Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren! Der brutale Brandanschlag auf zwei Mehrfamilienhäuser in Mölln in der Nacht zum 23. November, dem eine türkische Frau und zwei türkische Mädchen zum Opfer fielen, hat Deutschland erschüttert und die Welt entsetzt. Im Namen des Deutschen Bundestages spreche ich den Familienangehörigen unsere tiefempfundene Anteilnahme aus und sichere ihnen jede nur denkbare Hilfe zu.
Im Namen des Deutschen Bundestages erkläre ich, daß Scham und Zorn über diesen grausamen Höhepunkt der Gewaltwelle, die seit Monaten durch Deutschland brandet, unverzüglich zu entschlossenem Handeln führen werden. Im Namen des Deutschen Bundestages und im Namen der Menschlichkeit fordere ich die zuständigen Behörden auf, alle Energien einzusetzen, um die Täter und ihre Drahtzieher aufzuspüren, sie dingfest zu machen und mit der vollen Härte des Gesetzes zu bestrafen.
Unschuldige Menschen, ausländische Mitbürger, die vielfach seit Jahren unter uns leben, die, wie im Falle der zehnjährigen Jeliz, in Deutschland geboren wurden, dürfen nicht länger in Angst vor terroristischen Verbrechern leben müssen. Die Welt muß wissen, daß die überwältigende Mehrheit der Deutschen weder Haß noch Feindseligkeit gegenüber Ausländern empfindet. Dieser schreckliche Anschlag, wie alle von kranken Gehirnen ausgeheckten und von verblendeten Tätern ausgeführten terroristischen Aktionen, ist auch ein Anschlag auf das moralische Fundament unseres freiheitlich-demokratischen Staatswesens.
Der Deutsche Bundestag appelliert an alle Deutschen, Zeichen der Solidarität mit den Opfern und Zeichen der Verteidigung der Menschlichkeit zu setzen.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Lummer feierte am 21. November seinen 60. Geburtstag. Ich spreche ihm nachträglich im Namen des Hauses die besten Glückwünsche aus.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen an das Gemeinschaftsrecht sowie zur Änderung anderer Gesetze
— Drucksache 12/3773 —2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zollrechtsänderungsgesetzes
— Drucksache 12/3734 —
Darüber hinaus ist vereinbart, den Tagesordnungspunkt II b — Gesetzentwurf zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche — erst am Freitag ohne Debatte aufzurufen.
Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Die Fraktion der SPD und die Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN haben beantragt, die Tagesordnungspunkte III und IV — zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1993 — von der Tagesordnung abzusetzen.
Zur Geschäftsordnung wird das Wort von dem Kollegen Rudi Walther gewünscht.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie der Herr Präsident schon gesagt hat, beantragt meine Fraktion die Absetzung der zweiten und dritten Lesung des Bundeshaushalts 1993 von der Tagesordnung dieser Woche und die Wiederaufsetzung dann, wenn der Haushaltsausschuß nach Zuleitung einer Ergänzungsvorlage der Bundesregierung gemäß Art. 110 Abs. 3 des Grundgesetzes einen vollständigen Haushalt für das Jahr 1993 zur endgültigen Beschlußfassung im Deutschen Bundestag vorlegen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitglieder des Haushaltsausschusses haben sich ja seit September große Mühe gegeben, den von der
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10324 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Rudi Walther
Bundesregierung damals vorgelegten Entwurf mit gewohnter Sorgfalt und Akribie zu beraten, und dabei durch ungewöhnlich zahlreiche Änderungen den Versuch unternommen, den Entwurf der Bundesregierung einigermaßen realistisch zu korrigieren. Es mußte jedoch beim Versuch bleiben, weil schon während der Beratungen deutlich wurde, daß z. B. die Bundesmittel für die neuen Länder völlig unzureichend sind.
Entsprechende Äußerungen von Bundesminister Möllemann — ist er denn heute morgen schon da? nein! — und dem F.D.P.-Fraktionsvorsitzenden Solms über große Haushaltslöcher aus diesem Grunde waren nicht zu überhören, auch wenn Theodor Waigel dies als abenteuerliche Geschwätzigkeit der F.D.P. abtat und sich beklagte, Kollege Weng, daß er bei der F.D.P. keinen einzigen Finanzpolitiker als Partner habe. Das habe ich im „Handelsblatt" gerade nachgelesen.
Verständlich ist diese Klage jedoch nicht, weil ebenderselbe Theodor Waigel noch vor Beendigung der Beratungen im Haushaltsausschuß weitergehende Entscheidungen der Bundesregierung und die Vorlage eines Nachtragshaushalts schon Beginn des Jahres 1993 ankündigte, Bundesminister Möllemann sogar schon vor Weihnachten; das habe ich gestern im Ticker gelesen, Kollege Waigel. Vor Weihnachten, sagt Möllemann!
Kollege Walther, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen, da die Technik dieses neuen Plenarsaals noch nicht so ganz in Ordnung ist.
Da das Pult nicht angehoben werden kann, bitte ich Sie, gezielter ins Mikrophon zu sprechen, weil die Kollegen Sie sonst nicht verstehen können.
Herr Bundeskanzler, wir beide müssen jetzt einen Buckel machen, damit wir an das Mikrophon herankommen.
Seriöse Haushaltspolitiker müssen sich durch solche Ankündigungen mehr als nur düpiert fühlen. Meine Damen und Herren, das Chaos war noch nie so groß wie jetzt.
Nebulöse Formulierungen wie „föderales Konsolidierungskonzept" — die Bonner Journalisten sagen FKK, also haushalterische Freikörperkultur, oder: wie Theo Waigel — wie immer — einem nackten Mann in die Tasche fassen will — sowie „Solidarpakt" machen dabei die Runde. Ein sogenanntes Konjunkturprogramm ist zusätzlich angekündigt usw. usw. usw. Ich könnte noch jede Menge an Äußerungen hinzufügen.
Heute morgen im Frühstücksfernsehen habe ich Sie, Graf Lambsdorff, auch schon bewundern dürfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus all dem wird deutlich, daß wir es hier mit einem unvollständigen Haushalt zu tun haben.
Das widerspricht Art. 110 des Grundgesetzes, wonach alle voraussichtlichen Einnahmen und Ausgaben in den Haushalt einzustellen sind und auch nicht falsch geschätzt, also unter- oder überschätzt werden dürfen. Übrigens, Herr Bundesfinanzminister, neue Steuerschätzungen brauchen Sie nach dem Sachverständigengutachten ja auch. Die Bundesmittel für die Bundesanstalt für Arbeit werden ebenfalls nicht reichen.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser technischen Umstände bitte ich um Ruhe im Hause; dann ist der Redner zu verstehen.
Meine Damen und Herren, mir liegt fast auf der Zunge, eine Unterbrechung der Sitzung zu beantragen, bis die Technik in Ordnung ist.
Herr Präsident, ich möchte Sie bitten, diese Anregung aufzunehmen und mir das Wort noch einmal zu erteilen, wenn die Technik so in Ordnung ist, daß man mich verstehen kann.
Ich erteile Frau Kollegin Ina Albowitz das Wort.
— Herr Kollege Klose, ich bitte Sie, sich nicht zu erregen. Ich bitte Sie, auch zur Kenntnis zu nehmen, daß nicht nur Sie unter akustischen Schwierigkeiten leiden, sondern auch wir.
Herr Walther, Sie müssen sich entscheiden, ob Sie eine Unterbrechung oder eine Absetzung wollen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10325
Herr Präsident, bei dem Thema, über das ich geredet habe, geht es um eine wichtige Verfassungsfrage; die kann bei diesen unzumutbaren technischen Schwierigkeiten nicht erörtert werden.
Deshalb, Herr Präsident, hatte ich angeregt, Sie mögen die Sitzung so lange unterbrechen, bis die Technik so in Ordnung ist, daß mein Vortrag von jedem Mitglied dieses Hauses verstanden werden kann.
Jetzt ist es auch akustisch hier angekommen. Dann stelle ich diesen Antrag zur Abstimmung. Wer stimmt für eine Unterbrechung? — Danke.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, ich bitte einen Moment um Aufmerksamkeit. Wir haben uns jetzt darauf geeinigt, daß wir die Sitzung um 10 Uhr fortsetzen wollen. Wir hoffen, daß die Techniker bis dahin etwas bewirken können; sie haben allerdings schon in der Nacht vergeblich daran herumgebastelt.
Wenn es nicht gelingen sollte, das Rednerpult zu reparieren, wollen wir versuchen, von den offensichtlich funktionsfähigen Tischmikrofonen aus ab 10 Uhr die Debatte zu führen.
Bis 10 Uhr ist die Sitzung unterbrochen.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort.
Haushaltsdebatten sind ein Kernstück des Parlamentarismus, und es geht bei Haushaltsdebatten gelegentlich sehr lebhaft zu. Gleichwohl bitte ich Sie auch angesichts des Bildes, das wir nach draußen vermitteln, die technischen Schwierigkeiten, die groß genug sind, gemeinsam dadurch überspielen zu helfen, daß wir uns keine allzu laute Geräuschkulisse leisten; sonst funktioniert es nicht. Wir werden versuchen, die Dinge bis morgen einigermaßen in den Griff zu bekommen. Die Jubelartikel über dieses Haus waren angesichts der mangelnden Funktionalität wohl ein bißchen verfrüht.
Da wir vorhin Schwierigkeiten hatten, fangen wir sozusagen von vorne an. Ich erteile das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Rudi Walther.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Der Vorgang, der uns in der letzten Stunde beschäftigt hat, ist symptomatisch für das Thema, über das wir hier sprechen.
Der Haushalt ist ganz offenbar nicht besser als die Anlage, über die wir hier reden müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie schon vorhin dargestellt, beantragen wir die Absetzung der zweiten und dritten Lesung des Bundeshaushalts 1993 von der Tagesordnung dieser Woche und Wiederaufsetzung dann, wenn der Haushaltsausschuß nach Zuleitung einer Ergänzungsvorlage dem Plenum einen ordentlichen Haushalt für 1993 zur Beratung und Verabschiedung vorlegen kann.
Die Mitglieder des Ausschusses haben seit September eifrig, mit Sorgfalt und Akribie, wie das Haushälterart ist, den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf beraten und den Versuch unternommen, durch ungewöhnlich zahlreiche Änderungen den Entwurf der Bundesregierung einigermaßen ordentlich zu korrigieren. Es mußte jedoch beim Versuch bleiben, weil schon während der Beratungen deutlich wurde, daß z. B. die Bundesmittel für die neuen Länder völlig unzureichend sind.Entsprechende Äußerungen von Bundesminister Möllemann und dem Kollegen Solms über große Haushaltslöcher aus diesem Grunde waren nicht zu überhören, auch wenn Theodor Waigel dies als abenteuerliche Geschwätzigkeit der F.D.P. abgetan und sich beklagt hat, daß er bei der F.D.P. keinen einzigen Finanzpolitiker als Partner habe; so nachzulesen im „Handelsblatt"
Verständlich ist diese Klage jedoch nicht, weil ebenderselbe Theodor Waigel noch vor Beendigung der Beratungen im Haushaltsausschuß weitergehende Entscheidungen der Bundesregierung und die Vorlage eines Nachtragshaushalts schon zu Beginn des Jahres 1993 ankündigte. Bundesminister Möllemann hat gestern gesagt, schon vor Weihnachten solle der Nachtragshaushalt eingebracht werden.
Der Generalsekretär der CDU hat gesagt, erst im Mai gebe es einen Nachtragshaushalt. Nun bin ich einmal gespannt, wann der Finanzminister ihn ankündigen wird. Dies sage ich für den — unwahrscheinlichen — Fall, daß Sie unseren Antrag ablehnen werden.Seriöse Haushaltspolitiker, meine Damen und Herren, müssen sich durch solche Ankündigungen mehr als nur düpiert fühlen. Das Chaos — das sage ich noch einmal — war noch nie so groß wie in diesem Jahr.
Nebulöse Formulierungen wie „föderales Konsolidierungskonzept", „FKK", haushälterische Freikörperkultur also, oder — ich wiederhole das — „wie der
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10326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Rudi Walther
Theodor dem nackten Mann in die Tasche greifen will" sowie „Solidarpakt" machen da die Runde. Ein sogenanntes Konjunkturprogramm ist auch noch angekündigt.Aus alledem, meine Damen und Herren, ist zu schließen, daß der jetzt zur Beratung anstehende Haushalt 1993 nur ein Rumpfhaushalt, sozusagen ein potemkinscher Haushalt ist.
Auch die Steuerschätzung ist nach dem letzten Gutachten des Sachverständigenrates überholt. Eine neue Steuerschätzung ist deshalb ganz schnell und dringend nötig und muß vom Bundesfinanzminister vor Verabschiedung des Haushalts 1993 auf den Weg gebracht werden. Es ist aus dem gleichen Grunde schon abzusehen, daß die Bundesanstalt für Arbeit mit ihren Mitteln nicht auskommt.Deshalb verstößt das, was uns in dieser Woche zugemutet werden soll, eindeutig gegen Art. 110 des Grundgesetzes, der verlangt, daß alle zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben so zu veranschlagen sind, daß keine voraussichtlichen Einnahmen und Ausgaben bewußt außer Ansatz bleiben, d. h. auch, weder zu hoch noch zu niedrig geschätzt werden. Eben dies aber ist nach dem vorher Gesagten nicht der Fall. Die politische Funktion des Haushalts, über das parlamentarische Budgetrecht lenkend und kontrollierend auf die Politik der Bundesregierung Einfluß nehmen zu können, würde mißachtet, wenn sich der Bundestag zwingen ließe, über einen nur unvollständigen Rumpfhaushalt zu beschließen.
Der bereits jetzt mehrfach angekündigte Nachtragshaushalt wird von uns als eine nicht hinnehmbare materielle Beeinträchtigung des parlamentarischen Budgetrechts und insoweit auch als ein Rechtsverstoß durch die Bundesregierung angesehen.
Ein Nachtragshaushalt ist seiner politischen Zielsetzung nach eindeutig einer Situation vorbehalten, in der während des Haushaltsvollzugs nach Verabschiedung eines vollständigen Haushalts nicht vorhersehbare Entwicklungen aufgefangen werden müssen. Das Gegenteil ist hier jedoch der Fall.Deshalb fordern wir noch einmal die Absetzung der Beratungen so lange, bis ein ordentlicher Haushalt zur Verabschiedung hier in diesem Hause vorgelegt werden kann.
Dies, meine Damen und Herren, ist auch deshalb dringend notwendig, damit sich endlich Sicherheit und Vertrauen, von der Bundesregierung sträflich verspielt, wieder einstellen können.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Jürgen Rüttgers das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie darüber informieren, daß meine Fraktion wegen des Vorfalls heute morgen eine Sondersitzung der Baukommission beantragt hat. Ich glaube, daß dieser Vorgang in jedem deutschen Unternehmen zu entsprechenden Konsequenzen führen würde,
und meine, daß das auch hier der Fall sein muß.
Lieber Kollege Rudi Walther, es ist wirklich nicht ganz leicht, sich einen Reim auf das Verhalten der Opposition zu machen. Ich habe gestern im Fernsehen gesehen und heute gehört, daß der SPD-Vorsitzende Björn Engholm bereit war — und dies im Gespräch mit dem Bundeskanzler erklärt hat —, beim Solidarpakt mitzuwirken und die Gespräche fortzusetzen. Heute nun will die SPD-Fraktion noch nicht einmal den Haushalt 1993 beraten.
Da muß es nun wohl irgendwo und irgendwie bei Ihnen so etwas wie eine Funkstörung gegeben haben.
Sie geben auf der einen Seite ein Angebot für die Mitarbeit im gemeinsamen Haus ab, wollen aber die erste Schicht schon einmal schwänzen.Meine Damen und Herren, der vorliegende Haushalt ist verfassungsgemäß. Er ist vollständig.
Alle Einnahmen und Ausgaben sind enthalten. Es gibt keine Haushaltslöcher und keine Deckungslücken.
— Sie sollten doch die alte parlamentarische Weisheit kennen: Wahrheiten kann man auch durch noch so lautes Brüllen nicht ungeschehen machen.
Die Eckwerte dieses Haushalts sind solide und verbindlich.
— Es nützt nichts, wenn Sie brüllen, es nützt überhaupt nichts.
Weder an der Ausgabengrenze von plus 2,5 % noch ander Neuverschuldung wird sich etwas ändern. Zusätz-
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Dr. Jürgen Rüttgersliche Maßnahmen für die jungen Bundesländer und entsprechende Einsparungen werden — das ist die Ankündigung der Regierung und der Koalitionsfraktionen — im Rahmen des Solidarpakts festgelegt. Sie ändern nichts an der klaren und soliden Finanzierung dieses Haushalts.Und ein Drittes: Der vorliegende Haushalt ist solidarisch. Er enthält ein Sonderprogramm für den Aufbau der jungen Bundesländer. Jeder muß wissen, daß, würde man dem Antrag der SPD hier folgen, die jungen Länder in eine besonders schwierige Haushaltssituation kämen.
Eine Absetzung des Haushalts hätte eine vorläufige Haushaltsführung zur Folge mit der Konsequenz, daß für den Aufbau in den neuen Bundesländern erheblich weniger Mittel in den ersten Monaten zur Verfügung stünden.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen werden ihre Verantwortung für die soliden Finanzen und einen solidarischen Haushalt wahrnehmen. Wir werden deshalb den SPD-Antrag ablehnen und heute mit den Beratungen über den Haushalt 1993 beginnen.
Frau Kollegin Ina Albowitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der SPDBundestagsfraktion auf Absetzung der zweiten und dritten Lesung des Haushaltsgesetzes 1993 ist weder seriös, noch spricht aus ihm die Sorge um die Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Er ist vielmehr der erste Teil der Komödie, die diese Woche hier gespielt werden soll.
— Von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition! Der Haushalt 1993 ist sorgfältig beraten worden.
— Ja, Sie müssen zuhören. Wenn alle zuhören, geht es hier viel besser.
Wer die Verabschiedung des Haushalts verhindern will, arbeitet gegen den Aufschwung Ost,
gegen die neuen Bundesländer und gegen die wirtschaftliche Entwicklung in Gesamtdeutschland.
Wenn der Haushalt 1993 und das Haushaltsgesetz in dieser Woche im Bundestag nicht beschlossen werden und nicht rechtzeitig zum 1. Januar in Kraft treten, sind alle Investitionsförderungen in den neuen Bundesländern erheblich gefährdet. Eine Absetzung heute und die spätere Beratung würde bei Beachtung der notwendigen Fristen eine nicht zu verantwortende
Verzögerung des Inkrafttretens des Haushalts um mindestens ein Vierteljahr bedeuten.
Die Weichenstellungen im Haushalt 1993 sind eindeutig. Er ist weder verfassungswidrig noch mit 435 Milliarden DM ein Rumpfhaushalt. Rund 92 Milliarden DM sind für die neuen Bundesländer eingestellt. 1,5 Milliarden DM stehen für noch zu beratende Maßnahmen zur Verfügung. Wollen Sie dies alles, meine Damen und Herren von der Opposition, wirklich behindern?
Im übrigen kann ich die ganze Aufregung nicht verstehen. Die Regierung und die Koalitionsparteien tun das, was die Opposition fordert. Sie denken über ein Programm nach, wie der Aufschwung Ost noch stärker intensiviert werden kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die PDS/Linke Liste erkläre ich erstens: Wir stimmen dem Antrag der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu. Zweitens folgen wir der inhaltlichen Begründung, und drittens geben wir kund, daß wir es für eine
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10328 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Dietmar Kellermerkwürdige Form und ein merkwürdiges Verständnis von parlamentarischer Demokratie halten,
wenn dieses Parlament dazu aufgefordert ist, ein Haushaltsgesetz zu verabschieden, wenn hinter den Türen schon an den Grundlagen dieses Gesetzes gesägt wird.
Dieses Spiel machen wir nicht mit, und wir werden auch nicht zulassen, zumindest für uns, daß Teile des Parlaments zur Hilfsorganisation der Regierung degradiert werden.
Darm müssen wir uns nicht wundern, daß im Lande die Politikverdrossenheit zunimmt und das Parlament nicht den Namen hat und nicht den Ruf genießt, den es eigentlich verdient.Wir stimmen dem Antrag zu.
Ich erteile dem Kollegen Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Unverständlichkeit scheint zur Symbolik dieses Hauses zu werden. Auch die Baukommission muß einberufen werden. Aber diese Entscheidung gleicht dem Ungeschick der Regierung, die kleinsten Probleme an den Anfang zu stellen.
Ich denke, in diesem Parlament ist schon viel über Haushalte gestritten worden. Sie, die Sie länger diesem Hohen Hause angehören, können das besser beurteilen als ich. Aber dieser Haushalt ist sicherlich der umstrittenste, den es je gab.
Begriffe wie „Haushaltslüge", „verfassungswidrig", „Rechtsbruch" gehen durch die Öffentlichkeit. Ich denke, meine Damen und Herren, wir sind gut beraten, diese zweite und dritte Lesung zu verschieben und sie erst dann durchzuführen, wenn uns ein realistisches Zahlenwerk vorliegt. Selbst der Bundesfinanzminister glaubt ja nicht an das, worüber hier beraten werden soll. Selbst der Begriff „Beratung" ist für meine Begriffe hier nicht angebracht. Denn der Minister hat ja bereits eine Rede auf seinem Platz liegen, in der er uns begründen wird, wie man auf die künftigen Risiken reagiert. Dieser Haushalt wird der derzeitigen Situation also nicht gerecht.
Ich persönlich habe das Gefühl, daß uns nicht nur die Probleme des Ostens erreicht haben, sondern auch so manche Methode, die mir vertraut erscheint.
Ich fühle mich an eine bestimmte Art der Plandiskussion erinnert.
— Hören Sie sich das bitte an! Sie werden mir als einem Ostdeutschen zugestehen, daß ich gewisse Vergleiche anstellen kann. Ich habe da durchaus ein kritisches Verständnis. Ich möchte Ihnen sagen, welche Art von Plandiskussionen ich erlebt habe: Das sind Phantomdiskussionen gewesen, wo termingerecht ein Plan auf dem Tisch lag, an dem weder die, die ihn ausgearbeitet haben, noch die, die ihn einhalten sollten, jemals geglaubt haben.
In der Schublade des jeweiligen Ministers lag schon der Gegenplan bereit, und jeder wußte, im laufenden Jahr wird es „Planpräzisierungen" geben; so hieß das dann. Sie können die Begriffe hier beliebig austauschen. Das lasse ich Ihrer Phantasie anheimgestellt.
Aber ich denke, Frau Albowitz, wir sollten uns an einer solchen Komödie wirklich nicht beteiligen; da haben Sie völlig recht. Da sind nämlich wir alle beteiligt. Das Parlament sollte wirklich genug Selbstbewußtsein haben, um dieser Regierung an dieser Stelle zu trotzen.
Ich danke Ihnen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Absetzungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich seiner Stimme? — Niemand. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt III auf:Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993
— Drucksachen 12/3000, 12/3541 —Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
Wir kommen zur Beratung der Einzelpläne. Zunächst stimmen wir über drei Einzelpläne ab, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich rufe auf:Einzelplan 01Bundespräsident und Bundespräsidialamt — Drucksachen 12/3501, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Rudi Walther Dr. Klaus-Dieter UelhoffDr. Sigrid Hoth
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10329
Vizepräsident Hans Klein
Wer stimmt für den Einzelplan 01 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Einzelplan 01 ist angenommen.
Ich rufe auf:Einzelplan 02Deutscher Bundestag— Drucksachen 12/3502, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Jochen Borchert Dr. Wolfgang Weng Helmut EstersDer Kollege Helmut Esters möchte für seine Fraktion eine Erklärung zu Protokoll geben. *) Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall.Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 02 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Einzelplan 02 angenommen.Ich rufe auf:Einzelplan 03Bundesrat— Drucksachen 12/3503, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Ernst KastningDr. Sigrid HothWer stimmt für den Einzelplan 03 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich
der Stimme? — Der Einzelplan 03 ist angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 08Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen— Drucksachen 12/3508, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner ZywietzEinzelplan 32Bundesschuld— Drucksache 12/3525 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)Einzelplan 60Allgemeine Finanzverwaltung— Drucksache 12/3529 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Gero PfennigHans-Werner Müller Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)*) Anlage 2 Einzelplan 20Bundesrechnungshof— Drucksachen 12/3520, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Rudolf Purps Roland Sauer Ina AlbowitzZum Einzelplan 60 — Allgemeine Finanzverwaltung — liegen zwei Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die allgemeine Aussprache vier Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren, darf ich den Herrn Bundesminister fragen, ob er bereit ist, vom Platz aus zu sprechen.
— Dann ziehen Sie bitte das Mikrofon hoch, drücken auf den Knopf und warten drei Sekunden. Das ist die moderne Technik, die uns hier geliefert wurde!
Herr Präsident!
— Dieses Mikrofon geht auch nicht.
Meine Damen und Herren, ich bekomme soeben die Mitteilung, daß die Anlage zusammengebrochen ist und kein zusätzliches Mikrofon zugeschaltet werden kann.
Unter diesen Umständen unterbreche ich die Sitzung erneut für eine Stunde.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die Sitzung ist wieder eröffnet. Sie
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10330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Vizepräsidentin Renate Schmidtwird jedoch erneut bis 14 Uhr unterbrochen. Um 12.30 Uhr tagt der Ältestenrat. Er wird dann entscheiden, ob wir uns um 14 Uhr hier treffen oder andernorts.
— Ich verstehe im Moment akustisch leider nichts.
Sie brauchen nicht zu warten. Wir werden uns um 14 Uhr wieder treffen. Ich bitte Sie, auf die Durchsagen zu achten, wo wir uns treffen. Vor 14 Uhr beginnt keine Sitzung.Damit ist diese Sitzung bis 14 Uhr unterbrochen.
Meine Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort. Im Zuge der Geschichte der Menschheit hat es viele technische Entwicklungen gegeben,
und bei vielen technischen Entwicklungen hat es auch viele Probleme gegeben. Wir stellen heute fest: Auch im Computerzeitalter ist das nicht anders. Das haben wir erlebt.
Deswegen haben wir uns nun entschlossen, um den Technikern und Ingenieuren Zeit zu geben, die Anlage in einen Zustand zu versetzen, der uns künftig so etwas, was wir heute erlebt haben, erspart, vorläufig hier zu tagen.
Meine Damen und Herren, ich danke unseren Beamten und unseren Mithelfern, daß sie nach der Entscheidung des Ältestenrates in 40 Minuten das Wasserwerk wieder in Betriebszustand versetzt haben.
Ich bedanke mich auch bei den Vertretern der Medien, die sich schnell wieder hierher orientiert haben.
Die dritten Fernsehprogramme übertragen unsere Sitzung.
Heute morgen war bereits die Behandlung der Einzelpläne 08, 32, 60 und 20 aufgerufen. Dem Herrn Bundesfinanzminister war bereits das Wort zu seiner Rede erteilt worden. Da er sich nicht verständlich machen konnte, gibt es dazu jetzt hier die Möglichkeit. Ich erteile dem Herrn Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Präsident, daß Sie mir nicht nur das Wort, sondern auch den Ton geben, denn das Wort war mir nicht verlustig gegangen.
Ich kann Ihre Redezeit noch nicht einstellen; hier fehlt noch etwas.
Herr Präsident, ich habe Sie verstanden, aber diesmal haben Sie keinen Ton.
Von dem britischen Dichter Aldous Huxley stammt der Satz: Der technologische Fortschritt hat uns lediglich mit wirksameren Mitteln zum Rückschritt versehen. — Nun weiß ich nicht, ob die Rückkunft an diesen vertrauten Ort ein Rückschritt oder ein Fortschritt ist.
Jedenfalls sind wir hier in der Lage, uns unabhängig von der Elektronik zu verständigen, und ich meine, das ist wichtig für die Zukunft.
Warum ist das nun am Vormittag passiert? Mir steht es nicht an, Ursachenforschung zu betreiben. Wichtig ist: Das Mikrophon hat nicht erst dann Probleme gezeigt, als der Bundesfinanzminister herantrat, sondern bereits bei dem von mir sonst geschätzten Rudi Walther.
Das hängt wohl damit zusammen, daß er vor wenigen Wochen ein, wie ich meinte, gutes Interview gegeben hat. Er wurde gefragt, was er zur Finanzierung der deutschen Einheit sage. Er sagte völlig richtig: Das Naturereignis deutsche Einheit war nicht zu planen, natürlich auch die gesamten Folgewirkungen nicht. Das hat die Finanzpolitik vor völlig neue Herausforderungen gestellt. — Auf die Frage, ob der Haushalt 1993 nicht Makulatur sei, hat er so klar wie einsilbig geantwortet: nein.
Herr Bundesfinanzminister, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Walther?
Gleich; nur noch einen Satz. — Wen, geschätzter Kollege Walther, wundert es, daß dann das Mikrophon streikt, wenn Sie 14 Tage später das Gegenteil sagen?
Herr Kollege Waigel, wären Sie bereit, zuzugeben, daß das, was Sie zu Recht zitiert haben, erstens schon viele Wochen alt ist
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10331
Rudi Walther
und daß zweitens seitdem nicht nur die Kollegen Möllemann, Solms und andere, sondern auch Sie selbst einen Nachtragshaushalt angekündigt haben, von dem damals noch niemand etwas wissen konnte?
Ich bin bereit, zu bestätigen, daß Ihr Interview am 11. November 1992 stattgefunden hat.
Ich bin bereit zu sagen, daß ich bereits, als ich im Haushaltsausschuß bei Ihnen vorgetragen habe, auf die Notwendigkeit eines Nachtragshaushalts im nächsten Jahr hingewiesen habe.
Insofern empfinde ich Ihre Ausführungen als Unterstützung für meine Position. Ich bin einem unabhängigen Haushälter, der der Fraktionsspitze seiner Partei sonst keine Verantwortung schuldig ist, für diese Klarstellung dankbar.
Weder Makula noch Dracula halten uns von dieser Debatte ab, meine sehr verehrten Damen und Herren.Ich hatte ja schon erwartet, daß heute das Mikrophon ausfällt. Allerdings hatte ich es erst erwartet, Frau Matthäus-Maier, wenn Sie sprechen.
Da war ich auf einen schrillen Ton gefaßt, und zwar deswegen, weil über das Wochenende etwas passiert ist, was überhaupt nicht in die Fraktionsgeschäftsordnung der SPD paßt: Mein Freund Peter Struck hat meinen Rücktritt verlangt. Es hat mich genauso erschreckt wie die Rücktrittsforderung von Scharping gegenüber dem Bundeskanzler. Auch da sind in Oggersheim starke Reaktionen erkennbar geworden.
Ich hatte das von Ihnen erwartet, Frau Kollegin, weil nach der Fraktionsgeschäftsordnung die Rücktrittsf orderung an den Bundesfinanzminister allein Ihnen zusteht. Es war insofern, glaube ich, von Peter Struck nicht richtig, daß er es Ihnen vorweggenommen hat. Ich hatte erwartet, daß bei der Gelegenheit das Mikrophon aussetzen würde.
Aber dadurch, daß Rudi Walther sich selber untreu wurde, ist das früher passiert.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke mich nochmals beim Kollegen Walther und bei allen Haushältern für eine großartige Arbeit, für eine unglaubliche Arbeitsleistung, die Sie miteinander in den letzten Wochen erbracht haben. Über alleParteigrenzen hinweg verdient dies Anerkennung und Respekt.
— Das kommt darauf an; bei Schumpeter gibt es schon das Chaos, das zur Schöpfung führt.
Da gibt es unterschiedliche Interpretationen. Wenn Sie von 1969 bis 1982 den Haushalt nur annähernd so oft so rechtzeitig eingebracht hätten wie wir,
hätten Sie ein ganz anderes moralisches Recht, sich über Haushalts- und Finanzpolitik dieser Regierung zu äußern.
Obwohl es am Vormittag im neuen Plenarsaal nicht so toll war, will ich auf eine Bemerkung, Herr Kollege Schulz, die Sie gemacht haben, antworten. Kritik ist notwendig, und jeder von uns muß sich Kritik gefallen lassen. Aber den Vergleich mit Inszenierungen von früheren Machthabern in Deutschland mit jetzt lasse ich mir nicht gefallen.
Herr Kollege Schulz, gerade jemand wie Sie, der aus der demokratischen Revolution hervorgegangen ist, sollte so etwas nicht tun. Sie erweisen damit dem, was Sie und Ihre Freunde und alle zusammen damals geleistet haben, keinen guten Dienst. Ein solcher Vergleich ist nicht nur nicht gut, er ist schäbig.
Sie sollten das bleibenlassen. Sie können dieses Parlament bei aller Kritikwürdigkeit und diese Regierung bei aller Kritik, die sie verdient, nicht mit Inszenierungen von Machthabern früherer Zeit und anderer Provenienz in Deutschland vergleichen.
Gerade Sie, Herr Kollege Schulz, und alle Kolleginnen und Kollegen aus den jungen Bundesländern müssen wissen: Wenn dieser Haushalt nicht verabschiedet wird, dann ist eine vorläufige Haushaltsführung notwendig, und dann wird es nicht möglich sein, einen Teil der Ausgaben und Investitionen zu bedienen, die sonst von Anfang an stattfinden könnten.
Das ist die Realität, der Sie sich stellen müssen.
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10332 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Bundesminister Dr. Theodor WaigelMeine Damen und Herren, der Bundeshaushalt 1993 ist vollständig. Nach all dem, was Rudi Walther zu diesem Thema gesagt hat, möchte ich dazu noch etwas anfügen: Der vorliegende Entwurf des Bundeshaushalts 1993 enthält, wie es Art. 110 Abs. 1 des Grundgesetzes vorschreibt, „alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes". Was an zusätzlichen Ausgaben seit Abschluß des Regierungsentwurfs im Sommer dieses Jahres zwingend zu finanzieren war, wurde in den Haushalt aufgenommen. Darüber hinaus haben wir durch Einsparungen und Umschichtungen neue Ausgabenspielräume zugunsten der jungen Bundesländer erschlossen.Unvorhersehbare Einnahmeausfälle auf Grund der konjunkturellen Neubewertung durch die wirtschaftswissenschaftlichen Sachverständigen und durch die Steuerschätzung haben wir zum Teil durch andere Einnahmen, zum Teil durch eine konjunkturell richtige — um 5 Milliarden DM auf 43 Milliarden DM erhöhte — Kreditaufnahme ausgeglichen.Auf der Ausgabenseite mußten wir im Bundeshaushalt 1993 seit der Vorlage des Regierungsentwurfs erhebliche Mehrausgaben von insgesamt 6,7 Milliarden DM ausgleichen — vor allem durch höhere Kosten bei den Gewährleistungen, beim Investitionsprojekt Jamburg und beim Kreditabwicklungsfonds. Dem stehen Einsparungen bei Schätzansätzen und zusätzliche Kürzungen von insgesamt 8,2 Milliarden DM gegenüber. So haben wir im Verkehrshaushalt allein 0,5 Milliarden DM und bei den Verteidigungsausgaben 0,7 Milliarden DM eingespart. Durch die Einsparungen und Umschichtungen konnten nicht nur die zwangsläufigen Mehraufwendungen gedeckt, sondern auch zusätzlicher Spielraum von 1,5 Milliarden DM für die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland gewonnen werden.Unser Haushalt ist vollständig und ausgeglichen. Wer aus wünschenswerten und notwendigen zusätzlichen Maßnahmen „Haushaltslöcher" konstruiert, verwischt die wahren Zusammenhänge und zerstört die begriffliche Klarheit. Wir können nicht über die gemeinsamen Aufgaben mit Aussicht auf Erfolg diskutieren, wenn diese Haushaltsdefinition nicht beachtet wird.Übrigens, wer diesen Haushalt für verfassungswidrig hält, der möge möglichst schnell in Karlsruhe klagen. Ich fordere Sie dazu auf.Zusätzliche Maßnahmen zugunsten der jungen Bundesländer über den Haushalt hinaus, wie wir sie im Grundsatz beschlossen haben, gibt es nur bei zusätzlichen Einsparungen. Das ist unser Verständnis eines ausgeglichenen Haushalts. „Bezahlt wird mit dem Rotstift", wie der Korrespondent des Bonner General-Anzeigers Peter Velte letzte Woche zutreffend und trefflich formulierte.Die Forderung der SPD, die Haushaltsberatungen zu verschieben, gehört fast schon zur Routine. Ich möchte Sie dringend bitten, diese Aufforderung zum Verfassungsbruch künftig zu unterlassen, denn in Art. 110 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es klipp und klar:Der Haushaltsplan wird für ein oder mehrereRechnungsjahre ... vor Beginn des ersten Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festgestellt.Wenn wir uns dem Grundgesetz unterwerfen, können wir nicht immer alles, was sich später an Veränderungen ergibt, im pünktlich vorgelegten Haushaltsgesetz berücksichtigen. Die SPD hat es sich da in ihrer Regierungszeit leichter gemacht. Sie hat das Risiko nachträglicher Änderungen so weit wie möglich ausgeschlossen, indem sie in 13 Jahren nur einmal ein Haushaltsgesetz pünktlich verkündet hat. Bei Ihnen, meine Damen und Herren, war der Haushalt jeweils der Nachtragshaushalt. Das unterscheidet Ihre Finanzpolitik von unserer Finanzpolitik.
Die Opposition wirft uns vor, wir hätten früher auf die Veränderung der wirtschaftlichen Daten reagieren müssen. Dazu will ich nur die folgenden Fakten nennen: Im Sommer, als der Regierungsentwurf für den Haushalt 1993 vorgelegt wurde, ging die OECD noch von einem realen Wachstum des Bruttosozialprodukts im Jahr 1993 von 2,3 % in Westdeutschland aus. Im August dieses Jahres schätzte die Bundesbank den Zuwachs auf 2 %. Der Internationale Währungsfonds rechnete noch in seinem World Economic Outlook vom Oktober mit einem Wachstumsgewinn für Westdeutschland von ebenfalls 2 %.Nun haben die Experten ihre Prognosen deutlich nach unten revidiert, eine neue Steuerschätzung liegt vor, und wir haben daraufhin unseren Haushalt entsprechend angepaßt. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Ich habe im übrigen schon seit Monaten auf die Möglichkeit verringerter Einnahmen hingewiesen. 1 % weniger Wachstum bedeutet 7 bis 8 Milliarden DM an Steuerausfällen für die öffentlichen Haushalte.Darum, meine Damen und Herren, ist es so wichtig, über Wachstum und über Wachstumsgrundlagen zu sprechen und nicht nur über Verteilung. Wir können nur verteilen, was wir vorher durch Wachstum erwirtschaftet haben.
Im übrigen liegen alle Verschuldungs- und Defizitzahlen der Sondervermögen klar auf dem Tisch. Sie werden nicht versteckt und nicht verheimlicht, sondern z. B. in allen Antworten auf parlamentarische Anfragen der SPD oder der GRÜNEN nüchtern ausgewiesen.Mit unserer Finanzpolitik halten wir uns exakt an unsere eigene Planung. Unter den sieben großen Industrieländern war Deutschland nach einer aktuellen Übersicht der OECD in den Jahren 1990 und 1991, also unmittelbar nach der Wiedervereinigung, das einzige Land, das seine geplanten Haushaltsdefizite im Vollzug noch deutlich unterschritt. Auch im Jahr 1993 wird die Kreditaufnahme mit 43 Milliarden DM noch unter dem Betrag liegen, der im ursprünglichen Finanzplan mit rund 45 Milliarden DM vorgesehen war.Meine Damen und Herren, was soll man eigentlich anders machen? Wenn im Mai eine Steuerschätzung kommt, die uns 7 bis 8 Milliarden DM Mehreinnah-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10333
Bundesminister Dr. Theodor Waigelmen für 1993 verheißt, und wir sie nicht verwenden, um Ausgaben zu erhöhen, sondern um die Nettokreditaufnahme auf 38 Milliarden DM herunterzusetzen, und wenn ein halbes Jahr später, am 10. und 11. November, eine Steuerschätzung kommt, die uns eine andere Prognose gibt und sagt, wir müßten mit 7 bis 8 Milliarden DM weniger Einnahmen rechnen, dann ist es doch das Logischste, wenn zum Ausgleich der konjunkturbedingten Mindereinnahmen, was Professor Schiller und andere als richtig und notwendig akzeptieren, die Nettokreditaufnahme wieder erhöht wird. Wir erhöhen sie nicht auf 45 Milliarden DM, wie der ursprüngliche Finanzplan vorsah, sondern nur auf 43 Milliarden DM und werden damit auch unserer Konsolidierungspolitik künftig gerecht. Anders kann man es nicht machen.
— Wer darüber lacht, der hat von Konjunkturpolitik und von antizyklischer Finanzpolitik keine Ahnung.
Der Bundeshaushalt 1993 enthält alle entscheidungsreifen Antworten auf die aktuellen Herausforderungen. Dabei ist es gelungen, die vorgesehene Steigerung des Ausgabenvolumens von 2,5 % auf den Punkt einzuhalten. Rechnet man die Durchleitung des Länderanteils an der Mehrwertsteuerfinanzierung des Fonds „Deutsche Einheit" und die Umschichtung der Einkommenshilfe für die Landwirtschaft von der Einnahmen- auf die Ausgabenseite ab, dann weist der Bundeshaushalt 1993 überhaupt keine Zunahme mehr auf. Das ist ein echter Sparhaushalt mit Signal für alle anderen Haushalte und auch für die Zukunft.Mit der vorgegebenen Ausgabensteigerung haben wir übrigens schon in den Eckwertebeschlüssen vom Mai unser festgelegtes Konsolidierungsziel trotz umfassender externer Datenveränderungen erreicht. Insgesamt wurden gegenüber dem alten Finanzplan Einsparungen und Umschichtungen mit einem Volumen von 13 Milliarden DM verwirklicht. Das Ausgabenwachstum liegt deutlich unter dem erwarteten nominalen Anstieg des Bruttosozialprodukts von gut 4 %. Die Bundesausgaben werden 1993 um rund 2 Prozentpunkte geringer zunehmen als beim Durchschnitt der Bundesländer. Damit ist der Bundeshaushalt Maßstab und Meßlatte für die Konsolidierungsaufgaben in anderen Bereichen.Innerhalb des ganz engen Haushaltsrahmens haben wir bereits wesentliche zusätzliche Maßnahmen zugunsten der jungen Bundesländer finanziert. Meine Damen und Herren, es ist schon eine großartige Leistung, die sich sehen lassen kann, wenn in diesem Haushalt 92 Milliarden DM für die Ausgaben in den jungen Bundesländern aufgewendet werden. Es ist ein großes Solidarpaket, das hier auf den Weg gebracht wird.
Wir haben zusätzlich die Aufstockung der Kulturförderung um 300 Millionen DM vorgesehen, außerdem die Gewährung einer Verwaltungshilfe in Höhe von 125 Millionen DM, Umschichtungen bei den ÖPNVMitteln in einer Größenordnung von 1 Milliarde DM und zusätzliche Grundstücksverbilligungen mit einem Volumen von ebenfalls rund 1 Milliarde DM.Durch den Einsatz des im Haushalt bereits reservierten Betrages für Ostdeutschland in Höhe von 1,5 Milliarden DM und zusätzliche einschneidende Sparmaßnahmen sollen der wirtschaftliche Aufschwung in den jungen Bundesländern, der Ausbau der Infrastruktur und die Verbesserung der Wohnungsverhältnisse noch wesentlich stärker vorangebracht werden. Die Koalition hat sich auf ein Maßnahmenpaket mit einem Gesamtvolumen von über 12 Milliarden DM verständigt. Durch diese zusätzliche Wirtschaftshilfe wollen wir die noch schwierige Aufbauphase in den jungen Bundesländern soweit wie möglich abkürzen und zusätzliche Beschäftigungsperspektiven erreichen.Im einzelnen sind die folgenden Maßnahmen vorgesehen: Anhebung der Investitionszulage für ostdeutsche Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes und des Handwerks auf 20 %, begrenzt auf 1 Million DM je Betrieb. Das ist ein Gesamtvolumen, das bis 1997 bei über 10 Milliarden DM liegen wird.Hinzu kommt eine deutliche Aufstockung des Verpflichtungsrahmens für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur".Wir wollen das Eigenkapitalhilfeprogramm für Existenzgründer in Ostdeutschland verlängern, und der Verfügungsrahmen für den Wohnungsbau wird jetzt auf 800 Millionen DM erweitert. Die Mittel sollen zur Privatisierung vorhandener Wohnungen, für die Eigentumsförderung und für den Städtebau eingesetzt werden.Wir können das Wohnraummodernisierungsprogramm der KfW durch die Verbesserung der Zinskonditionen um 5 Milliarden DM aufstocken. Wir wären in der Lage, durch die zusätzliche Aufnahme einer Verpflichtungsermächtigung eine weitere Aufstokkung um 5 Milliarden DM für das nächste Jahr vorzusehen.Zusätzlich sind 200 Millionen DM für industrienahe Forschung vorgesehen.Wir werden dieses Maßnahmenpaket jetzt unmittelbar konkret in Angriff nehmen und vor allem über die notwendigen Einsparungen entscheiden, die einen vollständigen finanziellen Ausgleich erbringen müssen. Gleichzeitig bereiten wir den dazu notwendigen Nachtragshaushalt — im Zusammenhang mit den Vereinbarungen zum Solidarpakt und zum föderalen Konsolidierungsprogramm — vor. Das ist eine ganz normale Angelegenheit, ein völlig normaler finanzpolitischer Schritt. Wir tun Schritt um Schritt das Notwendige und Mögliche, weil wir für dieses Einsparpaket zwischen Bund, Ländern und Kommunen klare Vereinbarungen brauchen. Ich habe dafür am vergangenen Donnerstag bei den Ländern auch Verständnis gefunden. Wir sitzen alle in einem Boot. Wir können uns einen Teil der finanzpolitischen Diskussionen der letzten Jahre nicht mehr leisten.
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10334 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Bundesminister Dr. Theodor WaigelDurch unseren Vorschlag für einen Nachtragshaushalt werden weder der Anstiegswinkel bei den Ausgaben, nämlich 2,5 % noch die Kreditaufnahme, nämlich 43 Milliarden DM, verändert. Diese Vorgaben sind feste Bestandteile der Vereinbarung, die wir in der Koalition getroffen haben. Es bleibt beim Volumen, es bleibt bei den Eckwerten. Darüber muß sich jeder im klaren sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn jetzt sofort der Vorwurf kommt, daß sei ein Anschlag auf den Sozialstaat und ähnliches mehr, möchte ich auf eine eindrucksvolle Aussage des früheren Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, vom 30. Juni 1982 verweisen.
— So ist es. Jetzt zitiere ich ihn, was bei Ihnen immer weniger stattfindet. Trotzdem stößt das auf Zwischenrufe. Anstatt in andächtiges Schweigen
zu verfallen und hören zu wollen, was der auf Jahrzehnte letzte Bundeskanzler der SPD zu dem Thema gesagt hat, versuchen Sie, mich durch Zwischenrufe, die offensichtlich nur kritisieren sollen, was Helmut Schmidt gesagt hat, in Verwirrung zu bringen, was Ihnen natürlich nicht gelingt.
— Daß Ihnen dieses Zitat nicht paßt, weiß ich.
Meine Damen und Herren, es wäre doch gut, wenn wir uns das jetzt einmal anhörten.
Der amtierende Präsident des Deutschen Bundestages hat erkennen lassen, aus welchem Flügel der SPD er kommt.
Herr Minister, haarscharf — —
Herr Präsident, das Urteil steht mir nicht zu, aber ich nehme es nicht zurück.
Helmut Schmidt sagte wörtlich:Einige haben bemängelt, daß in diesem Pakt nicht genug getan werde zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich sage denen, dies ist leider wahr. Wer mehr tun will, muß in die Geld- und Sozialleistungen tiefer hineinschneiden, als es in dem Kompromißpaket von mir vorgeschlagen ist.Es heißt an einer anderen Stelle:Denn wer mehr für die beschäftigungswirksamen Ausgaben des Staates tun will, muß noch viel tiefer, als hier vorgeschlagen, in die Sozialleistungen reinschneiden.Soweit Helmut Schmidt.
Übrigens: Als ich dies im Wahlkampf 1987 als Zitat von Helmut Schmidt verbreitet habe, hat es ein Journalist einer Regionalzeitung als Zitat von mir gebracht. Das hat dazu geführt, daß der damalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz, den ich persönlich schätze,
dies aufgegriffen und im Wahlkampf als Hauptpunkt gegen mich und die CDU und CSU verwandt hat. Erst auf dem Gerichtsweg — das hat längere Zeit gedauert — mußte ich die SPD davon überzeugen, daß es sich um ein Zitat ihres eigenen Bundeskanzlers handelte. Das tut jetzt nichts zur Sache, aber auch solche Dinge sollen nicht in Vergessenheit geraten.
— Das ist genau zur Sache.Wozu es der sozialliberalen Bundesregierung unter Helmut Schmidt an Kraft fehlte, können wir nun gemeinsam erreichen.Das von mir vorgeschlagene gemeinsame Konsolidierungsprogramm aller öffentlichen Haushalte soll helfen, die Defizite zu begrenzen und unsere großen Zukunftsaufgaben zu lösen. Wir werden noch in diesen Tagen die Gespräche mit Ländern und Gemeinden zur Vorbereitung der gemeinsamen Sparanstrengungen aufnehmen.
Ich habe die Vertreter der Länder und Gemeinden am letzten Donnerstag aufgefordert, ihre Vorschläge für ein solches Programm vorzulegen. Wir werden aber auch selber konkrete Initiativen in die Verhandlungen einbringen.Wenn wir im Anschluß an die Konsolidierungsmaßnahmen der jüngsten Vergangenheit noch zusätzliche Einsparungen erzielen wollen, müssen wir ohne Tabus alle staatlichen Leistungen, Finanzhilfen und Steuervergünstigungen in unsere Prüfungen mit einbeziehen. Niemand wird sich auf Besitzstände berufen dürfen.Ansatzpunkte des gemeinsamen Konsolidierungsprogrammes sind in erster Linie: Begrenzung der Personalausgaben, Überprüfung aller gesetzlichen Leistungen, Senkung gesetzlicher Ausgabeverpflichtungen auf Grund von Bundesgesetzen und Verständigung über eine bundesweite Absenkung von Ausstattungsstandards bei öffentlichen Einrichtungen. Dazu gehört auch der Abbau weiterer Steuervergünstigungen,Bundesminister Dr. Theodor WaigelMeine Damen und Herren, wir haben immer wieder durch Eckwertbeschlüsse, durch die normale Finanzplanung des Bundes und durch die Konsolidierungsvereinbarungen im Finanzplanungsrat die mittelfristige Linie unserer Finanzpolitik beschrieben. Unsere Entscheidungen entsprachen dem jeweiligen Erkenntnisstand und haben zu positiven Ergebnissen geführt.Seit 1990 hat es nicht an finanziellen Mitteln für den Aufbau im Osten gefehlt. Wir haben die Hilfe für die jungen Bundesländer laufend an die nicht vorhersehbare Verschlechterung der Produktions- und Absatzbedingungen der Betriebe angepaßt. Ich erinnere nur an das Zweijahresprojekt Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, die jetzt noch einmal verbesserten Hermes-Hilfen und vieles mehr.Wir haben schließlich auch die Finanzierungsentscheidungen in der richtigen Reihenfolge getroffen. Die unverzichtbare Anhebung der Kreditfinanzierung wurde unmittelbar durch drastische Einsparungen und Umschichtungen im Bundeshaushalt von bisher 60 Milliarden DM begrenzt. Steuererhöhungen waren und bleiben entsprechend dem Votum des Sachverständigenrats die Ultima ratio unter den Finanzierungsalternativen. Sie wären, meine Damen und Herren, im übrigen, wie der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister Karl Schiller in einem Interview kürzlich feststellte, im Augenblick Gift für die Konjunktur.Die nationalen und internationalen Institutionen haben immer wieder bestätigt: Der Bund ist mit seiner Konsolidierungspolitik seit 1990 auf dem richtigen Weg.Die OECD schreibt in ihrem letzten Deutschland-Bericht: Für die Bundesregierung findet dieser Wille, nämlich zur nachhaltigen Konsolidierung seinen ausdrücklichen Niederschlag im letzten mittelfristigen Finanzplan, der den Ausgabenanstieg beim Bund auf 2,5 % jährlich begrenzt.Der Internationale Währungsfonds spricht in seinem letzten Bericht von einem festen Deckel auf dem Ausgabenwachstum.Die Bundesbank schreibt in ihrem Monatsbericht vom September 1992: Der am 1. Juli 1992 von der Bundesregierung beschlossene Entwurf des Bundeshaushaltsplans 1993 ist von dieser Zielsetzung, nämlich der mittelfristigen Haushaltskonsolidierung, geprägt.Wenn wir jetzt mit dem föderalen Konsolidierungsprogramm, durch die Aufnahme der Gespräche über die Finanzierung der sozialistischen Erblast und durch die Vorbereitung des Länderfinanzausgleichs, durch die Regelung der Wohnungsbauschulden in Ostdeutschland und durch die Finanzierung der Bahnreform Aufgaben konkret in Angriff nehmen, die zum Teil erst ab 1995 zu bewältigen sind, dann stellen wir erneut unsere Bereitschaft zur langfristigen Verantwortung und Planung unter Beweis.Meine Damen und Herren, wie soll man denn sonst Finanzplanung und Finanzpolitik machen, als daß wir zweieinhalb Jahre vor dem 1. Januar 1995 bereits darangehen, möglichst schnell und bald Klarheit über den Finanzausgleich, über die Tragung der Erblast und natürlich über die gemeinsamen Einsparungen zu erreichen? Wir wollen das, weil wir das 1994 nicht mehr lösen können und weil auch 1993 sehr früh Klarheit bei Investoren, bei Beteiligten, bei Ländern und Gemeinden herrschen soll. Nur, früher als zweieinhalb Jahre zuvor die Dinge anzugehen, kann man Finanzpolitik und Finanzplanung nicht in Angriff nehmen.
Zu den noch ungeklärten Finanzierungsfragen gehört auch das Thema der Wohnungsbauschulden in den jungen Bundesländern. Sogenannte großzügige Lösungen, etwa die Übernahme der kompletten Wohnungsbauschulden auf den Bund, würden den Bund unzumutbar belasten und auch zu marktwirtschaftlich falschen Entscheidungen führen. Man muß hier schon sehen, daß Wohnungsbau grundsätzlich eine Angelegenheit der Länder ist. Wir sind jedoch bereit, zu einer begrenzten Entlastung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft beizutragen. Nach unserem Konzept sollen die Wohnungsbauschulden, die über 350 DM/m2 hinausgehen, auf einen besonderen Fonds übertragen werden. Die Zinsausgaben dieses Fonds sind vom Bund und den jungen Bundesländern zu tragen. Die Tilgung des Fonds kann schrittweise durch die Unternehmen über die Veräußerung von Wohnungen erfolgen. Für die bei den Kommunen und Genossenschaften verbleibenden Wohnungsbauschulden ist eine Zinshilfe von Bund, Ländern und Gemeinden in Höhe von je einem Drittel vorgesehen, die degressiv entsprechend den steigenden Mieteinnahmen ausgestaltet werden soll und 1997 ausläuft.Wir werden schließlich auch die Finanzierung der deutschen Bahnen auf eine dauerhafte Grundlage stellen. Dazu gehört auch ein schon kurzfristig wirksames Konsolidierungskonzept zur Begrenzung der laufenden Kosten. Auf mittlere Sicht ergibt sich aus den bisherigen Strukturproblemen der Bahn ein Finanzierungsbedarf in zweistelliger Milliardenhöhe. Diese Summe ist durch zusätzliche Beiträge aus dem Verkehrsbereich zu decken.Meine Damen und Herren, es darf auch in Zukunft nicht zur Gewohnheit werden, alle ungelösten Probleme und Aufgaben beim Bund anzulasten. Der Bund trägt jetzt schon den ganz überwiegenden Teil der Wiedervereinigungslasten. Aber die Vollendung der deutschen Einheit ist die Aufgabe aller. Deshalb ist es richtig, wenn wir von den Ländern und Gemeinden im Westen künftig einen höheren Beitrag im Finanzausgleich fordern.
Es war und ist richtig, wenn auch die Sozialversicherungen einen Teil der wirtschaftlichen Anpassungslasten im Osten tragen und nicht alles über die allgemeinen Steuern finanziert wird. Ebenso notwendig ist die Investitionsbereitschaft der Betriebe und die Einwilligung der Tarifpartner in eine Lohn- und Gehaltsentwicklung, die den wirtschaftlichen Bedingungen in Ost- und Westdeutschland entspricht.Meine Damen und Herren, wer sich einmal die Mühe macht, sowohl die ausländische Boulevard-Presse als auch die feingesponnenen Analysen der internationalen Finanzexperten durchzusehen, stellt
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10336 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Bundesminister Dr. Theodor Waigeleine merkwürdige und für uns durchaus beängstigende Gemeinsamkeit fest: Uns Deutschen wird zunehmend die Befähigung abgesprochen, durch Fleiß, Initiative und nationale Gemeinsamkeit unsere Aufgaben zu lösen. So entsteht ein Zerrbild eines satten, mürrischen und bewegungsunfähigen Deutschlands, das unter der Last der Wiedervereinigung nahezu erdrückt wird.
— Auch das gehört dazu. Jeder Tag, an dem wir uns weiterhin in unnützen Verteilungsstreitereien zermürben, wird diesen Eindruck verstärken.
Wer will noch in einem Land investieren, in dem die Deutschen anscheinend nicht mehr bereit sind, zuzupacken und ihre eigene Zukunft zu gestalten?Darum muß an die Stelle einer überflüssigen Umverteilungsdiskussion jetzt wieder, wie in den 80er Jahren, eine überzeugende Wachstums- und Beschäftigungsstrategie treten, und das gilt gleichermaßen für den Osten wie für den Westen Deutschlands.
Die betriebsbezogenen Verbesserungen im Rahmen des Steueränderungsgesetzes 1992, die in wenigen Wochen wirksam werden, und das als Referentenentwurf vorliegende Standortsicherungsgesetz unterstreichen unsere Entschlossenheit, mehr Wachstum über die aktuelle Konjunkturschwäche hinweg zu verwirklichen. Der Sachverständigenrat, der in seinem jüngsten Gutachten die Bedeutung der Standortsicherung für das weitere Wirtschaftswachstum herausgestellt hat, begrüßt in diesem Zusammenhang ausdrücklich das von mir vorgelegte Konzept zur Unternehmensteuerreform als ein wichtiges Signal.
— Ach, wissen Sie, bei Matthäus Kap. 7 Vers 1 steht: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!
Frau Matthäus, Sie sollten beim Evangelisten Matthäus nachsehen, bevor Sie solche Zwischenrufe machen.
— Ich wußte gar nicht, daß man Sie durch ein Bibelzitat so treffen kann.
Durch die Konzeption des Standortsicherungsgesetzes haben wir den SPD-geführten Ländern alle Türen für eine Zustimmung im Bundesrat eröffnet. Durch die Beschränkung der Einkommensteuersenkung auf gewerbliche Einkünfte ist die gesamte vorsorglich in Stellung gebrachte Sozialneidkritik der Opposition gegenstandslos geworden.
In einem Interview mit der „Bonner Rundschau" vom 2. Juli 1992 haben Sie, Frau Matthäus-Maier, noch griffig, aber falsch formuliert: „Der Handwerker zahlt die Steuersenkungen für Heino." Davon kann keine Rede sein; denn die Wirtschaft finanziert ihre Steuersenkung durch Umschichtungen im Steuersystem selbst.Wir werden auch andere wichtige Wachstumsinitiativen, z. B. die Modernisierung des Finanzplatzes Deutschland oder die Privatisierung im Westen, weiter voranbringen. In wenigen Tagen werden wir den Vertrag von Maastricht im Bundestag abschließend beraten und damit die Voraussetzung für zusätzliche Wachstumschancen weit über das Jahr 1993 hinaus erheblich verbessern. Bei den GATT-Verhandlungen haben wir jetzt einen Durchbruch erreicht, dem auch unsere EG-Partner zustimmen sollten.
— Deutschland, das kann ich Ihnen sagen, hat zu dem, was bisher erreicht wurde, einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet, insbesondere dieser Bundeskanzler.
Noch ist Deutschland im internationalen Vergleich der Wirtschafts- und Finanzdaten nicht zurückgefallen. Wer fahrlässig über den angeblich bevorstehenden — ich sage es in Anführungszeichen — Staatsbankrott im wiedervereinigten Deutschland spekuliert
und bewußt eine Desinformationskampagne betreibt, der sollte sich einmal die internationalen Vergleichstabellen ansehen.
Schlechter als Deutschland liegen 15 andere bedeutende Industrienationen aus dem Kreis der OECD-Staaten. Meine Damen und Herren, das ist die Realität.Unser Staatsdefizit liegt mit 3 % des Bruttosozialprodukts deutlich unter dem Durchschnitt der EG-Staaten. Dort sind es zur Zeit 5,5 %. Bei der Zinsquote, dem Verhältnis von Zinsausgaben zu Gesamtausgaben der Staaten, schneiden von 12 EG-Ländern 8 schlechter ab als das wiedervereinigte Deutschland. Wir gehören zu den wenigen EG-Staaten, die schon in diesem Jahr die Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrages für den Beitritt zur Währungsunion erfüllt hätten.
Meine Damen und Herren, das sind die Realitäten, mit denen wir uns sehen lassen können und die Sie mit Ihrer hemmungslosen Kritik nicht in Zweifel ziehen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends gehört der Freiheit, der Selbstbestimmung, dem wirtschaftlichen Wettbewerb und hoffentlich auch bald dem Frieden. Die kommunistische Ideologie hat sich in nichts aufgelöst.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10337
Bundesminister Dr. Theodor Waigel— Wir hatten im Gegensatz zu Ihnen nie eine Ideologie.
— Nein, wir haben Prinzipien und klare Grundsätze. Sie mußten Ihre Ideologie über Bord werfen,
das erste Mal in Godesberg, und jetzt ist der letzte Rest an Sozialismus geistig auch noch verblichen.
Angesichts dieses globalen Rahmens, angesichts des eklatanten Scheiterns aller kommunistischen und sozialistischen Machbarkeitsträume kann es für uns nur einen Weg zur Vollendung der Einheit geben: Wir müssen konsequent auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen, die Angebotsbedingungen in ganz Deutschland nachhaltig verbessern und den staatlichen Umverteilungsanspruch, wie in den 80er Jahren, erneut, auch unter den Vorzeichen der Einheit, in Grenzen halten und anschließend zurückführen.Ordnungspolitische Grundvorstellungen sind allerdings für uns niemals ein Vorwand, die wirklichen Bedürfnisse der Menschen zurückzuweisen. Das Zerrbild von der angeblich menschenfeindlichen Wettbewerbsordnung hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun; denn nur auf der ökonomischen Basis unserer erfolgreichen sozialen Marktwirtschaft sind die Milliardeninvestitionen auch in sanierungsfähige Treuhandbetriebe und die dreistelligen Einkommenstransfers in die jungen Bundesländer finanzierbar.Wir haben die Aufgabe, aus dem Geschenk der Einheit den Vorteil für die Menschen zu gewinnen. Wir können uns dabei nicht auf ein günstiges Schicksal oder auf andere verlassen; wir selbst sind es, die über unsere Zukunft entscheiden.
— Auf mich können Sie sich verlassen.
Ich werde mich auch weiterhin mit ganzer Kraft für diese Aufgabe einsetzen.
— Der Kollege Struck hat ja verlangt, daß ein Aufsichtsrat darüber bestimmt, wer an der Spitze eines Unternehmens ist. Es ist ihm offenbar entgangen, daß die Manager im Sommer eine Umfrage gestartet haben zu der Frage, wen sie als Finanzminister haben möchten. Ich wollte es eigentlich nicht zitieren. Jedenfalls ist es mit 80 % zu 9 % zu Ihren Ungunsten ausgegangen. Das ist die Antwort der Manager und des Aufsichtsrates in Deutschland auf diese Fragen.
— Ich sage das nur auf Ihre Zwischenrufe hin. Ich sage das aber auch deshalb, weil ich nicht annehme, daß Frau Matthäus-Maier das Ergebnis dieser Untersuchung hier bringen wird. Ich glaube aber, es ist wichtig, dies in die Debatte hier einzubringen.
Ich bringe jetzt noch ein Zitat, bei dem Sie nicht schreien sollten; denn es handelt sich bei dem Autoren um einen Kollegen von Ihnen. — Sofort ist Ruhe.
Der frühere Bundesfinanzminister Dr. Hans Apel hat mir vor wenigen Wochen einen Brief geschrieben.
Darin heißt es wörtlich:Die Vorbereitung— einer finanzpolitischen Vorlesung in Rostock —hat mir erneut vor Augen geführt, daß Sie in der Reihe der bundesdeutschen Finanzminister das schwierigste Amt haben. Es ist erstaunlich, wie einfach es sich Ihre Kritiker immer wieder machen.Er hat Sie, Frau Matthäus-Maier, nicht erwähnt;
aber gemeint hat er Sie, aber sicherlich nicht nur Sie. — Ich bedanke mich bei dem Kollegen Apel für diese Fairneß im Umgang mit Politikern.
Wenn alle mitziehen, haben wir allen Grund zu Optimismus; denn wir haben schon sehr viel in die Einheit investiert. Allein die öffentlichen Transfers in den Jahren 1991 bis 1993 belaufen sich auf 350 Milliarden DM. Zugunsten der jungen Bundesländer haben wir das größte regionale Förderprogramm aufgelegt, das jemals realisiert wurde.Meine Damen und Herren, der heute zur Beratung vorliegende Bundeshaushalt 1993 ist ein Schritt in die Zukunft.
Wer diesem Haushalt zustimmt, handelt im Interesse der Deutschen in Ost und in West.Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Feststellung: Die Redezeitanlage hier ist in Ordnung; nur hatte der Bundesfinanzminister — was sein gutes Recht ist — nicht angegeben, wie lange er reden wird. Es waren knapp 40 Minuten.
Nun hat als nächster zu einer etwa gleich langen Redezeit das Wort unser Kollege Helmut Wieczorek .
Zuvor möchte ich aber noch eine Bemerkung zu dem Ablauf der heutigen Sitzung machen: Es ist vorgesehen, daß wir die gesamte Tagesordnung abwickeln, so daß es etwa 0.00 Uhr bis 1.00 Uhr heute nacht werden wird.
Nun hat das Wort unser Kollege Helmut Wieczorek. — Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben ja eben eine teilweise sehr vergnügliche halbe
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Stunde gehabt. Der Bundesfinanzminister hat keinen Kalauer ausgelassen.
— Er hat munter mit uns geplaudert. — Herr Bundesfinanzminister, in der Zeit zwischen Ihrer ausgefallenen Rede heute morgen und jetzt ist der Schuldenstand um 100 Millionen DM größer geworden. Und da stellen Sie sich hierhin und plaudern mit uns, als ob es hier darum ginge, in Bayern eine Festzeltveranstaltung zu machen!
In einer ganz typischen Art und Weise arbeitet er hier mit Halbwahrheiten. Und eine dieser Halbwahrheiten ist unser Kollege Rudi Walther gerade fast zum Opfer gefallen. Aber ich habe das Zitat hier, das von ihm stammt. Auf die Frage, wie er den Haushalt betrachte, hat er gesagt: Katastrophal, aber nicht hoffnungslos. Sie müssen das ganze Zitat nehmen, Herr Finanzminister. Er hat Ihnen einiges ins Stammbuch geschrieben. Er hat nur die Frage beantwortet, ob der Haushalt Makulatur ist. Ich hätte darauf geantwortet: Ja. — Aber da der Herr Walther noch staatstragender ist als ich,
hat er Ihnen eine Chance geben wollen, Ihre verfehlte Politik zu korrigieren.
Herr Minister, Sie haben das nicht getan, sondern Sie haben weiterhin von Ankündigungen gelebt und haben uns hier weiterhin erzählen wollen, daß alles besser wird.Sie haben jetzt gerade eine lange Rechtfertigungsrede gehalten.
— Bei mir haben Sie nichts zu lachen. Bei mir bekommen Sie die Wahrheit gesagt. Zu lachen gibt es beim Haushalt nichts.
Wer hier lacht, der lacht über seine verfehlte Politik, Herr Kollege.
Diese Rechtfertigungsrede, die hier vom Finanzminister gehalten wurde, hat nicht in einem einzigen Punkt Klarheit gebracht, wie Sie die gewaltigen Konsolidierungsanstrengungen der öffentlichen Haushalte und den Wiederaufbau Ostdeutschlands bewältigen wollen.Was Sie hier als Ansatzpunkte einer gemeinsamen Konsolidierungspolitik auflisten, das sind doch nur Platitüden: Begrenzung der Personalausgaben, Überprüfung gesetzlicher Leistungen, Überprüfung des Standards — was auch immer das sein mag; wahrscheinlich der Standard unserer Anlage im neuenPlenarsaal —, Abbau von Steuervergünstigungen. — Jawohl, Herr Finanzminister: Das muß sein;
aber Ihre Aufgabe ist es zu sagen, wo, wie und in welchem Umfang, und dazu gibt es bisher nichts als Worthülsen.
Oder nehmen wir das Stichwort der Bahnreform, meine Damen und Herren. Da sagen Sie doch allen Ernstes: Es muß kurzfristig etwas geschehen. — Ja, mein Gott, darüber beraten Sie doch seit einem halben Jahr! Für die Zinsen der Bahnschulden klafft in Ihrer Finanzplanung ein Loch von 13 Milliarden DM. Da kann sich der Finanzminister doch nicht immer nur an die Klagemauer stellen, sondern da muß er endlich etwas tun. Er ist doch nicht nur ein Verwalter, sondern ein Gestalter.Was die Verbesserung der Wachstumskräfte angeht: Das Standortsicherungsgesetz war doch ein Schuß in den Ofen. Wer kräftigt investiert, wird bestraft; wer wenig investiert, kommt besser weg. — Dieses Gesetz wird doch nur als taktisches Manöver erklärbar, um nämlich die Senkung der Steuern auf Unternehmensgewinne politisch durchzusetzen.Herr Waigel, sie haben den früheren Bundeskanzler Schmidt zitiert. Aber mit Zitaten ist das so eine Sache. Ich zitiere auch:In den Lebensfragen der Nation — dazu gehören hoher Beschäftigungsstand oder Vollbeschäftigung — lassen wir uns an Sachkunde, an Erfahrung, an Wirklichkeitsorientierung und an Zielorientierung von niemand in diesem Hause übertreffen.
Der das gesagt hat, würde sich heute im Grabe umdrehen, wenn er das von seinem Nachfolger hören müßte. Das war nämlich Franz Josef Strauß. An diesem Zitat von ihm sollten Sie sich ein Beispiel nehmen.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat die Beratung dieses Haushalts hier erzwungen. Wir wissen alle, daß er bereits heute Makulatur ist. Der Finanzminister hat eben angekündigt, daß er einen Nachtrag bringen wird. Herr Kollege, einen Nachtrag bringt man dann, wenn man etwas nachzutragen hat,
Aber wir sind dabei, etwas vorzutragen.
Das heißt: Er hätte damit kommen müssen, uns hierschlicht und einfach eine Erklärung dazu zu geben,
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Helmut Wieczorek
was er jetzt eigentlich machen will. Genau das hat er nicht getan.
Was sich in diesem Verhalten zeigt, ist aber etwas, was mir viel mehr Sorge macht, Herr Bötsch: Ihre permanente Bereitschaft zur verfassungsrechtlichen Grenzbegehung oder sogar zur verfassungsrechtlichen Grenzbeschreitung. Bei Ihnen haben im Zweifel taktische Momente der Machtausübung einen höheren Stellenwert als verfassungsrechtliche Normen. Sie begeben sich lieber ins Zwielicht, und deshalb reißt bei dieser Bundesregierung die Kette der verfassungsrechtlichen Zurechtweisungen auch nicht ab: beispielsweise bei den Urteilen zur verfassungswidrigen Zwangsanleihe, zur verfassungswidrigen Besteuerung der Kapitalerträge, zur verfassungswidrigen Besteuerung des Existenzminimums und zur verfassungswidrigen Kürzung der Arbeitslosenhilfe. Im Bereich des staatspolitisch bedeutsamen Föderalismus wurden Ihre Finanzausgleichsgesetze 1987 und 1992 ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt.Ihre haushaltspolitische Grenzbeschreitung hat jüngst der Rechnungshof aufgezeigt. Er hat Ihnen gesagt, Herr Waigel: Sie sollen doch — ich zitiere — bei Ihrer Haushaltswirtschaft verhindern, daß sich ein stetig wachsender Schuldensockel bildet, der schließlich die Fähigkeit des Staatshaushalts, auf Probleme der Gegenwart und Zukunft zu reagieren, in Frage stellt. — Dieses Urteil erging 1989, vor der Explosion der Staatsschulden.Heute haben wir das Finanzchaos. Wie sähe das Urteil heute wohl aus?Meine Damen und Herren, Sie höhlen den Art. 115 des Grundgesetzes aus, weil Sie die Schattenhaushalte aus den verfassungsmäßigen Grenzen der Kreditaufnahme herausnehmen. Damit wollen Sie dem Konsolidierungsdruck auf den Bundeshaushalt ausweichen. Diese Regelung ist für Vermögen wie die Post gemacht, nicht aber für reine Schuldentöpfe wie den Kreditabwicklungsfonds oder den Fonds Deutsche Einheit.Fazit: Die verfassungsrechtlichen Koordinaten Ihrer Politik sind aus dem Lot geraten.
Die Regierung liegt im Dauerkonflikt mit dem Grundgesetz, und die SPD-Fraktion ist nicht bereit, der Aushöhlung des parlamentarischen Budgetrechts zuzusehen.
Meine Damen und Herren, ziehen wir heute Bilanz: Diese Bundesregierung ist finanzpolitisch am Ende.
Das vorliegende Fragment eines Haushalts ist gekennzeichnet von Ignoranz gegenüber zentralen gesellschaftlichen Problemen — wie Aufbau Ost oder Wohnungsbaupolitik — und von völliger Perspektivlosigkeit für die Zukunft. Nichts an durchgreifendemSparwillen! Nichts an zupackender Solidarität mit den Menschen im Osten!
Nichts mit ökonomischem Sachverstand! Nichts mit ausgleichender Gerechtigkeit!Meine Damen und Herren, Sie stecken in einer ausweglosen Schuldenfalle. Ihre politische Kraft reicht nicht mehr, sich daraus zu befreien. Ihr hektischer Aktivismus der letzten Wochen und Tage zeugt von Panik.
Ihre Vorschläge erzeugen nur noch Zorn und Frustration.Meine Damen und Herren, Ihre Streichliste im Umfang von rund 3 Milliarden DM kurz vor Toresschluß war ein hilfloser Kehraus über alle Ministerien. Ein konzeptionelles Gerüst für eine durchgreifende Sparpolitik ist nicht im Ansatz erkennbar.
Da steht der Abbau Ost neben dem Abbau West. Da werden die Mittel für die Sanierung von Wismut um rund 150 Millionen DM gekürzt — ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die in dieser schwer geschädigten Region leben und arbeiten. Diese Entscheidung ist fiskalischer Selbstbetrug, ist strukturpolitisch kontraproduktiv und arbeitsmarktpolitisch unakzeptabel. Eine Region mit 40 % Arbeitslosigkeit wird so zum Beispiel der Politik.Da wird bei erwartetem Nullwachstum im Westen ein investiver Ausgabenahmen für Städtebauförderung in Höhe von 380 Millionen DM gekürzt. Das Wort „Subventionsabbau" wird aber schon gar nicht mehr in den Mund genommen; auch bei der Rede des Bundesfinanzministers jetzt kam es nicht vor.Die durchgreifenden Kürzungen im Verteidigungshaushalt, meine Damen und Herren, bleiben außen vor.Sie waren noch nicht einmal zu einem symbolischen Zeichen des Sparwillens in eigener Sache bereit. Nicht auf einen einzigen Staatssekretär in Ihrem aufgeblasenen Regierungsapparat wollen Sie verzichten.
