Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, voll Entsetzen und Entrüstung haben wir von dem schändlichen Mordanschlag erfahren, bei dem der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine gestern am Ende einer Wahlveranstaltung in Köln lebensgefährlich verletzt worden ist. Der Deutsche Bundestag ist tiefst betroffen von dieser abscheulichen Tat.
Unsere Gedanken sind in diesen Stunden bei Oskar Lafontaine, seinen Angehörigen und seinen Freunden. Hoffen wir, daß es den Ärzten gelingen wird, sein Leben zu retten und seine Gesundheit wiederherzustellen, damit er seine Verpflichtung als Ministerpräsident und seine anderen politischen Aufgaben in vollem Umfange wieder wahrnehmen kann.
Der Deutsche Bundestag verurteilt auf das schärfste dieses schändliche Attentat.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/CSU hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung zu erweitern um die zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur Neuregelung des Ausländerrechts sowie um die weiteren in der Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/6955 aufgeführten Vorlagen.
Wird das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der Innenausschuß des Bundestages hat am Montag gegen 12 Uhr mittags die Beratungen über das neue Ausländergesetz abgeschlossen. Ihnen sind bis Dienstag die entsprechenden Drucksachen, die Beschlußvorlage des Innenausschusses und die einzelnen Änderungen, die wir beschlossen haben, zugegangen.
Das Ausländergesetz ist verabschiedungsreif. Wir sind der Meinung, daß unsere ausländischen Mitbürger Anspruch darauf haben, daß das, was seit Jahren öffentlich diskutiert wurde, was von Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Parteien, von vielen Gruppen, die sich dieses Themas annehmen, sehr aufmerksam, durchaus kritisch, aber auch engagiert begleitet wurde, jetzt in jedem Fall auch rasch umgesetzt werden muß.
Die Wahlperiode geht ihrem Ende zu. Wir haben bis zur Sommerpause nur noch vier Wochen, um Gesetze beraten und verabschieden zu können. Wir werden allein aus der Innenpolitik noch mit einer Reihe von Vorlagen kommen — Bundesdatenschutzgesetz, Datenschutzbestimmungen für den gesamten Sicherheitsbereich und andere wichtige Vorlagen — , so daß wir als Parlamentarier uns verpflichtet fühlen, auch unsere Hausaufgaben zu machen und ein Gesetz, wenn es verabschiedungsreif ist, zu verabschieden.
Da möglicherweise gleich der Vorwurf der Opposition kommen wird, es sei nicht Zeit genug gewesen zu beraten, sage ich schon jetzt: Diesen Vorwurf, der auch öffentlich erhoben wird, weisen wir zurück. Der Gesetzentwurf ist seit Ende letzten Jahres allen, die sich dafür interessieren, bekannt. Unsere Änderungsanträge, über 200, sind seit vier Wochen dem Haus und den Berichterstattern bekannt. Jeder konnte sich also vorbereiten.
Ich darf darauf hinweisen, daß wir auch bereit waren, Ende März sehr lange zu tagen. So haben die Beratungen mit Ausnahme des Vorsitzenden des Innenausschusses, der der sozialdemokratischen Fraktion angehört, am 29. März ohne Beteiligung der SPD stattgefunden. Das Interesse war an dem Tag offenbar anderen Dingen zugewandt. Wir wollten diesen Montag, den ganzen Montag bis 24 Uhr, anbieten. Beratungsbedarf war nur bis 12 Uhr mittags. Offenbar hat also die Opposition selbst eingesehen, daß ausreichend Zeit war. Deswegen gibt es auch keinen Grund, das verabschiedungsreife Gesetz heute nicht in zweiter und dritter Beratung zu Ende zu lesen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu der beantragten Ergänzung der Tagesordnung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jahn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Antrag, das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts heute zu behandeln, widerspreche ich namens der SPD-Fraktion.
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16204 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Jahn
Es ist immer wieder dasselbe: Wichtige Gesetzgebungsvorhaben werden in letzter Minute vorgelegt und dann in kopfloser Hast verhandelt: von der sogenannten Gesundheitsreform über den Nachtragshaushalt bis zum Gentechnikgesetz, zu dem ich erst vor vier Wochen nahezu das gleiche hier habe sagen müssen. Immer wieder offenbaren Koalition und Regierung, daß sie den Anforderungen nicht gewachsen sind, grundsätzliche Fragen unserer Gesellschaft sachgerecht zu beantworten.
Immer wieder stellen sie unter Beweis, daß sie nicht einmal das Handwerk eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beherrschen.
Niemand bestreitet, daß das Ausländerrecht eine grundlegende Reform erfordert. Aber bereits in den Regierungserklärungen von 1982 und 1983 hat die Regierung ihre Absicht angekündigt. Das war's dann auch erst einmal.Dann kamen Vorschläge von Herrn Zimmermann, mit denen Sie selber nichts zu tun haben wollten.
Dann war lange Zeit wieder nichts.Schließlich haben Sie fast acht Jahre gebraucht, um am 22. Januar dieses Jahres einen Gesetzentwurf einzubringen. Sie haben sich acht Jahre lang Zeit gelassen, um einen schließlich auch noch unzulänglichen Entwurf vorzulegen. Der Deutsche Bundestag soll nun in weniger als drei Monaten den Gesetzentwurf prüfen und verabschieden.
Damit wird der Anspruch des Deutschen Bundestages auf eine sachgerechte Behandlung von der Mehrheit unterdrückt. Die gründliche Beratung in einem Unterausschuß haben Sie abgelehnt. Der federführende Innenausschuß hatte ganze sechs Sitzungen.
Dazu wurden noch zahlreiche Änderungsanträge eingebracht. Die Beratungen sind abgeschlossen worden, bevor überhaupt die Stellungnahme des mitberatenden Rechtsausschusses vorlag.
Das war eine unverantwortliche Hetzjagd, aber kein geordnetes Gesetzgebungsverfahren.Dabei hätte Ihnen die Anhörung im Innenausschuß am 14. Februar Anlaß geben müssen, von diesem Verfahren abzulassen.
Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und nahezu alle weiteren Sachverständigen haben schwerwiegende Einwendungen erhoben. Deren sorgfältige Prüfung wäre geboten gewesen. Jede Frau und jeder Mann wissen, daß dauerhafte Rechtsgrundlagen für das zukünftige Zusammenleben von Deutschen und Ausländern Fragen sind, die Millionen Menschen in unserer Republik tief bewegen. Regelungen von solcher Bedeutung bedürfen einer breiten politischen und gesellschaftlichen Zustimmung. Um des inneren Friedens willen wäre das geboten.Das alles haben Sie vom Tisch gefegt. Nicht einmal in den Ausschüssen des Bundesrates findet sich eine Mehrheit für ein derart überhastetes Verfahren.Niemand, meine Damen und Herren von der Koalition, bestreitet Ihnen das Recht, von Ihrer Mehrheit Gebrauch zu machen.
Aber keine Mehrheit hat das Recht, ihre Möglichkeiten formaler Macht rechthaberisch zu mißbrauchen.
Das geht zu Lasten des Ganzen; das geht zu Lasten überzeugender inhaltlicher Regelungen; das geht zu Lasten der Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie; das geht zu Lasten des Ansehens des Bundestages;
das geht zu Lasten der Glaubwürdigkeit und des Ansehens jedes einzelnen Abgeordneten; nicht zuletzt geht es zu Lasten der Menschen, denen das Gesetz doch dienen soll.
Ihre Angst vor dem Verlust der Mehrheit nach dem 13. Mai rechtfertigt Ihr Vorgehen nicht. Das macht es nur noch verwerflicher.
Noch können Sie zurück; noch können Sie eine verantwortliche Beratung möglich machen.
Dazu ist nicht mehr erforderlich, als unserem Antrag, den Antrag auf Aufsetzung abzulehnen, zu folgen und ihn zu unterstützen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Jahn, gerade weil Sie ein anerkanntes Mitglied dieses Hauses sind, kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen, was Sie hier vortragen, offenbar ohne wirklich Kenntnis des Beratungsablaufs
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16205
Dr. Hirschzu haben. Sie tragen hier etwas vor, was Ihnen wirklich irreführend aufgeschrieben worden ist.
Der Vorhalt, daß hier ein Gesetzentwurf durchgepeitscht wird, ist offenkundig falsch.
Es gibt in der jahrelangen Diskussion um die Reform des Ausländerrechts seit vielen Jahren kein einziges neu auftauchendes Problem. Es gibt zahlreiche Gesetzentwürfe. Es gibt zahlreiche Gesetzentwürfe auch Ihrer eigenen Fraktion, auch der Fraktion der GRÜNEN. Wir haben als Koalition — hier muß man die Chronologie darstellen — im April vergangenen Jahres, also heute vor einem Jahr, die Eckwerte veröffentlicht, nach denen wir uns eine Neuregelung vorstellen. Der Gesetzentwurf des Innenministers, der erste veröffentlichte Entwurf, stammt vom September vergangenen Jahres. Es hat sich daraufhin eine breite öffentliche Diskussion ergeben, auch Anhörungen im Ministerium, mit den Beteiligten und Betroffenen. Daraufhin hat es eine letzte Fassung vom 15. November vergangenen Jahres gegeben, die wieder allen Beteiligten zugegangen ist. Dann haben die Beratungen in diesem Hause begonnen.Wir haben am 14. Februar eine lange ganztägige Anhörung gehabt. Ich möchte es dem Plenum ersparen, darzustellen, wer von den Kollegen an dieser Anhörung teilgenommen hat.
— Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ja.
— Wim Nöbel auch. Das war eine Bemerkung, die nicht primär an die SPD gerichtet war.
Wir haben auf Wunsch der SPD, auch auf Wunsch der GRÜNEN Beratungen und den Termin der Anhörung vertagt. Wir hätten sie vierzehn Tage früher haben können. Wir haben Ihnen ganztägige Sitzungen angeboten. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, jeden einzelnen Punkt mit Ihnen zu diskutieren und zu debattieren, solange Sie wollen.
Sie haben davon keinen Gebrauch gemacht.
Das ist die Wirklichkeit der Beratung.
Wir haben den Vorschlag, einen Unterausschuß zu bilden, in der Tat nicht angenommen, und zwar deswegen, damit alle Mitglieder des Innenausschusses Gelegenheit haben, an den Detailberatungen teilzunehmen, wenn sie es wollen, und nicht nur diejenigen, die in einen Ausschuß delegiert werden.
Während der Beratungen ist von der SPD, aber auch von den GRÜNEN, die immer schlicht die Streichung der Vorschriften verlangt haben, kein einziger Vorschlag gekommen, der über die seit langem von Ihnen vorliegenden Gesetzentwürfe hinausgegangen wäre. Das ist die Wirklichkeit der Beratungen gewesen.
Ich denke, daß es notwendig ist fertigzuwerden. Es gibt, auch wenn wir heute den Gesetzentwurf nicht beraten, keinen einzigen neuen Gedanken, der in diesem Hause oder im Innenausschuß bisher vorgetragen worden wäre, über den nicht erörtert worden ist. Es ist in der Tat so, daß die unter uns lebenden Ausländer in hohem Maße beunruhigt sind. Es ist so, daß über den Inhalt dieses Gesetzentwurfs eine verantwortungslose Kampagne entfesselt worden ist,
in der die Öffentlichkeit über das getäuscht wird, was in diesem Entwurf tatsächlich steht.
Darum ist es notwendig, daß wir die Beratungen nun auch im Plenum zu Ende bringen, damit sich die Öffentlichkeit in Ruhe ein Bild von dem machen kann, was wir ausländerrechtlich beschließen wollen, und damit die Verwaltung das kommende halbe Jahr bis zum Inkrafttreten des Gesetzes nutzen kann, um sich auf die korrekte Anwendung des Gesetzes vorzubereiten, was auch notwendig ist und nicht vernachlässigt werden sollte.Darum bitten wir, dem Antrag zu folgen und die Gesetze heute abschließend zu behandeln.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Trenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hirsch, ich muß Ihnen widersprechen. Ich habe an allen Beratungen und Vorbesprechungen zu diesem Gesetzentwurf teilgenommen und dabei die Erfahrung machen müssen, daß gerade der Zeitdruck, mit dem dieses Gesetz insgesamt von Ihnen als Regierungskoalition durch die Gremien organisiert worden ist, es mir zum Teil überhaupt nicht mehr möglich machte, mich zu Wort zu melden. Alles ist dermaßen schnell — auch im Ausschuß — über die Bühne gezogen worden.
Sie wissen ganz genau — auch wenn Sie jetzt dieFraktion der GRÜNEN angreifen — , daß ich mich be-
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16206 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau Trenzmüht und versucht habe, mit Ihnen um jeden einzelnen Punkt eine Auseinandersetzung zu führen,
obwohl ich von Anfang an den Geist dieses Gesetzentwurfs kritisiert habe. Sie wissen ganz genau, daß ich versucht habe, noch Verbesserungen mit hineinzunehmen.
Die Fraktion der GRÜNEN spricht sich gegen die Aufsetzung des Tagesordnungspunktes aus, weil sie insgesamt auch gegen den Ablauf dieses Verfahrens scharfe Bedenken hat. Dieser Gesetzentwurf ist mit einer besonderen Eilbedürftigkeit eingebracht worden, ohne daß ein sachlicher Hintergrund gegeben war. Es ist unseres Erachtens ein Verstoß gegen das Grundgesetz, wenn lediglich ein politischer Grund, nämlich die Niedersachsen-Wahl, dafür herhalten kann.
Das parlamentarische Verfahren und der ganze Ablauf verliefen so weiter. Ich erinnere nur daran, daß der erste Durchgang im Bundesrat nach der öffentlichen Anhörung im Innenausschuß stattgefunden hat. Wenn ich mir dann die überwältigende Kritik in dieser Anhörung ansehe, die letztendlich im parlamentarischen Papierkorb gelandet ist, dann wundere ich mich doch sehr. Bis heute noch gehen Stellungnahmen und Briefe ein. Ich bekomme jeden Tag einen Berg von Post und Sie doch wohl auch. Die Leute schicken das an alle Abgeordneten. Das interessiert Sie, Herr Fellner, keineswegs.
Es interessiert Sie nicht. Ich denke, daß es ein Beispiel für die Arroganz der Macht ist.
Es ist kein Zufall, daß gerade in diesem Fall in dieser Eile ein Gesetzentwurf durchgepeitscht wird, der sich gegen eine Minderheit in unserem Lande richtet, die zufälligerweise nicht die deutsche Nationalität hat.Ich denke — ohne daß ich jetzt auf den Inhalt weiter eingehen möchte — —
— Ja, Herr Fellner, ich werde noch Gelegenheit haben, auf den Inhalt weiter einzugehen.
Vielleicht beruhigen Sie sich wieder.
Ohne jetzt auf den Inhalt weiter einzugehen, möchte ich noch drei Punkte erwähnen. Gerade Sie von der Regierungskoalition wollen — Sie reden zumindest in Ihren Wahlkampfreden so — die Heuteauf-morgen-Wiedervereinigung. Gleichzeitig haben Sie für die Menschen in der DDR, die anderer Nationalität sind und über Staatsverträge angeworben worden sind und gleichzeitig das kommunale Wahlrecht in der DDR haben, keine Lösung — nicht eine einzige — in dem Gesetzentwurf vorgesehen.
Das paßt doch alles nicht zusammen.
