Uhr ist zu entnehmen, daß der Sprecher der Treuhandanstalt 70 000 Entlassungen bis zum Jahresende angekündigt hat. Ist das die Wahrheit über die Ankündigung der Sanierung?

    (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Was soll er denn tun?)

    Herr Bundeskanzler, die Botschaft kann nur heißen: Ja, wir wollen die Sanierung der noch verbliebenen sanierungsfähigen Unternehmen, und wir tun in der Zwischenzeit alles, um zu halten, was noch zu halten ist. Der Absturz in Ostdeutschland muß verhindert werden. Das wäre eine Botschaft, die die Arbeitnehmer aus dieser Debatte als Hoffnung mitnehmen könnten.
    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist zu dieser und anderen dringend erforderlichen Umsteuerungen jedoch nicht bereit. Die Voraussetzung hierfür wäre u. a. eine endgültige Beseitigung der Investitionsblockade bei den offenen Vermögensfragen. Noch immer ist das Restitutionsdogma ein Bremsklotz für die Entwicklung der Kommunen und des ostdeutschen Mittelstands sowie eine Ursache für überhöhte Verwaltungskosten.
    Noch immer wartet der Bundestag gemeinsam mit den Tausenden von Anspruchsberechtigten auf das schon im Einigungsvertrag angekündigte Entschädigungsgesetz. Wann wird, Herr Bundeskanzler, dieses Dauerthema der offenen Vermögensfragen wenigstens vollständig mit einer rechtlichen Regelung ausgefüllt sein? Hierauf hätten die Menschen im Lande gern eine Antwort gehabt.
    Eine Umsteuerung findet ferner bei der Arbeitsmarktpolitik nicht statt. Im Gegenteil: Statt unseren Ansatz der stärkeren Verzahnung der Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik endlich konsequent aufzugreifen und ein Programm „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" vorzulegen, soll das Instrument des Arbeitsförderungsgesetzes ab 1. Januar 1993 gekürzt werden, und dies bei anhaltend hohen Arbeitslosenzahlen im Osten und bei einer wachsenden Arbeitslosigkeit im Westen Deutschlands.
    Natürlich hat die Bundesanstalt für Arbeit einen zusätzlichen Milliardenbetrag verausgabt, der durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden mußte. Die Bundesregierung bräuchte sich jedoch nur dazu durchzuringen, eine Arbeitsmarktabgabe für Selbständige, Beamte, Minister und Abgeordnete zu



    Rolf Schwanitz
    erheben, um dieses Haushaltsloch sozial gerecht zu schließen. Vor dieser Wahrheit, Herr Bundeskanzler, verschließen Sie jedoch nach wie vor die Augen.
    Noch einige Bemerkungen zu einer existentiellen Frage für die Menschen in unserem Land, zur Wohnungsfrage. Finanzminister Waigel hat gestern zu den Altschulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft ein paar interessante Bemerkungen gemacht. Er hat sinngemäß gesagt, daß die Altschulden, die einen Betrag von 350 DM pro Quadratmeter übersteigen, an einen Fonds gegeben werden sollen. Dieser Fonds soll dann bezüglich seiner Zinslast durch den Bund und die neuen Bundesländer ausgeglichen werden. Die Tilgung soll durch die Unternehmen erfolgen, wobei eine Privatisierung der Wohnungen als Quelle für diese Tilgungsleistungen empfohlen wurde.
    Das soll offensichtlich heißen, daß nicht nur die Schulden bis 350 DM pro Quadratmeter bei den ostdeutschen Wohnungsunternehmen bleiben. Nein, auch über diese Grenze hinaus bleiben die Unternehmen für die Tilgung und damit für den Schuldenberg verantwortlich. Der Bund denkt offensichtlich nur an eine befristete Unterstützung bei einem Teil der Zinsen. Mieterhöhungen für diesen notwendigen Kapitaldienst — etwa ab 1995, wie das schon gestern in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" angedeutet worden ist — wären dann wohl unvermeidbar.
    Statt dessen empfiehlt der Finanzminister hierfür weitere Privatierungen, also einen Kapitaldienst aus der Substanz der Wohnungswirtschaft. Ich sage ganz klar: Jawohl, privatisiert werden muß, aber bitte dort, wo es sinnvoll und notwendig ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich darf Sie in diesem Zusammenhang an die Äußerungen des Präsidenten des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft erinnern, die er unlängst in Erfurt getan hat. Er sagte, daß von den 1991 insgesamt 87 000 für Privatisierung angebotenen Wohnungen ganze 7 135 Wohnungen verkauft worden sind, an die bisherigen Mieter ganze 614 Wohnungen. Diese Wohnungen sind nicht verkaufbar, weil ein unüberblickbarer Sanierungsaufwand in diese Wohnungen gesteckt werden müßte und die Leute, die in diesen Wohnungen wohnen, natürlich die Mängel am besten kennen.
    Diese Wohnungen sind nicht verkaufbar, weil sie in Neubaugebieten stehen, in denen nach der Plattenbauweise mit einer katastrophalen Infrastruktur gebaut worden ist, weil dies potentielle Gebiete sind, wo sich sozial Schwächere ansiedeln werden, da sich diejenigen, die besser betucht sind, aus diesen Gebieten herauskaufen können. Zurück bleiben diejenigen, die das Geld nicht haben. Wer den Glauben daran hat, dies wäre ein denkbares Käuferpotential, hat entweder keine Ahnung oder lügt sich selbst in die Tasche.