Wie wollen Sie, Herr Bundeskanzler, vom Bürger Verzicht fordern, wenn Ihnen mehr als eine halbe Million DM für Öffentlichkeitsarbeit und Propaganda wichtiger ist als entsprechende Mittel für die drängenden Probleme des Städte- und Wohnungsbaus?
Die Koalition hat nicht einmal die Kraft, Einsparungen im Volumen von 5 Milliarden DM zu benennen, nur 1 % der Bundesausgaben konkret zu kürzen. Sie mußten wieder zu einer globalen Minderausgabe Zuflucht nehmen, der größten Blamage, die sich ein Parlament der Regierung gegenüber erlauben kann.
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10340 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Helmut Wieczorek
Da kann ich nur feststellen: Diese Koalition packt es nicht mehr, und die Regierung ist unfähig, die Dinge in Ordnung zu bringen.
Meine Damen und Herren, die Bürger dieses Landes haben längst begriffen, daß wir mit Ihrer Politik des „Weiter so" die Zukunft verspielen, daß Sie auf diesem Wege alles gefährden, was wir im Westen erreicht haben, und alles behindern, was wir für den Aufbau Ost für erforderlich halten. Sie, Herr Bundesfinanzminister, versuchen, die Handlungsunfähigkeit dieser Regierung hinter hektischem Aktionismus und Zahlenspielereien zu verbergen.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Das ist nicht nur zu kurz gesprungen; da wurde noch nicht einmal gehüpft.Was, Herr Finanzminister, von Ihren Umschichtungen im Volumen von 8 Milliarden DM zugunsten Ostdeutschlands kommt denn den Menschen wirklich zugute? Untersuchen wir es doch mal!
— Sie wissen es doch nicht! Hören Sie gut zu! Sie können lernen. Da werden vor allem alte Rechnungen und Schecks ohne Deckung ausgestellt.
Was haben denn — meine Damen und Herren, das müssen Sie doch selbst zugeben — die erhöhte Inanspruchnahme für Bürgschaften auf Grund der faktischen Zahlungsunfähigkeit der GUS-Staaten um 2 Milliarden DM oder die Aufstockung der Zinszahlungen für den Kreditabwicklungsfonds um 1,5 Milliarden DM mit dem Aufbau Ost zu tun?
Dafür kann sich doch niemand etwas kaufen. Da werden doch nur alte Wechsel fällig.
Das ist doch kein Signal.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollen die Verkehrsinvestitionen der ostdeutschen Gemeinden um 1 Milliarde DM stärken. Da haben Sie unsere Unterstützung. Aber weshalb geben Sie denn kein Beispiel und schichten 1 Milliarde DM aus den Straßenbaumitteln des Bundesverkehrswegeplans um? Weshalb wollen Sie sich aus den Taschen der westdeutschen Gemeinden bedienen? Damit stellen Sie sich in Widerspruch zu einem zwischen Bund und Ländern mühsam erreichten Vermittlungsergebnis zum Steueränderungsgesetz 1992, kaum daß die Tinte trocken ist.Fazit: So geht es nicht: trickreiche Buchungen, die verschleiern sollen, daß für den realen Aufbau Ost nichts Wirksames mehr gelingt.
Sie vertrösten auf den Nachtragshaushalt — Herr Kollege Nils Diederich —, der soll es dann wirklich bringen. Ich frage mich nur: Was soll denn da drinstehen? Etwa das, was uns der Finanzminister heute mittag hier erzählt hat? Lassen Sie uns doch die einzelnen Dinge durchgehen, die er uns gerade vor Augen geführt hat.Bleiben wir einmal bei der Investitionszulage. Sie soll für gezielte Sektoren auf 20 % erhöht werden. Sehr gut, sage ich, endlich schwenkt die Bundesregierung auf eine seit anderthalb Jahren erhobene SPDForderung ein. Weshalb erst jetzt? Viele Menschen in Ostdeutschland hätten vor Arbeitslosigkeit bewahrt werden können. Aber, Herr Finanzminister, einen Nachtrag brauchen Sie dafür nicht, denn alle Kosten, die da kommen, fallen eigentlich erst 1994 an.
— Sie müssen zuhören, dann wissen Sie auch, was ich erzähle!
— Herr Kollege, was Unsinn ist: Ich habe von Ihnen heute zwei Reden gehört, das war mehr Blödsinn als alles andere.
Herr Kollege Wieczorek, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Rüttgers?
Nein. Ich weiß, was kommt, und möchte darauf verzichten.
Wir gehen weiter und beschäftigen uns einmal mit Ihrer Verlängerung der Geltung des Eigenkapitalhilfeprogramms Ost. Das ist richtig, darin besteht allgemeiner Konsens; aber haushaltswirksam ist auch das erst 1994.Die Aufstockung des KfW-Programms für die Wohnraummodernisierung Ost, als großer Erfolg gefeiert, steht überhaupt nicht im Bundeshaushalt. Es braucht dafür auch nichts im Bundeshaushalt zu stehen, denn durch die Senkung der Zinsen wird der Spielraum geschaffen, um dieses Programm automatisch aufzustocken. Das feiern Sie als Erfolg? Das ist der Erfolg, den Sie immer hätten haben können. Wenn Sie nicht soviel Schulden gemacht hätten und die Zinsen unten geblieben wären, dann hätten wir hier ein wesentlich größeres Programm fahren können.Zur Aufstockung der industrienahen Forschung um 200 Millionen DM kann ich nur sagen: richtig. Die SPD hat im Ausschuß verlangt, die Zerschlagung der Industrieforschung in den neuen Ländern zu stoppen. Die Koalition hätte sich anschließen können.Das nächste ist die Aufstockung der regionalen Wirtschaftsförderung um 1 Milliarde DM. Die Forderung des Wirtschaftsministers war auch schon während der Haushaltsberatungen nicht unbekannt. Weshalb erst jetzt?Die Aufstockung der Wohnungsbaumittel um 800 Millionen DM: Richtig, sage ich, ein richtiger
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10341
Helmut Wieczorek
Schriftt, aber zuwenig. Wir hatten 1,5 Milliarden DM beantragt.
Wenn wir uns dazwischen getroffen hätten, wäre es gut gewesen.Fazit: Bei diesem Sechs-Punkte-Programm haben Sie eines vergessen, nämlich die Fußnote „Copyright: SPD".
Meine Damen und Herren, wir sind doch nicht kleinlich, wir freuen uns, daß Sie dazulernen.Ich frage mich nur: Wenn das alles war, Herr Finanzminister, weshalb dann das Getöse um den Nachtragshaushalt? Was hier von Ihnen als zweistelliges Milliardenprogramm verkauft wird, entpuppt sich doch wieder nur als ein Trick. Das kostet Sie im nächsten Jahr nur glatt 1,3 Milliarden DM, die bereits im Haushalt eingestellt sind. Das wird bei Ihnen alles doppelt und dreifach gezählt. Was über vier Jahre geht, wird addiert. Wenn man eine noch größere Zahl haben will, addiert man es über sechs Jahre, und der nächste rechnet es dann auf zehn Jahre hoch. Das gibt dann die „Verläßlichkeit" der Aussage, auf die die Wirtschaft ihre Planungen einstellen soll! Herr Kollege Weng, das müssen Sie der Wirtschaft wirklich einmal plausibel machen.
Wo es aber wirklich ans Geld geht, wie etwa bei der kommunalen Investitionspauschale, die in der Erfurter Erklärung der CDU steht, müssen Sie passen, weil Sie nämlich pleite sind, weil Sie kein Geld haben, das Sie dort hingeben können.Meine Damen und Herren, wenn Sie den Durchbruch im Osten wollen, dann setzen Sie mit uns gemeinsam das in der letzten Woche von der SPD beschlossene Zukunftsprogramm Ost um, damit endlich der wirtschaftliche Aufbau durchgreifend auf den Weg gebracht wird, damit die Hoffnung der Millionen arbeitslosen Menschen in Ostdeutschland nicht vergeblich ist. Hoffnung braucht Erfolge, sonst verzehrt sie sich, schlägt um in Enttäuschung sowie — das merken wir schon — in Verbitterung und Aggressivität. Nicht nur in der Asylfrage, sondern auch in der Aufbau- und Vereinigungskrise liegt eine explosive Gewalt, die diesen Staat erschüttern könnte.Ich möchte mich namens der SPD-Fraktion für die einfühlsamen Worte, die der Präsident in dieser Angelegenheit heute morgen an uns gerichtet hat, ganz herzlich bedanken. Sie entsprachen voll und ganz unseren Überlegungen, Wünschen und Hoffnungen.
Meine Damen und Herren, unter Ihrer Verantwortung ist die Treuhandanstalt zu einem Synonym für Plattmachen geworden. Die Glaubwürdigkeit unseres marktwirtschaftlichen Systems sozialer Prägung wird durch falsche Weichenstellung, Fehleinschätzung und Versagen verspielt. Was muß geschehen? An erster Stelle brauchen wir eine marktwirtschaftliche Industriepolitik, in die der Sanierungsauftrag derTreuhand eingebunden ist. Es ist skandalös, wie die Spitze der Treuhandanstalt in aller Öffentlichkeit eine Strategie der Selbstauflösung betreibt. Die Menschen wollen doch wissen, wie es mit ihren sanierungsfähigen, aber noch nicht wettbewerbsfähigen Betrieben langfristig weitergeht; sie haben ein Recht darauf.Wir fordern Sie auf, Herr Finanzminister, das Primat der Politik gegenüber der Treuhandanstalt endlich eindeutig zur Geltung zu bringen und durchzusetzen. Sie können sich beim Kollegen Rühe einiges absehen, wie der es gemacht hat. Sie haben ja Vorbilder in den eigenen Reihen.
Wir brauchen Märkte für ostdeutsche Produkte. Deshalb brauchen wir eine Strategie der Absatzförderung für ostdeutsche Waren. Wir brauchen eine Verbesserung der Investitionszulage, um die Eigenkapitalbasis der ostdeutschen Betriebe zu stärken. Ob der Koalitionsvorschlag inhaltlich das gleiche meint wie wir, werden wir sehen.Wir brauchen ein langfristiges Zukunftsinvestitionsprogramm für den Ausbau der Infrastruktur, für Verkehrsinvestitionen, für Abwasser und Kläranlagen, für Sanierung und Bau von sozialen Einrichtungen. Auf die Anstoßwirkung der Investitionspauschale kann dabei nicht verzichtet werden. Voraussetzung für mehr Markt und mehr Investitionen in Ostdeutschland bleibt, daß investitionsfeindliche Eigentumsregelungen die Investitionen nicht mehr behindern oder verzögern.
Herr Bundesminister, überall stehen die Zeichen auf Sturm. Konjunkturkrise mit drohender Rezession, überbordende Staatsverschuldung, grassierende Massenarbeitslosigkeit in Ost und West, Entindustrialisierung im Osten und Krise im westeuropäischen Einigungswerk, das ist der Befund. Der Sachverständigenrat, den Sie heute schon zweimal zitiert haben, bescheinigt Ihnen den endgültigen Zusammenbruch Ihrer Haushalts- und Finanzplanung unter der Wucht des Konjunktureinbruchs. Er schreibt Ihnen ins Stammbuch, daß Sie die Konsolidierung noch nicht einmal auf den Weg gebracht haben, daß Ihre Ausgabenraten so nicht zu halten und Ihre Einnahmenschätzungen illusionär sind.Die Ursachen der Wirtschaftskrise sind aber hausgemacht. Der Sachverständigenrat formuliert es folgendermaßen — ich zitiere —:Dauernde Unsicherheit über das Ausmaß der Finanzierungsprobleme, zunehmende Ungewißheit über die Art der Finanzierung und aufkommende Zweifel an der Belastbarkeit unserer Volkswirtschaft sind die hausgemachten Ursachen der konjunkturellen Krise.Auf Grund Ihres politischen Unvermögens in der Zeit des Einigungsbooms, die Konsolidierung nachhaltig anzugehen, haben Sie sich selbst jede Möglichkeit genommen, einer antizyklischen Finanzpolitik das Wort zu reden.
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10342 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Helmut Wieczorek
Statt dessen verschwinden die Bundesfinanzen weiter in einem Schuldenloch. Sie selbst, Herr Bundesfinanzminister, gaben beim Konjunktureinbruch noch die Losung aus — ich zitiere erneut —:Ein höheres Defizit darf es nicht geben. Auch international stehen wir in der Pflicht, keinen höheren Beitrag zuzulassen, ansonsten würden wir unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.
Aber lassen Sie diesen Worten denn Taten folgen?Im gleichen Atemzug beschlossen Sie die Erhöhung der Neuverschuldung auf 43 Milliarden DM im nächsten Jahr. Sie machen dabei ganz gegen Ihre Natur eine Anleihe bei Keynes, daß die konjunkturbedingten Steuermindereinnahmen durch eine erhöhte Verschuldung ausgeglichen werden sollen. Wahr ist, Herr Finanzminister, das sind keine konjunkturpolitischen, sondern illusionsbedingte Mindereinnahmen,
weil Sie keine Erwartung in die Belebung der Konjunktur setzen und Ihre Finanz- und Steuerplanung auf völlig unrealistischen Daten aufbauen. Ein 7%iges Wirtschaftswachstum war bei Ihrer Politik von vornherein Illusion, weil Sie die inländische Konjunktur in eine Vertrauenskrise stürzten. Eine führungslose Finanzpolitik setzt auf die Weltkonjunktur als Rettungsanker. Herr Finanzminister, Sie haben Roulette gespielt und verloren.Weil ein glaubwürdiges Konzept für die Finanzpolitik fehlt, muß jede Erhöhung der überbordenden Schuldenlasten die Gefahr abermals steigender Zinsen heraufbeschwören. Wenn die Vertrauenskrise die Grenzen Deutschlands überspringt und die D-Mark unter Abwertungsdruck gerät, wird eine zum Gegensteuern gezwungene Zinspolitik jeden konjunkturellen Impuls auf der Stelle abwürgen. Und wer garantiert der verunsicherten Wirtschaft, daß es im nächsten Jahr bei 43 Milliarden DM bleibt? Meinen Sie, Herr Minister, daß Ihnen noch jemand glaubt?Der Bundeshaushalt 1993 enthält eine Reihe ungedeckter Schecks. Was ist denn, wenn sich die Prognosen vom Nullwachstum bestätigen? Dann fehlen weitere 4 bis 5 Milliarden DM Steuereinnahmen in der Bundeskasse, dann wird nach Rechnung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft ein weiteres Loch von 5 Milliarden DM bei der Arbeitslosenversicherung aufgerissen. Wollen Sie dann die Verschuldung des Bundes wieder deutlich über die 50-MilliardenGrenze bringen oder die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf 7 % erhöhen? Welche finanziellen Risiken liegen in der Schußfahrt der Bundesbahn? Und auch beim Grundfreibetrag haben Sie schon jetzt ein erkennbares Haushaltsloch von 1 Milliarde DM.Meine Damen und Herren, seit dem Bundesparteitag der CDU soll doch bei Ihnen die Stunde der Wahrheit schlagen.
Wenn wir von Ihnen immer wieder hören, dieserHaushalt sei solide finanziert, dann kann ich nurfeststellen, dieser Haushalt treibt wie ein Ballon hochüber der Wirklichkeit ohne Verbindung mehr zu diesem Land und seinen Problemen.
Dieser Haushalt ist weder solide noch unsolide, er ist schlicht für den Reißwolf.
Meine Damen und Herren, das Haushaltsloch im gesamten öffentlichen Sektor lag im letzten Jahr bei 151 Milliarden DM. In diesem Jahr, in 1992, steigt die Finanzierungslücke in allen öffentlichen Haushalten nach Berechnungen des Sachverständigenrates auf 215 Milliarden DM. Das sind 7 % des Sozialprodukts, und im nächsten Jahr wird es nicht weniger werden.
Eine führungslose und desolate Finanzpolitik läßt den Staat in diese Überschuldung abgleiten. Der Schuldenstand des öffentlichen Sektors wird 1993 sagenhafte 1,9 Billionen DM erreichen, der Anstieg der Staatsverschuldung 2,3 Billionen in 1996 laut Ihrem Finanzplan, Herr Bundesfinanzminister. Das ist vorprogrammiert. Diese Verschuldung wird den Staat mit Zinszahlungen in Höhe von 185 Milliarden DM belasten; das sind 500 Millionen DM pro Tag. Das übersteigt die ganzen Transferleistungen für den Aufbau Ostdeutschlands in Höhe von 150 Milliarden DM.Das ist die Realität. Sie wollten sie hören; ich habe sie Ihnen gesagt. Hören Sie zu, Sie können lernen.
Allein für den Bund, einschließlich seiner Schattenhaushalte — und ich bin froh, daß der Bundesfinanzminister mittlerweile bereit ist, seine Ziehkinder jetzt auch wirklich in seinen Schoß aufzunehmen —, müssen wir dann für 100 Milliarden DM Zinsen geradestehen.Der Anteil der Steuereinnahmen des Bundes, der in wenigen Jahren für Zinsen ausgegeben werden muß, läuft gegen 25 %. Wie auch immer Sie das trickreich biegen, fast jede vierte Mark des Bundes muß nach Ihrer mittelfristigen Finanzplanung 1996 für Zinsen geopfert werden. Das ist eine Politik des „Nach mir die Sintflut!".Die Präsidenten der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder haben recht, wenn sie Alarm schlagen. Unter Ihrer Regierung wird der ohnehin begrenzte Handlungsspielraum des Staates auf Null reduziert. Weil Sie dieses Desaster vor Augen haben, erfindet der Bundeskanzler jetzt die Erblastlegende von 400 Milliarden DM. Weil Sie die fälligen 40 Milliarden DM an Zins und Tilgung nicht aus den Haushalten finanzieren können, sollen ab 1995 die Steuern erhöht werden.
Herr Bundeskanzler, wenn das die Stunde der Wahrheit ist, dann bekennen Sie sich auch dazu, daß diese Lasten dem Grunde nach auf politischen Ent-
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Helmut Wieczorek
Scheidungen bei der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 beruhen.
Sozialdemokraten haben diese Entscheidungen mitgetragen. Aber seien Sie politisch redlich, wenn es darum geht, solche Entscheidungen darzustellen.Meine Damen und Herren, dem Bundeskanzler will ich gerne sagen: 300 Milliarden DM Schulden kosten pro Jahr 30 Milliarden DM an Zinsen, und sie sind jetzt schon da. Es ist nicht so, daß sie erst 1995 eintreten, sondern wir haben sie schon. Wir werden bis 1995 noch weitere 100 Milliarden DM zusätzlich bekommen. Das sind nämlich die fortgeschriebenen Zinsen für diese Beträge. Darüber müssen Sie sich klar werden.Herr Bundeskanzler, die Steuern müssen nicht etwa wegen der Erblast erhöht werden, sondern wegen Ihrer wirtschafts- und finanzpolitischen Unfähigkeiten, auf die deutsche Einheit angemessen zu reagieren.
Woher nehmen Sie das Recht, mit einem galoppierenden Anstieg der Staatsverschuldung die Ausbeutung der nächsten Generation zu betreiben? Sie kehren die Verantwortung der Generationen um: Nicht mehr die Eltern sorgen für ihre Kinder, sondern die Kinder und Enkel haften für ihre Eltern. Die Lasten Ihrer Schuldenpolitik trifft die nächste Generation mit Zins und Tilgung, mit Handlungsverlust des Staates und mit heutigen Wachstums- und Wohlstandsverlusten.Unfaßbar ist mir die Gelassenheit, mit der diese Bundesregierung seit Jahren ein Millionenheer an Arbeitslosen hinnimmt. Meine Damen und Herren, die Konjunkturkrise im Westen und die Aufbaukrise im Osten lassen die Zahl der registrierten Arbeitslosen im nächsten Jahr auf rund 3,3 Millionen steigen. Insgesamt sind dann 5 Millionen Menschen ohne vollwertige Arbeit. Der Tiefpunkt ist noch nicht erreicht, weil weitere Entlassungen bei Treuhandbetrieben eintreten und der Personalabbau im öffentlichen Dienst im Osten fortgesetzt wird.In dieser Situation kürzt die Bundesregierung zum Stopfen von Haushaltslöchern die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik um 5 Milliarden DM. Damit erhöht sich die Arbeitslosigkeit Ost um schlicht und einfach weitere 150 000 Menschen. Allein die offene Arbeitslosigkeit von 3,3 Millionen Menschen kostet den Staat 100 Milliarden DM in Form von Unterstützungen und ausfallenden Steuern und Beiträgen.Eine Finanzpolitik, meine Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit erzeugt, handelt nicht nur sozial verantwortungslos, sondern auch fiskalisch widersinnig.
Unter Ihrer Regierung ist die Vollbeschäftigung leider zu einer Vokabel der Wirtschaftsgeschichte geworden.
— Sie setzen nicht auf die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, sondern auf ihre Finanzierung, Herr Bötsch. Das ist die moralische Bankrotterklärung Ihrer Regierung. Ich freue mich sehr, daß Sie mir zustimmen.
Meine Damen und Herren, in einer sozialen Marktwirtschaft muß der Staat das Recht auf Arbeit zur Geltung bringen, auch wenn es nicht in der Verfassung steht. Der einzelne Mensch muß Arbeitsbereitschaft in Wohlstand umsetzen können. Unsere Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Mit unserem Programm „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren" wollen wir die Arbeitsmarktpolitik nicht ausdünnen, sondern zu einem wirtschaftsnahen Instrument der Arbeits- und Strukturförderung weiterentwickeln.
— Ich habe die Pause falsch gelegt.
— Ihr Gehör hat auch schon gelitten; das merke ich.
— Aber Sie sind ganz schön wach. Ich merke das schon.
— Ruhig und gelassen! Wir kommen dazu.Gehen wir zunächst einmal weiter, und beschäftigen wir uns mit der Regierung; denn es ist eine Abrechnung der Opposition mit der Regierung, nicht eine Abrechnung der Regierung mit der Opposition. Der Bundesfinanzminister hat heute morgen zwar in vorbildlicher Weise die Gewaltenteilung hier einmal durchbrochen. Er hat sich hier hingestellt, als es um eine parlamentarische Debatte des Haushalts ging, als es eigentlich darum ging, daß der Haushalt vom Haushaltsausschuß dem Plenum wieder vorgelegt wurde und eigentlich ein Bericht des Haushaltsausschusses an das Plenum erfolgen mußte. Da hat der Finanzminister Ihnen allen die Arbeit abgenommen und gesagt: Das, was das Parlament machen kann, das kann ich als Regierung auch machen.
Das ist eine Verwechslung der Strukturen, wie sie hier sind. Wenn Sie sagen, er hätte es gut gemacht, dann zeigt das nur Ihr mangelndes Beurteilungsvermögen.
Der Finanzminister hatte Angst, daß vielleicht einer der Kollegen aus dem Ausschuß die Wahrheit sagen könnte.
Er hat sich deshalb gesagt: Am besten ist, ich sage esselbst. Er ist ja ebenfalls gewählter Parlamentarier,
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10344 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Helmut Wleczorek
und damit konnte er das tun. Er hat es aber als Regierungsmitglied getan.
— Ich will Ihnen weiter ein paar Probleme nennen, Herr Kollege Glos, und Sie einmal daran erinnern, daß Wahrheit und Klarheit, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit eigentlich das Gebot der Stunde sind. Ich sage Ihnen: Wir brauchen einen finanzpolitischen Neuanfang von Grund auf. Seit langem fordern wir ein neues soziales Bündnis für unser Land. Wir Sozialdemokraten sagen ja zu einem Sozialpakt, wenn es um wirklich solidarisches Handeln für den Aufbau Ost und für Gerechtigkeit geht. Aber die Zweifel wachsen, ob es die Bundesregierung unter diesen Gesichtspunkten ernst meint. Für einen Sozialpakt brauchen wir eine Politik der sozialen Gerechtigkeit. Die soziale Schieflage der Finanzierung der deutschen Einheit und in der Finanz- und der Steuerpolitik insgesamt muß beseitigt werden.Meine Damen und Herren, die Gerechtigkeitslücke entspringt doch nicht der Fantasie eines Forschungsinstituts, mit dem sich der Bundesfinanzminister über Berechnungsmethoden und Quoten streitet. Es ist gelebte Erfahrung, daß die kleinen und mittleren Einkommen zur Finanzierung der deutschen Einheit härter herangenommen worden sind als die Leistungsfähigen. Die soziale Schieflage wird von Gewerkschaften wie von Arbeitgebern, von Kirchen wie aus dem Kreis der Koalitionsfraktionen eingeräumt. Nur Sie, Herr Finanzminister, halten die Gerechtigkeitslücke beharrlich für eine Einbildung.Die Verlängerung des Solidaritätszuschlags oder die Erhebung einer Ergänzungsabgabe für hohe Einkommen sind für Sozialdemokraten essentielle Bestandteile eines Sozialpaktes. Natürlich kann man sich beim gegenwärtigen Konjunktureinbruch auch etwas Besseres wünschen. Aber die ursächliche Vertrauenskrise überwindet man nicht durch Wünsche, sondern durch klare Aussagen, die Bestand haben. Die Wirtschaft braucht vor allem Verläßlichkeit, Beständigkeit und Berechenbarkeit. Dazu gehört auch unsere Aussage, daß die Ergänzungsabgabe so auszugestalten ist, daß nachweisbare investive Anstrengungen für den wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands angerechnet werden.Wenn Sie es mit der Bündelung aller Kräfte zur Bewältigung der Einheit ernst meinen, dann sollten Sie Ihre Zumutungen an die Gewerkschaften einstellen.
Lohnstopp, Öffnungsklauseln in Tarifverträgen, Karenztage, höhere Beiträge zur Sozial- und Rentenversicherung bei gleichzeitiger Senkung der Steuern auf Unternehmensgewinne und Vermögen — meine Damen und Herren, das solidarisiert nicht, es entsolidarisiert.
Sie provozieren die Verteilungskämpfe, die die ohnehin spärlich vorhandenen Wachstumskräfte vollends aufzehren würden.Die gesamtwirtschaftliche Vernunft der Gewerkschaften hat für den sozialen Frieden und die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland in der Vergangenheit mehr bewirkt, als ganze Politikergenerationen vom Schlage des Wirtschaftsministers je bewirken werden. Wenn Sie es mit dem Sozialpakt ernst meinen, so nehmen Sie die von Sozialdemokraten vorgelegten Vorschläge zur Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen und zum Investivlohn auf.
Meine Damen und Herren, wer Solidarität beansprucht, muß sagen, wofür. Der Bundeskanzler ist am Zuge. Erstens. Wir brauchen einen Kassensturz. Aber die Haushaltsberatungen lassen Zweifel, ob Ihr Finanzminister überhaupt noch die Zahlen kennt. Ich sage: Herr Bundeskanzler, legen Sie eine ungeschminkte Bestandsaufnahme über das Ausmaß der Finanzierungsprobleme im vereinten Deutschland vor!
Diese Bestandsaufnahme muß die Haushalte von Bund und Ländern, Schatten- und Nebenhaushalte und die Haushalte der Sozialversicherungsträger umfassen.Zweitens. Legen Sie auf dieser Grundlage ein gesamtstaatliches Konsolidierungskonzept vor. Mit einem föderalen Konsolidierungsprogramm allein ist es nicht getan. Bisher ist auch dieses nur eine Worthülse. Eine drastische Sparpolitik und eine generelle Revision der Überprüfung der Staatstätigkeit sind unabdingbar. Diese Einsicht, meine Damen und Herren, ist den Menschen aber nur dann zu vermitteln, wenn es beim Sparen gerecht zugeht. Statt den Empfängern von Arbeitslosenhilfe, von Sozialhilfe, von BAföG die Luft abzudrücken, sollten Sie, Herr Waigel, das Urteil zur Steuerfreiheit des Existenzminimums beherzigen.Drittens. Sparen hat erste Priorität. Aber es ist keine Zauberformel. Auch ein durchgreifendes Konsolidierungskonzept vollbringt keine Wunder. Mut zur Wahrheit heißt auch, daß Sie klar sagen, wie die notwendigen Ausgaben beim Aufbau Ostdeutschlands insgesamt gedeckt werden sollen. Sagen Sie, in welchem Umfang es Einnahmeverbesserungen des Staates bedarf, welche Steuern wann und wo erhöht werden sollen. Bringen Sie Ordnung in die total konfuse Steuerdiskussion Ihrer Koalition:
Investitionsanleihe, Mineralölsteuererhöhung, Autobahngebühr, Sondersteuer zur Altlastenfinanzierung — an einem Tag vom Tisch, am nächsten Tag wieder auf dem Tisch, entweder erst ab 1995 oder ganz bestimmt auch schon vorher. Das Steuerchaos der Koalition ist Gift für den Solidarpakt und die Konjunktur.
Unsere Vorschläge, Herr Kollege Hinsken — danach haben Sie ja gefragt —, liegen sehr klar auf dem Tisch. Wir wollen eine Ergänzungsabgabe und eine
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10345
Helmut Wieczorek
Arbeitsmarktabgabe, klar und berechenbar, für alle nachvollziehbar.
Herr Wieczorek, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Die rote Lampe ist allerdings durch Ihre Papiere verdeckt.
Entschuldigung, Frau Präsidentin.
— Für mich ist rot immer das Zeichen für Fortschritt, Herr Kollege Bötsch.
Frau Präsidentin, ich bitte ganz herzlich darum, daß ich noch zwei Sätze sagen darf. Ich denke, daß mir meine Fraktion meine Redezeit um diesen Punkt verlängert. Die Kollegen der Koalition waren so freundlich, mich ständig zu unterbrechen.
— Ich habe das ja gern mit Ihnen gemacht; ich freue mich darüber. Es tut mir nur leid, daß es für Sie ein bißchen Volkshochschule war. Aber Nachhilfeunterricht kann ja nicht schaden.
Meine Damen und Herren, die grundlegende Neuordnung der Finanzbeziehungen und der Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern hat für mich staatspolitische Bedeutung. Im Zentrum dieser Entscheidung steht die bedarfsgerechte Finanzausstattung der neuen Länder. Dabei geht es nicht nur um das Geld, sondern es geht um eine Grundentscheidung über die Zukunft und die Funktionsfähigkeit des Föderalismus. Alle Länder sind sich darin einig, daß Ihre Vorschläge mit der Wirklichkeit im vereinten Deutschland, im neuen Deutschland nicht vereinbar sind. Sie verschärfen die konjunkturellen Spannungen im Westen und überdehnen den bundesstaatlichen Finanzausgleich. Sie verlassen die Rechtsgrundlagen des Einigungsvertrages. Zum Mut zur Wahrheit gehört auch, die Länder jetzt nicht zu Sündenböcken Ihrer verfehlten Politik zu machen.
Ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir so aufmerksam zugehört haben.
Als nächster spricht der Kollege Jochen Borchert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mir vorstellen, es würde der Opposition so passen, wenn nur sie hier zu Wort käme. Aber ich muß Ihnen schon sagen, die Bürger blicken heute gespannt auf diese Haushaltsdebatte, weil sie wissen wollen, welche Vorschläge wir machen, um die vor uns liegenden Probleme zu lösen. Bürger, die dabei auf die Opposition gehofft haben, sind nach der Rede des Kollegen Wieczorek um eine Hoffnung ärmer geworden.
Herr Kollege, ich muß hier die Volkshochschulen verteidigen. Wenn Sie behaupten, dies sei Volkshochschulniveau gewesen, dann muß ich hier die Volkshochschulen in Schutz nehmen: Das war weit unter dem Niveau der Volkshochschulen.
Wenn, statt eigene Alternativen zu präsentieren, gefragt wird — etwa bei der 20%igen Investitionszulage —: „Warum ist dieser Vorschlag nicht schon früher gekommen?" und wenn der Kollege Roth noch heute kritisiert: „Warum nur bis zu 200 000 DM? " — es ist eine Förderung bis zu 1 Million DM —, dann zeigt auch dies den Informationsstand der Opposition.
— Sie sollten die Presseerklärung des Kollegen Roth durchlesen, in der es heißt: Investitionen bis zu 200 000 DM.
— Nein, Ihr Kollege Roth.
Wer die Urheberschaft der SPD für Vorschläge der Bundesregierung anmeldet, der zeigt, daß ihm eigene Vorschläge fehlen; er ist nicht geeignet, die Zukunftsprobleme der Bundesrepublik zu lösen.
Herr Kollege Wieczorek, Sie sollten Ihre eigene Rede noch einmal ehrlich durchlesen.
Sie werden dann feststellen: Nicht der Haushalt, sondern Ihre Rede ist für den Reißwolf geeignet.
Herr Abgeordneter Borchert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
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10346 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Frau Kollegin, wenn er die 200 000 DM auf die Summe der Investitionszulage bezog, hat er recht.
In der Presseerklärung des Kollegen Roth ist für mich nicht deutlich geworden, ob er von der Investitionssumme oder von der Höhe der Investitionszulage sprach.
Jetzt hat Herr Borchert das Wort!
Wenn Sie hier jetzt richtigstellen, daß er damit die Höhe der Investitionszulage gemeint hat, nehme ich dies gern zur Kenntnis.
Meine Damen und Herren, in den zwei Jahren seit der Wiederherstellung der Einheit unseres Vaterlandes haben wir in einer großen Anstrengung eine Menge auf den Weg gebracht. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind heute in ganz Deutschland selbstverständlich. In den neuen Bundesländern — in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen — haben sich die Verhältnisse deutlich verbessert. Renten und Einkommen sind gestiegen. Sie sind stärker gestiegen als die Lebenshaltungskosten einschließlich der Mieten.Die Erneuerung der Infrastruktur kommt auf breiter Front in Gang. Der Verwaltungsaufbau in den Gemeinden und Kreisen der neuen Bundesländer zeigt deutliche Erfolge. Kurz gefaßt: Die Fundamente für die Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands sind geschaffen.Ich verkenne aber nicht, daß der Strukturwandel für viele Menschen im Osten und für manche Menschen in Westen erhebliche persönliche Belastungen, Härten, Ängste und Unsicherheiten mit sich bringt. Unserer gemeinsamen Sache kann es deshalb kaum dienen, wenn wir gegeneinander in einen Wettlauf der Forderungen eintreten. Das Ergebnis eines solchen Wettlaufs wäre für mich klar; es kann dabei nur Verlierer geben: In den neuen Bundesländern bleiben enttäuschte und nicht erfüllbare Hoffnungen zurück, in den alten Bundesländern das Gefühl der Überforderung. Eine solche Strategie zu verfolgen kann nicht das Ziel einer vernünftigen Politik sein.Ich meine, der Ansatzpunkt unserer Politik muß lauten: Wie können wir die vor uns liegenden Probleme gemeinsam lösen? Richtig ist, daß sich die Probleme in einer dynamisch wachsenen Wirtschaft leichter lösen lassen. Man kann den Zuwachs zur Verteilung und damit zur Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben nutzen.Da, wie die Fünf Weisen uns in ihrem Jahresgutachten bestätigen und wie die Wirtschaftsforschungsinstitute schon vor zwei Wochen betont haben, die volkswirtschaftlichen Indikatoren gegenwärtig eher auf Flaute als auf Wachstum stehen, wird die Lösung der Probleme nicht einfacher. Die Verteilungskämpfe werden härter — und dies in einer Phase unserer Geschichte, die unter dem Motto steht: Teilung durch Teilen überwinden.Ich finde, Rudi Walther hat recht, wenn er darauf hinweist, daß die deutsche Einheit nicht planbar war und daß sie die Finanzpolitik vor völlig neue, vor völlig überraschende Aufgaben stellt.Für die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung stehen bei der Bewältigung dieser Aufgaben drei Fragen im Mittelpunkt.Erstens. Schaffen wir eine Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für angemessenes wirtschaftliches Wachstum, indem wir den Ausgabenanstieg bei Ländern und Gemeinden auf 3 % und beim Bund auf 2,5 % begrenzen?Zweitens. In welchem Ausmaß können Wachstumsimpulse insbesondere für die neuen Länder durch eine Revision der Staatstätigkeit freigesetzt werden?
Drittens. Welche Belastungen bringt die Schlußbilanz von 40 Jahren SED-Zwangswirtschaft, und wie kann diese Erblast bezahlt werden?Meine Damen und Herren, Sparappelle sind immer populär. Jeder greift sie gerne auf. Aber mit der Forderung allein ist es nicht getan. Wir müssen handeln. Die Verteilung der geringen gesamtwirtschaftlichen Zuwächse reicht heute nicht mehr aus, um dem Ziel, annähernd gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland zu schaffen, gerecht zu werden. Heute, in einer schwächer werdenden Konjunktur, wird sichtbar, in welchem Ausmaß der Staat durch seine Bürger auf vielen Feldern des täglichen Lebens überfordert ist. Kurz gesagt: Alle wollen von allem zuviel. Die Ansprüche der Bürger an den Staat und die Pflichten, die der Bürger gegenüber dem Staat hat, stimmen nicht mehr überein.
Es ist unsere Aufgabe, den Bürgern zu sagen, welche staatlichen Leistungen gekürzt oder gestrichen werden können, damit Mittel für unverzichtbare staatliche Aufgaben zur Verfügung stehen.
Seit der Öffnung der Mauer bis heute hat die Finanzpolitik auf politische Veränderungen in Deutschland und in Osteuropa reagieren müssen. Wer den Anstieg der Verschuldung in dieser Phase kritisiert, der hätte sagen müssen, welche Maßnahmen er ergriffen und auf welche Maßnahmen er verzichtet
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10347
Jochen Borcherthätte. Das heißt konkret: wo er gestrichen und was er nicht finanziert hätte. Diese Antwort ist die Opposition auch heute wieder schuldig geblieben.
Auf dem Weg zur Wiedervereinigung haben wir alle die Folgen von 40 Jahren Sozialismus falsch eingeschätzt. Heute wissen wir: Es geht nicht darum, die Erlöse aus der Privatisierung des industriellen Vermögens der DDR zu verteilen, sondern darum, die sozialistische Erblast von 400 Milliarden DM zu finanzieren.Mit dem Zusammenbruch der Märkte in Mittel-und Osteuropa waren über Nacht viele Produkte aus Ostdeutschland nicht mehr absetzbar. Neue Produkte müssen erst entwickelt und neue Märkte erschlossen werden. Wir wissen heute: Der Aufbau der neuen Bundesländer wird länger dauern und mehr Mittel erfordern, als wir alle vor zwei Jahren noch glaubten.Mit dem Haushalt 1993, mit dem föderalen Konsolidierungskonzept, mit dem Solidarpakt und mit der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern einschließlich der Finanzierung der sozialistischen Erblast müssen Bund, Länder und Tarifparteien ihren Beitrag zum Aufbau Ostdeutschlands und zur Verbesserung der Standortbedingungen in ganz Deutschland leisten und damit einen verläßlichen Finanzrahmen für die nächsten Jahre festlegen. Hierzu trägt der Bundeshaushalt 1993, den wir heute beraten und verabschieden, entscheidend bei.
Die Koalitionsfraktionen haben im Mai und Juni beschlossen, die Ausgabensteigerung im Bundeshaushalt auf 2,5 % zu begrenzen. Mit dem vorliegenden Bundeshaushalt wird dieser Beschluß umgesetzt.
Der vorliegende Abschluß zeigt nicht, in welchem Umfang bei den Beratungen Veränderungen erfolgt sind. Insgesamt wurden 2 % des Haushaltsvolumens — das sind 10 Milliarden DM — umgeschichtet, indem an vielen Stellen gekürzt und an anderen Stellen draufgelegt wurde. Die konjunkturbedingten Mindereinnahmen wurden richtigerweise durch eine erhöhte Nettokreditaufnahme finanziert. Die Nettokreditaufnahme steigt von 38 Milliarden auf 43 Milliarden DM. Sie liegt aber damit noch immer um 2 Milliarden DM unter dem Eckwert des alten Finanzplans — trotz der Steuermindereinnahmen von 7,5 Milliarden DM.Dies ist konjunkturpolitisch vernünftig; denn eine Ausgabenkiirzung in Höhe der Steuermindereinnahmen hätte negative Auswirkungen auf die schon labile wirtschaftliche Entwicklung.Um die Mehranforderungen auszugleichen und um neue Maßnahmen zu finanzieren, mußte an vielen Stellen gespart werden. Im Personalbereich wurden 4 000 Stellen im Haushaltsverfahren kegelgerecht eingespart. Dies entspricht einem Finanzvolumen von 200 Millionen DM.Die Kürzungsliste von 3 Milliarden DM wurde umgesetzt. Dabei handelt es sich im wesentlichen um Mittel für Maßnahmen, die im Haushaltsverfahren gekürzt werden konnten. Bei diesen Kürzungen wurde niemand ausgenommen.
Auch die politischen Stiftungen und die Fraktionen im Deutschen Bundestag mußten ihren Teil zu den Einsparungen beitragen.Die SPD bezeichnet diese Streichliste als einen „hilflosen Kehraus".
Das Ausbringen einer globalen Minderausgabe in verschiedenen Einzelplänen bezeichnet die SPD als „Ausdruck politischer Handlungsunfähigkeit".Die Umschichtung von 1 Milliarde DM aus dem Ansatz „Öffentlicher Personennahverkehr" von West nach Ost lehnt die SPD mit der Begründung ab, dies sei den alten Ländern zugesagt worden. Die SPD scheint noch immer nicht begriffen zu haben, daß wir die finanzpolitischen Aufgaben nicht lösen, wenn wir die einmal festgeschriebene Mittelverwendung der Vergangenheit auch für die Zukunft fortschreiben.
— Sie sagen das. — Wer Teilung durch Teilen überwinden will, der muß bereit sein, die bisherige Mittelverteilung zu überprüfen.
Herr Abgeordneter Borchert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Esters?
Aber gern.
Herr Kollege Borchert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir Sozialdemokraten bei der Beratung des von Ihnen angesprochenen Titels im Einzelplan des Bundesministers für Verkehr ausdrücklich gesagt haben, daß wir in der Tendenz zwar mit Ihnen übereinstimmen,
daß wir aber befürchten, daß es mit Blick auf eine im Vermittlungsausschuß gegebene Zusage zu Schwierigkeiten bei der Umsetzung kommt? In der Sache waren wir überhaupt nicht auseinander.
Herr Kollege Esters, ich nehme zur Kenntnis, daß die Opposition in der Tendenz mit uns übereinstimmt, aber dann, wenn es um Beschlüsse geht, nein sagt, weil sie Schwierigkeiten in der Zukunft befürchtet.
Die für die Erhöhung des Grundfreibetrages zur Verfügung stehenden Mittel lehnt die SPD als zu gering ab. Die Länderfinanzminister sehen dies allerdings anders und haben der Erhöhung des Grundfreibetrages zugestimmt.
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10348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Jochen BorchertWenn dies die Alternativen der SPD zur Regierungspolitik sind, dann hat die SPD in den Jahren der Opposition seit 1982 nichts hinzugelernt. Nein sagen allein genügt nicht. Konkrete Vorschläge sind erforderlich, und dort, wo die SPD konkrete Vorschläge macht, da wird es teuer.Das Sofortprogramm der SPD vom August dieses Jahres, das auf dem Sonderparteitag der SPD in der letzten Woche verabschiedet wurde, enthält auf der Ausgabenseite eine Vielzahl öffentlichkeitswirksamer Vorhaben, die insgesamt zu Haushaltsbelastungen in zweistelliger Milliardenhöhe führen. Dies kostet nach Ihren eigenen Angaben rund 40 Milliarden DM. Da fragt man sich, wer dies bezahlen soll. In dem Programm der SPD werden auf 26 Seiten neue Forderungen beschrieben — also, Theo Waigel ist nicht für Ihre Forderungen zuständig —,
in 19 Zeilen wird die Finanzierung dargestellt. Wie sie dies als Durchbruch beim Aufbau Ost bezeichnen kann und wie sie dies begründen will, das bleibt das Geheimnis der Opposition.Bis zu 15 Milliarden DM sollen bei den Subventionen gekürzt und durch Einsparungen, durch Strekkungen und Streichungen im Haushalt finanziert werden. Bei den Haushaltsberatungen hätte die SPD Gelegenheit gehabt, durch eigene Anträge deutlich zu machen, wo sie Subventionen kürzen und wie sie sparen will. Dies hat die SPD nicht getan. Sie hätte dann Roß und Reiter nennen müssen, und dazu hat ihr der Mut gefehlt.Es ist ja schon bezeichnend, wenn der Kollege Wieczorek auch heute kaum eigene Vorschläge macht und heute morgen im Fernsehen auf die Frage, wo denn die Alternativen der Opposition seien, wenn sie die Regierung übernehmen müßte, geantwortet hat, dazu komme es nicht.
Also, das sollten Sie sich noch einmal anhören.
Herr Kollege Borchert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieczorek?
Herr Kollege
— ich sage immer: Waigel; Entschuldigung — Borchert, wären Sie bereit, dem Haus zu bestätigen, daß ich wörtlich gesagt habe: Diese Gefahr besteht nicht, weil wir eine funktionierende Regierung haben —
— Klatschen Sie sich Mut zu? Ich habe über die Verfassungswirklichkeit gesprochen. Wir legen keinen Wert darauf, Sie aus dem Schlamassel zu holen! Das habe ich gesagt.
Ich danke Ihnen für die Bestätigung meiner Aussage, Herr Kollege. Sie haben das wiederholt, was Sie heute morgen gesagt haben, nämlich daß keine Gefahr bestehe, daß Sie die Regierung übernehmen. Aber daß Sie damit auch begründen, daß Sie keine eigenen Alternativen vorlegen, ist für eine Opposition schon erstaunlich.Der Weg, zusätzliche Haushaltsausgaben über Steuer- und Abgabenerhöhungen zu finanzieren, ist angesichts der schwachen Konjunktur und der schon hohen Steuerbelastung nicht gangbar. Dies bestätigt das Gutachten des Sachverständigenrates. Das alles aber stört die SPD nicht. Sie fordert weitere Steuer- und Abgabenerhöhungen.Meine Damen und Herren, die heutige Situation ist aber genau umgekehrt: Es geht nicht darum, neue staatliche Leistungen über Steuer- und Abgabenerhöhungen zu finanzieren, sondern es geht um eine Neubestimmung der Rangliste staatlichen Handelns.
Dabei steht an erster Stelle, die Vorfahrt für den Aufbau Ost zu sichern.Alle Überlegungen müssen aber von folgenden Eckpunkten ausgehen: Die Ausgabensteigerung des Bundeshaushaltes darf 2,5 % nicht überschreiten. Weitere Mittel können nur durch Einsparungen und Umschichtungen im Rahmen des vorliegenden Haushalts aufgebracht werden. Es darf keine weitere Erhöhung der Nettokreditaufnahme durch zusätzliche Ausgaben erfolgen.
Weitere Einsparungen in den öffentlichen Haushalten und die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den neuen und in den alten Bundesländern sind Aufgaben, die der Bund, die Bundesländer und die Tarifparteien gemeinsam leisten müssen. Für die Gespräche mit den Bundesländern hat der Bundesfinanzminister ein föderales Konsolidierungsprogramm vorgeschlagen, um in Übereinstimmung mit den Ländern die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden durch weitere Einsparungen zu entlasten.Damit aber wird der heute zu beratende Haushalt nicht zur Makulatur, wie die SPD behauptet. Der vorliegende Haushalt 1993 ist solide finanziert.
Alle heute erkennbaren Ausgaben und Einnahmen sind etatisiert. Der Vorwurf der SPD, daß voraussichtlich entstehende Einnahmen und Ausgaben bewußt außer Ansatz geblieben sind, ist falsch. Und die SPD weiß dies.Es ist schon erstaunlich, daß die SPD heute behauptet, Haushaltsrisiken wären nicht etatisiert, aber während der Haushaltsberatungen keinen einzigen Antrag eingebracht hat, um die heute von der SPD behaupteten Risiken im Haushalt aufzunehmen. Damit wird deutlich: Es geht der SPD nicht um seriöse Haushaltsberatungen, sondern ausschließlich um politische Showeffekte.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10349
Jochen BorchertDie Forderung der SPD, die Haushaltsberatungen zu verschieben, wurde deshalb von den Koalitionsfraktionen mit Recht zurückgewiesen.
Die Verabschiedung des vorliegenen Haushalts 1993 ist aus Gründen der Kontinuität und Verläßlichkeit der Finanzpolitik und aus Gründen der Planungssicherheit für die neuen Bundesländer notwendig. Ohne eine Verabschiedung dieses Haushalts können die zusätzlichen Mittel für die neuen Bundesländer nicht bereitgestellt werden. Sie wären die Leidtragenden einer vorläufigen Haushaltsführung.Da die heutige Diskussion sehr stark von der kommenden zusätzlichen Aufbauhilfe für die neuen Länder geprägt ist, wird leicht vergessen, daß bereits der Regierungsentwurf gegenüber 1992 eine Erhöhung der Mittel um 6 Milliarden DM vorsah.Weitere 3 Milliarden DM sind während der Haushaltsberatungen zugunsten der neuen Länder umgeschichtet worden: 1,5 Milliarden DM als globale Mittel, die im Haushaltsverfahren freigegeben werden können, deren Verwendung der Finanzminister heute konkretisiert hat; 855 Millionen DM zugunsten des Fonds Deutsche Einheit; 300 Millionen DM zusätzlich für die Kulturarbeit; 175 Millionen DM Personalkostenzuschüsse und 25 Millionen DM für die Fortsetzung des Aufbaus von freien Trägern der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern.Hinzu kommt die Umschichtung in Höhe von 1 Milliarde DM beim öffentlichen Personennahverkehr von West nach Ost.Mit zusätzlichen 10 Milliarden DM für die neuen Bundesländer ist eine Menge geleistet worden, insbesondere angesichts des engen Ausgaberahmens.Der dritte Komplex, über den heute gesprochen und bald entschieden werden muß, ist die Schlußbilanz von 40 Jahren SED-Zwangswirtschaft. Die sich auftürmenden Schulden bei der Treuhandanstalt und beim Kreditabwicklungsfonds sind die Schulden von Honecker und Genossen. Gern würde die SPD, wie der Kollege Wieczorek es versucht hat, diese Schulden dem Finanzminister in die Schuhe schieben. Es ist schon entlarvend, wie die SPD einen Großteil der DDR-Altlasten als das Ergebnis eines von der Bundesregierung politisch gesetzten Umtauschkurses bei der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 begründet.
Daraus, meine Damen und Herren von der SPD, kann ich doch nur schließen, Sie wollten den Menschen in den neuen Bundesländern einen anderen Umtauschkurs, einen schlechteren Umtauschkurs zumuten.
Sie wollten damit den Menschen in den neuen Ländern die verheerende Erblast allein aufbürden.
Dies ist soziale Kälte.
Heute wissen wir, daß bis 1995 rund 400 Milliarden DM an Erblasten vorhanden sind. Aus der Sicht der Koalitionsfraktionen muß ein Teil der Finanzierung durch Einsparungen und Neufestsetzung der Prioritätenliste aufgebracht werden. Sollte dies zur Finanzierung nicht ausreichen — so hat sich die CDU auf ihrem Parteitag in Düsseldorf eindeutig festgelegt —, sind Steuererhöhungen nicht auszuschließen, aber ausschließlich zur Finanzierung der sozialistischen Erblast.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen antworten mit dem Haushalt 1993 und dem Finanzplan bis 1996 auf drei Aufgaben:Erstens. Der Ausgabenanstieg konnte 1993 und im mittelfristigen Finanzplan bis 1996 auf 2,5 % begrenzt werden. Er liegt damit deutlich unterhalb des erwarteten Wachstums des Bruttoinlandproduktes.Zweitens. Die Frage, in welchem Ausmaß durch eine Revision der Staatstätigkeit Wachstumsimpulse freigesetzt werden können, ist heute in ihren Umrissen beantwortet worden. Die Diskussion darüber wird in den nächsten Tagen in den Gesprächen über den Solidarpakt fortgesetzt und zu Beginn des Jahres 1993 in ein föderales Konsolidierungskonzept einmünden. Bei den Maßnahmen wird kein staatlicher Bereich unberührt bleiben.Drittens. 400 Milliarden DM sozialistische Erblast sind ab 1995 abzutragen. Größte Sparanstrengungen sind dazu notwendig.
Trotz aller Sparanstrengungen werden zur Bewältigung dieser Erblast am Ende Steuererhöhungen unvermeidlich sein.Meine Damen und Herren, die Abschlußberatungen über den Umfang der Umschichtungen und Veränderungen im Haushalt 1993 waren für alle Ausschußmitglieder eine große Belastung. Ich nehme an, dies bestreiten Sie nicht.
— Vielen Dank.
Für die Bereitschaft, diese ungewöhnliche Belastung mitzutragen, danke ich allen Mitgliedern des Haushaltsausschusses:
dem Ausschußvorsitzenden Rudi Walther und seinem Stellvertreter Dr. Klaus Rose für die faire und zügige Verhandlungsleitung, aber auch dem Obmann der SPD, Helmut Wieczorek, und den Kollegen der SPD für die Bereitschaft, kurzfristige Veränderungen und Tischvorlagen mitzuberaten.
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10350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Jochen BorchertDie Art der Beratung im Ausschuß unterscheidet sich angenehm von der Art des Vortrags hier.Dr. Wolfgang Weng und den Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. danke ich für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit, das gute Verhältnis in der Koalitionsgruppe
und die Bereitschaft, auch in schwierigen Sachfragen immer einen Konsens zu suchen.Ich meine, wir haben mit dem Haushalt 1993 gemeinsam eine gute Basis für die politischen Entscheidungen der nächsten Jahre gelegt.Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Weng.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung im Zusammenhang mit der schon fast wieder vergessenen Geschäftsordnungsdiskussion heute vormittag. Wir Parlamentarier der Koalition sind uns durchaus bewußt: Das Spannungsfeld zwischen ausreichender parlamentarischer Debatte im Plenum und ausreichender Aussprache in den Ausschüssen einerseits und der Notwendigkeit andererseits, Handlungsfähigkeit der Politik zu dokumentieren, kann manchmal zu Verkürzungen führen. Trotzdem glaube ich, daß sich derjenige, der heute morgen hier ans Mikrophon getreten ist und erklärt hat, daß wir Parlamentarier Erfüllungsgehilfen der Regierung seien, im Ton vergriffen, einen Teil des Parlaments beschimpft und in der Konsequenz Demontage der parlamentarischen Demokratie betrieben hat.
Eine solche Äußerung von einem Angehörigen der SED-Nachfolgepartei, PDS, überrascht mich nicht; auch die Konsequenz überrascht mich nicht. Aber, Herr Kollege Schulz vom BÜNDNIS 90, eine Solidarisierung von Ihrer Seite mit solchen Äußerungen kann ich wirklich nicht verstehen, um so weniger, wenn Sie auch noch Vergleiche mit Scheinparlamenten in Diktaturen ziehen. Ich glaube, Sie erweisen der Demokratie damit einen außerordentlich schlechten Dienst.
Die Situation der öffentlichen Finanzen, meine Damen und Herren, ist schwieriger geworden. Leider haben sich gleichzeitig auch die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland verschlechtert. Trotzdem hat der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages seine Beratungen über den Bundeshaushalt 1993 mit einem vorzeigbaren Ergebnis abgeschlossen. Sogar der — aus guter demokratischer Tradition der Opposition angehörende — Vorsitzende des Ausschusses, Rudi Walther, hat der Arbeit der Koalition im Ausschuß — nicht nur laut Pressemeldungen, sondern auch heute morgen bei seiner Wortmeldung — Anerkennung gezollt.In einer Größenordnung, wie es im Haushaltsverfahren seither nicht erforderlich war, haben wir dieVorlage der Regierung verändert und einer Reihe von Entwicklungen Rechnung getragen, die erst in der Zeit nach Verabschiedung des Regierungsentwurfs im Bundeskabinett bekanntgeworden sind.Für die Unterstützung, die die F.D.P.-Haushaltsgruppe hierbei in der eigenen Fraktion gefunden hat — wir haben ja einen Teil der Beratungen in der Fraktion durchgeführt —, bin ich verbunden. In schwieriger Lage wird auch die interne Beratung nicht leichter. Gerade deshalb habe ich besonderen Grund, den Kollegen der Union im Haushaltsausschuß und dem Vorsitzenden der gemeinsamen Arbeitsgruppe, Jochen Borchert, zu danken. Wir haben unsere Aufgaben gemeinsam gemeistert.
— Das ist der Unterschied zum Kollegen Borchert. Ich habe die Opposition jetzt nicht erwähnt. Ich nenne sie erst in der dritten Lesung, falls sie sich ordentlich verhält.Ich kann jedoch die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung für den schwierigen Ablauf nicht entlassen. Zumindest bei der ersten Lesung des Haushalts war schon spürbar, daß die wirtschaftliche Entwicklung den Prognosen der zahlreichen Sachverständigen nicht standhielt und daß deshalb Nachbesserungen im Sinne von Ausgabenkürzungen in großem Umfang erforderlich würden.Die hierfür notwendige frühzeitige Flankierung hat uns gefehlt. Auch der Regierungsentwurf hat Schönheitsfehler gehabt. Zumindest einen will ich hier erwähnen, der zwar das formale Handeln erleichtert, aber die politischen Entscheidungen nicht in der notwendigen Weise transparent macht:In einer zu großen Zahl von Einzelhaushalten hat die Regierung mit globalen Minderausgaben operiert. Ein solches Instrument mag für das Parlament selber bei Entscheidungserfordernis in letzter Minute eine Möglichkeit sein, die Eckdaten eines Haushalts, die politischen Vorgaben, noch einzuhalten. In einem geordneten Regierungsentwurf sollten eigentlich keine globalen Minderausgaben zu finden sein; denn dem Parlament wird sonst die Antwort auf die Frage vorenthalten, wo genau und in welchem Umfang nach Auffassung der Regierung das Geld ausgegeben werden soll.Die Kritik der Opposition, daß ihre Aufgabe dadurch erschwert wird, ist verständlich. Daß es für uns auf Grund der aktuellen Entwicklung erforderlich war, dieses Instrument noch zu verstärken, hat uns nicht begeistert.Ich habe auch im Haushaltsausschuß klargemacht, daß wir eine Regierungsvorlage mit globalen Minderausgaben in Zukunft mit einer prozentualen Kürzung des Gesamtetats beantworten werden.Wir standen als F.D.P.-Fraktion und als Mehrheit der Koalition im Deutschen Bundestag vor der Frage, ob wir die Etatberatungen insgesamt verschieben sollten, bis eine Reihe zusätzlicher Fakten komplett bekannt wären, oder ob wir beraten und verabschieden sollten, um den Etat 1993 festzustellen.
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Dr. Wolfgang Weng
Aus gutem Grund haben wir uns für das letztere entschieden. Haushalt ist immer Bilanz, ist Momentaufnahme, ist aber auch Ausdruck eines laufenden Prozesses und ist Ausdruck von Handlungsfähigkeit. In ruhigen Zeiten ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß Prognosen eintreffen, als in einer Phase der Bewegung und der Unruhe. Aber auch in Erwartung möglicher Änderungen und in Kenntnis weiterer Wünsche und Notwendigkeiten auf der Einnahmewie auf der Ausgabenseite ist die fristgerechte Verabschiedung eines Etats ein gutes Signal.
In wesentlichen Teilen der beschlossenen Ausgaben besteht für die Betroffenen Planungssicherheit. Außerdem ist es ein Zeichen politischer Handlungsfähigkeit, wenn eine Koalition, wie wir das hier und heute tun, ein gutes Gesamtergebnis der Ausschußberatungen vorlegen kann. Auf den Inhalt kommt es an, wie der Kollege der Opposition hier soeben richtig dazwischengerufen hat.Die Tatsache, daß wir trotz Ausgabenerhöhungen von mehr als 10 Milliarden DM gegenüber dem Regierungsansatz durch Kürzungen in nahezu dem gleichen Umfang eine Ausgabensteigerung von nur 2,5 % entsprechend den selber gesetzten Vorgaben der Koalition gegenüber dem Ansatz 1992 erreicht haben, ist vorbildlich.
Herr Abgeordneter Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koschnick?
Ja, bitte.
Vielen Dank. Herr Abgeordneter Weng, habe ich Sie eben richtig verstanden? Haben Sie eben gesagt, Sie legen eine gute Abschlußarbeit des Haushalts vor?
Sie haben mich richtig verstanden, Herr Kollege Koschnick.
Sie meinen das ehrlich, was Sie jetzt gesagt haben?
Ich meine immer ehrlich, was ich hier sage.
Dann werden wir uns in vier Wochen wieder sprechen. -- Danke schön.
Es darf gelacht werden.Unter dem Eindruck der erst kurz vor Ende der Ausschußberatungen bekanntgewordenen Steuerschätzung mußten wir eine Rücknahme von rund 7,5 Milliarden DM bei den Steuereinnahmen des Bundes berücksichtigen. Daß wir diese im wesentlichen durch eine Erhöhung der Nettoneuverschuldung ausgleichen — allerdings nicht in vollem Umfang, wie Sie wissen —, wird von Wirtschaftsfachleuten, auch gewerkschaftsnahen, konjunkturpolitisch für richtig gehalten.Die Gefahr, daß eine zu rigorose Sparpolitik weitere Einbrüche der Konjunktur verursachen und daraus eine Schraube ohne Ende entstehen könnte, wurde gesehen. Ihr wurde mit dieser Einrichtung entgegengewirkt.Natürlich wissen wir auch, daß es kein Dauerzustand sein kann, fehlende Steuereingänge durch immer höhere Schulden auszugleichen. Die künftige Arbeit des Parlaments, des Haushaltsausschusses wird schwieriger werden; denn die Leistungen des Staates werden geringer werden müssen. Die Haushaltsspielräume werden bei unveränderbaren und steigenden Kosten einerseits, bei ständig wachsender Zinslast andererseits sowieso geringer.Ich nehme auch Sorgen ernst, die die staatliche Handlungsfähigkeit insgesamt betreffen. Natürlich ist und bleibt die Stabilität unseres Geldwerts eine wichtige Komponente des politischen Handelns der Koalition und der F.D.P. in der Koalition. Aber eine Radikalkur im Bereich des öffentlichen Finanzgebarens ist nicht in gleicher Weise möglich wie bei einem Privatmann. Deshalb müssen wir erneut mittelfristige Konzepte formulieren und dann durchhalten, wie es der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. nach 1983 schließlich schon einmal eindrucksvoll gelungen ist.Die notwendige Konsolidierung ist in vielfältiger Weise erschwert. Deswegen sind mit Blick auf die heranwachsende Generation, aber auch mit Blick auf die Sparer in unserem Land, deren Konsumverzicht die augenblicklich hohe Verschuldung der öffentlichen Hände nur möglich macht, besondere Verantwortung und auch Klarheit geboten,Über lange Jahre haben die Freien Demokraten in den Haushaltsdebatten des Deutschen Bundestages die zunehmende Neigung der Regierung beklagt, aus dem Bundeshaushalt in Schattenhaushalte auszuweichen. Spätestens Anfang 1995 sind alle wesentlichen Übergangsfristen aus dem Einigungsvertrag abgelaufen. Spätestens dann kann und muß ordnungsgemäß etatisiert und von da an auch finanziert werden.Die Voraussetzungen dafür, daß die Dinge im Griff bleiben, kann der Bund allerdings nicht allein schaffen. Die globale Finanzverteilung zwischen den Gebietskörperschaften, größere Steuergerechtigkeit auf Grund jüngster Verfassungsgerichtsurteile, aber auch eine Neuordnung des horizontalen Finanzausgleichs zwischen den Ländern unter voller Einbeziehung der neuen Bundesländer sind erforderlich und benötigen die Verantwortung der SPD in Bund und Ländern. Sie muß hier mitwirken.Das gestrige Gesprächsergebnis zwischen Bundeskanzler Kohl und Herrn Engholm signalisiert — wenn die öffentliche Darstellung des Ergebnisses richtig ist — hierfür eine gewisse Chance. Die Lasten aus dem Einigungsvertrag müssen so verteilt werden, daß sie für die betroffenen Körperschaften, die ja für Menschen stehen, erträglich sind.Bis dahin ist es dringend geboten, daß sich vor allem die wohlhabenden Bundesländer und Kommunen im Westen in ihren Ausgabenzuwächsen ähnlich wie der Bund und entsprechend den politischen Vorgaben des Bundesfinanzministers begrenzen. Nur durch eine große gemeinsame Anstrengung können dann die
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10352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Wolfgang Weng
Zukunftsprobleme der öffentlichen Finanzwirtschaft bewältigt werden.Es ist für die handelnde Koalition zum einen natürlich nicht besonders glücklich, daß eine Mehrheit SPD-geführter Länder die Bundesratsmehrheit besitzt. Leider sind dies zusätzlich im wesentlichen die bessergestellten alten Bundesländer. Einzelinteressen von Ländern zusammen mit dem Parteiinteresse der SPD erschweren seither nicht nur unsere Arbeit; sie erschweren zudem für den Bürger die Transparenz der Entscheidungen. Wer weiß schon, wie die Ergebnisse im Vermittlungsausschuß erzielt werden,
wie sie tatsächlich zustande kommen und wer die Verantwortung dafür trägt. Daß diejenigen, die in diesem Ausschuß arbeiten, Herr Kollege Esters, das natürlich wissen, das weiß auch ich. Aber sie sagen es nicht, und die Öffentlichkeit weiß es deshalb nicht. Darum ist es so schwer, hier die politische Verantwortung zuzuordnen.
Die ehrliche Zuordnung der politischen Verantwortung wäre auch in einer solchen Gemengelage wünschenswert. Der Bürger hätte ein besseres Verständnis für die Abläufe.Um so mehr sind die demokratischen Parteien zu verstärkter Zusammenarbeit in dieser schwierigen Lage aufgefordert. In vielen Politikbereichen sind die Bürger sowieso des gewohnten Rollenspiels überdrüssig. Sie fordern Entscheidungen und Lösungen. Dies betrifft den Bereich der Finanz- und Haushaltspolitik ebenso wie andere lösungsbedürftige Politikbereiche.
In Anbetracht der heute gegebenen Finanzsituation macht es weniger Sinn als in der Vergangenheit, über Mehrausgaben zu jubeln und diese als eine besondere politische Leistung darzustellen. Schon in Zeiten der alten Bundesrepublik war klar — die Haushaltspolitik der Koalition der CDU/CSU und der F.D.P. von zehn Jahren hat das verdeutlicht —, daß wir nicht mit unendlichem Wachstum rechnen können. Wir haben ja die Wachstumsrate der Etats immer niedriger gehalten als die allgemeine Wachstumsrate.In Kenntnis der großen Opfer, die den Mitbürgern in Ostdeutschland zugemutet werden, und mit dem festen politischen Ziel, die verfassungsmäßig geforderten vergleichbaren Lebensbedingungen in einem erträglichen Zeitraum herzustellen, sind wir uns darüber im klaren, daß es im Westen nicht überall und ständig immer mehr werden kann. Von unseren Bürgern, und zwar von allen Bürgern, werden Opfer verlangt werden müssen. Es hilft auch nichts — und da war die Rede des Kollegen Wieczorek eigentlich wieder symptomatisch —, wenn in der politischen Diskussion Stichworte wie „Besitzstandswahrung", „Keine Sonderopfer" oder aber das gern gebrauchte Wort Gerechtigkeit, das im Zweifelsfall nur für dieVerbesserung der eigenen Situation eingesetzt wird, ständig wiederholt werden.
Mehr Lebensqualität muß nicht ganz zwangsläufig mehr Geld bedeuten. Unter dem Zwang öffentlicher Sparsamkeit entwickelt sich vielleicht auch eine gemeinschaftlichere Gesellschaft. Die Idee allerdings, wir könnten alles das, was vor allem in den neuen Bundesländern erforderlich ist, mit öffentlichem Geld machen, ist abenteuerlich. Dafür bestehen aber gerade für den einzelnen Bürger jetzt bessere Möglichkeiten, wenn er seine Chancen nutzt. Einsatzbereitschaft, Mut und Zukunftshoffnung sind gefragt. Verzagtheit und Warten auf andere, Warten auf den Staat reichen sicher nicht aus.
Lassen Sie mich einige wenige vielleicht exemplarische Entscheidungen darstellen, die wir im Haushaltsausschuß getroffen haben und die auch die Dimensionen verdeutlichen, die das künftige staatliche Handeln bestimmen.Unabänderliche Ausgaben infolge der Wiedervereinigung schränken schon jetzt andere Bereiche ein. Ich persönlich bin kein Anhänger der sogenannten Erblast-Diskussion. Sie mag politisch, auch parteipolitisch, nützlich sein; in der Sache bringt sie uns nicht weiter. Dies gilt um so mehr, weil eine eindeutige Zuordnung entstandener Belastungen selten möglich ist, vor allem aber, weil derjenige, der die Verantwortung zu irgend einem Zeitpunkt übernimmt — in der Politik eben die politische Verantwortung —, diese dann auch tragen muß.
Wir haben unsere Entscheidungen der letzten Jahre in der festen Überzeugung getroffen, daß es die richtigen waren. Wenn sich heute herausstellt, daß es auch Fehleinschätzungen gegeben hat — übrigens auch Fehleinschätzungen des gesamten sogenannten wirtschaftlichen Sachverstandes —, wenn wir diese Entwicklung vor Augen haben, daß es anders läuft als prognostiziert, dann ist das tatsächliche Verschulden schwer festzumachen. Vor allem aber, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es hilft für die künftige Problemlösung nicht weiter.Wir werden in Zukunft für eine Reihe riesiger Umweltsanierungen in den neuen Bundesländern noch mehr Geld brauchen als schon jetzt. Aber bereits jetzt tun wir eine ganze Menge. Ich will hier u. a. auf die über 700 Millionen Mark hinweisen, die wir 1993 allein im Bereich des früheren Uranabbaugebiets für die Wismut Bergbau zur Verfügung stellen. Herr Kollege Wieczorek hat mit Recht darauf hingewiesen, daß wir hier eine gewisse Kürzung vorgenommen haben. Die Summe dessen aber, was der Bund hier leistet, hat er verschwiegen. Wir wissen auch, daß diese Kürzung eine Verschiebung bedeutet, daß wir andere Dinge mit Priorität voranschieben und daß die Aufgaben hier dadurch etwas nach hinten gerückt werden. Aber man halte sich diese Zahl vor Augen! Dort ist in DDR-Zeiten eine Art Mondlandschaft
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Dr. Wolfgang Weng
entstanden. Ohne Rücksicht auf Menschen und Natur hat der totale Staat seine wirtschaftlich unsinnigen Entscheidungen durchgesetzt. Wir unternehmen jetzt große Anstrengungen, diese Wunde heilen zu helfen.Auch die Tatsache, daß wir im laufenden Verfahren der Haushaltsberatung für die Erfüllung von Verpflichtungen aus einem Abkommen, das die DDR mit der UdSSR im Zusammenhang mit der Erschließung einer Erdgaslagerstätte abgeschlossen hat, 650 Millionen DM nachschießen mußten, zeigt beispielhaft, wie stark wir durch rechtliche Verpflichtungen gebunden sind. Dieses Geld fehlt natürlich an anderer Stelle.Nicht zuletzt: Gegenüber den früheren Jahren sind die Leistungen, die wir für Entschädigungen aus Bürgschaften, Staatsgarantien oder sonstigen Gewährleistungen zahlen mußten, eklatant angestiegen. Ich erinnere mich noch an Zeiten, wo es unter 1 Milliarde, unter 500 Millionen DM im Jahr waren, die hier fällig wurden. 6 Milliarden DM hatte die Bundesregierung schon ihrem Regierungsentwurf veranschlagen müssen. 2 Milliarden DM zusätzliche Erhöhung hierfür haben wir beschlossen. Ganz wesentlich sind diese Beträge dadurch verursacht, daß wir Lieferungen, vor allem ostdeutscher Produzenten, in die GUS und in die MOE-Staaten abgesichert haben, um in den neuen Bundesländern industrielle Arbeitsplätze zu erhalten.
— Ich glaube — Herr Kollege Walther, dies zu Ihrem Zwischenruf —, daß gerade diese Summen auch zeigen, wie schwierig es wird, Industriestandorte dann zu erhalten, wenn für die Produkte keine Märkte in absehbarer Zeit zu finden sind. Wir werden das im großen Umfang nicht bezahlen können. Schon das zeigt, was hier in diesem Bereich in drei Jahren aufgelaufen ist.
Die zu hohen Tarifabschlüsse des letzten Jahres und die zu schnelle Anpassung der Ostlöhne an das Westniveau haben diese Belastungen zusätzlich erhöht — ohne unser Verschulden, aber zu Lasten des Bundesetats.Ein Bereich macht besonders deutlich, wie schwierig es in der augenblicklichen Lage ist, den richtigen Weg zu gehen. Das Stichwort heißt „Öffentliche Hilfen beim Schiffbau". Die Privatisierung der Werften in Mecklenburg-Vorpommern hat ja einen enormen Subventionsschub zu Gunsten des Erhalts der dortigen Arbeitsplätze bedeutet — eine Entscheidung, die in Kenntnis der großen Tragweite für die Region trotz der hohen Belastung der Treuhandanstalt und damit letztendlich des Steuerzahlers richtig und notwendig war.Durch Umschichtung innerhalb des Subventionsbereichs haben wir als Haushaltsausschuß Aufträge über eine größere Zahl moderner Containerschiffe für westliche Großwerften gesichert, womit die Zusage verbunden war, einen angemessenen Arbeitsumfang in den Osten abzugeben.
Nun standen wir vor der Frage, ob wir der aktuellen Situation im Weltschiffsbau, die durch stark verringerte Auftragseingänge einerseits und durch stetige Subventionierung in konkurrierenden Ländern andererseits gekennzeichnet ist, noch zusätzlich in irgendeiner Form Rechnung tragen sollten. Ich will gar nicht auf Länder außerhalb der Europäischen Gemeinschaft schauen. Ich habe nicht gehört, daß in den letzten Jahren japanische oder koreanische Reeder Schiffsbauten bei deutschen Werften in Auftrag gegeben hätten.
Aber auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft steht die Bundesrepublik eher am Ende der Subventionsskala. Das enthebt natürlich weder die Tarifparteien noch die besonders interessierten Regionen ihrer Verpflichtung.Für die Auffassung des Wirtschaftsministeriums gegen jede Fortführung der Subventionierung für deutsche Werften im Westen sprechen gute Argumente.Wir haben uns trotzdem für eine Fortführung der Hilfen auf niedrigerem Niveau entschieden. Wir haben allerdings das Angebot des Bundes unter dem Stichwort „Reduzierung der Höhe der Subventionen" auch insoweit verschlechtert, als wir nur noch 50 % des Subventionsbetrags — gegenüber früher zwei Dritteln — zu zahlen bereit sind. Für den Rest müssen im Westen die betroffenen Bundesländer aufkommen, denen das zwar auch nicht leichtfällt, die aber auch Hauptnutznießer sind.Ich messe dieser Entscheidung des Haushaltsausschusses Signalcharakter zu und sage voraus, daß wir sämtliche Mischfinanzierungen und Gemeinschaftsaufgaben, vor allem nach der anstehenden Neuregelung der Finanzaufteilung zwischen Bund und Ländern, überprüfen und des Bundes Anteil bestmöglich zurückführen werden. Klare Finanzausstattung muß auch klare Finanzverantwortung nach sich ziehen.Unter dem Stichwort „Schwerpunktbildung im Osten bei Leistungsverringerung im Westen" ist auch die Tatsache zu sehen, daß wir 300 Millionen DM zusätzlich für den Erhalt kultureller Infrastruktur in den neuen Bundesländern ausgeben.Hierfür mußte der gleiche Bereich im Westen einige schmerzliche Einschränkungen — natürlich nicht in gleicher Höhe — hinnehmen. Die Bundesfinanzierung für Kultur kann in Zukunft wegen der klaren Sachzuständigkeit der Länder nicht zur Daueraufgabe des Bundes werden. Aber im Moment mußten wir einfach helfen, damit nicht Unersetzliches verlorengeht.Ich nenne einen letzten Bereich mit großem Symbolwert: Durch Einsparungen bei unseren eigenen Kosten — durch eine rund 10prozentige Kürzung bei den Zuschüssen für die Bundestagsfraktionen — sind wir mit gutem Beispiel vorangegangen. Dies hat
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10354 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Wolfgang Weng
Signalwirkung. Auch andere Geldempfänger des Bundes werden sich künftig auf vergleichbare Behandlung, auf jeden Fall auf eine sehr harte Beurteilung einrichten müssen.Es ist allerdings schade, daß die SPD diese Bereitschaft zur Einsparung im eigenen Bereich nicht mitgetragen hat. Es ist beschämend, daß sie nur dann zur Zustimmung bereit gewesen wäre, wenn die kleineren politischen Gruppierungen weit überproportional und mit einer Änderung der langfristigen Struktur dieser Finanzierung belastet worden wären. Den Kollegen der CDU/CSU gilt ein herzlicher Dank für ihre klare Haltung, die Kürzung proportional durchzuführen.