Gleichzeitig wird dieser Entwurf der gegenwärtigen Situation der Zuwanderung keineswegs gerecht. Wenn ich mir dann noch die Aussagen der Wirtschaftsfachleute und Demographen ansehe, die immer wieder darauf hinweisen, daß wir im Jahr 2 000 Einwanderungen in dieses Land brauchen, dann denke ich: Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, und lassen Sie uns erst einmal über Einwanderungspolitik diskutieren, und lassen Sie uns weiterhin diesen Entwurf wirklich sachlich und in der Ausführlichkeit beraten, wie das notwendig ist. Ich erinnere nur an das Ausländergesetz von 1965. Da war ein Beratungszeitraum von fast fünf Jahren, nachdem der Gesetzentwurf eingebracht wurde, vorhanden.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den Erweiterungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Aufnahme in die laufende Tagesordnung.Wer stimmt für diesen Erweiterungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit angenommen.Die Vorlagen werden heute nachmittag nach der Aktuellen Stunde gegen 16.15 Uhr zur Beratung aufgerufen. Für die Aussprache sind zwei Stunden vorgesehen.Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. Dezember 1987 über die wasserwirtschaftliche Zusammenarbeit im Einzugsgebiet der Donau— Drucksache 11/6943 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitEine Aussprache ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/6943 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuß zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Ist das Haus mit dem Vorschlag einverstanden, den ich vorgetragen habe? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist somit so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Schmitz , Bauer, Dr. Biedenkopf, Dr. Blank, Dr. Blens, Borchert, Breuer, Dr. Daniels (Bonn), Daweke, Dr. Fell, Frau Fischer, Gerstein, Dr. Göhner, Dr. Grünewald,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16207
Vizepräsident StücklenGünther, Hauser , Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Herkenrath, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch, Frau Karwatzki, Krey, Kroll-Schlüter, Dr. Kronenberg, Lamers, Frau Limbach, Louven, Marschewski, Dr. Meyer zu Bentrup, Michels, Dr. Möller, Müller (Wesseling), Pesch, Dr. Pinger, Dr. Pohlmeier, Reddemann, Dr. Rüttgers, Schemken, Schulhoff, Seesing, Dr. Stercken, Tillmann, Vogel (Ennepetal), Dr. Vondran, Wilz, Windelen, Dr. Wulff und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Graf Lambsdorff, Cronenberg (Arnsberg), Dr.-Ing. Laermann, Baum, Gattermann, Dr. Hirsch, Dr. Hoyer, Nolting und der Fraktion der FDPFinanzielle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Nordrhein-Westfalen— Drucksachen 11/6411, 11/6756 —Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6981 vor.Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmitz .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute morgen die Antwort der Bundesregierung auf eine von uns gestellte Große Anfrage über die Lage des Landes Nordrhein-Westfalen, über die soziale und finanzielle Situation an Hand von Zahlen und Fakten, die der Öffentlichkeit seitens der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen bisher leider nie gesagt worden sind.
Eines ist dabei, denke ich, unter uns unstreitig: daß die Bürgerinnen und Bürger des Landes Nordrhein-Westfalen auf Grund der Politik der Bundesregierung an diesem Aufschwung erheblichen Anteil haben. Dieser Aufschwung hält mittlerweile im siebten Jahr an.Die Politik — auch das ist, meine ich, unstreitig — kann für eine florierende Wirtschaft die Rahmenbedingungen leisten. Das haben wir getan, meine Damen und Herren. Und die Politik tut gut daran, wenn sie sich planwirtschaftlicher Steuerungselemente weitgehend enthält.Hier setzt meine Kritik ein. Wären wir Ihren Vorstellungen nach 1982 und wären wir den Vorstellungen von Johannes Rau und anderen aus der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen gefolgt, dann wären wir heute wahrscheinlich bei der dreizehnten, vierzehnten oder fünfzehnten Auflage von erfolglosen Beschäftigungsprogrammen, wie wir sie jahrelang in Ihrer Regierungszeit gehabt haben, meine Damen und Herren.
Statt dessen haben wir 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen und das höchste Beschäftigungsniveau erreicht, das wir in der Bundesrepublik Deutschland seit langem gehabt haben.Meine Damen und Herren, dies sind Erfolge, die im Grunde genommen dadurch ermöglicht wurden, daß hier eine Politik der konsequenten Anwendung der Sozialen Marktwirtschaft betrieben worden ist.Gestalterische Politik aber, meine Damen und Herren, und vor allen Dingen eigene Politik lassen sich in den Haushalten der Länder und auch des Bundes — das ist im übrigen ja immer auch Ihre These gewesen, und Sie wissen, als Haushälter kann man es sich erlauben, das einmal zu sagen — an den investiven Anteilen des Haushalts feststellen.Meine Damen und Herren, die hiesige SPD-Fraktion erhebt ja immer Forderungen nach umfangreicheren Investivprogrammen. Nun haben wir einmal nachgeprüft und festgestellt, daß der investive Anteil innerhalb des Haushalts des Landes Nordrhein-Westfalen seit Antritt der Regierung von Rau — in Nordrhein-Westfalen seit Antritt der SPD — sukzessive gesunken ist.
1980 waren im Haushaltsplan des Landes Nordrhein-Westfalen noch 11,5 Milliarden DM als investive Mittel ausgewiesen, 1989 waren es knapp 9 Milliarden DM. 1980 waren es also 22,2 %. Heute beträgt die Quote 14,6 %, meine Damen und Herren. Wo ist denn hier eigenes Handeln der Regierung Rau? „Aufschwung aus eigener Kraft" nennt man das dann, meine Damen und Herren. — Also, ich denke, da kann von Kraft kaum die Rede sein, weil ja auch kein Saft drin ist.Hinzu kommt, meine Damen und Herren, daß wegen des geringen investiven Anteils und wegen des Sinkens des investiven Anteils nicht nur der Handlungsspielraum innerhalb des Landes, sondern damit auch der Kommunen klar und eindeutig eingegrenzt worden ist. Dazu werden meine Kollegen das eine oder andere noch sagen. Aber eines ist unbestreitbar: daß durch das Absinken der investiven Anteile innerhalb des Landeshaushalts Nordrhein-Westfalen, wie die Antwort auf die Große Anfrage beweist, die Investivkraft des Landes, d. h. auch der Kommunen, eindeutig geschwächt worden ist, meine Damen und Herren. Wenn Sie dann noch behaupten, daß das „Aufschwung aus eigener Kraft" sei, dann kann ich das nur mit einem einzigen Wort belegen: Das, was Sie hier betreiben, ist schlicht und einfach Etikettenschwindel.
Lassen Sie mich ein weiteres Wort sagen. Wir haben seitens des Bundes das Strukturhilfegesetz geschaffen. Sie betätigen sich draußen als Geldbriefträger. Wenn wir als CDU-Abgeordnete dies draußen allerdings einmal sagen, dann gehen Sie hin und behaupten schlicht und einfach, dies seien Landesmittel. Prüft man das nach, dann stellt man fest, daß der größte Anteil Bundesmittel sind. Stellt man dies dann öffentlich dar, dann spielen Sie den Beleidigten.
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16208 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Schmitz
Meine Damen und Herren, eines muß man Ihnen vorhalten: Sozial, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist eigentlich nicht derjenige, der das Geld an andere Leute verteilt; sozial ist derjenige, der dafür sorgt, daß es überhaupt etwas zu verteilen gibt. Das hat diese Bundesregierung, das hat Norbert Blüm und das haben alle anderen Kollegen meiner Bundestagsfraktion hier deutlich gemacht.
Ich möchte ein weiteres Thema ansprechen und fragen, meine Damen und Herren: Wer ist denn hier Investitionshemmnis,
auch im Wohnungsbau? Ich darf Ihnen das einmal an einem Beispiel klar sagen.
— Lieber Herr Dreßler, Sie kommen ja noch dran. — Zuerst fassen wir hier die Beschlüsse über die Dotierung, über die Finanzierung des Wohnungsbaus. Die Länder gehen hin und erklären, sie wollten das alles selber machen.
— Langsam, langsam! Das stimmt doch gar nicht. Sie wissen doch selber, daß die Länder eindeutig gefordert haben, daß das Geld bei ihnen zu bleiben habe. Das ist doch der Punkt; das wissen Sie doch.So, und nun darf ich Ihnen folgendes sagen: Wenn der Bund zusätzliche Maßnahmen ergreift und Mittel auch dem Land Nordrhein-Westfalen zuweist, dann kriegen die Bürger, die dann im ländlichen Bereich bauen wollen, von Ihnen eine schöne Absage — weil Herr Zöpel im Jahre 1984 die Landesbauordnung geändert hat — : Erstens weil der Kindergarten nicht mehr am Ort, zweitens weil die Schule nicht mehr am Ort und — das habe ich dann auch noch gelesen — drittens weil die Kirche nicht mehr am Ort sei, könne man dem Betreffenden, der den Antrag stellt, aus Mitteln des sozialen Wohnungsbaus keine einzige Mark geben. Ich sage das einmal im Klartext: Sie schaffen Gesamtschulen, entvölkern durch Ihre Wohnungsbaupolitik den ländlichen Raum, bauen keine Kindergärten und sagen dann nachher, die Bundesregierung sei schuld —
frei nach der Methode „Haltet den Dieb!" .
— Herr Großmann, Sie wissen sehr genau, wovon ich rede. Ich gebe Ihnen gern die Schreiben. Aber Sie negieren das ja alles. Es hat keinen Zweck, mit Ihnen darüber zu reden.Meine Damen und Herren, eines ist klar: Verantwortete Politik bedeutet, daß man dem Bürger die Wahrheit sagt.
Wer sich jetzt hinstellt und die Behauptung aufstellt, wie Johannes Rau dies getan hat und weiter tut, man müsse nach 24 Jahren SPD-Regierung das Land wieder zur Nummer eins machen, muß sich die Frage gefallen lassen: Wer hat denn das Land zur Nummer elf, nämlich zum Schlußlicht, gemacht? Deswegen ist dieser Vorwurf des Etikettenschwindels berechtigt.
— Das ist keine Beleidigung. Sie müssen das hier ertragen; es tut mit leid. Wir müssen von Ihnen in Düsseldorf noch viel mehr ertragen, sogar Frechheiten.Lassen Sie mich Ihnen abschließend sagen: Die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Bundesrepublik Deutschland — dies haben das Bundeskabinett, Helmut Kohl und Norbert Blüm geschafft — hat den Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen in erheblichem Maße begünstigt. Sonst stünden wir heute nicht so da, wie es der Fall ist.Zweitens. Neben den allgemeinen, durch die Bundesregierung gesetzten Rahmenbedingungen stellt die Bundesregierung mit ihrem langjährigen Sachwalter der Interessen Nordrhein-Westfalens, Norbert Blüm, dem Land eine umfangreiche finanzielle Hilfe zur Verfügung. Ich sage das einmal ganz beiläufig. Die Probleme des Aachener Bergbaus und des Ruhrkohlenbergbaus hätten wir nicht lösen können, wenn Norbert Blüm nicht dagewesen wäre: nicht Johannes Rau, sondern Norbert Blüm.
Lassen Sie mich Ihnen abschließend folgendes sagen — das ist mein Fazit; ich sage das etwas ironisch und meine es gar nicht beleidigend — : Was nutzt es uns hier in Bonn, wenn wir den Tiger in den Tank packen und in Düsseldorf jemand am Steuer sitzt, der nur den Rückwärtsgang kennt?Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Minister für Bundesangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Einert. Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn eine Landtagswahl ansteht, scheinen die Koalitionsparteien in Bonn besonders darunter zu leiden, daß sie zu wenig über das jeweilige Land wissen. Der Ausweg ist: Sie richten eine umfangreiche Anfrage an die Bundesregierung. Im konkreten Fall wird erneut klar, was wirklich dahintersteht — die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Schmitz haben das deutlich gezeigt —: Die Bundesregierung soll der Opposition in Düsseldorf Wahlkampfhilfe und -munition liefern. Das ist alles.
Sie müssen selber mit sich ins reine kommen, ob SieBundesbehörden auf Kosten des Steuerzahlers dazu
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16209
Minister Einert
benutzen, hier im Bundestag die Wahlkampfmunition für ein Land und über ein Land zu liefern.
Sie haben das im Saarland versucht; das ist auch in die Hose gegangen. Sie werden das auch in Nordrhein-Westfalen erleben.
CDU und FDP aus Nordrhein-Westfalen kennen ihr eigenes Land wohl nicht gut genug. Sie brauchen Argumentationshilfe aus Bonn.
Eben wurde Klage darüber geführt, die Zahlen seien nicht auf dem Tisch. Das ist objektiv unwahr. Die gleichen Debatten, die Sie hier heute morgen veranstalten wollen, sind mehrfach im Düsseldorfer Landtag geführt worden. Alle Zahlen, die Sie hier angefordert haben, lagen und liegen auf dem Tisch. Es kann lediglich damit zu tun haben, daß Sie wohl zu wenig von Nordrhein-Westfalen verstehen und deshalb einer solchen Informationshilfe bedürfen.
Sie haben behauptet, die Investitionen gingen zurück. Dazu sage ich Ihnen — Sie haben selbst das Stichwort Wohnungsbau genannt — : Das, was Nordrhein-Westfalen für den Wohnungsbau tut, ist mehr als das, was die Bundesregierung für die gesamte Bundesrepublik tut.
Sie sollten sich einmal Ihre eigenen Zahlenspielereien ansehen. Sie behaupten hier, in Nordrhein-Westfalen gäbe es einen Rückgang der Bevölkerungszahl im ländlichen Raum. Damit beweisen Sie, daß Sie überhaupt keine Ahnung haben; denn in Nordrhein-Westfalen sind die Zuwachsraten der Bevölkerung im ländlichen Raum stärker als in fast jedem anderen Raum dieses Landes. Sie sollten sich einfach einmal die Zahlen, die vorliegen, ansehen.
— Schauen Sie sich einmal an, wieviel der Bund für Nordrhein-Westfalen ausgibt und wieviel wir selber ausgeben. Die Bundesmittel machen nur einen Bruchteil aus. Auf der einen Seite wollen Sie die Erfolge der Landesregierung herunterreden. Insofern möchten Sie Nordrhein-Westfalen am liebsten schlecht darstellen. Die Möbelwagendiskussion vor fünf Jahren haben wir ja wohl alle noch im Ohr. Wir wissen, was Sie damit angerichtet haben.Auf der anderen Seite müssen Sie zugeben, daß die von der SPD geführte Landesregierung die Legislaturperiode mit einer beeindruckenden Bilanz abschließt. Heute gilt unser Land in der Wirtschaft als ein „Musterbeispiel für Umstrukturierung". Nehmen Sie die Schlagzeile des „Handelsblatts" vom 2. April 1990. Die unabhängige Kommission „Montanregion" — sie ist von der Landesregierung auf einmütige Anregung aller Landtagsfraktionen einberufen worden — hat einstimmig ganz nüchtern festgestellt — ohne jedes Wahlkampfgetöse zitiere ich einen Satz — :Seit dem Beginn der 70er Jahre— Betonung: seit dem Beginn der 70er Jahre —haben sich die Produktionsstrukturen in Nordrhein-Westfalen stärker und schneller verändert als in allen anderen Ländern.Wer immer noch den Eindruck erwecken will, Nordrhein-Westfalen habe seine Spitzenstellung verloren und die SPD-geführte Landesregierung sei dafür verantwortlich, treibt in jeder Hinsicht Etikettenschwindel.
Erstens war es politisch gewollt, daß die anderen Länder in der Nachkriegszeit ihren Rückstand aufholen. Nordrhein-Westfalen selbst hat diesen Aufholprozeß über viele Jahre hinweg durch Beiträge zum Finanzausgleich von insgesamt 11,5 Milliarden DM massiv unterstützt.