    (Beifall bei der SPD)

    Das Fazit der Waigelschen Vorschläge zu den Altschulden von gestern kann offensichtlich nur heißen: Die Mieter sollen für die Altschulden durch eine Erhöhung der Miete bezahlen, die Wohnungsunternehmen sollen zu einer weiteren Privatisierung gezwungen werden. Dies kommt für die Mieter einer Erpressung gleich nach dem Motto: Kauf' deine Wohnung, oder sie wird verkauft. Für Wohnungsunternehmen werden dadurch Investitionsmittel gebunden, sie werden blockiert. Es muß in die Vergangenheit, nicht in die Zukunft investiert werden.
    Da der Kapitaldienst verständlicherweise von den Wohnungsunternehmen nicht vollständig als Mieterhöhung weitergegeben werden kann, wird die Eigenkapitalausstattung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft angegriffen. Die gestern vollmundig angekündigte Aufstockung der Kreditanstalt für Wiederaufbau läuft ins Leere, wenn diese Unternehmen durch fehlende Eigenmittel die Fördertöpfe nicht mehr in Anspruch nehmen können.
    Meine Damen und Herren, es gibt keine Alternative zur Entschuldung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen. Die notwendigen Mieterhöhungen — wir alle wissen ja, daß sie mit Bitterkeit getragen werden und daß dies ein entscheidender Einschnitt in die Lebensgrundlage der Menschen dort ist — müssen in eine Sanierung fließen und nicht zu den westdeutschen Banken. Nur wenn die Menschen auch den Verbleib der Mietsteigerungen sehen können, wenn die Verbesserungen der desolaten Wohnbedingungen spürbar sind, sind die Menschen zu höheren Belastungen bereit und können diese verkraften.
    Über ein solches Entschuldungsmodell sollte der Bundesfinanzminister nachdenken. Davon ist jedoch nicht die Rede gewesen, und davon war nichts zu spüren. Ich kann nur hoffen, Herr Bundeskanzler, daß dieser Ansatz, der gestern von Finanzminister Waigel präsentiert worden ist, nicht das abgestimmte Konzept der Bundesregierung ist. Wenn dies jedoch der Fall sein sollte, dann sage ich: Sozialer Friede in Ostdeutschland ade.
    Die Stunde der Wahrheit heißt, nicht nur eine ehrliche Analyse der bisherigen Fehlentscheidungen vorzunehmen, sondern eine Politik der Wahrheit heißt für mich, auch das auszusprechen, was zweifellos unbequem ist, was jedoch Wahrheiten sind, ohne die wir nicht mehr auskommen können. Ich bin froh, daß der Bundeskanzler heute erstmals klarere Worte gefunden hat. Dies gibt mir ein wenig Hoffnung. Dies kann jedoch nur der Anfang sein. Ich will deshalb auch dafür werben, diese bitteren Wahrheiten innerlich anzunehmen, diesen Realitäten nicht weiter davonzulaufen.
    War es nicht so, daß die deutsche Einheit 1990 und 1991 auch ein Konjunkturprogramm für den Westen Deutschlands war? Ist denn der Eindruck falsch, daß sich die Wirtschafts- und Währungsunion für Unternehmen aus der Altbundesrepublik in erster Linie in einer Ausdehnung des Absatzmarktes niedergeschlagen hat, daß neue Arbeitsplätze im Westen entstanden sind, daß die Unternehmen hohe Umsätze machten und auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in Westdeutschland hohe Einnahmen verbucht werden konnten?
    Gewiß, die Konjunkturlage hat sich seitdem im Westen verändert. Aber wir müssen den Menschen die volle Wahrheit sagen. Dazu gehört auch der Hinweis darauf, in welchem Umfang in diesem Land