Herr Abgeordneter Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Walther?
Ja; bitte.
Herr Kollege Dr. Weng, ist es richtig, daß die Koalitionsfraktionen die auf sie entfallende Kürzung dadurch ausgleichen können, daß in den Stabsstellen der Bundesministerien, die ja den Koalitionsfraktionen intensiv zuarbeiten, eine erhebliche Personalvermehrung stattgefunden hat?
Herr Kollege Walther, dieses Argument haben ja Ihre Kollegen im Haushaltsausschuß vorgetragen, als der Kürzungsvorschlag gemacht wurde und sie gesehen haben, daß sie sich mit dem Anliegen einer weit überproportionalen Kürzung für die kleineren politischen Gruppierungen nicht durchsetzen konnten.
Über dieses Argument kann man an jeder anderen Stelle diskutieren, aber nicht an dieser Stelle, weil man damit zu begründen versucht, daß man seine eigene Belastung zurückdrängen will. Über die Frage, ob die Koalitionsabgeordneten hinsichtlich ihrer Ausstattung durch die Regierung direkt oder indirekt über Gebühr bevorzugt werden, kann man offen diskutieren. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich weiß, daß diese Meinung bei Ihnen vorherrscht. Ich halte dem entgegen, daß die Opposition, wie ich gehört habe, auf Initiative Ihrer eigenen Fraktion hin — und zwar zu Zeiten, als sie Regierungsfraktion war — einen Oppositionszuschlag zu den Fraktionsmitteln erhält, der 15 % über dem liegt, was die anderen Fraktionen erhalten. Ich glaube, daß der Situation der Opposition hiermit durchaus angemessen Rechnung getragen wird.
Gestatten Sie eine weitere Frage des Abgeordneten Walther?
Kollege Dr. Weng, können Sie bestätigen, daß die Ausschußdrucksachen, die die Koalitions-Arbeitsgruppen im Haushaltsausschuß eingebracht haben, durch die Bank nicht von der Koalition und deren Mitarbeitern, sondern vom Bundesfinanzministerium erstellt worden sind?
Wenn Sie sagen, „durch die Bank", Herr Kollege Walther, dann antworte ich Ihnen: Das ist nicht richtig. Es ist vielmehr richtig, daß die Arbeit der entsprechenden Arbeitsgruppe der Koalition durch Mitarbeiter des Finanzministeriums flankiert wird. Aber es sind auch eigene Mitarbeiter dabei. Insofern ist Ihre Frage nur in Teilen berechtigt.
Darf ich noch eine Frage stellen? — Herr Kollege Dr. Weng, da Sie damals, als es eine andere Koalition gab, noch nicht entdeckt waren — was ich Ihnen nicht zum Vorwurf machen kann —, frage ich Sie, ob Ihnen von Ihrem Mitarbeiter, Herrn Herren, nicht übermittelt worden ist, daß es seinerzeit üblich war, das solche Arbeiten von den Mitarbeitern der Fraktion, nicht jedoch von den Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums ausgeführt wurden. Hielten Sie es nicht für erstrebenswert, wenn diese alte Übung jetzt wieder eingeführt würde?
Herr Kollege Walther, ich habe, wie Sie wissen, allen Grund, den von Ihnen genannten Mitarbeiter Herren ausdrücklich zu loben. Ich tue das gern an dieser Stelle.
Es mag ein Versäumnis in dem von Ihnen genannten Punkt geben. Mir war seither nicht bewußt, daß früher Mitarbeiter des Finanzministeriums die Arbeit der Arbeitsgruppen der Koalition nicht flankiert haben; aber ich nehme das zur Kenntnis. Die Frage, was wir nun machen, muß ich allerdings der Diskussion in unserer eigenen Gruppe überlassen.
Herr Dr. Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glos?
Wenn es dem Frieden dient, Herr Kollege Glos, gerne.
Herr Kollege Dr. Weng, können Sie bestätigen, daß es derzeit so aussieht, als ob der SPD der 15 %ige Oppositionsbonus noch recht lang erhalten bleibt?
Herr Kollege Glos, man soll Wahlergebnissen nie vorgreifen. Aber ich sage es einmal so: Wenn einer möglichst breiten Öffentlichkeit die Qualität bestimmter Vorträge heute mittag bewußt geworden ist, dann, so nehme ich an, haben Sie recht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10355
Dr. Wolfgang Weng
An einer Stelle waren wir hartherzig: Die Bundesregierung hat die Zahl der Mitarbeiter des Bundes so erheblich vergrößert und dies zusätzlich mit einer Aufwertung der Besoldungsstruktur verbunden,
daß wir uns zum Handeln genötigt sahen.Eine zu starke Beschäftigung im Bereich des öffentlichen Dienstes und eine zu stark kopflastige Struktur des Stellenkegels vergrößern Finanzprobleme nachhaltig. Die Bundesregierung hat — Sie wissen das; es ist in dieser Form ein einmaliger Vorgang gewesen — den Haushaltsausschuß in der laufenden Beratung gebeten, keine Einsparungen beim Personalbestand der obersten Bundesbehörden vorzunehmen. Dennoch haben wir die vom Kollegen Borchert dargestellte Globalkürzung vorgenommen.Diese setzt die Bundesregierung unter den Druck, in allen Bereichen Stellen abbauen zu müssen, in denen öffentliche Aufgaben erledigt werden oder in denen nicht mehr in gleicher Weise wie in der Vergangenheit Personal erforderlich ist. Dies soll auch ein Signal für Länder und Gemeinden sein, bei denen die Personalhaushalte ja noch viel intensiver als beim Bund sind.
Die Geschäftsordnungsdiskussion vor Beginn der Haushaltsdebatte hat deutlich gemacht, daß das Ringen um den richtigen Weg beim Haushalt des Bundes und in den anderen Bereichen öffentlicher Finanzen nahtlos weitergehen wird. In diesem Zusammenhang gibt es Wünsche und Fragen. Mit dem Beschluß zum Haushalt 1993 setzen wir trotzdem ein notwendiges und richtiges Zeichen.Die F.D.P.-Fraktion im Deutschen Bundestag wird dem Etat 1993 in der Fassung der Beschlüsse des Haushaltsausschusses zustimmen. Sie ist weiterhin bereit, auch künftigen Entwicklungen und Notwendigkeiten Rechnung zu tragen.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als der Bundesfinanzminister gesprochen hat, habe ich dagesessen und gestaunt und mir die ganze Zeit überlegt: Wie schafft er es nur, 40 Minuten zu reden und so wenig zu seiner eigenen Schuld und zu seiner eigenen Verantwortung für die Verschuldung des Bundes zu sagen?
Ich denke mir, das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß er in Oberrohr geboren ist. Wenn er in Unterweißbach in Thüringen geboren worden wäre, wäre er bestimmt ganz woanders gelandet. Er hat so gesprochen, daß ich mir ziemlich sicher bin, zu wissen, wo er dann gelandet wäre.Wenn er nicht mehr weiter kann, dann redet er über die Erblast. Der haushaltspolitische Sprecher der CDU hat das fortgesetzt. Als er zum zehntenmal Erblast gesagt hat, habe ich aufgehört, zu zählen.Da meine Antworten bei Ihnen immer sofort Zwischenrufe hervorrufen, zitiere ich aus der „Zeit" von dieser Woche — sie ist ja nicht verdächtig, uns sehr nahe zu stehen —:
Weil die Bundesregierung bei der tatsächlichen Bewältigung des Problems versagt, will die Regierung es nun semantisch in den Griff bekommen. Mit dem Hinweis auf die Erblast der DDR kaschieren Bundeskanzler und Finanzminister seit einigen Wochen ihre eigene Verantwortung.
Besser könnte ich es wirklich nicht sagen.Herr Weng, wenn Sie das kritisieren, was ich heute vormittag gesagt habe, dann wirft mich das nicht um;
es ehrt mich sogar, von Ihnen kritisiert zu werden. Nur, ich habe Sie beobachtet; Sie sitzen im Haushaltsausschuß ja fast neben mir. Dabei habe ich festgestellt,
Sie sind ja nicht einmal nachgekommen, alle Tischvorlagen in dem Tempo, in dem sie verteilt wurden, einzuordnen, geschweige denn, die große Anzahl der Tischvorlagen zu verarbeiten und inhaltlich so zur Kenntnis zu nehmen, daß man verantwortungsbewußt entscheiden kann. Wenn Sie das parlamentarische Kultur nennen, dann sage ich Ihnen: Leben Sie glücklich mit dieser parlamentarischen Kultur! Ich nenne das eine parlamentarische Unkultur, und ich werde bei dieser Bezeichnung bleiben.
Der Haushaltsausschuß hat mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen die Verdoppelung der geplanten globalen Minderausgabe beschlossen und damit die Regierung zu Einsparungen in einer Größenordnung von 1,8 Milliarden DM ermächtigt, ohne genau vorzugeben, an welcher Stelle Ausgaben zu kürzen sind. Das bedeutet, daß der Bundestag bei der Haushaltsfeststellung seine Verantwortung für den Haushaltsausgleich auf den Finanzminister verlagert, der diese Kürzung beim Haushaltsvollzug zu erwirtschaften hat. Es wird nämlich dann dem Finanzminister obliegen, beim Vollzug des Haushaltsplans in die parlamentarisch bewilligten Einzelpläne zwecks Kürzungen einzugreifen und damit Entscheidungen zu treffen, die eigentlich das Parlament fällen müßte. Wir erheben gegen diese Verwischung der Verantwortlichkeiten zwischen Parlament und Regierung verfassungspolitische Bedenken.
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10356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Dietmar KellerDie PDS/Linke Liste findet sich nicht damit ab — weder bei Pfennigen noch bei Mark, noch bei Millionen, noch bei Milliarden —, daß die Bundeshaushaltsordnung zum Steinbruch verkommt, aus dem sich alle diejenigen nach Herzenslust bedienen können, die ihren Ausflüchten, Tricks und Halbwahrheiten ein Fundament verschaffen wollen.Was im kommenden Frühjahr auf uns zukommen wird, wird alles in den Schatten stellen, was Theo Waigel vor noch nicht allzu langer Zeit „unbegründete Schreckensszenarien" und „Geschrei der Opposition" genannt hat. Die Haushalts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung ist so, wie sie jetzt angelegt ist, auf Treibsand gebaut. Hat eine Bundesregierung den Haushaltsausschuß schon einmal per Kabinettsbeschluß gebeten, auf zusätzliche Einsparauflagen sowie auf sonstige Maßnahmen zu Lasten des Personalbestandes der obersten Bundesbehörden zu verzichten? Mir ist das nicht bekannt. Wenn es Ihnen bekannt ist, sollten Sie laut rufen.Dieselbe Bundesregierung, die sich von Einsparungen ausgenommen wissen und weiteres Personal bewilligt bekommen wollte, ließ kaum zwölf Tage später erklären, in den nächsten Wochen hätten jene, die von ihr eisernes Sparen verlangten, Gelegenheit, das in ihrem eigenen Bereich selbst zu befolgen. Das Kanzleramt ging natürlich wie immer mit gutem Beispiel voran und beantragte postwendend für Propagandamaterial über den Maastrichter Vertrag 30 Millionen DM.Alle etablierten Parteien, die Wirtschafts- und Unternehmerverbände sowie immer größere Teile der Gewerkschaften singen nun das Lied vom Teilen oder fordern, wie zuletzt die SPD durch ihren stellvertretenden Vorsitzenden Thierse, zum Teilen aus der Substanz auf. Ich befinde mich vielleicht in guter Gesellschaft, wenn ich wie Wolfgang Thierse daran erinnere, daß die westdeutschen Produktionsunternehmen insgesamt über rund 600 Milliarden DM sofort mobilisierbarer Mittel verfügen. Ich stimme Herrn Thierse auch ausdrücklich zu, daß es darum gehen müßte, diese Liquiditätsreserve für investive Zwecke in Ostdeutschland zu mobilisieren.Die PDS/Linke Liste hat stets darauf hingewiesen, daß das gesamte Geldvermögen der westdeutschen Produktionsunternehmen seit 1989 um sage und schreibe 22 % auf 1,67 Billionen DM gestiegen ist.
Wir sind allerdings — hoffentlich nicht im Unterschied zur SPD — daran interessiert, bei den Gewinnern und Profiteuren der Einheit abzukassieren.Der DGB deutete durch seinen Vorsitzenden seine Bereitschaft an, sich angesichts der Probleme in Ostdeutschland mit den Arbeitgebern zu sogenannten konstruktiven Gesprächen über die Tarifpolitik in Ostdeutschland zusammenzufinden. Solche Gespräche sollen offenbar dem Zweck dienen, auszuloten, ob die Gewerkschaftsspitze den zuletzt während der Urabstimmung über die Tariferhöhung im öffentlichen Dienst deutlich zum Ausdruck gekommenen Unmut der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steuern und abfedern kann.Alle Appelle an patriotische Gefühle, an Opferbereitschaft und Verzicht haben vor allem eine psychologische Komponente. Den bisher zur Finanzierung der Kosten der Einheit ausschließlich zur Kasse gebetenen Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen droht allmählich der Kragen zu platzen. Steuererhöhungen, Solidaritätszuschlag, steigende Sozialabgaben und sehr begrenzte Lohnzuwächse haben das verfügbare Einkommen beschnitten. Über die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung werden 42 Milliarden DM für die Finanzierung der Einigungskosten aufgebracht.
— Hören Sie zu; nicht so schnell. — Arbeitnehmerhaushalte tragen mit 4 % ihres Bruttoeinkommens die Hauptlast für den Aufbau in den neuen Ländern. Zum Vergleich: Beamte und Selbständige sind nur mit je 1,7 % dabei.
Jetzt soll der Masse der Bevölkerung mit Taschenspielertricks vorgegaukelt werden, endlich würden auch die Reichen zur Kasse gebeten. Mit der beabsichtigten Senkung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung wird zwar eine Mehrbelastung der Beitragszahler vermieden, aber der Bund erspart sich Zuschüsse zur Bundesanstalt für Arbeit nur dadurch, daß er die Defizite der Arbeitslosenversicherung mit den Überschüssen der Rentenversicherung ausgleicht. Für die zukünftigen Rentenbezieher bedeutet ein verminderter Beitragssatz in der Rentenversicherung eine Leistungskürzung.Die tarifpolitische Wende ist offensichtlich bereits vollzogen. Bei der Lufthansa wurde modellhaft vorgeführt, was sich Arbeitgeber und etablierte Parteien unter einem Solidarpakt vorstellen. In einem nationalen Tarifvertrag sollen der Verzicht auf Lohnerhöhungen, geringerer Freizeitausgleich, längere Arbeits- und Maschinenlaufzeiten sowie untertarifliche Bezahlung vereinbart werden.Jetzt gilt es für die Herrschenden erst recht, die Offensivkraft des deutschen Kapitals zu stärken. Die für dieses Unterfangen benötigte Finanzierungsmasse muß, ob sie nun eine Akkumulationsoffensive oder Verdrängungskämpfe möglich machen soll, erst einmal beschafft werden.Angesichts der ökonomischen, sozialen und ökologischen Verfassung, in der sich dieses Land befindet, ist zur Schau gestellte Selbstkritik der Bundesregierung angesagt. Die Menschen in diesem Lande sollen durch diese scheinbare Selbstkritik dafür gewonnen werden, der nationalen Führung wieder zu vertrauen und durch Opferbereitschaft und Fleiß dazu beizutragen, daß Deutschland im gnadenlosen internationalen Wettkampf zwischen den amerikanischen, japanischen und europäischen Kapitalmassen auch weiterhin die Nase vorn hat.Mit seiner Regierungserklärung vor der Sommerpause korrigierte der Bundeskanzler zu Recht eigene optimistische Prognosen. Die Bundesregierung hat sehr spät begriffen, daß der Transformationskrise, in der sich die ostdeutsche Wirtschaft befindet, nicht wie
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10357
Dr. Dietmar Kellereiner Konjunkturkrise begegnet werden kann. Ziele, Politikschwerpunkte, Zeit- und Finanzierungsbedarf des wirtschaftlichen und sozialen Einigungsprozesses müssen endlich entwickelt und aufeinander abgestimmt werden. Wir haben dazu zu Beginn der Haushaltsdiskussion ein Zehn-Punkte-Programm unterbreitet. Es hat nach wie vor volle Gültigkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister Waigel und Herr Weng, Sie sollten Verständnis dafür entwickeln, daß ich nicht jede Kritik an Ihnen und der Bundesregierung damit einleite, daß ich die Bundesrepublik Deutschland eindeutig — ich sage das ganz klar; das war schon zu DDR-Zeiten so, als ich zur Oberschule ging — als den besseren deutschen Staat empfinde, für einen demokratischen Rechtsstaat halte.
Schon deswegen habe ich als Vertreter der Opposition das Recht zur Kritik und, bitte schön, auch das Recht zum Vergleich zweier erlebter Erfahrungswelten.Vielleicht darf ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, den Rat geben, die mißverständlichen Unterstellungen zu unterlassen. Für Sie vielleicht ungewöhnliche Einwände sollten erst einmal kritisch überdacht werden. Sie sollten nicht gleich wie die Stiere aufs rote Tuch losgehen, wenn nur der Vergleich zur DDR gezogen wird.
Ich kann es auch anders sagen: Was mich im Westen der Bundesrepublik stört, ist diese einzigartige Borniertheit. Was mich an Ihrer Regierung stört, ist das Fünf-V-Verfahren: versprechen, vertuschen, verharmlosen, verkohlen, versagen. Das ist das, was ich nicht vertrage.
Recht zu behalten ist manchmal schlimmer, als durch die tatsächliche Entwicklung widerlegt zu werden. Wir haben der Bundesregierung schon im letzten Jahr bei der Haushaltsdebatte prophezeit, daß ihre Finanzpolitik und mit ihr die gesamte Wirtschaftspolitik nicht tragfähig sind und in Kürze zum Offenbarungseid führen werden. Die heutige Situation übersteigt unsere Befürchtungen bei weitem. Es ist für die Parlamentarier in diesem Haus und auch für die Bürger eine Zumutung, über ein Haushaltsgesetz beraten zu müssen, von dem alle wissen, daß es längst überholt ist.
Wir haben verlangt, daß die Haushaltsdebatte verschoben wird, bis die Bundesregierung einen Entwurf fertiggestellt hat, an den sie selbst wirklich glaubt und den sie vertritt. Aber die Mehrheit in diesem Hohen Hause, längst nicht selbstbewußt, ist anders. DieRegierung kann mit diesem Parlament sehr zufrieden sein.Meine Damen und Herren, Sie erinnern sich: Mit einem Haushaltssicherungsgesetz der jetzt geplanten Art wurde die letzte Runde der sozialliberalen Koalition eingeläutet. Das Finanzchaos, das die jetzige Bundesregierung angerichtet hat, übersteigt die Misere der 70er Jahre allerdings bei weitem.
Wir wissen es alle: Seit der deutschen Einheit ist die Finanzpolitik zum Lotteriespiel geworden. Die Darstellungen in den Medien treffen zu: Der Finanzminister hat versagt, und die Bundesregierung steht ihm in nichts nach. Ihre Politik ist gescheitert. Die Gemeinsamkeiten in diesem Kabinett bestehen eigentlich nur noch in der gemeinsamen Angst vor dem Rücktritt.
In einer Zeit der Umbrüche in Europa und der dramatischen innenpolitischen Herausforderungen braucht dieses Land jedoch finanzpolitische Stabilität und nicht dieses Chaos.Wir alle wissen, daß die deutsche Einheit eine große Herausforderung für die Menschen in Ost und West ist. Wir wissen auch, daß die Politik nicht sofort für alle Probleme eine zufriedenstellende Lösung anbieten kann. Doch diese Regierung hat die Probleme nicht nur vor sich hergeschoben, sie hat sie zum Teil noch schlimmer gemacht und ist damit selbst zum Hauptproblem geworden.
In machtversessener Einheitseuphorie glaubten der Kanzler und die Seinen, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse im Selbstlauf erfolgen würde. Jetzt, da wirkliche Staatskunst und politische Verantwortung gefordert sind, hören wir von ihm nur noch, daß er sich geirrt hat. Die Irrtümer des Menschen machen ihn eigentlich liebenswürdig, hat Goethe einmal festgestellt. Man muß Goethe allerdings zugute halten, daß er damals noch nichts von einem Kanzler Kohl ahnte.
Vor einem Jahr demonstrierte die Bundesregierung noch Selbstzufriedenheit; heute werden wir mit einem finanzpolitischen Chaos konfrontiert, das selbst die gutwilligsten Anhänger der Koalition mit Grausen erfüllt. Das neue Gutachten des Sachverständigenrates hat unmißverständlich klargemacht, daß der Einheitsboom vorbei ist. Statt des Aufschwungs Ost haben wir einen Abschwung West. Die Einheit wird zur Entziehungskur, wie es Meinhard Miegel kürzlich ausgedrückt hat.Die im Haushalt ausgewiesene Verschuldung wird sich trotz der Steuererhöhungen der vergangenen Jahre weiter dramatisch erhöhen. Im Jahre 1995 wird die öffentliche Verschuldung nach der Schätzung der Bundesregierung auf über 1,6 Billionen DM, tatsächlich aber auf 2 Billionen DM ansteigen. Die Neuverschuldung aller dem öffentlichen Bereich zuzuordnenden Haushalte wird nach Angaben des Sachver-
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Werner Schulz
ständigenrates in diesem Jahr 214,5 Milliarden DM erreichen. Das entspricht einer Defizitquote von 7 %.Diese Schuldenpolitik des Bundes führt zu einem starken Anstieg der Zinsbelastung. In den kommenden Jahren wird dadurch der finanzpolitische Spielraum entscheidend eingeengt.Ein Konzept für die Finanzierung der deutschen Einheit ist nach wie vor nicht erkennbar. Aber immerhin wird eines deutlich, nämlich wie sich die Bundesregierung aus der Verantwortung stehlen möchte. Wenn Sie, Herr Finanzminister, jetzt von einem Erblastfonds reden, ist Ihnen doch bewußt, daß es sich zu einem guten Teil um die Erblast Ihrer eigenen Politik handelt.
Die Schuldenpolitik hat die Bundesregierung nicht davon abgehalten, die Bürgerinnen und Bürger mit immer neuen Steuern und Abgaben zu belasten. Sie tat dies entgegen ihrer ausdrücklichen Versicherung, die Steuern nicht zu erhöhen. Die Bundesregierung hat ihre Versprechungen mehrfach gebrochen, und die nächste Steuerlüge zeichnet sich bereits ab.Die unsolidarische Lastenverteilung hat die soziale Schieflage der Nation vergrößert. Jüngste Untersuchungen belegen: Arbeiter und Angestellte werden, gemessen an ihren Einkommen, bei der Finanzierung der Einheit fast doppelt so hoch belastet wie die Bezieher hoher Einkommen.Mit den angekündigten Kürzungen im Sozialbereich zusammen mit der zum 1. Januar 1993 fälligen Erhöhung der Mehrwertsteuer wird die Ungerechtigkeit noch verschärft. Vielfach wird übersehen, daß die Haushalte der Bundesanstalt für Arbeit und die Rentenversicherung in hohem Umfang — 1992 allein mit ca. 50 Milliarden DM — zur Finanzierung des Defizits in Ostdeutschland herangezogen wurden.
Dagegen haben die wirtschaftlichen Gewinner der deutschen Einheit bisher nur wenig zum Aufbau Ost beigetragen. Die Bundesregierung hat es versäumt, sie in angemessenem Umfang an den Lasten dieses Aufbaus zu beteiligen.
Nun wächst die Sorge, daß die kurzsichtige Rechnung, die eigene Klientel zu schonen, Herr Lambsdorff, nicht aufgeht. Der von der Bundesregierung angestrebte Solidarpakt mag — das wird sich zeigen — ein Schritt in die richtige Richtung sein. Er kommt leider zwei Jahre zu spät, und die Bundesregierung ist zudem nicht gewillt, einen eigenen Beitrag zur gemeinsamen gesellschaftlichen Anstrengung zu leisten. Sie will weder die Schulden abbauen, noch ist sie zu einem sozial ausgewogenen Sparbeitrag bereit, von einer offenen und ehrlichen Haushaltsführung ganz zu schweigen.
Im deutlichen Kontrast zu den unsozialen Steuererhöhungen steht die nachlässige Haltung der Regierung bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften. Mit einer faktischen Abgeltungssteuer läßt sich keine Steuergerechtigkeit herstellen. Während bei Lohnabhängigen die Steuerbelastung deutlich angestiegen ist, will die Bundesregierung mit dem sogenannten Standortsicherungsgesetz die Unternehmensteuern verringern. Internationale Vergleiche zeigen jedoch, daß die Unternehmen in der Bundesrepublik keineswegs überdurchschnittlich belastet sind.Auch beim Subventionsabbau operiert die Bundesregierung mit falschen Versprechungen.
Der Bundeswirtschaftsminister hatte immer den Abbau von Steuervergünstigungen und Subventionen auf seine Fahnen geschrieben. Im Ergebnis hat sich der Subventionsabbau jedoch als Etikettenschwindel erwiesen. Kein Wunder, die Subventionierungen dienen vielfach nur der Unterstützung wichtiger Wählergruppen.
Auch in anderer Hinsicht bedarf die Finanzpolitik erheblicher Korrekturen. Unsere wichtigen Forderungen will ich nur kurz zusammenfassen.Erstens. Die Belastungen der neuen Länder müssen verringert, ihre Finanzausstattung muß verbessert werden. Die angestrebte Beteiligung der neuen Bundesländer an den Zins- und Tilgungslasten der Schulden des Kreditabwicklungsfonds, der Altschulden der Wohnungswirtschaft und der Treuhandanstalt ist illusorisch. Die ostdeutschen Länder und Kommunen sind nicht in der Lage, diese Sonderbelastungen aus der Vergangenheit in einem solchen Umfang mitzutragen.Zweitens. Der im Finanzplan vorgesehene Beitrag von 15 Milliarden DM als Vorsorge für die Neuregelung des Finanzausgleichs ist zu gering dimensioniert, um die Strukturunterschiede der Länder ausgleichen zu können. Darüber hinaus sind aber auch die alten Bundesländer verpflichtet, einen angemessenen Teil der neuen Lasten zu tragen.Drittens. Zur Finanzierung der deutschen Einheit benötigen wir einen neuen Lastenausgleich, der die Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit am wirtschaftlichen und sozialen Aufbau in den neuen Bundesländern beteiligt. Ich erspare mir hier weitere Ausführungen.
Ich glaube, die Bundesregierung muß in dieser Hinsicht noch manches lernen. Der Lernprozeß wird ihr nicht erspart bleiben. Der Bundeskanzler wird gewiß noch Gelegenheit bekommen, über die Worte von Sophokles nachzudenken: „Durch Betrug erlistet ist noch nicht gewonnen."
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10359
Ob wir damit der Demokratie und der Kultur dienen, möchte ich mit einem Fragezeichen versehen, Herr Schulz.
— Das habe ich ihm überhaupt nicht streitig gemacht, Herr Diederich.
Als nächstem gebe ich dem Abgeordneten Joachim Poß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In unserer Bevölkerung gibt es zumindest eine Übereinstimmung im Hinblick auf die Bilanz der Amtszeit von Bundesfinanzminister Waigel. Diese Bilanz ist leider deprimierend, ja sogar niederschmetternd. Unser Staat wurde durch seine Politik in eine schwere Finanzkrise hineingetrieben. Er hat es zugelassen, daß die Bürger in verfassungswidriger Weise zu hoch besteuert werden.
Er hat es zu verantworten, daß die Wirtschaft das Vertrauen in die Finanzpolitik verloren hat.
Das Schlimmste, Herr Finanzminister, aber ist: Mit Ihrer Politik, vor allem mit Ihrer ungerechten Steuer- und Abgabenpolitik, machen Sie für viele Bürger den Glücksfall der deutschen Einheit zum Schadensfall und behindern so das Zusammenwachsen unseres Volkes.
Herr Waigel, Sie haben als Bundesfinanzminister von Anfang an den schwierigen historischen Prozeß der inneren Einheit Deutschlands falsch eingeschätzt und falsch gesteuert. Sie haben als Bundesfinanzminister versagt.
Ich will diesen Vorwurf für den Bereich der Steuerpolitik in zehn Punkten näher begründen.Erstens. Der Bundesfinanzminister hat die Bürger immer wieder darüber getäuscht, welche finanziellen Anforderungen sich durch die deutsche Einheit ergeben und in welchem Umfang Steuern- und Abgabenerhöhungen dafür notwendig sein werden. Zusammen mit dem Bundeskanzler hat er den Bürgern vor der Wahl versprochen, es werde keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit geben. Allein aus parteitaktischen Gründen hat er leichtfertig die in unserem Volk vorhandene Solidaritätsbereitschaft ausgeschlagen.
Statt dessen hat er unerfüllbare Erwartungen bei den Bürgern geweckt, die inzwischen vielfach in Enttäuschung und Resignation umgeschlagen sind. Herr Waigel, Sie tragen damit zu einem großen Teil die Verantwortung für den Glaubwürdigkeitsverlust der Politik, und zwar im Westen und im Osten unseres Landes.
Zweitens. Der Bundesfinanzminister hat bis heute nicht Mut und Anstand, den Bürgern gegenüber einzugestehen, daß er falsche Versprechungen abgegeben hat. Er behauptet immer noch mit bis an Realitätsverlust grenzendem Starrsinn,
die inzwischen vorgenommenen Erhöhungen bei der Mineralölsteuer, der Tabaksteuer, der Versicherungssteuer, der Kfz-Steuer, die Einführung des Solidaritätszuschlags sowie die in fünf Wochen erfolgende Anhebung der Mehrwertsteuer hätten nichts mit der Finanzierung der deutschen Einheit zu tun. Nach seinen Behauptungen seien die Steuererhöhungen vielmehr wegen des Golf-Kriegs, wegen der Hilfe für Osteuropa oder wegen der Europäischen Gemeinschaft erforderlich. Herr Waigel, glauben Sie tatsächlich, die Bürger würden Ihnen diese plumpen Aussagen abnehmen?
Mit solchen Ausreden kommen wir nicht weiter.Drittens. Der Bundesfinanzminister ist immer noch nicht bereit, eine ehrliche und urgeschönte Bestandsaufnahme über die tatsächliche Finanzlage unseres Staates vorzunehmen
und den Bürgern zu sagen, welche Belastungen auf sie zukommen. Auch der Sachverständigenrat hat die Vorlage einer finanziellen Gesamtübersicht angemahnt. Nur auf dieser Basis kann das bisher fehlende tragfähige Finanzierungskonzept erstellt werden. Dies ist die ureigenste Aufgabe des Bundesfinanzministers. Wir sind bereits im dritten Jahr der Einheit. Herr Waigel, wie lange wollen Sie sich noch vor der Aufgabe drücken, endlich Klarheit über die Finanzsituation in dieser Republik zu schaffen?
Viertens. Der Bundesfinanzminister behauptet, Steuererhöhungen seien für die nächsten Jahre nicht notwendig und kämen nur als Ultima ratio in Betracht.
Sogar der Bundeskanzler, der Hauptverantwortliche für Fehleinschätzungen, falsche Weichenstellungen und illusorische Erwartungen, ist da ein Stück ehrlicher. Offenbar aus Furcht vor dem berechtigten Vorwurf einer neuen Steuerlüge hat er jetzt in seiner Stunde der Wahrheit seinem Finanzminister öffentlich widersprochen
und Einnahmeverbesserungen spätestens für 1995 angekündigt. Herr Waigel, wann kommt denn Ihre Stunde der Wahrheit?
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10360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Joachim PoßFünftens. In der Steuerpolitik der Bundesregierung herrscht das vollkommene Chaos. Jeder gackert vor sich hin wie auf einem Hühnerhof.
Bundesverkehrsminister Krause fordert die Einführung einer Autobahngebühr bereits für 1994, Bundeswirtschaftsminister Möllemann fordert die Wiedereinführung des Solidaritätszuschlags, und andere Koalitionspolitiker fordern eine erneute Anhebung der Mineralölsteuer. Wochenlanges Gezänk gab es um die Einführung einer Zwangsanleihe. Kurzum, alles ist dieser Bundesregierung inzwischen zuzutrauen, sogar eine weitere Anhebung der Mehrwertsteuer.
Unsere Bürger wollen und brauchen jetzt Klarheit.
Herr Waigel, sofern Sie in der Steuerpolitik dieser Bundesregierung noch etwas zu sagen haben, treten Sie hier ans Mikrophon und erklären Sie den Bürgern und den Unternehmen klipp und klar, welche neuen Steuer- und Abgabenerhöhungen die Bundesregierung noch vornehmen will.
Sechstens. Die Bundesregierung hat mit der bisher vorgenommenen Steuer- und Abgabenerhöhung in erster Linie die Bürger mit kleinen und mittleren Einkommen belastet. In der Diskussion wurde darauf schon hingewiesen. Selbst einige CDU-Politiker haben erkannt, daß hier eine Gerechtigkeitslücke entstanden ist.
Mit der Ablösung des Solidaritätszuschlags durch die Anhebung der Mehrwertsteuer auf 15 % wird die Gerechtigkeitslücke noch größer. Obwohl das Aufkommen von Mehrwertsteuererhöhung und Solidaritätszuschlag etwa gleich ist, bewirkt diese Maßnahme eine enorme Umverteilung. Die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen werden stärker belastet, die Bezieher hoher Einkommen erneut entlastet.
Der Solidaritätszuschlag war trotz des Mangels, daß er keine Einkommensgrenzen hatte, für die Bezieher hoher Einkommen die einzige an ihrer Leistungsfähigkeit orientierte Belastungskomponente.
Jetzt wird dieser einzige nennenswerte Finanzierungsbeitrag der Spitzenverdiener mit der Anhebung der Mehrwertsteuer auf die breite Masse der Bevölkerung umgelegt, und dies auch noch zu einem konjunkturell denkbar ungünstigen Zeitpunkt.
Wir haben immer gewarnt und darauf hingewiesen, daß die Mehrwertsteuererhöhung auch Gift für die Konjunktur ist. Heute stehen wir am Rande einer Rezession; denn der im Sommer begonnene Abschwung der Konjunktur in Westdeutschland hat sich weiter beschleunigt. Die Anhebung der Mehrwertsteuer, für die sich der Bundesfinanzminister im nachhinein auf europäischer Ebene mühsam ein Alibi besorgt hat, ist damit nicht nur ungerecht, sondern auch wirtschaftspolitisch gefährlich. Herr Waigel, einen Solidarpakt wird es nur geben können, wenn die bestehende Gerechtigkeitslücke geschlossen wird.
Siebtens. Das Bundesverfassungsgericht hat vor wenigen Wochen festgestellt, daß den Bürgern seit Jahren in verfassungswidriger Weise zu viele Steuern abverlangt werden. Die Besteuerung des Existenzminimums verstößt gegen die Verfassung. Ab dem 1. Januar 1993 dürfen Geringverdiener mit Einkünften in Höhe des Existenzminimums nicht mehr besteuert werden. Es ist erschreckend, daß der Bundesfinanzminister die Herstellung einer verfassungskonformen Besteuerung nicht als seine eigene Aufgabe betrachtet.
Wie bereits beim Kindergeld und den Kinderfreibeträgen sowie bei der Zinsbesteuerung läßt er sich vom Bundesverfassungsgericht zwingen und ist nur zu halbherzigen Korrekturen bereit. Er praktiziert seine eigene Verzichtsethik: Er verzichtet auf die Gestaltung der Steuerpolitik.
Mit der jetzt geplanten Regelung zur Steuerfreistellung des Existenzminimums umgeht der Bundesfinanzminister die Vorgabe des Verfassungsgerichts.
Während er selbst das Existenzminimum für 1993 mit 13 770 DM berechnet hat, will er nur 12 000 DM steuerfrei stellen. Zudem will er durch einen neuen Tarif mit einer Grenzbelastung von mehr als 60 % diesen Steuervorteil sehr schnell wieder rückgängig machen. Personen mit geringem Einkommen, Herr Waigel, haben als Folge davon eine höhere Grenzbelastung als Spitzenverdiener, deren Belastung höchstens 53 % beträgt. Dies ist ein Skandal.Der ,,Waigel-Tarif", der den bisherigen linear-progressiven Tarif ablöst, ist ein Wahnsinnstarif, der den Geringverdienern jeden Einkommenszuwachs fast vollständig wegsteuert.
Für sie gibt der Bundesfinanzminister das Motto aus: Arbeiten gehen lohnt sich nicht mehr. Herr Waigel, diese Politik ist sozialpolitisch und auch wirtschaftspolitisch unverantwortlich.
Achtens. Der Bundesfinanzminister hebelt das Haushaltsrecht des Parlaments aus, indem er sich weigert, an einer rechtzeitigen gesetzlichen Regelung der Steuerfreistellung des Existenzminimums mitzuwirken. Statt dessen soll die Regelung mit Steuerausfällen in Milliardenhöhe vorerst nur im Verwaltungswege erfolgen. Dies ist eine Mißachtung der von der Verfassung vorgegebenen Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Exekutive. Das war ja auch Ihre Meinung, Herr Faltlhauser, ursprünglich jedenfalls.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10361
Joachim PoßZudem täuscht der Bundesfinanzminister das Parlament über die tatsächlichen finanziellen Auswirkungen.
Herr Abgeordneter Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Ja.
Würden Sie dem Plenum zur Kenntnis geben, Herr Kollege, daß meine Auffassung immer die war, daß möglichst schnell, ab 1. Januar 1993, gehandelt werden muß und daß dies wegen der kurzen Zeit nur auf adminstrativem Weg und nicht auf gesetzgeberischem Weg geschehen kann, daß wir aber zweitens das administrative Handeln gesetzgeberisch auffangen und dadurch eine vernünftige und solide Grundlage für diese Regelung legen wollen? Dies war von Anfang an meine Auffassung, und dies bleibt sie auch. Wie ist dann Ihre Kritik zu begründen?
Dann habe ich wohl Ihre erste Äußerung zu diesem Punkt — ich glaube, Sie haben sie in einem Obleutegespräch getan — falsch verstanden. Herr Faltlhauser, ich hatte Sie so verstanden, daß Sie mit mir der Auffassung seien, daß dann, wenn für mehrere Millionen Menschen eine Regelung ansteht, dies nicht schlichtweg nur im Verwaltungsweg geschehen kann. Seit der Verkündung des Urteils im Oktober 1992 hätte auch die Zeit bestanden — z. B. beim Verbrauchsteuerbinnenmarktgesetz —, eine solche gesetzliche Regelung vorzunehmen.
Im Haushaltsjahr 1993 entsteht ein Steuerausfall nicht von 2 Milliarden DM, sondern von mindestens 4 bis 5 Milliarden DM; doppelt so hoch, wie vom Bundesfinanzminister angegeben. Da schließe ich heute noch jede Wette mit Ihnen ab, Herr Waigel, daß Sie auch in diesem Punkt im Januar oder später revozieren müssen. Sie sind im Begriff, auch Ihre eigenen Kolleginnen und Kollegen nicht ganz vollständig ins Bild zu setzen, was die Zahlen angeht.Im Jahre 1994 will der Bundesfinanzminister von den Geringverdienern in dem wahnsinnig bürokratischen Verfahren der neuen Zwangsveranlagung 2 Milliarden DM wieder zurückholen, und das gerade bei Leuten, die meistens keine Ersparnisse haben, auf die sie zurückgreifen können. Für 1993 verbleibt aber jedenfalls beim Bund ein Haushaltsloch von mindestens 1 Milliarde DM. Herr Waigel, wer sich die Taschen vollügt, hat noch lange kein Geld zum Ausgeben.
: An diesem Satz haben Sie aber
Neuntens. Der Bundesfinanzminister hat sich von Anfang an beharrlich geweigert, die für den wirtschaftlichen Aufbau der neuen Bundesländer notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. So sollte nach seinem Willen ursprünglich nur eine Investitionszulage von 8 % gewährt werden, und sie sollteEnde dieses Jahres auslaufen. Dies zeigt, daß der Bundesfinanzminister die wirtschaftlichen Probleme in den neuen Bundesländern total falsch eingeschätzt hat.Wir haben bereits Anfang 1991 gefordert, die Investitionszulage kräftig aufzustocken und zu verlängern. Die von uns seither wiederholt gestellten Anträge wurden von Ihnen kompromißlos niedergestimmt. Dieses Verhalten ist übrigens nur ein Beispiel für die wirtschafts- und finanzpolitische Ignoranz dieser Bundesregierung, mit der sie auch andere sachlich gut begründete Vorschläge der SPD zum Aufbau Ost in den Wind geschlagen hat.
Daher ist es zu begrüßen, daß die Bundesregierung jetzt endlich der von uns seit langem geforderten Anhebung der Investitionszulage auf 20 % zustimmen will. Herr Waigel, für viele Betriebe kommt diese Anhebung aber zu spät. Mit Ihrer Verhinderungspolitik haben Sie vielen Bürgern in den neuen Bundesländern großen Schaden zugefügt.
Zehntens. Der Bundesfinanzminister verweigert auch den Unternehmen in den alten Bundesländern klare und verläßliche Rahmenbedingungen. Die in der Koalitionsvereinbarung vorgesehene Ankündigung, bis Ende dieses Jahres werde das Gesetzgebungsverfahren zur Unternehmenssteuerreform abgeschlossen sein, wird nicht eingehalten. Mit diffusen, verwaltungsaufwendigen und undurchschaubaren Regelungen haben Sie das Steuerrecht bereits so kompliziert gemacht, daß es für die Unternehmen und die Finanzverwaltung nicht mehr handhabbar ist. Zudem werden die Unternehmen durch ständig neue Ankündigungen von Mitgliedern der Bundesregierung über Steuer- und Abgabenerhöhungen massiv verunsichert.
Die Bundesregierung selbst ist damit der Standortnachteil Nummer eins in Deutschland.
Wer angesichts der Finanzkrise eine Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes verspricht, verspielt auch bei den Unternehmern den letzten Rest an wirtschaftspolitischer Sachkompetenz.
— Ich habe ein Optionsmodell vorgeschlagen. Herr Waigel, wie wollen Sie eigentlich das Vertrauen der Bürger und der Wirtschaft zurückgewinnen?
Meine Damen und Herren, in der Amtszeit des Bundesfinanzministers Waigel kann von einer klaren
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10362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Joachim PoBund verläßlichen, am Wohl der Bürger orientierten Steuer- und Finanzpolitik nicht die Rede sein.
Als roter Faden zieht sich einzig und allein die ungerechte Umverteilungspolitik durch die Ära Waigel.
Die Steuer- und Abgabenbelastung der Bürger mit kleinen und mittleren Einkommen ist ständig höher geworden, während gleichzeitig überflüssige Steuergeschenke an die Wohlhabenden verteilt wurden.
Für jeden gerecht denkenden Menschen ist es doch unbegreiflich, daß auch die neuen Sparvorschläge von Herrn Waigel stets bei den Schwächsten in unserer Gesellschaft ansetzen.
Wir müssen in einer solidarischen Anstrengung, bei der die Bezieher hoher Einkommen nicht länger abseits stehen dürfen, jetzt das Ruder in der Finanz- und Steuerpolitik herumwerfen, einen Neubeginn setzen. Wir Sozialdemokraten haben mit unserem Sofortprogramm und mit unserer Entschließung zur dritten Lesung gezeigt, wie auch in dieser schwierigen Zeit eine sozial gerechte und wirtschaftspolitisch vernünftige Steuer- und Finanzpolitik möglich ist. Daran können Sie sich vielleicht ein Beispiel nehmen.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Jürgen Rüttgers das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Haushaltsplanberatungen, so sagt man, sind die Stunde der Opposition. Sie soll kritisieren und Vorschläge machen.
Heute und in den letzten Tagen haben wir nun den Versuch der SPD erlebt, ein wahres Feuerwerk von Vorwürfen und Kritik abzubrennen. Herausgekommen sind nach meiner Meinung im wesentlichen Knallfrösche: Sie wirken nur bei Dunkelheit und vor allen Dingen bei ängstlichen Gemütern.
Bei Licht betrachtet, verehrter Herr Kollege Poß — dazu war Ihre Rede ein Beispiel —, sind sie nur Verpuffungen mit viel Rausch und ohne Wirkung.
Herr Finanzminister, Sie haben eben erzählt, die SPD habe Sie zum Rücktritt aufgefordert. Ich habe auch gehört, daß sich Frau Matthäus-Maier für das Amt des Finanzministers bewerben will. Mit Verlaub, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Das scheint mir so ähnlich zu sein, als ob sich Graf Lambsdorff für den Vorsitz der Sozialistischen Internationale bewirbt.
— Na ja, na ja. Überlassen wir manche Bewertungen einmal denjenigen, die erleben, wie wir hier argumentieren.Kollege Poß, Sie haben auf Ihren Sonderparteitag Bezug genommen und gesagt, daß dies die Grundlage Ihres Vorgehens in der Finanz- und in der Wirtschaftspolitik sei. Mir ist aufgefallen, daß auf diesem Sonderparteitag sehr viel von „Zumutungen" und „Verteilungskämpfen" die Rede war. Wer die augenblicklichen Probleme und Herausforderungen als Zumutungen und Verteilungskämpfe versteht, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Wir alle, Arbeitgeber, Gewerkschaften und öffentliche Hand, stehen an einem Scheideweg. Wir haben die Wahl zwischen strikter Sparsamkeit und ungebremster Verschuldung. Wir haben die Wahl zwischen Mäßigung bei den Einkommen und hohen Inflations- und Zinsraten. Wir haben die Wahl zwischen mehr Eigenverantwortung oder einer Überforderung unseres Gemeinwesens. Kurzum: Wir brauchen eine Renaissance der Wirtschaftspolitik.
Wir können es schaffen, wenn wir nur wollen.
Mit der Erblast der Sozialdemokratie sind wir Anfang der 80er Jahre fertig geworden. Die Folge waren zehn gute Jahre für Deutschland.
Mit der Erblast des Sozialismus werden wir in diesen Tagen und Wochen fertig. Das erfordert eine neue Verständigung darüber, was der Staat leisten soll und was er leisten kann. Konkret heißt dies: Sparen, Besitzstände überprüfen, Verordnungen abbauen und neue Prioritäten setzen.
Diese Ziele wollen wir in drei Schritten erreichen. Der erste Schritt ist die Verabschiedung des Haushalts 1993. Der zweite Schritt ist der Solidarpakt für Deutschland, und der dritte Schritt ist das föderale Konsolidierungskonzept.
Ich finde es wichtig — das ist auch eine neue Qualität der Debatte —, daß der Bund bereit ist, zusammen mit Ländern und Gemeinden darüber
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Dr. Jürgen Rüttgersnachzudenken, welche gesetzlichen Regelungen verändert werden müssen, damit auch Länder, Städte und Gemeinden ihren Beitrag zum Sparen erbringen können.
Meine Damen und Herren, es ist wirklich nicht notwendig, daß wir in Westdeutschland ein Programm zum Rückbau der Straßen durchführen, während in Ostdeutschland Mittel für den Neubau von Straßen fehlen.
Es kann nicht richtig sein, daß die Richtlinien für Architektenwettbewerbe dazu führen, daß öffentliche Bauten erheblich teurer sind als Privatbauten. Es kann auch nicht richtig sein, daß wir über Wohnungsbau klagen, die Verabschiedung von Bebauungsplänen aber fünf Jahre dauert und, wenn dann endlich mit den Bauarbeiten begonnen werden soll, eine Gemeinde zur Benutzung einer Kuhwiese umfangreiche Ausgleichsflächen zur Verfügung stellen muß.
Es wird Zeit, daß Länder, Städte und Gemeinden zu klagen aufhören und konkrete Vorschläge machen, was geändert werden soll.
Ich glaube, daß diese drei Schritte notwendig sind. Sie gehören zu einem Programm der Solidarität. Wir setzen dieses Programm der Solidarität gegen das Programm wechselseitiger Zumutungen, von denen der SPD-Sonderparteitag gesprochen hat.
Ich glaube, daß das Programm der SPD in der Tat eine Zumutung ist.
— Ich habe es sehr genau gelesen, wahrscheinlich intensiver als Sie, wie ich Ihren Wortmeldungen entnehme.Mit Ihrem Programm wollten Sie nachweisen, daß Sie regierungsfähig sind. Nehmen wir das einmal beim Wort. Neben Forderungen in zweistelliger Milliardenhöhe werden gleichzeitig Steuer- und Abgabenerhöhungen von mehr als 50 Milliarden DM, also 50 000 Millionen DM, angekündigt. In diesem Programm findet sich kein einziger konkreter Sparvorschlag.
Was hier als Sofortprogramm vorgestellt wurde, ist in Wahrheit, so meine ich, ein finanzpolitischer Offenbarungseid. Es ist kein Nachweis für wirtschaftspolitische Kompetenz, sondern für Regierungsunfähigkeit.
Demgegenüber haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen seit der Wiedervereinigung das umfangreichste Sparprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt — in der Amtszeit von Bundesfinanzminister Theo Waigel.
— Entschuldigen Sie bitte, die Tatsache, daß Sie Mer herumbrüllen und herumpöbeln, macht das nun wirklich nicht besser.
— Gerade Ihnen, Herr Kollege, sage ich: Wir haben soeben Ihren Rednern zugehört.
Von Anfang an, wenn jemand von uns redet, machen Sie Ihr Maul auf, und irgend etwas kommt heraus. Sie sollten wirklich einmal darüber nachdenken, ob das einer Debatte in diesem Parlament angemessen ist.
Meine Damen und Herren, ich sprach von dem größten und umfangreichsten Sparprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahre 1990 wurde ein Entlastungsvolumen von 5,6 Milliarden DM, im Jahre 1991 ein Entlastungsvolumen von 44,8 Milliarden DM, im Jahre 1992 von 13,5 Milliarden DM und für 1993 in einem ersten Schritt 3,2 Milliarden DM erzielt. Das sind zusammen 67,1 Milliarden DM — wahrlich ein großes, ein erfolgreiches Sparprogramm.Gegen fast alle Spargesetze — auch das ist wichtig zu wissen — hat die SPD-Mehrheit im Bundesrat den Vermittlungsausschuß angerufen
und sich ihre Zustimmung jeweils mit viel Geld abkaufen lassen.
Nicht einmal die 10prozentige Kürzung der Fraktionsgelder wollte und will die SPD mittragen.
Wer nach außen von Sparen redet, nach innen aber Sparen blockiert, ist unglaubwürdig.
Das zeigt, die SPD ist und bleibt die Partei der organisierten Unverantwortlichkeit.
Es ist verräterisch, daß die SPD den Begriff Solidarpakt möglichst meidet und ihn dort, wo er gebraucht wird, z. B. in den Texten ihres Parteitages, als Instrument der Umverteilung versteht. Gesprochen wird von Solidarität, gemeint ist aber Verteilungskampf. Der Solidarpakt ist ein Solidarpakt für Wachstum und Beschäftigung.
Er wird dann Erfolg haben, wenn alle Maß halten.
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10364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Jürgen RüttgersMeine Damen und Herren, verehrte Kollegen und Kolleginnen, ich sprach von einer Renaissance der Wirtschaftspolitik. Damit meine ich eine aktive Politik für mehr Wachstum in Ost und West. Beides gehört zusammen. Es gibt keine Alternative Aufbau Ost gegen Aufschwung West. Wer, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie der niedersächsische Ministerpräsident Schröder sagt — ich zitiere —: Die Westdeutschen haben die Schnauze voll, immer mehr Geld nach Osten zu schieben — Zitat Ende —, der spaltet nicht nur unser Vaterland, sondern der hat auch keine Ahnung von wirtschaftlichen Zusammenhängen.
Wir sind ein Volk. Wir sind eine Gemeinschaft. Wir sind eine Volkswirtschaft. Aber wir schaffen den Aufbau im Osten nur, wenn wir die Wirtschaftskraft im Westen weiter in Schwung halten.
Wir erhalten den Wohlstand im Westen nur, wenn wir ihn im Osten schaffen.
Dazu muß der von uns eingeschlagene ordnungspolitische Kurs konsequent fortgesetzt werden.
Was sich heute in wirtschaftlichen Krisendaten ausdrückt, sind die Folgen bislang unbewältigter Strukturprobleme,
die sich in Ost und West jeweils anders darstellen. Strukturprobleme lassen sich nicht durch Umverteilung lösen. Notwendig ist eine kräftige Investitionsentwicklung, die auch Beschäftigung schafft. Sie muß gefördert werden durch eine grundlegende Überprüfung der Staatsaufgaben und der -ausgaben, durch den modernen Ausbau der Infrastruktur, durch den Abbau von Verwaltungsvorschriften und -verfahren, die nach wie vor die größten Investitionshemmnisse sind, durch Löhne, die der Produktivitätsentwicklung nicht davonlaufen und die Preise nicht inflationieren, durch den Abbau von Haushaltsdefiziten und begrenzte Ausgabensteigerungen unterhalb des nominalen Sozialprodukts, damit die Bundesbank ihre geldpolitischen Zügel lockern kann.Wir haben auf diesem Weg in den vergangenen beiden Jahren Fortschritte gemacht. Der Ausbau der Infrastruktur in den neuen Ländern läuft auf vollen Touren. Sie alle kennen die Zahlen der Investitionen: Bundespost 14 Milliarden DM; Bundesbahn ebenfalls 14 Milliarden DM. Sie wissen, daß 500 000 Gewerbeanmeldungen netto seit Anfang 1990 zu verzeichnen sind.
Sie kennen die Zahlen der Förderung im Rahmen von Regionalförderungen in Höhe von 100 Milliarden DM. Die Zahlen ließen sich fortsetzen.Die ostdeutsche Wirtschaft kann in diesem Jahr erstmals ein Wachstum von 3,5 % verzeichnen. Das ist zwar erfreulich, aber es reicht bei weitem nicht aus. Jeder weiß, daß der Aufschwung schwieriger als erhofft ist.Aber vielleicht darf man noch einmal daran erinnern: Als die ostdeutschen Kollegen der CDU/CSUBundestagsfraktion und ihr geschäftsführender Vorstand im Sommer ein Programm zum weiteren Aufbau der neuen Bundesländer vorlegten, sind wir heftig kritisiert worden — u. a. und nicht zuletzt aus den Reihen der SPD.
Inzwischen zeigt sich, daß wir recht hatten. Die ersten Erfolge sind eingetreten. 10 Arbeitsgruppen aus Regierung und Koalition haben ein umfangreiches Maßnahmenpaket zum Abbau der Investitionshemmnisse im Bau-, Umwelt- und Verkehrsbereich vorgelegt. Das Kabinett wird noch in diesem Jahr ein Artikelgesetz beschließen, mit dem diese Maßnahmen umgesetzt werden. Unser Programm wird auch allen Entscheidungsträgern — so hoffe ich zuversichtlich — in Ostdeutschland Mut machen.
Herr Kollege Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieczorek?
Aber natürlich.
Herr Kollege, wären Sie so freundlich, uns auch wirklich einmal zu sagen, was denn diese Arbeitsgruppen eigentlich als Ergebnis erarbeitet haben?
Aber ja!
Wir hören immer von Arbeitsgruppen, die die Koalition einsetzt. Wir haben das Gefühl, daß die Koalition — —
Die Frage ist gestellt, Herr Kollege.
Das ist der Punkt. Durch Zeitunglesen? — Ich habe mich erkundigt. Darauf will ich hinaus.
Nein, Herr Kollege Wieczorek, das tut mir wirklich leid. Das mit den Zeitungen, das können wir weglassen. Im Rahmen unseres Austausches von Erklärungen zwischen den Fraktionen bin ich sicher und weiß, daß Sie die Texte in der Fraktion offiziell von uns überreicht bekommen haben. Sollten die nicht bis zu Ihnen gekommen sein, so will ich das gern nachholen und mit den Kollegen Geschäftsführern reden, so daß das bis zu Ihnen kommt. Das ist aber bereits seit Wochen bekannt und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10365
Dr. Jürgen Rüttgersveröffentlicht. Darüber sollten wir, glaube ich, jetzt nicht weiter reden.
— Wenn da bei Ihnen in der Fraktion etwas nicht geklappt hat, dann wollen wir das gern ausputzen.
Übrigens glaube ich auch, daß der Kanzleramtsminister, der sich in dem Punkt sehr verdient gemacht hat, Ihnen, Herr Wieczorek, gern für weitere Auskünfte zur Verfügung steht.Was aber wesentlich ist — wir brauchen in allen Verwaltungen jetzt schnelle Entscheidungen. Ich will das ausdrücklich sagen. Es darf nicht sein, daß aus Angst vor Rechnungshöfen oder Regreßforderungen Entscheidungen verschleppt werden.
Nur wer schnell entscheidet, entscheidet richtig.Bundesfinanzminister Theo Waigel hat, und er hat dies soeben hier dargelegt, im Rahmen des Haushalts 1993 die Investitionsförderung in den neuen Bundesländern verstärkt; ein weiteres Paket von 20 Milliarden DM, das sich sehen lassen kann. Die CDU/ CSU-Fraktion ist entschlossen, dieses Programm im kommenden Jahr zu ergänzen. Wir sind bereit, bei Leistungsgesetzen und Subventionen weiter zu sparen, um Investitionen in den neuen Bundesländern zu fördern und die industriellen Kerne in Ostdeutschland zu erhalten.Aufbau Ost, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist das eine. Die Sicherung des Industriestandorts Deutschland ist das andere. Ein neues Denken in der Wirtschaftspolitik muß, so meine ich, beides miteinander verbinden. Standortschwächen, wie zu hohe Arbeitskosten, kurze Arbeitszeiten, hohe Unternehmenssteuern und zu lange Genehmigungsverfahren, müssen in ganz Deutschland ausgeglichen werden. Notwendig sind klare Rahmenbedingungen und neue unternehmerische Spielräume durch Privatisierung, durch Deregulierung und durch Entbürokratisierung.
— Das sind keine Formeln, sondern das hat etwas mit Wirtschaftspolitik zu tun. Daß Sie davon keine Ahnung haben, das verstehe ich. Das sind wir auch nicht anders gewöhnt von Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Bundeskabinett hat im Juni 1992 die Vorschläge der Koalitions-Arbeitsgruppe „Deregulierung" gebilligt. Die CDU/CSUFraktion erwartet von den Fachressorts — ich sage dies mit allem Nachdruck —, daß die Vorschläge nunmehr schneller, als bisher zu erkennen, umgesetzt werden. Im Bereich der Privatisierungen stehen die Bahnreform und die Postreform ganz oben auf der Tagesordnung. Ich meine, wir sollten auch den Mut haben, den industriellen Besitz des Bundes auf den Prüfstand zu stellen. Nach meiner Ansicht verfügt der Bund noch über viel zu viele Beteiligungen an Privatunternehmen.Aber auch im Bereich des Wohnungs- und Grundstücksbesitzes muß schneller gehandelt werden. Ich will dies einmal in aller Klarheit hier im Parlament sagen: Die Bundesvermögensverwaltung wird nach meiner Einschätzung mehr und mehr zu einem Investitionshemmnis erster Güte. Dies gilt für Ost wie für West.
Herr Kollege Rüttgers, der Kollege Walther würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Präsident, dadurch, daß das Präsidium nicht in der Lage war, dem Geschehen hier unten zu folgen, komme ich etwas zu spät zu der Frage, die ich eigentlich stellen wollte. — Der Kollege Rüttgers hat auf die Notwendigkeit der Bahnreform verwiesen. Herr Kollege Rüttgers, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß der Bundesfinanzminister der eigentliche Bremser bei der Bahnreform ist?
Das scheint von Ihnen schon wieder falsch aufgenommen worden zu sein.
Man muß schon die Wahrheiten und die Wirklichkeiten aufnehmen. Es gibt klare Beschlüsse der CDU/ CSU-Fraktion, die in Abstimmung mit dem Bundesverkehrsminister und dem Bundesfinanzminister getroffen worden sind, zum Fortgang der Bahnreform. Das Programm ist völlig klar. Es ist ein Problem der Finanzierung. Da gibt es — das ist wiederum mit Zustimmung des Bundesfinanzministers erfolgt — Beschlüsse vom 30. Juni dieses Jahres. Dazu gibt es Beschlüsse im Bundeskabinett. Dazu gibt es übereinstimmende Beschlüsse der Parteitage von CDU und CSU. Als Fraktionsgeschäftsführer hat man aber eine Erfahrung: Das Problem von Kommunikation ist, daß derjenige, dem man etwas mitzuteilen versucht, das auch wahrnehmen muß. Das scheint mir hier das Problem zu sein.
Eine weitere Zwischenfrage.
Herr Kollege Rüttgers, wenn das so ist, wie Sie sagen, wie kommt dann der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bundesbahn zu der öffentlich mitgeteilten Auffassung, daß der Bundesfinanzminister durch die Weigerung, die Altschulden der Bundesbahn zu übernehmen, zur Verhinderung der Bahnreform beitrage?
Weil der Bundesfinanzminister natürlich recht hat. Wenn er bei jedem, der sich an ihn mit der Bitte wendet, er möge dessen Altschulden übernehmen, ja sagte, dann würde näm-
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10366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Jürgen Rüttgerslieh vielleicht das passieren, was Sie ihm vorwerfen. Da er es aber ablehnt, passiert es nicht. Insofern ist das Problem ganz einfach.
— Lieber Kollege Walther, lassen Sie mich jetzt auf meine eigentlichen Ausführungen zurückkommen. Wir haben heute morgen schon miteinander geredet. Es macht zwar immer Freude, mit Ihnen zu reden; aber wir wollen ja auch weiterkommen. Sonst sind die weiteren Kollegen erst um Mitternacht an der Reihe.Ich hatte zum Thema der Wohnungs- und Grundstücksprivatisierung einige Bemerkungen gemacht. Ich will auch anregen, darüber nachzudenken, ob wir den Verkauf staatlicher Grundstücke nicht Fachleuten aus der Privatwirtschaft übertragen sollten. Ich meine, dann wäre das Problem schnell gelöst.
Wenn es sein muß, dann müssen wir bereit sein, für einen solchen unkonventionellen Weg auch die Haushaltsordnung zu ändern. Ich habe keinerlei Hemmungen mit der Anmerkung, daß so etwas analog einer Regelung wie bei der Treuhand erfolgen kann, allerdings nicht im staatlichen, sondern im privaten Bereich; denn, werter Kollege, Wohnungsnot beklagen und Grundstücke horten, das paßt eben nicht zusammen. Auch hier gilt: Wer schnell entscheidet, entscheidet richtig.Auch in der Umweltpolitik sind Entscheidungen notwendig. Es gibt nach meiner Einschätzung keine Regierung, die eine erfolgreichere Umweltpolitik gemacht hat wie die Bundesregierung.
Jeder weiß, daß es hier keinen Stillstand geben darf. Aber es geht eben nicht alles zur gleichen Zeit. Ich meine, deshalb müssen wir den Mut haben, jetzt zu sagen, was in dieser Legislaturperiode noch geht und was nicht geht.
— Warten Sie doch ab; brüllen Sie doch nicht immer direkt los!Ich persönlich meine jetzt z. B. das Bundesnaturschutzgesetz. Auch in dem Zusammenhang brauchen wir klare Rahmenbedingungen. Wenn die Länder die Kosten übernehmen wollen, dann kann das noch in dieser Legislaturperiode gehen; sonst, glaube ich, nicht.Wir brauchen zudem wieder ein klares energiepolitisches Programm. Jeder weiß, daß die SPD-geführten Länder nach wie vor eine Ausstiegspolitik betreiben. Allerdings wird durch Nichtstun oder durch die Einsetzung oder die vergebliche Einsetzung von Kommissionen diese Blockade nicht überwunden.Nun kann ein normaler Mensch diese Energiepolitik sowieso nicht verstehen; denn, glaubt man den Kritikern, geht in Deutschland ohnehin nichts mehr: Fossile Energieträger wie Kohle und Erdöl verpesten die Luft; Kernkraft ist radioaktiv; Wasserwerke zerstören die Flußtäler; Windparks verschandeln die Landschaft; Sonnenenergie steht nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Kurzum: Wir alle brauchen billige Energie, aber kein Energieträger steht zur Verfügung, weil jeder der Umwelt schadet.Der Glaube an einen nationalen Energiekonsens bleibt wohl ein Wunschtraum.
Wir kommen an den Entscheidungen nicht vorbei. Zur Ehrlichkeit gehört, daß das Argument der nationalen Energiereserve nach der Wiedervereinigung wohl nicht mehr trägt.
Das wird natürlich auch Auswirkungen auf die Förderung der Steinkohle haben,Meine Damen und Herren, in vielen Bereichen ist die deutsche Wirtschaft Spitze, bei der Anwendung moderner Forschungsergebnisse hinken wir aber hinterher. Ich frage mich, was macht es eigentlich für einen Sinn, die Gentechnik erst mit Steuergeldern zu fördern und anschließend ihre Anwendung administrativ zu behindern?
Seit langem behindert die rot-grüne Landesregierung in Hessen die gentechnische Produktion von Insulin. Dabei ist bekannt, daß die produzierten Bakterien bei Kontakt mit Sauerstoff sofort absterben. So macht man Zukunftsmärkte und Arbeitsplätze kaputt. Deshalb muß das Gentechnikgesetz so schnell wie möglich novelliert werden.Werte Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist noch immer ein guter Wirtschaftsstandort. Aber wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Der Bundesfinanzminister hat ein Standortsicherungsgesetz angekündigt, um die steuerpolitischen Rahmenbedingungen zu verbessern. Ich meine, jetzt muß die Wirtschaftspolitik das ihre tun, um neue unternehmerische Spielräume zu eröffnen.Anfang der 80er Jahre haben wir die Grundlage für zehn gute Jahre in Deutschland gelegt.
Jetzt geht es darum, die Voraussetzungen für zehn weitere gute Jahre zu schaffen. Die Entscheidungen fallen in den Haushaltsberatungen von Bund, Ländern und Gemeinden, im Rahmen des Solidarpakts und der Tarifverhandlungen, im Rahmen der Wirtschaftspolitik und bei den Investitionsplänen der Unternehmen.Manche sagen: Wir stehen vor einer wirtschaftspolitischen Krise. Nun denn: Das griechische Wort „Krisis" heißt „Entscheidungssituation". Es liegt an uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10367
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gerade in den letzten Wochen ist mir immer wieder deutlich geworden, daß es aus der Sicht der öffentlichen Meinung in unserem Lande Politiker und Spitzenpolitiker gibt.
Die Spitzenpolitiker treffen sich immer zu außergewöhnlichen Zeiten zu vertraulichen Gesprächen,
die natürlich gerade auf Grund der vereinbarten Vertraulichkeit von besonderer Bedeutung sind und deshalb auch entsprechende medienmäßige Anerkennung erfahren.Das Spannende an diesen Veranstaltungen ist natürlich, daß die vertraulichen Ergebnisse in der Regel spätestens eine halbe Stunde nach Beendigung der Sitzung mehr oder weniger vollständig allgemein bekanntgemacht worden sind.
— Nein, das zu akzeptieren bin ich nicht bereit; denn ich stelle ja auch fest, wo die Runden stattfinden. Woher das nun direkt kommt, weiß ich nicht. Ich stelle jedenfalls immer die Ergebnisse fest.
Uns Politikern werden dann am nächsten Tag, ebenfalls in vertraulichen Gesprächen, die Ergebnisse der Gespräche der Spitzenpolitiker vom Vortag mitgeteilt, die wir teilweise schon in den Zeitungen lesen konnten. Sollten wir diese Ergebnisse noch nicht in der Zeitung gefunden haben, so können wir sie spätestens am Tag nach diesen vertraulichen Sitzungen in der Zeitung nachlesen.
Irgendwie wirkt dieses ganze Verfahren ritualisiert. Das Positive an diesem Ritual ist der hohe Wiedererkennungswert, und der ist ja auch gewollt.
— Ich glaube, man kann beides so sehen; aber es sind ja auch immer Spitzenpolitiker dort.Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der Öffnung der Grenze sind drei Jahre vergangen. Seit der Wirtschafts- und Währungsunion sind zwei Jahre vergangen. In dieser kurzen Zeit hat sich in den neuen Bundesländern schon vieles zum Positiven verändert. Natürlich gibt es bei diesem dramatischen Umstruktierungsprozeß persönliche Betroffenheit und Härten, die abgefedert werden müssen. Aber manchmal habe ich den Eindruck: Kein Land überbietet uns im Schwarzsehen. Es ist richtig, daß wir die Risiken erkennen, diese beim Namen nennen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Ebenso richtig ist aber auch, daß die ernormen Leistungen, die von unserenBürgern erbracht werden, jetzt schon Früchte tragen.Meine Damen und Herren, ich war vor kurzem in Neubrandenburg bei der Eröffnung eines Kalksandsteinwerks. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich auch mit jüngeren Leuten unterhalten. Es hat mich gefreut, erfahren zu können, daß diese jungen Leute, die in der ehemaligen DDR keine Chance, keine Perspektive und keine Zukunft hatten, mit der Gegenwart zufrieden sind und daß diese jungen Leute nunmehr eine Perspektive und eine Zukunft haben und dieses auch verspüren.
Meine Damen und Herren, in diesem Jahr stellen wir aus dem Bundeshaushalt den neuen Bundesländern etwa 90 Milliarden DM direkt zur Verfügung, und im nächsten Jahr werden es etwa 100 Milliarden DM sein. Hinzu kommen noch die Sozialtransfers. Dies ist eine ungeheure Kraftleistung, die bei uns nicht immer anerkannt wird, die aber von unseren europäischen Nachbarn durchaus bewundert wird. Wie sonst ist es zu erklären, daß bei den unbestreitbaren Schwierigkeiten, die wir sehen, das Vertrauen unserer europäischen Nachbarn und der Welt in Deutschland und in die D-Mark ungebrochen ist. Dies beweisen die Währungsturbulenzen der jüngsten Zeit, aus denen die D-Mark stabilisiert und gestärkt herausgegangen ist, und zwar aufs neue. Lassen wir uns nicht in die Depression hineinreden. Wir müssen auch die Erfolge vorzeigen. Mut statt Mißmut ist angesagt.
Sehr verehrte Damen und Herren, in der derzeitigen konjunkturellen Entwicklung werden Wachstumsimpulse von uns erwartet. Die besten Wachstumsimpulse geben wir, indem wir den Kapitalmarkt nicht zu stark belasten; denn dieses eröffnet der Bundesbank den Spielraum zu weiteren Zinssenkungen. Gerade die Diskussion um die Maastrichter Verträge hat gezeigt, daß das Vertrauen der Bundesbürger in die D-Mark und in die Deutsche Bundesbank, insbesondere in ihre Unabhängigkeit besteht. Dieses ist gut so und soll auch so bleiben.
Lassen Sie mich aber folgenden Punkt kritisch anmerken: Die Deutsche Bundesbank begründete den Zinsanstieg mit der Notwendigkeit, insbesondere das Wachstum der Geldmenge M 3 einzugrenzen, um dadurch einer inflationären Entwicklung entgegenzuwirken. Das starke Geldmengenwachstum hängt aber auch mit anderen Dingen zusammen, insbesondere mit der deutschen Einheit und auch damit, daß die D-Mark in Osteuropa auch auf den Schwarzmärkten und als indirekte Leitwährung genutzt wird.
Das hat zu einer erheblichen Ausweitung des Bargeldumlaufs geführt.Deshalb möchte ich an dieser Stelle die Bitte an die Deutsche Bundesbank vortragen zu überdenken, ob unter dem genannten Gesichtspunkt nicht eine Reduzierung der Leitzinsen möglich erscheint. Der Haushalt 1993 belastet den Kapitalmarkt ebenfalls nicht
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10368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Carl-Ludwig Thieleübermäßig, so daß eine Absenkung des Leitzinses möglich erscheint. Aus meiner Sicht ist sie auch wünschenswert.Die Beratungen für den Haushalt 1993 haben einmal mehr gezeigt, daß wir nach der deutschen Einheit und der dadurch sichtbar gewordenen Misere mit der Konkursmasse der ehemaligen DDR enorme Schwierigkeiten haben. Die uns hierdurch zugewachsene Aufgabe ist manchmal erdrückend.Um die durch den Haushalt möglichen Verbesserungen der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern durchzusetzen, ist auch in diesem Haushaltwieder eine hohe Priorität für den Aufbau der neuen Bundesländer vorgesehen. Dieses führt zu Mehrausgaben, die das Einhalten der Eckwerte und des Wachsens des Bundeshaushaltes um 2,5 % nur deshalb ermöglichen, weil in erheblichem Umfang Einsparungen vorgenommen wurden, auch und gerade durch den Haushaltsausschuß.
Besonders schwierig wird die Situation dann, wenn sich das Wirtschaftswachstum abschwächt und auf Grund dessen die Einnahmeerwartungen nach unten korrigiert werden müssen.Diese großen Aufgaben lassen häufig den Eindruck entstehen, als ob nur die großen Parteien gemeinsam die Probleme lösen könnten. Deshalb werden entsprechende Gespräche angestrebt, geführt und teilweise Allparteienkompromisse erreicht. Dieses erfolgt natürlich auch in der Erkenntnis, daß die Mehrheit im Vermittlungsausschuß eine andere ist als im Deutschen Bundestag.Diese unklaren Entscheidungsstrukturen und das Verwischen der Zuständigkeiten schaden übrigens nicht nur der Regierung, sondern sie schaden ebenso der SPD.
— Ja. — Auch hier ist nicht immer deutlich, ob die SPD als Opposition oder in einer Art Mitverantwortung tätig wurde. Dadurch wird es für den Wähler immer schwieriger, zwischen den etablierten Parteien Unterschiede zu erkennen und damit Alternativen zu finden.Dieses führt zu einer Glaubwürdigkeitskrise für das gesamte politische System. Diese Glaubwürdigkeitskrise ist besonders dann gefährlich, wenn Minderheiten in unserer Bevölkerung die Verunsicherung in unserem Staate nutzen und versuchen, Minderheiten und Ausländer auszugrenzen und mit neonazistischen Parolen einen ganz anderen Staat vorzubereiten -wie gestern geschehen in Mölln.Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses alles führt eigentlich dazu, daß der Bürger dann nicht immer erkennen kann, wer hier eigentlich regiert. Dieses ist mit eine wesentliche Ursache für die Politikverdrossenheit.Was wir brauchen, ist wieder eine klarere Kompetenzabgrenzung. Was wir festhalten müssen, ist der klare Wählerauftrag an die Union und die F.D.P. Dieser Auftrag ist nach wie vor gegeben.Es ist wieder eine klarere Linie erforderlich, und die ist vom Bürger auch gewünscht.
— Deshalb spreche ich ja hier, und wir machen das ja auch.Die Haushaltsberatungen zeigen jedes Jahr aufs neue die Anforderungen und Notwendigkeiten aus Sicht der Ministerien und der entsprechenden Fachausschüsse des Bundestages. Fast alles an diesen Wünschen ist verständlich. Aber diese Wünsche stehen unter dem Vorbehalt der Finanzierungsmöglichkeit. Dieser Vorbehalt führt dann zu der Einsicht, daß nicht alles Wünschenswerte finanzierbar ist. Dieses versteht der Bürger; denn für ihn gilt das ebenso. Dies gilt auch für die öffentlichen Haushalte und die Parlamente, auch die anderen Parlamente, insbesondere die Länderparlamente.Es besteht dann zum einen die Möglichkeit, sich durch zusätzliche Belastung der Bürger — sprich: Steuer- und Abgabenerhöhung — neue Einnahmen zu verschaffen, und zum anderen die Möglichkeit, sich Einnahmen auf Pump oder — vornehmer ausgedrückt — im Wege der Kreditaufnahme zu verschaffen. Beide Wege sind möglich und werden auch begangen.Doch es gibt eine weitere Möglichkeit, die leider immer noch zu selten genutzt wird. Statt bei den Einnahmen großzügig zuzulegen, kann und muß bei den Ausgaben kräftig gespart werden.