Zweitens haben uns die Anpassungskrisen in den Montanregionen schwer benachteiligt. Bereits 1966 — hören Sie einmal gut zu — hat die damalige Bundesregierung in ihrem Raumordnungsbericht festgestellt:Das Land Nordrhein-Westfalen hat seine Spitzenstellung verloren, weil die Bedeutung von Kohle und Stahl zurückging.Das ist ein Zitat aus dem damaligen Bericht der Bundesregierung.Vielleicht haben Sie in der Zwischenzeit übersehen, daß damals Ludwig Erhard CDU-Bundeskanzler und Franz Meyers CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen war.
Sie sollten Ihre Vorwürfe an Hand der Aussagen der damaligen Bundesregierung noch einmal überprüfen.Drittens — und das ist entscheidend — : Nordrhein-Westfalen hat trotzdem den Anschluß an die Bundesentwicklung wieder hergestellt. Das gilt für Wirtschaftswachstum, für Beschäftigtenzuwachs, für den Anteil am Sozialprodukt und am Export. Bei der Produktivität liegen wir deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Belege für diese Aussagen finden Sie, wenn Sie uns nicht glauben, in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre eigene Große Anfrage.
Deshalb versuchen Sie es mit einem Trick: Die Landesregierung wird pauschal kritisiert, am liebsten noch für das Wetter verantwortlich gemacht; und der Erfolg wird eindeutig nur den Einflüssen aus Bonn zugerechnet. So können Sie nicht überzeugend sein.
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16210 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Minister Einert
Wir haben immer gesagt: Nordrhein-Westfalen nimmt Gott sei Dank auch am bundesweiten Wirtschaftsaufschwung teil. Umgekehrt gilt aber ebenso, daß sich auf Bundesebene ohne Nordrhein-Westfalen kein wirtschaftlicher Aufschwung erzielen ließe.Als zweites Argument werden die Hilfen des Bundes für Nordrhein-Westfalen genannt. Dazu sage ich deutlich: Die Bundesregierung zählt nahezu wahllos gesetzlich vorgeschriebene Leistungen auf, die jedem Bundesland zustehen. Sie müssen sich einmal die Antwort zu Gemüte führen. Kommt Ihnen das nicht selber etwas infantil und dümmlich vor, wenn Sie unter den besonderen Leistungen für Nordrhein-Westfalen die Leistungen für BAföG, für Wohngeld, für Kindergeld und ähnliches aufführen?
— Gucken Sie Ihre eigene Anfrage an.
— Das zählen Sie als besondere Leistung für Nordrhein-Westfalen auf.
Gleichgültig, ob ein Bürger in Flensburg, in Passau, in Dortmund, in Frankfurt wohnt, er hat dieselben gesetzlichen Ansprüche. Wie dümmlich wollen Sie eigentlich noch sein? Das schreiben Sie als besondere Leistung für Nordrhein-Westfalen auf. Dümmer geht es wahrlich nicht mehr.
Wer uns das vorrechnet, muß sich auf gleichem Niveau die Zahlungen Nordrhein-Westfalens an den Bund entgegenhalten lassen. Ich sage Ihnen: Wir in Nordrhein-Westfalen finanzieren den Bundeshaushalt ebenso überdurchschnittlich. 27,4 % der Menschen in der Bundesrepublik wohnen in Nordrhein-Westfalen.
In den letzten zehn Jahren haben die Bürger des Landes Nordrhein-Westfalen aber 29,4 % der Steuereinnahmen des Bundes finanziert.
Wenn Sie einmal Ihre eigene Rechnung mit diesen Leistungen zugrunde legen, könnte man genausogut ein Zahlenspiel aufmachen und sagen: Dann haben die Steuerzahler Nordrhein-Westfalens an den Bund 46 Milliarden DM zuviel gezahlt, gemessen am Bevölkerungsanteil.
Solche Zahlenspielereien sollten Sie also, wenn Sie intellektuell und politisch redlich sein wollen, gefälligst sein lassen.
Genausogut sollten Sie auch einmal in einer solchen Antwort — das wäre politisch und intellektuell redlich — die Zahlen auf den Tisch legen, die belegen, daß Sie das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesmaßstab unterdurchschnittlich behandeln. Etwa bei den Förderungsmitteln für Forschungsaufgaben, für Bahn, für Post, für Strukturhilfen, für Landwirtschaft liegen wir unter dem Bundesdurchschnitt. Gucken Sie sich einmal die Förderungsmittel an, die sich vor allem CDU-regierte Länder eingeheimst haben. Dort könnten Sie einmal über Gerechtigkeit und ähnliches nachdenken.
Dennoch hat Nordrhein-Westfalen seine Kreditfinanzierungsquote stärker als der Bund zurückgeführt. Kein anderes Bundesland hat seit 1980 so sparsam gewirtschaftet wie wir.
Das bestätigt die Deutsche Bundesbank in ihrem neuesten Monatsbericht ausdrücklich, und von da aus ist die Debatte, die Sie führen, sehr, sehr ärmlich.
Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir gute Ergebnisse auch in gemeinsamen Anstrengungen erzielt haben, weil Unternehmer und Arbeitnehmer den Strukturwandel als Chance begriffen und die damit verbundenen Anpassungslasten auf sich genommen haben.Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft Nordrhein-Westfalens konnte sich entfalten, weil Landesregierung, Wirtschaft und Arbeitnehmer frühzeitig die Weichen für eine ökonomische und ökologische Erneuerung gestellt haben. Wir haben von Anfang an gesagt, Arbeit und Umwelt gehören zusammen und sind für uns kein Gegensatz. Das haben wir mit einem hohen Stellenwert versehen, und zwar häufig gegen die Unkenrufe der Opposition in Nordrhein-Westfalen.Der Forschungspolitik haben wir einen Schwerpunkt gegeben. Mit insgesamt 49 Hochschulen und zahlreichen Forschungseinrichtungen haben wir in Nordrhein-Westfalen eine wissenschaftliche und technologische Infrastruktur geschaffen, die bundesund europaweit ihresgleichen sucht. Wir haben neben allen Bundesleistungen Ausbildungsplätze gefördert. Fast kein anderes Land kann vergleichbare Leistungen vorweisen. Wir haben frühzeitig erkannt, daß der Strukturwandel nur dann vorankommt, wenn alle Kräfte in den einzelnen Regionen mobilisiert werden können, und daher bauen wir konsequent die Mitarbeit und Kooperation der Verantwortlichen vor Ort aus. Die Menschen akzeptieren den Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen, weil wir weder eine Verelendung einzelner Gebiete noch die Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten zugelassen haben.
Heute hat Nordrhein-Westfalen eine leistungsstarke Wirtschaft und eine ausgebaute Infrastruktur
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16211
Minister Einert
und damit eine gute Chance, bei den noch auf uns zukommenden Risiken bestehen zu können. Die Antwort auf die Große Anfrage zeigt sehr deutlich: Erstens sollte das Verhalten des Bundes gegenüber den Ländern verbessert werden, und zwar gerechterweise gegenüber allen Ländern, und zweitens ist die ökonomische und ökologische Erneuerung Nordrhein-Westfalens gut vorangekommen,
und davon profitiert auch der Bund.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gattermann.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Es ist, wie bei solchen Debatten üblich, Herr Minister Einert, zum Schmunzeln: Im Eingangssatz wird beklagt, daß, aus welchem Anlaß auch immer, eine Gelegenheit für eine wahlkampfmäßige Auseinandersetzung gesucht wird, und vom zweiten Satz an kommt dann — mit einem etwas verkürzten Realitätssinn — die klassische polemische wahlkampfmäßige Beurteilung über die Lage und die Situation des Landes Nordrhein-Westfalen.
Lassen Sie mich etwas Positives an den Anfang stellen: Als Nordrhein-Westfale bin ich froh darüber, daß es seit einiger Zeit wieder aufwärtszugehen scheint. Dies begrüße ich.
Wenn ich z. B. an meine eigene Heimatstadt Dortmund denke, bin ich regelrecht stolz darauf, was dort teilweise geschieht. Aber lassen Sie mich auch sagen: Es geschieht erst, seitdem sich alle gesellschaftlichen und politischen Gruppen sozusagen untergehakt haben und ungeachtet irgendwelcher ideologischer Vorgaben darangegangen sind, Strukturwandel zu praktizieren. Erst seitdem dies passiert, funktioniert es. Der Erkenntnisprozeß, Herr Minister Einert, daß die SPD solches nicht länger behindern sollte, ist sehr, sehr spät zum Tragen gekommen.
Die Regie hat mir nur relativ wenig Redezeit zugemessen, so daß ich nur zu ganz wenigen Aspekten der Antwort der Bundesregierung über die finanzielle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Nordrhein-Westfalen etwas anmerken kann. Mein Dortmunder Kollege, Norbert Blüm, hat gleich, denke ich, etwas mehr Zeit, das zu vertiefen, meine Damen und Herren.
Übrigens, es geht um mein Heimatland, um das Land von Freien Demokraten, von Christlichen Demokraten und Sozialdemokraten. Ich pointiere das so, um die Anmaßung zurückzuweisen, die im derzeitigenWahlkampf wieder einmal zu beobachten ist. Den Bürgern soll nämlich suggeriert werden, dies sei ein sozialdemokratisches Land,
in dem man die Macht gepachtet habe. Man heftet sich alles Gute und Positive, was sich abzeichnet, ungeniert — ungeachtet der Urheberschaft — an den Hut, obwohl man nur in einem gewissen bescheidenen Umfang, Herr Minister Einert, Anteil daran hat.
Wenn es dabei um den positiven wirtschaftlichen Trend geht, dann muß man fast schon formulieren, daß es der Mehrheitsfraktion im Düsseldorfer Landtag und der Landesregierung nicht gelungen ist, den konjunkturellen Aufschwung mit Wachstum, mit mehr Beschäftigung, mit sprudelnden Einnahmen des Staates um Nordrhein-Westfalen herumzulenken. Gott sei Dank ist Ihnen das nicht gelungen. Dabei muß man besonders bedenken, daß die Rahmenbedingungen, die das ermöglicht haben, von Ihnen — sowohl in Düsseldorf als auch hier im Deutschen Bundestag — erbittert bekämpft worden sind. Ich nenne als ein Beispiel nur die Steuerreform 1986/88/90,
die, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nach Ihrer Aussage zum totalen wirtschaftlichen Ruin der Länder und Gemeinden führen sollte.
Die Wahrheit ist, daß Sie niemals über so große Einnahmezuwächse verfügt haben als in der Zeit, in der diese Reform zum Tragen kommt. Allein im vergangenen Jahr bedeuteten die 52,5 Milliarden DM Einnahmen des Landes Nordrhein-Westfalen ein Plus von mehr als 10 % gegenüber dem Vorjahr.Auch der kräftig einsetzende und von mir und von allen begrüßte Strukturwandel — insbesondere auch im Ruhrgebiet — war nicht aufzuhalten, obwohl Sie, die Sie in Düsseldorf regieren, auf Grund Ihrer reichlich desolaten Haushalts- und Finanzpolitik praktisch kaum einen Beitrag dazu leisten konnten, diesen Prozeß abzufedern.
Der Bund stellt Hunderte von Millionen für diese Zwecke zur Verfügung. Die ganze Chuzpe zeigt sich, verehrter Herr Penner, am Beispiel des Strukturhilfegesetzes. Jährlich fließen — auf zehn Jahre —756 Millionen DM in die Landeskasse Nordrhein-Westfalens. Dort erhalten sie dann — mit minimaler Anreicherung durch Landesmittel — hübsche neue Etikette wie „Landesinvestitionsprogramm" oder „Zukunftsinitiative für die Regionen des Landes" und werden dann vor Ort verteilt. Vor Ort lassen sich dann die SPD-Ortsgrößen und die SPD-Landesgrößen für jedes einzelne Projekt feiern
und verschweigen, daß sie das Geld dafür zum überwiegenden Teil aus Bonn bekommen haben.
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GattermannAber damit noch nicht genug. Es wird bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gerügt, wie die Bundesregierung das arme Land Nordrhein-Westfalen mit seinen berechtigten Forderungen zurückweise. Ich kann das nicht anders als „Chuzpe" nennen. Aber schlimmer als das alles, meine Damen und Herren, ist, daß die schlechte Politik, die mindestens in der ersten Phase der elf Regierungsjahre der SPD gemacht worden ist, schwerwiegende Schäden hinterlassen hat, die durch die positiven Dinge, über die wir gesprochen haben, nur überlagert sind. Ich nenne das Stichwort Verschuldung. Laut Wahlplakaten soll Nordrhein-Westfalen, so sagt Johannes Rau, wieder Nummer eins werden. — Gut so, prima! Aber, meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten werden das nicht schaffen.
1979, also noch Freie Demokraten bei den Sozialdemokraten für Finanz- und Haushaltsdisziplin gesorgt haben,
hatten wir 22,5 Milliarden DM Schulden. Jetzt sind es über 100 Milliarden DM. Das kostet politischen Handlungsspielraum in der Zukunft. Der von mir hochgeschätzte Diether Posser hat schon 1985 gesagt, daß die daraus resultierenden rasch steigenden Zinslasten die Haushalte erdrosseln. 1979 waren es 1,7 Milliarden DM an Zinsausgaben; das entspricht einer Quote von 3,4 %. Ende dieses Jahres werden es über 7 Milliarden DM oder 10,7 % sein. 7 Milliarden DM Zinsen — das sind täglich 20 Millionen DM oder stündlich 800 000 DM unproduktiv ausgegebene Steuergelder, grandios umverteilt von unten nach oben als Konsequenz einer verfehlten Haushalts- und Finanzpolitik.
Meine Damen und Herren, das alles passiert, obwohl das Land gleichzeitig — „Konsolidierungspolitik" haben Sie das genannt — die Gemeinden in unerträglicher Weise geschröpft hat. Die Verbundmasse wurde von 28 % auf 22 % gesenkt. Einzelne Steuerbeteiligungen der Gemeinden — ich nenne z. B. die Feuerschutzsteuer, die Grunderwerbsteuer und Anteile an der Kfz-Steuer — wurden völlig vereinnahmt.Meine Damen und Herren, es gäbe viele Kapitel zu beschreiben, bei denen es solche schadhaften Wirkungen gibt. Die Wohnungspolitik ist hier angesprochen worden. Natürlich werden Wohnungen gebaut. Aber mit den Mitteln des Landes und des Bundes, die dafür zur Verfügung stehen, wird aus verblendeter Ideologie jeweils nur eine statt möglicher drei Wohnungen wie z. B. in Baden-Württemberg gebaut.
Ein anderes Beispiel ist das traurige Kapitel Energiepolitik, wo die Aufkündigung des Konsenses zwischen Kohle und Kernenergie Probleme hinterläßt, an denen wir noch knacken werden, auch ökologische Probleme, meine Damen und Herren.Kurz zusammengefaßt: Wenn ich Licht und Schatten der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Situation in Nordrhein-Westfalen wiege, bin ich voller Optimismus. Nur einen Luxus werden wir uns nicht mehr leisten können: Nach elf Jahren Alleinregierung der SPD verträgt dieses Land keine weiteren fünf Jahre.
Dieses kann man den Wählerinnen und Wählern dort nicht eindringlich genug sagen.
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann-Mertens. Bitte sehr!
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Die Inszenierung dieser Großen Anfrage der nordrhein-westfälischen CDU- und FDP-Abgeordneten ist etwas ganz Merkwürdiges, ich glaube, in der Geschichte der Großen Anfragen zumindest der letzten zwei Legislaturperioden etwas Einmaliges. Da wird eine 75 Einzelfragen starke Große Anfrage Anfang Februar eingereicht, und sechs Wochen später wird sie in einem umfangreichen Opus mit detailliertestem Datenmaterial von der Bundesregierung beantwortet.