    Rolf Schwanitz
    bereits Nutzen aus der deutschen Einheit gezogen worden ist, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Nur wenn wir den Menschen sagen, was sie davon hatten und daß gerade im inneren Zusammenwachsen unsere Zukunft liegt, nur wenn die Menschen nicht weiterhin durch ein einseitiges Betonen von vermeintlichen Gruppeninteressen gegeneinander ausgespielt werden, können das notwendige Solidaritätsgefühl und die Teilungsbereitschaft gefördert werden.
    Zu diesen Wahrheiten gehört auch, daß sich politisches Handeln an den unabweisbaren Bedürftigkeiten orientieren muß. Für mich gehört auch wegen des fortschreitenden industriellen Niedergangs in Ostdeutschland vor allem die Entwicklung der kommunalen Infrastruktur in den Bereich der dringenden Handlungen. Die Entwicklung der Infrastruktur ist nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern auch eine handfeste strukturpolitische Frage. Wenn hierbei nicht in absehbarer Zeit entscheidende Fortschritte gelingen, bleibt Ostdeutschland auch für industrielle Neuansiedlungen größtenteils unattraktiv.
    Die hier vor uns stehenden Bedürftigkeiten sind freilich enorm. Experten schätzen allein den Investitionsbedarf im Bereich der kommunalen Pflichtaufgaben im Vergleich zu westdeutschen Kommunen, also bei der Trinkwasserversorgung, bei der Abwasserfrage, bei der Abfallwirtschaft, auf ca. 400 Milliarden DM. Damit wir uns richtig verstehen: Es sind keine Luxusinvestitionen dabei, die für den Aufbau oder die Attraktivität beispielsweise im Fremdenverkehr in Ostdeutschland natürlich auch erforderlich wären.
    Will man diesen Nachholbedarf, also diesen engsten Bereich, in ca. 25 Jahren ausgleichen, so müßten durchschnittlich 16 Milliarden DM pro Jahr allein in diesem Bereich investiert werden — und dies von ostdeutschen Kommunen, die schon eine beträchtliche Pro-Kopf-Verschuldung mit sich herumschleppen müssen.
    Über die Schulden der Kommunen in Ostdeutschland haben wir heute überhaupt noch nicht geredet. So beträgt die Verschuldung beispielsweise im thüringischen Waltershausen schon 2 000 DM pro Kopf. Das ist mit westdeutschen Kommunen durchaus vergleichbar. Die notwendigen Aufwendungen für Zinsen und Tilgung haben zwar schon Westniveau erreicht, die Steuereinnahmen der Kommunen werden jedoch auch nach der Steuerschätzung 1993 noch nicht einmal ein Viertel der Pro-Kopf-Größe einer Westkommune ausmachen.