Der von den Bürgern grundsätzlich gewünschte Weg des Überprüfens und des Abbaus von staatlichen Leistungen ist wohl der schwierigste Weg.
— Die Zurufe von der SPD momentan verstehe ich nicht;
denn außer dem generellen Genöle über die Staatsverschuldung und den Haushalt habe ich konkrete Einsparungsvorschläge, die auch die Größenordnungen bringen, die hier erforderlich sind, nicht gehört.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sind nicht in den Bundestag gewählt worden, um uns bei der einen oder anderen Lobby oder Interessenvereinigung beliebt zu machen
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Carl-Ludwig Thieleoder um bei den enormen finanziellen Aufgaben in der bisherigen Bundesrepublik alles beim alten zu belassen.
Herr Kollege Thiele, der Kollege Walther würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Ausgesprochen gern.
Herr Kollege Thiele, ich unterstreiche Ihre Bemerkung, daß wir nicht in den Bundestag gewählt worden sind, um eine Lobby zu unterstützen oder um uns bei Interessengruppen lieb Kind zu machen. Können Sie unter dieser Prämisse bestätigen, daß sich Ihr Kollege Dr. Weng im Haushaltsausschuß bei der Beratung des Einzelplans 15 dafür eingesetzt hat, daß für eine bestimmte Berufsgruppe die Mehrwertsteuer halbiert wird?
Im Zuge der Beratung des Einzelplans 15 sind die Gesundheitsreform und diese ganze Diskussion angesprochen worden; das ist richtig. Es gibt auch kritische Punkte zur Gesundheitsreform; auch das ist richtig. Daß der Kollege Weng im Rahmen des Haushalts versucht, gegenüber dem Gesundheitsminister kritische Anmerkungen zu machen, ist übliche parlamentarische Gepflogenheit, und — wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Herr Rudi Walther — von dieser Gepflogenheit machen auch Mitglieder der SPD Gebrauch.
— Mir sind da unterschiedliche Beispiele bekannt. Ein Schwerpunkt meiner Tätigkeit ist die Verteidigungspolitik. Wer im Bewilligungsausschuß sitzt — ich gehöre ihm an —, sieht eben auch, wo in größeren Beschaffungsetats Interessen vertreten werden. Aber meiner Ansicht nach ist die Aufgabe des Abgeordneten hier, nicht für einzelne Gruppen tätig zu sein, sondern für das Gesamtwohl tätig zu sein,
Dieses Prinzip, glaube ich, wird von dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses geteilt.
Ich bedanke mich für die Frage.
Herr Kollege Thiele, der Kollege Weng würde auch gern eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Thiele, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß die Senkung der Mehrwertsteuer auf Medikamente, die ich im Grundsatz vertrete, im Moment aus fiskalischen Gründen aber nicht für machbar halte, in keiner Weise zum Vorteil von Angehörigen meines Berufsstandes, sondern zu einer Entlastung der Krankenkassen führte?
Ich bin ausgesprochen gern bereit, dieses zur Kenntnis zu nehmen.
Zum Abschluß meiner Ausführungen möchte ich noch eines sagen — das ist im Grunde der Punkt, der uns alle bewegt, nicht nur im Vorfeld des CDUBundesparteitags oder danach —: Wir alle müssen und wollen sparen. Deshalb die Bitte an die oben benannten Spitzenpolitiker: Gehen Sie mutig und nicht kleinmütig an das Sparen heran. Wir müssen die Probleme bewältigen, auch wenn sie schwierig und unangenehm sind. Was aber für den Wähler und für uns alle zählt, ist dann nicht die Etappe, sondern das Gesamtziel. Das erreichen wir eben nur, wenn von den Spitzenpolitikern nicht nur allgemeine Forderungen aufgestellt werden, sondern auch konkrete Maßnahmen beschlossen werden.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits vor einem halben Jahr plante die Bundesregierung Steuererhöhungen für den Fall, daß die westlichen Bundesländer die vom Finanzminister vorgegebene unrealistische Begrenzung des Ausgabenzuwachses nicht einhalten würden. Jetzt werden sogenannte Erblasten konstruiert, um noch nicht näher definierten Steuererhöhungen den Anschein einer logischen Begründung zu geben. Die Strategie scheint klar zu sein. Alle, die Steuererhöhungen und Sozialabbau mit diesem Argument begründen, setzen offensichtlich auf einen kollektiven Gedächtnisschwund der Bevölkerung.Diese sogenannte Erblastdebatte soll vom Verschulden und vom Versagen der Bundesregierung und ihres Finanzministers ablenken. Die zahlreichen Neben- und Schattenhaushalte sind ja keine Erfindung jüngeren Datums. Belegbar sind abwiegelnde und beruhigende Äußerungen aus dem Hause Waigel zu möglichen Haushaltsrisiken.Der CDU-Abgeordnete Pützhofen, einst in Nordrhein-Westfalen als „Kennedy vom Niederrhein" gegen Johannes Rau ins Rennen gegangen und ebenso gnadenlos gescheitert wie als Oberbürgermeister von Krefeld
hat am 6. November vor dem Deutschen Bundestag mit rheinischer Eloquenz und stringenter Logik eines der größten Rätsel seit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Dieter Pützhofen zu lösen versucht. Er hat die Frage zu beantworten versucht, wer uns diese „immensen Erblasten aus der SED-Zeit" hinterlassen hat. In die bekannte gespannte Ruhe fiel seine Antwort: „Und das, Frau Dr. Höll, ist Ihr Mist, den wir heute beseitigen müssen."
Ein Blick in das Handbuch des Deutschen Bundestages wäre hier vielleicht ganz hilfreich. Ich kann Ihnennoch nicht mit 40 Jahren dienen, aber dieser Blick und
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Dr. Barbara Höllein Sehen in die Vorlage des Finanzministeriums klären auf, warum Herr Pützhofen die Erblasten zu seinem Steckenpferd gemacht hat. Herr Pützhofen ist Aufsichtsratsvorsitzender der Wibera Wirtschaftsberatungsgesellschaft in Düsseldorf, die mit der Erstellung eines umfangreichen Gutachtens zur Fachaufsicht der Treuhandanstalt, und zwar mit Detailuntersuchungen zu Sanierungskonzepten, beauftragt ist. Die Wibera befindet sich zu 49 % im Besitz der Treuarbeit, die ihre Kasse ebenfalls mit Geld aus gutachterlichen Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Treuhand füllt. Während der Abgeordnete Pützhofen hier über Erblasten wettert, profitiert das Unternehmen, dessen Aufsichtsrat Herr Pützhofen vorsitzt, von der Existenz der Treuhandanstalt und ihres Defizits. Sauber, kann ich da nur sagen.Nur der geringste Teil der jetzt von Herrn Waigel aus dem Hut gezauberten Rechnung über 400 Milliarden DM könnte überhaupt als DDR-Erblast bezeichnet werden. Ich möchte Ihnen das gern noch einmal vorrechnen. Die Inlandsverschuldung der DDR, die Teil des Kreditabwicklungsfonds geworden ist, betrug am 3. Oktober 1990 rund 28 Milliarden DM.
Diese Zahl wurde jüngst vom nordrhein-westfälischen Finanzminister Schleußer noch einmal bestätigt. Die Auslandsschulden der DDR betrugen per 31. Mai 1990 umgerechnet 55,6 Milliarden DM. Alle anderen Milliardenbeträge sind der hohe Preis — das muß man wiederholen —, der tatsächlich sehr hohe Preis, den die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die Politik der schnellen Wirtschafts- und Währungsunion zahlen müssen.
Zur Treuhandbilanz an dieser Stelle nur soviel: Wer wie diese Bundesregierung unter — leider — aktiver Unterstützung der SPD die volkseigenen Betriebe und Kombinate über Nacht dem wesentlich höheren Produktivitätsniveau der Bundesrepublik ausgesetzt hat, der darf sich nicht wundern, wenn Produktivität, Rentabilität und Konkurrenzfähigkeit der ostdeutschen Betriebe auf der Strecke geblieben sind.Die Bundesrepublik krankt jedoch an ganz anderen Erblasten. Die öffentlichen Haushalte werden bis 1996 einen Schuldenberg von 2,2 Billionen DM aufgetürmt haben. Fazit: Eine DDR reicht nicht aus, um die Restsumme von 1,8 Billionen DM aus der NichtDDR-Erbmasse zu erklären. Vergessen Sie hierbei bitte auch nicht, daß die Bürgerinnen und Bürger der DDR mit dem 3. Oktober 1990 die Schulden der Bundesrepublik übernommen hatten.Über alle Medien wird das Gerücht verbreitet, in Ostdeutschland hielten die angeblich dramatisch gestiegenen Lohnkosten potentielle Investoren zurück. Mit diesem Scheinargument stützen nicht mehr nur regierungsnahe Kreise, sondern leider auch andere, bis hin zur SPD und den Gewerkschaften, Versuche, Tarifverträge auszuhebeln und Öffnungsklauseln durchzusetzen. Die Wahrheit ist: Während der Abzug an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bei den Löhnen mit 32,5 % ein Rekordniveau erreicht hat, ist die Belastung der Unternehmen mit direkten Steuern durchschnittlich auf 21,2 % gesunken und damit nach Angaben des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB so niedrig wie noch nie seit 1980.
Übrigens, jeder mittelmäßig ausgebildete Ökonom müßte wissen, daß es nicht funktionieren kann, wenn der Osten aus dem Westen zwar das gesamte Preissystem und -gefüge importiert, nicht jedoch den Preis für die Ware „Arbeitskraft". Nach Auffassung der PDS/ Linke Liste würde die schnelle Lohnangleichung Kaufkraft schaffen, regionale Wirtschaftskreisläufe in Bewegung setzen und beleben. Die ostdeutschen Betriebe leiden nämlich vor allem unter dem von der Bundesregierung fahrlässig herbeigeführten Zusammenbruch der ostdeutschen Binnenmärkte und des Osthandels.
Der zunächst noch mangelnden Absatzchance ostdeutscher Unternehmen müßte durch staatliche Steuerungsinstrumente, z. B. durch begrenzte und degressiv gestaffelte Lohnsubventionen, begegnet werden.Die PDS/Linke Liste unterstützt Forderungen nach einer stärkeren strukturpolitischen Verankerung der Investitionsförderung vor Ort. Wir haben erneut beantragt, daß der Bund den neuen Ländern die zum Aufbau dringend benötigten Finanzmittel bereitstellt. Unser schon einmal von Koalition und SPD abgelehnter Antrag, die bisher im Rahmen des Programms Aufschwung Ost ostdeutschen Kommunen zur Verfügung gestellte Investitionspauschale in Höhe von 5,3 Milliarden DM auch 1993 bereitzustellen, liegt vor.Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf die Chemnitzer Erklärung der Kämmerer der kreisfreien Städte des Freistaates Sachsen vom 30. Oktober 1992, in der u. a. die Fortsetzung des Programms Aufschwung Ost und die mittelfristige Festlegung einer kommunalen Investitionspauschale gefordert werden; dies ist übrigens auch eine notwendige Voraussetzung für die kommunale Selbstverwaltung in der derzeitigen Lage.Wir vermissen von der Bundesregierung eine klare Antwort auf die Frage, ob es zutrifft, daß nur der Kapitaldienst aus 50 % der Schulden des Kreditabwicklungsfonds und der Treuhandanstalt auf alle Bundesländer verteilt werden soll. Kann die Bundesregierung definitiv ausschließen, daß nur die neuen Länder ab 1994/95 für die Schulden geradestehen müssen? Nicht nur die PDS/Linke Liste kritisiert die durch die Aufsplitterung der öffentlichen Ausgaben und Verbindlichkeiten hervorgerufene erschwerte Gesamtschau und Budgettransparenz der öffentlichen Finanzen, insbesondere der Schulden. Nach Herrn Waigel werden sich 1993 die Ausgaben des Bundes für Ostdeutschland auf einen Gesamtbetrag von 91,9 Milliarden DM summieren. Bei dieser Rechnung
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Dr. Barbara Höllwerden die Steuereinnahmen des Bundes auf dem Gebiet der östlichen Länder sowie die einigungsbedingten Steuereinnahmen auf dem Gebiet der westlichen Lander völlig außer acht gelassen. Ein Drittel des realen Wachstums der westdeutschen Wirtschaft ging auf den Nachfragesog aus der ehemaligen DDR zurück, obwohl dort nur knapp ein Fünftel der Bevölkerung lebt.Auch der kurz- bis mittelfristig mögliche Abbau der bisherigen teilungsbedingten Lasten muß gegengerechnet werden, die im Bundeshaushalt 1990 rund 27 Milliarden DM betrugen. Nach Auskunft der Bundesregierung wurden bereits im Haushalt 1991 mit dem Wegfall der Ausgaben für den Reise- und Devisenfonds, die Transitpauschale, den Häftlingsfreikauf, den Besucherreiseverkehr und die Hilfen für Aussiedler Einsparungen von rund 4,5 Milliarden DM realisiert. 1992 führten einigungsbedingte Steuermehreinanhmen im Westen, Einsparungen durch den Abbau teilungsbedingter Ausgaben und Steuermehreinnahmen des Bundes aus Ostdeutschland beim Bund zu Haushaltsentlastungen in einer Gesamthöhe von 50 bis 55 Milliarden DM. Das darf man doch wohl nicht unterschlagen.Die Bundesbank schätzt 1992 die zu erwartenden Steuer- und Verwaltungseinnahmen des Bundes in Ostdeutschland auf 41 Milliarden DM. Der im Juni 1991 beschlossene schrittweise Abbau des Berlinförderungsgesetzes und des Zonenrandförderungsgesetzes beschert dem Bund 1992 noch einmal Steuermehreinnahmen von rund 2,3 Milliarden DM, im kommenden Jahr 3,4 Milliarden DM und im Haushaltsjahr 1994 4,7 Milliarden DM. Für die Jahre 1995 und 1996 unterstellt die Bundesregierung allen Gebietskörperschaften aus diesen Gesetzesänderungen resultierende Steuermehreinnahmen in einer Größenordnung von 12,5 bis 14 Milliarden DM.Den sogenannten einigungsbedingten Ausgaben müssen auch im kommenden Jahr die einigungsbedingten Einnahmen und Ausgabenentlastungen gegengerechnet werden.
Nach einer Modellrechnung des sächsischen Finanzministers, Herrn Professor Dr. Milbradt von der CDU, werden dem Bund 1993 in den neuen Ländern einigungsbedingte Steuereinnahmen in Höhe von 42 Milliarden DM zufließen. Das Bundesministerium der Finanzen erwartet außerdem für 1993 als Rückflüsse bezeichnete ostdeutsche Steuer- und Verwaltungseinnahmen des Bundes in Höhe von 47 Milliarden DM.Die PDS/Linke Liste erinnert daran, daß die Vereinigung der bundesdeutschen Wirtschaft einen Boom bescherte, der ihr über die weltweit einsetzende Wirtschaftskrise hinweghalf. So wuchs das gesamte Geldvermögen — das haben wir heute schon mehrmals gehört — der westdeutschen Produktionsunternehmen —
Frau Kollegin — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
— ich bin gleich fertig —
Nein, sofort.
— um, wie gesagt, 1,67 Billionen DM. Ebenfalls haben die Banken einen zusätzlichen Gewinn.
Die PDS/Linke Liste schlägt deshalb vor, um diesen — —
Frau Kollegin, das geht nicht. Sie haben Ihre Redezeit schon um über eine Minute überschritten.
Nein. — Wir schlagen zumindest eine Anleihe mit Zeichnungspflicht für die Banken vor und meinen, daß die zehn Vorschläge, die in der ersten Runde der Haushaltsdebatte von uns gemacht wurden, bedenkenswert sind und auch von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen werden sollten.
Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Adolf Roth, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Solche Haushaltsdebatten offenbaren doch viel von der Einstellung der einzelnen politischen Kräfte des Parlaments, mit denen man an die Aufgaben der Zukunft herangeht.
Ich hätte mir ein etwas größeres Maß an Gemeinsamkeit gewünscht, Gemeinsamkeit bei der Einsicht in die Notwendigkeit, daß wir wirklich sehr viel mehr Anstrengungen unternehmen müssen, um uns an die neuen Bedingungen in Deutschland anzupassen. Das habe ich aus der destruktiven Polemik einiger Redner der Opposition wahrlich nicht entnehmen können. Ich bedaure es sehr, daß der Kollege Schulz seit geraumer Zeit nicht mehr hier ist. Er hat ja auch aus seiner Gruppe keinen Zuhörer gehabt. Ich wünschte mir, bevor solche Reden wie heute im Parlament gehalten werden, daß wenigstens ein Mindestmaß an parlamentarischer Beteiligung auch in der Ausschußarbeit möglich wäre und hinter dieser Kritik stünde.
Aber das gilt auch für andere, die ich jetzt nicht beim Namen nennen möchte.Meine Damen und Herren, die konjunkturpolitische Realität der Stagnation hat jenes Moratorium der Ansprüche erzwungen, dem viele allzu lange aus dem Weg gehen wollten. Worauf es jetzt eigentlich ankommt — das haben viele Beiträge hier auch unterstrichen — ist, daß wir Investitionsspielräume freimachen für die Stärkung des Kapitalstocks in Deutschland, des menschlichen, des industriellgewerblichen, aber auch des infrastrukturellen Kapitalstocks. Denn wir wissen und spüren alle, daß ohne ein stabiles Fundament im Westen der Aufschwung und der Aufbau im Osten naturgemäß nicht gelingen kann.Eines allerdings muß nach 30 Monaten Wirtschafts- und Währungsunion in Deutschland auch deutlich
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Adolf Roth
gesagt werden, daß wir nämlich ein großes Stück vorangekommen sind. Der Sachverständigenrat hat das mit seiner Feststellung deutlich gemacht, daß die Rahmenbedingungen für die Entfaltung marktwirtschaftlicher Aktivitäten weiter deutlich verbessert werden konnten. Deshalb, denke ich, ist es jetzt das wichtigste gemeinsame Ziel unserer Politik, den Aufbau in Ostdeutschland ohne Brüche fortzusetzen. Hierfür allerdings müssen sich dann alle Entscheidungsträger der Wirtschaftspolitik, die Gebietskörperschaften, die Tarifvertragsparteien und die Bundesländer, in die Pflicht nehmen lassen.1993 wird ein extrem schwieriges Jahr — wem sage ich das! —, zwangsläufig auch für die Gestaltung und die Bewirtschaftung des Bundeshaushalts. Dieser Bundeshaushalt leistet aber, wenn man das Ergebnis der Haushaltsberatungen vorurteilsfrei würdigt, mehr als ihm die Opposition heute hier öffentlich zubilligen will.Erstens ist es immerhin doch in dieser schwierigen Situation gelungen, daß wir die schon im Mai und Ende Juni gefaßten Spareckwertbeschlüsse der Koalition voll durchgesetzt haben.
Wir haben eben nicht vor über 7 Milliarden DM zwingenden Mehrausgaben kapituliert, sondern wir haben unsere strikte Rotstiftpolitik dagegengesetzt und haben bei den Ausgaben die Linie eingehalten, daß die Steigerungsrate 2,5 % nicht überschreitet.
— Sie sprechen den Kollegen Walther an. Er kommt wie ich aus Hessen. Ich wünschte mir, daß sozialdemokratische und auch rot-grüne Landesregierungen dieses Signal aufnehmen.
Ich erlebe jetzt bei mir zu Hause, daß schon wieder die abgedroschenen Parolen der 80er Jahre hervorgekramt werden. Jetzt sagt die SPD schon wieder: Wir wollen ein Gegengewicht gegen die Bonner Politik des Sozialabbaus schaffen. Wir wollen nicht sparen, sondern in der Haushaltspolitik draufsatteln. Dieser Weg führt nicht zum Ziel. Das muß auch die SPD erkennen.
Zweitens. Die Kreditaufnahme des Bundes entspricht mit knapp 1,4 % des Bruttosozialprodukts den Festlegungen der mittelfristigen Finanzplanung. Damit stehen wir international in einer Spitzenposition. Diese Kreditaufnahme ist auch vereinbar mit den Konjunktur- und Kapitalmarktnotwendigkeiten. Es kann doch niemand behaupten, daß in der Bundesrepublik heute der Kapitalmarkt überfordert würde oder daß der inländische Kapitalmarkt für die Bedienung dieser Kreditaufnahme nicht auskömmlich wäre. Wir haben heute keinen nennenswerten Kapitalimport, und auch die Zinsen sind ja deutlich zurückgegangen.Wer meint, Herr Kollege Walther, daß 1,4 %, gemessen am Bruttosozialprodukt, zuviel wären, der muß sich doch an seine eigene Regierungszeit erinnern lassen. 1981 waren es 2,4 % und 1975 gar 3,4 %.Drittens. Im Personalbereich wurde auch ein deutliches Zeichen gesetzt. Wir haben den von der Bundesregierung beantragten Stellenbedarf nicht uneingeschränkt akzeptiert, sondern gezielt zurückgeführt. Wir haben 4 000 Stellen im Gesamtbereich der Bundesverwaltung gestrichen.
Herr Kollege Roth, Herr Kollege Walther würde Ihnen gem eine Frage stellen.
Er stellt heute viele Fragen. Bitte sehr.
Irgendwie muß man die Unrichtigkeiten, die hier vorne vorgetragen wurden, versuchen — auch für das Protokoll — auszuräumen. Können Sie mir, Herr Kollege Roth, erklären, wie Sie auf 1,4 % kommen? Rechnen Sie dabei auch die ganzen Neben- und Schattenhaushalte mit ein, die man ja einrechnen muß, weil es auch öffentliche Schulden sind, oder gehen Sie nur von dem relativ niedrigen Schuldensatz hier in diesem Haushalt aus?
Herr Kollege Walther, ich habe hier eine Zahl genannt, die national und international vergleichbar ist. Ich habe auch mit 1981 und früher verglichen. Ich rede von der Kreditaufnahme des Bundes. Wenn Sie die Kreditaufnahme der Länder und der Gemeinden nehmen — —
— Die Kreditaufnahme des Bundes sollte auch dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses geläufig sein. Es ist völlig klar, daß es um den Bundeshaushalt als solchen geht, um sonst nichts.
— Und ich habe vom Bundeshaushalt geredet, Herr Kollege Walther, damit das klar ist.Wir haben den Personalhaushalt deutlich zurückgeführt. Ich sage Ihnen: Dies ist ein erster notwendiger Schritt, dem weitere auf dem langen Weg der Kostensenkung und der Drosselung des Staatsanteils in Deutschland folgen werden.
Viertens. Wir haben im Haushaltsberatungsverfahren das erreicht, was jetzt ohne Eingriffe in gesetzliche Leistungen möglich gewesen ist. Wir haben mit dem 32-Milliarden-DM-Kürzungspaket einen Spielraum für zusätzliche notwendige Aufbauhilfen in Ostdeutschland geschaffen. Ich denke schon, wenn man
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Adolf Roth
vorurteilsfrei den Katalog der Sofortmaßnahmen prüft, daß dies in der Öffentlichkeit auch wirklich Anerkennung finden muß. Wir haben ein mehrjähriges Milliardenprogramm mit höheren Investitionszulagen als Kernstück unserer Mittelstandspolitik vorgesehen. Wir haben die regionale Wirtschaftsförderung um 1 Milliarde DM erhöht. Wir werden das Eigenkapitalhilfeprogramm für den Mittelstand um zwei Jahre verlängern. Wir wenden 800 Millionen DM im Baubereich auf.
Einen Moment, Herr Kollege Roth. Meine Damen und Herren, es gibt die berühmten zwei Sorten von Unruhe. Die eine ist diejenige, die auf den Redner eingeht, und die andere diejenige, die auf den Redner gar keine Rücksicht nimmt. Diese zweite Sorte bitte ich jetzt zu beenden.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Ich wiederhole: 800 Millionen DM zusätzliche Leistungen im Wohnungsbaubereich, darüber hinaus solche in der Industrieforschung, in der Kulturförderung, bei Verwaltungshilfen, durch Personalkostenzuschüsse und vieles andere mehr.Meine Damen und Herren, dies alles ist sauber durchfinanziert und nicht etwa nur aus dem Bereich der Ankündigungen geschöpft.
Dieser Haushalt ist in sich ausgeglichen.
Wir haben es sehr begrüßt — das möchte ich hier nachdrücklich unterstreichen —, daß der Bundesfinanzminister auf die maßlose und zum Teil auch, wie ich finde, schäbige Kritik von links heute mit seiner eindrucksvollen Rede eine sehr deutliche Antwort gegeben hat.
Dies ist ihm in der Sache auch überhaupt nicht schwergefallen.
Ich möchte der Opposition noch zwei Dinge sagen: Erstens ersetzt Lärm nicht Substanz, und zweitens ist ein Finanzminister, der spart, allemal ein besserer Partner für die Bürger als eine Opposition mit leeren und leichtfertigen Versprechungen.
Die Kolleginnen und Kollegen der SPD wissen auch sehr genau — da nehme ich die als Zeugen, die mit uns aktiv 200 Stunden Beratungszeit im Haushaltsausschuß verbracht haben —, daß es nicht möglich ist, auch nur den geringsten Keil zwischen die Mehrheit des Hauses und diesen Bundesfinanzminister zu treiben.
Wir verfolgen den gleichen Kurs, und das wird auch in den nächsten Jahren so bleiben. Dessen dürfen Sie sicher sein.
Meine Damen und Herren, ich möchte aus dem breiten Bereich der Mehrausgaben, die wir in dieser schmalen Marge von nur 2,5 % auffangen mußten — das sind ja ganze 10 Milliarden DM, die schnell ausgeplant sind, wenn man die Ausgabendynamik in modernen Industriegesellschaften heute sieht —, nur auf große Blöcke hinweisen dürfen, die hinter dieser Marge stehen: die Durchleitung des Länderanteils aus dem zusätzlichen Mehrwertsteuerpunkt von 4 Milliarden DM in die neuen Bundesländer, die Umschichtung der landwirtschaftlichen Förderung von der früheren Mehrwertsteuerpauschale, die ja Einnahmen minderte, in eine Mehrausgabe als Einkommensausgleich mit 1,4 Milliarden DM, die Bereitstellung von 855 Millionen DM Bundeseinnahmen nach dem Zinsabschlaggesetz — wo bleibt hier der Beitrag der Bundesländer, die den gleichen Vorteil haben und die genauso aufgerufen sind, ihren Beitrag in die Einheitsfinanzierung zu stecken? —,
eine halbe Milliarde DM für die unterschiedlichsten kulturellen, wirtschaftlichen und rechtspolitischen Beratungshilfen für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und für die anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa. Wir haben die Haushaltsansätze für Entschädigungen aus dem Bereich staatlicher Gewährleistungen vor dem Hintergrund der Umbrüche in Osteuropa auf 8 Milliarden DM nahezu verdoppelt. Und schließlich haben wir mit insgesamt 3 Milliarden DM das Sonderpaket für Aufbauhilfen in Ostdeutschland finanziert. Zu den unabweisbaren Mehrausgaben gehören auch die 1,5 Milliarden DM für die Erstattung von Zinsleistungen des Kreditabwicklungsfonds 1993.Meine Damen und Herren, ich kann die Fragen vieler Bürger durchaus verstehen, die wissen wollen, wer eigentlich Gläubiger der Zinsmilliarden aus der Bedienung der DDR-Altschulden ist.
Die 140 Milliarden DM Altschulden des Kreditabwicklungsfonds sind das Resultat aus den 30 Milliarden DDR-Republik-Schulden und den 110 Milliarden DM, die mit der asymmetrischen Währungsumstellung und Wertberichtigungen in den D-Mark-Eröffnungsbilanzen der ostdeutschen Geldinstitute zum 1. Juli 1990 zusammenhängen. Nach dem Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion erhalten die Geldinstitute zum Ausgleich dieser Bilanzverluste oder einer eingetretenen Unterkapitalisierung Ausgleichsforderungen zugewiesen, sobald testierte D-Mark-Eröffnungsbilanzen vorliegen. Dies ist geschehen.
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Adolf Roth
Nach dem heutigen Stand werden die ostdeutschen Sparkassen eine Gesamtzuteilung von 34 Milliarden DM verzinslicher Ausgleichsforderungen erhalten. Die Deutsche Kreditbank und die Deutsche Außenhandelsbank erhalten zusammen 36 Milliarden DM. 16 Milliarden DM werden den Kreditgenossenschaften und der Genossenschaftsbank Berlin zugewiesen. Zu diesem Komplex gehören auch die Kredite zur Finanzierung des Transfer-Rubel-Geschäfts aus dem zweiten Halbjahr 1990, die ja mit Zinsen ingesamt eine Belastung von fast 30 Milliarden DM ausmachen.Meine Damen und Herren, zur Zeit tragen den Zinsaufwand der Bund und die Treuhandanstalt. Immerhin werden die 9 % Frankfurter Interbankenrate als Verzinsung fällig. Aber nach der Auflösung des Kreditabwicklungsfonds werden der Bund und die 16 Bundesländer hierfür verantwortlich sein.Von dieser gewaltigen Buchschuld aus der Konkursmasse des zusammengebrochenen Kommunismus ist in den Anklagen der SPD und der Oppositionsgruppen gegen die Bundesregierung meist nicht die Rede, oder — wie heute mehrfach erlebt — sie wird sogar in Abrede gestellt. Ebensowenig ist von der vernichtenden Schlußbilanz aus dem Bereich der Betriebe und Kombinate der alten DDR-Wirtschaft die Rede. Wir wissen heute, daß es eben nicht das Netto-Nationalvermögen von 1,4 Billionen gewesen ist, von dem Herr Modrow noch im Februar 1990 sprach, sondern daß wir aus dem Treuhandbereich eine Gesamtschuld von 250 Milliarden DM abzuwikkeln haben.
Erst seit vier Wochen liegt jetzt die testierte DMark-Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990 vor. Sie alle wissen, was es bedeutet, hier die finanziellen und ökologischen Altlasten, die Betriebsverluste und das fehlende Eigenkapital auszugleichen, um die Neustrukturierung und Sanierung der Treuhandunternehmen bis 1994 erfolgreich zu bewältigen.Meine Damen und Herren, es geht — und da gebe ich dem Sachverständigenrat durchaus recht — um eine wachstumsorientierte Politik und nicht um eine erhaltungsorientierte Industriepolitik. Dies ist kein gangbarer Weg und war es nie. Deswegen sollte man doch an den gesetzlichen Auftrag der Treuhand erinnern, dem sie, bis heute jedenfalls, nachgekommen ist, und auch öffentlich darauf aufmerksam machen dürfen, daß von den 41 Milliarden DM, die im kommenden Jahr im Wirtschaftsplan der Treuhand eingestellt sind, nur 11 Milliarden DM durch Privatisierungserlöse abgedeckt sind, daß aber von den 30 Milliarden DM auf der Ausgabenseite allein 15 Milliarden DM zur Sanierung von sanierungsfähigen Betrieben erscheinen. Und immerhin sind von den 3 400 noch verbliebenen Treuhandbetrieben 75 % als sanierungsfähig eingestuft.Meine Damen und Herren, ich denke, daß wir hier insgesamt einen Auftrag für die nächsten Jahre haben, diesen Weg des Aufbaus in Deutschland konsequent weiter zu beschreiten, und daß wir dazu mit dem Solidarpakt ein mit den Bundesländern und mit den Tarifvertragsparteien abgestimmtes Konsolidierungsprogramm für die nächsten Jahre erhalten — hoffentlich aber auch mit etwas mehr konstruktiver Mitarbeit der Opposition.In diesem Sinne möchte ich herzlich danken.
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Nils Diederich.
Das werden wir sehen, Herr Minister!
Sie wissen, Herr Kollege Diederich, daß ich leider keine Ordnungsgewalt über die Regierungsbank habe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein bißchen abweichendes Verhalten ist ja manchmal auch ganz gut. Es belebt das Geschäft.Ich begrüße übrigens insbesondere die ganz wenigen Kollegen, die nicht dem Haushaltsausschuß angehören und die sich trotzdem die Zeit nehmen, hier zuzuhören.
Meine Damen und Herren, die Situation scheint mir einmalig: Wohl noch nie hat ein Finanzminister, noch bevor sein Haushalt beraten worden ist, angekündigt, daß er einen neuen vorlegen werde. Ob wir das nun Nachtragshaushalt, Haushaltssicherungsgesetz oder FKK nennen: Es wird vom Finanzminister selbst testiert, daß er einen unvollständigen, unordentlichen, chaotischen, nicht abgeschlossenen Entwurf vorlegt.
— Das stimmt! Lieber Kollege Borchert, Adolf Roth hat vorhin auch versucht, mit allgemeiner Schönfärberei diesen Tatbestand zu verschleiern.
Meine Damen und Herren, es geht jetzt einfach darum:Wir wollen und wir müssen in den nächsten Wochen zu einem vernünftigen Konsens kommen, um die steuerpolitischen Grundlagen für den Rest dieser Legislaturperiode miteinander zu vereinbaren. Dazu ist es notwendig, daß Regierung und Opposition aufeinander zugehen.
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Dr. Nils Diederich
Das sagte der Finanzminister ein Jahr nach der deutschen Einheit, am 26. November 1991, in diesem Hause.
Heute sind wir ein Jahr weiter. Was haben Sie eigentlich in diesem einen Jahr getan, um diese Zusammenarbeit zwischen Opposition und Regierung herbeizuführen?
Null, null!
Sie fangen jetzt an herumzustochern, herumzusuchen. Ihr Sechs-Punkte-Programm mit Erhöhung der Investitionszulage, Erhöhung der Eigenkapitalhilfe, Verstärkung der industrienahen Forschung,
Verstärkung der regionalen Wirtschaftsförderung ist ein verspäteter Griff in den Instrumentenkasten, den die Sozialdemokraten Ihnen seit zwei Jahren hinhalten. Doch manchmal hat man den Eindruck, daß Sie jetzt versuchen, den Rohrbruch einer Hauptwasserleitung mit einer Rohrzange statt mit schwerem Gerät zu reparieren.
Meine Damen und Herren, lieber Herr Minister, wir vermissen tatsächlich die Wahrheit und Klarheit in Ihrem Haushalt. Wir sehen Chaos.Lassen Sie mich auf einige Sachpunkte kommen. Bei der Beratung des Haushalts für 1991 gleich nach der Konstituierung des neuen Bundestages haben wir Sozialdemokraten beantragt, daß der Bund massiv die Abgabe von Grundstücken an die Kommunen für bestimmte Zwecke erleichtern sollte. Sie haben das Problem angesprochen, Herr Rüttgers.Die bedauernswerten Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen haben damals die Anträge entschieden abgeschmettert. Zur allgemeinen Verwunderung hat der Herr Finanzminister — ich habe ihn dafür gelobt — im Frühjahr 1991 gesagt, er werde etwas tun, hat allerdings nicht das getan, was wir erwartet hatten. Wir haben unsere Forderung im Herbst dieses Jahres wiederholt und einen konzeptionell geschlossenen Vorschlag eingebracht.
— Der war konzeptionell geschlossen; denn, lieber Herr Borchert — auch Sie wissen das —, das, was uns der Herr Finanzminister dann vorgelegt hat, stammte, jedenfalls was die neuen Bundesländer betrifft, zum großen Teil aus unserem Entwurf.
Oder — wenn ich es nicht hochmütig sagen will —: Da gibt es eine sehr, sehr große Konvergenz. Er hat sich anregen lassen.
— Das mache ich auch; das habe ich jetzt ja getan.
Herr Kollege Diederich, darf ich Sie für eine Sekunde unterbrechen? — Bei der Anfälligkeit des Bundesfinanzministers für rasche Antworten und bei der Art und Weise, wie Sie ihn ansprechen, ist es für mich natürlich ein bißchen schwer, das Geschäft zu führen, weil er dann etwas tut, was an sich nicht üblich ist, nämlich von der Regierungsbank aus Zwischenrufe zu machen.
Ach Gott, ich sehe ihn immer in seiner Doppelrolle und bilde mir ein, er säße vor mir als Abgeordneter.
Lieber Herr Rüttgers, Sie haben die Bundesvermögensverwaltung kritisiert. Ich würde gerne ausführlich mit Ihnen darüber diskutieren. Ich glaube, das Hemmnis lag eher darin, daß wir eben keine Haushaltsvermerke für angemessene Ermäßigungen hatten, und nicht in den Verfahrensweisen der Bundesvermögensverwaltung. Ich bin gern bereit, mit Ihnen einmal ein paar Beispielsfälle in den neuen Ländern zu betrachten.Im übrigen will ich sagen: Mir scheint ein sehr viel größeres Problem die Verfahrensweise der Treuhandliegenschaftgesellschaft zu sein. Wir werden uns noch einmal sehr gründlich unterhalten müssen, z. B. über die landwirtschaftlichen Liegenschaften, weniger über die Bundesvermögensverwaltung.
In diesem Zusammenhang kann man vielleicht sagen, lieber Herr Minister: Ich bedaure, daß Ihre Grundstücksvorlagen zwei Jahre zu spät gekommen sind und daß wir dadurch erhebliche Investitionsverzögerungen haben hinnehmen müssen.
Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, die Kommunen in den neuen Ländern, die gerade erst entstanden sind, die nicht über jahrzehntelange Möglichkeiten, Vermögen zu bilden, verfügt haben und deren Steuereinnahmen wirklich kümmerlich sind, zu stärken. Ich denke, daß mit den jetzt beschlossenen Vorlagen ein Schritt gemacht ist. Wir fordern aber, daß wir zu brauchbaren Richtlinien kommen. Wir werden sehr genau darauf sehen, daß wir damit vorankommen.Ich möchte hier noch einmal betonen — das ist notwendig —, daß insbesondere die Treuhandgesellschaft veranlaßt werden muß, den Kommunen zu angemessenen Preisen die Grundstücke zur Verfügung zu stellen, die sie für die Erledigung ihrer kommunalen Aufgaben brauchen. Es darf nicht wie im Fall der Märkischen Faser AG im kleinen Ort Premnitz an der Havel passieren, daß nicht nur die betriebsnotwendigen Grundstücke, sondern auch die
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kommunalen Grundstücke an einen privaten Erwerber veräußert werden und der Kommune dann gesagt wird: Du darfst die Objekte zurückerwerben.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zu Fragen der Treuhandgesellschaft sagen. Mit der deutschen Einheit hat der Bundesminister der Finanzen die Verantwortung für die Treuhandgesellschaft und damit für den gesamten Prozeß der Privatisierung der Wirtschaft der ehemaligen DDR übernommen. Auch er hat offenbar zu den Illusionisten gehört, die glaubten, die Bundesregierung werde aus der Veräußerung der Wirtschaftsunternehmen der DDR finanziellen Gewinn erzielen.
— Er verhält sich jetzt so, wie sich sehr häufig Abgeordnete in diesem Saal verhalten: Er dreht dem Redner den Rücken zu und ist desinteressiert.
Herr Minister, Sie haben offenbar zu denen gehört, die glaubten, die Bundesregierung werde aus der Veräußerung der Wirtschaftsunternehmen der DDR vielleicht finanziellen Gewinn erzielen können.
Ich möchte jetzt nicht darüber streiten, ob die miserable Lage der DDR-Wirtschaft von vornherein hätte erkennen lassen müssen, daß ein Veräußerungsgewinn wohl nicht zu erzielen sein würde; denn wir wissen ja, daß viele dieser Illusion erlegen sind.Der Grundfehler aber, den Sie gemacht haben, Herr Minister, war — das, muß ich sagen, ist ein schwerwiegender Fehler —, daß Sie die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft zu lange für eine rein vermögenspolitische Aufgabe gehalten haben. Dies macht den Mangel an Sachverstand deutlich, der bis heute fortwirkt und der großen Schaden angerichtet hat. Der Hauptauftrag war und ist die Erhaltung von Arbeitsplätzen und der reibungslose Übergang von der Zentralverwaltungswirtschaft in ein marktwirtschaftliches System. Ich denke, darüber besteht allseits Konsens.Diese Aufgabe hätte der Bundesminister der Finanzen erfüllen müssen. Statt dessen ist aus der Treuhandgesellschaft zunächst einmal ein Unternehmen geworden, dessen Resultat eine drastische Reduzierung vorhandener Arbeitsplätze ist, in einer Situation, in der wir Arbeitsplätze erhalten müssen. Ich bezweifle nicht, daß die Treuhandgesellschaft im Rahmen des ihr gesetzlich gestellten Auftrags, so wie er von der Bundesregierung von Anfang an interpretiert worden ist, handelt. Aber es wäre um so mehr die Verantwortung der Bundesregierung und insbesondere des zuständigen Bundesfinanzministers gewesen, schon im Laufe des Jahres 1991, als die Entwicklung, die wir heute haben, sichtbar wurde, gegenzusteuern. Sie haben das damals nicht getan, und erst in diesen Tagen wird über eine deutliche Veränderung der Aufgabenstellung der Treuhand, eine Verlagerung hin zu einer länger dauernden Sanierung, diskutiert.Ich werde Ihnen nicht vorwerfen, Herr Finanzminister, daß Sie den konjunkturellen Einbruch, unter dem wir zu leiden haben, nicht vorhergesehen haben, wiewohl alle ökonomisch Bewanderten seit 1990 wußten, daß es — —
Seit 1990 wußten alle, daß die deutsche Vereinigung es war, die die weltweiten Konjunkturprobleme zunächst von der Bundesrepublik ferngehalten hat. Viele Ökonomen — und ich füge hinzu: auch die Bundesregierung — sind offenbar der Illusion aufgesessen, daß der Vereinigungsboom so lange dauert, daß wir diese Delle in der Weltkonjunktur überstehen könnten.Wir werfen Ihnen auch nicht vor, daß der Zusammenbruch der Sowjetwirtschaft und die Neuformierung der GUS zu einem totalen Erliegen des Osthandels geführt haben. Das ist eine schwere ökonomische Belastung unter der die Weltwirtschaft zu leiden hat.Aber wir werfen dem Finanzminister vor, daß der diese Entwicklung im Stile einer fiskalischen Oberbuchhaltung zur Kenntnis genommen hat, anstatt aktiv die gesamte Bundesregierung für ein wirtschaftliches Gegensteuern zu gewinnen, und zwar nicht erst jetzt, nicht erst mit dem Nachtragshaushalt, sondern schon seit Beginn dieses Jahres, als diese Entwicklungen absehbar waren. Wir hätten eigentlich erwartet und erhofft, daß der Haushalt, den wir hier beraten und verabschieden, eine deutlich sichtbare Konzeption in dieser Richtung enthalten hätte. Da liegt unsere Kritik am Finanzminister.Wir sehen es in der Arbeit des Unterausschusses Treuhand. Ich kann der zuständigen Abteilung Ihres Ministeriums nur größten Fleiß bei der Ausübung der Dienstaufsichtspflichten bescheinigen.
Sie ist in mancher Hinsicht sicherlich nicht erfolglos, was die Debatten im Unterausschuß ja zeigen.Aber es genügt nicht, Herr Minister, bei der Treuhand nur die abgeschlossenen Verkaufsverträge zu überprüfen und festzustellen, ob für die Treuhand ein möglichst günstiges Verkaufsergebnis erzielt worden ist. Wir brauchen für die Politik der Treuhand — das ist ein wirtschaftspolitisches Instrument, das in Ihrer Verantwortung liegt — einen strategischen Ansatz. Dieser fehlt bisher. Zwei wertvolle Jahre sind verplempert worden. Durch zielloses Herumtapsen hat die Bundesregierung auf dem Rücken und zu Lasten von Millionen von Arbeitnehmern experimentiert.Lieber Herr Kollege Thiele, Sie haben versucht, bei allen Schwierigkeiten ein freundliches Bild der Entwicklung in den neuen Ländern zu zeichnen. Ich lade Sie gern ein, in meinem Wahlkreis oder in dem von
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Dr. Nils Diederich
Hinrich Kuessner, Uwe Küster oder anderen auch die Probleme anzuschauen, die vorhanden sind und die wir noch zu bewältigen haben. Da liegt ein gewaltiger Berg vor uns.Ich habe Sie, Herr Finanzminister, am 26. November 1991, vor einem Jahr fast auf den Tag genau, von dieser Stelle aus gefragt: Wäre es nicht besser, die Unternehmen, wie es nach dem Kriege in Westdeutschland geschehen ist, für eine Übergangszeit als Staatsbetriebe weiterzuführen und zu sanieren? Ihre Reaktion in Ihrer Rede damals: Festhalten an den alten Rezepten, so wie sie nach der Vereinigung definiert worden waren; denn — jetzt zitiere ich Sie, wenn ich das darf — „das ist die größte und erfolgreichste Privatisierungsaktion in der Wirtschaftsgeschichte".
„Die größte" — darin stimme ich mit Ihnen überein. „Die erfolgreichste" — das werden wir noch sehen. Ich hoffe, daß sie es werden wird.Sozialdemokraten fordern seit zwei Jahren, die Industriestruktur in den neuen Ländern zu retten. Nachdem Sie als Verantwortlicher für die Treuhandgesellschaft geduldet haben, daß die großen Unternehmen plattgemacht worden sind, schwenkt die Bundesregierung jetzt auf das sozialdemokratische Konzept der Sanierung „industrieller Kernbereiche" ein. Es sind aber der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister, die dies verkünden. Das Konzept ist nicht von Ihnen.Meine Damen und Herren, es ist etwas schwierig und spät, jetzt auf die Sanierung der industriellen Kernbereiche zu kommen. Ja, ich bin dafür, daß wir den Rest retten.
Aber ich sage Ihnen: In meinem Wahlkreis hatten wir NARVA, hatten wir Elektro-Apparate-Werke Treptow. Sie zusammen beschäftigten einmal 15 000 Arbeitnehmer. Davon sind nun unter 2 000 übrig, die meist in berufsfremden Bereichen tätig sind. Mußte man denn tatsächlich erst viele Betriebe in Konkurs gehen lassen, um jetzt das Steuer herumzureißen? Es wäre notwendig gewesen, sehr viel früher einzugreifen.
Gestatten Sie mir einen abschließenden Satz, Herr Präsident: Ich bezweifle, Herr Finanzminister, daß Ihre Neuschöpfung FKK zum Erfolg führen kann; denn Sie finden nicht einmal mehr im eigenen Lager Gehör. „3% Haushaltswachstum — mehr ist des Teufels", das war der Rütli-Schwur, den Sie gemeinsam im Frühjahr mit den Länderfinanzministern im Finanzplanungsrat beschlossen haben.
Herr Kollege Diederich, jetzt sind Sie zu weit über die Zeit hinaus.
Das Land Bayern — letzter Satz — läßt den Haushalt unverfroren um 5,9 % wachsen. Ist das nicht das Land, in dem die Person des Bundesfinanzministers Vorsitzender der
Regierungspartei ist? Ich denke, über die Empfehlung des Kollegen Struck sollten Sie wirklich noch einmal nachdenken.
Schönen Dank.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich gehe nicht gleich, wenn das rote Licht aufleuchtet, dem Redner ins Wort. Wenn ich es aber tue, bitte wirklich nur noch einen Satz! Wenn eine gute Minute überzogen wird, geht das natürlich von der Redezeit des nächsten Kollegen der eigenen Fraktion ab.
Darf ich noch einmal bemerken, daß Zwischenrufe von der Regierungsbank eher unüblich sind, Herr Bundesfinanzminister.
Ich erteile dem Kollege Dr. Kurt Faltlhauser das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorredner, Herr Diederich, hat es doch tatsächlich gewagt, einen Vorschlag, den er vor einem Jahr gemacht hat, hier zu wiederholen, die Betriebe drüben zunächst in Staatshand zu überführen.
Ihnen, Herr Professor Diederich, würde ich empfehlen, daß Sie einmal einen Aufsatz lesen, der vom 12. September 1953 stammt. Damals schrieb der Autor
— ich zitiere —:
Ich stehe jedenfalls klar und eindeutig auf dem Standpunkt, daß die Wiedereingliederung des deutschen Ostens
— auch damals hat man darüber diskutiert —
mit den Mitteln und nach den Grundsätzen der Marktwirtschaft erfolgen muß.
Am Schluß schreibt er:
In politischer, wirtschaftlicher und menschlicher Beziehung wird die Wiedervereinigung Deutschlands Kräfte entfesseln, von deren Stärke und Macht sich die Schulweisheit der Planwirtschaftler nichts träumen läßt.
Dies war Ludwig Erhard im Jahre 1953. Sie wären gut beraten, Herr Diederich, wenn Sie sich diese Ratschläge heute für die tatsächlich erfolgte Einheit hinter die Ohren schreiben würden.
Herr Kollege Faltlhauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Diederich?
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Herr Kollege Faltlhauser, abgesehen von der Tatsache, die Ihnen bekannt sein dürfte, daß auch die Treuhandbetriebe in Staatshand sind: beinhaltet dann nicht der Vorschlag des Bundeskanzlers und anderer, die industriellen Kernbereiche durch ein längerfristiges Halten im Staatsportefeuille zu sanieren und zu erhalten, ein Behalten der Betriebe im Staatsbereich?
Bitte schön, Herr Kollege, staatlich gestützte Sanierungspolitik hat doch mit einer Verstaatlichungspolitik nichts zu tun. Das ist ein qualitiativ völlig anderer Ansatz. Ihr Ansatz ist, Herr Kollege, völlig verfehlt. Überhaupt glaube ich, daß Sie in besonderer Weise dazu neigen, die großen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern vor allem mit administrativen und punktuell steuernden Maßnahmen zu bewältigen.
Eine Anmerkung zu einem weiteren Zwischenruf eines Kollegen, der Solidarpakt sei eine Worthülse: Da versucht diese Bundesregierung durch ihre Politik deutlich zu machen, daß nicht nur der Bund mit seinen Finanzen, sondern vor allem die Sozialpartner mit ihren Möglichkeiten in der Tarifpolitik und auch die Länder und Gemeinden solidarisch zusammenwirken müssen, und dann sagen Sie, dieser Ansatz des Gemeinsamen sei eine Worthülse. Sie haben offenbar das Grundproblem nicht verstanden. Wenn wir es jetzt nicht gemeinsam anpacken, dann werden wir es nicht schaffen. Nur so, nur im Rahmen des Solidarpaktes, geht es.
Herr Poß hat sich mit der großen Miene des Wissers hier hingestellt und hat gesagt: Der Finanzminister muß endlich Kassensturz machen! —
so als wäre der Zustand der Staatsfinanzen etwas Statisches und so, als hätten Sie schon immer gewußt, was tatsächlich los ist. Sie haben offenbar die Ergebnisse der Steuerschätzungen, die jetzt erschienen sind, vorher gewußt. — Natürlich wußten Sie es nicht.
Sie wußten z. B. auch, wie das mit den Altlasten ist. Herr Rohwedder hat im Mai 1991 in Wien noch von 600 Milliarden DM Wert an Kapitalsubstanz in den Betrieben drüben gesprochen. Die Erkenntnis ist erst in der Realität vor Ort gewachsen. Sie aber haben alles schon immer gewußt.Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß Finanzentwicklung ein dynamischer Prozeß ist, der sich an den wirtschaftlichen Realitäten messen lassen muß, und daß die wirtschaftlichen Realitäten sowohl im Osten als auch gegenwärtig im Westen nicht zum besten stehen.Im Frühjahr 1991 gab es ein bis dahin nicht häufiges Ereignis. Alle deutschen Wirtschaftswissenschaftsinstitute waren sich einig, daß die bis dahin neun Jahre lang andauernde Wachstumsphase der Bundesrepublik Deutschland entscheidend durch die zeitlich und von der Größenordnung her richtig dosierten Impulse der Steuerpolitik beeinflußt war: durch die Entlastung der Betriebe im Jahre 1983/84 von 10 Milliarden DM und durch die dreistufige Steuerreform mit 50 Milliarden DM Entlastung. Die Wirtschaftswissenschaftler bestätigten durch ihre Gutachten, daß wirtschaftliche Leistungskraft nicht dadurch freigesetzt wird, daß man die Steuerlast erhöht, um dann über einen Umverteilungsmechanismus staatlicherseits neue Anstöße zu geben -- so wie Sie es ständig vortragen —, sondern indem man Steuerlasten beseitigt, damit Leistungsimpulse freigesetzt werden.Wenn wir diese Lehre aus den 80er Jahren richtig begriffen haben, dann müssen wir die Wachstumskräfte weiterhin mit der Steuerpolitik stärken und nicht das Umgekehrte tun. Weg mit den Bremsklötzen für die Konjunktur in West und Ost heißt deshalb: Fortsetzung eines mittelfristig berechenbaren steuerpolitischen Kurses.Meine Damen und Herren, wir brauchen deshalb im neuen Jahr das angekündigte Standortsicherungsgesetz, um den deutschen und internationalen Investoren deutlich zu machen: Deutschland ist ein Standort, in dem wettbewerbsverträgliche Steuersätze vorliegen. Vom Finanzminister ist ein Modell vorgelegt worden, das die Steuersätze für die gewerbliche Wirtschaft heruntersetzt. Ich war sehr erstaunt, daß Herr Poß fragt, warum man heute Steuersätze heruntersetzen kann. Dabei hat er selbst vor zwei Monaten das gleiche getan, nämlich einen Vorschlag gemacht, mit den Sätzen herunterzugehen, nur mit einem Modell, das bei genauerer fachlicher Betrachtung einer kritischen Würdigung nicht standhält. Dieses Optionsmodell von der SPD ist nicht realisierbar. Der Finanzminister hat das wesentlich bessere Modell vorgelegt. Deshalb sollten wir dieses auch umsetz en.
Die Sonderbelastungen durch die deutsche Einheit stellen uns nicht nur auf der Ausgabenseite vor schwierige Aufgaben, sondern wir müssen auch auf der Einnahmenseite sehen, wie wir dort steuernd lenken können. Ich nenne drei Punkte, die mir da besonders bedeutsam sind.Erstens. Wir werden im nächsten Jahr den nicht immer leichten Weg des Abbaus von steuerlichen Subventionen fortsetzen. Ich erinnere daran: Diese Bundesregierung war beim Abbau der steuerlichen Subventionen erfolgreicher als jede Regierung vor ihr. Allein in den letzten drei Jahren wurden so viele steuerliche Subventionen abgebaut, daß im laufenden Jahr 1992 30 Milliarden DM an Abbau wirksam werden. Trotz dieser bisherigen erfolgreichen Bemühungen und trotz der immer geringer werdenden Möglichkeiten, aus den altbekannten Abbaulisten etwas herauszuholen, werden wir uns um einen weiteren Milliardenabbau im Bereich der steuerlichen Subventionen bemühen. Allerdings gehe ich dabei
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Dr. Kurt Faltlhauservon der Erwartung aus, daß auch bei den Finanzhilfen deutliche Einschnitte ermöglicht werden.Zweitens. Auf der Einnahmenseite werden wir auch zu berücksichtigen haben, daß wir am Ende dieser Woche im Rahmen des Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetzes eine deutliche Verbesserung der Investitionszulage für die neuen Bundesländer verabschieden werden. Morgen um 15 Uhr wird der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages in einer Sondersitzung die Investitionszulage für in den neuen Bundesländern ansässige Firmen des verarbeitenden Gewerbes und des Handwerks auf 20 % anheben
— das ist ein Prozentsatz, den Sie auch vorschlagen —, bis zu einem Gesamtvolumen von 1 Million DM.Durch diese Investitionszulage wollen wir noch einmal einen deutlichen Anschub für die Schaffung von Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern geben, einen Anschub, der durch bestehende hervorragende steuerliche Rahmenbedingungen, die in den neuen Bundesländern existieren, ergänzt ist. Das Niedrigsteuergebiet, meine Damen und Herren — das sage ich auch in die andere Richtung dieses Hauses —, ist in den neuen Bundesländern bereits Realität!Drittens. Auf der Einnahmenseite des Haushalts wird sich auch niederschlagen, daß ab 1993 die Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundfreibetrag zu berücksichtigen sind.
Herr Kollege Faltlhauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Larcher?
Nein.
— Sie wissen, daß ich ungeheuer Angst vor Ihnen habe.
Zunächst muß aus zeitlichen Gründen eine administrative Lösung ab Januar 1993 greifen. Die Steuerabteilungsleiter der Länder haben sich für die von Bayern vorgeschlagene sogenannte Tabellenlösung entschieden, die das Existenzminimum mit 12 000 bzw. 19 000 DM ansetzt.
Herr Kollege Poß, bei dieser Lösung, die Sie in Ihrer Rede so kritisch angegangen haben, haben die SPDLänder und ihre Administrationen mitgewirkt. Das ist mittlerweile eine einvernehmliche Lösung. Dann müssen Sie auch Ihre SPD-Finanzminister kritisieren.
Nach dieser Lösung ist eine rasche und unbürokratische Entlastung der unter dem Existenzminimum liegenden Einkommen schon beim Lohnsteuerabzug möglich. Niemand braucht wegen des erhöhten Grundfreibetrages zum Finanzamt zu gehen. Unter Berücksichtigung der Pflichtveranlagung werden die Steuerausfälle bei dieser Lösung für die alten Bundesländer etwa 1,3 Milliarden und in den neuen Bundesländern 0,7 Milliarden DM ausmachen. Der Bund wird entsprechend in Anspruch genommen werden.
Der Finanzausschuß ist über die Fraktionsgrenzen hinweg, Herr Poß, einig, daß dieser Verwaltungslösung so bald wie möglich eine gesetzliche Lösung folgen muß.
Wie eng sich diese gesetzliche Lösung an die zunächst getroffene Verwaltungslösung annimmt, wird abzuwarten sein. Wir werden das noch sorgfältig prüfen müssen.
Jedenfalls eines ist die Wahrheit: Ab Januar 1993 können wir keine gesetzliche Lösung vornehmen. Zunächst muß eine administrative Lösung Platz greifen.
Ich bin überzeugt, daß wir die finanzpolitischen Herausforderungen im nächsten Jahr nur durch die Berücksichtigung von folgenden vier Grundsätzen bewältigen können.
Erstens. Wir müssen umschichten. Da gibt es gute Ansätze im Solidarpakt.
Zweitens. Wir müssen bei den Zuwächsen sparen. Der Wohlstand in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts im gesamten Land muß erkauft werden durch eine Reduzierung der Wohlstandsmehrung in der ersten Hälfte der neunziger Jahre in den alten Bundesländern.
Drittens. Kein Unternehmer investiert, wenn er nicht weiß, wo die steuerlichen Eckpflöcke übermorgen stehen. Diese Verläßlichkeit und Dauerhaftigkeit ist wichtiger als ständiges Draufsatteln auf irgendwelche Subventionstöpfe oder das Herumfummeln an steuerlichen Begünstigungen. Deshalb sollten sich auch manche Erfinder von neuen Steuern und Abgaben, gleichgültig in welchen Reihen, etwas zurückhalten, insbesondere, wenn sie „weniger zuständig" sind.
Viertens. Wir sollten angesichts der Probleme in den neuen Bundesländern nicht der Versuchung nachgeben, die der Kollege Diederich wieder einmal für die SPD dokumentiert hat, alles mit den staatlichen Maßnahmen administrativ steuernd durchzuführen, sondern wir müssen auf die Kräfte des Marktes vertrauen, die allerdings eines klaren Rahmens politischer Vorgaben bedürfen.
Herr Kollege, Sie schauen zwar nach rechts, aber links blinkt das rote Licht schon eine Weile.
Herr Präsident, darf ich den letzten Halbsatz bei all Ihrer Strenge noch vollenden?
— Mir ist die rechte Seite etwas sympathischer.
Bitte, keine Dialoge mehr. Die Redezeit ist überschritten.
Herr Präsident, ich will meinen letzten Satz noch vollenden.
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Dr. Kurt FaltlhauserDeshalb müssen wir auf die Marktkräfte vertrauen, wobei allerdings ein klares ordnungspolitisches Konzept mit den Vorgaben insbesondere steuer- und haushaltspolitischer Art vorhanden sein muß.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Esters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die verschiedenen Beiträge der Kollegen aus der Koalition, vor allen Dingen von Wolfgang Weng, Jochen Borchert und Adolf Roth, lassen für diese Tage der zweiten Lesung hoffen. Sie haben uns gebeten, unseren Beitrag in Sachen Sparen darzulegen. Natürlich wissen wir, daß wir sparen müssen. Aus diesem Grunde haben wir Ihnen auch vorgeschlagen, dort, wo es am leichtesten ist, wo es mit wenig Mühe zustande zu bringen ist, nämlich im Einzelplan 14, Erhebliches zusätzlich einzusparen. Das läßt hoffen, daß Sie dieses mitmachen.
Ein weiterer Punkt: Wir schlagen Ihnen vor, im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung einzusparen, weil wir der Meinung sind, daß die Mittel sinnvoller in anderer Form ausgegeben werden könnten als dort.
Sie dürfen ganz sicher sein, daß wir, wenn Sie unseren Vorschlägen in dieser Richtung zustimmen, gern bereit sind, auf die Fristeinrede bezüglich der dritten Lesung zu verzichten.
Vor allem Adolf Roth — aber auch andere — hat bereits darauf hingewiesen, daß nach dem Haushaltsgesetz zwischen 3 000 und 4 000 Stellen — wieviel es im einzelnen sein werden, werden wir in der Endphase sehen — eingespart werden, und zwar global durch den Bundeshaushalt. In diesem wichtigen Bereich der Personalentscheidungen, bei denen es gerade jetzt auch darauf ankommt, stark veränderte Aufgabenstellungen in der Administration sorgfältig nachzuvollziehen, hat es den völlig verfehlten Rundumschlag einer Einprozentkürzung gegeben, und man macht sich nicht die Mühe, zwischen Notwendigem und Überflüssigem zu unterscheiden.
Herr Kollege Esters, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weng?
Aber gern.
Herr Kollege Esters, geben Sie mir recht, daß die Bundesregierung bei der Umsetzung dieses Pauschalbeschlusses genau die von Ihnen hier geforderten Leitsätze anlegen kann, nämlich die Personalstellen dort einzusparen, wo es am sinnvollsten ist, und das Personal an den Stellen zu belassen, wo es am notwendigsten ist?
Herr Kollege Weng, dies soll kegelgerecht vollzogen werden. Manche Ressorts haben sich in den vergangenen Jahren mit derBegründung, daß zusätzliche Aufgaben durch die deutsche Einheit entstanden seien, mit Personal vollgesogen. Einiges davon ist im Bereich der kw-Stellen wieder geschoben worden. Diese Ressorts haben es natürlich leicht, das Geforderte zu tun.Andere Ressorts, die sparsamer waren und dann auch Krach mit ihren Personalvertretungen hatten — z. B. die Administration dieses Hauses hier, des Bundestages, wo keine Stellen im Bereich des höheren Dienstes neu hinzukommen —, müssen bei der kegelgerechten Einsparung, die Sie in das Haushaltsgesetz hineinschreiben wollen, zusätzlich auch in diesen Bereichen Stellen abgeben. Das ist die Folge.
Ein weiterer Punkt ist, daß der sparsame Stellenanmelder bestraft wird, derjenige aber, der unverantwortlich fordert — ein verhängnisvoller Effekt —, belohnt wird. Während innerhalb der Bundesministerien offenbar aus politischem Gusto einiges an neuen Abteilungen und Hebungen möglich war, müssen andere Bereiche, die die parlamentarische Kontrolle der Regierung unterstützen, z. B. der Bundesrechnungshof, aber auch die Bundestagsverwaltung, einschneidende Einsparungen bei Leistungsträgern in diesem Bereich im höheren Dienst in Kauf nehmen.Der Haushaltsausschuß selbst ist vielfach auf die Unterstützung durch den unabhängigen Bundesrechnungshof, der kein Instrument der Opposition ist, wie die Wahl seines Präsidenten und Vizepräsidenten ausweist, angewiesen und verursacht nun eine Schwächung seiner eigenen Hilfsquellen.Die Treuhand wird künftig noch unkontrollierter als bisher arbeiten. Im Unterausschuß Treuhand des Haushaltsausschusses werden wir hilfloser sein denn je.Die stillschweigende Übereinkunft, daß sich die Fraktionen beim Rechnungshof und bei der Bundestagsverwaltung ins Benehmen setzen, ist diesmal mißachtet worden. Dies trägt nicht zur Konsensfähigkeit in der nächsten Zeit bei.Ich stimme allerdings Rudi Walther voll zu, daß die Kürzungen auf den Arbeitsebenen der Administration in groteskem Mißverhältnis zur unangetasteten Schar der Minister sowie der Parlamentarischen und beamteten Staatssekretäre stehen.
Diese Form der Politisierung der Verwaltung, des Ämterschachers zeigt, daß die Koalition nicht begreift, wie sehr jetzt Sach- und Fachverstand anstatt Schaumschlägerei aus den Hundertschaften in den Leitungsbereichen gefordert sind.Wer sich die Darstellungen der einzelnen Mitglieder der Bundesregierung anguckt, der muß zu dem Schluß kommen, daß dieser vielstimmige Chor ganz erheblich zur Verunsicherung unserer Bevölkerung und auch unserer Wirtschaft beiträgt.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß durch diese Stellenkürzungen — auch das will ich noch
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Helmut Esterseinmal sagen —, z. B. in einer Reihe von Ländern aus dem Bereich der früheren RGW-Staaten, der GUSLänder, die Vertretungen des Auswärtigen Amtes ungeheuer gefordert werden, weil zum Teil an einem Tag, Herr Minister, drei verschiedene Ressorts, vertreten auf der Staatssekretärsebene, bei ein und derselben Botschaft vorsprechen. Nun geht man hin und kürzt auch noch in dem Bereich des Auswärtigen Amtes, obwohl sich doch diese Bediensteten darum bemühen müssen, daß die Besucher aus dem aufgeblähten Apparat der Bundesregierung ihre entsprechenden Gesprächstermine bekommen.
Ich habe dies im Haushaltsausschuß schon einmal gesagt. Herr Minister Bohl hat mir gesagt, ich meinte wohl das Beispiel Kiew. Es war nicht Kiew; aber wir haben ein zweites Beispiel. Ich hatte ein anderes gemeint.Jetzt muß auch das Auswärtige Amt leiden, weil wir nicht bereit sind, dort, wo der Bedarf nicht vorhanden ist, Stellen wegzunehmen.Sie wissen — wir haben Ihnen das auch gesagt —: Die Stellenanzahl, die man wegnehmen will, um die Spareffekte, die dahinterstehen, zu erreichen, holt man alleine durch die Ausbringung nackter kwVermerke beim Bundeswehrbeschaffungsamt in Koblenz und in anderen Bereichen, wo Aufgaben weggefallen sind, wieder herein.Nur, es macht wenig Sinn, daß in einem Ressort, das nachweislich zusätzliche Aufgaben übernommen hat oder hat übernehmen müssen,
zunächst Stellen bewilligt werden, kw-Vermerke entweder nicht realisiert oder geschoben werden und daß unter dem Strich dann bei der Operation plus Haushaltsgesetz weniger herauskommt, als vorher da war. Dies macht keinen Sinn, dies ist unseriös.Ich bitte Sie, da Sie die Sparappelle an uns gerichtet haben, unseren Anträgen zu diesen Bereichen, die wir sowohl zum Haushaltsgesetz als auch zum Einzelplan Verteidigung gestellt haben, zuzustimmen. Fristeinrede ist nicht zu befürchten. Sie haben dann einen Spareffekt, der wesentlich größer ist als der, den Sie hier anbieten.
Ich sehe zwar den Grund der Heiterkeit, aber möglicherweise werden hier Nachfolgergespräche geführt.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Gero Pfennig.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Esters hat die Beratungen hier wieder auf einen grundsätzlichen Punkt zu bringen versucht. Von Personal und
Personalschlachten versteht er ja etwas, wie wir alle wissen.
Ich nehme das deshalb zum Anlaß, noch einmal auf eine grundsätzliche Frage zurückzukommen, die der Kollege Rudi Walther heute morgen mit seinem Antrag angesprochen hat und auf die viele Redner der SPD-Opposition nach ihm eingegangen sind. Er hat den Eindruck zu erwecken versucht, daß der vorliegende Etatentwurf nicht mit der Verfassung übereinstimme, weil schon jetzt ein Nachtragshaushalt in 1993 absehbar sei.
Sie haben sich darauf berufen, lieber Kollege Walther, daß ein Nachtragshaushalt nur unvorhergesehene Mehrausgaben enthalten dürfe und deshalb der Etatentwurf 1993 schon jetzt wegen vorhersehbarer Mehrausgaben unvollständig sei.
Ich denke, das bedarf einer gründlichen Erwiderung, wenn man sich über Haushalt unterhält.
Auch wenn es zutrifft, daß ein Nachtragsetat nur für unvorhersehbare Mehrausgaben verabschiedet werden darf, ist mit dem jetzt ins Auge gefaßten Nachtragshaushalt während des Jahres 1993 noch lange nicht der heute zu beratende Etat verfassungsrechtlich bedenklich. Es gilt nämlich, Herr Kollege Walther, wie Sie selbst wissen, nicht nur das Prinzip der Vollständigkeit des Haushalts, sondern auch das Prinzip der Haushaltsklarheit und -wahrheit. Das bedeutet, daß Mehrausgaben für einen bestimmten Bereich zunächst einmal in der Sache, sodann auch nach der Höhe feststehen müssen, um sie etatisieren zu können.
Um Mehrausgaben handelt es sich demnach nicht, wenn nach Art eines Weihnachtswunschzettels Mehrausgabenwünsche für irgend etwas, definiert nur nach einer bestimmten Himmelsrichtung, geäußert werden.
Im letzteren Fall ist der Ausgabenwunsch weder klar noch bestimmbar im Sinne des Haushaltsrechts und damit eben keine vorhersehbare Ausgabe. Das gilt insbesondere für manche Ausgabenwünsche, die die Opposition zusammengeschrieben hat. Wäre es anders, müßten auch derartige Ausgabenwünsche etatisiert werden, und zwar nicht nur der Sache nach, sondern auch der Höhe nach, prognostisch für die Zukunft. Dies würde in Wahrheit bedeuten, daß das Parlament auf sein eigenes Haushaltsrecht verzichtete, weil ihm nämlich eine exakte Ausgabenaufgabenstellung überhaupt nicht möglich wäre.
Allenfalls wäre noch denkbar, das Haushaltsrecht durch Einräumung von Globalermächtigungen auszuüben. Das wäre jedoch mit dem Selbstverständnis des Deutschen Bundestages nicht vereinbar.
Aber ich will Ihnen noch eine zweite Sache sagen: Selbst wenn Mehrausgaben einigermaßen exakt feststellbar wären, wären wir daran gehindert, sie in den Etat einzubringen.
Herr Kollege Pfennig, der Kollege Walther möchte eine Zwischenfrage stellen.
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Sehr gern, Herr Kollege Walther.
Kollege Dr. Pfennig, Sie erinnern sich deutlich daran, daß der Bundesminister der Finanzen in der vorletzten Sitzung des Haushaltsausschusses frech, fromm, fröhlich, frei, wie wir das von ihm gewohnt sind, erschien, seinen Haushalt lobte und gleichzeitig einen Nachtragshaushalt ankündigte. Das heißt, er wußte damals schon, daß die Ausgaben, die wir heute beschließen sollen, nicht richtig sind.
Würden Sie bitte eine Frage stellen.
Ich frage Sie deshalb: Warum hat der Bundesminister der Finanzen, der ja wochenlang von Möllemann und sonstigen gedrängt wurde, nicht rechtzeitig die Ergänzungsvorlage eingebracht, so daß wir heute über einen vollständigen Haushalt hätten beschließen können?
Erstens, lieber Kollege Walther, hat nach meinem Wissensstand — und ich war ja auch dabei — der Bundesfinanzminister keinen Nachtragshaushalt angekündigt. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein,
sondern er hat gesagt: Wenn es zu Mehrausgaben unter entsprechenden Einsparungen kommen sollte, dann muß man über die Frage eines Nachtragshaushalts nachdenken. Ich habe Ihnen gerade zu erklären versucht, daß Weihnachtswünsche nicht Ausgaben im Sinne eines Nachtragshaushalts sind.
Ich werde Ihnen das noch an einer zweiten Sache erklären. Dazu bin ich ja leider noch nicht gekommen, weil ich erst Ihre Zwischenfrage beantworten mußte. Wir wären selbst dann, wenn wir die Mehrausgaben der Sache nach und der Höhe nach kennen würden, daran gehindert, sie in den Etat einzustellen, weil wir hierfür keine Deckung im Etat vorweisen können. Die Opposition mahnt die Koalitionsfraktionen ständig, die Neuverschuldung des Bundes nicht weiter auszudehnen, weil dies zu einem verfassungswidrigen Zustand führen könnte.Dieses Argument wird auch sehr ernst genommen. Wir haben deshalb nicht nur die Mehrausgaben auf 2,5 % begrenzt, sondern auch die Neuverschuldung nur geringfügig erhöht. Mehrausgaben wären demnach nur durch Einsparungen an anderer Stelle zu finanzieren. Dies ist aber nur machbar, wenn man die einzusparenden Mittel auch tatsächlich zur Verfügung hat. Wenn dazu Leistungsgesetze außerhalb des Haushalts geändert werden müssen, weil sie direkte Leistungen an die Bürger oder Steuermindereinnahmen des Bundes zwingend vorsehen, dann stehen die Einsparmittel eben nur fiktiv, aber nicht tatsächlich zur Verfügung. Folglich sind auch Mehrausgaben an dieser Stelle nur fiktiv und nicht durch tatsächliche Einsparungen gedeckt. Mithin: Die Mehrausgaben können nicht etatisiert werden.Ich sage, an uns alle gerichtet: Das ist ein Problem, das inzwischen von Jahr zu Jahr größer wird und das bei der Schaffung der Grundgesetzbestimmungen überhaupt noch nicht ersichtlich war. Niemand konnte damals ahnen, daß unser Gesetzgebungs-, Vorschriften- und Richterstaat uns einmal in die Situation bringen würde, daß nicht nur Eingriffe in Grundrechte, sondern auch Leistungen an die Bürger rechtlicher Vorschriften bedürfen, egal, ob es um direkte Zahlungen oder indirekte steuerliche Subventionen geht. Dies hat zur Folge, daß die Änderung von Subventionsgesetzen erforderlich ist, bevor der Haushaltsgesetzgeber überhaupt wieder über diese Mittel verfügen kann.Der Begriff Haushaltssicherstellungsgesetz oder ähnliches ist im Grunde genommen nur eine Verniedlichung dieses Problems, vor dem wir von Jahr zu Jahr mehr stehen. Ich bitte, das wirklich einmal zu überdenken und zwischen allen Fraktionen des Deutschen Bundestages vernünftig zu erörtern.Auf welchem gefährlichen Weg wir uns inzwischen schon befinden, zeigt mir die Globalermächtigung, die wir im Einzelplan 60 zur Ausgabe von 1,5 Milliarden DM für Aufbauhilfen im Beitrittsgebiet gegeben haben. Der Streit, was eigentlich Inhalt dieser Ausgabenermächtigung ist, ist inzwischen überall entbrannt und hat den Wunsch nach weiteren Globalermächtigungen in Milliardenhöhe geweckt. Da ist von Sonderaufbauprogrammen die Rede, von der Erhaltung industrieller Kerne und von vielem anderen mehr, und keiner fragt mehr: Was ist eigentlich die Ursache für den schleppenden Aufbau in den neuen Bundesländern? Und noch weniger wird über die Frage diskutiert: Welche Ausgaben können sich Bund, Länder und Gemeinden trotz 800 Milliarden Steuereinnahmen in 1993 eigentlich noch leisten und welche nicht?Ich habe hier schon zweimal gesagt, meiner Meinung nach sind die Ursachen des schleppenden Aufbaus in den neuen Bundesländern nach wie vor mit einem Satz umschreibbar — der Kollege Faltlhauser, glaube ich, war es, der es angedeutet hat —: Es ist bisher nur unzureichend gelungen, sich genügend eigenständiges Unternehmertum in den neuen Bundesländern entwickeln zu lassen. Das wesentliche Problem dabei ist nach wie vor, daß Unternehmerwillige in den östlichen Bundesländern kaum Eigenkapital haben. So können sie den Betrieb nicht aufbauen, keine Grundstücke erwerben, keine Beleihungen bekommen und vieles andere mehr.Soweit nach dem Zweiten Weltkrieg und bei Reparationszahlungen überhaupt noch Eigenkapital übrig gewesen ist, ist dieses in 40 Jahren Sozialismus aufgezehrt worden. Dasselbe gilt auch für die allgemeine Infrastruktur und die Infrastruktur staatlicher Dienste. Wenn wir also etwas tun wollen, dann müssen wir an dieser Stelle ansetzen. Eigenkapitalersatzprogramme sind nur ein Punkt in diesem Zusammenhang.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10383
Dr. Gero PfennigIch finde es übrigens schon erstaunlich, wie unzureichend die alten Bundesländer zum Wiederaufbau der staatlichen Infrastruktur beitragen. Während im Zusammenhang mit der europäischen Vereinigung und den Maastrichter Verträgen die Bundesländer sorgsam darauf dringen, daß jede Veränderung im Behördenaufbau und in der Ausführung von Gesetzen ihre Hoheitsrechte nicht unterläuft, während wir zur Erfüllung der Länderwünsche sogar das Grundgesetz ändern müssen, soll beim Aufbau staatlicher Infrastruktur in den neuen Bundesländern der Bund für alles und jedes zuständig sein, insbesondere soll er zahlen müssen.Dabei hat der Bund, soweit er für die Infrastruktur zuständig ist, Hervorragendes geleistet, wie das Beispiel Telekommunikation zeigt, und sich manchmal, behaupte ich, vielleicht zuviel Aufgaben unter zuviel Personaleinsatz aufgeladen. Kollege Esters hat in einigen Punkten dazu ganz bemerkenswerte Ausführungen gemacht.Mir ist natürlich bewußt, daß jedes der alten Bundesländer inzwischen einen Beitrag in seinem Partnerland zu einer Grundausstattung mit Verwaltungsstruktur geleistet hat. Ich behaupte aber dennoch, daß dies nicht genug ist. Wenn zum Beispiel aus Nordrhein-Westfalen nach Brandenburg abgeordnete Grundbuchbeamte darüber klagen, daß sie nach kurzer Einarbeitungszeit ihren Platz in Brandenburg wieder verlassen müssen, obwohl sie gern noch länger blieben, dann zeigt dies deutlich, daß etwas mit der Hilfestellung nicht stimmt. Wenn zum Beispiel das Handelsregister in Potsdam für die Eintragung neuer Firmen mehrere Monate benötigt, weil Akten zwecks Amtshilfe an das Handelsregister nach Köln geschickt werden müssen, dann zeigt auch dies, daß an der Aufbauhilfe irgend etwas nicht stimmt.