Wenn wir uns das Profil dieser Antwort und gleichzeitig die Kürze der Beantwortungszeit anschauen, müssen wir sagen, daß wir es hier mit nichts anderem als mit einer Zweckentfremdung des Apparates der Bundesregierung für die Wahlkampfparteien CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen zu tun haben.
Ich bezeichne dies als eine sittenwidrige Zweckentfremdung von Staatsgeldern für Wahlkampfzwecke der beiden Parteien.
Wenn ich die Beantwortungszeit mit jener von Großen Anfragen beispielsweise der GRÜNEN — wir müssen manchmal mehr als ein Jahr auf die Beantwortung z. B. grundsätzlicher ökologischer Anfragen warten — oder auch der SPD vergleiche, meine ich, daß wir es hier mit einem Wahlkampfskandal besonderer Art zu tun haben.
Wenn wir uns die Antwort der Bundesregierung inhaltlich anschauen, muß ich in einer Hinsicht zustimmen, nämlich darin, daß in den letzten Jahren und im letzten Jahrzehnt tatsächlich erhebliche Mittelzuweisungen von seiten der Bundesregierung, wie dort ausgewiesen, an das Land Nordrhein-Westfalen erfolgt sind; das ist völlig unbestreitbar. Es stellt sich jedoch die Frage, wie diese Mittelzuweisungen politisch zu interpretieren sind. Das heißt, wir müssen uns die Art und Weise der Mittelzuweisung anschauen; wir müssen sie mit den Mittelkürzungen der Bundesregierung gegenüber dem Land Nordrhein-Westfalen im gleichen Zeitraum vergleichen, und wir müssen uns anschauen, in welche Kanäle diese Mittel gingen.
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Stratmann-MertensIch möchte einmal von den Mittelkürzungen sprechen, über die in der Antwort auf die Große Anfrage mit keinem Wort geredet wird. Sie weisen auf das hin, was die Bundesregierung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsförderung dem Land Nordrhein-Westfalen zugewiesen hat. Die Zahlen sind unbestreitbar. Sie verschweigen jedoch, daß in dieser Legislaturperiode im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsförderung die Bundesregierung die Mittel für Investitionskostenzuschüsse gestrichen und damit zu einer realen und effektiven Kürzung der regionalen Wirtschaftsförderung in Nordrhein-Westfalen beigetragen hat.
Herr Blüm, warum verschweigt das die Bundesregierung? Ich halte dies für eine unehrliche und wahrheitswidrige Antwort.Sie verschweigen, daß die Bundesregierung seit Jahren daran beteiligt ist und sich damit letztendlich durchgesetzt hat, die Zuweisungen an das Land Nordrhein-Westfalen — auch für das Saarland — im Rahmen des Kohlepfennigs zu reduzieren. Sie verschweigen, daß die Bundesregierung, allerdings gemeinsam mit der unter Druck gesetzten Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, den Jahrhundertvertrag für die Steinkohle gebrochen, die vereinbarte Verstromungsmenge der Steinkohle gekürzt und durchgesetzt hat, daß statt 45 Millionen Jahrestonnen nur noch ca. 41 Millionen Jahrestonnen heimische Steinkohle verstromt werden.
— Herr Cronenberg, wenn Sie die Wahrheit kennen, werden Sie mir zustimmen müssen, daß ich in diesem Falle nichts als die reine Wahrheit sage.
Das ist vor einigen Wochen hier durch den Bundestag gegangen. Damit trägt die Bundesregierung eine Mitschuld an der Zuspitzung der Strukturprobleme in den Kohleregionen und an den finanziellen Folgelasten, die aus diesen Strukturproblemen entstehen.Durch die einseitige wachstumsfixierte Wirtschaftspolitik, die die Bundesregierung betreibt, ist sie mitverantwortlich — darüber haben wir im Rahmen der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht hier immer wieder diskutiert — für die hohe Massenerwerbslosigkeit seit 15 Jahren, insbesondere auch in Nordrhein-Westfalen. Die Bundesregierung ist durch ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik mitverantwortlich für das Ansteigen der Armut in der gesamten Bundesrepublik und in Nordrhein-Westfalen.Laut Deutschem Paritätischem Wohlfahrtsverband haben wir in der Bundesrepublik nach den Kriterien, die für die Bundesrepublik gelten, eine Armut von 10 % der Bevölkerung. Nach den gleichen Kriterien liegt die Armut in Nordrhein-Westfalen bei 11 %, d. h. über dem Bundesdurchschnitt. Daran hat die Bundesregierung ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung. Die Armutsproblematik und die Massenerwerbslosigkeit finden in Ihrer Antwort auf die Große Anfrage mit überhaupt keinem einzigen Wort Erwähnung. Ich frage, warum Sie grade in Wahlkampfzeiten über diese unangenehmen Seiten Ihrer Wirtschafts-und Strukturpolitik schweigen wollen.Etwas anderes ist absolut kennzeichnend sowohl für die Konstruktion der Großen Anfrage als auch für deren Beantwortung. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen versuchen seit einiger Zeit, auf den ökologischen Zug aufzuspringen und sich mit grünen oder ökologischen Vokabeln zu schmücken.In Ihrer Großen Anfrage, die sich auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in NRW bezieht, gibt es überhaupt keine Frage nach dem Zusammenhang von Ökonomie und Ökologie.
Ich freue mich, daß die SPD in ihrem kritischen Antrag den Zusammenhang von ökonomischer und ökologischer Entwicklung herausarbeitet. Sie von der CDU/CSU zeigen, daß Sie nach wie vor, zumindest in Ihrer Mehrheit, völlig blind sind gegenüber dem Zusammenhang von Ökonomie und Ökologie, obwohl in Ihrer Fraktion selbst — das weiß ich aus dem Wirtschaftsausschuß und von den Interventionen von Herrn Biedenkopf — die Debatte über diesen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Ökologie längst begonnen hat.Sie beklatschen in der Beantwortung der Großen Anfrage nach wie vor die Wachstumsraten in Nordrhein-Westfalen wie auch in der gesamten Bundesrepublik und erwähnen mit keinem Wort die ökologischen und sozialen Folgekosten des Wachstums, die wir schon des öfteren diskutiert haben.Die CDU und FDP auf Bundesebene als auch in Nordrhein-Westfalen marschieren an der Spitze der Umweltzerstörung. Sie sind nach wie vor für den erheblichen Ausbau der Atomenergie. Wir haben noch von vor zwei, drei Jahren die Intervention von Herrn Blüm beim Schnellen Brüter Kalkar in Erinnerung, wo er gefordert hat, daß diese Atomruine endlich ans Netz gehen muß.
Herr Blüm, ich garantiere Ihnen, genausowenig wie der „Schnelle Nicht-Brüter" werden auch Sie in Nordrhein-Westfalen ans Netz gehen.
Sie sind für den Ausbau der Gentechnik in Nordrhein-Westfalen wie im Bundesgebiet. Sie plädieren für den Vormarsch der Nordwanderung des Steinkohlebergbaus in die intakten Landschafts- und Naturregionen im Münsterland. Sie sind nach wie vor für den massiven Ausbau des Straßenverkehrs in Nordrhein-Westfalen und für Streckenstillegungen bei der Bundesbahn. Insofern muß man sagen, daß die CDU und die FDP Hand in Hand mit der Wirtschaft eine unheilige Allianz für die Umweltzerstörung in Nordrhein-Westfalen wie im Bundesgebiet eingegangen sind.Ich komme jetzt zum Antrag der SPD. Ich stimme dem Antrag insofern zu, als er auf die Schwachstellen sowohl der Großen Anfrage als auch der Antwort der Bundesregierung hinweist, insbesondere bei dem völlig fehlenden Zusammenhang zwischen Ökonomie und Ökologie.16214 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990Stratmann-MertensIch werfe allerdings dem Antrag der SPD wie auch der Politik der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen vor, daß sie einen Etikettenschwindel betreiben. Sie schmücken sich mit dem Etikett ökonomische und ökologische Erneuerung in Nordrhein-Westfalen. Sie schmücken sich — wie auch Herr Rau vor wenigen Wochen — mit dem Etikett, eine grüne Industrieregion in Nordrhein-Westfalen bis zum Jahre 1995 schaffen zu wollen. Sie behaupten, das soziale Gewissen in der Bundesrepublik zu sein.
Wenn wir das mit der faktisch betriebenen Landespolitik der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen vergleichen — was ich im folgenden tun werde — , kommen wir zum Ergebnis, daß die Landesregierung in weiten Bereichen in einer faktischen Großen Koalition mit der Bundesregierung am Ausbau der Umweltzerstörung beteiligt ist
und in vielerlei Hinsicht in sozialen Belangen noch schlechter dasteht als manches CDU-geführte Bundesland in der Bundesrepublik.
— Zum Beleg: Fangen wir mit den sozialen Fragen an. Die Armut in Nordrhein-Westfalen liegt bei 11 %, d. h. über dem Bundesdurchschnitt.
— Das habe ich eben gesagt; damit wir uns nicht mißverstehen: Es liegt ganz wesentlich an der Wirtschafts-, an der verfehlten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Bundesregierung. — Aber mich interessiert die Mitverantwortung der Landesregierung.Im von Strukturproblemen geschüttelten NRW sind im Bundesdurchschnitt viele Menschen, insbesondere Frauen und Kinder, von der Sozialhilfe abhängig. Die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen in Nordrhein-Westfalen sind durch die Politik der Landesregierung erheblich eingeschränkt worden. — Jetzt habe ich leider mein Konzept vergessen, aus dem ich Ihnen etwas vorlesen möchte.
Sie sind noch nicht am Ende?
Natürlich nicht.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat im Zeitraum von 1980 bis 1989, also in den letzten zehn Jahren, seine eigenen Ausgaben von 37,5 Milliarden auf 49,4 Milliarden DM gesteigert, während die Zahlungen des Landes an die Gemeinden bei ca. 14,3 Milliarden DM stagnierten, und das, obwohl die kommunalen Belastungen insbesondere infolge der Sozialhilfe dramatisch angestiegen sind. Das heißt, die Landesregierung hat die eigenen Ausgaben um 32 % gesteigert und die Zahlungen an die Gemeinden eingefroren.Im Vergleich mit anderen Flächenländern, insbesondere CDU-geführten Flächenländern, sieht NRW absolut schlecht aus. Im Durchschnitt aller Flächenländer erhöhten sich die Ausgaben der Länder um 34 % . Die Zahlungen an die Kommunen erhöhten sich um durchschnittlich 22 %; in NRW haben sie stagniert.
— Zahlengrundlage: Deutscher Städtetag, Gemeindefinanzbericht 1990.Unter anderem auf Grund dieser schlechten Finanzausstattung der Kommunen in Nordrhein-Westfalen durch die Landesregierung, durch die Finanz- und Haushaltspolitik der Landesregierung, ist der finanzielle Handlungsspielraum und damit auch der soziale Handlungsspielraum der Kommunen in Nordrhein-Westfalen eingeschränkt worden. Insofern kann man sagen, daß die Kürzung der Sozialleistungen in den unterschiedlichsten Bereichen in den NRW-Kommunen nicht nur, aber wesentlich mit verantwortet ist durch die Politik der Landesregierung.Bei den Kindergartenplätzen sieht es so aus, daß das Land Nordrhein-Westfalen bei der Ausstattung mit Kindergartenplätzen fast an letzter Stelle aller Bundesländer liegt. Ein Drittel aller Kinder über 3 Jahren bis zum Einschulungsalter haben keinen Kindergartenplatz. Damit liegen Sie weit unter dem Durchschnitt anderer, CDU-geführter, Bundesländer. Ich bezeichne eine solche mangelhafte Ausstattung mit Kindergartenplätzen nicht nur als kinderfeindlich, sondern auch als frauenfeindlich, solange die Kinderbetreuung — das ist derzeit in unserer Gesellschaft so und wird auf absehbare Zeit so bleiben — maßgeblich noch den Hausfrauen obliegt.
Sie wollen und die Landesregierung will im Ruhrgebiet, das heute schon die höchste Dichte von Müllverbrennungsanlagen in ganz Westeuropa hat, Hand in Hand mit Bundesumweltminister Töpfer doppelt soviel Müllverbrennungsanlagen, zum Teil gegen den Widerstand ihrer eigenen SPD-Kommunen, durchsetzen.
— Den wir produzieren? — Wir haben es vorgeschlagen, und die Stadt Detmoldt hat zur Einschränkung des Hausmülls eine kommunale Verpackungsabgabe einführen wollen, was rechtlich möglich ist, aber das Land Nordrhein-Westfalen hat die Stadt Detmoldt daran gehindert, Müllvermeidungspolitik zu machen. Das Land Nordrhein-Westfalen im Verein mit der Bundesregierung! Ich möchte auf die doppelte Verantwortlichkeit hinweisen, nicht jetzt einseitig der Landesregierung die Schuld in die Schuhe schieben. Das Land Nordrhein-Westfalen ist an einer mangelhaften Müllvermeidungspolitik wesentlich mitbeteiligt und schafft damit die Zwänge für eine Abfallwirtschaft und möchte das Ruhrgebiet statt zu einer ÖkoRegion zu einem Müllklo in der Bundesrepublik und des herannahenden EG-Binnenmarktes ausbauen.