Wenn die Protokolle des Bundesrates ausweisen, daß Anträge der neuen Bundesländer, an Finanztöpfen des Bundes beteiligt zu werden, von den alten Bundesländern mit 10:6 niedergestimmt werden, dann zeigt auch dies, daß mit der Aufbauhilfe in unserem föderalen System etwas nicht stimmt. Man muß sich dann nicht wundern, daß mangels Begünstigung, wie zum Beispiel beim Hochschulbauförderungsprogramm, in den neuen Bundesländern zu wenig Fachhochschulplätze entstehen und deshalb die Ausbildung zum Beispiel von Rechtspflegern und Finanzbeamten mühsam auf dem Weg über die alten Bundesländer vorgenommen werden muß.Verbaut ist damit insbesondere die Möglichkeit, z. B. arbeitslose sogenannte Finanzökonomen alter DDR-Machart im Schnellkurs zu Steuerbeamten ausbilden zu können, um wenigstens die Erfassung aller Steuerpflichtigen zu gewährleisten. Die weitere Folge ist, daß steuerpflichtige Vorgänge nur unzureichend erfaßt werden, Steuereinkommen hinter den Erwartungen zurückbleiben und dementsprechend die Löcher in den Kassen größer werden.Ich wage gar nicht, im Rahmen der Haushaltsdebatte auch noch die Frage anzuschneiden, ob die alten Bundesländer immer die richtige Anleitung zu staatlichem Handeln geben, und verweise auf Beispiele, wie man manches anders machen kann. Beispiel: Bau von privaten Kläranlagen am Plauer See in Mecklenburg im Auftrag der Gemeinden; hervorragend geglückt.Ich habe die Beispiele nur genannt — damit komme ich zum Ende —, um zu zeigen, daß wir in der Ursachenanalyse noch viel präziser werden müssen. Das gibt uns auch Zeit, über Einsparmöglichkeiten nachzudenken. Ich hoffe, daß wir uns doch mindestens darüber einig sind, daß zusätzliche neue Ausgaben des Bundes für die neuen Bundesländer durch Einsparung an anderer Stelle ermöglicht werden müssen und die neuen Ausgaben nicht nur in sinnloser Verplemperung von Milliardenbeträgen bestehen sollten.
Das Wort hat der Abgeordnete Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 8. September dieses Jahres hat der Bundesfinanzminister eine vielbeachtete Rede gehalten. Ich zitiere:Der heute zur Beratung vorgelegte Entwurf des Bundeshaushalts 1993 und der Finanzplan 1996 sind unser Beitrag zu einem gesamtdeutschen Pakt der Vernunft und der Solidarität, mit dem wir die Einheit Deutschlands vollenden wollen. Unser Haushalt ist auch ein Angebot an alle gesellschaftlichen Gruppen, an Betriebe und Arbeitnehmer, an Länder und Gemeinden, am großen nationalen Einigungswerk mitzuwirken.Donnerwetter, kann man nur sagen. In Wirklichkeit ist dieser Anspruch überheblich. Maßloser, zynischer und wohl auch hilfloser kann man das gar nicht ausdrücken.Der Bundesfinanzminister hatte schon am 1. Juli in einer Presseerklärung folgendes vorgetragen — ich zitiere —:Wir haben im Januar dieses Jahres beim Treffen der G-7-Finanzminister in New York eine kooperative Wachstums- und Stabilitätsstrategie vereinbart, um der Weltwirtschaft zusätzliche expansive Impulse zu geben. Dabei hat Deutschland zugesagt, zur Stärkung der Wachstumsgrundlagen die öffentlichen Defizite rasch und kontinuierlich zurückzuführen.Ich frage: Wie?Ich zitiere weiter:Mit dem Bundeshaushalt 1993 ... und mit dem fristgerechten Auslaufen des Solidaritätszuschlages zum 30. Juni 1992 werden die damaligen Zusagen Punkt für Punkt erfüllt. Bis zum Jahresende 1992 wird die Bundesregierung über die Eckwerte für eine weiterreichende Steuerstrukturreform entscheiden.Ich frage: Wo liegt diese Steuerstrukturreform vor?
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10384 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Ortwin LowackIch zitiere weiter:Die einigungsbedingt vorübergehend höhere Kreditaufnahme wird in spürbaren Schritten zurückgeführt.Ich frage: Wann? Ich zitiere weiter:Die Kapitalmärkte werden damit kontinuierlich entlastet.Ich frage: Wirklich?
Ich zitiere weiter:
Durch eine nachhaltige Verbesserung unserer Steuerstruktur schaffen wir günstige Voraussetzungen für Investitionen und Arbeitsplätze.Ich frage: Wo?Er sagt schließlich am Ende:Die Welt kann uns vertrauen. Deutschland wird auch zukünftig ein verläßlicher Partner für Wachstum und Stabilität der Weltwirtschaft sein.Das ist genau der Realitätsverlust, der allenthalben beklagt wird, wenn man vom Finanzminister spricht. Freunde sagen in der Zwischenzeit: Der Theo kennt die eigenen bzw. die richtigen Zahlen nicht.Der Hintergrund ist doch, daß der Bundesfinanzminister überhaupt nicht mehr Distanz zu den Ausgaben im Haushalt halten kann, weil er alle die Verträge unterzeichnet hat, die heute große Probleme für uns mit sich bringen: Das ist der unsägliche und, wie wir wissen, mit unglaublichen Mängeln und vor allen Dingen mit Konsequenzen behaftete Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Das ist die von ihm unterzeichnete Vereinbarung mit dem Einstieg in ein 15-Milliarden-DM-Paket zugunsten der alten Sowjetunion; die Leistungen sind inzwischen auf 80 Milliarden DM angestiegen. Das ist auch seine damalige Bereitschaft, sehr schnell nach New York zu fahren und den Amerikanern 13,5 Milliarden DM auf Grund des Verhaltens während des Golfkriegs mitzubringen, weil man vorher politisch nicht in der Lage war, rechtzeitig zu reagieren. Das ist letztlich die Verantwortung für die Treuhand und seine Unterschrift unter die Verträge von Maastricht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir uns darüber unterhalten wollen, wie wir öffentliche Mittel sparen können, dann müssen wir heute eine Diskussion darüber führen, was Maastricht an Kosten für uns bringen wird. Ich sage voraus: Die Verträge von Maastricht werden, wenn sie so Bestand haben, wie sie vom Finanzminister unterzeichnet worden sind, eine große Umverteilung oder eine Umstrukturierung von Mitteln bedeuten, die dann nicht für die deutsche Einheit zur Verfügung stehen, sondern vor allen Dingen in die südlichen Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft umgeleitet werden.Ich frage: Wo ist hier der kritische Ansatz von deutscher Seite bei der Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft? Wo ist der Protest gegen die Vorschläge in Gestalt des Delors-II-Pakets oder gar gegen die Forderung der Kommission, den Haushaltsansatz auf 3 % des Bruttosozialprodukts zu erhöhen? Heute müßten die entsprechenden Entscheidungen getroffen werden.Wenn der Bundesfinanzminister heute sagt — ich habe seine Rede genau verfolgt —, Steueranhebungen seien jetzt Gift für die Konjunktur, dann, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, weiß doch jeder von uns: Sie sind es im nächsten Jahr genauso; sie sind es 1994, 1995 und 1996. Wir machen uns doch hier wieder etwas vor. Wir kennen die Zahlen, die dann auf den Haushalt zukommen.Ich behaupte deswegen, daß in dieser Haushaltsdebatte erneut nur aufgeschoben und verschoben wurde. Es geht um ein Aufstellen von Zahlen, leider oft genug um ein Unterstellen, ein Einstellen, ein Abstellen und, so habe ich fast den Eindruck, um ein Entstellen sowie vor allen Dingen oft genug darum, die Sicht zu verstellen. Das ist eine Flucht aus der Verantwortung. Jetzt wäre es noch möglich und notwendig, umzusteuern. Geschieht das nicht, muß ich davon ausgehen, daß die Koalition sehr bald ihre Quittung dafür bekommen wird.
Als letzter Redner in dieser Debattenrunde hat jetzt der Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zeit der Wende ist offensichtlich noch nicht vorbei. Der schier unerschütterliche Stabilitätshort BRD wird zum Krisenland, das von Wirtschaftsrezession und galoppierender Staatsverschuldung gebeutelt wird. Das scheinbar allgemein prosperierende sogenannte Wirtschaftswunderland Bundesrepublik wird zum sozial tief gespaltenen Land mit einer wachsenden Dauerdisparität zwischen Ost und West. Vor allem aber gilt: Dieses bis Hoyerswerda einigermaßen politisch stabile, sichere Land wird zum Land, in dem Menschen, die zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes entscheidend beigetragen haben, etwa die 2 Millionen türkischen Mitbürger und Mitbürgerinnen, inzwischen auch um Leben und Gesundheit fürchten müssen.Die Befürchtungen, die ich vor wenigen Wochen — bewußt sehr verhalten — auch hier geäußert habe, nämlich daß sich die pogromartigen Ausschreitungen gegen Ausländer und Ausländerinnen bald auch gegen Ausländergruppen richten würden, die als Arbeitskräfte von uns in dieses Land geholt wurden, sind leider nur allzubald bestätigt worden. Aus Gründen der Menschlichkeit, aber auch aus Gründen der weiteren wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung muß dem Treiben der mordbrennenden Rechten in diesem Land Einhalt geboten werden — mit den Mitteln der Polizei, mit den Mitteln des Strafrechts, durch politische und gesellschaftliche Ächtung und Diskriminierung.Wer die Rechte weiter gewähren läßt, wer ihr nachgibt, wie leider auch die Herbeiredner der sogenannten Asylproblematik in diesem Haus, der gefährdet die notwendigen Rahmenbedingungen für die weitere ökonomische und soziale Entwicklung in diesem Land, der gefährdet auch und gerade die Grundlage für die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen im Osten.Rassistische Pogrome verschärfen Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsplatzprobleme, z. B. indem sie Investoren, und zwar inländische wie ausländische,
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Dr. Ulrich Briefsabschrecken. Sie gefährden den Warenaustausch. Sie gefährden den Austausch in Wissenschaft und Technik. Sie — nicht etwa die Gewerkschaften oder ökologische Auflagen — gefährden den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ob angesichts der furchtbaren jüngsten Anschläge gegen türkische Mitbürger und Mitbürgerinnen, ob angesichts der 16 — 16! — von rechtsradikalen Banden in diesem Jahr bereits getöteten Menschen z. B. die Neigung im Ausland zur Vergabe des Sitzes der Europäischen Zentralbank nach Frankfurt am Main oder Bonn zunimmt, sollten wir uns zumindest einmal fragen.Die derzeitige Verschuldungsmisere ist aber insbesondere auch ein Lehrstück dafür, was geschieht, wenn man die Marktwirtschaft unkontrolliert gewähren läßt. Wenn man sie unkontrolliert gewähren läßt, dann tritt genau das ein, was wir jetzt im Osten erleben. Dann tritt genau das ein, was unser gegenwärtiges und zukünftiges Hauptproblem im Bereich der öffentlichen Finanzen sein wird: Der öffentliche Schuldenberg wird von 1 230 Milliarden DM im Jahr 1990 auf sage und schreibe 2 070 Milliarden DM im Jahre 1994 steigen. Das sind dann bereits fast zwei Drittel des Bruttosozialprodukts eines Jahres, Das Defizit des Bundeshaushalts einschließlich der Schattenhaushalte — Herr Roth, diese Zahl muß man heranziehen — beträgt derzeit bereits 3,5 % des Bruttosozialprodukts. Wir liegen damit über dem chronischen Staatsschuldenmacher USA, an dem wir auch die verheerenden Folgen derartiger Verschuldungsorgien des Staates studieren können.Die Verschuldungsorgie dieser Bundesregierung ist jedoch vor allem das Ergebnis der plan- und konzeptionslosen Abwicklung des Zusammenschlusses von Ost- und Westdeutschland. Jeder betrieblich Tätige weiß, daß man beim Zusammenschluß zweier Betriebe oder Unternehmen, von denen eines erheblich weniger produktiv ist als das andere, einen längeren Übergangszeitraum mit entsprechenden Schutzmaßnahmen — mit Maßnahmen der Reorganisation, mit Rationalisierungsmaßnahmen und insbesondere mit entsprechenden Investitionen — vorsehen muß. Wer zwei Volkswirtschaften wie die hochpotente westdeutsche Volkswirtschaft der ausgehenden 80er Jahre und die 20 oder mehr Jahre nachhinkende, auf die Ostmärkte ausgerichtete DDR-Wirtschaft ungeschützt aufeinanderprallen läßt, der riskiert einen rigorosen Verdrängungswettbewerb der modernen Volkswirtschaft gegenüber der weniger modernen Volkswirtschaft.Genau das ist geschehen. Das freie Spiel marktwirtschaftlicher Kräfte — das an Ihre Adresse auf der Rechten — hat dafür gesorgt, daß sich der reiche und ökonomisch potente Westen im Prozeß des Zusammenwachsens noch weiter modernisiert und vollgesogen hat, zu Lasten der im Modernitätsgrad sowieso weit zurückliegenden Betriebe des Ostens.
So ist der Zusammenbruch der Betriebe im Osten, derEntindustrialisierungsprozeß, der jetzt stattfindet,nichts anderes als das logische Ergebnis einer unkontrolliert vor sich hin wirkenden und wuchernden Marktwirtschaft.
Eine Folge der plan- und konzeptionslosen Vorgehensweise dieser Bundesregierung ist auch die Entwicklung der Treuhandanstalt, die zirka 250 Milliarden DM weitere Staatsschulden beisteuern wird. Hätte sie von Anfang an saniert statt planiert, wäre der Wert der ostdeutschen Volkswirtschaft nicht auf den Stand abgesunken, der jetzt bzw. in der Zukunft 250 Milliarden DM zusätzlicher Schulden erforderlich machen wird.Eine weitere Folge ist z. B. — auch da will ich einigen Stimmen widersprechen —, daß offensichtlich auch die internationale Bonität der BRD in Frage gestellt wird. Der Internationale Währungsfonds prüft z. B. die Haushaltsrisiken, die inzwischen vor allem in den Schattenhaushalten dieser Bundesregierung angelegt sind.Das Umschwenken des Bundeskanzlers auf die Erhaltung von Industriekernen in Ostdeutschland, also der Schwenk zu dem, was hier mehrfach gefordert worden ist, nämlich aktive Industriepolitik, kommt mehr als zwei Jahre zu spät. Im Frühjahr 1990, als es auf die Wirtschafts- und Währungsunion zuging, hätte diese Bundesregierung industrie-, branchen- und regionalstrukturpolitische Konzepte unter Beteiligung des demokratischen Runden Tisches in der damaligen DDR entwickeln sollen. Dann wäre die jetzige Verschuldungsorgie nicht nötig geworden. Dann könnte ein wirklicher Aufschwungprozeß im Osten eingesetzt haben, der inzwischen sogar hier bei uns im Westen angesichts der Rezession, die sich anbahnt, stabilisierend wirken könnte.Marktwirtschaft pur heißt eben auch staatliche Wurstelei, heißt unabsehbare Haushaltsrisiken, heißt Verschuldungsorgie des Staates, heißt Schütten von riesigen Mittelvolumina in Fässer ohne Böden wie die Schattenhaushalte.Daß mit der konfusen und konzeptionslosen Finanzpolitik dieser Bundesregierung entscheidende andere Etats, z. B. der zur Bekämpfung von Ursachen der weltweiten Fluchtbewegung — der Entwicklungshilfeetat steigt nicht —, stagnieren müssen, ist eine weitere Folge. Wer eine stabile Haushalts- und Finanzpolitik will, muß sich frühzeitig für die Ergänzung der Marktdynamik um demokratisch bestimmte industriepolitische Ansätze inbesondere auch mit sozialer und ökologischer Prioritätensetzung einsetzen.Das — an Ihre Adresse zur Rechten gerichtet — ist eine der entscheidenden Lehren aus diesem Jammerstück,
das Bundeshaushalt 1993 heißt.
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10386 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Einzelplan 08, den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Wer stimmt für den Einzelplan 08 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 08 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 32, Bundesschuld, in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch der Einzelplan 32 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und die Stimmen der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 60, Allgemeine Finanzverwaltung. Dazu liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie zwei Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/3816? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie soeben ist dieser Änderungsantrag angenommen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3794? — Gegenprobe! — Bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Koalitionsfraktionen ist dieser Antrag bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Herrn Dr. Briefs abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3800? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion abgelehnt.Wer stimmt für den Einzelplan 60 in der Ausschußfassung mit der beschlossenen Änderung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den vorhin schon festgestellten Mehrheitsverhältnissen ist der Einzelplan 60 angenommen.Wer stimmt für den Einzelplan 20, Bundesrechnungshof, in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung von Herrn Dr. Briefs und Gegenstimmen aus PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der Einzelplan 20 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion angenommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen jetzt zu einer Reihe weiterer Abstimmungen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte I a bis I f sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:I. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht— Drucksache 12/3628 — Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnungb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Gesetze— Drucksache 12/3630 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaftc) Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInternationale Initiative zur Rettung bedrohter Menschenleben— Drucksache 12/3660 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschußd) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDInternationale Initiative zur Rettung bedrohter Menschenleben— Drucksache 12/3700 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuße) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr, R. Werner Schuster, Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEuropäische Entwicklungszusammenarbeit— Drucksache 12/3647 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
EG-Ausschußf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Ilja Seifert und der Gruppe der PDS/Linke Liste Erarbeitung eines ökologischen integrierten Gesamtverkehrskonzeptes für die Bundesrepublik Deutschland— Drucksache 12/3736 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP1 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen an das Gemeinschaftsrecht sowie zur Änderung anderer Gesetze
-- Drucksache 12/3773 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für VerkehrEG-AusschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10387
Vizepräsident Helmuth BeckerZP2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zollrechtsänderungsgesetzes— Drucksache 12/3734 — Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß RechtsausschußAusschuß für WirtschaftEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Der Änderungsentwurf zum Gesetz über das Bundesverfassungsgericht soll zusätzlich an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind diese Überweisungen einstimmig beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte IIa sowie IIc bis IIn auf:Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes— Drucksache 12/3566 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses
— Drucksache 12/3741 — Berichterstattung:Abgeordnete Johannes Ganz
Heinz-Alfred Steinerbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/3756 — Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Werner Müller
Carl-Ludwig ThieleHorst Jungmann
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Mai 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche— Drucksachen 12/3379, 12/3539 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 12/3640 — Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus Rose Dr. Christoph ZöpelUlrich Irmerbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/3644 — Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus RoseDr. Sigrid HothErnst Waltemathe
d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Fischwirtschaftsgesetzes— Drucksache 12/3378 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 12/3638 — Berichterstattung:Abgeordneter Matthias Weisheit
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Walter Kolbow, Hans Gottfried Bernrath, Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWehrtechnische Zusammenarbeit mit Israel— Drucksachen 12/2494, 12/3793 — Berichterstattung:Abgeordnete Walter KolbowThomas Kossendeyf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Büttner (Ingolstadt), Brigitte Adler, Gerd Andres und weiterer Abgeordneter Zuckerrübentransport auf die Schiene— Drucksachen 12/2772, 12/3567 — Berichterstattung:Abgeordneter Karl Stockhauseng) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anderung der Richtlinie 85/73/EWG über die Finanzierung der Untersuchungen und Hygienekontrollen von frischem Fleisch und Geflügelfleisch— Drucksachen 12/2257 Nr. 3.34, 12/3637 — Berichterstattung:AbgeordneterDr. Rudolf Karl Krause
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10388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Vizepräsident Helmuth Beckerh) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag über eine Richtlinie des Rates über Lebensmittelhygiene— Drucksachen 12/2257 Nr. 3.59, 12/3639 —Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Koltzschi) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Fünfundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/3143, 12/3652 — Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmannj) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 616 31 — Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit —— Drucksachen 12/3354, 12/3655 — Berichterstattung:Abgeordnete Karl DillerDr. Gero PfennigIna Albowitzk) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel apl. 652 12 — Beseitigung von Folgen der Dürreschäden in Nord- und Ostdeutschland im Jahre 1992— Drucksachen 12/3360, 12/3663 — Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus KalbDr. Sigrid HothErnst Kastning1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD KSZE-Parlamentarierversammlung— Drucksachen 12/2893, 12/3672 — Berichterstattung:Abgeordnete Manfred Richter
Johannes SingerDr. Wolfgang Freiherr von Stettenm) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Vierundzwanzigste Verordnung zur Anderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/3125, 12/3749 — Berichterstattung:Abgeordneter Josef Grünbeck n) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 80 zu Petitionen— Drucksache 12/3708 —Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zunächst zum Punkt II a der Tagesordnung, zur zweiten und dritten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes auf Drucksache 12/3566. Der Verteidigungsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3741, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste sowie des Kollegen Briefs ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen,Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen ist dieser Gesetzentwurf angenommen.Punkt II c der Tagesordnung: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche, Drucksache 12/3379. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3640, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Punkt II d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fischwirtschaftsgesetzes, Drucksachen 12/3378 und 12/3638. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung des Kollegen Briefs ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei gleichen Stimmverhältnissen wie vorher ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt II e: Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur wehrtechnischen Zusammenarbeit mit Israel. Es handelt sich um die Drucksachen 12/2494 und 12/3793. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Fraktion der SPD, einige Stimmen aus der F.D.P. — Gegenprobe! — Es gibt keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Es
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10389
Vizepräsident Helmuth Beckergibt zwei Enthaltungen. Dann ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt II f: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Büttner , Brigitte Adler, Gerd Andres und weiterer Abgeordneter zum Zuckerrübentransport auf der Schiene, Drucksachen 12/2772 und 12/3567. Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt den Antrag abzulehnen. Wer ist für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen mit Ausnahme der Stimme des Kollegen Michael Glos angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt II g: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu einem Richtlinienvorschlag zur Finanzierung der Untersuchungen und Kontrollen von Fleisch, Drucksache 12/3637. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe? — Stimmenthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt II h: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu einem Richtlinienvorschlag der EG über Lebensmittelhygiene, Drucksache 12/3639. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung des Kollegen Briefs ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt Il i: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu einer Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, Drucksachen 12/3143 und 12/3652. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Gruppe PDS/ Linke Liste und des Kollegen Briefs ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt II j und II k: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen und einer außerplanmäßigen Ausgabe, Drucksachen 12/3655 und 12/3663. Es handelt sich um den Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit und um eine Ausgabe zur Beseitigung von Folgen der Dürreschäden in Nord-und Ostdeutschland.Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über beide Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Wer stimmt für die beiden Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Gegenstimme aus der CDU/CSU-Fraktion ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt IIl: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur KSZE-Parlamentarierversammlung, Drucksachen 12/2893 und 12/3672 .Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt IIm: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu einer Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, Drucksachen 12/3125 und 12/3749. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste und des Kollegen Briefs ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt II n: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/3708. Es handelt sich um die Sammelübersicht 80. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort.Ich rufe auf:Einzelplan 11Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung— Drucksachen 12/3511, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd StrubeIna AlbowitzDr. Gero PfennigDazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/ Linke Liste vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Sobald die notwendige Ruhe hergestellt ist, möchte ich die Aussprache gern eröffnen. — Das ist jetzt der Fall.Als erstem erteile ich das Wort unserem Kollegen Karl Diller.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Tage schrieb der Parlamentarische Staatssekretär im Arbeitsministerium über die Lage: Das Sozialprodukt geht zurück, die öffentlichen Haushalte explodieren, die Realeinkommen von Arbeitnehmern und Rentnern sinken. In der Arbeitlosenversicherung droht ein Defizit in Milliardenhöhe. Die Rentenversicherung geht Zahlungsschwierigkeiten entgegen. —
Zugegeben, Herr Minister: Er meinte die Lage zu Beginn Ihrer Amtszeit; aber es ist ziemlich genau auch die Lage nach zehn Jahren Minister Blüm, meine Damen und Herren.
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10390 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Karl DillerDeshalb ist es kein Wunder, daß dieses Dienstjubiläum mehr im verborgenen gewürdigt wurde; denn zehn Jahre Minister Blüm sind aus der Sicht der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften zehn Jahre Sozialabbau,
zehn Jahre nicht eingelöster Versprechen — ich erinnere beispielhaft an sein erstes Versprechen, binnen einem Jahr eine Million Arbeitslose wieder in Arbeit und Brot zu bringen —, zehn Jahre Umverteilung von unten nach oben, zehn Jahre ungerechte Belastung der kleinen Leute, zehn Jahre großer Sprüche — der größte war der vom Jahrhundertwerk Gesundheitsreform — und zehn Jahre enttäuschter Hoffnungen.Wenn ihm einmal etwas gelang, dann unter Mitwirkung der SPD, wie bei der Rentenreform 1992.
Daran sollte er sich erinnern, wenn er eine neue Pleite, diesmal bei der Pflegeversicherung, vermeiden will. Die Koalitionslösung ist nämlich eine Null-Lösung, weil der wichtigste Teil, der Finanzierung, fehlt. Seit mehr als einem Jahr liegt unser Gesetzentwurf zur Einführung einer Pflegeversicherung vor. Er wird von Experten und Betroffenen als richtige und sozialverträgliche Lösung gelobt.Herr Minister, im Interesse von eineinhalb Millionen Pflegebedürftigen und ihrer sie pflegenden Angehörigen fordere ich Sie auf: Beenden Sie den Streit in der Koalition um die Finanzierung! Geben Sie Ihren Abgeordneten die Abstimmung frei! Dann haben wir schon im nächsten Jahr — und nicht erst 1996, wie Sie wollen — eine gesetzliche Pflegeversicherung in diesem Land.
Zehn Jahre Blüm als Sozialminister sind auch Jahre, in denen die Armut im Westen Deutschlands unaufhörlich stieg. Das uns gerade zugestellte Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes belegt das mit erschrekkenden Zahlen. Zu Beginn Ihrer Amtszeit, Herr Minister, gab es 1,5 Millionen, 1990 im Westen Deutschlands 2,9 Millionen, mithin fast doppelt so viele Menschen, die der Hilfe zum Lebensunterhalt bedurften.Dem dramatischen Anstieg der Zahl von armen Menschen folgte parallel ein dramatischer Anstieg der Kosten für die Hilfe zum Lebensunterhalt. Wer aber die Armut in Deutschland bekämpfen will, muß etwas gegen die Ursachen der Armut tun
und darf nicht, wie die Bundesregierung es will, die Geldleistungen drastisch kürzen oder für Jahre einfrieren. Nur einer Regierung der sozialen Kälte kann eine solche Lösung einfallen.
Ursache für die Armut ist z. B. das Vorhandensein mehrerer Kinder in einer Familie.
Der Grund: Der derzeitige Familienlastenausgleich ist zutiefst ungerecht. Von den Kinderfreibeträgen hat jemand mit hohem Einkommen in D-Mark dreimal soviel wie der normale Lohnbezieher.
Auch das Ehegattensplitting bevorzugt mit Steuerersparnisbeträgen bis zu 23 000 DM die Besserverdienenden. Deshalb will die SPD ein Steuerrecht, das nicht den Besitz eines Trauscheins, sondern das Vorhandensein von Kindern in der Familie steuerlich entsprechend fördert.
Ursache für Armut ist z. B. das Alter und damit einhergehend der Bezug einer die täglichen Kosten nicht deckenden Rente. Armut im Alter ist eine bittere Erfahrung, die Millionen Menschen — übrigens auch im Westen dieses Landes — trotz eines arbeitsreichen Lebens machen müssen und die sie in ihrem Lebensgefühl zutiefst verletzt.Die SPD hält trotz der kürzlich erfolgten Ablehnung unseres Antrages durch die Koalition daran fest, daß wir zu der Rentenreform 1992 noch eine zusätzliche steuerfinanzierte soziale Grundsicherung brauchen, mit der man dann ohne den Gang zum Sozialamt im Alter in Würde leben kann.
Ursache für Armut ist z. B. auch die Arbeitslosigkeit, Herr Minister, weil sie die bisherige Lebensplanung der Menschen umwirft und im Falle von langanhaltender Arbeitslosigkeit in massive Verschuldung führt. Die Perspektiven für 1993 müßten deshalb Sie als Minister für Arbeit alarmieren. Die bundesdeutschen Flaggschiffe unserer Industrie — Automobilindustrie, Chemie, Maschinenbau — kündigen einen massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen an. Großfirmen ziehen ihre Zusagen für Investitionen in Milliardenhöhe im Osten zurück. Die Bundesbank meldete dieser Tage, daß die westdeutsche Wirtschaft ihre Milliardengewinne lieber in Theo Waigels hochverzinslichen Schuldverschreibungen anlegt, anstatt sie im eigenen Unternehmen zu investieren.
In der Tat, Theo Waigels Politik der hemmungslosen Staatsverschuldung und der sozial ungerechten Steuerpolitik kostet massenhaft Arbeitsplätze. Seine Mehrwertsteuererhöhung mit Beginn des nächsten Jahres wird in Milliardenhöhe Kaufkraft wegnehmen. Die gleichzeitige Senkung der Vermögensteuer zugunsten der Vermögenden wird aber von diesen wegen der eingeschränkten Kaufkraft der Konsumenten nicht in neue Produktionsanlagen und damit Arbeitsplätze investiert, sondern bei der Bundesschul-
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Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10391
Karl Dillerdenverwaltung oder gar in Luxemburg, übrigens extrem steuersparend, angelegt.
Theo Waigel, der Arbeitsplatzvernichter! Und Blüm? Beiden Ministern habe ich im Ausschuß am gleichen Tage nacheinander folgende Frage vorgelegt: Was beabsichtigen Sie zu tun angesichts der Tatsache, daß in den wichtigen Branchen Stahl, Auto, Maschinenbau, Chemie, Computer Massenentlassungen angekündigt, Investitionsvorhaben in Milliardenhöhe gestrichen werden und im übrigen das Programm „Aufschwung Ost" der Regierung ausläuft? Wie und in welchem Umfang wollen Sie gegensteuern? Denn nach dem hier zur Beratung anstehenden Haushaltsplanentwurf sind Treibenlassen und Nichtstun die zwangsläufige Folge, wären aber ein ganz und gar unverantwortliches Verhalten.
Die Antwort von Waigel war unpräzise und unbefriedigend. Er machte allgemeine Andeutungen über ein bald notwendiges „FKK" — „föderales Konsolidierungskonzept" —; konkrete Angaben über das Volumen in D-Mark wollte er aber nicht nennen. Unbefriedigend, weil vom Volumen her absolut unzureichend, waren seine Angaben über eine Aufbauhilfe Ost in Höhe von 1,5 Milliarden DM. Seine Regierungserklärung von heute nachmittag ist das verspätete Eingeständnis einer im übrigen die Bestimmungen der Verfassung verletzenden Nichtveranschlagung notwendiger Veränderungen im Haushalt.Von dem Volumen, das Sie angekündigt haben, Herr Waigel, erfüllen Sie bei weitem nicht die Forderungen der ostdeutschen CDU-Kollegen. Mal sehen, was sie bei der Schlußabstimmung über den Haushalt machen. Und es bleibt dabei: Wer sich die Vorlage von Herrn Carstens an den Haushaltsausschuß über die finanziellen Transferzahlungen für Ostdeutschland anschaut, wird feststellen, daß das, was der Haushalt jetzt ausweist, bedeutet, daß diese Regierung verantwortet, daß von diesem auf das nächste Jahr die finanziellen Transferleistungen für Ostdeutschland massiv, nämlich in Milliardenhöhe, zurückgehen: von 126 auf 111 Milliarden DM. Das kann nicht die richtige Politik sein.Die Antwort von Herrn Blüm war die Antwort eines Ministers, der die Größe der Herausforderung zwar erkennt, ihr aber nicht mit geeigneten Instrumenten begegnen will, sondern sich — es tut mir leid, das deutlich ansprechen zu müssen, Herr Blüm — ins Tricksen, Verschieben und Gesundbeten flüchtet.
Gesundbeten ist es nämlich, anzunehmen, daß die Arbeitslosenzahlen im Osten im nächsten Jahr um 180 000 zurückgehen würden — damit übrigens genau in dem Maße, in dem die Arbeitslosigkeit im Westen ansteigen soll. Tricksen und Verschieben ist es, auf Kosten der Rentenkasse die Kassenlage derBundesanstalt für Arbeit um 2,5 Milliarden DM zu verbessern.
In diesem Jahr rutscht der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit jeden Monat um jeweils eine weitere Milliarde immer tiefer ins Defizit, und dies, Herr Blüm — das müßte Sie alarmieren —, obwohl die Zahl der Erwerbstätigen nicht zurückgeht, sondern gegenüber dem Vorjahr noch gestiegen ist. Was wird erst sein, wenn sie, weil die Bundesregierung nicht genügend gegensteuert, sinkt? In diesem Jahr wird am Ende der Bund ein Defizit der Nürnberger von 12 Milliarden DM abdecken müssen.Die von der Koalition für 1993 ergriffenen Maßnahmen sind vom Volumen her unzureichend, vom Inhalt her in wichtigen Punkten absolut falsch. Sie sind unzureichend, weil 7 Milliarden DM Einsparungen durch die AFG-Novelle und 2,5 Milliarden DM Mehreinnahmen zu Lasten der Rentenkasse, wenn ich das jetzt nur rein finanziell betrachte, bei weitem nicht genug abdecken würden. Und sie sind falsch, weil wesentliche Kürzungen im AFG mindestens 150 000 zusätzliche Arbeitslose produzieren werden, die also nicht Kosten einsparen, sondern zusätzliche Kosten bei der Arbeitslosenhilfe und bei den Gemeinden und ihrer Sozialhilfe verursachen werden.
Sie sind im übrigen falsch, weil die Verschiebung zu Lasten der Rentenkassen höchstens ein Jahr gutgeht und im übrigen 1994 dann einen Beitragssatzsprung von 17,5 auf dann 18,6 % notwendig macht.Geradezu hilflos zeigte sich Minister Blüm jedoch, als sich seine Parteifreunde und die F.D.P. im Haushaltsausschuß über den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit hermachten und neben einem Stopp für Neubaupläne für Arbeitsämter ein — es ist zum Haareraufen! — mehrjähriges Festfrieren des Stellenplans als zwingende Auflage für den ministeriellen Genehmigungsbescheid für den Haushalt der Bundesanstalt beschlossen. CDU/CSU und F.D.P. haben damit zu verantworten, daß bei steigenden Arbeitslosenzahlen und damit erhöhtem Arbeitsaufwand im Westen Tausende von Stellen dennoch abgebaut werden müssen, wenn der Aufbau im Osten wie geplant, nämlich 1 300 zusätzliche Stellen für Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung, 2 900 zusätzliche Stellen für den Aufbau der Leistungsabteilungen im Osten, vorangehen soll. Wenn Sie das wollen, müssen Sie also über 4 000 Menschen aus dem Westen abziehen. Das wird in dieser Situation kein gutes Ende nehmen, sondern möglicherweise chaotische Verhältnisse in den Arbeitsämtern im Westen auslösen.Übrigens war ein Teil der neuen Stellen eigentlich für allseits gewünschte neue Aufgaben geplant, nämlich die stärkere Kontrolle der Werkvertragsarbeitnehmer und die Bekämpfung illegaler Beschäftigungsverhältnisse.
Wenn die Koalition an ihrem unsinnigen Beschlußfesthält, verantwortet sie, daß die Arbeitsverwaltung
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10392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Karl Dillerdiesen beiden neuen zentralen Aufgaben nicht nachgehen kann. Damit verantworten Sie, daß Arbeitnehmer Konkurrenzsituationen ausgesetzt sind und zu unwürdigsten Bedingungen beschäftigt werden.
Sie verantworten auch, daß Betriebe, die ihre Arbeitnehmer ordentlich entlohnen, in eine verzerrte Wettbewerbssituation hineingelangen und deshalb existenzgefährdenden Situationen ausgesetzt sind. Deshalb sollten Sie diesen Beschluß schleunigst zurücknehmen. Das heißt, ich fordere den Minister auf, diesem Beschluß, Aufforderung der Koalition im Haushaltsausschuß, bei der Genehmigung des Haushalts nicht Folge zu leisten.
In dieser konjunkturell schwierigen Situation nur im Instrumentenkasten der klassischen Wirtschaftsförderung zu kramen, wie dies Waigel heute ankündigte, ist einfach zuwenig. Gefordert ist eine — das wird mein Kollege Ottmar Schreiner bestätigen —
aktive Arbeitsmarktpolitik, ein stimmiges Konzept für ein Zukunftsinvestitionsprogramm Ost und vor allem auch ein gerechtes und sozialverträgliches Schultern dieser finanziellen Lasten.
Unsere Vorschläge hierzu haben wir schon lange vorgelegt. Sie wurden bisher abgelehnt. Daß die Regierung heute ankündigt, wenigstens ein Detail unserer Vorschläge aufzugreifen, nämlich die Investitionszulage, ist begrüßenswert und läßt uns hoffen, daß Sie bald auch unsere übrigen Vorschläge zum Zukunftsprogramm Ost aufgreifen. Diese nenne ich in Stichworten.Erstens. Die Treuhandanstalt braucht einen gesetzlichen Auftrag zur Sanierung ostdeutscher Betriebe, sonst droht die Verödung ganzer Regionen,
und dann hat man keinen einzigen nennenswerten Industriebetrieb mehr.Zweitens. Es sind Instrumente zu entwickeln, mit denen der Absatz ostdeutscher Produkte gerade in ihren früheren Märkten Mittel- und Osteuropas gesichert wird.
Drittens. Die für den Aufschwung im Osten tödliche Doktrin der Regierung, nämlich Rückgabe vor Entschädigung zu praktizieren, gehört in den Papierkorb.
Wir brauchen Vorfahrt für Investitionen in diesem Land.Viertens. Unser Antrag „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" ist Schritt für Schritt umzusetzen.
Statt Menschen zum Nichtstun zu verurteilen und sie dafür zu bezahlen, müssen wir sie in Qualifizierungsgesellschaften zu neuen Jobs befähigen, in Beschäftigungsgesellschaften sinnvolle Aufgaben der Umweltsanierung und der regionalen Strukturverbesserung erledigen lassen.Fünftens. Wir denken, daß die Zeit gekommen ist, das 20jährige AFG zu einem Arbeits- und Strukturförderungsgesetz weiterzuentwickeln, das den neuen Herausforderungen gerecht wird.
Dies geht — damit komme ich auf Ihren Einwand — nicht ohne neue Finanzierungsinstrumente. Was die Koalition bisher macht, ist absolut ungerecht. Bisher tragen die Beitragszahler für die Bundesanstalt die finanzielle Hauptlast. Es ist höchste Zeit, daß unser Vorschlag umgesetzt wird, zur solidarischen Mitfinanzierung der Arbeitsmarktpolitik Ost auch Beamte und Freiberufler, Minister und Abgeordnete
zu einer Arbeitsmarktabgabe und die Höherverdienenden und Unternehmer zu einer Ergänzungsabgabe heranzuziehen.
Aktive Arbeitsmarktpolitik muß sich gerade in dieser Zeit um zwei Gruppen von Arbeitnehmern besonders kümmern. Da sind zum einen die Langzeitarbeitslosen. Wir kritisieren aufs schärfste, daß die Koalition im Haushaltsausschuß unserem Antrag, die Mittel aufzustocken und das Programm mit 174 Millionen DM in den nächsten Jahren fortzusetzen, also die unselige Befristung des Programms aufzuheben, nicht zugestimmt hat. Herr Blüm, private Träger für die Umsetzung des Programms lassen sich nur finden, wenn die unselige Befristung aufhört und man nicht die Sorge haben muß, daß das, was man zugunsten der Beschäftigung und Betreuung von Langzeitarbeitslosen aufbaut, nach zwei Jahren wieder restlos gestrichen werden muß.
Zum zweiten bedürfen in dieser Zeit die ausländischen Arbeitnehmer unserer besonderen Aufmerksamkeit. Seit Jahren kritisieren wir die fortgesetzte Kürzung von Mitteln zur Beratung und Betreuung. Daß wir in diesem Jahr eine weitere Kürzung verhindern, ja, eine Erhöhung der Projektmittel um 2 Millionen DM erreichen konnten, will ich anerkennen. Der Aufgabenstellung insgesamt werden Sie damit jedoch nicht gerecht, denn die wachsende Ausländerfeindlichkeit in bestimmten Teilen unserer Gesellschaft trifft auch unsere ausländischen Arbeitnehmer, wie wir gerade dieser Tage schmerzlich erleben mußten. Hier sind Sie, verehrte Frau Kollegin, als Ausländerbeauftragte der Bundesregierung in besonderer Weise gefordert.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10393
Karl DillerEs bleibt abschließend festzustellen, daß die SPD in einigen Punkten bei den Haushaltsberatungen auch erfolgreiche Anträge stellte. So wurde meinem Antrag, die Mittel für die Förderung von Modellprojekten zur beruflichen und medizinischen Rehabilitation um 5 Millionen DM aufzustocken, ebenso einvernehmlich gefolgt wie meinem Antrag, die Mittel zur Beratung mittel- und osteuropäischer Staaten bei der Reform ihrer Systeme der sozialen Sicherung und der Arbeitsförderung zu erhöhen. Dafür danke ich den Mitberichterstattern aus den Reihen der Koalition. Ich nenne insbesondere Hans-Gerd Strube und Ina Albowitz.
Zehn Jahre Minister Blüm — daran erinnerte ich eingangs. Kürzlich war ich bei ihm im Ministerium zu Besuch
— ja —, da zeigte er mir die Ahnengalerie seiner Vorgänger.
Er meinte im Spaß, daß nicht mehr viel Platz für Fotos an der Wand sei.
Sehr geehrter Herr Minister Blüm, nicht das Platzproblem an der Wand ist wichtig, entscheidend ist, welche sozial- und arbeitsmarktpolitischen Taten sich mit den Bundesministern für Arbeit- und Sozialordnung bei den Betrachtern der Fotos verbinden.
Bei Walter Arendt von der SPD — Ausbau der Mitbestimmung, Betriebsverfassung und Renten und Hans Katzer von der CDU/CSU — Arbeitsförderungsgesetz und arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung —, um nur zwei zu nennen, sind die Assoziationen eindeutig positiv. Was sich mit Herrn Blüm verbindet, kann man allmonatlich in den Meinungsumfragen lesen:
Minuswerte, bestenfalls Nullen.
Herr Blüm, es gibt also viel zu tun, das trübe Bild etwas aufzuhellen. Sie müssen sich aber sputen, denn Ihre Amtszeit geht zu Ende.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Hans-Gerd Strube.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! LieberKollege Diller, ich möchte Ihre Eingangsworte aufgreifen und ähnlich formulieren wie Sie: Zehn Jahre Norbert Blüm sind zehn Jahre blühender Sozialstaat,
in denen Hunderttausende aus fremden Völkern jährlich zu uns kommen, um die Massenarmut mit uns zu teilen. Zehn Jahre Norbert Blüm bedeutet für mich aber auch zehn Jahre eine verkniffene und gestreßte SPD,
die wegen ihrer Unglaubwürdigkeit in der Sozialpolitik ihren Bonus selbst bei den Arbeitern mittlerweile verspielt hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte — das ist unumstritten — erfordert einen energischen Sparkurs. Unsere Philosophie lautet dabei: Sparen und Gestalten,
Qualität vor Quantität.
Dies muß auch in der Sozialpolitik gelten. Soziale Verantwortung beinhaltet auch, daß Sozialleistungen finanzierbar sind. Es kann eben nur verteilt werden, was zuvor erwirtschaftet wurde,
Dies ist eine alte Weisheit, die aber nicht häufig genug wiederholt werden kann.Unser Sparkurs sieht keineswegs einen Sozialabbau vor, auch wenn bestimmte Kritiker dies der Bundesregierung vorwerfen. Zur Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme werden auch 1993 erhebliche Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt, und zwar mehr, meine Damen und Herren, als jemals zuvor in der deutschen Geschichte.
Der Haushalt des Bundesarbeitsministers, über den wir hier sprechen, ist mit deutlichem Abstand der größte Einzelplan im Bundeshaushalt. Für 1993 weist er ein Volumen von 98,7 Milliarden DM auf und ist damit fast doppelt so groß wie der Verteidigungshaushalt. Die Steigerungsrate ist mit 8,7 % mehr als dreimal so hoch wie die des Gesamthaushalts.
Die Schwerpunkte im Einzelplan für das Haushaltsjahr 1993 sind Leistungen an die Sozialversicherung, insbesondere Zuschüsse an die Rentenversicherung
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10394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Hans-Gerd Strubemit 66,3 Milliarden DM. Dies sind mehr als zwei Drittel der Gesamtausgaben im BMA-Haushalt. Gegenüber 1982, als die SPD in den letzten Zügen lag, haben sich damit die Leistungen an die Sozialversicherung mehr als verdoppelt. Damals waren es 32,3 Milliarden DM.Die Aufwendungen für die Arbeitsmarktpolitik aus dem Einzelplan 11 belaufen sich auf 17,3 Milliarden DM. Das ist mehr, als das Haushaltsvolumen des Wirtschaftsministers ausmacht; dem stehen 15,4 Mil-harden DM zur Verfügung.
Insgesamt aber geben wir 1993 für die Arbeitsmarktpolitik 34 Milliarden DM aus.Die Ausgaben für die Kriegsopfer erreichen 1993 eine Höhe von 13,6 Milliarden DM. Das entspricht — um im Vergleich zu bleiben — fast dem Volumen des Etats des Landwirtschaftsministers.Auf diese drei Ausgabenblöcke entfallen allein 98,5 % des gesamten BMA-Haushalts für 1993. Lediglich 1,5 %, das sind in diesem Fall ca. 1,5 Milliarden DM, stehen für andere Ausgaben — z. B. für Modellprogramme, Baumaßnahmen oder Verwaltungs- und Personalausgaben — zur Verfügung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in einer Zeit, in der die Finanzmittel knapp sind und riesige Summen für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland noch für lange Zeit benötigt werden, müssen die Prioritäten neu gesetzt werden. Gerade in der heutigen Zeit müssen wir prüfen, ob wir an einer Stelle Mittel einsparen können, um sie an anderer Stelle noch effektiver einsetzen zu können.
Das ist gelegentlich sehr unpopulär, aber verantwortliche Politik und verantwortliche Politiker dürfen nicht nach den Gesichtspunkten der Popularität handeln, sondern haben nach Notwendigkeit zu entscheiden. Wo es nötig ist, haben wir finanziell umzuschichten.Diese Philosophie war für uns maßgebend, als wir uns zur Beitragsänderung in der Renten- und Arbeitslosenversicherung entschlossen haben. Der Beitragssatz bei der Bundesanstalt für Arbeit wird auf ein Jahr befristet um 0,2 Prozentpunkte angehoben, um den erhöhten Finanzbedarf der Bundesanstalt infolge der veränderten gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten decken zu können. Gleichzeitig wird angesichts der hohen Liquiditätsmittel der Beitragssatz der Rentenversicherung entsprechend gesenkt.Per saldo — dies ist eine wichtige Nachricht für Wirtschaft und Beitragszahler — erfolgt keine Erhöhung der Lohnnebenkosten und der Abgabenbelastung.
— Wir sprechen hier über den Haushalt 1993, Herr Kollege. — Diese Beitragsoperation ist eine sachgerechte Entscheidung. Es wird darauf verzichtet, Finanzmittel dort anzuhäufen, wo sie aktuell nicht benötigt werden, nämlich in der Rentenversicherung.Gleichzeitig werden dort Mittel verfügbar gemacht, wo Defizite zu erwarten sind, und zwar in der Arbeitslosenversicherung. Ohne die Beitragssatzsenkung würde sich Ende 1993 die Schwankungsreserve der Rentenversicherung auf über 30 Milliarden Deutsche Mark belaufen. Die vorgeschriebene Mindestreserve von einer Monatsausgabe wäre damit um fast '7 Milliarden DM überschritten. Auch nach der Beitragssatzsenkung wird mit fast 30 Milliarden DM die erforderliche Mindestreserve deutlich sichergestellt sein.Wenn jetzt in der Öffentlichkeit zu hören ist, die Beitragssatzsenkung in der Rentenversicherung gefährde die Sicherheit der Renten, so halte ich dies für eine unverantwortliche Panikmache. Tatsache ist: Eine Veränderung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung hat keinerlei Einfluß auf die Rentenberechnung und damit auf die Höhe der Renten. Das gleiche gilt für die Höhe der Rentenanpassung 1993. Die von uns vorgenommene Beitragsänderung ist insgesamt belastungsneutral. Deshalb hat dies auch keine Auswirkung auf die Rentenerhöhung, bei der seit der Rentenreform auch die Abgabenbelastung der Beitragszahler zu berücksichtigen ist.Meine Damen und Herren, wir waren es, die durchgesetzt haben, daß seit 1986 endlich auch die Kindererziehung in der Rentenversicherung anerkannt wird. Dies ist ein Beispiel dafür, daß sich der Sozialstaat ständig weiterentwickelt. Die Anerkennung der Leistung der Kindererziehung ist eine Überlebensgarantie für die Rentenversicherung. Derzeit erhalten über 5,5 Millionen Personen Kindererziehungszeiten bei der Rente anerkannt. Dafür werden jährlich mehr als 5 Milliarden DM bereitgestellt. Seit 1986 sind für Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung insgesamt rund 20 Milliarden DM ausgegeben worden.Meine Damen und Herren, unsere solidarische Rentenpolitik zeigt sich auch in der Verantwortung für die Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland. Durch die letzte Rentenanpassung zum 1. Juli 1992 ist die verfügbare Eckrente in den neuen Bundesländern auf 62,3 % der verfügbaren Eckrente in den alten Bundesländern gestiegen. Die verfügbare durchschnittliche Versichertenrente hat sich damit gegenüber Juni 1990 faktisch verdoppelt. Zum 1. Januar 1993 wird eine weitere Rentenanpassung um 6,1 % erfolgen,
so daß das Verhältnis der verfügbaren Eckrente Ost zu derjenigen im Westen auf rund 66,1 % steigt.
Die durchschnittliche Versichertenrente wächst damit gegenüber dem 30. Juni 1990, dem Tag vor Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, um 110 %. Das schlägt sich auch in den Rentenausgaben nieder. Während 1989 in der ehemaligen DDR 16,7 Milliarden Ostmark für Rentenzahlungen ausgegeben wurden, werden es 1993 insgesamt 53,5 Milliarden DM sein. Das ist mehr als eine Verdreifachung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10395
Hans-Gerd StrubeDies zeigt: Wir haben die Weichen zur sozialen Einheit in Deutschland richtig gestellt.
Es war mir wichtig, zu verdeutlichen, daß die Renten in West und Ost sicher sind. Ich wollte alle jene bloßstellen, die es nicht lassen können, ihr Geschäft mit der Angst zu machen.
Unsere Renterinnen und Rentner verdienen unsere Solidarität. Sie können sich auf uns verlassen.
Die Renten werden nicht zur Disposition gestellt.Meine Redezeit reicht leider nicht, um zum Thema Arbeitsmarkt weitere Aussagen zu machen. Ich darf daher nur noch folgendes feststellen:Alles in allem dokumentiert der BMA-Haushalt 1993: Diese Bundesregierung und die sie tragenden Bundestagsfraktionen werden dem Anspruch gerecht, soziale Gerechtigkeit zu bewahren, soziale Einheit zu vollenden und neue soziale Herausforderungen zu meistern.Ich bedanke mich bei meinen Mitberichterstattern, die mit mir den Haushalt beraten haben. Selbstverständlich bedanke ich mich auch bei meinem Kollegen Diller und bei meiner Kollegin Albowitz. Wir haben sachlich und fair zusammengearbeitet. Ich bedanke mich bei den Beamten des Bundearbeitsministers und des Bundesfinanzministeriums.Ich darf hier erklären: Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zu.
Es spricht unsere Kollegin Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erstmals diskutieren wir unmittelbar nach den Finanzen, also in herausgehobener Position, den Sozialhaushalt, wenn auch, auf Grund der technischen Schwierigkeiten heute morgen, keineswegs mitten am Tag. Ich begrüße diese ungewohnte Reihenfolge, weil sie der Bedeutung der Sozialpolitik gerecht wird. Schließlich beraten wir mit dem Einzelplan 11 den vom Finanzvolumen her mit 98,7 Milliarden DM größten Einzelplan.Wir alle wissen, daß ein dickes Sozialbudget nicht schon allein der Beweis für gelungene Sozialpolitik sein kann,
schon eher ein Indikator für wachsende Probleme ist. Dies ist deutlich erkennbar, z. B. an der um 3,3 Milliarden DM erhöhten Arbeitslosenhilfe.Es ist im Deutschen Bundestag nicht strittig, daß wir wirtschaftlich schwierigen Zeit entgegengehen und deshalb vor allem klare finanzpolitische Entscheidungen brauchen. In diesen Rahmen hat sich auch dieSozialpolitik einzufügen. Gleichzeitig gilt es aber, mit Instrumenten der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Härten der Marktwirtschaft abzufedern, und zwar in erster Linie bei der schwierigen Umstellung der Planwirtschaft auf eine soziale Marktwirtschaft im Osten Deutschlands.Ich nenne beispielhaft das Altersübergangsgeld. Es ermöglicht immerhin mehr als 500 000 Personen, vorzeitig aus dem Arbeitsleben auszuscheiden und damit den Arbeitsmarkt zu entlasten. Von den Bedenken, die auch ich habe, leistungsfähige und -willige Beschäftigte schon mit 55 Jahren in die Frührente zu schicken, will ich einmal nicht reden, sondern davon, daß damit einer großen Anzahl von Menschen die Arbeitslosigkeit erspart bleibt und ihnen finanziell geholfen werden kann. Dem Bund werden daraus ab 1994 Belastungen von immerhin 3 Milliarden bis 6 Milliarden DM pro anno auferlegt. Die Bundesanstalt für Arbeit übernimmt in den ersten 32 Monaten die Kosten.Wir haben hier schon über die Novellierung des AFG beraten. Ich habe damals den Appell an die Bundesländer gerichtet, das Gesetz nicht scheitern zu lassen. Jetzt ist im Vermittlungsausschuß ein Vorschlag, den der Deutsche Bundestag in seiner Mehrheit angenommen hat. Ich wiederhole meinen Appell an die Bundesländer, diesen Vorschlag im Vermittlungsausschuß passieren zu lassen,
um so mehr, als dieser Vorschlag drei durchaus vernünftige und sinnvolle Ergänzungen erhält.Erstens sollen jetzt auch die Bezieher von Kurzarbeitergeld, wenn sie eine selbständige Tätigkeit aufnehmen wollen, Überbrückungsgeld erhalten. Diese Regelung soll also nicht mehr nur für diejenigen gelten, die aus der Arbeitslosigkeit heraus einen solchen Schritt wagen. Mir schwebt hierbei noch vor, daß wir auch einmal dazu kommen könnten, die klassischen Qualifikationsmaßnahmen zumindest im Osten für solche Personen zu öffnen, die von vornherein die Absicht haben, sich selbständig zu machen. Diese Maßnahmen sind wirksame Hilfen, um auch im Bereich der Selbständigen die Entstehung von Arbeitsplätzen zu fördern.
Der zweite Vorschlag betrifft die Änderung des § 249h AFG zur Öffnung dieses Modells, das ja auf Maßnahmen im Umweltbereich beschränkt war, für Maßnahmen der Jugendhilfe und der sozialen Dienste. Auch dies halte ich für außerordentlich sinnvoll, nicht zuletzt deswegen, weil davon Frauen profitieren können, die sich ja vor allem auch für diese Art von Arbeit qualifizieren.
Bei der dritten Ergänzung geht es darum, daß für die ABS-Gesellschaften die Kosten der AB-Maßnahmen wieder zu 100 % gefördert werden. Das dürfen Sie aber bitte nicht verwechseln.
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10396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Gisela Babel— Ja, ich bedanke mich, Frau Rennebach, es sind AB-Stellen, deren Inhaber die Arbeitszeit nur zu 80 bezahlt bekommen. Das halte ich nach wie vor für außerordentlich sinnvoll; denn eine AB-Maßnahme soll niemals so attraktiv sein wie der Arbeitsplatz in einem selbständigen Gewerbe.
Insgesamt halten wir insofern die Novellierung des AFG für annehmbar. Ich weise die Polemik der SPD zurück, die davon redet, daß die Kürzung bei AB-Maßnahmen zu einem Anstieg der Zahl der Arbeitslosen um 250 000 führen werde. Das ist eine Polemik, die wir hier nicht brauchen können.
— Ich kann Ihnen das belegen. Es gibt für das Jahr 1992 370 000 bis 400 000 AB-Maßnahmen. Die werden durch unsere Kürzungen auf eine Größenordnung von 350 000 AB-Beschäftigten zurückgefahren; aber es entsteht keineswegs eine Lücke in der Größenordnung von 250 000.Ich will jedoch nicht verhehlen, daß unser ganzes schönes Instrumentarium mit AB- und Qualifikationsmaßnahmen und Beschäftigungsgesellschaften uns nicht vor dem Gefühl der Ohnmacht bewahrt, wenn ganze Industrieareale im Osten zusammenbrechen und ganze Städte ihre Produktionszentren, Arbeitsplatzzentren verlieren. Am Anfang hat auch die F.D.P. gemeint, Privatisierung sei die Zauberformel. Sie wirkt, wie wir sehen, vielerorts nicht.Im Gegenteil, die Bemühungen um Privatisierung belasten Betriebe in ihrem Existenzkampf. Die Treuhand sollte sich deshalb wirksamer als bisher erst einmal bemühen, Produktionsstätten zu erhalten. Selbst der Kanzler spricht seit neuestem von der Notwendigkeit des Erhalts der industriellen Kerne.
Nur — hier unterscheiden wir uns wieder gründlich von der SPD — ist das Ziel nicht der sanierte Staatsbetrieb. Das Ziel ist der sanierte lebensfähige Betrieb, für den sich auch künftig Käufer interessieren sollen.
Ich komme zu einem weiteren sehr kritischen Punkt, nämlich zur Anhebung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung bei gleichzeitiger Senkung der Beiträge für die Rentenversicherung, und zwar um jeweils 0,2 Prozentpunkte. Viele Politiker sagen: Wenn in einem Topf über reichlich und in einem anderen Topf zu wenig ist, dann soll man das ausgleichen; wegnehmen tut man damit niemandem etwas, und die Beitragsstabilität bleibt unter dem Strich gewahrt.Dies alles könnte hingehen, wenn nicht ohnehin in 1994 eine Beitragssatzanhebung, und zwar diesmal auf Grund der demographischen Entwicklung, notwendig wäre. Das Ziel unserer Politik muß auf Stabilität der Beitragssätze und damit auf Stabilität der Lohnnebenkosten gerichtet sein. Die Mehrheit der F.D.P.-Fraktion hat den Veränderungen bei den sich angleichenden Beitragssätzen zugestimmt. Meine Bedenken erhalte ich aufrecht: Es wird in Zukunft verstärkt die Diskussion über die Frage geführt werden, ob zur Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik die Beitragszahler allein herangezogen werden dürfen, ob insbesondere die Umwälzungen der Strukturen im Osten allein Sache der Arbeitslosenversicherung sein kann.
Ich denke, wir werden dieser Frage nicht ausweichen. Vor allem werden wir uns immer wieder überlegen müssen, ob wir die Belastungen des Bundeshaushalts über Sozialversicherungen ausgleichen dürfen.
Ich denke: nein.Zum Schluß möchte ich folgendes festhalten: Die Rentenversicherung hat im Moment hohe Rücklagen. Auch die Senkung des Beitragssatzes um 0,2 Prozentpunkte ändert nichts an dem Satz, daß die Renten sicher sind und sicher bleiben werden.In der Arbeitslosenversicherung haben wir die notwendigen Weichenstellungen vorgenommen, so daß es möglich ist, die Leistungen zu bezahlen und auch ein großes Programm von AB- und Qualifikationsmaßnahmen zu finanzieren.Wir sollten die Zeiten nicht schönreden und nicht über Schwierigkeiten hinweggleiten. Aber eines möchte ich festhalten: Wir haben stabile soziale Gerüste gebaut. Ein Blick auf benachbarte Länder und Kontinente lehrt uns: Soziale Standards, die sich mit unseren messen können, sind rar. Abbau und Einschnitte in Leistungsgesetze gibt es anderswo in größerem Ausmaß und härter.Wenn wir dann noch bedenken, welche unerwartet hohen Ausgaben auf Grund der deutschen Einheit zu bewältigen sind, dann sage ich ohne Vermessenheit: Der Sozialhaushalt verdient unsere Zustimmung.Ich bedanke mich.
Ich erteile der Frau Kollegin Christina Schenk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung kann nach dem Willen der Bundesregierung 1993 knapp 8 Milliarden DM mehr ausgeben als im laufenden Haushaltsjahr — eine Zahl, die Minister Blüm in seiner Rede zur Eröffnung der Haushaltsdebatte am 10. September 1992 in sattsam bekannter Weise als einen großen Fortschritt zu verkaufen versuchte,
immer in der Hoffnung, daß das Jonglieren mit Prozenten und Zuwächsen beeindruckt und genaues Hinsehen verhindert.Sieht man sich den Haushaltsplan genauer an, so ist es in der Tat beeindruckend, was da als Fortschritt verkauft werden soll. Die größte Ausgabensteigerung veranschlagt das Ministerium bei den Leistungen zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit. Für 1993 sind rund 3 Milliarden DM mehr — das ist gegenüber 1992 ein Zuwachs von mehr als einem Drittel — für die Zahlung
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Christina Schenkder Arbeitslosenhilfe vorgesehen. Der Gesetzentwurf bemerkt in der Begründung lakonisch: insbesondere wegen höherer Empfängerzahl. — Ich ergänze: im Beitrittsgebiet.Die Steigerungsrate der Arbeitslosenhilfe ist ein Indikator für die katastrophale Arbeitsmarktsituation im Osten Deutschlands. Diese sich täglich verschlimmernde Katastrophe ist nicht geschlechtsneutral — eine Tatsache, deren Tragweite hier in Bonn und auch anderswo noch immer negiert wird. Der Anteil von Frauen an den Erwerbslosen nähert sich der 70 %Marke, hat sie regional bereits überschritten und steigt weiter, selbst in Phasen, in denen die Gesamterwerbslosigkeit vorübergehend leicht rückläufig ist.Frauen erfahren massenhaft die Entwertung ihrer Qualifikation, nicht nur über die Nichtanerkennung ihrer Berufsabschlüsse und Praxis, sondern vor allem auch in den Kursen zur Fortbildung und Umschulung. Diplomökonominnen werden zu Steuerfachgehilfinnen, Ingenieurinnen zu Floristinnen dequalifiziert, und diejenigen, die noch oder wieder Arbeit haben, erleben ihre Verdrängung in die Billiglohngebiete eines geschlechtsspezifisch segmentierten Arbeitsmarkts.Bei annähernd gleicher Qualifikation und Berufserfahrung von Frauen und Männern, die es in der DDR ja gegeben hat — sehr zum Unterschied zu Westdeutschland —, ist es jetzt offenbar in erster Linie das Geschlecht, das den Zugang zum Arbeitsmarkt regelt, das heißt, für Frauen verschließt und für Männer ermöglicht.
Arbeitsämter und Arbeitgeber bilden dabei eine verhängnisvolle Allianz.Frauen haben dies erkannt, und sie reagieren. Sie verweigern sich und der Gesellschaft ihre Reproduktionsfähigkeit. Der im Osten stattfindende Gebärstreik ist ein weiteres eindeutiges Signal für den Willen der Frauen, ihr Recht auf eine eigenständige Existenzsicherung mittels Erwerbsarbeit einzufordern.Die Bundesregierung unterliegt einem Irrtum, wenn sie meint, dies ignorieren zu können. Noch scheint sie zu hoffen, daß sich die Frauen im Beitrittsgebiet mit den drei K abfinden werden, den drei K, die für den Osten — auch wieder anders als im Westen — heißen: Kündigung, Kinder, Küche.Der vorliegende Haushaltsplan ist — ebenso wie die gerade durchgesetzte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes — Indikator einer Arbeitsmarktpolitik, die sich auf das Verwalten und Finanzieren von Arbeitslosigkeit und auf die Retuschierung der Arbeitslosenstatistik beschränkt. Es ist doch bezeichnend, daß die geplanten Ausgaben zur Förderung der Erprobung neuer Wege in der Arbeitsmarktpolitik, wie es im Einzelplan heißt, im Vergleich zu 1992 bei 3,5 Millionen DM stagnieren. Auch die Innovationsfähigkeit dieses Ministeriums scheint sich im Moment darauf zu beschränken, an der falschen Stelle Einsparungen vorzunehmen. Vor einer Regierung, die an einer Lösung der Probleme der Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit in den ostdeutschen Bundesländern ernsthaft interessiert ist und ihre Verantwortung auf diesem Sektor begreift und wahrnimmt, wäre eine andere Art von Innovationsfähigkeit zu erwarten.Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie kommen von alternativen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, aus den Gewerkschaften und aus den Reihen der Opposition in diesem Hause selbst. Sie aufzugreifen wäre die kostensparendste Variante.Gefragt ist ein arbeitsmarktpolitisches Entwicklungsprogramm für die ostdeutschen Bundesländer, das vom Bundesministerium für Arbeit initiiert werden sollte, sich aber nicht auf den begrenzten Aktionsradius eines Ministeriums für Arbeit beschränkt. Im Gegenteil: Der Kern eines solchen Programms muß in einer Verzahnung von Wirtschafts-, Struktur- und Arbeitsmarktpolitik bestehen. Bestandteil eines solchen Programms muß ein arbeitsmarktpolitisches Sonderprogramm für Frauen sein, das über das Mittel der Quotierung die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen sowohl an den Geldern als auch am zur Verfügung stehenden arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium, als auch an den verfügbaren Stellen sichert.
An der Existenz oder Nichtexistenz eines solchen arbeitsmarktpolitischen Entwicklungsprogramms und vor allem an der Ernsthaftigkeit und Konsequenz seiner Umsetzung wird sich der politische Wille der Bundesregierung zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme und damit letztlich auch der sozialen und psychosozialen Probleme im Osten messen lassen müssen.Der vorliegende Haushalt bietet erneut keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß in diesem Bereich Grundsätzliches geschieht. Man kann ihn deshalb nur ablehnen.
Ich erteile der Frau Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute erneut zur Debatte stehende Einzelplan 11 hat die diversen Ausschußberatungen der letzten Wochen ohne große Einschnitte, aber leider auch ohne großen Substanzgewinn überstanden. Dennoch gilt er mit seinem Volumen von knapp 100 Milliarden DM und einer überdurchschnittlichen Steigerungsrate gegenüber 1992 als soziales Gewissen der Regierungspolitik. Daß dafür nur wenig Anlaß besteht, ist bei einer genauen Betrachtung der wichtigsten Ausgabenposten im Sozialetat leicht zu erkennen.Ein weiterer Fakt macht deutlich, daß es sich bei diesem Sozialetat um eine Mogelpackung handelt. Zu dem von Finanzminister Waigel verordneten Sparhaushalt 1993 hat natürlich auch Arbeitsminister Blüm seinen Beitrag längst geleistet, mit der 10. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz. Die dort vorgenommenen drastischen Einsparungen von mehr als
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Petra Blass5 Milliarden DM sind in ihren sozialen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen.Nur eines läßt sich schon heute sagen: Diese Sparmaßnahmen werden sich als Bumerang erweisen. Durch sie werden erneut Zehntausende in die Arbeitslosigkeit geschickt, werden die Chancen zur Wiedereingliederung ins Erwerbsleben vor allem für diejenigen, die es ohnehin schwer haben, weil sie alt, nicht voll einsetzbar, schlecht qualifiziert oder einfach Frauen sind, nahezu aussichtslos.Man könnte vermuten: Die Bundesregierung ahnt, was auf sie zukommt, und hat deshalb schon mal vorausschauend die einzige wirklich beachtenswerte Erhöhung im Einzelplan 11 vorgenommen bei den Ausgaben: für Arbeitslosenhilfe. Dieser Ansatz wurde von 8,2 Milliarden DM 1992 auf inzwischen 11,2 Milliarden DM erhöht.Das Hauptproblem besteht darin, daß allein mehr als zwei Drittel der bereitgestellten Mittel des Einzelplans 11 als gesetzlich festgelegte Zuschüsse und Zuweisungen an die Sozialversicherungsträger geht. Auch unter den Geldern, die für die Bundesverwaltung und die Bundesanstalt in diesem Bereich aufgewendet werden müssen, gibt es keinen Spielraum für eine andere Logik der Ausgabenpolitik.Lediglich unter dem Titel „Allgemeine Bewilligungen" kann der Posten „Zuschüsse und Zuweisungen" mit einem Volumen von knapp 800 Millionen DM nach politischen und sozialen Notwendigkeiten verteilt werden.Abgesehen davon, daß dieser Betrag für die zu lösenden Aufgaben einfach jämmerlich gering ist: Die Ansichten über das, was in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und rasant wachsenden sozialen Problemen notwendig ist, sind in diesem Hause grundverschieden.Ich jedenfalls halte es für absolut vorrangig, daß wir mehr Mittel aufwenden, um gerade in den neuen Bundesländern Modelimaßnahmen zur beruflichen Weiterbildung, zur sozialen Sicherung und zum Arbeitsschutz zu fördern, weil auf diesem Gebiet ein großer Nachholbedarf — so jedenfalls eigenes Bekunden der Bundesregierung — besteht und außerdem bezogen auf den Punkt beruflicher Bildung durch die AFG-Novelle große Finanzierungslöcher gerissen wurden.Doch statt aufzustocken oder mindestens den Ansatz von 1992 beizubehalten, soll auch hier gekürzt werden. 68 Millionen DM weniger wird es 1993 geben. Dafür habe ich kein Verständnis.Die PDS/Linke Liste hat deshalb beantragt, die für 1992 bereitgestellten Mittel von 150 Millionen DM auch für 1993 vorzusehen.Relative Entscheidungsfreiheit, wirklich nach sozialen Kriterien Geld auszugeben, besteht noch bei dem Titel: Leistungen nach dem AFG und gleichartige Leistungen. An Zuschüssen und Zuweisungen sind hier etwa 16,7 Milliarden DM ausgewiesen. Davon sind allerdings schon knapp 16 Milliarden DM für Arbeitslosenhilfe und für Vorruhestand sowie fürAltersübergangsgeld in den neuen Bundesländern vorgesehen.
Lediglich 700 Millionen DM verbleiben hier für Maßnahmen, die nicht nur reparieren und kurieren, sondern aktiv den sich abzeichnenden Fehlentwicklungen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik entgegensteuern.Auch hier nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn es darum geht, im Sinne des Gestaltungsauftrags der Sozialpolitik zu wirken. Ganze 3,5 Millionen DM sind zur Förderung und Erprobung neuer Wege in der Arbeitsmarktpolitik eingeplant, wenig genug, aber immer noch rausgeschmissenes Geld, wenn man sich vor Augen führt, daß gerade mit der 10. AFG-Novelle der Förderung und Erprobung neuer arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen absolut willkürlich ein Ende gesetzt wurde. Sie machen sich doch zum Gespött der Betroffenen, wenn Sie diesen Kleckerbetrag ernsthaft als Äquivalent zu den gekürzten 5 Milliarden DM offerieren wollen.In dieselbe Kategorie passen übrigens auch die 170 Millionen DM, die jetzt neu als Erstattungskosten für die Aufwendungen nach § 249h AFG im Haushalt bereitgestellt werden. Abgesehen davon, daß diese Maßnahme mit den dafür vorgesehenen Konditionen gerade einmal das Existenzminimum abdecken dürfte — Gewerkschaften und der Arbeitslosenverband haben dazu überzeugende Rechnungen für die neuen Bundesländer ausgestellt —: Wie soll eigentlich mit diesem Betrag ein Ausgleich für die über 100 000 ABM-Stellen geschaffen werden, die mit der Novelle wegfallen werden?Skandalös finde ich auch, daß, nachdem mit der Kürzung der Einarbeitungszuschüsse im AFG die Bedingungen für Langzeitarbeitslose erheblich verschlechtert werden, nun auch noch das Sonderprogramm der Bundesregierung zur Wiedereingliederung der Langzeitarbeitslosen um 150 Millionen DM gegenüber 1992 gekürzt wird. Die PDS/Linke Liste hat beantragt, den Ansatz von 450 Millionen DM auch für 1993 vorzusehen.2,5 Millionen pflegebedürftige Bürgerinnen und Bürger sowie deren Angehörige warten auf eine gesetzliche Regelung der Pflege. Die aber droht mehr und mehr im Koalitions-Hickhack verschleppt zu werden, und das zu Lasten der Betroffenen.Ziel gesetzlicher Regelungen muß unseres Erachtens sein, allen, die auf Unterstützung angewiesen sind, ein würdiges Leben zu garantieren. Alter, Pflegebedürftigkeit und Behindertsein dürfen keine Privatangelegenheit und auch kein Versicherungsrisiko sein. Die PDS/Linke Liste hat deshalb einen Gesetzentwurf zur sozialstaatlichen Gewährleistung von Betreuung, Begleitung, Assistenz, Hilfe und/oder Pflege in die leidige Pflegedebatte eingebracht.Ein steuerfinanziertes Bundesleistungsgesetz kann Pflegebedürftigen ein Leben in Selbstbestimmung und Würde garantieren. Um eine bedarfsgerechte Pflegeversorgung gewährleisten zu können, schlagen wir vor, im Einzelplan 11 einen neuen Titel aufzuneh-
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Petra Blässmen, der Zuschüsse zur Errichtung, Erweiterung, Ausstattung und Modernisierung von Pflegeeinrichtungen insbesondere im ambulanten und teilstationären Bereich sowie zur Entwicklung von dort angesiedelten Pflegemodellen vorsieht.Sozialpolitik hat mehr zu leisten als ein Reparaturbetrieb und eine Armutsverwaltung. Sie ist nicht nur für den Erhalt der Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft zuständig; sie hat auch die Aufgabe, gestaltend einzugreifen.
Die von der Bundesregierung verfolgte Politik des Sozialabbaus und der Deregulierung aber ist der falsche Weg.Mit großer Betroffenheit habe ich zur Kenntnis genommen, daß Bundesministerin Rönsch ihre Hauptaufgabe darin sieht, schärfer als bisher den Mißbrauch von Leistungen der Sozialhilfe zu bekämpfen. Ein solcher Ansatz geht nicht nur völlig an der Realität vorbei. Denn dies ist ganz gewiß nicht das Problem Nummer eins in diesem Lande. Außerdem finde ich es skandalös, ausgerechnet bei den Schwächsten kürzen zu wollen. Ich empfinde dies als zutiefst menschenunwürdig. Die Politik der Bundesregierung aber wird auch in Zukunft daran gemessen, inwieweit sie dem Sozialstaatsprinzip gerecht wird.
Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Grehn, der Vorsitzende des Arbeitslosenverbandes in Ostdeutschland, hat auf der 2. Konferenz ostdeutscher Betriebs- und Personalräte die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf 7 Millionen beziffert. Ich glaube, wenn man die stille Reserve — übrigens zu 75 % aus Frauen bestehend — im Westen und die versteckte Arbeitslosigkeit im Osten zu den veröffentlichten Zahlen hinzunimmt, kommt man tatsächlich auf diese erschreckende Zahl.Das heißt aber, daß etwa 20 Millionen Menschen im reichen Deutschland von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Allein ca. 3 Millionen Kinder sind von den einschneidenden frustrierend en Bedingungen von Arbeitslosigkeit im Elternhaus betroffen.Und der Arbeitsplatzabbau geht weiter. Industriekerne im Osten gibt es kaum mehr. Dennoch stehen weitere „Flugtage", so die ostdeutschen Betriebsräte, bevor. Am 1. Januar 1993 und an den Kündigungsterminen danach werden weitere 100 000 auf die Straße fliegen. Deshalb die Bezeichnung „Flugtage".Neue Technologien treiben die Kapitalintensität an den Arbeitsplätzen in die Höhe und verringern — das ist ihr Sinn -- die notwendige Zahl von Arbeitsstunden. Die Rezession und die Branchenstrukturkrisen im Maschinenbau, im Fahrzeugbau und in anderen Branchen heizen die arbeitsplatzvernichtende systemische Rationalisierung weiter an. Konzentration und Aufbau internationaler Produktionsverbünde gehen weiter, Konkurse nehmen zu, ebenfalls mit erheblichen Arbeitsplatzverlusten.Ohne Frage, eine aktive beschäftigungs- und zukunftsorientierte Industrie- und Arbeitsmarktpolitik ist überfällig.Was aber macht diese Bundesregierung? Sie kürzt die Mittel für AB-Maßnahmen. Allein im Osten kostet das über 100 000 Arbeitsplätze. Sie kürzt, sie kürzt. Statt dem Arbeitsplatzverlust entgegenzuwirken, gibt sie klein bei. Statt angesichts des Abbaus gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit Arbeitszeitverkürzungen zu propagieren, spricht sich der Bundeskanzler für eine längere Arbeitswoche und Lebensarbeitszeit aus.Die Politik des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung steht den Problemen der bestehenden und weiter zunehmenden Arbeitslosigkeit schlicht und einfach hilflos gegenüber. Statt darauf zu drängen, daß aus dem Rüstungsetat für beschäftigungssichernde Maßnahmen umgeschichtet wird, fügt er sich den falschen marktwirtschaftlich-sozialdarwinistischen Imperativen von Wirtschaftsliberalen und Marktradikalen. Statt gegen ungeschützte Arbeitsverhältnisse anzugehen, trägt er über die Verschlechterung der verbleibenden AB-Maßnahmen dazu bei, die gewerkschaftliche Tarifpolitik auszuhebeln.Nein, das ist nicht richtig; das ist falsch. Notwendig wäre vielmehr eine Ausweitung der Mittel für Beschäftigungspolitik, für AB-Maßnahmen und ähnliches. Notwendig wäre die Unterstützung z. B. des alternativen Sektors von selbstorganisierten, selbstbestimmten Beschäftigungsprojekten von unten. Allein in Berlin gibt es ca. 1 000 solcher Projekte mit mehr als 5 000 Beschäftigten. Im Osten Deutschlands gibt es inzwischen Hunderte solcher Projekte. Neue entstehen immer wieder. Sie greifen wichtige gesellschaftliche Aufgaben auf, die der Markt eben nicht aufgreift. Sie sind übrigens durch Abbau von AB-Maßnahmen gegenwärtig besonders bedroht. Dahinter steht als die große sozialpolitische Herausforderung der Zukunft die Schaffung einer allgemeinen Grundsicherung, eines garantierten Mindesteinkommens für alle.Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung muß sein Grundkonzept ändern. Nicht weniger, sondern mehr muß getan werden, um der Pest des 20. Jahrhunderts, der Massenarbeitslosigkeit, entgegenzuwirken, und das gezielt und gerade auch durch Unterstützung derjenigen, die sich selber helfen und dadurch auch anderen und uns helfen.
Wir brauchen in der Zukunft z. B. einen bundesfinanzierten Fonds, der 0,2 v. H. des Bruttosozialprodukts umfaßt, zur Förderung dieses alternativen Sektors und Arbeitsmarkts. Der Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung jedenfalls trägt den zuvor angesprochenen Notwendigkeiten nicht oder zuwenig Rechnung.
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Dr. Ulrich BriefsMeine Damen und Herren zur Rechten, ich empfehle Ihnen, gelegentlich selber in den Spiegel zu sehen. Sie werden überrascht sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Abschluß dieser Debatte und bevor ich dem Herren Minister das Wort erteile, eine kurze Bemerkung.
Hier fallen natürlich eine ganze Menge von Ausdrücken. Ich sehe ausweislich des Protokolls eigentlich schon die Notwendigkeit, Ordnungsrufe zu erteilen. Ich will das wegen des an sich friedlichen Abends nicht tun. Es sind gefallen: „Volksverdummung", „Gequatsche", „Quatsch", „Jammerstücke". Und dies wird dann im Persönlichen noch zurückgegeben. Also bitte! Wir sind hier so versammelt, daß wir zur Sache sprechen wollen.
Nun hat das Wort der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Ich habe das Schicksal, daß ich eine wohlvorbereitete Rede habe, aber der Sprecher der Opposition weniger zum Haushalt als über zehn Jahre Arbeitsminister Blüm gesprochen hat. Da muß ich schon aus Achtung vor der Opposition ein paar Worte dazu sagen. Er hat so gesprochen, als sei das eine Endabrechnung. Dabei ist doch erst Halbzeit.
Ein paar Sachen nur zur Gedächtnisauffrischung:
Herr Kollege Diller, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen in der SPD: Haben Sie das Wort Kindererziehungszeiten schon einmal gehört? Darüber haben Sie 13 Jahre geredet, geredet, geredet, gegackert, gegackert, gegackert und nie ein Ei gelegt. Wir haben diese Kindererziehungszeiten eingeführt.
— Herr Präsident, wenn Sie mich bitte in Schutz nehmen wollen. Ich bin vereidigt, und ich muß die Wahrheit sagen. Insoweit bleibt mir nichts anderes übrig.
— Herr Kollege Diller.
Herr Minister, wir sind in der Debattenzeit schon weit vorangeschritten, daß wir sagen müssen, — —
Nein, ich rede dazu, daß der Kollege Diller 10 Jahre Sozialpolitik dieser Koalition madig gemacht hat. Dazu besteht kein Grund. Das will ich mit Fakten beweisen. Wenn schon, denn schon.
Zur Rentenpolitik wirft mir diese SPD vor: Unsolide. 1973 Stundung des Bundeszuschusses, 1974 Stundung des Bundeszuschusses, 1975 Stundung des Bundeszuschusses, 1981, Herr Diller, 3,5 Milliarden DM Kürzung des Bundeszuschusses durch die von der SPD geführte Regierung. Ich heiße Blüm und nicht Ehrenberg. Sie haben mich verwechselt.
— Das ist überhaupt nicht lustig. Sie verstehen mich falsch. Ich lasse mir auch nicht von der Opposition die Anstrengungen dieser Koalition für den Sozialstaat madig machen. Das ist kein Blüm-Thema, das ist ein Thema zur Ehrenrettung unseres Sozialstaates. So lassen wir ihn nicht behandeln.
Reform der Hinterbliebenenrenten: Sieben Jahre hatten Sie den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes. Wir — im übrigen in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften — haben diese Hinterbliebenenreform durchgeführt.Beitragssatz: Wir haben den niedrigsten Beitragssatz in der Rentenversicherung seit 1972, und wären nicht die Lasten der deutschen Einheit, dann wäre er um noch ein Prozent niedriger.Wir haben in der Rentenreform gemeinsam für dieses Jahr 18,7 % geschätzt, für das nächste Jahr, 1993, 18,7 %; wir werden 17,5 % haben. Wir hatten für 1994 19,0 % geschätzt; wir werden 18,5 % haben. Wir hatten für 1995 19,0 % geschätzt; wir werden 18,4 % haben. Für 1996 war die Schätzung 19,3 %; wir werden 18,6 % haben. Wir sind besser, als die SPD 1989 mit uns geschätzt hat. Und das kritisiert jetzt Herr Diller. Das halte ich für Schizophrenie.
Dann fängt er noch an, die Senkung des Beitragssatzes um 0,2 % zu kritisieren. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten: „Die momentan nicht benötigten Finanzmittel in der Rentenkasse gehören nicht dem Staat, sondern den Beitragszahlern, die sie angesammelt haben. " Das ist die Begründung eines SPD-Antrages vom 5. Juni 1990, Drucksache 11/7365. Damals hatten Sie bei weniger Rücklagen eine Beitragssenkung von 0,7 % beantragt. Ich muß die SPD gegen Ihren Vorwurf Trickserei in Schutz nehmen.
Das war keine Trickserei. Sie müssen doch immerhin mit dem Gedächtnis Ihrer Kollegen rechnen. Sie dürfen nicht unterstellen, wir hätten Gedächtnisschwund.Meine Damen und Herren, das war nur zur Klarstellung. Worum es mir geht, ist, daß wir die Rente — dazu lade ich alle ein; strengen wir uns an — in Zukunft aus dem parteipolitischen Streit heraushalten. Der Konsens, an dem viele mitgewirkt haben — von der F.D.P., von der CDU/CSU, von der SPD — ist ja nicht vom Himmel gefallen. Vergessen wir doch in einer aufge-
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Bundesminister Dr. Norbert Blümregten Zeit diese Anstrengungen nicht, und zwar nicht der Parteien, sondern der älteren Mitbürger wegen. Jeder Rentenstreit verstärkt Unsicherheit und Angst.Wir sind gegenüber einer Generation, von der manche zwei Weltkriege mitgemacht haben, einer Generation, von der manche zwei Diktaturen mitgemacht haben — erst Hitler, dann Ulbricht und Honecker —, verpflichtet, daß sie in Ruhe und Sicherheit ihre Rente verzehren kann. Deshalb werde ich den Rentenkonsens gegen alle Heißsporne verteidigen. Und deshalb kehren wir wieder zurück zu einer friedlichen, einvernehmlichen Rentendiskussion.
Ich will auch noch einmal daran erinnern, daß wir die Rentner gerade in den neuen Bundesländern nicht im Stich gelassen haben. Der Kollege Strube hat schon darauf hingewiesen: im Jahr 1989 17 Milliarden Mark in der alten DDR an Rentenausgaben; heute, 1993, in diesem Haushalt 53 Milliarden DM für den gleichen Personenkreis. Das ist doch auch der Beweis, daß die Rentner mit zu den ersten Gewinnern der deutschen Einheit gehören. Sie haben es auch verdient.
Die Durchschnittsrente hat sich fast verdoppelt. 64 Milliarden DM weist dieser Haushalt an Bundeszuschuß für die Renten gegenüber 59,1 Milliarden DM für 1992 aus, 1 Milliarde DM für die Zusatzversorgung in den neuen Ländern statt 850 Millionen DM, 200 Millionen DM für den Sozialzuschlag, 14 Milliarden DM für die Kriegsopfer. Die Zahlen sind alle zu kalt. Ich trage sie nur vor, um jenem Angriff Paroli zu bieten, wir würden die Rentner im Stich lassen. Nein, wir sollten gemeinsam für die Rentensicherheit sorgen.Nun zum Arbeitsmarkt. Hier steht doch niemand, der die Sorgen der Menschen nicht sieht, auch die großen Umbrüche, die großen Lasten, die viele ertragen müssen. Dem muß doch all unsere Anstrengung gelten. Wir können uns doch bestenfalls über den Weg streiten. Wir können uns doch nicht über die Frage streiten: helfen oder nicht helfen.Da will ich wieder mit einer Zahl arbeiten, weil ich das schlimme Wort Kahlschlag — da sehe ich immer umgeschlagene Wälder — erneut gehört habe. Für Arbeitsmarktpolitik haben wir im Osten — nur im Osten! — im Jahre 1992 30,4 Milliarden DM ausgegeben, 1993 nicht 30,4 Milliarden DM, sondern 34 Milliarden DM. Wenn ich noch richtig rechnen kann, sind das fast 4 Milliarden DM mehr. Sie können es ja kritisieren, nur können Sie nicht sagen, wir würden nichts machen.ABM: Da wollen wir auf die Zahlen zurückkommen. Wir haben jetzt rund 370 000. Wir werden 350 000 im Jahresdurchschnitt haben. Aber vergessen Sie nicht, daß wir ein neues Instrument anbieten — Arbeitsförderung Ost —, indem wir das Arbeitslosengeld in einen Lohnkostenzuschuß verwandeln, aus konsumtiven Ausgaben produktive machen und damit den Rückgang von ABM nicht nur ausgleichen können, sondern überkompensieren.Wir haben schon für das Mega-Projekt Braunkohle für 15 000 Braunkohlearbeitnehmer eine solche Arbeitsförderung Ost zur Umweltsanierung geschaffen; für 10 000 im allgemeinen Umweltbereich. Für 7 000 stehen wir für ein Mega-Projekt im Chemiebereich vor dem Abschluß. Wir wollen auch für soziale Dienste diese neue Form der Umwandlung von Arbeitslosengeld in Lohnkostenzuschüsse praktizieren, weil wir glauben: Wenn wir schon Geld ausgeben, ist es besser, wir geben es für Arbeit aus statt für Arbeitslosigkeit.
Wichtig ist auch folgendes Thema in Ost und West: Die Härte der Arbeitslosigkeit ist ganz besonders bei den Langzeitarbeitslosen zu finden. Gerade hier gilt es, neue Wege zu finden. Arbeitslose, die über lange Jahre keine Arbeit gefunden haben, sind häufig in Gefahr, sich häuslich einzurichten im Nichtgebraucht-Werden. Hier muß die Gesellschaft auch dem einzelnen helfen zurückzufinden, zumal im Einzelfall auch psychische, soziale und familiäre Probleme vorhanden sein können.Aber wir waren nicht erfolglos. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen im Westen ist auf Grund unseres Langzeitarbeitslosen-Programmes von 1988 um 230 000 auf 455 000 zurückgegangen.
Das halte ich für einen Erfolg, der uns nicht ausruhen läßt, der allerdings zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Ich lade auch alle ein — das ist nicht nur mit Geld zu machen , sich zu beteiligen, daß gerade die, die schwer vermittelbar sind, wieder Arbeit finden.Ich appelliere gerade auch an den öffentlichen Dienst, Behinderte einzustellen. Ich finde, es ist kein gutes Zeichen, wenn der Staat seine Pflichtquote nicht erfüllt.
Ich finde, es ist nicht nur kein gutes Zeichen, er verliert damit auch die moralische Reputation zum Appell an die privaten Unternehmer, Behinderte einzustellen.Frau Kollegin Babel hat zu Recht auf eine Schieflage in der Finanzierung des Arbeitsmarktes Ost aufmerksam gemacht, die ich ausdrücklich bestätige. Die Einnahmen der Arbeitslosenversicherung in den neuen Bundesländern betragen 10,2 Milliarden DM, die Ausgaben für dasselbe Gebiet 43 Milliarden DM. Ich bestätige, daß das eine Lücke ist, die aus meiner Sicht bei einer neuen Solidaritätsverteilung berücksichtigt werden muß, weil auch ich der Auffassung bin: Solidarität auch im Sinne der deutschen Einheit kann nicht die Spezialaufgabe der Beitragszahler Arbeitgeber und Arbeitnehmer sein. Solidarität wird sich freilich nicht nur auf materielle Hilfen beschränken, sondern sich auch in einem stärkeren Engagement der Unternehmer bei privaten Investitionen ausdrücken.Wir haben im übrigen Sparen mit Gestalten verbunden, wie es der Kollege Strube gesagt hat. Wir haben nämlich bei der 10. AFG-Novelle nicht nur kopflos Geld eingesammelt. Beispielsweise haben wir die Leistungen für die Aussiedler aus der Beitragspflicht herausgenommen, weil wir glauben, daß die Integra-
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Bundesminister Dr. Norbert Blümlion der Aussiedler keine Aufgabe der Beitragszahler, sondern aller Steuerzahler ist.Wir sind auch der Meinung, daß die Nachholung des Hauptschulabschlusses von denjenigen zu finanzieren ist, die die Verantwortung dafür tragen. Die Bundesanstalt für Arbeit ist doch nicht der Lastesel für pädagogische Fehler einer in manchen Ländern verfehlten Schulpolitik.
Den Jugendlichen muß geholfen werden. Aber die Bundesanstalt ist doch nicht für alles zuständig; sonst würden die Arbeitnehmer und Arbeitgeber langsam einen Ersatzsozialstaat bilden.Meine Damen und Herren, das Thema Pflege ist angesprochen worden. Herr Kollege Diller, vielleicht ist es Ihnen entgangen: Im Rahmen der von Ihnen so sehr kritisierten Gesundheitsreform haben wir bereits den ersten Schritt zu einer Pflegeabsicherung getan, nämlich im ambulanten Bereich. Es ist völlig unzureichend, aber es sind immerhin 4 Milliarden DM mehr als zu Ihrer Zeit.Im übrigen: Auch die Gesundheitsreform lasse ich mir nicht madig machen. Ohne die Gesundheitsreform 1 läge der Beitragssatz jetzt zwischen 14,5 und 15 %. Daß sie nicht überall ans Ziel gekommen ist,
liegt auch daran, daß die Selbstverwaltung nicht jene Aufgaben in eigener Verantwortung geregelt hat, die ihr vom Subsidiaritätsprinzip zugedacht waren. Dieses Subsidiaritätsprinzip ist ein Vorfahrtsrecht, aber kein Parkplatz. Deshalb muß mein Kollege und Freund Seehofer diese von der Selbstverwaltung versäumten Chancen jetzt gesetzlich ausgleichen.Ich bleibe bei dem Thema Pflege. Halten Sie mich nicht für so schnell aus der Bahn zu werfen! Das ist ein großes Projekt. Noch nie ist ein großes Projekt ohne Widerstände durchzusetzen gewesen. Wir haben uns in der Koalition auf ein Modell geeinigt. Wir haben uns auch darauf geeinigt, daß nicht einfach draufgesattelt wird. Ich habe mich bemüht und bemühe mich weiter, eine einvernehmliche Lösung mit den Sozialpartnern zu finden, weil ich einvernehmliche Lösungen immer vorziehe. Freilich münden solche Gespräche auch in den allgemeinen Zusammenhang des Solidarpakts.Ich will sagen: Wenn wir auf einvernehmlichem Wege nicht zum Ziel kämen, dann müßte die Pflegeversicherung auch im Streit durchgesetzt werden. Die Sache ist so viel wert, daß man der Pflege- und Hilfsbedürftigen wegen auch keinem Streit aus dem Wege gehen sollte.
Ich bevorzuge die einvernehmliche Lösung. Deshalb werde ich alles dafür investieren. Aber vor einem Streit wird der Norbert Blüm — da unterschätzen Sie ihn — nicht zurückweichen, wenn es gilt, den Hilfsbedürftigen endlich Hilfe zu geben.
Ich will die Gelegenheit nutzen, in dieser Haushaltsrede auch eine besondere Solidaritätsadresse an die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen zu richten — aus schlechtem Anlaß, wie ich zugebe. Aber es ist wichtig, daß sie wissen, daß sie am Arbeitsplatz unsere Kolleginnen und Kollegen sind, daß ihre Kinder in der Schule die Schulkameraden unserer Kinder sind und daß sie mit ihren Familien unsere guten Nachbarn bleiben. Wir sollten uns von wildgewordenen Barbaren Freundschaft und gute Nachbarschaft nicht verderben lassen. Deshalb gilt mein besonderer Gruß unseren türkischen Mitbürgern in Deutschland.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3795. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Das war die Gruppe PDS/Linke Liste und der Abgeordnete Dr. Briefs. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Gegen die Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion ist der Änderungsantrag abgelehnt.Wer stimmt für den Einzelplan 11 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist der Einzelplan 11 gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und die Stimmen der Gruppe PDS/Linke Liste bei Stimmenthaltung des Kollegen Dieter-Julius Cronenberg angenommen.Bevor ich den nächsten Einzelplan aufrufe, bitte ich Sie, damit einverstanden zu sein, daß für die folgenden Debatten einzelne Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden können. Solche Ansinnen liegen vor. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das für entsprechende Anliegen so beschlossen.Ich rufe auf: Einzelplan 15Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit— Drucksachen 12/3515, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Arnulf Kriedner Dr. Wolfgang Weng Uta TitzeDazu liegen vier Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Frau Christina Schenk gibt ihre Rede zu Protokoll.*)Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat unsere Frau Kollegin Uta Titze das Wort.*) Anlage 3
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10403
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich habe es als sehr angenehm empfunden, daß Herr Blüm — er ist nicht mehr im Raum — am Ende seiner Rede, die ja zum Teil mit recht gepfefferten Breitseiten in Richtung Opposition durchsetzt war,
doch eine Bemerkung gemacht hat, die ich als der augenblicklichen Situation sehr angemessen empfunden habe.Am Ende dieser Woche wird der Deutsche Bundestag in der dritten Lesung über einen Haushalt von rund 435 Milliarden DM beschließen. Der Einzelplan 15 — Gesundheit — nimmt sich im Vergleich dazu recht klein und mager aus. Er umfaßt in seinem Ausgabenteil gerade einmal 1,064 Milliarden DM. Nichtsdestotrotz wiegen einige haushaltspolitische Entscheidungen innerhalb dieses Einzelplans recht schwer, da sie direkte und indirekte Auswirkungen auf den größten Industriezweig Deutschlands haben — Sie haben richtig gehört —, auf den Gesundheitsbetrieb. Lassen Sie mich dazu einige Anmerkungen machen.425 Milliarden DM verschlingt allein der Moloch Medizin pro Jahr. Sie haben sich nicht verhört. Das deutsche Gesundheitswesen — dazu zählen fast 2 Millionen Menschen in Kliniken, Arztpraxen, Apotheken, medizinischen Werkstätten, Krankenkassen und Pharmaunternehmen — ist uns lieb und teuer, nämlich fast so teuer wie der gesamte Etat des Bundes.Der medizinisch-industrielle Komplex hat eine Eigendynamik entwickelt, die nicht allein dadurch erklärt werden kann, daß das Lebensalter der Bürgerinnen und Bürger ständig steigt, entsprechend auch deren Ansprüche, Wünsche und Bedürfnisse, oder etwa dadurch, daß der medizinische Fortschritt ständig steigt. Es sind für uns insbesondere die marktwirtschaftlichen Widersprüche innerhalb der Gesundheitsbranche selbst, die zu der unerhörten Kostenexplosion geführt haben, vor der wir zur Zeit stehen. Ich will dazu drei Beispiele nennen.Das erste beginnt mit einem Zitat — nicht, daß Sie erschrecken —: „Die Freiheitsberaubung als zentrales Finanzierungsinstrument". Dieser Begriff hat mir imponiert. Das Zitat stammt von einem Geschäftsführer eines norddeutschen Städtischen Krankenhauses. Das sagte er ganz unbefangen. Er ist ja nun unverdächtig und als interner Kenner sicher über die Praxis und die Auswirkungen eines Krankenhauses informiert, das nach dem Motto verfährt — sicher nicht nur seines —: Nur ein belegtes Bett ist ein gutes Bett. Wenn das nicht ein krasser Verstoß gegen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit ist.Ein zweites Beispiel für die immanenten Widersprüche im Gesundheitssystem. Ein besonderes Ärgernis ist der deutsche Arzneimittelmarkt. Nirgendwo auf der Welt sind Medikamente so teuer. Muß das so sein? Experten halten zudem ein Drittel der hier zugelassenen Medikamente schlicht für unwirksam.Das ist eine Menge von 23 000 Medikamenten; denn schließlich tummeln sich auf unserem Markt über 70 000 Arzneimittel. Laut Urteil von Sachverständigen genügen für den normalen Klinikbetrieb 2 000 bis 3 000 Arzneimittel.Nun könnte man sich angesichts dieser horrenden Verschwendung statt Konzentration natürlich fragen, wo denn die großen Mengen bleiben, für die die Kassen zu zahlen haben. Ich habe heute in der Zeitung eine tolle Erklärung gelesen: Die AOK Essen hat in einer vierwöchigen Aktion die Arzneimittel untersucht, die Apotheker von Patienten zurückgenommen haben. Was glauben Sie, was sich da ergeben hat?
— Das weißt du bestimmt nicht. —
Ein Drittel der Medikamente war schlicht nicht angebrochen, Herr Weng. Die Medikamentenschachteln waren zu. Ich untertreibe noch.
— Ja, Sie als Apotheker müßten das ja genau wissen.— 39 % der zurückgegebenen Packungen waren nur zu Hälfte entleert.Bei einer Hochrechnung alleine dieser Verschwendung in einer einzigen deutschen Großstadt, in Essen, käme man auf eine Arzneimittelvernichtung im Wert von 10 Millionen DM.Wenn das nicht Widersprüche in einem kapitalistischen System sind! Das hat, Herr Weng, mit freier Marktwirtschaft nichts zu tun.
— Ja, wegschmeißen, aber vorher bezahlen. Das ist vielleicht eine Art.
Drittes und letztes Beispiel: Nirgendwo auf der Welt haben wir eine so hohe Arzt- und Leistungsdichte wie hier. Gleichzeitig aber sinken nicht etwa die Aufwendungen für Patienten. Im Gegenteil: Sie steigen überproportional, weil immer mehr Ärzte bei gleichbleibender Bevölkerungszahl immer mehr Leiden und immer mehr Befunde erheben. Statistisch gesehen führt das zu dem absurden Ergebnis, daß der Gesundheitszustand dieser unserer Bevölkerung immer mehr sinkt. Absurd!
— Also ich nicht.Uns allen ist klar, daß sich ohne Eingriffe in diese beschriebenen Mechanismen die Kosten für die Gesundheit ins Unbezahlbare entwickeln. Gerade deswegen hat es — es ist schade, daß der Herr Minister heute nicht da sein kann; ich hätte ihn nämlich liebend gern gelobt — den fraktionsübergreifenden — das darf man heute anerkennend sagen — und auch erfolgreichen Versuch gegeben, diese Entwicklung durch gemeinsame Vereinbarungen zur Gesundheits-
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10404 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Uta Titzestrukturreform zu stoppen. Die SPD hat hierbei solidarisch mitgearbeitet, hat vieles — nicht alles — verbessern können und wird bei der angekündigten folgenden Reform — ich habe darüber aus der Zeitung gelesen — ihre solidarische Mitarbeit sicher auch wieder anbieten.Die Bemühungen der großen Koalition der Vernunft— so möchte ich das einmal bezeichnen — haben, wie Sie alle wissen, im Sommer den geballten Protest von Teilen der Ärzte- und Zahnärzteschaft hervorgerufen— für mich der klare Beweis dafür, daß der eingeschlagene Weg der richtige ist. In einem Satz gesagt: Alle werden diesmal zur Kasse gebeten, die Versicherten und die Leistungserbringer — letztere allerdings zu Recht stärker als erstere, denn die Versicherten haben seit der Blumschen Reform jedes Jahr Milliarden als ihren Anteil erbracht. Seit 15 Jahren also besteht zum erstenmal die reale Chance, die Strukturen des Medizinbetriebes zu sanieren, u. a. aber auch deswegen, weil die SPD darauf gedrungen hat, die Reform der Krankenkassen einzubeziehen.Parallel zu diesem enormen Kraftakt liefen unsere Haushaltsberatungen zum Einzelplan 15. Leider muß ich aus meiner Sicht sagen, daß die gemeinsame Arbeit hier nicht so erfolgreich war. Arnulf, du bist da sicher anderer Ansicht
— der Kollege Kriedner ist da sicher anderer Ansicht —; denn da ist an den Strukturen wenig geändert worden.
Was also im Großen gelungen ist, hat im Kleinen, im Haushalt des Bundesministers für Gesundheit, so gut wie keine Spuren hinterlassen.
Hier herrschen noch die seit Jahren gültigen Strukturen mit den Folgewirkungen, die ich kritisiere.
Ich will mich lediglich auf den Bereich der Zuweisungen und Zuschüsse beschränken, weil er mit immerhin 500 Millionen DM ein sattes Polster in diesem kleinen Haushalt ausmacht und weil sich gerade in diesem Teil des Einzelplanes die von mir kritisierten verkrusteten Strukturen am deutlichsten nachweisen lassen.Für mich bedrückend ist die Erkenntnis, daß zuwenig Einsicht und auch zuwenig Energie im Ministerium vorherrschen, um neuen Entwicklungen und neuen Bedürfnissen — auf deutsch: auch einer neuen Verteilung von finanziellen Ressourcen — Rechnung zu tragen. Es kann doch wohl nicht richtig sein, daß seit Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten dieselben Zuwendungsempfänger und dieselben Vorhaben am staatlichen Tropf hängen. Es kann doch wohl auch nicht gerecht sein, daß Steuergelder nach dem Motto verteilt werden: Wer hat, dem wird gegeben, und wer zu spät kommt, der guckt in die Röhre.
Darf ich einmal in aller Vorsicht und ohne auf irgendeine Seite zu schauen hinzufügen: Das ist nicht nur das Problem zwischen Opposition und Regierungspartei, das ist auch das Problem der Zuspätgekommenen, weil erst jetzt hier arbeitenden Kollegen und Kolleginnen.Ich gebe sehr gerne zu, daß es Bundesaufgaben gibt, die ständig zu erledigen und zu bezahlen sind. Ich gebe auch zu, daß das Prinzip der allmählichen Entwöhnung nicht gleichermaßen auf alle Empfänger und Projekte angewendet werden kann.
Ich möchte mit meiner Bemerkung für die Zukunft lediglich erreichen, daß die Bereitschaft sowohl beim zuständigen Ministerium wie auch bei den beiden verehrten Herren Kollegen Berichterstattern wachsen möge, sich den Anliegen neuer Gruppierungen in Zukunft mehr zu öffnen.
Ich weiß sehr gut, daß konkrete Entscheidungen immer auch Parteinahme, auch materielle Parteinahme, bedeuten, die zu Lasten alter Besitzstände geht. Auch müßten bequeme Empfängerstrukturen geändert werden. Das ist allemal umständlich und manchmal bitter. Für den Haushaltsausschuß erinnere ich nur an die enorm quälende Debatte zur OBS. Aber, wie schon betont, was quer durch die Fraktionen beim GSG möglich war, sollte doch in Zukunft auch für den kleinen Haushalt des Einzelplans 15 gelingen.Nun zur konkreten Kritik: Ich kann nicht akzeptieren, daß bereits zum drittenmal hintereinander auch im vorliegenden Haushalt keine müde Mark für den Einstieg in Aufbau, Durchführung und Betrieb eines Informationssystems wichtiger Krankheiten bereitgestellt wird —
kurz INKRA genannt —, und dies trotz eines einstimmigen befürwortenden Votums des Haushaltsausschusses vom April 1991. Hier haben wir doch den konkreten Beleg für meinen Vorwurf, daß neue Anliegen trotz der Beschlüsse des Haushaltsausschusses im Kreuz schlicht Jahre brauchen, bis sie umgesetzt werden können. Das finde ich unmöglich, ja ausgesprochen unparlamentarisch.
Den Einwand des Ministeriums — diesen nehme ich schon einmal vorweg —, das Ganze sei zu teuer, kann ich sofort entkräften, und zwar genauso wie bei der Haushaltsberatung: Es wäre ja ein Einstieg in Stufen wie auch bei anderen Projekten möglich. Dann würden die zu etatisierenden Gelder ganz einfach in kleinen, homöopathisch verkraftbaren Dosen — sprich: Mengen — bereitgestellt werden. Ob im Haushalt des zuständigen Instituts DIMDI oder unter eigenem Titel, ist für mich dabei zweitrangig.Seltsamerweise gibt es andererseits aber durchaus Möglichkeiten, 12 Millionen DM auf einen Schlag für ein offensichtliches Lieblingsprojekt — von wem, habe ich bis heute nicht rausgekriegt — hinzublättern,
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Uta Titzebeispielsweise für den Aufbau einer Knochenmarksfremdspenderdatei.Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Ich bin nicht gegen die Sache selbst, ganz im Gegenteil.
Ich übe nur Kritik an der Dimensionierung und an der Zeitschiene. Da geht es auf einmal von null auf hundert.
— Das weiß ich nicht. Sie müßten es wirklich besser wissen als ich. Meine Verbindungen zum Haus sind nicht so dicht wie Ihre.Ebenfalls geht mir das Verständnis für die ausgewiesenen Mittel für neue Geräte, Ausstattungs- und Ausrüstungsgegenstände im Bereich der Datenverarbeitung sowie für die Mittel, die für Mieten von DV-Anlagen ausgegeben werden, ab. Da besteht immer größtes Verständnis. Kann das vielleicht daran liegen — das müßte ich Sie als die Mehrheitsvertreter fragen —, daß die Notwendigkeit der Anschaffung von Datenverarbeitungsgeräten und -materialien von der parlamentarischen Seite aus nur sehr schwer beurteilt werden kann? Ich will nicht an die Katastrophe von heute morgen erinnern.Noch einmal ganz deutlich: Ich bin der Meinung, daß sich durch maßvolles Ausgeben und bescheidenere Zuwächse Verbesserungen realisieren lassen. Ich nehme auf das Bezug, was Sie, Herr Borchert, heute nachmittag gesagt haben: Man muß gucken, wo umgeschichtet wird. Das beanspruche ich auch für diesen Einzelplan; denn dann ergäben sich durchaus Spielräume für neue Gruppierungen und neue Projekte.
Ich kann mir angesichts dieses unerwarteten Haushaltsauftaktes heute morgen mit der Mordspanne in der Technik trotzdem nicht verkneifen, eine Berner-kung zum Ablauf der für den Einzelplan 15 entscheidenden Bereinigungssitzung und den in dem Zusammenhang beschlossenen Sparmaßnahmen zu machen. Sie, Herr Kollege Borchert, haben mich darauf gebracht, weil Sie um Verständnis gebeten haben — das fand ich sehr fair — für die in diesem Jahr außerordentlichen Belastungen im Zuge dieser Bereinigungssitzung.Wir Haushälter und Haushälterinnen sind so einiges gewöhnt; das habe ich in zwei Jahren schon mitgekriegt. Woran wir von der SPD uns aber nie gewöhnen werden, sind die immer chaotischer verlaufende Vorbereitung und Durchführung der Bereinigungssitzungen.
Ich denke, Herr Borchert und die Kollegen von der Regierungskoalititon, daß es einer Mißachtung des Parlaments gleichkommt, wenn immer neue hektisch verteilte Deckblätter die Beurteilung der faktisch geltenden Ansätze auch für Sie als Koalitionskollegen undurchsichtig, teilweise unmöglich machen.
Erinnern Sie sich an die Situation, als der Ausschußvorsitzende fragte: Worüber wird denn jetzt eigentlich beschlossen? Keiner hatte mehr Durchblick.
Diesmal ging es zu wie auf einem Basar. Dieser Ausdruck stammt nicht von mir, sondern stand in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung". Er beschreibt sehr treffend die Situation im Haushaltsausschuß während der letzten zwei Bereinigungssitzungen.
— Ich? Ich habe auch keine so dichten Beziehungen zur „Süddeutschen Zeitung". Tut mir leid.
Ich bedaure außerordentlich, daß im Zuge der von Bundesfinanzminister Waigel befohlenen Einsparmaßnahmen über das hinaus, was die Berichterstatter bereits angeboten haben, Gewichtsverschiebungen in Bereiche stattgefunden haben, die für mich und die SPD denkbar schlecht für Abmagerungskuren geeignet sind.Ich denke dabei beispielsweise an den Ansatz für Maßnahmen auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs. Ich glaube, es ging um eine Kürzung von 5 Millionen DM, obwohl die ständig steigende Zahl der immer jünger werdenden Drogensüchtigen und -toten eher das Gegenteil erforderlich machte. Dies wäre auch im Hinblick auf die notwendige Umsetzung der Ergebnisse des Bremer Methadonzwischenberichtes sowie der Ergebnisse eines Schweizer Pilotprojektes zur ärztlichen Heroinabgabe sinnvoll.Wenn ich mich recht erinnere, sagt sogar der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, er hielte eine Öffnung der restriktiven Haltung der Bundesregierung gegenüber den Vorschriften zur Methadonbehandlung für angebracht. Angesichts dieser Entwicklungen ist es kontraproduktiv, Millionen in diesem Bereich zu kürzen.Der Ehrlichkeit halber muß ich sagen, daß sich die Berichterstatterrunde in folgender Zwickmühle befand: Wir sollten, gezwungen vom Finanzminister, nur die Wahl haben, entweder im Bereich Aids oder im Bereich Drogen zu kürzen. Ich habe aus guten Gründen beides abgelehnt.
Noch eine Aussage zum Bereich Aids, weil Anträge seitens der PDS vorliegen. Ich denke — das muß man ehrlich auf den Tisch legen —, daß es sinnvoll war, einvernehmlich eine qualifizierte Sperre einzubringen, damit das Signal an die Länder unüberhörbar und deutlich gestellt wird, daß auch sie ihren Anteil für
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10406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Uta Titzedie Stiftung „Positiv leben", die deutsche Aids-Stiftung, zu leisten haben. Diese Entscheidung halte ich für richtig.
Ich möchte zum Abschluß noch auf zwei Probleme in diesem Einzelplan kommen, die spezifische ostdeutsche sind. In unseren Augen sind sie schlecht bis miserabel gelöst, da gerade für deren Lösung absolut unzureichende Mittel etatisiert worden sind. Es ist dies einmal die katastrophale Trinkwassersituation und zum anderen die desolate Lage der Ost-Krankenhäuser.Mit dem vorliegenden Haushalt verabschiedet sich die Bundesregierung von der in Art. 34 des Einigungsvertrages festgelegten Verpflichtung zur Schaffung der Einheitlichkeit ökologischer Lebensverhältnisse. Zumindest gilt dieser Abschied für den Trinkwasserbereich.Die Bundesregierung verweigert diese dringend notwendige Hilfe zur Sanierung der Trinkwasserversorgung in den ostdeutschen Ländern. Dies wird in der Konsequenz für die ostdeutschen Länder und Kommunen zu Sanierungskosten führen, die das Trinkwasser so teuer wie in der Sahara machen können. Dies ist beispielsweise im Großraum Leipzig der Fall, wenn ich daran denke, daß dort bis 1995 Trinkwasser in der von der EG geforderten Qualität fließen soll. Dann genügt es natürlich nicht, liebe Kollegen und Kolleginnen, gerade mal 800 000 DM für eine Fachkommission zu etatisieren.Die Registrierung der vorhandenen Trinkwasserqualität ist schön und gut, aber nur ein erster Schritt. Der wichtigere muß natürlich die Sanierung sein. Das geht ohne Bundeshilfe nicht. Wir verlangen deswegen ein vom Bund mitfinanziertes Trinkwassersanierungsprogramm.Übrigens sagen immer mehr ostdeutsche Kollegen, daß wassergefährdende Betriebe häufig in Schutzgebieten ansiedeln. Das ist natürlich der allerletzte Hammer.Ich fordere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, zum Abschluß auf, Ihre ideologischen Scheuklappen wegzulegen
und gemeinsam mit uns die nächsten großen Auf gaben anzupacken, nämlich die Lage der Psychiatrie insgesamt und die der ostdeutschen Kliniken speziell zu verbessern.Sie sehen also: So schnell geben wir von uns eingebrachte Anträge nicht auf. Spätestens im Jahre 1994 bei der fälligen Wachablösung werden wir die hierfür benötigten Haushaltsmittel bereitstellen.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie noch einmal über die allgemeine Geschäftslage informieren. Wenn keine weiteren Reden zu Protokoll gegeben werden, läuft das Plenum bis etwa 1.15 Uhr. Das heißt mit anderen Worten: Ich möchte Sie herzlich bitten, erstens die zugestandenen Redezeiten nicht voll auszunutzen und zweitens, soweit Sie sich dazu durchringen können — das trifft auch für Regierungsmitglieder zu —, von der Möglichkeit, Reden zu Protokoll zu geben, Gebrauch zu machen.
Dieses vorausgeschickt, erteile ich dem Abgeordneten Kriedner das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde nach dem, was wir gerade gehört haben, der Versuchung eisern widerstehen, die Kollegin Titze von dieser Stelle aus als „Liebe Uta" zu bezeichnen, auch wenn es etwas länger dauert, immer „Frau Titze" zu sagen.Die Beratungen der Einzelpläne im sozialen Bereich finden regelmäßig in einer familiären Atmosphäre statt. Wir hätten uns in diesem Jahr eigentlich gefreut, wenn das Plenum etwas voller gewesen wäre.
Frau Kollegin Titze hat von dieser Stelle aus bereits darauf hingewiesen, daß sich gerade im Bereich des Gesundheitswesens etwas vollzogen hat, was in diesem Haus Seltenheitswert hat. Wir haben uns nämlich zwischen den großen demokratischen Parteien auf einen Konsens einigen können. Ich bitte Sie, Frau Staatssekretärin, auch von unseren Fraktionen aus, dem Herrn Minister Seehofer noch einmal dafür zu danken, daß er bis an die Grenzen der zumutbaren Arbeitsnotwendigkeiten gegangen ist, um diese Reform über die Bühne zu bringen.Ich möchte jetzt zu dem Zweiten kommen und auch allen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause danken, insbesondere auch denen der Oppositionsfraktionen, die diesen Kompromiß möglich gemacht haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schon eine Leistung, daß die Reform des Gesundheitswesens als einer der Eckpfeiler der sozialen Sicherung in unserem Land, ungeachtet aller für viele Beteiligten schmerzlichen Eingriffe, gemeinsam zu einem guten Ziel gebracht werden konnte.Die Haushaltsberatungen in diesem Jahr mußten unter der heute bereits vielfach dargestellten schwierigen finanziellen Situation in allen Einzeletats entsprechend konsequent geführt werden. Minister Seehofer — er ist nicht da; ich kann ihn nicht ansprechen — hat mich in der an ihm gewohnt freundlichen Art heute nachmittag mit den Worten begrüßt: mein Sparkommissar. Ich will hier deutlich machen, so verstehe ich mich als Haushälter zwar nicht, aber ich habe den Hintergrund seiner Einlassung natürlich verstanden.In der Tat, wir haben uns, wie alle Mitglieder des Haushaltsausschusses, bei den Beratungen den Notwendigkeiten dieses Etats für 1993 auch im Bereich des Einzelplans 15 nicht verschließen können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10407
Arnulf KriednerFrau Kollegin Titze, Sie haben hier eben einige der Fragestellungen angesprochen, bei denen wir, ich sage einmal, den Rotstift angesetzt haben. Bloß, ich glaube, wir sollten eines gemeinsam akzeptieren. Wir haben bei den notwendigen Sparmaßnahmen, die solidarisch, aus allen Bereichen zu erbringen waren, an keiner Stelle die Notwendigkeiten bei der Bereitstellung der Mittel angegriffen, die für uns bereitstehen. Es gibt sicher einen Bereich, das ist der Bereich der INKRA, über den es verschiedene Ansichten gibt. Aber ich glaube einfach, sonst kann niemand sagen, daß wir etwa bei der Krebsvorsorge, bei der Versorgung chronisch Kranker oder auf dem Gebiet der Psychiatrie, aber auch bei der Unterstützung der medizinischen Forschungsvorhaben, hier ins Fleisch geschnitten hätten. Die von uns vorgenommenen Sparmaßnahmen, sind aus meiner Sicht allesamt verkraftbar.Sie haben von einer Sparmaßnahme gesprochen, bei der ich Ihnen ausgesprochen widerspreche. Das ist im Bereich der Drogen. Wir haben bei den Beratungen feststellen müssen, daß genau in diesem Bereich die Programmatik im Hause des Gesundheitsministers noch nicht so weit fortgeschritten ist, als daß wir von den Ansätzen so recht hätten überzeugt werden können. Deshalb habe ich gesagt, wenn dem so ist, dann kann man dort am ehesten den Rotstift ansetzen, bis die Konzeptionen ausgereift sind und man sichergehen kann, daß das Geld auch wirklich ausgegeben wird.Ich spreche bewußt noch einmal etwas an, was Sie eben hier auch vorgetragen haben, nämlich den Bereich Aids. Wir haben der Nationalen Aids-Hilfe 2 Millionen DM zur Aufstockung des Fonds zur Verfügung gestellt. Wir haben beschlossen, den gleichen Betrag der Deutschen Aids-Stiftung „Positiv leben" zur Verfügung zu stellen. Allerdings ist dieser Betrag erst einmal zeitlich gesperrt worden. Leider ist die Bundesratsbank leer. Die Bundesratsbank hätte sonst von mir hören müssen, daß bei dieser Deutschen Aids-Stiftung „Positiv leben" an sich die Länder in der Pflicht wären.
— Ja, das kann sein. Ich weiß nur nicht wo.Ich muß Ihnen hier schon ein Stück aus dem Tollhaus erzählen. Alle Länder sind angeschrieben worden und ein einziges hat positiv reagiert. Das war das Land Schleswig-Holstein.
—Ja, klatschen Sie nicht zu früh. Das Land Schleswig-Holstein hat bei einem Bedarf von 2 Millionen 5 000 DM angeboten. Das war das Ergebnis. Immerhin.
— Positiv reagiert im Sinne einer Reaktion.
— Ja, bei solchen Angeboten wird man bescheiden, automatisch, möchte ich fast sagen.Wir mahnen selbstverständlich an, daß die Länder bei der Bekämpfung dieser gefährlichen Krankheit ihre Verantwortung genauso wahrnehmen wie das der Bund tut, der an dieser Stelle nicht gekürzt hat und der alle Maßnahmen ungekürzt fortführt. Das kann man, meine ich, an dieser Stelle noch einmal verlangen.
Ich möchte gern noch ein kurzes Wort zu den Modellmaßnahmen im Beitrittsgebiet sagen. Kollegin Titze, Sie haben es festgemacht an einem Punkt, bei dem ich meine, daß man anders reagieren muß. Wir alle sind uns darüber im klaren, daß etwa auf dem Gebiet der Trinkwasserproblematik mit dem Haushalt des Gesundheitsministeriums nichts zu machen ist. Was wir garantiert haben, ist die Weiterbringung eines Forschungsvorhabens. Aber ich glaube nicht, daß wir in der Lage gewesen wären, die Milliardenbeträge auch nur im Ansatz aufzubringen. Aus diesem Grund gehört das in andere Programme hinein, wenn wir etwas für das Trinkwasser tun wollen.Für uns war es bei den Beratungen wichtig, daß dieses Notprogramm personell nicht gestoppt werden kann und daß die notwendige Beratung weiter zur Verfügung steht.Ich möchte, meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz der vielen Zettel, die ich hier noch habe und der sechs Minuten, die mir verbleiben,
Ihrem Aufruf, Herr Präsident, folgen. Ich möchte, weil ich in vielem auch mit der Kollegin Titze übereinstimme, sagen: Ich bedanke mich ganz besonders herzlich bei meinen Mitberichterstattern, bei der Kollegin Titze, bei dem Kollegen Dr. Weng, und ich bedanke mich beim Gesundheitsministerium für die gewohnt gute Vorbereitung und Unterstützung bei unseren Beratungen.
Herr Abgeordneter, ich möchte mich im Namen des ganzen Hauses und der Bediensteten des Hauses herzlich für Ihr Verhalten bedanken.
Der Abgeordnete Dr. Thomae war so freundlich, seine Rede zu Protokoll zu geben * ). Ich bedanke mich.
Ich erteile der Abgeordneten Frau Dr. Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Bereich des Gesundheitswesens gibt es schon die Große Koalition, wie ich sehe. Ich denke, das würde eigentlich für mehr Redezeit für die PDS/Linke Liste sprechen als Opposition in diesem Fall. Ich kann natürlich all dem nicht ganz so zustimmen, wie das hier dargestellt wird. Der Haushaltsplan 15 ist für mich ein beredtes Beispiel dafür, daß sich der Staat — und das wird nicht') Anlage 3
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10408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Dr. Ursula Fischerbestritten werden — aus der sozialen Infrastruktur ersatzlos herausschleicht. Motto: das merkt ja keiner. Darauf kann sich der Staat in der Regel auch verlassen und offensichtlich auch auf seine Abgeordneten.Meine Damen und Herren, man sollte sich folgende Relation auf der Zunge zergehen lassen. Der Einzelplan 15 umfaßt ganze 1,07 Milliarden DM als staatliche Beteiligung an der Gesunderhaltung der Bevölkerung. Allein für die Anschaffung von Kriegsschiffen ist 1993 mehr geplant.
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kriedner zu beantworten?
Natürlich. Er ist aus dem Wahlkreis Sonneberg. Da bin ich geboren. Da können wir uns sicher ganz gut verständigen.
Frau Kollegin, ich will nicht Zeit schinden, sondern ich glaube, es muß hier eine Frage an Sie gerichtet werden zur Klarstellung Ihrer Eingangsformulierung. Ist Ihnen entgangen, weil Sie möglicherweise an zentrale Staatshaushalte gewöhnt sind, daß die meisten Kosten für das Gesundheitswesen in den Länderhaushalten ausgewiesen werden?
Sehr geehrter Herr Kollege Kriedner, ich glaube, mir ist es nicht entgangen, weil ich an früheren Staatshaushalten in der DDR nicht beteiligt war. Meine Einstellung ist nicht so, daß ich das verteidigen will oder sonst etwas, was gewesen ist, sondern mir geht es darum, daß die Sicht der Patienten hier sichtbar gemacht wird. Dafür setze ich mich ein. Daran werden Sie mich auch nicht hindern können.
Müßten Sie dann nicht aus Fairneß, Frau Kollegin, dieses hier auch zum Ausdruck bringen und die enormen Summen, die in den Länderhaushalten stehen, hier auch nennen?
Ich denke nicht, daß das hier an der Stelle meine Aufgabe ist, denn ich rede über den Haushalt des Bundes.
Mir ist natürlich das andere klar.Der Haushalt Gesundheit macht ganze 0,245 % des Gesamthaushaltes aus — das ist einfach die Wahrheit — und das in einer Situation, wo das Krankheitspanorama mehr und mehr gesellschaftliche Entstehungsursachen hat.Die gesetzlichen Krankenkassen geben über 150 Milliarden DM aus. Das sind wohlgemerkt Beiträge. Mit den Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen durch die Versicherten in Höhe von mittlerweile rund 12 Milliarden DM jährlich kann man wohl eindeutig konstatieren: Der Staat hat sich fast völlig aus seiner Fürsorgepflicht — die hat er nämlich auch — für die Gesundheit und den Gesundheitsschutz seiner Bürgerinnen und Bürger herausgezogen.Das heißt, wir haben teilweise — und das sehr weit — ein selbstfinanziertes Gesundheitswesen vor uns. Diese Tendenz ist steigend. Beitragsstabilität, wie sie hier gemeint wird, nützt weniger dem Versicherten, weniger dem Kranken, um so mehr dem Arbeitgeber. Darum geht es meiner Ansicht nach letztendlich. Auch wir sind für Beitragsstabilität. Aber bei den Hintergründen muß man das so sagen.Gerade auch deshalb wenden wir uns so vehement gegen die geplanten weiteren Zuzahlungen im Gesundheitsstrukturgesetz. Der Staat zieht sich aus seinen finanziellen Verpflichtungen zurück, aber nicht nur das. Mit solchen Gesetzen wie dem Gesundheitsstrukturgesetz — ich gebe zu, daß da sehr viele neue Tendenzen aus der Westsicht vorhanden sind — reglementiert er mehr und mehr, anstatt die Selbstverwaltung der Versicherten und die demokratische Mitwirkung der Versicherten zu stärken.Diesen mageren Teilplan — das sage nicht nur ich, sondern das wurde auch von anderer Stelle schon gesagt — dann auch noch unterdurchschnittlich, nämlich nur um 1,9 % statt um 2,5 %, zu steigern, wogegen z. B. der Bereich Verkehr, Einzelplan 12, um 10,7 % gesteigert wird, zeigt, welchen Kurs die Bundesregierung in der Gesundheitspolitik fährt: einen Sparkurs der gesetzlich Versicherten zu Lasten auch von kranken, älteren und behinderten Bürgerinnen und Bürgern. Ich könnte Ihnen das nachweisen.Lassen Sie mich einige Sparmaßnahmen im Detail betrachten. Bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung werden Mittel für die gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung von 29 Millionen DM auf 12,5 Millionen DM gekürzt, mit der Begründung, daß diese Mittel teilweise an anderer Stelle eingeplant werden.Wir stimmen dem insoweit zu, da auch wir meinen, daß z. B. Aufklärung über Drogen- und Suchtmittelmißbrauch effizienter vor Ort als durch bunte Heftchen oder Werbespots geschieht; das ist ja bekannt. Wenn aber Studien und Aufklärungsmaßnahmen seitens der Bundeszentrale stark eingeschränkt werden, so frage ich mich: Wieso bleiben dann die Personalkosten inklusive Tariferhöhungen konstant?Nun geht es mir nicht darum, Menschen dort zu entlassen. Aber sie sollten Mittel für die Untersuchung neuer Problemfälle erhalten. Wie lange so etwas dauert, haben wir schon gehört.Dabei denke ich an die eingangs erwähnten gesellschaftlichen Entstehungsursachen für Krankheiten, für die natürlich dann die Gesellschaft und insoweit auch der Bund aufkommen muß.Wir jammern alle über die Zunahme chronischer Erkrankungen. Diese ist nur teilweise mit dem demographischen Wandel zu erklären. Für die Zunahme von psychischen und psychosozialen Erkrankungen machen Politologen und Soziologen neben Arbeitsintensität zu Recht weit verbreitete Perspektivlosigkeit verantwortlich. Ich befürchte, daß diese Perspektivlosigkeit sich auch im Gesundheitswesen ausbreiten wird. Davon können auch hervorragende wissenschaftliche Leistungen gerade in der Medizin in Deutschland nicht ablenken.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10409
Dr. Ursula FischerDoch was tut der Staat, tut das Bundesgesundheitsministerium, das gesellschaftliche Umfeld hinsichtlich Ursachenkomplexen für chronische Erkrankungen zu erforschen? Zu wenig!Statt dessen werden — um zu einem weiteren Einzelpunkt zu kommen — die Mittel für Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker um 5 Millionen DM, nämlich von 22 auf 17 Millionen DM, eingeschränkt. Das ist mir als Ärztin aus den neuen Bundesländern völlig unverständlich, gerade weil die Erfahrung der DDR z. B. bei der kontinuierlichen Diabetesbetreuung zeigt, daß ein gut geführter Patient nicht nur ein besseres Lebensgefühl hat, sondern auch billiger ist. Das will ich hier feststellen, obwohl für mich dieses Herangehen, daß sich ein Mensch — so sei er denn Patient — unbedingt rechnen muß, fremd ist. Ich stelle überhaupt in Frage, ob sich ein Grundrecht der Menschen, die Gesundheit, überhaupt ausrechnen läßt.Unsere Änderungsanträge zum Teilplan 15 beziehen sich vor allem auf die Unterstützung von Aids-Erkrankten. Wir bitten Sie, den Sperrvermerk im Titel 6815 15 des Kapitels 1502 hinsichtlich der Zustiftung zum Stiftungsvermögen der Nationalen Aids-Stiftung zu streichen. Es kann doch wohl nicht sein, daß der Finanzierungshickhack zwischen Bund und Ländern auf dem Rücken dieser besonders betroffenen Menschen ausgetragen wird. Da bin ich auch etwas über Uta Titze enttäuscht. Sie hat doch im Gesundheitsausschuß dazu etwas anders geredet.Des weiteren bitten wir, unserem Vorschlag nach einer neuen Haushaltsstelle „Förderung zentraler Malinahmen der Familienarbeit einschließlich Famililenplanung und der kindlichen Sozialisation der Deutschen Aids-Stiftung und der Nationalen Stiftung" zuzustimmen.Meine Damen und Herren, in den gesellschaftlichen Beziehungen dieser Bundesrepublik Deutschland breiten sich Angst und Unsicherheit als bestimmende Momente aus. Das letzte Wochenende ist dafür ein erschreckendes Beispiel und macht mich sehr betroffen. Für mich bedeutet das auch, daß zu einer vernünftigen Sozialpolitik als Minimalbedingung die Bereitschaft der Politikerinnen und Politiker gehört, sich Einsichten zu stellen und Schlußfolgerungen zu ziehen.Kann es diese Bereitschaft, sich um popligste Dinge der Basisversorgung im Gesundheitswesen zu kümmern, überhaupt von Politikerinnen und Politikern geben, die in der Regel privat versichert sind und jederzeit hervorragend gesundheitlich versorgt sind? Da habe ich so meine Zweifel, wenn ich die heutige Debatte hier höre.Auch das ist unter Umständen einer der Gründe, der den Haushaltsplan 15 so schmal ausfallen läßt. Wir müssen diesen Plan ablehnen. Er zeigt unverblümt und offen die Sicht dieses Hauses auf eine Prioritätensetzung, die wir so nicht tragen können.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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10410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
— Dann bemühen Sie sich bitte nicht weiter um SED-Mitglieder in Ihren Reihen.
Frau Abgeordnete, ich nehme an, das war eine Feststellung. Ich möchte auch mit Rücksicht auf die Zeit bitten fortzufahren.
Meine Damen und Herren, Frau Titze hat hier erfreulicherweise festgestellt, daß das Gesundheitsstrukturgesetz dank der Initiative unseres Ministers zu einem Erfolg geführt werden kann. Frau Titze, wir wissen, daß die Krankenhäuser in den neuen Ländern sanierungsbedürftig sind. Sie wissen auch, daß unsere Bemühungen dahin gehen, daß ein Finanzierungsmodell gefunden werden muß. Wir werden in unseren Bemühungen dahin gehend auch nicht nachlassen.Weite Bereiche der gesundheitspolitischen Arbeit liegen außerdem — das ist immer wieder gesagt worden — in der Zuständigkeit der Länder. Aufgabe des Bundes ist es, gezielt Mittel für Modellprojekte einzusetzen, die richtungsweisend für neue gesundheitspolitische Herausforderungen sein können.Nach der Verfassung haben die Modelle des Bundes immer nur einen innovativen Charakter. Das heißt, neue Konzepte sollen auf den Weg gebracht werden, die dann von den Ländern weiterverfolgt werden müssen.Es ist wichtig, das einmal klar herauszustellen. Denn viele glauben, weil wir so viele Modellprogramme und so viele Modellprojekte auf den Weg gebracht haben, daß es auch weiterhin alleine die Aufgabe des Bundes sein muß, diese Modellprojekte zu finanzieren.Ich muß hier ganz deutlich sagen: Es ist aus haushaltsrechtlichen Gründen Aufgabe der Länder, diese Modellprojekte nachher in die Finanzierung zu übernehmen. Ich nenne hier nur einige Konzepte und Modellprogramme, die wir auf den Weg gebracht haben. Das sind Modellprojekte in der Aidsbekämplung, in der Drogenbekämpfung, in der Krebsbekämpfung sowie in der Psychiatrie. Daß wir gute Konzepte auf den Weg gebracht haben, zeigt beispielhaft unsere Arbeit im Bereich der Drogenbekämpfung und im Bereich der Bekämpfung der Immunschwächekrankheit Aids. Die meisten Neuerungen in der Versorgung Suchtkranker und in der Bekämpfung der Drogensucht sind von Modellen des Bundesgesundheitsministeriums ausgegangen, sei es die Erprobung der ambulanten Therapie, seien es neue Wege der Entgiftung oder die niedrigschwelligen Angebote als Überlebenshilfe.Wir stellen in unserem Etat zur Bekämpfung von Drogensucht und Suchtmittelmißbrauch insgesamt 50,8 Millionen DM zur Verfügung. Frau Fischer, auch das haben Sie vorhin vergessen zu sagen, als Sie den Etat der BZGA angesprochen haben, daß wir allein zusätzlich 22 Millionen DM für die Drogenaufklärung in diesem Titel im Haushalt haben — Sie müssen den Haushalt schon richtig lesen — und z. B. zur Aidsbekämpfung im Titel Aids 27 Millionen für Aufklärung vorgesehen haben.
Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, daß die seit Jahren durchgeführte Aufklärungsmaßnahmen auch wirksam sind. Kinder und Jugendliche haben heute eine viel kritischere Einstellung zu Drogen, als das noch vor zehn Jahren der Fall war. Allerdings müssen wir leider konstatieren, daß eine steigende Zahl erfaßter Erstkonsumenten im Bereich der jungen Erwachsenen zu verzeichnen ist. Darum sage ich hier ganz deutlich: Es darf in der Drogenbekämpfung keine Entwarnung geben, sondern wir müssen die Aufklärungsarbeit ständig aktualisieren und vor allen Dingen zielgruppenorientiert durchführen. Das heißt, die Suchtprävention muß bei der Bevölkerung zu einem Dauerthema werden.Wir haben auch in den neuen Ländern umfangreiche Präventionsmaßnahmen aufgebaut. Darum möchte ich hier beispielhaft einige unserer Programme nennen: die mobile Drogenprävention, die in den neuen Ländern integrierte Suchtberatungsstelle, welche übrigens ein hervorragendes neues Modell ist. Hier werden ausschließlich für die neuen Bundesländer Beratungskonzepte für Drogenabhängige an die vorhandenen Beratungsstellen für Medikamenten- und Alkoholabhängige angebunden und dort erprobt. Außerdem haben wir vor, auch noch neuere Modelle zu erproben. Einen wichtigen Fortschritt in der Drogenbekämpfung erwarten wir von der Einrichtung des Nationalen Drogenrats in unserem Haus, der 1993 seine Arbeit aufnimmt. Experten aus der Drogenpolitik werden sich in diesem Gremium mit allen relevanten Themen befassen, angefangen von der Entwicklung neuer Präventionsstrategien bis hin zur Entwicklung neuer Forschungsschwerpunkte und neuer Therapieansätze.Ich möchte hier auch noch einmal deutlich sagen: Ziel unserer Drogenpolitik ist es, ein Leben ohne Drogen zu ermöglichen.
Deshalb dürfen wir unsere Augen nicht vor den Problemen verschließen, sondern müssen mit offenen Augen alle neuen Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen, beobachten.Einige Anmerkungen zum Aidsproblem: Während in vielen Entwicklungsländern die Ausbreitung von Aids in erschreckendem Maße und scheinbar unge-bremst fortschreitet — weltweit sind es bereits 2,5 Millionen Menschen, die dieser Krankheit zum Opfer gefallen sind —, hat sich der Anstieg der jährlichen Neuinfektionen in der Bundesrepublik abgeflacht. Ein Grund dafür ist, daß die Bundesrepublik Deutschland weltweit zu den ersten Staaten gehörte, die massive Anstrengungen zur Eingrenzung der Epidemie unternommen haben. Allerdings heißt das nicht, daß wir unsere Bemühungen nun reduzieren können. Im Gegenteil, wenn wir unsere Erfolge nicht gefähr-
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohlden wollen, dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.
Das zeigt auch der Blick in die Statistik: Bis Ende Oktober dieses Jahres waren ca. 54 500 HIV-Infektionen beim Bundesgesundheitsamt gemeldet. An Aids, dem Endstadium der HIV-Infektion, waren bis dahin ca. 9 000 Personen erkrankt. Die Hälfte aller Aidserkrankten ist inzwischen gestorben.Aber ich möchte noch einmal deutlich hervorheben, daß die Eigenverantwortung der Menschen hier auch eine ganz große Rolle spielt.Die Finanzierung und Unterstützung im Bereich der Aidsstiftungen hat Herr Kriedner bereits erwähnt. Ich glaube, ich brauche darauf nicht einzugehen.Aber, Frau Titze, lassen Sie mich zu einer von Ihnen geäußerten Kritik Stellung nehmen. Sie haben gesagt: Zu viele Dinge hängen am ständigen Tropf des Gesundheitsministeriums.
— Sie klatschen zu früh. — Ich glaube, Sie haben sich widersprochen, indem Sie dann gesagt und kritisiert haben, daß der Aufbau der bundesweiten Knochenmarkspenderdatei nicht notwendig wäre. Wenn Ihre Kollegen da klatschen, dann haben sie an der falschen Stelle geklatscht;
denn wir wollen mit einer bundeseinheitlichen Spenderdatei den vielen hoffnungslos oder schwer erkrankten Kindern und Erwachsenen helfen, eine Therapie zu bekommen. Sie wissen, daß es unterschiedliche Aktivitäten in den Ländern und einzelner Gruppen gibt. Es war unsere Bemühung, die Vertreter dieser Einzelaktivitäten an einen Tisch zu bekommen, damit wir eine ebenso gute Knochenmarkspenderdatei, wie sie z. B. in Amerika vorhanden ist, aufbauen können, um unseren Kranken helfen zu können. Hier machen wir etwas Neues, und dann wird es kritisiert.
Frau Staatssekretärin, die Abgeordnete Frau Titze möchte noch eine Frage stellen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, und zwar grundsätzlich für heute abend, daß ich die Zwischenfragen auf die Redezeit anrechnen muß.
Dann möchte ich bitte noch schnell etwas zum Verbraucherschutz sagen, Frau Titze. Wir haben sehr viele Aufgaben auch außerhalb der Gesundheitspolitik.
— Herr Präsident, ich kann gegen diesen Krach nicht ansprechen. —
Ich nenne hier beispielhaft den Bereich des Lebensmittel- und Veterinärrechts. Die Vollendung des EG-Binnenmarktes Anfang 1993 stellt uns hier noch vor eine Reihe offener Fragen. Ich nenne die „Frischfleisch-Richtlinie" der EG. Diese Richtlinie soll u. a. die hygienischen Bedingungen europaweit regeln, unter denen ein handwerklicher Metzger produziert, der seine Erzeugnisse aber nur national vermarktet. Konkret soll dem Metzger z. B. vorgeschrieben werden, daß er sich an die EG-Normen zu halten hat, wenn er mehr als 20 Rinder oder mehr als 60 Schweine schlachtet. Das heißt, das 21. Rind unterliegt dann den EG-Normen. Aber muß ein Metzger, der seine Produkte nur national vermarktet, tatsächlich die gleichen Normen erfüllen wie Betriebe, die europaweit vermarkten, wenn er nur ein Tier mehr schlachtet, als in der EG-Richtlinie vorgesehen ist?
Hier will ich deutlich machen, welche Bedeutung die Subsidiarität haben muß.
Ich denke, daß gerade im Lebensmittelhygienerecht, wo wir ausgezeichnete nationale Vorschriften haben, das Subsidiaritätsprinzip stärker beachtet werden muß.
— Das ist ein ganz anderes Problem. Da müssen wir sicherlich EG-weite Normen erarbeiten.
— Salmonellen sind nicht im Rind- oder Schweinefleisch, wenn ich Sie darüber vielleicht aufklären darf. Ich habe über Rind- und Schweinefleisch gesprochen.
Meine Damen und Herren, ich will zum Schluß kommen. Ich habe versucht, ein paar Aufgaben unseres Ministeriums darzustellen. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Bedeutung des Ministeriums wesentlich größer ist, als der Etat das aussagt.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 12/3796? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei drei Enthaltungen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/3797? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist bei gleichen Mehrheitsverhältnissen abgelehnt.Wer stimmt für den Antrag der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3801? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt.Wer stimmt für den Antrag der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3802? — Wer stimmt dagegen? — Der Antrag ist bei gleichen Mehrheitsverhältnissen abgelehnt.Wer stimmt für den Einzelplan 15 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist der
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergEinzelplan 15 in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koalition angenommen worden.Ich rufe auf: Einzelplan 17Geschäftsbereich des Bundesministers für Frauen und Jugend— Drucksachen 12/3517, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Susanne Jaffke Ina AlbowitzDr. Konstanze WegnerHierzu liegen ebenfalls zwei Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor.Frau Dr. Wegner, ehe ich Ihnen das Wort erteile, kann ich dem Haus nicht vorenthalten, daß Borussia Dortmund 3 : 1 in Führung liegt.
Frau Dr. Wegner, nun haben Sie das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Sonntagsreden von Politikern aller Parteien wird eigentlich immer dasselbe Bild entworfen; ich nehme meine Partei dabei gar nicht aus. Darin heißt es immer, daß die Themen Frauen, Jugend, Familie und Senioren den Parteien ungeheuer am Herzen lägen. Wenn die Haushaltsberatungen stattfinden, dann rutschen die entsprechenden Einzelpläne jedoch immer ziemlich weit nach hinten, und man hat es schwer, noch die nötige Aufmerksamkeit für diese Themen zu finden.
— Ihr müßt euch auch noch bessern.
Diese Seite ist zur Zeit weniger gut besetzt als die rechte, so muß ich leider sagen. — Da das, was wir hier besprechen, immerhin gut die Hälfte der Bevölkerung betrifft, schlage ich vor, daß nicht nur die Einzelpläne Wirtschaft und Verteidigung, sondern auch unsere Einzelpläne einmal optimal präsentiert werden. Ich habe in diesem Sinne auch an die Präsidentin geschrieben, aber ich habe keine Antwort bekommen.
Nun zum eigentlichen Thema. Haushaltsberatungen machen nicht mehr soviel Freude wie früher, denn es geht im Grunde nur noch darum, einzusparen, umzuverteilen, aber es geht kaum noch darum, etwas draufzutun. Das macht natürlich nicht soviel Freude, wie es früher der Fall war. Wir haben bei diesen Haushaltsberatungen versucht, wenn es ging, etwas für die neuen Länder zu tun.Gestatten Sie mir zunächst einige Bemerkungen zur Frauenpolitik generell. Der jüngste frauenpolitische Bericht ist ja gerade vorgelegt worden. Er zeigt eigentlich, Frau Ministerin, daß das traditionelle Spektrum von Benachteiligungen leider immer noch vorhanden ist. Das heißt: Die Mädchen haben in der Regel genauso gute Schulabschlüsse wie die Jungen, aber sie wechseln nach der Schule immer noch in ein zu schmales Spektrum von Berufen. Frauen werden nicht so leicht eingestellt wie Männer. Frauen haben es schwerer beim beruflichen Aufstieg. Frauen werden eher entlassen. Frauen haben niedrigere Löhne, und Frauen haben im Alter auch niedrigere Renten.Sie sind nach wie vor unterrepräsentiert in den Führungsgremien unserer Gesellschaft, auch in diesem Hause — zwar nicht heute abend, aber insgesamt in der Politik —, in der Wissenschaft und in der Wirtschaft. Es ist nicht so, daß Frauen dümmer wären als Männer, aber es ist so, daß das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor auf ihrem Rücken ausgetragen wird.Es ist die Frage, ob der Bundeshaushalt 1993 auf diese Herausforderung eine angemessene Antwort gibt.
Ich glaube, nicht. Man muß ehrlicherweise sagen, daß ein Frauen-Titel von ganzen 25 Millionen DM angesichts eines Gesamtvolumens von rund 436 Milliarden DM auch Ihnen, Frau Merkel, natürlich keine großen Sprünge gestattet. Sie haben, wenn ich es richtig gelesen habe, zwar im Ausschuß darauf hingewiesen, daß im Haushalt insgesamt etwa 400 Millionen DM für Frauenpolitik zur Verfügung stehen, aber das scheint mir doch eine Milchmädchenrechnung zu sein. Dann könnte ich, wenn ich BAföG oder die Rentenzahlungen des Bundes mit einbezöge, auch sagen, daß Milliarden für Jugendpolitik und für Seniorenpolitik ausgegeben werden. Wir denken ja auch an Dinge, die verfügbar sind.Die Frauenpolitik der Regierung ist diffus. Sie hat für mich keine erkennbare Kontur.
— Lieber Kollege Borchert, es werden 700 Einzelprojekte mit 8 Millionen DM gefördert. Ich frage mich, ob Sie da noch durchblicken.
Ich tue es nicht.
Ich meine, es wäre wesentlich sinnvoller, wenn sich das Ministerium auf einige wenige Schwerpunkte konzentrieren würde.Im Hinblick auf diese Schwerpunkte könnte man dann auch etwas bewegen. Es ist z. B. ein guter Gedanke, Existenzgründungen von Frauen durch Beratungen zu unterstützen. Ich meine aber, Sie sollten einen Weg finden, wie man diesen Frauen auch materielle Hilfe zuteil werden läßt. Das wäre sicherlich nützlich. Eines muß ich Ihnen sagen: Die jüngste AFG-Kürzung, die Sie durchgedrückt haben,
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Dr. Konstanze Wegnerpaßt zu einer ehrlichen Frauenpolitik wie die Faust aufs Auge.
Sie trifft nämlich gerade die Frauen im Osten, die es ohnehin wesentlich schwerer auf dem Arbeitsmarkt haben.Leider muß man auch sagen, daß alle wirklich wichtigen frauenpolitischen Entscheidungen in dieser Legislaturperiode entweder aufgeschoben wurden oder in der Schwebe oder nicht finanzierbar sind. Ich möchte das auch belegen. Ein Frauenhausfinanzierungsgesetz, ein Rahmengesetz des Bundes, ist wirklich überfällig; es steht immer noch aus.
Ich weiß, dieser Appell richtet sich auch an die eigenen Länderfinanzminister. Sie brauchen mir nichts zu sagen. Aber man muß trotzdem immer wieder darauf hinweisen, daß ein solches Gesetz notwendig ist.
Gegen die Neuregelung des § 218 hat die größte Fraktion in diesem Hause wieder vor dem Verfassungsgericht geklagt. Sie hat damit — das muß man sagen — den sehr mühsam gefundenen und erarbeiteten Parteienkompromiß, der wirklich historisch überfällig ist, wiederum zur Disposition gestellt.Schließlich haben wir den Rechtsanspruch auf den Kindergartenplatz und den bedarfsgerechten Ausbau von Horten und Krippen. Das ist eine gute Sache, aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, daß die Finanzierung dieses Rechtsanspruchs nur auf dem Papier steht. Die Kommunen allein können dies nicht leisten. Das weiß jeder, der aus der Kommunalpolitik kommt. Sie können auch den Zeitrahmen nicht einhalten. Das heißt: Hier sind die Länder, hier ist aber auch der Bund gefordert, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Ich meine, man sollte einmal darüber nachdenken, ob man dies nicht in Form einer neuen Gemeinschaftsaufgabe nach Art. 91 a Grundgesetz machen könnte, und zwar zumindest im investiven Bereich.