Das Land Nordrhein-Westfalen behauptet, etwas für erneuerbare Energiequellen zu tun. In fünf Jah-
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Stratmann-Mertensren, von 1985 bis 1989, hat das Land Nordrhein-Westfalen zur Förderung erneuerbarer Energiequellen ganze 17,3 Millionen DM ausgegeben. Allein für die Kohleveredelung, eine völlig umweltzerstörerische Energietechnik, die sowieso auf absehbare Zeit kommerziell nicht einsetzbar ist, werden 1990, also in einem Jahr, mehr Mittel ausgegeben als in fünf Jahren für die Förderung erneuerbarer Energiequellen. Sie haben Hand in Hand mit der Bundesregierung das Programm „Kohleheizkraftwerke und Fernwärme -ausbau" auslaufen lassen, obwohl Sie immer die ökologischen Vorteile und die Energiewirkungsgradvorteile der Fernwärme predigen. Sie machen das Gegenteil von dem, was Sie symbolisch ankündigen. Das nenne ich Etikettenschwindel.Aus Zeitgründen kann ich nicht mehr viel sagen. Nur noch zu dem einen Punkt im sozialen Bereich, der Bekämpfung der Erwerbslosigkeit:Die Auseinandersetzung der Belegschaft von Krupp-Rheinhausen um die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze und einen sozialverträglichen Strukturwandel in der Stahlindustrie ist uns noch allen bekannt. Uns ist bekannt, und das ist interessant vor dem Hintergrund des schon lange anhaltenden Stahlbooms, daß der Widerstand der Belegschaft gebrochen worden ist durch die Kumpanei der Landesregierung, nämlich von Herrn Rau und Wirtschaftsminister Jochimsen, mit dem Kruppstahl-Vorstand beim Kamingespräch. Uns ist bekannt, daß der damalige und heutige Betriebsratsvorsitzende von Krupp-Rheinhausen, Herr Bruckschen, damals von der Landes-SPD bestochen worden ist
durch das Angebot eines Landtagsmandats. Dieses Landtagsmandat hat er trotz manchen kommunalen Widerstandes in Duisburg mittlerweile bekommen. Das wissen Sie ganz genau. Das ist der sozialdemokratische Filz, den wir umgekehrt auch als CDU- und CSU-Filz in entsprechend geführten Bundesländern kennen. Das ist der Filz, mit dem Sie Kapitalinteressen auch gegen Belegschaften und Gewerkschaften durchsetzen.Dagegen sagen wir GRÜNEN: Angesichts der doppelten Verantwortlichkeit der Bundesregierung und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen für Umweltzerstörung und mangelhafte Bekämpfung der Armut fordern wir einen ökologischen und sozialen Kurswechsel in Nordrhein-Westfalen. Wir fordern eine stärkere Berücksichtigung von Umwelt- und Naturschutzverbänden und von Belegschafts- und ökologisch verträglichen Gewerkschaftsinteressen in der Landespolitik genauso wie in der Bundespolitik. Für diesen ökologischen und sozialen Kurswechsel wollen wir GRÜNEN in Nordrhein-Westfalen einen Beitrag leisten.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir erinnern uns: Über viele Jahre hinweg sprachen Landesregierung undSPD in Nordrhein-Westfalen von einer „ Verelendungsstrategie " des Bundes gegenüber diesem Lande. Die Antwort der Bundesregierung macht nun wirklich jedermann klar, und zwar mit sehr deutlichen Fakten und Zahlen, wie schon im Ansatz verfehlt diese Polemik gewesen ist. Ich will aber nicht verschweigen, daß der Leiter der NRW-Staatskanzlei im Dezember vergangenen Jahres wahrheitsgemäß eingeräumt hat, daß zu dem Aufschwung in NRW die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und die gute Konjunktur, das heißt ja wohl die gute Finanz-und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung, erheblich beigetragen haben. So klare Aussagen, meine Damen und Herren, wünschte man sich häufiger, insbesondere in diesen bewegten Wahlkampftagen.Immer noch — das hört man, wenn man sich im Lande bewegt — geistert der unsinnige Vorwurf durch die politische Landschaft, der Bund wolle NRW aushungern, er benachteilige das Land durch problematische Verteilungsregelungen. Das Gegenteil — das ist heute hier von Sprechern der Koalition schon mehrfach dargelegt worden — ist der Fall. Die Antwort auf die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen belegt dies schließlich auch im einzelnen.Lassen Sie mich bitte vier Gesichtspunkte hervorheben.Erstens. Der Bund unterstützt Nordrhein-Westfalen umfassend. Seit Jahren trägt die Bundesregierung dem sektoralen und damit zusammenhängenden regionalen Anpassungserfordernissen durch finanzielle Hilfen Rechnung. Aus der Bundeskasse fließen jährlich Milliarden nach NRW. Gut 6 Milliarden DM werden im Landeshaushalt vereinahmt und weitergeleitet. Von den zahlreichen Bundesprogrammen für NRW nenne ich hier nur: Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur mit rund 200 Millionen DM, Verbesserung der Agrarstruktur mit 277 Millionen DM, Aus- und Neubau von Hochschulen mit 240 Millionen DM, Hochschulsonderbauprogramm mit 40 Millionen DM, öffentlicher Personennahverkehr mit 337 Millionen DM, kommunaler Straßenbau mit 320 Millionen DM und sozialer Wohnungsbau mit 246 Millionen DM.
Auch die Mittel für den Aussiedlerwohnungsbau sind durch den Nachtragshaushalt 1990 noch einmal erheblich aufgestockt worden.Allein die Kohlehilfen des Bundes belaufen sich 1990 auf rund 3 Milliarden DM. Dazu kommen die Leistungen des Bundes nach dem Strukturhilfegesetz. NRW — darauf ist hingewiesen worden — erhält für die Dauer von zehn Jahren Jahr für Jahr 756 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt zur Verbesserung seiner Struktur.
Wenn das keine Leistungen sind, dann frage ich: Wo wollen Sie sie sonst hernehmen?
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Parl. Staatssekretär BeckmannMeine Damen und Herren, aber was geschieht in NRW? Das Land vereinnahmt diese Gelder, stockt sie bisweilen aus eigenen Mitteln ein wenig auf
und verteilt sie dann unter irreführenden Etiketten wie ZIM, ZIN, LIP, IBA und dergleichen mehr, bis die zugrunde liegende Bundesförderung gänzlich unkenntlich gemacht ist. Ich denke, meine Damen und Herren von der NRW-Landesregierung: Mehr Mut zur Ehrlichkeit wäre da wirklich sehr hilfreich.
Außerhalb des Landeshaushalts fließen weitere beachtliche Summen nach Nordrhein-Westfalen, insbesondere im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik, der Verkehrspolitik — erinnert sei hier an die 1,1 Milliarden DM für Bundesfernstraßenbau und 153 Millionen DM für die Bundeswasserstraßen — und der Forschungspolitik, etwa die 591 Millionen DM für die Großforschungsvorhaben. Von den kräftig wachsenden Investitionsprogrammen für Bahn und Post will ich hier ganz schweigen.Zweitens. Die von der Bundesregierung und der diese Bundesregierung tragenden Koalition aus CDU/CSU und FDP gesetzten günstigen wirtschafts- und steuerpolitischen Rahmenbedingungen sowie die gezielten Bundeshilfen erleichtern Gott sei Dank den Anschluß Nordrhein-Westfalens an die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß dies selbst von Verantwortlichen der Landesregierung eingestanden wird, wenn leider auch oft nur hinter der vorgehaltenen Hand und sicher gerade nicht in diesen Tagen.Es läßt sich angesichts der Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt freilich auch nicht ernsthaft bestreiten: Die Zahl der Erwerbstätigen ist von 1984 bis 1989 erheblich und kontinuierlich um gut 200 000 angestiegen, diejenige der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 330 000. Die Zahl der Kurzarbeiter sank nach ihrem Höchststand von 319 000 im Januar 1983 auf ca. 13 600 im Januar dieses Jahres ab. Die bundesweit steigende Nachfrage nach Arbeitskräften hat somit auch in Nordrhein-Westfalen spürbare Wirkung. Facharbeitermangel zeichnet sich auch hier immer deutlicher ab, und im Ausbildungsbereich fehlen mittlerweile gar Lehrstellenbewerber.Meine Damen und Herren, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze haben neben anderen die Regionalhilfen beigetragen. Allein durch die Förderung von gewerblichen Investitionen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe wurde in den letzten fünf Jahren die Schaffung von rund 53 700 neuen Arbeitsplätzen unterstützt. Nicht nur der Wandel der Wirtschaftsstruktur, auch die Anpassung der Infrastruktur an die modernen Herausforderungen ist durch Bundeshilfen vorangebracht worden: Allein 1980 bis 1988 sind etwa 22,5 Milliarden DM Verkehrsinfrastrukturinvestitionen des Bundes zu verzeichnen gewesen. Wichtige Investitionsvorhaben im Umweltschutz und in der Altlastensanierung werden durch die Strukturhilfe ermöglicht.Ich will der Landesregierung aber auch gerne und sehr deutlich zurufen: Ohne eigene Initiative gelingt keine Anpassung. Die umfassenden Leistungen und Hilfen der Bundesregierung, die ja zum wesentlichen Teil als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht sind, werden auch gewiß nicht darüber hinwegtäuschen, daß es entscheidend auf die Bereitschaft vor Ort ankommt, die Zukunftsaufgaben anzugehen und zu bewältigen. Dies erfordert vornehmlich aber den Willen zum Wandel. Die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung in Nordrhein-Westfalen, insbesondere im Ruhrgebiet, in der Vergangenheit und teilweise selbst heute noch ist nicht zuletzt auf regionspezifische Hemmnisse und Versäumnisse der Landesregierung zurückzuführen. Einen entscheidenden Stimmungsumschwung hat die Ruhrgebietskonferenz der Bundesregierung im Februar 1988 eingeleitet. Hier hatten wir diesen Klimawechsel.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum letzten Punkt kommen: Die Chancen Nordrhein-Westfalens, im Anpassungsprozeß weiter voranzukommen, sind gut. Es ist NRW zwar bisher noch nicht gelungen, alle Defizite abzubauen, die seine Anziehungskraft als moderner Industriestandort beeinträchtigen. Die Hypothek des Kohle- und Stahlsektors bleibt deutlich spürbar. Die Bildungspolitik der Landesregierung läßt immer noch nicht ab von den Zielen sozialistischer Gleichmacherei,
und in der Energiepolitik hat sich die Landesregierung durch ihre offizielle Anti-Kernenergie-Haltung in eine wirtschaftliche und politische Sackgasse manövriert.
Es gilt darum nun, die unzweifelhaften Vorteile der räumlichen Lage Nordrhein-Westfalens und der Qualität seiner Arbeitskräfte handfest umzumünzen.Nicht nur das Zusammenwachsen Deutschlands, auch die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes bieten große Entfaltungschancen. Diese Herausforderung kann NRW meistern. Die Unterstützung des Bundes ist diesem Land sicher. Aber mehr denn je ist jetzt auch gute Landespolitik gefordert, diese Chancen zu nutzen, das wirtschaftliche Potential Nordrhein-Westfalens umzusetzen und den Menschen in diesem Lande die Perspektiven zu geben, die sie wirklich verdienen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir nach dem Mordanschlag auf Oskar Lafontaine persönlich nicht ganz leicht, hier zur Tagesordnung überzugehen, aber das Leben geht weiter. Deshalb wird hier auch ein wenig Wahlkampf gemacht; wir alle machen das sicherlich.
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Dr. JensZunächst glaube ich, daß das Land Nordrhein-Westfalen die Strukturprobleme, die — keiner will das leugnen — sicherlich immens waren, gut gemeistert hat. Wir haben in Nordrhein-Westfalen — bitte lesen Sie die Zahlen nach; darüber kann man gar nicht polemisieren — mehr Neugründungen vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen als im Durchschnitt der anderen Länder. Wir haben im letzten Jahr weniger Unternehmenszusammenbrüche als im Durchschnitt der anderen Länder gehabt. Das ist positiv. Der Anteil der kleinen und mittleren Unternehmen, der mittelständischen Unternehmen bis 500 Beschäftigte, hat sich von 23,3 % der Gesamtzahl der Unternehmen im Jahre 1981 auf 24,4 To im Jahre 1989 erhöht. Das ist der Beweis für meine These: Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Strukturwandel erfolgreich bewältigt.
Meine Damen und Herren, Herr Schmitz und Herr Beckmann haben gesagt, das erfolgreiche Abschneiden des Landes Nordrhein-Westfalen sei einzig und allein auf die Politik des Bundes zurückzuführen. Ich finde, das sollten Sie lieber sein lassen. Wenn man sich in der Welt einmal umsieht, dann muß man feststellen: Der Erfolg in der Bundesrepublik Deutschland ist gar nicht so furchtbar groß. Weltweit hatten wir seit acht Jahren einen gewaltigen Konjunkturaufschwung. Wenn man die wichtigsten ökonomischen Daten nimmt, Preise, Beschäftigung, Wirtschaftswachstum, dann hatten wir 1980 im internationalen Vergleich die Spitzenposition, und mittlerweile sind wir in das Mittelfeld zurückgefallen. Also so furchtbar angeben mit der Politik des Bundes im wirtschaftlichen Bereich können Sie, wie ich meine, nicht.
Tatsache ist vielmehr, meine Damen und Herren: Wenn es zu einer Entwicklung, zu einem erfolgreichen Strukturwandel, kommt, haben immer die Menschen vor Ort daran mitgewirkt. An diesem erfolgreichen Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen haben die Arbeitnehmer und die Unternehmer, die Kammern, die Innungen und die verschiedenen Verbände mitgewirkt, aber vor allem auch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen.
Ich weiß doch noch, wie wir Sie zur Ruhrgebietskonferenz haben prügeln müssen. Was haben wir für Anträge eingebracht, bis es endlich dazu kam.
— Natürlich hat es gewisse Erfolge gegeben — das will ich überhaupt nicht leugnen — , aber vor allem deshalb, weil sich die Menschen vor Ort um diese Erfolge bemüht haben. Das ist das Entscheidende.
Ich will sagen: Der Strukturwandel basiert auf einer vernünftigen Strukturpolitik, marktwirtschaftlich orientiert, die die soziale Komponente beachtet hat — sonst wäre es zu Einbrüchen gekommen — und die auch die ökologische Komponente, wie ich meine,Herr Stratmann, beachtet hat. Dieses war ein Beispiel für eine vernünftige sozialdemokratische Wirtschaftspolitik. Soziale, ökologisch orientierte Marktwirtschaftspolitik, dieses ist die Politik in Nordrhein-Westfalen. —Ein Wort zu den Finanzen: Darüber haben Sie sich immer so aufgeregt. Das beste Testat hat die Bundesbank zur Zeit dem Land Nordrhein-Westfalen ausgestellt. Die Finanzpolitik in Nordrhein-Westfalen war grundsolide. Die Bundesbank schreibt in dem gestern veröffentlichten Monatsbericht:Besonders stark verbessert hat sich im Berichtszeitraum die Finanzsituation des Landes Nordrhein-Westfalen, dessen Defizit 1989 nur noch gut 2 % der Ausgaben betrug und damit etwas unter dem Länderdurchschnitt von 2,5 % lag.Man hat also gut gewirtschaftet. Dies hat mit dazu beigetragen, daß die wirtschaftliche Entwicklung vorangekommen ist.Dafür gibt es auch verschiedene andere Daten.Ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß Sie nach meiner Meinung dazu beigetragen haben, daß die Sozialhilfeausgaben in den Gemeinden und in den Kreisen kräftig gestiegen sind, vor allem wegen der Langzeitarbeitslosigkeit und wegen des zunehmenden Pflegegeldes. Das sind Aufgaben, die eigentlich Bonn zu erledigen hätte. Hier müßten Sie überlegen, wie Sie den Gemeinden, den Kreisen und dem Land verstärkt helfen können.
Meine Damen und Herren, unser Ministerpräsident Johannes Rau hat ja völlig recht: Das, was der Waigel da in den Raum gestellt hat, 8 Milliarden DM den Ländern zugunsten des Bundes wegnehmen, Anteil der Mehrwertsteuer von 35 auf 29 % senken,
das ist in der Tat ein finanzpolitischer Horrorkurs. Und ich finde furchtbar merkwürdig: Sie beschließen die Ausgaben im Hinbllick auf die DDR — das erfordert sicherlich Ausgaben, das will ich überhaupt nicht leugnen —,
und die Länder sollen sie bezahlen; aber in einem gemeinsamen Ausschuß mitreden, so wie wir Sozialdemokraten das gefordert haben, sollen sie nicht. So läuft das nicht. Wenn Sie sich da nicht ändern, werden von den Ländern keine Gelder zur Finanzierung dieser Probleme kommen — wenn sie nicht mitbestimmen dürfen; das ist das Entscheidende.
Wenn das, was der Herr Waigel in den Raum gestellt hat, kommt, heißt das — das müssen wir den Bürgern sagen — : weniger Kindergartenplätze, weniger Ausgaben für die innere Sicherheit, möglicherweise auch weniger Geld für Bildung und Wissen-
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16218 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Dr. Jensschaft, obwohl die Ausgaben hier aus meiner Sicht dringend notwendig sind.
— Ich meine die innere Sicherheit der alten Menschen in den Parks zum Beispiel. Daß die verbessert wird, halte ich in der Tat für wichtig.
Ich will noch etwas zur Kohle sagen. Sie hat wie Herr Beckmann gesagt hat, viel Geld gekostet. Der Bund hat sich aber schadlos gehalten: Indem er seinerzeit eine Heizölsteuer eingeführt hat, hat er sich auf diese Art und Weise finanziert, während das Land immer bezahlen mußte. Ganz klar ist jetzt, was die Mikat-Kommission festgestellt hat: Wir müssen den Sockel von 55 Millionen Fördertonnen unbedingt erhalten. Wenn wir daruntergingen, würde das erhebliche Probleme zur Folge haben. Dann könnten wir den Bergbau im Grunde einstellen. Das machen wir Sozialdemokraten nicht mit.Die Mikat-Kommission hat aber auch festgestellt, daß dies eine bundesweite Aufgabe ist. Die Kohle muß aus Gründen der Versorgungssicherheit gesichert werden. Wenn das so ist, muß ich Ihnen allerdings sagen, daß es nicht in Ordnung ist, daß das Land Nordrhein-Westfalen die Kosten trägt. Vielmehr muß der Bund die gesamten Kosten für die Kohle übernehmen, wie das die Mikat-Kommission gesagt hat. Das ist auch eine sinnvolle Forderung des Landes Nordrhein-Westfalen, die schon lange hätte erfüllt sein müssen.