Es sagt niemand, daß die bestehenden Gemeinschaftsaufgaben Ewigkeitscharakter haben. Es muß ja auch einmal ein Wechsel nach der Priorität möglich sein.Ich glaube, es bleibt noch viel zu tun in der Frauenpolitik. Ich wünschte mir von der Frauenministerin eigentlich ein bißchen mehr Courage. Ich wünschte mir, daß Sie auch den Mut aufbrächten, ein bißchen wider den Parteistachel zu löcken und etwas deutlicher frauenpolitisch Farbe zu bekennen,
Das würde Ihnen in der Partei nicht schaden, und es würde den Frauen möglicherweise nutzen.
Mit der Gemeinsamen Verfassungskommission haben wir die Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sache der Frauen auch rechtlich und praktisch voranzutreiben. Deshalb, denke ich, sollten die Frauen in der Regierungskoalition die Männer einmal unter Druck setzen, mit welchen Mitteln, ist mir vollkommen egal.
Wie Sie das machen, ist mir vollkommen schnuppe, aber setzen Sie Ihre Männer in der Verfassungskommission etwas unter Druck, damit die Sache der Frauen wirklich einen Schub bekommt, denn solch eine Chance kriegen wir nicht wieder, nicht in diesem Jahrhundert und nicht in den nächsten 30 Jahren.
— Es gibt verschiedene Formen, jemanden unter Druck zu setzen, Herr Kollege. Vielleicht finden wir eine, die auch Ihnen angemessen ist.Nun zur Jugendpolitik. Die Ereignisse der letzten Monate mit den Übergriffen und Gewalttaten gegen Ausländer in Ost und West haben eine erschreckende Gewaltbereitschaft gezeigt. Dieser Satz, den ich gestern aufgeschrieben habe, hat eine schreckliche Aktualität gewonnen; wir haben heute schon darüber gesprochen. Allerdings muß man sagen, daß die große Mehrheit aller Jugendlichen nach wie vor Gewalt ablehnt. Das zeigen auch die gerade veröffentlichten Jugendstudien.Dennoch bleibt für uns die Frage nach den Ursachen dieser Gewaltbereitschaft und danach, was wir tun können. Ich glaube, gefordert sind Eltern, Erzieher, Medien und Politik, alle in gleicher Weise. Gewaltfreie Erziehung muß in der Familie beginnen. Sie sollte in der Schule und in der Ausbildung fortgesetzt werden.
— Die kommen noch, Herr Kollege. — Denn vielfach setzen junge Leute nur das um, was sie zu Hause und in ihrer Umgebung hören oder als Signal empfangen.
Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften hat festgestellt, daß die Zahl brutaler Videofilme und mörderischer Computerspiele zunimmt. Nach Auffassung der Leiterin haben diese Spiele nur einen einzigen Zweck, „möglichst viele Leute auf möglichst unterschiedliche Weise abzumurksen".Seit Beginn dieses Jahres dürfen die privaten Fernsehanbieter nach 23 Uhr indizierte Filme zeigen. Es ist so, daß die dafür Verantwortlichen offenbar glauben, daß um diese Zeit kein Jugendlicher mehr vor dem Fernseher sitzt. Aber Untersuchungen haben ergeben, daß eine halbe Million Kinder bis zu 13 Jahren diese Sendungen angucken.
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Dr. Konstanze WegnerDaneben hat sich eine ganze Sparte rechtsradikaler Liedtexte und Songs entwickelt, die immer unverfrorener auch in der Öffentlichkeit vorgetragen werden.Die Frage ist, was die Politik tun kann. Eigentlich würde man sagen, das ist jetzt die Stunde der politischen Bildung. Aber paradoxerweise ist es so, daß gerade die Haushaltsmittel für politische Bildung drastisch gekürzt worden sind.
Erfreulicherweise ist es wenigstens gelungen, entgegen dem ursprünglichen Haushaltsentwurf das sogenannte AFT-Programm zum Aufbau freier Träger in den neuen Ländern fortzuführen, wenn auch um die Hälfte gekürzt. Die SPD hatte die Fortsetzung auf gleicher Höhe — 50 Millionen DM — mit einer Verpflichtungsermächtigung von 30 Millionen DM im Rahmen des Bundesjugendplanes gefordert. Denn wir glauben, daß Jugendarbeit in den neuen Ländern eine langfristige Perspektive braucht, um Wurzeln zu schlagen.
Die Koalition hat in der Bereinigungssitzung zunächst einmal ein Einmalprogramm mit kw-Vermerk für 1993 vorgelegt.
Aber in der Debatte ist es gelungen — alle Berichterstatterinnen haben dafür gestritten —, daß dieser kw-Vermerk weggekommen ist.
— Aber die nicht alleine.Positiv ist auch zu werten, daß durch die Bewilligung von 80 neuen Stellen zumindest die schlimmste Personalnot im Bundesamt für Zivildienst beseitigt worden ist. Wir freuen uns auch, daß der Finanzminister Einsicht gezeigt hat. Vom Finanzministerium ist zwar niemand mehr da,
aber der Minister kann auch einmal in Abwesenheit gelobt werden.
— Tun Sie das. Er ist schon soviel gerupft worden.
Frau Abgeordnete, der Finanzminister hat mich wissen lassen, daß er im Restaurant eine Kleinigkeit zu sich nimmt und seine Akten bearbeitet und jederzeit zur Verfügung steht.
Ich will ihn ja nur loben, weil er sich aufgerafft hat, entgegen seiner ursprünglichen Absicht die Mittel für die Zivildienstleistenden im Bereich mobile soziale Hilfsdienste und individuelle Schwerstbehindertenbetreuung für die volle Laufzeit von fünfzehn Monaten im Haushalt einzustellen. Zuerst sah es nämlich ganz anders aus.
Für dieses Ziel setzen wir uns seit langem ein. Denn wenn sich der Bund aus dieser Finanzierung zurückzieht, werden die Gemeinden dort nicht einsteigen. Das ginge zu Lasten der Schwächsten in unserer Gesellschaft, nämlich der Behinderten und der Alten.Allerdings darf man nicht die Augen davor verschließen, daß der Einsatz der Zivis in diesen Bereichen letztlich dazu beiträgt, den Pflegenotstand zu verkleistern. Ich denke, es bleibt eine Schande für unsere Gesellschaft, daß wir nach wie vor nicht bereit sind, die Pflegeberufe materiell und inhaltlich so auszustatten, daß wir kein Problem mehr haben.
Nach diesem Lob muß ich am Schluß noch einiges Unerfreuliche anmerken. Für den Bundesjugendplan, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedeutet dieser Haushalt, abgesehen vom AFT-Programm, eine Null- bzw. eine Minusrunde. Auch der Titel für den Bau von Jugendherbergen und -begegnungsstätten bleibt angesichts fehlender Deckungsmittel auf gleicher Höhe, obwohl in den alten wie in den neuen Ländern ein immenser investiver Bedarf besteht. Die Schätzungen belaufen sich auf etwa 200 Millionen DM für die alten Länder und 80 Millionen DM für die neuen Länder. Ich denke, es wäre gut, Frau Ministerin, wir würden hier einen Revolvingfonds bekommen, ähnlich wie wir ihn bei der Bank für Sozialwirtschaft für die Alteneinrichtungen haben, wo der Bund eine Einlage tätigt. Das wäre sehr vernünftig.
Abschließend noch ein Wort zu einem Thema, das mich als Berichterstatterin länger beschäftigt hat, als mir lieb war. Aber ich glaube, daß einem eklatante Mißwirtschaft bei einem der größten Zuwendungsempfänger des mitverantworteten Einzelplans nicht gleichgültig sein kann. Ich meine die Vorgänge um die Otto Benecke Stiftung und die Gesellschaft zur Förderung berufsspezifischer Ausbildung. Jahrelang hat das Ministerium geduldet, daß zwei- und dreistellige Millionenbeträge ohne ausreichende Kontrolle von der OBS lediglich auf Grund mündlicher Absprachen an die GFBA weitergeleitet wurden. Einige wenige Personen, die mit den Schlupflöchern des Zuwendungsrechts bestens vertraut waren, haben diese Konstruktion aufgebaut und davon selbst beträchtlich profitiert. Leidtragende dieser Manipulationen sind letztlich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in beiden Organisationen, die gute Arbeit geleistet haben und auch weiterhin leisten, und natürlich auch die Steuerzahler. Ich denke, das Ministerium hat angesichts seiner jahrelangen Versäumnis eine soziale Verpflichtung gegenüber diesen Mitarbeitern. Der Rechnungsprüfungsausschuß wird sich mit den Folgerungen des Bundesrechnungshofs zu beschäftigen haben, z. B. hinsichtlich der Beseitigung noch
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Dr. Konstanze Wegnerbestehender personeller Verflechtungen und etwaiger straf- und zivilrechtlicher Verantwortlichkeiten bei der GFBA.Dieser Fall zeigt exemplarisch Mängel bei der Vergabe und Kontrolle öffentlicher Mittel auf. Er macht deutlich, daß unzureichende Information der Parlamentarier seitens der Bundesregierung letztlich immer zu Lasten des Steuerzahlers geht.Ich glaube, das Ministerium kann im Grunde mit dem Verlauf der Haushaltsberatungen recht zufrieden sein, auch mit seinen Berichterstatterinnen.
Aber es gibt keinen Grund, sich auf irgendwelchen Lorbeeren auszuruhen. Es gibt noch sehr viel Handlungsbedarf für Frauen und für Jugendliche.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Jaffke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es toll: Wenn die Opposition den Finanzminister so sehr lobt, kann der Haushalt gar nicht so schlecht sein.
Nach den Turbulenzen am heutigen Morgen freue ich mich, daß die Technik hier altgewohnt und frauenfreundlich ist und hält.
Eigentlich hätte ich gedacht, die parlamentarischen Entscheidungsgremien — sprich: Ältestenrat — haben in diesem Jahr die Debatte so schön organisiert, daß man zu frauen- und jugendpolitischen Themen etwas öffentlichkeitswirksamer diskutieren kann. Aber leider hat sich die Hoffnung zerschlagen. Nun diskutieren wir wieder unter uns.
Aber ich freue mich, daß heute ganz viele Männer hier sind.
Nichtsdestotrotz mußte auch der Einzelplan für den Fachbereich Frauen und Jugend der aktuellen Haushaltslage angepaßt werden. Ich weiß, daß es immer bitter ist und weh tut, wenn man auf liebgewordene Gewohnheiten verzichten soll. Das ist ein zutiefst menschliches Problem. Wenn ich z. B. meinen Kindern das Taschengeld kürze, aus welchem Grund auch immer, danken sie es mir auch nicht mit Freudenovationen.
Aber sie lernen in meinen Augen, mit dem, was sie besitzen, etwas Sinnvolles zu tun. Viel Geld ausgeben kann jeder. Weniger Geld ausgeben erfordert nicht nur Verstand, sondern auch Mut zur Entscheidung.
Dennoch kann sich der vorliegende Haushalt in diesem Fachbereich durchaus sehen lassen. Vor allen Dingen im jugendpolitischen Bereich ist es gelungen, Kontinuität zu wahren.Ich bin besonders froh darüber, daß im Bereich des Bundesamtes für Zivildienst erhebliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erreicht werden konnten. Nicht nur, daß das Amt eine Verstärkung um 80 Mitarbeiter erfahren kann, auch die Mittelaufstokkung von 3,5 Millionen DM für Zeitkräfte soll dafür sorgen, daß Anträge schneller bearbeitet werden können. Eine lang andauernde Bearbeitungsfrist führt nicht nur zu Störungen in der persönlichen Lebensplanung, sie trägt auch zur Verdrossenheit gegenüber dem Staat als solchem bei.
Ich habe mich im Frühjahr von den zum Teil unzumutbaren Arbeitsbedingungen im Bundesamt überzeugen können und danke von hier aus allen Mitarbeitern für die dennoch immer wieder unter Beweis gestellte Einsatzbereitschaft.
Sie trägt in nicht unerheblichem Maße dazu bei, daß viele junge Menschen eben in ihrer persönlichen Lebensplanung, bei Studium oder Berufsbeginn keine Verzögerungen hinnehmen müssen. Wir sollten das von hier aus fraktionsübergreifend würdigen und nochmals danken. Es sind die sogenannten Kleinigkeiten im Leben, die immer als so selbstverständlich hingenommen werden.Gleiche Umstände und zugleich auch Mißstände habe ich erlebt, als ich mir in diesem Jahr die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften angesehen habe. Es gehört schon eine Menge Idealismus dazu, dort zu arbeiten. Von dieser Stelle sei auch allen diesen Mitarbeitern gedankt. Wenn man noch bedenkt, welche Inhalte sich die Mitarbeiter zu Gemüte führen müssen — ich glaube, ich könnte nach einem solchen Arbeitstag weder essen noch schlafen. Um so erfreulicher ist es, daß es auch hier zusammen mit der Kollegin Wegner Einvernehmen gab, alle beantragten Mittel zu bewilligen.In dieser Zeit, in der Gewalt auch durch öffentlichrechtliche Medien in vielfältiger Form verbreitet und sogar verherrlicht wird, ist eine derartige Einrichtung von unerläßlicher Bedeutung. Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine persönliche Bemerkung. Völlig unverständlich finde ich die Entscheidung eines obersten Gerichts dieses Landes, die einen Film, wie realitätsnah oder phantastisch er auch sein mag, höchstrichterlich zuläßt, einen Film, in dem menschliche Gestalten gequält, mißhandelt und gemordet werden. Einem totalitären Regime mit viel Reglementierung am 3. Oktober 1990 entronnen, wollte ich auch für mich und meine Kinder persönliche Freiheit durchsetzen. Aber gestatten Sie mir von hier diese Frage: Gibt es nicht auch bei persönlicher Freiheit irgendwo eine moralische Grenze, nämlich dann, wenn das Allgemeinwohl in Gefahr gerät?
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10416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Susanne JaffkeIch denke, diese Art der Verherrlichung von Gewalt oder auch schon ihre Darstellung zeigen zur Zeit bei einem Teil unserer Jugend Wirkung. Das Ergebnis ist dann — das erleben wir alle täglich hautnah —, daß nach dem Staat gerufen wird, diese Zustände zu unterbinden. Und auch diesmal kommt der Staat den Rufen nach.Das jugendpolitische Programm des Bundes für den Aus- und Aufbau von Trägern der freien Jugendhilfe in den neuen Bundesländern wird mittlerweile von allen anerkannt. Hatte der Bund für 1992 hierfür 15 Millionen DM bereitgestellt, so werden es in diesem Haushalt 25 Millionen DM sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß das Programm als solches in den Bundesjugendplan aufgenommen wurde, und zwar ohne kw-Vermerk — alles einvernehmlich. Das soll ein Signal an alle sein, daß dieses Programm eine Kontinuität erhält.Sicher kann heute auf Grund der schwierigen Haushaltslage noch nicht eingeschätzt werden, welche Mittel in Zukunft dafür zur Verfügung stehen werden; aber auch die neuen Bundesländer haben sich mit dem Programm schon angefreundet und stellen Komplementärmittel zur Verfügung.Beim Besuch einiger Einrichtungen, die durch dieses Programm geschaffen werden konnten — in Halle-Nietleben, Leipzig und Dresden — konnte ich mich im Mai dieses Jahres von dem guten Zweck überzeugen. Natürlich gab es Anfangsschwierigkeiten, sind doch häufig die Informationswege in den neuen Bundesländern noch recht abenteuerlich.Aber es ist dem Bundesministerium mit seiner Berliner Außenstelle gelungen, 150 Kontaktstellen bei regionalen freien Trägern sowie 69 Tutoren bei bundeszentralen Trägern aufzubauen. Auch in diesem Fall gilt mein Dank von dieser Stelle aus jenen, die, wie z. B. in Sachsen, über Monate hinweg ohne Arbeitsverträge und Gehalt gearbeitet haben. Das Dickicht der Bürokratie schien schier undurchdringlich, aber letztendlich haben doch alle Enthusiasten vor Ort ihre Gelder in geordneter Form erhalten.Ich denke, Sie stimmen auch hier fraktionsübergreifend mit mir überein, daß viele junge Leute in den neuen Bundesländern mit Engagement etwas aufbauen wollen und dazu auch in der Lage sind. Ich wünschte mir, daß solche Aktivitäten in unserer überregionalen freien und unabhängigen Medienlandschaft — die ja nun wieder nicht mehr vertreten ist — Beachtung finden könnten. Sie sind zwar nicht so spektakulär wie Randalierer und Krawallmacher, aber in meinen Augen dennoch würdig, etwas öffentlichkeitswirksamer vermarktet zu werden.
Lassen Sie mich nochmals darauf hinweisen: Die 25 Millionen DM AFT-Mittel, wie sie im neuen Fachhochdeutsch heißen, werden vor allen Dingen den geschaffenen Strukturen zugute kommen. Dabei sollen Weiterbildung und Qualifizierung der engagierten Leute nicht außer acht gelassen werden. Vor allem die im AFT-Bereich II und III beschriebenen Maßnahmen können mit dem Mitteleinsatz weitergeführt werden. Das waren auch die Voten der Kontaktstellenleiter und Tutoren, die uns bis heute sowohl schriftlich als auch mündlich erreicht haben.Der Bundesjugendplan hält insgesamt eine Menge Fördermöglichkeiten vor. In Zusammenhang mit anderen Ressorts sind 550 000 DM eingestellt, um Suchtprimärprävention im Bereich der Jugendhilfe bei ausgewählten Modellvorhaben unterstützen zu können, auch Aidsprävention. Eine Million DM werden für die Aktion „Keine Gewalt gegen Kinder", ein Programm gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern, zur Verfügung gestellt. Mit 80 000 DM wird ein Fanprojekt der Deutschen Sportjugend gefördert, mit 600 000 DM Veranstaltungen und Veröffentlichungen im immer stärker werdenden Bereich der Jugendsekten. Das ist ein Thema, das noch viel Aufmerksamkeit fordern wird. Auch das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt hat sich bewährt und wird 1993 im gleichen Umfang weitergeführt. Auch die neuen Bundesländer haben ihre Bereitschaft signalisiert, durch Komplementärfinanzierung einmal begonnene Projekte zu unterstützen.Mit diesen vielen Angeboten aus dem Bundesjugendplan geben wir den Jugendlichen ein Instrument in die Hand, sich selbst zu engagieren und Antworten auf Fragen der neuen Zeit zu suchen. Eine sinnvolle Freizeitgestaltung benötigt aber immer auch eine gezielte Anleitung. Elternhaus und Schule sind meiner Meinung nach gleichermaßen gefordert. Für nicht wenige Eltern, vor allem in den neuen Bundesländern, stellt das wohl noch eine Schwierigkeit dar; waren sie es doch gewohnt, daß ihnen diesbezüglich Verantwortung weitestgehend durch den Staat abgenommen wurde.Dennoch sollten wir uns mit den für Bildungspolitik Verantwortlichen auf Länderebene weiterhin zusammensetzen, um mit ihnen nach unkomplizierten, praktikablen neuen Wegen zu suchen. Ich könnte mir vorstellen, daß sich auch Lehrer oder Eltern mit Aufwandsentschädigungen für sogenannte ehrenamtliche Freizeitbetreuung etwas mehr motivieren lassen. Unser Ziel sollte es sein, durch geeignete Hilfe zur Selbsthilfe neue Perspektiven für ein eigenständiges und persönliches Handeln zu geben.Ich bedanke mich.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Uta Würfel das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sind die Themen, was sind die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die für die Bürgerinnen und Bürger erkennen lassen, daß es einen Haushalt zur Gestaltung von Frauen- und Jugendpolitik geben muß? Wie sinnvoll oder wie notwendig ist es, sich bestimmten Bevölkerungsgruppen besonders zuzuwenden, deren Lebenssituationen zu durchleuchten und auf Grund dieser Analyse politisch zu handeln?Ich will versuchen, in acht Minuten darauf den Ansatz einer Antwort zu geben. Die Medien beleuchten täglich facettenartig bestimmte gesellschaftliche Erscheinungen und Entwicklungen, von denen gesagt werden kann, sie deuteten auf eine Sinnkrise
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Uta Würfelin unserer Gesellschaft hin. Tatsache ist, daß nicht nur die Politiker, sondern alle gesellschaftlichen Kräfte mit Fakten konfrontiert werden, die geradezu nach Abhilfe schreien und nicht länger ignoriert werden können.Die Morde von Mölln an drei türkischen Mitbürgern, dabei zwei Kindern, entsetzen uns. Mit Worten kann ich nicht ausdrücken, wie tief ich mich schäme wegen dieser Tat, die von Deutschen verübt wurde, die „Heil Hitler!" schreien.
Unter der Überschrift „Andere Städte — gleiche Nöte" findet sich in der „Frankfurter Allgemeinen" von vorgestern folgender Artikel über Stuttgart:Die zunehmende Brutalität der Jugendlichen bereitet Eltern, Lehrern und der Polizei immer größere Sorgen. Die Qualität der gewalttätigen Übergriffe habe sich geändert, die Opfer würden mit Reizgas, Messern und Knüppeln regelrecht fertiggemacht, und aus Angst vor Rache trauten sich die Betroffenen nicht, Anzeige zu erstatten.Wohlgemerkt, hier ist von Stuttgart die Rede, nicht von Hoyerswerda.Was ist los mit einem Teil unserer Jugend, der Bürgerinnen und Burger, Kinder und Jugendliche, Deutsche und Ausländer in Angst und Schrecken versetzt? Meine Damen und Herren, es ist allerhöchste Zeit, eine schonungslose Analyse über die Ursachen der gesunkenen Hemmschwelle Jugendlicher und Erwachsener gegenüber der Ausübung von Gewalt anzustellen.
Es geht um Terror. Kinder werden von Gleichaltrigen auf dem Schulhof halb totgeschlagen, sie werden in der Schule erpreßt und zu Zahlungen von erheblichen Geldbeträgen gezwungen.Dies sind Entwicklungen, wie sie in unserer Gesellschaft bislang unbekannt waren. Glauben Sie im Ernst, daß im Ausland noch von deutscher Gemütlichkeit und Schwarzwaldidylle gesprochen wird, wenn man an Deutschland denkt? Davon kann doch vor diesem Hintergrund keine Rede mehr sein.Woher kommt die zunehmende Lust mancher Jugendlicher an Randale, am Zusammenrotten, am Zerstören von Menschen und Sachen, und womit läßt sich der Mangel an Respekt vor dem Mitmenschen und auch vor dessen Eigentum erklären? Wir Politiker brauchen dringend eine Antwort hierauf. Es genügt nicht, zu sagen, die Jugendlichen stehen unter Alkohol und Drogen, wenn sie im Verlauf von Fußballspielen als Zuschauer aufeinander losgehen oder sich nach dem Spiel gegenseitig die Schädel einschlagen. Die Eltern, die Lehrer, sie müssen sich schon fragen lassen, warum ihre Kinder zu Sucht und Gewalt neigen. Die Politiker, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nicht an allem schuld, auch wenn es inzwischenMode ist, uns für alle gesellschaftlichen Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen.
Ein weiteres Geschehen macht uns Sorgen: Das Gemeinschaftsgefühl, die Solidarität bleiben in vielen Bereichen auf der Strecke. Unbezahltes gesellschaftliches Engagement für andere ist bei jungen Menschen bundesweit immer weniger zu finden. Viele Jugendliche sehen z. B. keinen Sinn mehr darin, der Freiwilligen Feuerwehr beizutreten, dort Dienst zu tun und Brandbekämpfung zu üben sowie für Notfalleinsätze zur Verfügung zu stehen. Die Rettungssanitäter suchen dringend Nachwuchs, das Technische Hilfswerk sucht Kräfte, und auch zivildienstleistende junge Männer wollen nur zu einem sehr geringen Prozentsatz im pflegerischen Bereich Kranken und Alten helfen.Meine Damen und Herren, wie soll eigentlich eine Gesellschaft funktionieren, wenn auf der einen Seite die Handaufhaltementalität immer mehr zählt, das Ehrenamt aber von immer weniger Menschen als attraktiv angesehen wird, wobei wir vor gesamtgesellschaftlichen Aufgaben von sehr großem Umfang stehen, die bewältigt werden müssen?Ich möchte einmal selbstkritisch sagen: Es muß doch an uns, an meiner Generation, liegen, wenn ein Teil unserer Kinder sich nicht genügend motiviert fühlt, womöglich seelisch vereinsamt ist und keine Freude an Leistungen hat, sondern sich entweder verweigert oder sich durch Drogengenuß in Apathie und kurzfristigen Rausch versetzt. Wir müssen wissen, warum das so ist. Verschließen wir nicht länger die Augen davor! Es genügt nicht, fassungslos und beschämt die Mordanschläge und Angriffe auf Asylbewerber, auf Frauen in Parkhäusern, auf alte Menschen fast täglich zur Kenntnis zu nehmen. Die Frage nach dem Versagen der Erziehenden muß hier gestellt werden.
Auch die Rolle der Miterzieher, auf die Eltern und Lehrer nun einmal keinen Einfluß haben, darf bei dieser Analyse nicht unberücksichtigt bleiben. Als erstes nenne ich hier den Fernsehkonsum und dessen Einfluß auf Kinder und Jugendliche.Warum wir Frauenpolitik und Jugendpolitik betreiben müssen, wird an einem weiteren Beispiel deutlich. Ob es nun daran liegt, daß es neue technische Möglichkeiten gibt, oder ob durch abartige sexuelle Verhaltensweisen Erwachsener vor allem Mädchen schon immer großes Leid zugefügt wurde, ist unerheblich. Fest steht, daß es erschreckend viele Väter und sogar Mütter gibt, die ihre Kinder zur Herstellung porno graphischer Videofilme sexuell mißbrauchen. Das Leid der Kinder ist nicht faßbar. Die Nachfrage regelt aber auch hier das Angebot. Wir Frauen- und Jugendpolitiker werden niemals begreifen, was in Menschen vorgeht, die ihre Kinder quälen, oder in solchen, die viel Geld dafür ausgeben, kinderpornographische Erzeugnisse zu bekommen und sich anzusehen. Hier kann der Gesetzgeber, was die Bestrafung angeht, handeln; die gesellschaftlichen Ursachen kann er nicht beseitigen. Sie gehen uns alle an.
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Uta WürfelUnd nun noch zwei weitere Frauenthemen: Die Ursachen für die hohe Frauenarbeitslosigkeit im Osten sind nur bedingt nachvollziehbar. Arbeitslosigkeit im Osten ist weiblich. Es sind vor allem die Frauen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben. Mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten allein läßt sich nicht erklären, warum die Frauen von ihren Betriebsräten in weit höherem Maße als ihre männlichen Kollegen in die Arbeitslosigkeit verbannt wurden.Wir führen als Fraktion am 1. Dezember in Schwerin zu dieser Problematik eine Anhörung durch. Die Ergebnisse werden auch hier unser frauenpolitisches Handeln bestimmen.Alle Frauen, die eine großangelegte Parteinahme für frauenpolitische Forderungen durch den Deutschen Gewerkschaftsbund erhofft haben, wurden gestern enttäuscht. Das bereits beschlossene Motto für den 1. Mai, „Frau geht vor!" , wurde gekippt. Wie eindrucksvoll wäre es doch gewesen, wenn sich der gesamte DGB hinter uns Frauen gestellt hätte. Er hätte deutlich machen können, daß Frauen noch erhebliche Defizite bei der Gleichstellung von Mann und Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen haben und daß es nichts schaden kann, für eine Periode der Angleichung die benachteiligten Frauen im wahrsten Sinne des Wortes vorgehen zu lassen. Der DGB hätte sich damit im Konsens mit den Überlegungen der Frauenpolitikerinnen aus allen Fraktionen befunden,
die im Rahmen der Verfassungsreform eine Ergänzung des Grundgesetzartikels 3 für unverzichtbar halten.
Mit der Abstimmung dieses Textes beschäftigen wir Frauenpolitiker uns intensiv.Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich bin froh, daß wir den Haushalt in der vorliegenden Form hinbekommen haben. In Zeiten eines geringen finanziellen Spielraums ist es erst recht wichtig, daß Frauenpolitiker und Jugendpolitiker zusammenhalten, damit wir wenigstens durch ideelles politisches Gestalten oder gute Ideen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Frauen und Jugendliche gemeinsam verbessern können.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Der Bundeshaushalt 1993 enthält alle entscheidungsreifen Antworten auf die aktuellen Herausforderungen." Dies erklärte Finanzminister Waigel uns Abgeordneten vor wenigen Stunden.Welchen Stellenwert die Bundesregierung einer aktiven Politik für Frauen einräumt, verdeutlicht ein Blick auf den Einzelplan 17. Auch wenn Kollegin Wegner die Zahlen schon genannt hat, will ich sie wiederholen. Ich denke, man kann sie nicht oft genug hören. Von den insgesamt 436 Milliarden DM Gesamtbudget des Bundeshaushalts sollen sage und schreibe 25 Millionen — das sind 0,0000574 %, das waren vier Nullen — für Frauenpolitik zur Verfügung gestellt werden.Ich bin heute bereits kurz darauf eingegangen, daß für die Bekämpfung der Auswirkungen der Arbeitsmarktsituation auf Frauen und Mädchen im Einzelplan des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung keine Mittel für Sonderprogramme enthalten sind, konsequenterweise in dem der Frauenministerin auch nicht; ebenso wie viel zuwenig für die Auseinandersetzung mit der zunehmenden Gewalt gegen Frauen und Mädchen bereitgestellt wird, obwohl das BMFJ diese als Schwerpunkt der eigenen Arbeit erklärt hat. Für Frauenforschung wird die „Unsumme" von 24 800 DM eingeplant. Um die Prioritäten des Gesamthaushalts klarzumachen: Allein für die Umrüstung von Feldflaschen erhält das Verteidigungsministerium fast 1 Million DM.
Was aber gibt es für Schwerpunkte wie die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie? Verschwindend wenig!Statt der geschlechtsspezifischen Rollenklischees werden die Mittel für bewußtseinsbildende Maßnahmen zu ihrer Beseitigung abgebaut, und die verstärkte frauenpolitische Information der Gesellschaft äußert sich in einer Beschneidung der Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit. Glaubt die Bundesregierung, allein durch die Unterstützung von Verbandsarbeit und eines Modellprojekts, für die der Hauptteil des Budgets des Frauenministeriums zur Verfügung steht, die existentiellen Probleme von Millionen Bürgerinnen bewältigen zu können? Mittels der Beschneidung von Haushaltsmitteln setzt die Bundesregierung die Diskriminierung von Frauen fort und vertieft die patriarchalische Spaltung der Gesellschaft.Die PDS/Linke Liste hat zu den Einzelplänen 17 und 18 sechs Anträge eingebracht. Sie betreffen im einzelnen Planungsmittel für den Bau von Kindereinrichtungen, um bis 1995 den Rechtsanspruch jedes Kindes gemäß dem hier beschlossenen Schwangeren- und Familienhilfegesetz materiell und finanziell zu untersetzen. Der hier immer wieder zu vernehmende Verweis auf die Landeshoheit kann nicht die einzige Antwort aus diesem Hause sein. Auch der Bund ist in dieser Frage in die Pflicht zu nehmen.Die Anträge betreffen weiterhin Mittel für die Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz 1995, insbesondere für die Finanzierung der Arbeit der nationalen Vorbereitungskomitees. Bezeichnenderweise wurden zur Vorbereitung des Umweltgipfels in Rio mehrere Millionen DM bereitgestellt, aber für die Weltfrauenkonferenz existiert kein Budget. Erforderlich sind Mittel mindestens in der Höhe, wie sie anläßlich des Jahres der Familie bereitgestellt werden.Außerdem sehen unsere Anträge vor: die Aufstokkung der Zuschüsse und Leistungen für aidskranke Frauen und Jugendliche, die Erhöhung der Fördermittel für Organisationen der Selbsthilfe, die Anhebung
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Petra Blässder Mittel für zentrale Maßnahmen der Familienarbeit einschließlich der Familienplanung und der kindlichen Sozialisation.
Mit Ihrer Zustimmung zu unseren Anträgen könnten Sie ein Zeichen gegen die fortschreitende Benachteiligung der Frauen, Jugendlichen und Kinder in dieser Gesellschaft setzen.Ich danke.
Meine Damen und Herren, die Abgeordnete Frau Schenk hat ihre Rede dankenswerterweise zu Protokoll gegeben,*)
so daß ich der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Merkel, das Wort geben kann.
Die Frau Ministerin hat letztes Jahr zu Protokoll gegeben.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Land befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Junge Menschen und Frauen nehmen diesen Wandel wohl am ausgeprägtesten wahr. In Ostdeutschland bedeutet der Zusammenbruch des sozialistischen Systems für viele auch eine tiefe Wende in ihrem eigenen Leben, die oft von existentiellem Ausmaß ist. Frauen, Kinder und Jugendliche sind von diesem Umbruch — neben den guten Auswirkungen — oft in ganz besonderer Weise betroffen. Deshalb brauchen sie unsere Unterstützung. Das ist kein sozialpolitischer Luxus, sondern ein wesentlicher Beitrag zum friedlichen Zusammenleben in dieser Gesellschaft.
Deshalb — Frau Würfel hat es schon gesagt — sind Frauen- und Jugendpolitik auch keine Randthemen, schon gar nicht in Zeiten einer angespannten Haushaltslage. Sie haben entscheidende Bedeutung in einer schwierigen Zeit. Sie sind ein Indikator dafür, wie uns die innere Einheit unseres Landes gelingen wird.
Frauen- und Jugendpolitik stehen in einem engen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage. Deshalb kann sie auch nicht ohne Berücksichtigung dieser Lage diskutiert werden. Genügend Ausbildungsstellen und Arbeitsplätze sind entscheidende Faktoren für den Erfolg von Frauen- und Jugendpolitik. Das alles dürfen wir nicht vergessen. Das ist aber natürlich nicht alles: Frauen- und Jugendpolitik wollen den Menschen auch in schwierigen Lebenssituationen zur Seite stehen, sie beraten und neue Perspektiven aufzeigen. Dabei — das wurde heute immer wieder betont, und ich stimme dem vollkommen zu —*) Anlage 4sind Stetigkeit und Kontinuität ganz wesentliche Elemente. Deshalb möchte ich auch den Haushaltsausschuß und vor allem den Berichterstatterinnen danken, die es ermöglicht haben, daß sich dieser Haushalt auch in einer schwierigen Lage durchaus sehen lassen kann.Es steht uns — trotz der angespannten Lage — mit 2,76 Milliarden DM auch für 1993 ein guter finanzieller Rahmen für unsere Gleichberechtigungs- und Jugendpolitik zur Verfügung.Ganz erfreulich — das hat heute abend noch niemand gesagt — ist, daß gerade der Etat für frauenpolitische Maßnahmen um 25 % auf rund 25 Millionen DM erweitert werden konnte.
Als ich hier vor zwei Jahren begonnen habe, standen wir bei 15 Millionen DM. Das halte ich für einen guten Fortschritt.Die Mittel für den Bundesjugendplan betragen 1993 225 Millionen DM. Er ist damit um 100 Millionen DM höher als vor der deutschen Einheit. Aber das halte ich für eine wesentliche Voraussetzung, um den freien Trägern ihre Arbeit zu ermöglichen.
Für die soziale Integration junger Aussiedler werden wir im nächsten Jahr 82 Millionen DM aufwenden. Für ihre schulische, berufliche und sprachliche Eingliederung stehen 300 Millionen DM zur Verfügung. Das sind 150 Millionen DM weniger als 1992. Diese Kürzung ist vor allem auf den Rückgang der Anzahl junger Aussiedler zurückzuführen. Wir mußten allerdings auch Änderungen in den Richtlinien vornehmen, können aber trotzdem die berufliche und schulische Förderung der Aussiedler weiterhin fortsetzen.Für die Aufgaben im Zivildienst sind über 2 Milliarden DM eingeplant. Auch das ist mehr als 1992. Ich bin besonders dankbar dafür, daß das Bundesamt für Zivildienst nun insgesamt 109 neue Stellen bekommen hat. Damit wird es in die Lage versetzt, die stark gestiegenen Anforderungen, nämlich die höhere Zahl von Zivildienstleistenden, jugendgerecht zu erfüllen und die Lebensplanung der jungen Menschen mit einzubeziehen.
Die Gleichberechtigungspolitik steht seit der deutschen Einheit vor völlig neuen Aufgaben. Vieles ist in den letzten zwei Jahren in Gang gekommen. Ich möchte hier noch einmal auf das Sonderprogramm zum Aufbau von Frauenverbänden verweisen, für das wir in den letzten zwei Jahren 7,5 Millionen DM ausgegeben haben. Wir haben damit mitgeholfen, eine Interessenvertretung der Frauen in den neuen Bundesländern zu schaffen und Hilfe zur Selbsthilfe möglich gemacht. Wir helfen, Informationen, Erfahrungen und Vorhaben untereinander zu vernetzen. Die Fraueninitiativen sind von unten entstanden und beginnen, sich länderweit miteinander bekanntzumachen. Ich halte das für einen guten Erfolg.Auch die Frauen-Informationsbörsen haben sich in West und Ost bewährt. Allein in den neuen Ländern
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Bundesministerin Dr. Angela Merkelsind mit unserer Hilfe in diesem Jahr 85 Informationsbörsen für Frauen durchgeführt worden. Man sieht, daß hier durchaus ein Instrument der alten Bundesländer sofort angenommen wurde.Als nächstes möchte ich unser Programm zum Aufbau von Beratungsstellen für Frauen nennen. Inzwischen arbeitet in jedem der fünf neuen Länder eine dieser Stellen, die das Ministerium eingerichtet hat, mit Erfolg. Fünf weitere Kontaktstellen des Deutschen Frauenrates arbeiten ebenfalls in jedem der neuen Bundesländer, damit auch der Aufbau der Frauenverbände auf Landesebene fortgeführt werden kann. Ich möchte dem Deutschen Frauenrat sowie all denjenigen, die in den Beratungsstellen tätig sind, ganz herzlichen Dank sagen. Vieles läßt sich hier nur durch ehrenamtliche Tätigkeit und durch großes Engagement überhaupt in Gang bringen.
In diesen Dank möchte ich auch die Tätigkeit der 450 kommunalen Gleichstellungsbeauftragten in den neuen Ländern einbeziehen. In ganz Deutschland sind es jetzt 1 200. Auch sie leisteten in der Anfangsphase, als die Frauenverbände noch nicht in dem Maße existierten, eine wichtige und unverzichtbare Arbeit und tun dies auch heute.
Zentrales Thema in der Diskussion in Ost und West ist die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir haben in diesem Jahr eine Konferenz zum Thema „Rückkehr in den Beruf nach der Familienphase" durchgeführt. Sie ist auf außerordentlich große Aufmerksamkeit gestoßen. Wir werden unser Modellprogramm zur Erleichterung des Wiedereinstiegs in den Beruf für Frauen in modifizierter Form auch 1993 fortführen.Frauenpolitik allein kann das Problem der überdurchschnittlichen Frauenarbeitslosigkeit nicht losen. Auch das ist heute schon gesagt worden. Aber wir müssen im Frauenministerium zumindest modellhaft deutich machen, wie dauerhafte Arbeitsplätze für Frauen geschaffen werden können. Deshalb werden wir in jedem der neuen Länder im nächsten Jahr für einen Zeitraum von drei Jahren ein Modellprojekt „Neue Wege der Arbeitsplatzbeschaffung" einrichten. In diesem Modell sollen die Träger der kommunalen Wirtschaftsförderung, Politik, Unternehmer, Gewerkschaften und Verbände mit arbeitslosen Frauen zusammenarbeiten. Sie sollen gemeinsam vor Ort nach Wegen suchen, wie mehr Beschäftigung für Frauen, und zwar dauerhafte Beschäftigung, gefunden werden kann.Ein weiterer Schwerpunkt wird — ich freue mich, daß auch Frau Wegner das anerkannt hat — im Bereich der Existenzgründungen liegen. Hier werden wir durch bessere Information und Beratung sowie durch regelmäßige Weiterbildung und durch umfassende Vernetzung auch dazu beitragen, daß Unternehmen von Frauen nicht nur neu gegründet, sondern auch dauerhaft am Leben erhalten werden können.
In der nächsten Woche werden wir uns auf unserer dritten Gleichberechtigungskonferenz wieder einmal schwerpunktmäßig mit dem Thema Teilzeitarbeit befassen. Meine Damen und Herren, es geht um das Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch von Frau Würfel ist heute über die Bedeutung der Erziehung gesprochen worden.
— Lassen Sie mich doch bitte aussprechen, Frau Wolf. Ich habe gar nicht über Frauen oder über Männer gesprochen, sondern über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
sowie über die Frage, wie die Kindererziehung in der Familie nicht unter die Räder kommt, wenn beide Partner arbeiten wollen. Dieser Frage müssen wir uns in der Frauenpolitik stellen. Deshalb muß sich unsere Frauenpolitik auch an Männer wenden;
denn nur wenn eine partnerschaftliche Verteilung der Aufgaben auf beide Geschlechter erfolgt, kann man den Bedürfnissen der Kinder in der Familie gerecht werden. Eine Frauenpolitik, die sich diesem Thema nicht widmet, geht an den Realitäten in diesem Lande vorbei; denn Frauen wünschen sich eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das gilt auch für Männer,
aber sie ziehen manchmal noch nicht die notwendigen Konsequenzen aus den Gegebenheiten.
Meine Damen und Herren, einen wichtigen Erfolg haben wir im Zuge der anstehenden Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes erreicht. Es ist erstmals gelungen, eine Bestimmung aufzunehmen, nach der Frauen an allen Maßnahmen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit beteiligt werden sollen. Nun hat es die Kritik gegeben, daß die Formulierung „sollen" zu unbestimmt wäre. Dazu muß ich allerdings sagen: In den vielen Jahren bundesrepublikanischer Gesetzgebung ist es noch nicht gelungen, einen solchen Passus aufzunehmen. Deshalb finde ich es richtig und wichtig, daß Frauen jetzt auf ihren Anteil Anspruch haben.
Natürlich setzen wir auch in der Kinder- und Jugendpolitik eine klare Linie der Kontinuität. Hier ist oft — gerade von der Opposition — gesagt worden, daß speziell diese Kontinuität fehle. Genau das ist — auch wenn Sie, Frau Niehuis, wieder sagen, es sei wahr — nicht wahr. Ich kann Ihnen sagen: Wir haben die Qualifizierung der Mitarbeiter in den Jugendämtern betrieben. Wir haben mit unserem Programm zum Aufbau freier Träger eine konkrete Starthilfe für die Jugendarbeit vor Ort gegeben,
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Bundesministerin Dr. Angela Merkelund wir können das im nächsten Jahr fortsetzen. Dafür bin ich ganz besonders dankbar. 20 Millionen DM in diesem Programm waren für eine Startausrüstung, für eine Ersthilfe an Ausstattung gedacht. Ich will nicht sagen, daß ich nicht auch diese 20 Millionen DM für die Jugendpolitik hätte sinnreich verwenden können, aber wir können dieses Programm so kontinuierlich fortführen. Deshalb bin ich dem Deutschen Bundestag hierfür ganz besonders dankbar.
Wir werden auch im zweiten Jahr unser Programm gegen Aggression und Gewalt weiterführen und an 144 Projekten zeigen, daß es durchaus möglich ist, Jugendliche, die bereits im radikalen Spektrum engagiert sind, wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Das halte ich für eine der zentralen Aufgaben der Jugendpolitik.
— Sicher ist der zu spät, Frau Niehuis. Aber wenn sich die Jugendlichen in diesem Spektrum befinden, dann ist es unsere Aufgabe, sie im Alter von 14, 15 und 16 Jahren dort herauszuholen und wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Es ist auch unsere Aufgabe, Erwachsene zu motivieren, mit diesen Jugendlichen weiter Kontakt zu halten.Ich glaube, daß auch durch den Zivildienst ein ganz wichtiger Beitrag geleistet wird, um das Zusammenwachsen in unserem Land zu gewährleisten. Es ist bisher zwar leider so, daß erst 230 junge Westdeutsche in den neuen Bundesländern Zivildienst leisten sowie umgekehrt 490 junge Ostdeutsche in den alten Ländern ihren Dienst absolvieren, aber ich glaube, mit dem verbesserten Personalbestand im Bundesamt für Zivildienst werden wir diese Zahlen verbessern können.Wir haben eine anhaltend hohe Zahl von Anträgen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Die Zahl liegt zur Zeit bei 113 000. Deshalb müssen wir uns insbesondere in den neuen Bundesländern bemühen, ausreichend Plätze für den Zivildienst bereitzustellen. Wir sind sehr froh darüber, daß es gelungen ist, auch die übergangsweise Förderung aller Zivildienstplätze beizubehalten — wenn auch mit einem geringfügig verminderten Betrag.Ein ganz wichtiger Punkt ist — gerade in Zeiten, in denen wir leider sehr viel über Ausländerfeindlichkeit diskutieren müssen — der internationale Jugendaustausch. Hier geht es gut voran. In wenigen Tagen werden deutsche und polnische Jugendliche in Görlitz ein Fest der Begegnung feiern und damit das Deutsch-Polnische Jugendwerk noch einmal an der Grenze eröffnen. Schon in der nächsten Woche wird das Warschauer Büro des Deutsch-Polnischen Jugendwerks seine Arbeit aufnehmen, nachdem wir das deutsche Büro in Potsdam bereits in diesem Sommer eröffnet haben.
Dieser deutsch-polnische Jugendaustausch steht nur beispielhaft für viele andere Projekte.
Frauen- und Jugendpolitik werden nur Erfolg haben, wenn alle mitwirken und ihren Teil der Verantwortung tragen; dies gilt für die staatlichen Institutionen wie für die gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen. Daß wir dabei immer wieder auf Probleme stoßen, daß dies ein schwieriger und mühsamer Weg ist, daß die Anliegen junger Menschen, aber auch die der Frauen immer wieder aufs neue durchgesetzt werden müssen, das hat uns in diesen Tagen — Frau Würfel hat es schon erwähnt — die Diskussion im DGB über das Motto der Maifeiern im nächsten Jahr noch einmal verdeutlicht. Ich glaube, typisch daran ist nicht nur, daß ein mächtiger Gewerkschaftsmann unter dem Motto „Frau geht vor" nicht sprechen möchte,
sondern ein wenig typisch ist auch, daß eine führende Gewerkschaftsfrau dafür dann ihr Verständnis bekundet. Aber wenn wir Frauen alle zusammenhalten, dann wird uns so etwas nicht entmutigen, und dann werden wir auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung vorankommen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung.Ich lasse zunächst über die Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/3798? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und F.D.P. ist dieser Antrag abgelehnt.Ich lasse nunmehr über den zweiten Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste abstimmen. Er liegt Ihnen auf Drucksache 12/3799 vor. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen! — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit der gleichen Mehrheit wie beim ersten Antrag ist auch dieser Antrag abgelehnt.Wer dem ganzen Einzelplan 17 in der Ausschußfassung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen! — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. ist der Einzelplan 17 in der Ausschußfassung angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe auf: Einzelplan 18Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren— Drucksachen 12/3518, 12/3530 —Berichterstattung:Abgeordnete Irmgard Karwatzki Dr. Wolfgang Weng Dr. Konstanze WegnerDer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? —
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergIch sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Wegner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde meinen Beitrag kurz fassen. Ich beginne mit einem Zitat: Wie man es auch dreht und wendet, die Familien zahlen weit mehr an den Fiskus, als sie bekommen. Die Vorstellung eines familienfreundlichen Steuersystems ist also so grundfalsch wie weitverbreitet. — So äußerte sich nicht etwa ein linker Sozialdemokrat, sondern Dr. Jürgen Borchert in seinem Plädoyer für die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisation vor dem Bundesverfassungsgericht im Februar dieses Jahres.
Dieses Zitat ist leider auch nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts immer noch aktuell. Auch der bestehende Familienlastenausgleich ist aus unserer Sicht immer noch sozial ungerecht, kompliziert und außerordentlich schwer zu durchschauen.Die Alternativen der Sozialdemokraten sind bekannt. Ich brauche sie hier nicht aufzuzählen. Auch nach dem Spruch des Verfassungsgerichts geht es zunächst lediglich um die Herstellung von Steuergerechtigkeit. Mit einer Entlastung der Familien hat das noch nichts zu tun. Um einen echten Lastenausgleich zugunsten von Familien und Alleinerziehenden zu bekommen, werden wir auf Dauer nicht darum herumkommen, kinderlose gut verdienende Ehepaare stärker zur Kasse zu bitten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Familienbegriff hat sich gewandelt. Im Mittelpunkt kann deshalb nicht mehr ausschließlich die ganz normale Familie stehen, auf die sich Frau Ministerin Rönsch immer bezieht.
Die Politik muß auch die Alleinerziehenden und die Tatsache berücksichtigen, daß heute rund 30 % aller Lebensgemeinschaften ohne Trauschein bestehen.
Leider wird die eigentliche Familienarbeit weiterhin ausschließlich von Frauen geleistet. Das Erziehungsgeld, so nützlich es auch ist, hat dieses Rollenverhalten nicht ändern können. Im Gegenteil: Es hat es sogar stabilisiert:
Im Ministerium wird sehr viel Geld für Informationskampagnen ausgegeben. Vielleicht könnte man einmal eine Kampagne starten die den deutschen Mann dazu motiviert, seinen Teil der Familienarbeit zu übernehmen.
Hilfreicher, aber sicherlich schwerer finanzierbar als Kampagnen wäre eine Umwandlung des Erziehungsgeldes in eine Geldleistung, die wirklich Lohnersatzfunktion hätte. Hilfreich wäre auch — da knüpfe ich an das an, was Ministerin Merkel gesagt hat — ein breites Angebot an Teilzeitplätzen für Männer, und zwar auch und gerade in der Wirtschaft, nicht nur im öffentlichen Dienst.
Die Berichterstattergespräche haben in vielen Punkten Übereinstimmung gebracht. So wurde einvernehmlich die vorgesehene Kürzung für die Betreuung von Aussiedlern und Flüchtlingen gemildert. Das Netz, das die Wohlfahrtsverbände aufgebaut haben, kann man nicht beliebig ausdünnen; dann würde es reißen. Es wäre auch absolut widersinnig, das zu tun; denn zumindest die Flüchtlingszahlen steigen drastisch an.Der Ideologietitel des Ministeriums, das sogenannten Informationsprogramm „Zukunft der Familie",
enthält, wie immer, durchaus sinnvolle Projekte und Werbevorhaben der Regierung in einem bunten Durcheinander. Wir bitten darum, daß künftig bei diesem Titel Forschung und Öffentlichkeitsarbeit getrennt ausgewiesen werden.
Unser Antrag, 6,5 Millionen DM von diesem Programm zugunsten der Sanierung von Familienferienstätten und der Einrichtungen des Müttergenesungswerks, und zwar vornehmlich in den neuen Bundesländern, umzuschichten, wurde leider abgelehnt.
Zweifellos brauchen wir eine neue Altenpolitik, und zwar inhaltlich und organisatorisch. Die alten und älteren Menschen sind nämlich dabei, die größte Gruppe der Gesellschaft zu werden. Deshalb gebietet es die gesellschaftliche Notwendigkeit und auch das persönliche Interesse — denn jeder von uns hofft, unter annehmbaren Umständen alt werden zu können —, sich mit dieser Thematik intensiver zu beschäftigen und sie nicht zu verdrängen.
Auch der Altersbegriff hat sich gewandelt. Das Alter kann heute drei bis vier Jahrzehnte dauern, also länger als die Zeit des eigentlichen Arbeitslebens. Dementsprechend verstehen wir unter den Alten heute Menschen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb müssen auch die „jungen" Alten verstärkt Möglichkeiten zur Weiterbildung und zur praktischen Beteiligung erhalten, und ihre fachliche Qualifikation sollte genutzt werden, wie es z. B. im Senioren-ExpertenService, den es hier in Bonn gibt, bereits in vorbildlicher Weise geschieht.Daneben sind die Schaffung altengerechter Wohnungen, die Behebung des Pflegenotstandes und die
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Dr. Konstanze WegnerVerabschiedung der Pflegeversicherung überfällige Aufgaben, die längst gelöst sein könnten;
dies an die Adresse der Koalition.
Nach wie vor gibt es Tabuzonen auch in der Altenpolitik. Ich erinnere nur an die Frage: Kümmern wir uns und wie gehen wir um mit den fast 350 000 ausländischen Rentnerinnen und Rentnern, die in unserer Gesellschaft leben? Ich erinnere auch an die Frage eines humanen Sterbens. Damit meine ich nicht Typen wie Herrn Atrott usw., sondern es geht um die Frage, wie man Sterbende auf ihrem letzten Weg begleiten kann.
Das Kernstück der Altenpolitik der Regierung ist der sogenannte Altenplan. Auch hier ist es wie beim Familienprogramm: Es geht Vernünftiges und Nebulöses durcheinander. Die Einrichtung der Seniorenbüros ist sicherlich eine gute Idee. Aber für mich — ich würde mich freuen, wenn auch die Ministerin mir zuhörte — stellt sich die Frage, ob die Kommunen zu einer Anschlußfinanzierung bereit sein werden,
wenn die Modellvorhaben auslaufen.
Der Anspruch des Ministeriums, eine internationale Seniorenpolitik in die Wege zu leiten, die — ich zitiere — „die Völkerverständigung fördert, den Frieden sichert und Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas bringen soll", erscheint mir dagegen etwas hoch gegriffen
und läßt eher auf die Planung eines umfangreichen Reiseprogramms schließen.
Vernünftig klingt dagegen der Vorschlag, einen Austausch von Fachkräften der Altenhilfe und der Altenarbeit durchzuführen.Das Ministerium plant eine Weiterentwicklung des Sozialhilferechts mit dem Ziel, den Grundsatz der Prävention in der Sozialhilfe künftig stärker zu betonen. Das ist sicherlich nützlich. Aber letztlich kann Armut nicht wegberaten werden, sondern sie hat ganz konkrete Ursachen, die z. B. in der Caritas-Studie exemplarisch dargestellt worden sind.Insgesamt wünschen wir uns in diesem Haushalt weniger Öffentlichkeitsarbeit und mehr Konzentration auf die erwähnten dringlichen Aufgaben.
Dazu zum Abschluß ein Beispiel: Am Hauptbahnhofmeiner Heimatstadt Mannheim grüßt mich zur Zeitbei jeder Abfahrt und Ankunft ein schönes überlebensgroßes Farbfoto von Frau Ministerin Rönsch.
Sie lächelt von einer Plakatwand herab, und sie informiert dort über den Sachverhalt, daß Senioren das Leben kennen. — Ich glaube, das Geld für diese Kampagne könnte man sparen.
Man sollte es statt dessen in Investitionen für die Altenheime in den neuen Ländern stecken. Da wäre es sehr viel besser angewandt.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Irmgard Karwatzki.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Wegner, es ist so, und es bleibt so — das ist das Ritual dieses Hauses —, daß die jeweilige Opposition die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung immer kritisiert.
Das soll auch ruhig so bleiben. Von daher gehe ich natürlich davon aus, daß es sehr gut war, daß wir gerade den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit so gestaltet haben, wie wir ihn gestaltet haben.
Meine Damen und Herren, trotz angespannter Haushaltslage, in der Einsparungen notwendig sind, ist es den Berichterstatterkolleginnen und -kollegen gelungen, dafür zu sorgen, daß der Einzelplan 18 nicht nur zum Opfer finanzieller Kürzungen wurde, sondern daß auch wichtige Aufstockungen erfolgten. Ich darf dazu auf das verweisen, was die Kollegin Wegner eben ausgeführt hat.Nach wie vor ist der Haushalt der Bundesministerin für Familie und Senioren der viertgrößte Einzeletat des Bundes. Daran wird deutlich, daß auch in finanzpolitisch angespannten Zeiten die Förderung der Familie für die Bundesregierung höchste Priorität hat.
— Das mögen Sie ja sagen.
Ich begründe das jetzt. Hören Sie bitte zu! Dann können Sie etwas dazu anmerken.Die Familie hat Anspruch auf eine ausreichende Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Aufgaben.
— Ich würde erst zuhören! — Die Bundesregierung fördert durch ihre Maßnahmen die Lebensbedingungen — —
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Irmgard Karwatzki— Ich höre immer zu, wenn Vertreter der Opposition reden. Das können alle Kollegen bestätigen. Ich applaudiere dann auch, wenn es erforderlich ist. Damit das nun klar ist!
Die Bundesregierung fördert durch ihre Maßnahmen die Lebensbedingungen der Familie in ihrer selbst gewählten Form des Zusammenlebens. In den vergangenen Jahren sind in der Familienpolitik durch den Ausbau bestehender und durch die Einführung neuer Instrumente erhebliche Leistungsverbesserungen erzielt und neue Akzente und Schwerpunkte gesetzt worden. Wir haben Rahmenbedingungen geschaffen, mit deren Unterstützung Menschen ihre Lebensvorstellungen in Ehe, Familie und mit Kindern verwirklichen können.Die größte sozialpolitische Errungenschaft der 80er Jahre war die Einführung des Erziehungsgeldes, verbunden mit einem Erziehungsurlaub und einer Garantie der Rückkehr an den Arbeitsplatz. — Jetzt müssen Sie applaudieren!
Hierfür wurde die Erziehungsleistung von Müttern und Vätern, die sich vorrangig ihren Kindern widmen, auch finanziell stärker anerkannt, und das gewährleistet gleichzeitig, daß Eltern mehr Zeit für die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder haben.
Inzwischen hat der Deutsche Bundestag weitere Verbesserungen des Erziehungsgeldgesetzes beschlossen. So beträgt seit dem 1. Januar 1992 der Erziehungsurlaub, den Mütter und Väter in Anspruch nehmen können, volle drei Jahre. Ab 1. Januar 1993 wird das Erziehungsgeld ein halbes Jahr länger, das heißt zwei Jahre lang, gezahlt. Das Erziehungsgeld ist 1993 mit 7,4 Milliarden DM veranschlagt.Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sind nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre eine wichtige Hilfe für junge Familien. Auch Sie müssen bestätigen — Statistiken belegen es —, daß 96,5 % der Eltern nach der Geburt ihres Kindes das ihnen zustehende Erziehungsgeld in Anspruch nehmen und daß sich 96 % der berufstätigen Mütter und Väter für den Erziehungsurlaub entscheiden.Mit gutem Gewissen und großer Freude kann ich sagen, daß das 1986 von der Bundesregierung eingeführte Bundeserziehungsgeldgesetz ein großer familienpolitischer Erfolg ist.
Die wirtschaftliche Situation junger Eltern könnte nachhaltig verbessert werden, wenn alle Bundesländer im Anschluß an das Bundeserziehungsgeld ein Landeserziehungsgeld zahlen würden. Solche Landesleistungen gibt es bislang nur in Bayern, in Berlin, in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz ab dem dritten Kind und nun — darüber freue ich mich sehr — ab 1993 auch in Sachsen.
Zum 1. Januar 1992 sind im Bundeserziehungsgeldgesetz die Bedingungen für die Inanspruchnahme durch die Väter verbessert worden. Ein Wechsel mit der Mutter bei der Kindererziehung ist jetzt bis zu dreimal anstatt, wie bisher, nur einmal möglich. Dadurch hat die Frau die Möglichkeit, am Arbeits- und Erwerbsleben, wenn sie es wünscht, teilzunehmen, wie es auch umgekehrt möglich ist, daß sich der erwerbstätige Mann an der Familientätigkeit aktiv beteiligt.
— Ich weiß das, liebe Kollegin; ich habe Ihren Zwischenruf auch gehört. Ich wünsche mir ja auch, daß mehr Väter von den Möglichkeiten des Gesetzes Gebrauch machen und das Geld in Anspruch nehmen. Aber wir können sie nicht hinprügeln. Wir können nur alle gemeinsam reden mit dem Ziel, daß möglichst viele Männer das Gesetz auch in Anspruch nehmen.Die angespannte Haushaltslage des Bundes ließ in der ersten Häfte der Legislaturperiode nur Verbesserungen zu, die auf Grund der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich geboten sind. So haben wir ab dem 1. Januar 1992 das Kindergeld für das erste Kind von 50 DM auf 70 DM erhöht, den Kindergeldzuschlag von vorher 48 DM auf 65 DM erhöht und den Kinderfreibetrag — das müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen — für alle Kinder von 3 024 DM auf 4 104 DM angehoben.Gleichwohl wissen wir, daß beim Familienlastenausgleich über die Verbesserungen der vergangenen Jahre hinaus folgende Vorstellungen verwirklicht werden müssen:Erstens. Volle steuerliche Freistellung des Existenzminimums von Kindern, wie es das Bundesverfassungsgerichts in seinen Entscheidungen von Mai und Juni 1990 gefordert hat. Die zu berücksichtigende Höhe ist regelmäßig der jeweiligen Entwicklung anzupassen.Zweitens. Bedarfsgerechter Ausbau des Kindergeldes. Das Kindergeld muß künftig bei Familien um so höher sein, je geringer das Einkommen der Familie und je größer die Zahl der Kinder in der Familie ist.
Bei Besserverdienenden machen, so meine ich, hohe Steuerfreibeträge wegen der Steuerprogression Kindergeldzahlungen eigentlich überflüssig. Darüber muß hier im Hause neu miteinander geredet werden.Mit finanziellen Entlastungen allein sind jedoch noch nicht alle Hindernisse für Familien aus dem Weg geräumt. Was wir brauchen, sind mehr Angebote, wie sie eben sowohl von der Kollegin Merkel als auch von der Kollegin Wegner genannt worden sind: Angebote, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern, die Eltern bei der Kindererziehung oder Personen bei der Pflege von älteren Angehörigen unterstützen, die Möglichkeiten des beruflichen Wiedereinstiegs nach Erziehungszeiten und familienfreundliche Arbeitszeiten bieten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10425
Irmgard KarwatzkiGenerell, meine Damen und Herren, brauchen wir ein kinderfreundlicheres Klima. Halten wir uns immer vor Augen, daß Kinderlärm Zukunftsmusik ist!
Die Zukunftsgestaltung der älteren Mitbürger gehört ebenfalls zu den politischen Themen in unserem Land, die wir nicht vernachlässigen dürfen. Die Politik für ältere Menschen wird in den kommenden Jahren immer mehr an Gewicht gewinnen. Sie wird ein Drittel unserer Bevölkerung betreffen. Bereits 1991 hat Bundeskanzler Helmut Kohl auf diese politische Herausforderung reagiert und ein Ministerium für Familie und Senioren geschaffen, das sich eigens um die Belange älterer Menschen kümmert.Unsere Altenpolitik fördert die gesellschaftliche Teilhabe der älteren Generation. Einen Meilenstein haben wir mit dem Bundesaltenplan gesetzt, den wir 1992 in Anlehnung an den Bundesjugendplan entwikkelt haben. Er ist ein Förderinstrument, mit dem Impulse zur Weiterentwicklung der Hilfe und Arbeit für ältere Mitbürger gegeben werden. Er ist damit ein wesentliches innovatives Element der Bundespolitik für ältere Menschen.Seine Schwerpunkte sind erstens die Förderung der Selbständigkeit und der gesellschaftlichen Beteiligung älterer Menschen, zweitens die Unterstützung hilfe- und pflegebedürftiger älterer Menschen beim Erhalt ihrer Selbständigkeit, drittens die Angleichung der Lebensverhältnisse im geeinten Deutschland und viertens — liebe Kollegin Wegner, auch wenn Sie es kritisieren — der Ausbau der internationalen Seniorenpolitik. Wie Sie wissen, ist der Reiseetat in diesem Hause ja sehr gering. Die reisen nicht zuviel. Dafür haben wir schon gesorgt.
— Nicht nur da, auch woanders.Die hier angesprochenen Schwerpunkte können nur schrittweise auf- und ausgebaut werden. Im ersten Jahr, nämlich 1992, haben wir für den Bundesaltenplan Mittel in Höhe von 5 Millionen DM bereitgestellt. In den Folgejahren sind Aufstockungen auf 10 Millionen DM in 1993, auf 12 Millionen DM in 1994 und auf 15 Millionen DM in 1995 vorgesehen.Die meisten älteren Mitbürger verbringen ihren Lebensabend in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung. Sie wollen selbständig leben. Die Altenpolitik hat die Aufgabe, die Bedingungen für ein eigenständiges Leben im Alter mit zu schaffen.An einer solchen Politik, die das Selbständigkeitsstreben älterer Menschen fördert und unterstützt, sind viele Kräfte beteiligt: der Bund, die Länder, die Gemeinden, aber vor allem viele freie Träger. Nicht zuletzt sind die vielen Selbsthilfegruppen zu erwähnen, in denen sich alte Menschen zusammenfinden, um ihre Wünsche und Forderungen zu formulieren und der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Es gibt z. B. in vielen Städten Seniorenvertretungen, in denen ältere Mitbürger Einfluß auf kommunale Entscheidungen— ganz im Sinne ihrer Interessen — zu gewinnen trachten. Überall ist das Streben erkennbar, der Passivität und Isolierung im Alter entgegenzuwirken unddurch tatkräftiges Hineinwirken in die Gesellschaft die Integration der älteren Menschen in eben diese Gesellschaft zu fördern.Wenn wir zum einen die Aktivitäten der Senioren unterstützen, dürfen wir aber auch diejenigen nicht vergessen, die unserer Hilfe und Betreuung bedürfen und die pflegebedürftig sind. Sie brauchen besonders unsere Solidarität.
Eine der letzten großen sozialpolitischen Herausforderungen der Bundesregierung ist daher die Absicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Mit der Einführung der Pflegeversicherung wird die gesamte Bevölkerung — bis auf wenige Ausnahmen — pflichtversichert sein. Neben der Renten-, der Kranken-, der Arbeitslosen- und der Unfallversicherung wird die Pflegeversicherung die fünfte Säule im System der gesetzlichen sozialen Sicherung sein. Organisatorisch, meine Damen und Herren, soll sie unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung angesiedelt sein.Der nach langen und sehr kontrovers geführten Auseinandersetzungen gefundene Weg ist sozial ausgewogen. Meines Erachtens ist er dauerhaft finanzierbar, stellt die Versicherten nicht vor unzumutbare Mehrbelastungen und schließt niemanden aus, auch die bereits heute Pflegebedürftigen nicht.
— Herr Kollege, wenn Sie rufen, es sei zu spät, dann muß ich sagen: Das hätten Sie ja schon alles schaffen können! — Aber da gehörten Sie dem Haus noch nicht an. Insofern war das nicht möglich.Nach wie vor werden die meisten pflegebedürftigen Menschen zu Hause von Familienangehörigen, insbesondere von Frauen, gepflegt. Diese Pflegepersonen verzichten auf eigene Berufstätigkeit, auf eigenes Einkommen und auf Rente.
Um diese Nachteile zu mildern, müssen wir die soziale Absicherung der Pflegepersonen durch deren Aufnahme in die Renten- und Unfallversicherung verbessern.
— Schreien Sie doch nicht immer „Wann"! Machen Sie mit! Denken Sie mit uns, und dann wollen wir weitermachen!
Um spätere Einbußen bei der Altersrente auszugleichen, werden durch die Rentenstrukturreform 1992 erstmals in der Rentengeschichte Zeiten der Pflegetätigkeiten ebenso wie Zeiten der Kindererziehung auf die Rente angerechnet.Auch das Angebot an professionellen Diensten zur Entlastung der Pflegenden muß qualitativ und quantitativ weiterentwickelt werden. Zu diesem Zweck ist es dringend geboten, ein bundeseinheitliches Alten-
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10426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Irmgard Karwatzkipflegegesetz, das sich derzeit noch in parlamentarischer Beratung befindet, zu schaffen, wenn der Mangel an Fachkräften in der Altenpflege nicht noch größer werden soll.
Zum Schluß möchte ich ein Wort des Dankes sagen, insbesondere der freien Wohlfahrtspflege, die eine der wichtigsten Aufgaben in unserem Staat leistet, was viel zuwenig gewürdigt wird.
Zum zweiten möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses — nicht nur bei den für den Einzelplan 18 zuständigen Kollegen, sondern bei vielen anderen auch; bei einem nicht, der hat hier immer dazwischengerufen — herzlich für das gute Miteinander bedanken. Auch den Beamten des Ministeriums möchte ich für die sympathische Zusammenarbeit herzlich danken; sie haben es verdient.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Norbert Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der knappen Kassen macht es nicht allzuviel Spaß, über den Haushalt zu reden, wenn man versuchen will, in die Zukunft zu schauen, es sei denn, man hat eine Bilanz aus der Vergangenheit, die sich sehen lassen kann.
Meine Vorrednerin hat sehr deutlich aufgezeigt, was in der Vergangenheit in unserem Bereich geleistet worden ist. Ich habe leider nicht die Zeit, ausführlich über diese Dinge zu reden, weil die Redezeit eines F.D.P.-Abgeordneten immer etwas knapper ist.
— Ich habe gerade erst begonnen, und schon fangen Sie mit diesen Mätzchen an, obwohl ich versucht habe, sachlich zu reden.
Angesichts der schon erwähnten knappen Kassen drängt es mich, über eine ordnungspolitische Neugestaltung der Familien- und Sozialpolitik nachzudenken.
Aber zunächst zu den Zahlen des Haushalts 1993: Dieser Haushalt ist gegenüber den Ansätzen des Ministeriums verhältnismäßig wenig verändert worden. Der Bundesaltenplan bringt Verbesserungen. Die neu eingesetzte Enquete-Kommission wird wohl auch eine Reihe von Anregungen geben, wie wir diesen Bereich noch besser gestalten können. Für das internationale „Jahr der Familie" gibt es 2 Millionen DM mehr. Bei der Eingliederung der Aussiedler wurde leider gekürzt, Gott sei Dank nicht ganz so stark, wie wir es ursprünglich befürchtet haben.
Meine Damen und Herren, große Veränderungen sind in diesem Haushalt nicht möglich: zum einen nicht angesichts der leeren Kassen, zum anderen nicht wegen der Urteile des Bundesverfassungsgerichts, das so viele Möglichkeiten des Kürzens Gott sei Dank nicht zuläßt.
Beides stimmt nicht euphorisch. — Wenn Sie meiner Rede zugehört hätten, hätten Sie zu diesem Zwischenruf eigentlich nicht kommen dürfen.
Haushaltswirksame Ausgaben belasten normalerweise nicht nur den aktuellen Haushalt, sondern auch sehr viele nachfolgende Haushalte. Ich möchte deswegen den Vorschlag an die Ministerin richten, vielleicht doch einmal zusammenzustellen: Wie sieht eigentlich die Belastung der Kinder in der fernen Zukunft aus? Ich habe den Eindruck, daß wir da einiges zu korrigieren haben. Ich denke z. B. daran, daß wir schon in der letzten Legislaturperiode beschlossen haben, daß bei Erziehungszeiten das zweite und das dritte Jahr bei der Rente gutgeschrieben wird. Das ist zwar richtig, belastet aber den Haushalt oder die Rentenversicherung erst lange nach dem Jahr 2000. Das heißt, wir schieben die Auswirkungen einer Leistung, auf die wir alle recht stolz sind, in eine Zukunft, in der wir selber nicht mehr die Verantwortung tragen.
Es wurde heute abend schon mehrfach darüber gesprochen, daß es notwendig ist, eine Pflegeversicherung einzurichten. Auch da bitte ich doch einmal nachzurechnen, ob wir da nicht wieder einen Fehler machen, nämlich Belastungen auf die Kinder zu schieben, Belastungen, die eigentlich heute von uns getragen werden müßten.
— Herr Struck, weil Sie dauernd dazwischenreden, will ich Sie direkt ansprechen. Sie wissen ganz genau, daß der Altersaufbau heute wesentlich günstiger ist als in 20 Jahren, daß alles das, was heute bezahlt werden muß, heute wesentlich billiger ist und daß wir mit dem Blüm-Modell die Belastungen in eine ferne Zukunft schieben; das kann niemand bezweifeln.
Das veranlaßt den Abgeordneten Struck zu einer Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Eimer.
Herr Eimer, darf ich aus Ihren letzten Bemerkungen — —
Ich habe nicht gesagt, daß ich die Zwischenfrage zulasse.
Ich kann ja trotzdem fragen.
Nein. Lieber Herr Kollege, wir haben sowenig Zeit.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10427
Norbert Elmer
Ich will es mit Rücksicht auf die Kollegen, die hier noch lange warten müssen, kurz machen.
— Nein. Ich bin der Meinung, sie ist notwendig. Sie wissen auch, daß dies die Meinung der F.D.P. ist. Aber wir glauben, daß die Finanzierung so gestaltet werden muß, daß unsere Kinder in der Zukunft nicht damit belastet werden.
Liebe Kollegen, bei allen Vorhaben, die wir hier beschließen — so wichtig sie auch sind —, müssen wir daran denken, daß wir nicht diejenigen belasten, die das später einmal zu bezahlen haben. Wir dürfen uns aus dieser speziellen Verantwortung nicht davonstehlen.
Meine Damen und Herren, die Opposition hat heute abend wieder einige Dinge angeführt, die man so nicht stehenlassen kann. Beim Familienlastenausgleich wurde wiederum auf die 250 DM Kindergeld hingewiesen, die einzuführen so schön wäre; natürlich, für mich auch. Auch mir wäre es lieber, ich könnte ein schönes Kindergeld zahlen. Aber die Finanzierung über die Kappung des Ehegattensplittings ist so nicht machbar, es sei denn, meine lieben Kollegen von der SPD, Sie würden es hinnehmen und als gerecht empfinden, wenn zwei Ehepaare, die beide das gleiche Einkommen haben, unterschiedlich hohe Steuern zahlen. Das wäre nämlich die Folge. Die Folge wäre auch, daß diejenigen mehr Steuern zahlen, bei denen die Frau oder der Mann zu Hause bleibt, um die Kinder zu erziehen. Dies, meine Kollegen von der SPD, ist nicht eine Frage der politischen Einstellung, sondern der Mathematik. Ich habe bereits mehrmals — auch an diesem Pult — angeboten, daß ich Ihnen das vorrechne.
Bis jetzt hat noch niemand das Angebot angenommen. Ich meine, es ist notwendig, daß wir in der Familienpolitik, beim Familienlastenausgleich etwas mehr und etwas sauberer rechnen.
Auch die Behauptung von Frau Matthäus-Maier, die Freibeträge entlasteten die Spitzenverdiener dreimal so hoch, ist so, wie Sie es gesagt hat, falsch. Das sage ich, obwohl ich kein Freund von Freibeträgen bin. Es ist genau umgekehrt: Spitzenverdiener werden durch die Progression dreimal so hoch belastet, und ich will das auch gar nicht ändern. Aber wenn durch Kindererziehung das steuerliche Einkommen zurückgeht, sinkt auch entsprechend deutlich die Belastung, und dies ist eine Folge der Progression.
Mir ist die Zeit angesichts der dauernden Zwischenrufe der SPD davongerannt; ich will es kurz machen.
— Ich möchte gerne wissen, was Sie als „ruhig" bezeichnen. Vielleicht ärgern Sie sich über das Fußballspiel
und sind deshalb etwas erregt. — Sehen Sie, da haben wir den Grund.Meine Damen und Herren, wir, die F.D.P., werden dem Haushalt, dem Einzelplan 18, zustimmen, der das widerspiegelt, was zur Zeit möglich ist.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Arne Fuhrmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist es fast schmerzhaft, daß wir schon zum dritten Mal einen Haushalt beschließen, von dem so etwas wie Innovation ausgehen sollte. Aber an Stelle von Freude kommen — zumindest bei mir und meinen Fraktionskollegen — im Prinzip Frust und auch Zorn auf angesichts der Tatsache, daß dieser Haushalt im Grunde eine Fassade darstellt, hinter der sich nichts weiter als leere Worthülsen und eine ganze Menge an Sparmaßnahmen verbirgt, und damit haben wir hier zu arbeiten.