Ich sage Ihnen: Wir werden eines Tages noch froh sein, daß wir durch diesen Sockel an Kohleförderung in diesem Lande einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Die Energiepreise werden weltweit kräftig steigen. Wir werden den Kumpels an Rhein und Ruhr danken, daß sie dazu beigetragen haben und daß sie — auch für ihre Arbeitsplätze, was ja wohl legitim ist — gekämpft haben.
Die Zukunftsaussichten des Landes sind hervorragend. Die Vereinigung mit der DDR ist — das sage ich immer wieder — kein Null-Summen-Spiel; es bringt Wachstumsimpulse. Aber der Standort Nordrhein-Westfalen ist hervorragend geeignet, um hiervon zu profitieren. Er profitiert auch von der EG und von dem Binnenmarkt, der 1993 kommen soll. Auch hier gilt, daß Nordrhein-Westfalen im Herzen Europas liegt. Deshalb werden auch von dort aus zusätzliche Impulse kommen.
Ich frage mich immer: Warum ist Düsseldorf eigentlich die größte japanische Stadt außerhalb Japans? —So ist es doch. Die Japaner rechnen kühl. Sie rechnen genau aus, daß dieses ein hervorragender Standort ist, der Zukunft hat.
Die Landesregierung hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß der Standort NordrheinWestfalen so hervorragend ist. Sie kennen doch alle den Spruch: Never change a winning team. Man soll niemals eine erfolgreiche Mannschaft ablösen. Wir plädieren dafür, daß dies am 13. Mai auf keinen Fall passiert. Es gibt nur eine Möglichkeit: Man muß die Regierung von Johannes Rau unterstützen.Schönen Dank.
Für eine Kurzintervention hat der Herr Abgeordnete Cronenberg das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Teile der Ausführungen des Ministers Einert und des Abgeordneten Stratmann außer acht lasse, ist das Bemühen um Objektivität beachtlich. Ich meine, daß das uns alle in dieser Debatte freuen sollte.Natürlich sieht das der eine oder andere der Redner durch seine parteipolitische Brille. Das nehme ich auch nicht übel. Genauso hat es mich gefreut, daß das Bemühen unter dem Motto „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung", wieder Nummer 1 zu werden, allgemeine Zustimmung findet. Insofern kann die Sozialdemokratie mit ihrem Wahlschlager sehr zufrieden sein.Bei dem Abgeordneten Jens möchte ich mich noch für seine Erkenntnis bedanken, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer — neben der Landesregierung — einen erheblichen Beitrag zu dem Aufschwung in Nordrhein-Westfalen geleistet haben. Das ist beachtlich.Warum ich mich gemeldet habe, ist folgendes: Alle Redner haben es nicht für nötig befunden, auf die, wie ich meine, außerordentlich bedrückende Situation des ländlichen Raums in Nordrhein-Westfalen hinzuweisen.
Ich könnte mir vorstellen, daß der Kollege Franz Müntefering oder der Kollege Grünewald außerordentlich großes Interesse daran haben, daß auch in dieser Debatte deutlich gemacht wird, daß der ländliche Raum in Zukunft nicht so sträflich vernachlässigt wird, wie das bisher der Fall war. Deshalb wünsche ich mir in Düsseldorf auf jeden Fall eine bessere Mehrheit. Wenn es denn keine Mehrheit mit uns sein sollte, wünsche ich mir auf jeden Fall, daß keiner den ländlichen Raum außer acht läßt.Herr Präsident, das war meine Bitte, die ich durch diese Kurzintervention zum Ausdruck bringen wollte.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16219
Das Wort hat Frau Abgeordnete Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann Ihrem Wunsch nicht Rechnung tragen, Herr Kollege Cronenberg, weil ich eben auch aus einer großen Stadt dieses schönen Landes komme. Ich bin stolz, ein Kind des Ruhrgebietes zu sein.
Ich möchte das mit allem Nachdruck sagen. Ich bin dort geboren. Ich wohne da, und ich lebe gerne da.
Herr Minister Einert, nicht nur Sozialdemokraten lieben dieses Land. Ich bin ein Beispiel dafür,
daß Christdemokraten, die dort geboren sind, dieses Land genauso lieben. Ich halte es nicht für einen guten Stil, wenn Sie von vornherein sagen, wir hätten eine Debatte angefangen, um dieses Land niederzumachen. Ich denke, sie sollten erst einmal zuhören. Das haben wir auch getan. Ein paar Zwischenrufe sind ganz prima. Dann kann man die Schlußfolgerung ziehen, ob man dieses Land wirklich niedermachen möchte oder nicht.
Ich denke, für die Zukunft sollten wir so verfahren.
Frau Abgeordnete Karwatzki, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Ich möchte zuerst einmal reden. Herr Kollege Stahl, Sie dürfen sich zwischendurch noch einmal melden. Vielleicht habe ich dann die Möglichkeit, Ihnen die Chance einzuräumen, eine Frage zu stellen.Es ist ein Zwischenruf gefallen, der Arbeitsminister Blüm würde dieses Land niedermachen. Ich finde, das ist eine gewagte Aussage. Herr Kollege Dreßler, wenn Sie das so gemeint haben, wie es bei mir angekommen ist — —
— Das tut er auch nicht. Er wird gleich noch reden und wird sicherlich deutlich Akzente setzen.
— Frau Kollegin Weyel, darüber entscheide nicht ich. Das müßten Sie vielleicht anderswo sagen.
Sie sind Mitglied des Präsidiums. Vielleicht kann man das da regeln.Nun zu meinen Ausführungen. Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Entwicklung des Ruhrgebietes in den letzten Jahrzehnten war zunehmend vom Versuch der Umstrukturierung der herkömmlichen industriellen Festlegung geprägt. Der Rückzug der sogenannten Altindustrie warf nie gekannte Probleme auf wie den Konzentrationsprozeß im Bergbau, den Abbau von Arbeitsplätzen in der Eisen- und Stahlindustrie, die Rationalisierung und Dezimierung von Produktionsstandorten, die Freisetzung von Industrie- und Gewerbeflächen ohne weitere Nutzung, die Hinterlassung von Industriebrachen mitsamt der Altlastenproblematik. Hier gegenzusteuern war seit Beginn der 80er Jahre Herausforderung kommunaler und regionaler Wirtschaftspolitik; eine Aufgabe, die das Vermögen der betroffenen Kommunen überstieg und — ich muß das leider sagen — von der SPD aus ideologischen Gründen nicht gesehen werden wollte.
— Vorsichtig.Als Duisburgerin möchte ich am Beispiel meiner Heimatstadt die katastrophale finanzielle, wirtschaftliche und soziale Lage in NRW verdeutlichen.
Sie erinnern sich noch an die Schlagzeilen aus Duisburg, die in die Stadtgeschichte eingehen werden. 1987 standen wir in Duisburg vor der schwersten Strukturkrise. Das Problem Nummer eins war die Stahlkrise. Damit verbunden waren die Ängste der Duisburger Bürger um ihre Arbeitsplätze und um ihre wirtschaftliche Existenz.Liebe Kollegen auf allen Seiten des Hauses,
die Schließung der Krupp-Hütte in Rheinhausen war das Stichwort, um Land und Stadt aus Agonie und Lethargie zu reißen. Der hiermit verbundene soziale Zündstoff zwang die Politik ebenso wie die Wirtschaft zum Handeln.
Rheinhausen wurde, sicher ungewollt, bundesweit zum Signal des alten Industriegebietes. Rheinhausen wurde aber zugleich das Symbol des Neuanfangs. Rheinhausen zeigte, daß die Krise der monostrukturierten Wirtschaft den Kollaps des Standortes bedingen kann. Rheinhausen wurde gerade deswegen unsere Chance.Eine zuvor nie erlebte Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität erfaßte das Revier ebenso wie meine Heimatstadt Duisburg. Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften ergriffen die Chance, die Rheinhausen bot: den Zwang zum gemeinsamen Handeln, die Erkenntnis kollektiver Verantwortung für die Menschen und ihr Umfeld dieser Region. Selbst der Oberbürgermeister, von der SPD gestellt, erklärte rückschauend am 25. Februar dieses Jahres auf einer Pressekonferenz — ich zitiere — : „Duisburg hat zehn Jahre lang unter dem massiven Abbau von Arbeitsplätzen gelit-
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16220 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau Karwatzkiten, ohne daß diese Entwicklung wirklich zur Kenntnis genommen worden ist."Ich möchte in Erinnerung rufen, daß das Elend für den deutschen Stahl mit seinen hochqualifizierten Mitarbeitern und seinen hochmodernen Anlagen unter der Regierung der Sozialdemokraten begann.
Über ein Jahrzehnt hat man in Bonn unter der SPD-Regierung tatenlos zugesehen, wie Brüssel die Vorstöße gegen das Subventionsverbot duldete. Für die Stahlarbeiter, die kurzarbeiten oder ausscheiden mußten, wurden unter Bundeskanzler Helmut Kohl gemeinsam mit Norbert Blüm die sozialen Hilfen auf den Höchststand gebracht.
Auch die Hilfen für ältere Arbeitslose wurden erheblich verstärkt.Duisburg mußte sich immer wieder die Frage stellen, ob die Stadt überhaupt noch eine Zukunft hat. Eine Arbeitslosenquote von 16 % , eine Stahlkrise, Tausende von bedrohten Arbeitsplätzen und ein finanzieller Handlungsspielraum, der gegen Null schrumpfte — dies alles waren Sorgen, die die Bürger unserer Stadt quälten. Wir haben nicht resigniert.Die strukturellen Probleme und Umbrüche allein zu bewältigen überstieg die Kräfte und vor allem — das sage ich jetzt mit Bewußtsein — die Fähigkeiten der Sozialdemokraten, die für die negative Entwicklung verantwortlich waren.
Als es nicht mehr ging, erinnerte man sich an die CDU.Wir können heute mit Stolz feststellen: Wir haben die akuten Strukturprobleme angepackt. Wir haben die entscheidenden Vereinbarungen für die notwendigen Anpassungsprozesse im Bergbau und in der Stahlindustrie herbeigeführt. Wir haben den seit Jahren blockierten Strukturwandel im Ruhrgebiet vorangetrieben
und die politische Orientierung in der Region verändert. Der Dank des Ruhrgebietes gilt vor allem dem Bundeskanzler und dem Arbeitsminister Norbert Blüm,
der die Sache des Ruhrgebietes zur Chefsache im Kanzleramt gemacht hat.
Norbert Blüm hat sofort nach Bekanntwerden der Stillegungsabsichten bei Krupp die ursprünglich geplante sogenannte Stahlrunde in die erfolgreiche Montanrunde beim Bundeskanzler umgesetzt.Herr Kollege Jens, ich will den Sozialdemokraten nicht zu nahe treten, aber wenn Sie behaupten, Norbert Blüm hätte erst auf den Dampfer geschoben werden müssen, um in dieser Sache etwas zu tun, dann meine ich — mit Verlaub gesagt — , ist das nicht die Wahrheit. Herr Kollege Jens, eigentlich mögen wir uns ja und lügen nicht gerne. Darum meine ich, muß man hier der Wahrheit die Ehre geben und deutlich sagen, daß es ein Verdienst von Norbert Blüm ist.
Ministerpräsident Rau schmückt sich mit fremden Federn, wenn er sich und die SPD heute lobt, für den wirtschaftlichen Aufschwung in Nordrhein-Westfalen verantwortlich zu sein.Jährlich — das kann man nicht oft genug sagen — stehen Nordrhein-Westfalen für die Dauer von 10 Jahren 756 Millionen DM nach dem Strukturhilfegesetz zu.
In allen Bereichen der Wirtschaftspolitik — vom Umweltschutz bis zur Verkehrspolitik, von der Technologieförderung bis zur Altlastensanierung — wurden konkrete Projekte zur wirtschaftlichen und ökologischen Erneuerung NRWs verabredet und auf den Weg gebracht. Insgesamt sind es 900 Projekte. Die Finanzausstattung durch den Bund ist derart üppig, daß allein 1989 161 Millionen DM vom Land nicht abgerufen wurden.
Man fragt sich, warum das so ist.
— Das sind keine falschen Zahlen. Über Zahlen können wir nicht streiten. Ich habe auch keine falschen Zahlen genannt, Herr Kollege Rixe.Herr Präsident, darf ich einmal fragen: Meine Uhr war vorhin auf 6 Minuten eingestellt, die Fraktion hatte mir aber 10 Minuten zugebilligt.
Wie lange darf ich noch reden?
Frau Abgeordnete, reden Sie ruhig weiter. Wir gleichen das in der Gesamtabrechnung aus.
Meine Damen und Herren, ich halte es für unehrenhaft, wenn die Landesregierung ihr Engagement als Motor des Strukturwandels verkauft, aber verschweigt, daß von einem Investitionsvolumen in Höhe von 950 Millionen DM landesweit in Nordrhein-Westfalen 911 Millionen DM reine Bundesmittel sind und nur 43 Millionen DM von der Landesregierung getragen werden. Das sind nicht einmal 5 % der Summe.
Soll doch Herr Rau eingestehen, daß er die notwendigen Mittel zur Umstrukturierung nicht aufbringen kann oder will.
Es ist doch ehrlicher, das finanzpolitische Unvermögen einzugestehen, als sich hinter der finanziellenLeistungskraft des politischen Gegners, der CDU/
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16221
Frau KarwatzkiCSU-geführten Bundesregierung, zu verstecken und diese dann noch zu beschimpfen.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir in Nordrhein-Westfalen — Christdemokraten, Freie Demokraten, Sozialdemokraten und mit einigen Unterschieden auch die GRÜNEN — lieben dieses Land. Wenn wir gemeinsam zusammenhalten und uns nicht gegenseitig beschimpfen, sondern Daten und Fakten benennen und daraus die Folgerungen ziehen,
dann — dieser Meinung bin ich — würden wir mehr für unser Land leisten. Unqualifizierte Zwischenrufe — ab und zu auch bei uns — können dem Land nicht gerade förderlich sein. Ich will diesen Appell an uns alle richten. Davon könnten wir am meisten profitieren.Herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung. Der erste Redner der CDU/CSU, der Kollege Schmitz , hat geäußert, es werde hier ein Thema diskutiert, das in Nordrhein-Westfalen bisher keine Rolle gespielt habe. Wenn das so ist, wirft das ein deutliches Licht auf die Qualität der CDU-Landtagsfraktion. Das muß ich Ihnen einmal sagen. Es gibt überhaupt kein Motiv angesichts der Tatsache, daß Ihre Kolleginnen und Kollegen dort fünf Jahre geschlafen haben,
nun ausgerechnet kurz vor dem 13. Mai so zu tun, als wären sie fähig, in den kommenden fünf Jahren etwas anderes zu tun, als sie augenscheinlich in den letzten fünf Jahren getan haben, nämlich zu schlafen.