-- Wenn Sie eine Ahnung hätten, wovon Sie reden, dann würde ich mich jetzt auf Ihren Zuruf einlassen. Weil ich Sie aber überhaupt noch nicht in der Arbeit erlebt habe und daher nicht weiß, wo ich Sie einordnen muß, lasse ich das.
Ein eigenes Seniorenministerium, erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik
— eine tolle Sache, das sagen Sie —, ist eine Lobby für 20 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, ich habe dem Abgeordneten Fuhrmann das Wort erteilt. Ich habe das Gefühl, daß jetzt mehrere Kollegen das Bedürfnis haben, hier reden zu müssen. Trotz der späten Stunde wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich der Mühe unterziehen würden, dem Redner zuzuhören oder den Saal zu verlassen.
Das finde ich auch. Also, ihr seid jetzt entweder still oder geht einen trinken. Jedenfalls rede ich jetzt das zu Ende, was ich begonnen habe.
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10428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Arne FuhrmannIch war dabei, festzustellen, daß ein Drittel des gesamten Wahlvolkes zu den Betroffenen gehört, für die ein eigenes Ministerium eingerichtet wurde. So waren auch die Ankündigungen aus dem Hause Rönsch, so oder so ähnlich waren auch die Erwartungen der betroffenen älteren Menschen.Aber wenn wir jetzt nachgucken, dann stellen wir fest: ein vollmundig als Bundesaltenplan vorgelegtes Heftchen, in dem unter dem Strich lediglich die Einrichtung von 16 Seniorenbüros als etwas Neues angekündigt wird, ein Haufen Material, das über Ernährung, Sport und Sexualität im Alter aufklärt — ich habe einen Aktenordner voller Reden der zuständigen Ministerin, die sie auf irgendwelchen Kongressen oder Seminaren gehalten hat —, eine auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschobene Pflegeversicherung und noch dazu einen Berg voller Absichtserklärungen, die nun darüber genau Auskunft geben, welcher Handlungsbedarf vorhanden ist.Im Grunde genommen könnte die Diskussion über die Pflegeversicherung längst abgeschlossen sein; wir erkennen Handlungszwänge. Aber aus dieser Erkenntnis ist in den letzten zwei Jahren an keiner Stelle die Schlußfolgerung gezogen worden, daß es zu handeln gelte; jedenfalls habe ich davon nichts gemerkt.Im Bereich des Wohnungsbaus hat dieses Hohe Haus zwar eine Entschließung verabschiedet, aber eine konkrete Umsetzung im zuständigen Ausschuß habe ich bislang nicht erlebt. Und wir kennen die ständige Klage darüber, daß wir zuwenig qualifiziertes und zu schlecht bezahltes Personal in den Alteneinrichtungen haben. Aber das gehört offensichtlich zum Alltag vom Parlamentariern.Anstatt die seit Jahren geforderte Grundsicherung im Alter durch eine Bundesmitfinanzierung zu sichern, lavieren Koalition und Kabinett mit Veränderungen bei Mehrbedarfszuschlägen, Wohngeld, Sozialhilfeleistungen und ähnlichem und verdrängen dabei, daß Trümmerfrauen, Kriegerwitwen und andere Betroffene keine Lebenszeit mehr haben, um auf die Erfüllung ihrer relativ bescheidenen Wünsche zu warten.
Wenn es uns gelingt, ein ordentliches, solides Gesundheitsstrukturgesetz zu verabschieden, dann haben die Menschen in Deutschland ein Recht darauf, endlich die Furcht vor Pflegebedürftigkeit loszuwerden. Obgleich das Ministerium für Familie und Senioren für den Bereich der Pflegeversicherung nicht federführend zuständig ist, wünschte ich mir, daß von der in eigenen Veröffentlichungen immer als Seniorenministerin bezeichneten Frau Rönsch endlich mehr Druck in diesem Bereich ausgeht.
Absichtserklärungen und Vertröstungen sind in den vergangenen Jahren so sehr zur Routine geworden, daß sie zwischenzeitlich selbst in der Koalition zur Verwirrung führen. Die Frage der Finanzierung einer Pflegeversicherung wird höher eingeschätzt als deren volkswirtschaftlicher und sozialer Gewinn, der bei derInvestitionskraft der Kommunen und Lander sofort sichtbar würde.
Aber auf dem Ohr hören Sie natürlich nicht so gut, es sei denn, Sie sind als Kommunalpolitiker tätig wie mein geschätzter Kollege Hansen.Alles das, was der Bund nicht zu übernehmen bereit ist, delegiert er im Zusammenhang mit Daseinsvorsorge und Alterssicherung an die Länder und Kommunen. Jede Mark, die aus der Sozialhilfe fließt, damit älter werdende Menschen leben, wohnen können sowie gepflegt und versorgt werden, ist Geld, das in den Gemeinden und Kreisen fehlt, um Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren, die es der Nachfolgegeneration ermöglichen, in eine Zukunft mit Perspektive zu sehen. Auf diesem Wege zumindest werden die im Alter auftauchenden Probleme bereits heute für junge Leute potenziert.Im Grunde gehört nicht eine unglaubliche Menge zusätzlichen Geldes her, sondern endlich der Mut, neue Wege zu gehen, und sich auch die Erkenntnisse anderer Länder und der eigenen Altenforschung zu eigen zu machen.
Finanzierung von Heimplätzen — als ein Beispiel von vielen — ist sicherlich oft nötig. Die Finanzierung von Eigenständigkeit ist aber mit Sicherheit humaner und auf Dauer auch kostengünstiger.Die Idee ist gut, in allen Bundesländern modellhaft Seniorenbüros einzurichten; das ist gar keine Frage. Neue Impulse, Erfahrungen und Gedanken in der Seniorenarbeit zu erforschen und generationsübergreifende Zukunftsvisionen mit Leben zu erfüllen, das ist schon in Ordnung. Falsch dagegen ist die Art der Umsetzung durch das zuständige Ministerium. Konkurrenz, Ausstechen, Habenwollen, das sind im Augenblick die Triebfedern für die Durchführung von im Grunde segensreichen Maßnahmen.Hätten Sie sich an Vorhandenem orientiert, hätten Sie aufgebaut und verbessert, hätten Sie gefördert, was an Erfolgreichem in dieser Republik zur Verfügung steht, dann hätten Sie auf diesem Wege sicherlich auch in den Ländern und Kommunen ausreichend Hilfe und Unterstützung bekommen.
— Natürlich wollen die sich entlasten. Aber auf wessen Kosten tut es denn der Bund im Augenblick?— Statt bunter Heftchen mit vielen herzlichen Grüßen in dicken Kartons — und das Ganze ordentlich verpackt — hätte manche Kommune und mancher Verband, manche Selbsthilfegruppe, manche Hochschule wohl lieber die Sicherheit, nicht nur für den Papierkorb geplant und entworfen zu haben, weil wieder keine Mittel zur Verfügung stehen, weil ältere Menschen im Grunde doch keine Lobby haben; denn zu was sind sie denn zu fördern oder gar zu gebrauchen?— Eventuell noch bei Wahlen als Stimmvolk. Jedenfalls tut sich dieser Eindruck dort auf, wo man mit älteren Menschen spricht.Arne FuhrmannDas ist einer der entscheidenden Knackpunkte, der in diesem Haushalt deutlich wird: Weil das Geld fehlt, weil die Staatsverschuldung Ausmaße von ungeahnter Größe angenommen hat, weil wir bereits heute wissen, daß mit diesem Haushalt reine Tünche verabschiedet wird, weil im Schreibtisch des Herrn Finanzministers bereits der Nachtragshaushalt griffbereit liegt, weil selbst heute noch immer nicht ehrlich und für jedermann verständlich über die tatsächliche Bundesverschuldung gesprochen wird, wird auch von der Verabschiedung des Einzelplans 18 keine Innovation ausgehen, kein wirkliches Modell zugunsten älterer Bürgerinnen und Bürger geschaffen und keine Sicherheit zum Altwerden in unserer Republik gegeben.Statt über die Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes zugunsten der Betroffenen nachzudenken, läßt die zuständige Ministerin es zu, daß über die Deckelung der Sozialhilfe gesprochen wird, als würde man einen Topf mit kochender Suppe deckeln. Anstatt die Mehrarbeit und den steigenden Mehraufwand der Verbände durch höhere Zuschüsse abzufedern, was unter dem Strich natürlich auch zu wesentlich effektiveren Ergebnissen außerhalb der Pflichtleistungen des BSHG führen würde, wird auch hier die Schere angesetzt, obgleich es seit Jahren kaum noch etwas zu beschneiden gibt.Wir brauchen einen Haushalt, der neben den Grundsätzen der sparsamen Nutzung aller finanziellen Ressourcen, neben den Pflichtleistungen auch deutlich macht, welchen Stellenwert wir den Älteren und Behinderten, den auf Hilfe und Verständnis angewiesenen Bürgerinnen und Bürgern in unserer Gesellschaft entgegenbringen.
Einstimmig haben die Mitglieder dieses Bundestages der Einsetzung der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" und damit der zukunftsorientierten Ausrichtung der Politik bei veränderten demographischen Daten zugestimmt. Dies entbindet uns nicht von der Aufgabe, schon jetzt und heute die uns zugefallenen Pflichten und Verpflichtungen der Generation gegenüber zu erbringen, die es ermöglicht hat, daß wir trotz aller politischen und finanziellen Bedrängnis in einem Land leben dürfen, das zu den reichsten Ländern dieser Erde gehört.Es ist eine sozialpolitische Bankrotterklärung für jede Politik in Deutschland, wenn es zu den Alltagsgewöhnlichkeiten gehört, daß Frauen und Männer Angst vor dem Altwerden haben. Zukunft und Perspektive sind kein Vorrecht für junge und gesunde Leute. Zukunft und Perspektiven sind auch für denjenigen Bestandteil seines Lebens, der in Würde und im Gefühl der Unabhängigkeit alt werden und auch sterben darf; denn die Würde aller Menschen ist unantastbar,
und alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, selbst ältere und Sozialhilfeempfänger.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Bundesministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore Rönsch, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer ausgesprochen schwierigen Zeit. Wir leben in einer Zeit der angespannten Haushaltssituation. Trotzdem kann ich Ihnen heute mitteilen, daß der Einzelplan des Ministeriums für Familie und Senioren in die Zukunft weist und die Fortsetzung unserer nach vorn gerichteten, strukturell durchdachten Politik bedeutet.Haushaltspolitisch enge Spielräume zwingen uns zwar dazu, alle gebotenen Einsparungsmöglichkeiten zu nutzen. Aber die Zeiten des Sparens sind auch Zeiten des Neuüberdenkens und des Neugestaltens, und diese Zeiten sollten wir nutzen.
Ich denke, daß diese Zeiten uns die Chance bieten, über heute vielleicht unzeitgemäße Ausgaben ebenso nachzudenken wie über neue Instrumente zur Bewältigung der anstehenden politischen Aufgaben. Beides gehört unauflöslich zusammen.Die Familienpolitik leistet zur Stabilität dieses Haushalts einen wichtigen, wenn auch unfreiwilligen Sparbeitrag in Höhe von über 1 Milliarde DM. Dies trifft aber keine Familie im einzelnen. Niemand muß deswegen Leistungseinschränkungen hinnehmen. Die Erziehungsleistung wird weiterhin honoriert: Kindergeld und Kindergeldzuschlag werden weiterhin gezahlt; auch Kinderfreibetrag und Erziehungsgeld werden weiterhin gewährt — und das alles auf dem alten, hohen Niveau.Allerdings haben wir einen sehr starken Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland zu beklagen. Wir sind aufgefordert, an dieser Stelle gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir die Säulen unserer Gesellschaft für die Zukunft stützen
und wie wir junge Familien ermuntern können, sich auch in Zukunft für Kinder zu entscheiden. Es reicht nicht aus, zu verhindern, daß Ehe und Familie im Ansehen beschädigt werden. Vielmehr müssen wir den Wunsch gerade der jungen Familien, auch in Zukunft Kinder haben zu wollen — und das sagen unsere Untersuchungen aus —, auf alle Fälle auch finanziell unterstützen.
Konnten wir ursprünglich für das Jahr 1993 noch mit 875 000 Geburten rechnen, so mußten wir unterdessen diese Annahme auf etwa 816 000 reduzieren. Allein in den neuen Bundesländern werden voraussichtlich 36 000 Kinder weniger geboren werden, als wir ursprünglich angenommen haben.
Ich denke, das sind Alarmsignale.Doch hoffe ich, daß Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, nicht der Versuchung erliegen, darüber zu polemisieren. Wir hatten seiner-
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10430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Bundesministerin Hannelore Rönschzeit ein Familiengeld geplant. Wir wollten junge Mütter und Väter mit 1 000 DM unterstützen, wenn sie bereit sind, Kinder zu haben, sich dieser schönen, aber auch schweren Aufgabe zu stellen. Sie haben dieses Familiengeld damals als „Geburtenprämie" diffamiert.
Daran will ich Sie heute erinnern.Wir nehmen diese Entwicklung rückläufiger Geburtenzahlen sehr ernst und werden auch in Zukunft alles dafür tun, daß Familienleistung honoriert wird, daß Männer und Frauen, die bereit sind, „ja" zum Kind zu sagen, eine finanziell gesicherte Zukunft haben.Wir halten weiterhin daran fest, daß materielle Benachteiligung von Familien mit Kindern im Verhältnis zu kinderlosen Personen im Rahmen des Möglichen schrittweise abgebaut wird. So wird, wie geplant, mit Wirkung zum 1. Januar 1993 das Erziehungsgeld von bisher 18 Monaten auf volle zwei Jahre verlängert werden. Dies ist ein großartiger Erfolg.
Meine Kollegin Irmgard Karwatzki hat darüber schon ausführlich gesprochen.Ich will die einzelnen familien- und seniorenpolitischen Maßnahmen, die auch vom Kollegen Eimer schon gewürdigt worden sind, wegen der begrenzten Redezeit hier nicht alle wiederholen. Die Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses für Familie und Senioren haben bei vielen Initiativen ja auch mitgewirkt. Bei dem seniorenpolitischen Teil, Herr Kollege Fuhrmann, hatte ich allerdings den Eindruck, daß Sie die eine oder andere Ausschußsitzung geschwänzt haben.
— Zumindest haben Sie nicht immer zugehört. Ich würde Ihnen jedenfalls empfehlen, sich doch einmal mit den bundesdeutschen Seniorenorganisationen zu unterhalten. Dann würde Ihr Bild, Ihr Urteil vielleicht anders ausfallen.
Gestaltende Politik ist nicht nur im Materiellen gefordert. Die Familien erwarten auch im immateriellen Bereich Gestaltungskraft und Phantasie.Für eine der großen Aufgaben der Familienpolitik halte ich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Darüber wurde hier heute schon verschiedentlich gesprochen, und es wird immer wieder — auch von mir — die Beteiligung der Männer an der Erziehungsaufgabe, aber auch an der Erziehungsfreude eingefordert.Ich will Ihnen heute hier sagen, daß wir im Ministerium eine Arbeitsgruppe „Vereinbarkeit von Familie und Beruf" eingerichtet haben. Es werden hier ganz konkrete Modelle entwickelt und vorbereitet. Diese Problematik ist kein reines Frauenthema, sondern muß auch als Familienthema verstanden werden. Männer und Frauen müssen über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf miteinander reden. Ganz besonders sind die Betriebe, ist die freie Wirtschaft gefordert, nicht nur der öffentliche Dienst.Demnächst wird von uns ein Wettbewerb „Der familienfreundliche Betrieb" öffentlich ausgeschrieben. Durch diesen Wettbewerb sollen neue Ideen, wie Männer und Frauen Familienarbeit und Berufstätigkeit besser miteinander vereinbaren können, prämiert werden.Im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen der Familienförderung sollte von allen Fraktionen und Gruppen dieses Hauses nicht vergessen werden, daß Investitionen für die Zukunft nicht nur im Bereich der Wirtschaft, sondern auch im Bereich der Familie unverzichtbar sind.
Eine Prioritätensetzung, die die Familien ausklammert, ist eine Politik ohne Perspektive für die Zukunft. Deshalb bin ich recht zuversichtlich, daß Sie mit dazu beitragen werden, daß wir die notwendigen Schritte zur Weiterentwicklung der Familienförderung auch in Zukunft tatsächlich verwirklichen können.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ebenso wie den Familien gebührt der älteren Generation, auf deren Lebenswerk wir heute aufbauen, unsere gesellschaftliche Solidarität.
Deshalb haben wir noch einmal eine Informationskampagne, die sich an alle Generationen richtet, veranstaltet. Wir werden ab dem 1. Dezember noch zwei weitere Aktionen starten,
weil wir sicherstellen wollen, daß die ältere Generation in unsere Gesellschaft, in die Familie integriert ist, sich nicht ausgeschlossen fühlt.
Sie, meine Kollegen und Kolleginnen, haben diese Kampagne gesehen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, Frau Dr. Wegner, daß Sie nicht nur mein kleines Bildchen oben links in der Ecke wahrnehmen — so groß ist das Bild nicht —, sondern auch auf den Inhalt der Bilder eingegangen wären, die wir mit Senioren erarbeitet haben. Frau Würfel, können Sie sich noch an eine Überschrift dieser Bilder und an das, was auf den Bildern zu sehen war, erinnern? Die Reaktionen gerade der älteren Generation sind ausgesprochen positiv, weil sie sich auf diesen Bildern wiederfindet. Wir haben offensichtlich die Selbsteinschätzung der Älteren hinsichtlich ihrer Stellung in unserer Gesellschaft genau getroffen. Das ist an den Reaktionen deutlich geworden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich den Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuß, ganz besonders den Berichterstattern für den Einzelplan meines Hauses, Irmgard Karwatzki, Frau Dr. Wegner und Herrn Dr. Weng, für die Zusammenarbeit und das große Verständnis bei Schwierigkeiten ein herzliches Dankeschön sagen.Trotz der angespannten Haushaltssituation konnten wir noch einiges bewegen. Mein besonderer Dank
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10431
Bundesministerin Hannelore Rönschgilt der Aufstockung des Haushaltsansatzes für den Bundesaltenplan im Jahr 1993 auf 10 Millionen DM; ich bin sehr froh darüber. Ich bedanke mich in der Hoffnung, daß wir diesen Bundesaltenplan künftig noch weiterentwickeln können.Heute wurden — wie schon so oft — die Seniorenbüros angesprochen. Aber es ist doch eine Tatsache — und ich bin sehr froh darüber —, daß viele Kolleginnen und Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion diese Seniorenbüros offensichtlich für eine ausgesprochen gute Einrichtung halten.
Eine ganze Reihe dieser Kollegen haben das Ministerium angeschrieben und mich gebeten, in ihrem Wahlkreis ein solches Seniorenbüro einzurichten. Auch aus sozialdemokratischen Kommunen kommen schon Zusagen für die Weiterfinanzierung. Wir werden noch in diesem Jahr die ersten vier Seniorenbüros einrichten und 1993 weitere 28, so daß wir dann 32 Büros in der Modellphase haben. Es gilt nun, die Kommunen zu ermuntern, diese Arbeit weiterzuführen. Die große Resonanz in der Öffentlichkeit und die Bereitschaft vieler Länder, sich an diesem Modellprogramm zu beteiligen, zeigen, daß wir da offensichtlich auf dem richtigen Weg sind.Ich danke Ihnen, Frau Dr. Wegner, daß Sie das sehr ernste Thema des Sterbens und der Sterbebegleitung angesprochen haben.Ich konnte gerade heute einen zweitägigen Kongreß hier in Bonn eröffnen. An diesem Kongreß nehmen Fachleute teil, die in der Sterbebegleitung tätig sind. Es handelt sich um ein sehr ernstes Thema, dem wir uns in der Zukunft verstärkt widmen müssen. Mit großem Ernst wurde diese Fachtagung heute begonnen. Ich erhoffe mir von diesen zweitägigen Gesprächen auch für unsere künftige Arbeit insgesamt gute Ergebnisse.Ich würde mir wünschen, daß auch die jüngere Generation wesentlich mehr an dem letzten Weg älterer Menschen teilhat. Wenn Sie mit jungen Leuten reden, stellen Sie fest, daß diese sehr wenig Erfahrungen mit dem Sterben gemacht haben. Ich meine, daß Leben zum Sterben und Sterben zum Leben gehört. Wir sollten davon die junge Generation nicht ausschließen.Sie haben, Frau Dr. Wegner, einen weiteren Punkt angesprochen, nämlich den Informationsaustausch gerade mit Ländern aus Ost- und Südosteuropa. Dies ist kein Austausch, zu dem Minister hin- und herreisen. Ich bin in dieser Angelegenheit noch in keinem ost- oder südosteuropäischen Land gewesen. Wir haben allerdings z. B. den ungarischen Sozialminister und die stellvertretende polnische Sozialministerin eingeladen. Gerade im letzten Monat sind Mitarbeiter aus Kirgisien und der Mongolei angereist, um unser Sozialsystem zu studieren. Das unterstützen wir.Ich habe jetzt Dankesbriefe bekommen, weil ein fünftägiger Austausch offenbar sehr viele Informationen transportiert hat. Unser Sozialsystem — auch mit all seinen Schwächen — wurde hinterfragt. Ich glaube, daß das Geld, das im Haushalt für diesen Wissenstransfer eingestellt ist, sehr gut angelegt ist.Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß — auch mir ist die Zeit davongelaufen — noch die Arbeit der Wohlfahrtsverbände ansprechen. Ich will den Wohlfahrtsverbänden auch hier noch einmal ein herzliches Dankeschön sagen.
Wir werden 1993 42 Millionen DM für die Arbeit der Wohlfahrtsverbände in den Haushalt einstellen. In den fünf neuen Bundesländern haben die Wohlfahrtsverbände im vergangenen Haushalt Sonderzuschüsse erhalten und hervorragende Aufbauarbeit geleistet. Die segensreiche Arbeit, die sie in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte erbracht haben, ist auf die neuen Bundesländer übertragen worden. Auch dafür ein ganz herzliches Dankeschön.Teilweise zurückgenommen wurde die vom Bundestag im vergangenen Jahr beschlossene Kürzung der Mittel für die soziale Beratung und Betreuung von Aussiedlern. Auch dafür möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bedanken.Sozialhilfe verhindert, daß Menschen in Armut abgleiten. Wir werden uns darüber Gedanken machen müssen, wie Sozialhilfe in Zukunft ausgestaltet werden soll, damit sie funktionsfähig bleibt und weiterhin erhebliche soziale Notlagen in unserem Land verhindert oder überwindet.Wir haben in den vergangenen Tagen und Wochen hier im Bundestag ein Gesetz diskutiert, das die Leistungsbegrenzung für Asylbewerber vorsieht. Ich denke, die Opposition sollte sich Gedanken darüber machen, ob sie diesem Gesetz nicht zustimmen kann, damit die Leistungen der Sozialhilfe für alle Anspruchsberechtigten möglich bleiben.Damit die Funktionsfähigkeit der Sozialhilfe, ihren umfassenden Aufgaben entsprechend, auch in Zukunft erhalten werden kann, ist es notwendig, daß wir über die eine oder andere Leistung nachdenken. Sie haben die Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes, das momentan in der Diskussion ist, angesprochen. Mit dieser Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes wollen wir wesentlich stärker die Prävention betonen. Wir wollen verstärkte Hilfen zur Vermeidung und zur Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit leisten. Wir wollen verbesserte Möglichkeiten für arbeitslose und manchmal nicht mehr arbeitsgewohnte Sozialhilfeempfänger schaffen, damit Anreize und Angebote bestehen, daß sie nötigenfalls auch einmal mit dem entsprechenden sanften Druck wieder Arbeit aufnehmen. Wir möchten, daß Sozialhilfeempfänger Arbeit, wenn sie angeboten wird, auch annehmen.
Auf alle Fälle meine ich, daß es in der heutigen Zeit zwingend erforderlich ist, daß wir auf Mißbrauchsfälle konsequent reagieren und uns darüber Gedanken machen, wie Mehrfachzahlungen oder mißbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen vermieden werden können. Wir streben ferner eine Verbesserung der statistischen Datenlage und der Forschung für eine treffsichere Weiterentwicklung der Sozialhilfe an.
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10432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Bundesministerin Hannelore RönschMeine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung, die ich gerade im Hinblick auf die Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dem Ministerium für Familie und Senioren machen möchte. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, daß die Arbeit in diesem Ministerium von Ihnen, Frau Kollegin Karwatzki, gewürdigt wurde. Ich möchte mich diesem Dank anschließen; denn die Mitarbeiterzahl entspricht unter gar keinen Umständen der Arbeit, die in diesem Ministerium geleistet wird. Deshalb auch an die Berichterstatter meinen herzlichen Dank, daß sie die Arbeitsbedingungen für den Dienstbereich Berlin verbessert haben.
Verehrte Frau Ministerin, ich habe eine Fürsorgepflicht gegenüber dem Personal. Wir kommen auf halb eins; Sie haben Ihre Redezeit überschritten. Ich kann Ihnen das Wort nicht nehmen; aber ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie ein bißchen Rücksicht auf das Personal nehmen würden.
Herr Präsident, ich habe großes Verständnis dafür. Ich werde meine Rede mit dem Dank an die Berichterstatter des Haushaltsausschusses, weil sie es verdient haben, beenden. Ich denke, daß wir in der Familien- und Seniorenpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch durch die demographischen Daten gezwungen werden, in der Zukunft wesentlich intensiver zusammenzuarbeiten. Ich meine, daß diese beiden Politikbereiche Polemik nicht verdienen.
Zum Einzelplan 18 liegen keine Änderungsanträge vor, so daß ich sofort über den Einzelplan 18 in der Ausschußfassung abstimmen lassen kann. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Da alle abgestimmt haben, erübrigt sich die Frage nach Enthaltungen. Der Einzelplan 18 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe Punkt III 12 auf:
Einzelplan 31
Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft
— Drucksachen 12/3524, 12/3530 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Carl-Ludwig Thiele
Hinrich Kuessner
Vorgeschlagen wird eine Debattenzeit von einer Stunde. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann kann ich die Debatte eröffnen. Ich tue das nicht, ohne noch einmal darauf hinzuweisen, daß Sie die Möglichkeit haben, Ihre Reden zu Protokoll zu geben.
Zunächst einmal erteile ich dem Abgeordneten Kuessner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute und in den nächsten Tagen behandeln wir den dritten gesamtdeutschen Haushalt. Anstatt uns über die Zukunft der Menschen in Deutschland zu freuen, müssen wir zwei Jahre nach der Einheit besorgt fragen: Wie geht es weiter? In diesen Tagen spricht man diese Frage ganz gewiß nicht leichtfertig dahin.Im Herbst 1989 haben viele DDR-Bürger auf der Straße festgestellt, daß sie die notwendige Kraft zur Veränderung haben. Mit Phantasie und in schöpferischer Diskussion wurden eine neue Zukunft angedacht und die Umgestaltung der Gesellschaft begonnen. Die Menschen in den neuen Ländern hatten den Willen, Neues zu schaffen, und waren bereit, Opfer zu bringen. Sie waren für eine totale Änderung ihrer Gesellschaft und fühlten sich dieser Aufgabe auch gewachsen.Die Menschen im Westen haben vor der Einheit einen demokratischen Staat aufgebaut, in dem die meisten mit einem relativ hohen Lebensstandard lebten. Auch sie waren in ihrer übergroßen Mehrheit bereit, aus der geschichtlichen Chance nach dem Fall der Mauer etwas zu machen.Dies alles hat die Bundesregierung durch Nichtstun und, man muß leider auch sagen: durch hohle Versprechungen aufs Spiel gesetzt. Nicht die Menschen in Deutschland Ost und West sind unfähig, diese Bundesregierung hat sich in ihrem kindlichen Glauben an die selbstheilenden Kräfte der Marktwirtschaft als unfähig erwiesen.
Dies wurde in den Verhandlungen zum Bundeshaushalt 1993 überdeutlich. Im Einzelplan 31 des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft sah es noch vor einem Jahr optimistischer aus. Vor einem Jahr stellte ich in dieser Debatte die Frage: Reagiert die Politik im Bereich Bildung und Wissenschaft in ausreichender und geeigneter Weise auf die Herausforderungen des Einigungsprozesses? Diese Frage konnte ich damals nicht positiv beantworten. Aber ich konnte im vorigen Jahr feststellen, daß insgesamt rund 7 Milliarden DM für Bildung und Wissenschaft zur Verfügung standen und daß dies ein Weg in die richtige Richtung ist.Dieser Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft umfaßt Ausgaben von 6,5 Milliarden DM. Das ist gegenüber dem Einzelplan 31 1992 eine Steigerung von 1,3 %. Aber im Vorjahr standen im Einzelplan 60, im Programm Aufschwung Ost, für den Ausbau und Neubau von Hochschulen 300 Millionen DM und für den Studentenwohnraumbau 200 Millionen DM zur Verfügung. Bei einem Vergleich muß dies mit angesetzt werden. Somit ist festzustellen: Für Bildung und Wissenschaft sind für 1993 rund 7 % weniger eingesetzt. Das ist schon eine bedenkliche Entwicklung.Alle Fraktionen hatten im Vorjahr die besondere Situation an den Hochschulen erkannt. Für den Ausbau und Neubau von Hochschulen wurde besonderer
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Hinrich KuessnerHandlungsbedarf gesehen. Bundesminister Ortleb führte aus, daß „der Wissenschaftsrat ... ab 1993 den Finanzbedarf für die alten und neuen Länder auf insgesamt 2 Milliarden DM jährlich an Bundesmitteln" schätzt. Sie sagten dann, Herr Bundesminister: „Konkret werden wir darüber beim Haushalt 1993 sprechen müssen. "Was ist daraus geworden? Die Bundesregierung hat gesprochen. Herausgekommen ist eine magere Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 80 Millionen DM an Stelle der von allen für notwendig gehaltenen 400 Millionen DM.Zunächst sollte der Ansatz des Vorjahres nach Meinung des Kabinetts nicht verändert werden. Im Berichterstattergespräch wurden dann 180 Millionen DM dazugelegt. Der Finanzminister kassierte diese 180 Millionen DM wieder ein. Die Arbeitsgruppe „Haushalt" der Koalition verständigte sich dann auf magere 80 Millionen DM.Aber auch dies ist wieder eine falsche Rechnung. Wie ich schon ausführte, standen neben den 1,6 Milliarden DM im Programm „Aufschwung Ost" 300 Millionen DM. Somit ist der Ansatz gegenüber dem Vorjahr sogar um 220 Millionen DM geringer.Dies alles zeigt die Konzeptionslosigkeit dieser Regierung.
Viele Zahlen scheinen zufällig festgeschrieben worden zu sein.
Es ist nicht zu erkennen, was daraus in den nächsten Jahren werden soll.Ein Beispiel dafür war auch die Bitte des Finanzministers an den Haushaltsausschuß, keine Personalkosten in den Bundesministerien zu streichen. In der nächsten Sitzung wurden nach dem Rasenmäherprinzip dann doch 3 000 Personalstellen gestrichen.Beim BAföG haben wir schon jetzt einen Ansatz, der um 40 Millionen DM unter den Vorausberechnungen liegt. Diese 40 Millionen DM wird der Bundesfinanzminister zahlen müssen, wenn sie gebraucht werden. Auf die Millionen scheint die Regierung aber nicht mehr so zu achten. Die Regierung geht mit ihnen um wie der Bürger mit seinen Markstücken.
Hinzu kommt, daß die Bundesregierung auf diesem Wege verhindert, daß die notwendigen Mittel für die Verlängerung der Studienabschlußförderung ab Herbst 1993 im Haushalt 1993 etatisiert bleiben.
Herausgekommen ist insgesamt kein brauchbarer Haushalt. Er soll ja auch überarbeitet werden. Diese Regierung will jetzt handeln, sagt sie. Nur, was will sie erreichen? Das ist nicht zu erkennen. Sie läuft den Problemen noch immer hinterher. Auch zwei Jahre nach der Einheit Deutschlands ist von der Gestaltungskraft dieser Regierung nichts zu sehen.
Die zusätzlichen Mittel für die neuen Lander erst irgendwann im nächsten Jahr, vielleicht erst im Mai — auch das kann man in der Presse lesen —, freizugeben befördert den Aufschwung nicht. Um solide zu planen und sorgfältig auszuführen, ist dann wieder nicht genügend Zeit. Es ist schon ein Trauerspiel, daß diese Regierung auch im dritten Jahr nach der Einheit keine Strategie für das Aufbauwerk Ost vorlegen kann.
Der Glaube an die Marktkräfte, die die neuen Länder im Jahre 1992 aus dem tiefen Tal herausführen werden, hat die Regierung zum Abwarten verführt. Nun haben sich die Marktkräfte als eine Walze entpuppt, die alle Konkurrenz plattmacht. Diese Regierung scheint nicht mehr in der Lage zu sein, diese Entwicklung zu stoppen.
In den neuen Ländern weiß man inzwischen, daß Massenproduktion in den Industriebetrieben keine Chance hat. Auch wegen der vergleichsweise niedrigen Betriebskosten in den Nachbarstaaten Polen und Tschechoslowakei werden Neuansiedlungen an uns vorbeigehen. Nur wenn hoher Ausbildungsstand der Arbeitskräfte und technisches Know-how gefördert werden, haben wir Chancen in Deutschland-Ost und -West.Noch muß man für Deutschland „Ost" hinzufügen. In Deutschland-Ost hat die Wanderbewegung der Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler nach der Einheit nicht aufgehört. Die Menschen sind das eigentliche Kapital der neuen Länder. Wenn sie entwertet werden, bleibt nur noch die schöne Landschaft.Ein Däne kauft z. B. von der Treuhand den Betrieb Hydraulik Nord in Parchim in Mecklenburg-Vorpommern, nur weil dort wertvolle Arbeitskräfte sind. Die Betriebshallen und -einrichtungen kann er nicht gebrauchen. Auf der grünen Wiese baut er einen kleinen neuen Betrieb und garantiert 3,1 % der bisherigen Arbeitsplätze.Wer in den neuen Ländern den Kampf für ein Gelingen der Umstrukturierung in dieser Generation nicht aufgeben will, muß in Bildung und Wissenschaft investieren.
Der Ausbau und Neubau der Hochschulen ist eine zentrale Frage für den Aufschwung Ost und für die Festigung des Industriestandorts Deutschland. In dieser Frage dürfen wir Ost- und Westdeutschland nicht gegeneinander ausspielen.Die Situation an den westdeutschen Hochschulen ist so, daß effektives Studieren für viele Studenten nicht möglich ist. Es fehlen ganz einfach Studienplätze. Dieses Problem steht seit Jahren an. Darum ist die Empfehlung des Wissenschaftsrates: Für den Aus- und Neubau der Hochschulen müssen mehr Mittel eingestellt werden.
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10434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992
Hinrich KuessnerWenn die Bundesregierung dies nicht will, muß sie alternative Lösungen aufzeigen. Dies kann ich nicht erkennen. Die scheinbare Aufstockung der Mittel um 80 Millionen DM ist keine Lösung. Sie ist ein verschleiertes Nichtstun, und das ist zur Handlungsmaxime dieser Regierung geworden.
In den neuen Ländern ist, wie ich schon ausführte, der Ausbau und Neubau der Hochschulen eine wichtige Voraussetzung für den langfristigen Aufschwung Ost. Um Wissenschaftler und Studenten in den Osten zu locken, müssen Forschungs-, Studien- und Wohnbedingungen verbessert werden.Das Programm für den Studentenwohnheimbau in den alten Ländern läuft 1993 weiter. Für die neuen Länder ist im Haushalt nichts mehr vorgesehen. 1992 waren hier 200 Millionen DM im Programm „Aufschwung Ost" eingestellt. In beiden Teilen Deutschlands ist ein Programm für den Studentenwohnheimbau notwendig.Man kann nicht sagen, weil die Versorgung mit Wohnheimplätzen im Osten sehr viel höher als im Westen ist, braucht hier nichts mehr getan zu werden. Erstens sind die Ausstattung und der Zustand der Wohnheime im Osten in der Regel nicht zu akzeptieren. Zweitens ist die allgemeine Wohnraumknappheit so groß, daß Studentenwohnraum in absehbarer Zeit nicht genügend auf dem freien Wohnungsmarkt zu haben ist.
Dies braucht, wie vieles, seine Zeit. Die Wohnheimversorgung wird im Osten schrittweise zurückgefahren. In Greifswald z. B. liegt sie jetzt bei rund 70 %. Vertreter des Studentenwerks sagten mir kürzlich, daß ihre Zielstellung 30 % sei. Ich denke, das ist für unsere Situation angemessen.Wenn man auf diesem Sektor die Studentenwerke aktivieren will, muß man ihnen aber Mittel in die Hand geben. Bisher können sie keine Rücklagen bilden, d. h. sie können keinen Eigenkapitalanteil aufbringen.In Greifswald wird jetzt z. B. ein Wohnheim fertiggestellt. Hier wäre es möglich, Mieten zu berechnen, die auch Rücklagen zulassen. Das Land hat dem Studentenwerk aber schon erklärt, daß Rücklagen nicht gebildet werden dürfen, daß sie vielmehr mit den Landeszuschüssen verrechnet werden.Ich halte dies für falsch. Der Umdenkungsprozeß muß langsam, aber zielstrebig in Gang gesetzt werden.
Das bedeutet auch, daß die Mechanismen der Marktwirtschaft zur Wirkung kommen müssen. Wenn das Land Defizite abdeckt und erwirtschaftete Rücklagen verrechnet, bleibt es letztlich bei DDR-Mentalitäten. Es macht keinen Sinn, die Wirtschaftlichkeit von Einzelobjekten durchzusetzen; denn insgesamt ist die finanzielle Selbständigkeit bei den Betriebskosten im Studentenwohnheimbereich nach den Plänen des Greifswalder Studentenwerkes nicht vor 1997 zu erreichen. Erst danach könnten Rücklagen fürErneuerung und Ausbau von Heimen gebildet werden.Nur, wenn jetzt nicht die Anfänge gemacht werden, wird es auch 1997 nicht zu erreichen sein. Das würde jetzt die öffentliche Hand mehr kosten, bringt aber künftig eine Entlastung. Vor allem würde sich das Studentenwerk schon jetzt in die finanzielle Selbständigkeit hineinarbeiten.Natürlich müssen die Mieten in für ostdeutsche Studenten zahlbarer Höhe bleiben. Auch davon war bei dem Gespräch, das ich mit dem Greifswalder Studentenwerk führte, die Rede. Das ist leider bei freien Anbietern schon längst nicht immer der Fall. Dazu gibt es in Greifswald negative Beispiele.Der Fehler der Bonner Regierungspolitik bei der Gestaltung der inneren Einheit ist, daß die Mechanismen der Marktwirtschaft nicht sozial beeinflußt werden. Der Markt wirtschaftet, ohne daß den Menschen in den neuen Ländern Chancen eingeräumt werden. Es fehlt die Entwicklung von Modellen, die den Lernprozeß im Osten fördern, die von der zentralistischen Mittelzuweisung weg- und zur Selbständigkeit hinführen. Das gilt auch für die berufliche Bildung.In Greifswald hat kürzlich die Friedrich-EbertStiftung ein Seminar zur beruflichen Bildung in der Region Vorpommern durchgeführt. Vertreter des Arbeitsamts, der IHK, der verschiedenen Bildungsträger und der Kommunen haben den Stand analysiert. Dabei berichtete der Direktor einer kommunalen Berufsschule, daß sie 1989 mit 15 Lehrern 360 Schiller unterrichtet haben. Heute unterrichten 140 Lehrer in derselben Schule 1 400 Schüler. Im Durchschnitt hat jeder Lehrer neben seinen 25 Unterrichtsstunden in der Woche nachweislich im letzten Unterrichtsjahr 400 Weiterbildungsstunden absolviert. 15 kaufmännische Berufe werden heute in dieser Schule unterrichtet. Manche dieser Berufe kannte man zu DDR-Zeiten nicht. Für die Ausbildung stehen in dieser Schule zehn moderne Computer neben ein paar alten DDR-Modellen zur Verfügung. Damit läßt sich auch bei allem Engagement keine Ausbildung gestalten, die heute und schon gar nicht morgen und übermorgen Bestand hat.Es gibt natürlich auch anders ausgestattete Ausbildungsstätten. Aber es gibt noch immer sehr viel Nachholbedarf. Und gerade in strukturschwachen Regionen muß hier schnell Abhilfe geschaffen werden, es sei denn, man will diese Regionen nicht entwickeln.Bildung und Wissenschaft können eine Vorreiterrolle beim Aufschwung Ost spielen. Wenn man das will, muß man aber auch etwas dafür tun. Sicher kann nicht alles sofort gemacht werden. Aber zwei Jahre nach der Einheit Deutschlands kann man von der Bundesregierung einen Entwicklungsplan für die neuen Länder erwarten.
Wenn man weiß, wann welche Mittel zur Verfügung stehen, könnte vieles planmäßiger mit mehr Vorbereitung gemacht werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1992 10435
Hinrich KuessnerEs wäre sicher sinnvoller — man kann das ruhig anders nennen, es braucht nicht sozialistischer Plan zu sein —, wenn man Überlegungen anstellt, die auch zielgerichtet und für mehrere Jahre gelten. Das ist schon sinnvoll und macht auch in der Sozialen Marktwirtschaft sehr viel Sinn.
Jetzt ist es immer noch so, daß kurz vor Jahresende Mittel angeboten werden. Die Vertreter des Studentenwerks in Greifswald erzählten mir, daß das Land Mecklenburg-Vorpommern ihnen kürzlich Mittel angekündigt hat, die noch in diesem Jahr verbraucht werden müssen. Diese Mittel werden ganz sicher noch verbraucht. Sie könnten aber viel effektiver eingesetzt werden, wenn man mehr Zeit für die Durchführung hätte. Durch langfristige Planung und ruhiges Abarbeiten könnte mit dem gleichen Geld mehr erreicht werden.
Voraussetzung dafür ist, daß die Bundesregierung zusammen mit den Landesregierungen ein Konzept für den Aufbau in den neuen Ländern erarbeitet. Nur so kann man wieder Optimismus in den neuen Ländern erzeugen. Nur so sind schwere Übergangszeiten mit viel Arbeitslosigkeit ohne großen Schaden zu überstehen.Da die Regierung keine Vision für die Zukunft entwickelt, können die Menschen nur aus dem, was sie erleben, ihre Schlüsse ziehen. Erleben tun sie, daß immer mehr Industriebetriebe schließen und viele Ausbildungsstätten noch nicht das Niveau haben, das für eine Ausbildung für übermorgen notwendig ist.Der Aufschwung Ost wird immer teurer, wenn gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger die neuen Länder verlassen und wenn junge Leute in den neuen Ländern ihre Ausbildung nicht durchführen, weil die Ausbildungsstätten nicht das notwendige Niveau bieten.Aus diesem Grund kommen auch nur sehr wenige Studenten aus Deutschland-West an die Hochschulen in den neuen Ländern. Für den Prozeß der inneren Gestaltung der Einheit ist es aber wichtig, daß junge Menschen in der Ausbildung zusammengeführt werden. Dies wird nur gelingen, wenn das Niveau an den Ausbildungsstätten in den neuen Ländern erhöht wird. Die Hochschulen der alten Länder könnten so sogar etwas entlastet werden.Der Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft wird den Erfordernissen nicht gerecht,
die jetzt und künftig an Bildung und Wissenschaft gestellt werden müssen. Die SPD lehnt darum diesen Haushalt ab.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Graf Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie gerne hätte ich zu so mitternächtlicher Stunde mein Manuskript zu guten Händen des Präsidenten zuProtokoll gegeben. Auch Herr Thiele und der Herr Minister wären dazu bereit gewesen. Aber Sie wollten gerne ihr Klagelied, Herr Kollege Kuessner, anstimmen.
— Hier ist das Parlament. Ihr Klagelied ist von der Opposition her sicher gerechtfertigt. Aber Sie haben ein verräterisches Wort getan.
Sie haben gesagt, die Regierung sei deshalb konzeptionslos, weil der Aufwuchs nicht hoch genug sei. Dies ist eine eindeutige Verwechselung von Qualität und Quantität.
Wenn wir von den Quantitäten reden, muß ich einfach ein bißchen Wasser in den Wein gießen; denn von den gesamten Bildungsausgaben in der Bundesrepublik Deutschland trägt der Bund, der Kompetenzverteilung nach dem Grundgesetz entsprechend, einen recht bescheidenen Anteil. Kommunen, Lander und Wirtschaft sind diejenigen, die in starkem Maße beteiligt sind. Auf der Basis von 1990 — damals waren es etwa 100 Milliarden DM Bildungsausgaben insgesamt — lagen die Anteile wie folgt: 8 % Bund, 75 % Länder und 17 % Gemeinden und Zweckverbände. Dabei ist aber ein besonders wichtiger Posten nicht eingerechnet, nämlich der Beitrag der Wirtschaft für Berufsbildung und Weiterbildung, der für diesen Zeitraum 48,8 Milliarden DM betragen hat.
Dennoch spielt auch der Beitrag des Bundes eine gewichtige Rolle bei der Verwirklichung des Grundrechts auf Persönlichkeitsentfaltung, bei der freien Wahl des Ausbildungs- und Berufsplatzes sowie bei der Schaffung guter Voraussetzungen für den Produktionsfaktor Arbeit in einer modernen und arbeitsteiligen Volkswirtschaft.Wo aber immer heute über Bildungs- und Ausbildungsprobleme disktuiert wird — ich muß erst die Probleme diskutieren, um dann zu einer Konzeption zu kommen —, fällt eine Veränderung auf: Die Gewichte haben sich zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung verschoben. Man spricht vom Ungleichgewicht zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem. Dies wird weniger an dem Schlagwort deutlich, daß es heute mehr Studenten als Auszubildende, mehr Architekturstudenten als Maurerlehrlinge gebe — denn man muß natürlich die unterschiedliche Menge der Ausbildungszeiten beider Bereiche berücksichtigen —, sehr wohl aber an der Tatsache, daß in den alten Bundesländern in diesem Jahr 123 400 angebotene Plätze nicht besetzt werden konnten, während sich im überlasteten Hochschulbereich 1,8 Millionen Studenten drängten. Die Tendenz ist steigend, weil in der ehemaligen DDR der Prozentsatz eines Altersjahrgangs, der die Hochschulreife erwarb, nur halb so hoch war, wie in der Bundesrepu-
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Alois Graf von Waldburg-Zeilblik. Dieser Abstand wird in sehr wenigen Jahren aufgeholt sein.Wer aber die künftige Facharbeiterlücke beklagt, muß dafür sorgen, daß berufliche Bildung attraktiver wird. Da geht es nun um Konzeption.
Lassen Sie mich deshalb mit der beruflichen Bildung beginnen.Hier ist zunächst von einem guten Ansatz zu reden, der der beruflichen Bildung endlich etwas zukommen läßt, was bisher nur in der allgemeinen und Hochschulbildung üblich war: der Begabtenförderung.
Das Programm ist 1991 mit Ausgaben von 8,4 Millionen DM begonnen worden. 1992 waren es 18 Millionen DM. 1993 werden die Ausgaben für dieses sehr erfolgreiche Programm, das insbesondere Sprachförderung und Auslandsaufenthalte beinhaltet, auf 26 Millionen DM ansteigen.Zweitens. Wer von Begabtenförderung spricht, muß auch von denen reden, die sich bei ständig steigenden Anforderungen in der beruflichen Bildung überfordert fühlen. Die Förderung der beruflichen Bildung benachteiligter Jugendlicher ist an sich im Arbeitsförderungsgesetz geregelt. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß das BMBW zur Zeit mit der bundesweiten Aktion „Ausländerinnen und Ausländer ausbilden" in diesem Bereich beteiligt ist. Eine ganz wichtige Sache; denn in diesem Bereich ist die Begabungsreserve noch nicht ausgeschöpft, sondern hier ist eine vorhanden.
Auch die Frage, inwieweit neben Ausbildungsordnungen mit sehr hohen Anforderungen auch solche mit weniger Theorieanteil und der Möglichkeit von Erfolgserlebnissen für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten treten sollten, wird weiter diskutiert werden müssen.Drittens: die überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Daß trotz des hohen Anteils sehr kleiner Betriebe die betriebliche Ausbildung in der Bundesrepublik einen so hohen Standard besitzt, verdankt sie vor allem der Einrichtung überbetrieblicher Ausbildungsstätten.
Zu ihrer Förderung stehen 1993 mit 140 Millionen DM 10 Millionen DM mehr zur Verfügung als 1992.
Wichtig ist diese Förderung vor allem in den neuen Bundesländern. Deren besonderer Situation wird dadurch Rechnung getragen, daß die Träger neu errichteter Ausbildungsstätten einen Zuschuß für laufende Zwecke nicht nur für vier Jahre wie in den alten Ländern, sondern für weitere sechs Jahre nach Inbetriebnahme erhalten.Herr Kollege Eckardt, Sie waren dabei, als wir damals eine überbetriebliche Ausbildungsstätte besichtigt haben. Da ist mir eines deutlich geworden: Die haben ihre modernsten Apparate in Baracken aufgestellt und nicht gewartet, bis man das Geld hatte, um eine prachtvolle Einrichtung zu schaffen, und in den Baracken ist mit Eifer gelernt worden. Das scheint mir wichtiger zu sein, als immer zu warten, bis das Geld in der vollen Höhe vorhanden ist.
Viertens. Ein besonderes Problem für die neuen Länder ist die Weiterbildung für früher Ausgebildete. Während 1992 die Mittel für die Förderung der Entwicklung von regionalen beruflichen Weiterbildungshilfen noch bei 5,5 Millionen DM lagen, sind die Weiterbildungshilfen für 1993 auf 23 Millionen DM verstärkt worden; sie sollen vor allem der Qaulifizierung von Personal in der beruflichen Bildung dienen.Fünftens. Während ich vorhin als Hauptproblem der alten Länder im beruflichen Bildungsbereich die Tatsache erwähnen mußte, daß ein großer Teil der angebotenen Ausbildungsplätze nicht mehr besetzt werden konnte, muß es als besonders erfreulich gelten, daß es nach 1991 in den neuen Ländern zum zweitenmal gelungen ist, jedem Jugendlichen in Ostdeutschland eine Ausbildungschance zu bieten.
Interessant ist dabei ein Blick auf Einzelheiten. So ist die Anzahl der sogenannten Konkurslehrlinge gegenüber dem Vorjahr von 28 900 um über 86 % auf 4 000 gesunken. Die Zahl außerbetrieblicher Ausbildungsplätze ist von 37 000 im Vorjahr auf 20 000 gesunken. Trotz des an sich richtigen Wunsches, heimatnahe Ausbildung vor Ort anzubieten, muß ich es als sehr vernünftiges Verhalten junger Ausbildungsplatznachfragender bezeichnen, wenn sie nach Ausbildungsplätzen auch in den alten Ländern fragen, wo sie noch weitgehend offen sind. Das Umgekehrte — darin stimme ich mit meinem Vorredner voll überein — wäre ebenso wünschenswert, nämlich daß Studenten auch Plätze wahrnehmen, die im Hochschulwesen der neuen Länder frei sind.Damit bin ich bereits bei dem zweiten Hauptbereich, dem Bereich Hochschule und Wissenschaft. Die Bildungsdiskussion über die vorhin erwähnten Ungleichgewichte scheint sich — gleich, ob es um den Wissenschaftsrat, um die Kultusministerkonferenz oder um die Hochschulrektorenkonferenz geht — darauf zu konzentrieren, daß diesem Phänomen nicht nur mit blindem weiterem quantitativem Ausbau beizukommen ist.Folgende Überlegungen sind anzustellen:Erstens. Ein Hochschulwesen, in das 30 % oder mehr eines Altersjahrgangs einmünden, kann nicht dasselbe sein wie eines, das nur von 5 % eines Altersjahrgangs besucht wird. Je höher der Prozentsatz eines Altersjahrgangs ist, der eine Bildungseinrichtung besucht, desto stärker muß diese Einrichtung gegliedert sein.Aus der Sicht meiner Fraktion müßte im Hochschulwesen der Bereich der Fachhochschulen verstärkt werden, und es müßten auch bundesweit Angebote im dualen Bereich bestehen, wie die baden-württembergischen Berufsakademien.
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Alois Graf von Waldburg-ZeilWer die Kosten der klassischen Universität, der Fachhochschule und der Berufsakademien miteinander vergleicht, vermag die Logik des Vorschlags leicht einzusehen. Ich möchte aber betonen, daß es sich hier nicht um den Versuch einer Lenkung von Bildungsströmen handeln kann, sondern umgekehrt um die Reaktion auf Wünsche der Studierenden. Fachhochschulen sind heute in ganz besonderem Maß gefragt.Zweitens. Um den hohen Anteil von einem Drittel an Studienabbrechern zu vermindern, müssen Maßnahmenbündel ergriffen werden, die insbesondere in der Verantwortung der Länder und der Hochschulautonomie, aber zum Teil auch im Bereich des Bundes mit seiner Zuständigkeit für die Hochschulrahmengesetzgebung liegen: bessere Vergleichbarkeit der Studierfähigkeit, die durch das Abitur vermittelt wird, Verbesserung der Studienberatung bis hin zur Möglichkeit der Auswahl von Studenten durch Hochschulen dort, wo Engpässe bestehen, Studienreformmaßnahmen, die eine bessere Gliederung des Studiums ermöglichen.Drittens. Verkürzung der Studienzeiten. Dabei möchte ich gerne einen heiklen Punkt berühren: Wenn derzeit über 100 000 Studenten mehr als 20 Semester und z. B. an der Freien Universität Berlin oder der Technischen Universität Berlin mehr als ein Drittel der Studenten über 14 Semester hinaus studieren, dann kann dies nicht zum Nulltarif dem Steuerzahler angelastet werden.
Ich bin kein Befürworter von Zwangsexmatrikulationsmaßnahmen. Aber wer sich den Luxus eines überlangen Studiums leisten will, der soll dafür bezahlen.
Viertens. Wenn ich beim Thema Bezahlen bin, bin ich natürlich auch beim Hochschulbau. Zwischen der Zahl der ausgebauten Studienplätze und den 1,8 Millionen Studenten — ich habe es schon gesagt — besteht ein deutliches Mißverhältnis. Die Hoffnung auf Untertunnelung eines vorübergehenden Zustandes kann fahrengelassen werden. Alle Beteiligten sind sich einig: Insbesondere der Fachhochschulbereich müßte ausgebaut werden. Sein Anteil sollte von 20 % auf 40 % wachsen. Dazu bedarf es erheblicher Mittel.Der Wissenschaftsrat hat für 1993 — um beim Haushalt zu bleiben — 2 Milliarden DM für nötig gehalten, in der mittelfristigen Finanzplanung der kommenden Jahre 2,3 Milliarden DM. Die außerordentliche Beengung der Staatsfinanzen hat im Haushaltsplanentwurf und noch in der ersten Lesung statt der auch von uns in der Sache für notwendig gehaltenen 2 Milliarden DM nur 1,6 Milliarden DM zugelassen.Wir Bildungspolitiker und auch die Berichterstatter im Haushaltsausschuß haben zunächst gehofft, uns bei den Haushaltsberatungen in der Mitte treffen zu können. Dann kamen die Nachrichten über erhöhte Kosten für den Aufschwung Ost und über verminderte Einnahmen im Zuge des Konjunkturrückgangs. Phasenweise mußte sogar um den ursprünglichen Ansatz gebangt werden.Erschwerend kam hinzu: Im Zuge der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission wurde von seiten der Länder der Wunsch nicht nur geäußert, sondern auch durchgesetzt, die Hochschulrahmengesetzgebung des Bundes zu beschneiden. Eine Rückfrage bei den Wissenschaftsministern meiner Partei hat allerdings ergeben, daß der ursprüngliche Vorwurf, der diese Veränderung begründet hat, nämlich eines exzessiven Gebrauchs der Hochschulrahmengesetzgebung durch den Bund, nicht aufrechterhalten werden kann.Ich denke, daß die Bundestagsentscheidung deshalb das Votum der gemeinsamen Verfassungskommission korrigieren sollte. Denn ich verhehle nicht, daß neben dem natürlich wichtigsten Gesichtspunkt der Erhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse bis in die Haushaltsberatungen hinein auch die Frage eine Rolle gespielt hat, ob denn das Sprichwort „Wer zahlt, schafft an" nach Änderung der Rahmengesetzgebungskompetenzen nicht auch umgekehrt anzuwenden wäre: „Wer anschaffen will, muß dann auch bezahlen. "
Um so mehr danke ich unter diesen erschwerten Umständen unseren Haushältern, insbesondere Ihnen, Herr Thiele, und dem leider heute nicht anwesenden Herrn Kollegen Dr. Uelhoff, den ich heute hier vertrete, dafür, daß sie es geschafft haben, wenigstens die 1,68 Milliarden DM bereitzustellen.Neben diesen Ausgaben für die Gemeinschaftsaufgabe Ausbau und Neubau von Hochschulen steht das vom Bund mit den neuen Ländern 1991 vereinbarte Programm für die Erneuerung von Hochschule und Forschung in den neuen Ländern. Es ist von ursprünglich 1,76 Milliarden DM auf über 2,4 Milliarden DM aufgestockt worden.
Herr Abgeordneter Waldburg-Zeil, sind Sie bereit, auch an diesem neuen Tag eine Zwischenfrage zu beantworten?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön.
Danke, Herr Graf Waldburg-Zeil. — In Erinnerung an alte Zeiten, d. h. der vorigen und der vorletzten Periode, möchte ich Sie fragen, ob Sie angesichts dieser Aussage über die Notwendigkeiten des Ausbaus der Hochschulen nicht endlich einmal die Kraft aufbringen, gegenüber den Haushältern mindestens Ihrer Fraktion, eigentlich auch der Koalition, also der F.D.P., ein bißchen mehr zu erreichen. Oder muß ich davon ausgehen, daß im Gegensatz zum früheren Bildungsminister Möllemann der jetzige Bildungsminister beim Kampf um diese Gelder für den Hochschulausbau Sie sogar im Stich gelassen hat? Herr Möllemann hatte damals — das muß ich
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Ernst Kastningsagen — immerhin noch ein bißchen Erfolg, gemeinsam mit uns allen im Bildungsausschuß, was den Hochschulausbau angeht.
Lieber Herr Kollege, Sie wissen aus den Beratungen, die wir im Ausschuß und auch am Rande des Ausschusses geführt haben, daß die Situation in diesem Jahr anders ist, als die Situation früher war. Der Haushalt wird durch eine Menge von Aufgaben auf der einen Seite und durch Einnahmenausfälle auf der anderen Seite knapper werden. Insofern muß man sehen, wo man bleibt.
Nach den Entwicklungen, die wir alle im Hoch und im Tief mitgemacht haben, muß ich doch mit Dank und Anerkennung feststellen, daß wir annähernd 1,7 Milliarden DM herausbekommen haben.
Darf ich mit der Feststellung fortfahren, daß der Bund sich nunmehr an den bis 1996 laufenden Programmen mit 1,82 Milliarden DM beteiligt. Für 1993 beträgt der Anteil des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft 173,81 Millionen DM. Die Hochschulsonderprogramme I und II zugunsten der alten Länder werden mit dem in den Vereinbarungen 1993 vorgesehenen Ansätzen von 150 Millionen bzw. 221,2 Millionen DM fortgeführt. Die Förderung von angewandter Forschung und Entwicklung an Fachhochschulen wird für 1993 mit einem Ansatz von 4 Millionen DM — ursprünglich 2 Millionen DM — bedacht.
Die Studentenwohnraumförderung wird nach einem mit den Ländern abgestimmten Programm mit 150 Millionen DM verbessert.
Der Bundeszuschuß an die Deutsche Forschungsgemeinschaft für die allgemeine Forschungsförderung und für die Förderung von Sonderforschungsbereichen an den wissenschaftlichen Hochschulen wird von 766,7 Millionen DM auf 834,8 Millionen DM für 1993 gesteigert. Der Zuwachs beträgt für die Maßnahmen in den alten Ländern 5 % und für die Maßnahmen in den neuen Ländern 35,7 %. Das ist richtig.
Für die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz sind 2,55 Milliarden DM vorgesehen. Damit werden die Verbesserungen des am 1. Juli 1992 in Kraft gesetzten 15. BAföG-Anderungsgesetzes abgedeckt.
An Zuschüssen an die neuen Studentenförderungswerke für Begabten- und Promotionsförderung sind 109,6 Millionen DM vorgesehen, für Stipendien zum Auslandsaufenthalt deutscher Hochschulabsolventen und Studenten 48,5 Millionen DM sowie 6,5 Millionen DM zur Förderung von Leistungswettbewerben.
Ich darf die übrigen Schwerpunkte wegen der fortgeschrittenen Stunde weglassen
und abschließend zum Einzelplan 31 feststellen, daß
es gelungen ist, auch unter den Bedingungen beengter Staatsfinanzen einen für Bildung und Wissenschaft Handlungsräume erschließenden Haushalt zu zimmern. Es kommt entscheidend darauf an, gerade dort, wo es gilt, mit den Mitteln sparsam umzugehen, den Mut zu haben, durch Qualität der Maßnahmen begrenzte Quantitäten der Mittel auszugleichen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
Guten Morgen, Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich muß gestehen: Vor 9 Uhr habe ich in diesem Hause selten gesprochen. Ich möchte die Stunde nicht über Gebühr beanspruchen und Ihnen jetzt schon versprechen: Ich werde meine Redezeit, die bei uns natürlich sowieso immer ein bißchen knapper bemessen ist, nicht ausschöpfen.
Auch die Diskussion über den Einzelplan 31, Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, ist in diesen Etatberatungen unter besonderem Vorzeichen zu sehen. Ich möchte mich auf einen Bereich beschränken: Hochschulbau. Schon bei der Aufstellung des Haushaltsentwurfs durch die Bundesregierung war seitens des Bildungsministeriums im Bereich Hochschulbau mehr Geld gefordert worden, als dann vom Finanzminister und vom Kabinett beschlossen wurde.1,6 Milliarden DM sollten für das Jahr 1993 für Hochschulbauten ausgegeben werden. Die Forderung der Länder beläuft sich auf 2 Milliarden DM. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die Länder selber den gleichen Betrag zur Verfügung zu stellen haben. Angesichts der teilweise desolaten Haushaltslage und Haushaltsführung insbesondere der SPD-geführten Länder Saarland, Bremen und leider in letzter Zeit auch Niedersachsen habe ich Zweifel, ob dort die gewünschten Mehrausgaben durch eine sinnvolle Gegenfinanzierung durch Einsparung an anderer Stelle erfolgen kann, wie wir uns das auf Bundesebene in dieser Koalition zur Aufgabe gesetzt haben.
Als zuständiger Berichterstatter für diesen Einzelplan habe ich mich natürlich an den Eckwertebeschluß der Koalition gehalten, der Zusatzausgaben nur dann ermöglicht, wenn Einsparungen an anderer Stelle erfolgten. Eine Erhöhung dieses Ansatzes hielt und halte ich nach wie vor für zwingend notwendig.
Es kann nicht angehen, daß die kritische finanzielle Lage der Bundesrepublik Deutschland die jüngere Generation vorrangig trifft. Wir benötigen, um für künftige Aufgaben gerüstet zu sein, eine gut ausgebildete und qualifizierte jüngere Generation.
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Carl-Ludwig ThieleIch bedanke mich für den Beifall zu früher Stunde und — lassen Sie mich auch das erwähnen — für die hier vorhandene Präsenz.
Investition in den Hochschulbau ist Investition in die Zukunft, insbesondere wenn die von den Ländern zu setzenden Rahmenbedingungen, z. B. Personal und sächliche Ausstattungen, gegeben sind. Das ist leider nicht in allen Ländern der Fall. Ich erinnere mich daran, wie in Osnabrück in Niedersachsen die Bibliotheken ausgestattet sind. Ich muß sagen, da besteht erheblicher Nachholbedarf.
— Moment! Das wurde in der Ära Schröder in keiner Weise geändert, Herr Kastning; ich bitte Sie. Das ist immer das Problem: Wenn man mit einem Finger auf den anderen zeigt, dann zeigen die vier anderen Finger zurück.
Da der Kollege Uelhoff und ich nicht nur diesen Einzelplan, sondern auch zwei weitere Einzelpläne gemeinsam verhandeln durften und weit mehr als 180 Millionen DM Einsparungen in diesen Etats erzielen konnten, haben wir uns als Berichterstatter vorbehaltlich der Beratung in der Arbeitsgruppe Haushalt der Koalition und vorbehaltlich der Zustimmung des Haushaltsausschusses für eine Erhöhung dieses Ansatzes um 180 Millionen DM stark gemacht.
— Den Eindruck, daß das mutig war, habe auch ich zwischenzeitlich gewonnen. Das stimmt, Herr Nolting.Ich möchte an dieser Stelle den Mitgliedern der Arbeitsgruppe dafür danken, daß dieses von uns mehrmals vorgetragene Begehren letztlich dahin unterstützt wurde, zusätzlich 80 Millionen DM im Haushalt 1993 für den Hochschulbau zur Verfügung zu stellen.
Ein Wort zu Herrn Kollegen Kuessner, der ja auch Mitglied des Vermittlungsausschusses ist.
— Ich weiß; aber ich wollte auch die andere Seite auf Herrn Kollegen Kuessner aufmerksam machen. Doch da Sie mit dem Finger auf die andere Seite des Hauses zeigen, ist spätestens jetzt jedem klargeworden, der ihn nicht schon aus dem Vermittlungsausschuß kannte, welche Rolle Herr Kuessner in diesem Hause einnimmt.In diesem Zusammenhang von mageren 80 Millionen DM zu sprechen, das zeigt natürlich irgendwo doch eine gewisse Verkehrung der Verhältnisse.
— Ja nun; 80 Millionen! Für mich ist das eine ganzeMenge, wohl auch für die meisten dieses Hauses.Auch für den Hochschulbau ist das eine ganze Menge. Das nur als mager zu bezeichnen ist mir wieder ein bißchen zu mager. Ich kann Ihnen nur eines empfehlen, Herr Kuessner: Sorgen Sie doch im Vermittlungsausschuß mit dafür, daß die SPD-geführten Länder, insbesondere die Altländer, nicht nur die Mittel in den alten Ländern zur Verfügung stellen, sondern auch dazu bereit sind, Mittel den neuen Bundesländern angemessen zur Verfügung zu stellen!
Denn dort scheint mir ein erhöhter Nachholbedarf zu bestehen.Mit dem Dank an den Haushaltsausschuß verbinde ich natürlich gleichzeitig die berechtigte Hoffnung, daß es auch in den nächsten Haushalten nicht zu einem Zurück hinter diesen Ansatz von 1,68 Milliarden DM kommt.
Herr Abgeordneter Thiele, trotz meines Bittens kann es der Abgeordnete Struck nicht unterlassen, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen.
Gern.
Herr Präsident! Ich fühle mich animiert wegen der Hinweise des Kollegen Thiele auf den Vermittlungsausschuß, dem auch ich angehöre, wobei ich die Ehre habe, die SPD dort als Sprecher zu vertreten.
Ich bitte, das mit entsprechendem Beifall zur Kenntnis zu nehmen. Ich greife gern Ihren Appell auf, Herr Kollege Thiele, den Sie an meinen Freund Hinrich Kuessner gerichtet haben. Dann frage ich Sie aber, ob Sie diesen Appell auch an die Länder Bayern und Baden-Württemberg gerichtet haben.
Herr Struck, wenn ich hier appelliere, appelliere ich nicht einseitig in eine Richtung, sondern appelliere ich allgemein.
Insofern appelliere ich natürlich auch an niedersächsische SPD-Abgeordnete, innerhalb dieses Landes dazu den Beitrag zu leisten, daß auch das Land Niedersachsen zu dieser Richtung findet;
denn ich habe manchmal Zweifel, ob das auch dort so gesehen wird. Auch im Landesverband Niedersachsen der SPD gibt es mitunter Meinungsdifferenzen, was natürlich eine lebendige Partei auszeichnet. Insofern dürfen Sie das als Auszeichnung verstehen.
Es ist allerdings bei dem Etat und bei dem Haushaltsansatz zu fragen, ob dieser Betrag ausreicht und wie er vergeben wird. Insbesondere ist die Frage zu stellen, ob die Finanzierung von Betten in Hochschulkliniken tatsächlich über dieses Programm erfolgen muß. Die Bereitstellung von Krankenhausbetten ist
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Carl-Ludwig Thieleausschließlich Ländersache und wird bislang über den Hochschulbau normal mitfinanziert.
Das ist nach meiner Ansicht ein Aspekt, der aufgegriffen werden sollte, wenn wir über eine Entsperrungsvorlage des Ministers zu entscheiden haben. Ich freue mich auf diese Entsperrungsvorlage, weil sie die Sachkunde auch des Haushaltsausschusses in dieser Gesamtthematik erhöhen wird und für die Zukunft möglicherweise positive Ansätze in neue Denkrichtungen geben kann.Herzlichen Dank.
Da der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller seine Rede zu Protokoll gegeben hat, * ) kann ich nun dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Rainer Ortleb, das Wort geben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In schwieriger Haushaltssituation und bei zwingender Notwendigkeit, in einem Umfang von mehreren Milliarden DM Einsparungen vorzunehmen, bietet der Entwurf des Einzelplans 31 eine hinreichende Basis zur Lösung der im Jahr 1993 zu bewältigenden Aufgaben,
wenngleich nicht alles, was wünschenswert gewesen wäre, Berücksichtigung finden konnte.Ich möchte mich auf folgende Punkte konzentrieren:Erstens. Berufliche Bildung. Der Ausbildungsstellenmarkt zeigt sich auch in diesem Jahr gespalten. In den alten Bundesländern bleiben bei einem erheblichen Rückgang der Bewerberzahlen 120 000 Stellen unbesetzt. In den neuen Ländern konnte jeder ein Ausbildungsplatzangebot erhalten. Dazu waren allerdings zirka 20 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze erforderlich; das ist etwa die Hälfte der Zahl vom vorigen Jahr. Graf von Waldburg-Zeil hat ausführlich zu diesem Punkt Stellung genommen; deswegen möchte ich zur Zeitersparnis nicht näher darauf eingehen.Zu den notwendigen Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung der beruflichen Bildung gehört vor allem eine stärkere Differenzierung nach den individuellen Neigungen, Fähigkeiten und Leistungsmöglichkeiten der Jugendlichen, um einerseits diejenigen besser ansprechen zu können, die bislang ohne Berufsausbildung blieben, und andererseits den Leistungsstärkeren auch in der beruflichen Bildung eine Alternative zum Gymnasium und zum Studium bieten zu können.Im Zusammenhang damit ist als Beitrag zur Gleichwertigkeit der Berufsbildung die von uns angestrebte Begabtenförderung in der beruflichen Bildung zu nennen. Erfreulich ist, daß der Ansatz gegenüber 1992*) Anlage 5auf nunmehr 26 Millionen DM angehoben werden konnte.
Das bedeutet, daß auch 1993 mehr als 3 000 junge Fachkräfte neu in die Förderung aufgenommen werden können.Ich komme zweitens zum Bereich Hochschule und Wissenschaft. Bei der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau geht es um die Sicherung von Schlüsselinvestitionen als Voraussetzung für Forschung und Lehre auf qualitativ hohem Niveau. Es ist deshalb ausdrücklich zu begrüßen, daß es bei den Ausschußberatungen gelungen ist, den Bundesansatz für die Hochschulbauförderung von 1,6 Milliarden DM um immerhin 5 % auf 1,68 Milliarden DM zu erhöhen.Auch wenn damit ein Schritt in die richtige Richtung getan worden ist, bleiben die langfristigen Perspektiven bei der Rahmenplanung für den Hochschulbau doch ungewiß. Selbst mit 1,68 Milliarden DM an Bundesmitteln wird es im Hochschulbau deutliche Einschnitte geben. Hinzu kommt, daß der Bedarf in den kommenden Jahren voraussichtlich erheblich steigen wird.Wegen des langen zeitlichen Planungsvorlaufs bei der Errichtung von großen Bauvorhaben werden die Aufwendungen für den Hochschulbau in den neuen Ländern in den nächsten Jahren weiter steigen. Dieser Bedarf muß aus meiner Sicht vorrangig bedient werden. Das Problem läßt sich nicht mit einer einfachen Umverteilung von West nach Ost lösen,
denn in den alten Ländern stehen insbesondere der Ausbau der Fachhochschulen und die zur Qualitätssicherung unabdingbaren Investitionen an. Hier darf es nicht zu einem Stillstand kommen.
Lassen Sie mich auch in bezug auf die Rechnung, die uns Herr Kuessner vorlegte, bemerken, daß bei aller Debatte nicht vergessen werden darf, daß gerade das Hochschulerneuerungsprogramm aufgestockt worden ist und daß sich nicht unerhebliche Anteile auch im Haushalt 1993 finden. Sie wissen, daß dieser Ansatz um 500 Millionen DM, verteilt auf vier Jahre, seitens des Bundes aufgestockt wurde. Die Lander — übrigens nur die ostdeutschen Länder — haben 167 Millionen DM dazugelegt.Gestatten Sie mir, noch eine Reihe von Zahlen zu nennen, die in der Hochschulbauförderung seitens des Bundes eine Rolle gespielt haben. Zu Zeiten Engholms betrug die Förderung 0,8 Milliarden DM, zu Zeiten Möllemanns waren es 1,1 Milliarden DM, zu Zeiten Ortlebs sind es 1,68 Milliarden DM.
Daß ich jetzt trotzdem kein überglückliches Gesicht mache, liegt daran, daß ich, nachdem ich die Bedeutung des Hochschulbaus soeben ausdrücklich gewürdigt habe, natürlich der Meinung bin, daß diese
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Bundesminister Dr. Rainer OrtlebAufgabe nach wie vor im Blickfeld einer klugen Bildungspolitik stehen muß.
Lassen Sie mich zu einem dritten Punkt kommen: Ein flexibles Weiterbildungsangebot ist Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum, soziale Sicherheit und neue Arbeitsplätze. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Weiterbildung in den neuen Ländern; dort kommen zu den technologischen Veränderungen die gesellschaftlichen Veränderungen hinzu, die die Weiterbildung vor eine quantitativ wie qualitativ völlig neue Aufgabe stellen.Ich nenne abschließend einen vierten Punkt: Ausbildungsförderung. Das BAföG ist eine Sozialleistung, die von entscheidender Bedeutung für die soziale Öffnung des Bildungswesens, insbesondere der Hochschulen, ist. Damit wird dem einzelnen, unabhängig von der wirtschaftlichen Situation seiner Familie, die Ausbildung ermöglicht, die seiner Neigung, Eignung und Leistung entspricht.Durch das 15. Änderungsgesetz zum BAföG wurden die Bedarfssätze in den alten Bundesländern zum Herbst 1992 um 6 % und die Freibeträge zum Herbst 1992 und 1993 um jeweils 3 % angehoben. In den neuen Ländern wurde der Grundbedarf zum Herbst 1992 voll an das Westniveau angeglichen.Abschließend möchte ich feststellen, daß ich, wenngleich aus meiner Sicht Wünsche offengeblieben sind, die Beurteilung des Haushalts durch die Opposition nicht zu teilen vermag.
Mein herzlicher Dank gilt den Berichterstattern und ihrer konstruktiven Mitwirkung bei der Erarbeitung des vorliegenden Ergebnisses.Ich danke Ihnen.
Herr Minister, Sie hatten zwar nicht angekündigt, Ihre Redezeit nicht ausschöpfen zu wollen, aber Sie haben es tatsächlich getan, so daß wir jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 31 in der Ausschußfassung kommen können. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Der Einzelplan 31 ist mit den Stimmen der Koalition angenommen.
Meine Damen und Herren, bevor ich die Sitzung schließe, möchte ich mich bei denjenigen, die zu dieser frühen Stunde überraschend zahlreich im Saal versammelt sind, herzlich bedanken. Dieser Dank gilt aber auch den Mitarbeitern, die die Geduld gehabt haben, hier bis zum Schluß auszuhalten.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Mittwoch, den 25. November 1992, 9 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Rest der Nacht.
Die Sitzung ist geschlossen.