Die zweite Rednerin der CDU/CSU, die Kollegin Karwatzki, hat als Duisburgerin ein Bekenntnis abgegeben. Ich bin kein Duisburger, aber ich kenne Ihre Stadt. Ich habe mit Befriedigung festgestellt, daß die Einwohner von Duisburg vor wenigen Monaten bei der Kommunalwahl die Aufbauleistung innerhalb dieses Strukturwandels zur Abstimmung gestellt haben. Da bekam der Oberbürgermeister der Stadt Duisburg, der Sozialdemokrat Josef Krings, 62 %. Da kann ich nur mit Heiner Geißler sagen: Weiter so.
Die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen und die heutige Debatte dienen einem ganz vordergründigen Ziel. Aus durchsichtigen taktischen Erwägungen wird im Deutschen Bundestag von Teilen der Koalitionsabgeordneten der Versuch unternommen, das Land und die Politik des Landes schlechtzureden.
Die unbestreitbaren Erfolge der Landesregierung und ihres Ministerpräsidenten Rau in der Politik der Umstrukturierung, der Überwindung der schwerwiegenden Strukturkrisen in der europäischen Stahl- und Bergbauindustrie sollen verleugnet werden. Miesmachen heißt das Stichwort. Es soll nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf.Es soll nicht wahr sein, daß sich Nordrhein-Westfalen zum Zentrum der deutschen Umweltindustrie entwickelt.
Es soll nicht wahr sein, daß sich Nordrhein-Westfalen, vor allem das östliche Ruhrgebiet, einen Spitzenplatz in der Forschung und Entwicklung moderner Computertechnologie und Software erkämpft hat.
Es soll nicht wahr sein, daß sich Nordrhein-Westfalen, vor allem der Aachener Raum, einen Platz als Zentrum der modernen Hochleistungsmedizin und der Medizintechnologie erarbeitet hat.
Das sind nur drei augenfällige Beispiele.Der Bundesarbeitsminister, Kandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen, hat sich dabei eine besondere Rolle ausgedacht: Er ist der Spitzenmiesmacher insbesondere des Ruhrgebietes. Die Menschen an Rhein und Ruhr empfinden das als Zumutung, ja als Beleidigung. Sie haben den Strukturwandel im Land hart erarbeitet. Sie empfinden Miesmacherei der Ergebnisse ihrer Arbeit als Verhöhnung.
In der Antwort der Bundesregierung ist von der Verantwortung des Bundes für die soziale Entwicklung auch in den Ländern überhaupt nicht die Rede. Die sozialpolitischen Gesetze werden nämlich in Bonn gemacht, nicht in Düsseldorf, nicht in München oder anderswo. Was hier an sozialen Fehlentwicklungen zu kritisieren ist, geht an die Adresse des Ministers Blüm, nicht an die des Kandidaten Blüm. Aber wenn er das nun insgesamt sehen will, natürlich auch an den Kandidaten. Das allerdings ist sowohl in der Großen Anfrage als auch in der Antwort der Bundesregierung bewußt vergessen worden. Auch hier gilt: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.Natürlich ist keine Rede von der sogenannten Gesundheitsreform, vom Abkassieren zu Lasten der Versicherten und Kranken durch den Bundesarbeitsminister. Dieses Gesetz hat die sozialpolitische Landschaft nachhaltig verunstaltet.
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DreßlerDie Menschen wissen und spüren: Das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz ist sozial ungerecht, weil es einseitig Patienten und Versicherte belastet, ist sozialpolitisch schädlich, weil es das tragende Prinzip unseres Sozialstaates, den Grundsatz der Solidarität, aushöhlt, ist gesundheitspolitisch falsch, weil es sich auf symptomatische Kostendämpfung beschränkt und die die überhöhten Gesundheitsausgaben verursachenden strukturellen Mängel des Gesundheitswesens unangetastet läßt.
Eine Sekunde. Bleiben Sie einen Augenblick stehen, Herr Blank.
— Sie müssen mich auch anhören, Herr Blank.
Was hat der Kandidat Blüm hier nicht alles versprochen? Zum Beispiel Beitragssenkungen von 0,7 %.
Müde 0,1 % waren es am Anfang des Jahres, jetzt sind es im Durchschnitt 0,3 %. Das war's.
Nun, Herr Blank, wollten Sie sicherlich eine Frage stellen. Bitte.
Herr Kollege Dreßler, wenn das alles so wäre, wie Sie das gerade im Hinblick auf die Gesundheitsreform dargestellt haben,
können Sie mir dann freundlicherweise erklären, warum der SPD-Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen die Vorschläge und Überlegungen der Gesundheitsstrukturreform in die Beihilfevorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen mit exakt den Begründungen übernommen hat, mit denen wir die Gesundheitsreform betrieben haben?
Herr Kollege Blank, das kann ich Ihnen genau erklären. Am Anfang der Begründung des Finanzministers stand die generelle Kritik an diesem Vorhaben. Dann hat das Land Nordrhein-Westfalen das gemacht, was in einem föderativen System jedes Land der Bundesrepublik macht. Es hat nämlich die Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten, die hier verletzt worden ist, auf die Beamten übertragen.
Alles andere wäre ja nun wirklich ein starkes Stück. Oder wollen Sie etwa von dem Finanzminister von Nordrhein-Westfalen verlangen, daß er das, was Sie Arbeitern und Angestellten hier abziehen, von sich aus den Beamten zusätzlich gewährt? Das ist aber eine merkwürdige Philosophie. Das muß ich Ihnen sagen.
Man könnte auch fast sagen: Diese Philosophie ist typisch.Nun will ich Ihnen, Herr Blank, zu Ihrer famosen Einlassung aber noch eine Zahl nennen, sozusagen zum Nachdenken. Wissen Sie, was das, was ich vor Ihrer Frage gerade gesagt habe, für den Versicherten bedeutet, der sich mit 3 500 DM brutto im Monat aus dieser Beitragssenkung Ersparnisse errechnet? Je 5,25 DM für ihn und für den Arbeitgeber. Demselben Versicherten muten Sie — auch Sie, Herr Blank — im Krankheitsfall bis zu 70 DM an Selbstbeteiligung zu. Dies ist eine sozial verheerende Bilanz, sage ich Ihnen.
Von den 9 Milliarden DM Überschuß der Krankenkasse, den Sie so feiern, gehen 4 Milliarden DM auf die Gesundheitsreform zurück. Der Rest sind Beitragsmehreinnahmen. Von den 4 Milliarden DM haben die Patienten aber 3,8 Milliarden DM durch Selbstbeteiligungen aufgebracht. Das war Umverteilung, sonst war das gar nichts. So sehen die „Erfolge" aus, die Herr Blüm zu verantworten hat. Davon ist in Ihrer Anfrage und in der Antwort natürlich keine Rede. Wie sollte es denn auch?Natürlich ist auch keine Rede von der Schwächung der Gewerkschaften. Es ist keine Rede vom Kaputtschlagen des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes.
Es ist keine Rede davon, daß die Arbeitgeberverbände durch diese Initiative von Herrn Blüm in Tarifverhandlungen gestärkt worden sind. Der Arbeitsminister und Kandidat in Nordrhein-Westfalen hat die Gewichte bei den Tarifauseinandersetzungen verschoben, und zwar eindeutig zugunsten der Arbeitgeberverbände und zu Lasten der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften.
Den kalt Ausgesperrten wird weder Arbeitslosengeld noch Kurzarbeitergeld gezahlt. Es soll verweigert werden.Die Bundesregierung jongliert in ihrer Antwort mit Zahlen, redet über Bruttoinlandsprodukt und Steuerkraft. Das ist alles richtig. Aber wir sagen Ihnen: Wichtiger sind die Menschen. Reden Sie einmal über die sozialen Ungerechtigkeiten, die Sie mit Ihrer Politik in Nordrhein-Westfalen bewirkt haben. Da hat Herr Blüm eine federführende Rolle.
In der Antwort der Bundesregierung ist keine Rede davon, daß Sozialpläne bei Konkursen und Vergleichen verschlechtert wurden, daß mit der Novelle zum Betriebsverfassungsgesetz die Betriebsräte bei der Erfüllung ihrer schwierigen und verantwortungsvollen Aufgabe geschwächt worden sind. Hat das nichts mit der sozialen Entwicklung in Nordrhein-Westfalen zu tun? Welche Gründe hat eigentlich die Tatsache, daß das in Ihrer Antwort fehlt?Es ist in der Antwort keine Rede davon, daß das Heuern und Feuern von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vom Bundesarbeitsminister gefördert wurde und daß er das dazu erforderliche Gesetz auch
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16223
Dreßlernoch höhnisch Beschäftigungsförderungsgesetz genannt hat.
In der Antwort ist ebenfalls keine Rede davon, daß der Arbeitsminister die Rechte der Schwerbehinderten beschnitten hat.
Die unentgeltliche Beförderung gibt es nicht mehr. Der Kündigungsschutz für Schwerbehinderte wurde verschlechtert. Sie scheinen in den letzten Jahren nicht mit Schwerbehinderten zusammengekommen zu sein; sonst wüßten Sie das.
Natürlich ist in der Antwort der Bundesregierung auch kein Hinweis darauf enthalten, daß der Jugendarbeitsschutz, der junge Menschen vor Überforderung und Überbeanspruchung schützen soll, verschlechtert wurde.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Das wird mir hoffentlich alles nicht auf die Redezeit angerechnet.
Nein. Bitte, Herr Abgeordneter Schmitz.
Herr Kollege Dreßler, wären Sie so freundlich, dem Plenum einmal zu erklären, warum das Land Nordrhein-Westfalen in Teilbereichen der Behörden die Behindertenquote überhaupt nicht erfüllt hat?
Diesen Mangel, den Sie aufzeigen und der in weiteren acht oder neun Ländern der Bundesrepublik zu verzeichnen ist — nur das Saarland, Berlin und der Bund erfüllen diese Quote — , hat der vor Ihnen Stehende schriftlich und mündlich gegenüber den entsprechenden Länderregierungen und Fraktionen in den Landesparlamenten mehrmals reklamiert. Ich habe gefordert, die Quote zukünftig zu erfüllen. Wir beide befinden uns also in diesem Punkt der Kritik auf derselben Wellenlänge.
In der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage ist zu lesen: Der Arbeitsmarkt liegt voll im Sog der Hochkonjunktur. Das klingt so, als gäbe es die Arbeitslosigkeit überhaupt nicht mehr. Aber mehr als 2 Millionen Menschen sind nach wie vor als arbeitslos gemeldet, nicht gezählt schätzungsweise 150 000 Arbeitslose, die wegmanipuliert wurden. Ist das der „Sog der Hochkonjunktur"? Die Wahrheit ist: Die Hochkonjunktur ist in den acht Jahren, in denen Arbeitsminister Blüm im Amt ist, am Arbeitsmarkt vorbeigegangen.
Die Verbesserung und Anpassung der beruflichen Qualifikation ist Kernbestandteil einer vernünftigen Arbeitsmarktpolitik. Warum verschweigen Sie, daß Sie hier einen Kahlschlag betrieben haben und betreiben? Gehört das eigentlich nicht zur sozialen Lage im Land?
Die Qualifizierungsmaßnahmen sind als Folge der 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes um 13,4 zurückgegangen, davon in der Fortbildung um 13,5 %, in der Umschulung um 10,5 % und in der Einarbeitung um 19,7 %. Glauben Sie wirklich, Sie könnten durch eine solche Antwort auf eine gestellte Anfrage die Bilanz verdecken, die Sie auf diesem Sektor hinterlassen haben?
Sie können — wie wir — sicher sein: Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben solche Ablenkungsmanöver erkannt und werden sie auch weiter erkennen. Zu sehr haben sich die Ursachen und der Urheber dieser Politik in ihr Bewußtsein eingegraben. Sie können noch so schön reden: Das Sündenregister ist zu lang, als daß es vertuscht werden könnte.
Meine Damen und Herren, die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben ihr eigenes Bewußtsein. Sie sind stolz auf die Ergebnisse ihrer Arbeit und auf ihr Land. Das lassen Sie sich auch nicht schlechtreden, schon gar nicht von jemandem, der auf der Durchreise ist und der durch bestellte Große Anfragen und einseitige Antworten ein schiefes Bild des Landes Nordrhein-Westfalen zeichnen will.
Die Menschen in Nordrhein-Westfalen sind nicht nur fleißig, Frau Kollegin Karwatzki, sondern sie sind auch tolerant.
Daß allerdings Herr Blüm ihr Ministerpräsident werden will, überschreitet selbst die Toleranzschwelle der Menschen in Nordrhein-Westfalen.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grünewald.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Einert, lassen Sie sich gleich eingangs sagen, damit es sich bei Ihnen und bei Ihren Genossen unauslöschlich ins Gedächtnis einprägt: Noch nie in der Nachkriegsgeschichte hat eine Bundesregierung für unser Land Nordrhein-Westfalen so viel getan wie die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl.
Fast 100 Milliarden DM sind seit 1983 von Bonn nach Düsseldorf geflossen.Nun wird gerade in unseren Tagen die Ernte dieser hilfreichen Bundespolitik in Form einer nachhaltig verbesserten wirtschaftlichen und finanziellen Lage des Landes in die Scheuern eingebracht. Darüber,
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16224 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Dr. GrünewaldHerr Dreßler, freuen wir uns alle von ganzem Herzen.
Nur, statt der geschuldeten dankbaren Anerkennung erfahren wir Schelte und Polemik am heutigen Morgen. Der Ministerpräsident und auch Herr Einert schmücken sich mit fremden Federn und behaupten angesichts der vorliegenden Zahlen und Fakten wahrheitswidrig, das Land habe den Aufschwung aus eigener Kraft geschafft.
Der Chef der Staatskanzlei disqualifiziert unser parlamentarisches Recht auf Einbringung einer Großen Anfrage als — ich zitiere — „bundesstaatswidrigen Mißbrauch von Bundesbehörden".
Einfach unglaublich. Dies um so mehr, wenn man bedenkt, daß in Nordrhein-Westfalen gleich ganze Stäbe von zur parteipolitischen Neutralität verpflichteten Landesbediensteten im Wahlkampf eingesetzt werden.
In diesen Kontext gehören auch Bemerkungen von Herrn Farthmann, der im Landtag von einer „bewußten Verelendungsstrategie zur Abstrafung einer sozialdemokratischen Landesregierung" sprach,
sowie der mich persönlich sehr betroffen gemacht habende Vorwurf des ehemaligen Finanzministers Posser, ich hätte als Berichterstatter für den bundesstaatlichen Finanzausgleich die Loyalität zu meiner Partei über das Wohl meines Heimatlandes gestellt.Meine Damen und Herren von der Opposition und von der Landesregierung, angesichts solcher Vorkommnisse gehört für uns in der nordrhein-westfälischen Landesgruppe der CDU und allen voran für Norbert Blüm schon verdammt viel guter Wille dazu, das alles abzupacken
und dennoch aus der Verantwortung heraus eine konsequente Politik zur Stärkung unseres Landes zu betreiben
sowie mit Erfolg gegen die naturgemäß widerstreitenden Interessen der Kollegen aus den anderen Bundesländern, insbesondere den revierfernen Ländern, durchzusetzen.
Wer hat denn eigentlich wirklich die Überschuldung des Landes zu verantworten? Herr Posser hat schon vor Jahren die redliche Antwort mit dem Zugeständnis gegeben, seinem Lande drohe eine Verschuldung, vergleichbar der der Länder Brasilien, Mexiko und Polen, und zwar aus hausgemachten Gründen, auf Grund einer verfehlten eigenen Landespolitik.
Dieses ehrliche Zugeständnis löste damals große Turbulenzen aus.Nur, geändert hat sich nichts. Inzwischen hat das Land weit über 100 Milliarden DM an Schulden aufgehäuft. In der Regierungszeit von Herrn Rau wuchsen die Schulden um mehr als das Vierfache.Für diese Schuldenlast sind allein an Zinsen — wohlgemerkt: ohne Tilgungen — jährlich rund 7 Milliarden DM — das sind täglich 20 Millionen DM und stündlich rund 833 000 DM — zu zahlen; jahraus, jahrein, von Silvesternacht zu Silvesternacht.Angesichts solcher bedrückender Zahlenreihen erscheint ein Buchtitel des ehemaligen SPD-Bundesfinanzministers Alex Möller mehr als berechtigt: Ja, die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat „Schuld durch Schulden" auf sich geladen. Sie hat seit Jahren vorkonsumiert, was dereinst wird nachgespart werden müssen.
Sie hat also unerlaubt auf die künftige Leistung fleißiger und strebsamer Bürger Zugriff genommen und diese zu bloßen Abgabeschuldnern von morgen degradiert. Ein gröblicher Verstoß gegen den Generationenvertrag.Noch schlimmer als die verfehlte, an Konsum, Ideologie und Prestigeobjekten orientierte Ausgabepolitik aber wiegen, Herr Jens, die Sünden einer unterlassenen wirtschaftlichen Fortentwicklung des Landes.
Die Investitionsquote wurde von 22,4 % im Jahr 1980 auf gerade 13 % im Jahr 1988 zurückgefahren. Wie der nach wie vor sinkende landeseigene Anteil an dieser Quote beweist, würde sich dieser negative Trend ohne die Bundeshilfen fortsetzen.
Zukunftssichernde Investitionen aber sind die ökonomischen Lebensgrundlagen unserer Nachkommen. Wenn sie — aus welchen Gründen auch immer — unterbleiben, verliert die Wirtschaft ihre Leistungsfähigkeit und ein stetiges und angemessenes Wachstum ist nicht zu erwirtschaften.In Nordrhein-Westfalen aber ist in den letzten 20 Jahren das wirtschaftliche Wachstum immer hinter dem Bundesdurchschnitt zurückgeblieben. Unverdächtige Fachleute haben errechnet, daß von etwa 1965 bis 1987 das Wachstumsdefizit des Landes ungefähr 16 % betrug. 1 % weniger Bruttoinlandsprodukt bedeutet 500 Millionen DM Steuermindereinnahmen in der Landeskasse. Weil also in unserem Lande das Wirtschaftswachstum politisch nicht richtig organisiert und nicht hinreichend gefördert worden ist und weil Investitionshemmnisse nicht energisch genug beseitigt worden sind, fehlen dem Landesfinanzminister allein aus diesen Gründen in diesem Jahr 8 Milliarden DM in der Landeskasse.In der Antwort, die Herr Einert soeben gegeben hat, hat er sich berühmt, Nordrhein-Westfalen habe seit 1980 am sparsamsten gewirtschaftet. Ich will gern zugeben, Herr Einert, daß das rein arithmetisch richtig
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Dr. Grünewaldist, aber die Gründe für diesen vermeintlichen Sparerfolg liegen einfach ganz woanders. Betrachtet man nämlich die reinen Landesausgaben, so sind die Personalausgaben und die Sachaufwendungen ganz erheblich und überproportional angestiegen. Die Sachinvestitionen hingegen — das war Struktur- und arbeitsmarktpolitisch falsch — sind gesunken, und insbesondere sind die Zuweisungen an die Kommunen gesunken.Den Gemeinden und Gemeindeverbänden wurden in dieser Zeitspanne auf sehr trickreichen Wegen — ich kann die Instrumente aus Zeitgründen nicht alle darlegen — insgesamt 25 Milliarden DM genommen, obgleich in der gleichen Zeitspanne die Steuereinnahmen des Landes um gut 50 % angewachsen sind. Während die anderen Flächenländer ihre Zuweisungen an die Kommunen im Schnitt um 24 erhöht haben, hat Nordrhein-Westfalen seinerseits seine Zuweisungen um 6 % zurückgefahren. Insbesondere darin liegt die unglaubliche Benachteiligung des ländlichen Raumes.
Wir sehen das ja heute in exorbitant anwachsenden Abwasserbeseitigungsgebühren, in den gekürzten Mitteln auch — und nicht zuletzt — für die Investitionen, die wir bei den Abwasserbeseitigungsmaßnahmen bräuchten.Ich habe leider keine Zeit mehr. Ich schließe mit einem ganz ausdrücklichen Dank an die Bundesregierung für dieses für unser Land Geleistete, und ich schließe in diesen Dank auch und sehr aufrichtig
meine Kollegen aus den anderen Ländern ein, die trotz ihrer widerstreitenden Interessenlage uns in Nordrhein-Westfalen unterstützt haben.Unser Land Nordrhein-Westfalen muß und wird eine Zukunft haben. Das liegt in unserem bundesstaatlichen und auch in unserem föderalen Interesse, und deshalb möge es hoffentlich bald und weiter aufwärts mit und in Nordrhein-Westfalen gehen!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müntefering.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor fünf Jahren ist die CDU in Nordrhein-Westfalen mit Herrn Worms durch das Land gezogen und hat gesagt: Da stehen die Möbelwagen gepackt, da sitzen Tausende von Familien auf ihren Koffern, die aus Nordrhein-Westfalen wegziehen, das Land ist im Stadium der absoluten Verelendung. Das haben die Menschen Ihnen nicht geglaubt.Hier sind so viele Prozentzahlen genannt worden, und ich will Ihnen jetzt auch gleich zu Beginn ein paar nennen, und zwar vom 12. Mai 1985: Die SPD gewann 3,7 % dazu, sie erhielt 52,1 %; die CDU sackte um 6,7 % auf 36,5 % ab, eine ganz erbärmliche Niederlage.
Dabei haben die Sozialdemokraten und Johannes Rau 1985 den Menschen nicht die Probleme verharmlost, und wir haben ihnen auch nicht das Paradies versprochen, weil wir genau wissen, daß wir das nicht halten können. Wir haben gesagt: Das ist eine schwere Zeit, die vor uns ist, da gibt es große Probleme, und daran müssen wir miteinander arbeiten. Die Menschen haben in den Jahrzehnten, in denen Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen regieren, gelernt: Wenn man in einer solch schwierigen Situation auf jemanden vertrauen kann, dann sind das die Sozialdemokraten.Deshalb haben die Menschen auch bei der Kommunalwahl, die im letzten Jahr stattgefunden hat,
zum 1. Oktober wieder eine interessante Prozentrechnung aufgemacht. Die CDU hat mit dem groß plakatierten Kandidaten Blüm wieder verloren, 4,7 % minus für Blüm und die CDU, insgesamt noch 37,5 % für die CDU, nach über zwei Jahren „Blüm-Besuch" in Nordrhein-Westfalen eine bittere Niederlage. Mit Blüm ist die CDU in Nordrhein-Westfalen endgültig eine Verliererpartei geworden, und das wird sich auch am 13. Mai so fortsetzen.
Aber nun hat Herr Blüm wohl gemerkt, daß das mit dem Möbelwagen nichts war. Den läßt er in der Garage stehen und bestellt eine Große Anfrage. Der Tenor der Antwort der Großen Anfrage war natürlich schon klar, ehe die Antworten auf 131 Seiten und 100 Schaubildern geschrieben waren.
Die Melodie dieser Antwort heißt: In Nordrhein-Westfalen geht es eigentlich gut, aber so ganz gut geht es doch nicht, weil da die Sozialdemokraten regieren.
Daß es so gut geht, hängt damit zusammen, daß der Bund so großartig gewesen ist. — Das ist der Tenor Ihrer Antwort; das versuchen Sie hier heute morgen zu vermitteln.Nun kennen die Menschen in Nordrhein-Westfalen die Wahrheit, und sie wissen, wie die Zusammenhänge insgesamt darzustellen sind. Der Herr Blüm wird die Quintessenz der Antwort auf die Große Anfrage natürlich auf seine Art noch einmal zusammenfassen. Ich warte darauf, daß er heute morgen hier hinkommt und sagt: Wenn an Rhein und Ruhr die Sonne lacht, dann hat das Dr. Blüm gemacht. —
Er reimt ja immer ein bißchen; er macht das nicht so prosaisch, wie wir anderen es tun. Aber es wird dem Kandidaten Blüm nicht helfen; denn in Nordrhein-Westfalen ist in der Zeit seiner gelegentlichen Anwesenheit im Lande deutlich geworden, was man von einem zu halten hat, der immer unterwegs, aber nie da ist.Blüm ist ein unseriöser Mann.
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16226 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
MünteferingWährend der Kanzler ankündigt, Projekte müßten gestreckt und der Anteil der Länder an der Umsatzsteuer müsse reduziert werden — das bedeutet für Nordrhein-Westfalen 2,5 Milliarden DM weniger pro Jahr — , macht Blüm in seiner Wahlplattform munter Versprechungen für Nordrhein-Westfalen.Blüm geht durchs Land, beschimpft das Land, weil es Schulden hat, und sagt aber gleichzeitig: ich verspreche euch zusätzliches Geld für Altlastensanierung, Verkehrsinvestitionen, Wohnungsbau, Landwirtschaft, Erziehungsgeld, Landesstiftung Mutter und Kind, Kindergärten, Kleinkinderbetreuung, Schulkinderbetreuung, Wohnen im Alter, Pflege Schwerstbedürftiger allgemein, Schulen, Polizei, Theater, Sport und Kultur. Blüm verspricht: 4 Milliarden DM mehr, 6 Milliarden DM mehr. Blüm verspricht in Nordrhein-Westfalen das Blaue vom Himmel herunter, aber — das ist typisch Blüm, das ist typisch CDU — unseriös. Anders kann man das nicht bezeichnen.
Besonders pikant sind die Parolen Blüms und seiner Helfershelfer im Wohnungsbau. Fast 80 % der Mittel für die 26 700 Sozialwohnungen, die in diesem Jahr in Nordrhein-Westfalen bewilligt werden, kommen aus dem Landeshaushalt; der Bund steuert nur 20 % bei. Das ist etwas, worüber sich der Sozialminister des Bundes einmal aufregen sollte. Wo ist der Sozialminister in Bonn? Die Wohnungsnot in der Bundesrepublik bewegt Millionen Menschen. Es fehlen 1,7 Millionen Wohnungen. Der Sozialminister sitzt in Bonn, rührt sich nicht und hilft nicht, daß der Bund mehr Geld zur Verfügung stellt, damit Sozialwohnungen gebaut werden können, die dann auch vergeben werden. Ich spreche in diesem Zusammenhang Herrn Rawe und all die anderen, die hier monieren, es müßten noch Wohnungen gebaut werden, an.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kroll-Schlüter?
Nein, ich möchte diesen Gedanken jetzt zu Ende führen. Ich möchte den Sozialminister beim Thema Wohnungen doch einmal packen. — Wo war der Sozialminister — der sich auch darum zu kümmern hat, wenn Menschen keine Wohnungen haben — in den vergangenen Monaten, und wo ist er jetzt in Bonn, wenn es darum geht, daß sich der Bund stärker engagieren muß und sich nicht vor diesem riesengroßen Problem, mit dem die Menschen es zu tun haben, drücken darf?
Der Zuzug vieler Menschen aus der DDR und aus dem Ausland — überdurchschnittlich viele von ihnen wollten ja nach Nordrhein-Westfalen — bringt zusätzliche Belastungen mit sich, und zwar bei Kindergärten, Wohnungen, Arbeitsplätzen und auch in den Schulen. Es wäre schon viel geholfen, wenn der Bund außer Willkommensadressen den Ländern und Gemeinden auch finanzielle Hilfe gegeben hätte, um die Kostenprobleme zu lösen, mit denen diese es zu tun haben.In der Zeit des Bundessozialministers Blüm ist die Zahl der sozialhilfebedürftigen 25- bis 50jährigen in der Bundesrepublik von 219 000 auf 560 000 Personen gestiegen. Das ist keine Empfehlung für Blüm; hinzu kommt: Er läßt die Gemeinden die Kosten tragen. Das ist keiner, der das Format zum Ministerpräsidenten hat.
Es wäre auch gut, wenn sich der Kandidat Blüm endlich bei Oskar Lafontaine entschuldigte. Oskar Lafontaine wurde von Blüm als „Solidaritätsverräter" beschimpft, als er forderte, im Interesse beider deutscher Staaten den Übersiedlerstrom zu stoppen, die Eingliederungshilfe zu streichen, die Aufnahmelager zu schließen und statt dessen den Aufbau in der DDR zu unterstützen. Plötzlich kann es auch den CDU/CSU-regierten Bundesländern nicht mehr schnell genug gehen mit den Einschränkungen. Sind das auch lauter „Solidaritätsverräter", Herr Blüm? Wann entschuldigen Sie sich für Ihre Ausfälle gegenüber Oskar Lafontaine?
Die Spitze an Verdrehungen leisten sich die Bundesregierung und der Kandidat Blüm, wenn in der Antwort auf die Große Anfrage die Zahlung von Wohngeld, Sparprämien und Kindergeld als großartige Leistung des Bundeshaushalts an Nordrhein-Westfalen gefeiert wird. Rechtsansprüche werden als Geschenke dargestellt.Nun komme ich auf das Kindergeld zu sprechen, Herr Blüm: In der Amtszeit des Sozialministers Blüm ist das Klassenrecht im Kinderzimmer wieder eingeführt und ausgebaut worden. Kindergeld per Freibetrag ist Klassenpolitik. Die Kinder reicher Eltern bekommen viel Kindergeld; die anderen Kinder hingegen bekommen deutlich weniger. Das ist ungerecht, das ist unsozial. Es ist der Sozialminister, der das mit zu verantworten hat. Dieser gescheiterte Sozialminister soll nun Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen werden. Weshalb eigentlich?
Nordrhein-Westfalen bleibt tolerant und weltoffen. Nordrhein-Westfalen paßt in eine europäische Zukunft. Pluralität ist in Nordrhein-Westfalen selbstverständlich. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen reden nicht viel darüber, aber sie sind stolz auf ihr Land und auf das, was dort geleistet worden ist.Wir wollen in Nordrhein-Westfalen keine gönnerhaften Geschenke, nicht von Kohl und nicht von Blüm. Wir fordern unseren gerechten Anteil an den Dingen, die gemeinsam erwirtschaftet worden sind.
Wir wollen nicht mehr, auch nicht weniger; den Rest machen wir in Nordrhein-Westfalen schon. Den Schritt Nordrhein-Westfalens nach vorn jedenfalls hat nicht Herr Blüm in Bonn ausgelöst, den haben die Menschen vor Ort, die Arbeitnehmer und die Unternehmer, die Gewerkschaften und die Verbände zusammen mit dem Land bewirkt. Sie sollten nicht versuchen, sich das gutzuschreiben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16227
MünteferingDas Ganze führt zu zwei abschließenden Feststellungen angesichts einer überwiegend statistischen Antwort auf eine kleinkarierte Große Anfrage:Zweitens. Blüm steckt mit seiner eigenen Partei knietief im Sumpf in Nordrhein-Westfalen. Keiner hilft ihm.
Er muß sich am eigenen Schopf herausziehen. Aber auch da hat er schlechte Karten, wie man weiß.
Mit Recht!
Erstens. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen wissen: Mit Johannes Rau als Ministerpräsident hat das Land eine gute Zukunft. Blüm ist keine Alternative für das Land Nordrhein-Westfalen.Nun hat der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen heute morgen erklärt, daß er heute keine Wahlkampfauftritte macht. Und Herr Blüm hat mitgeteilt, daß auch er heute, mindestens heute, keine Wahlkampfauftritte macht.
Ich bin gespannt, wie der Kandidat Blüm nun seine Möglichkeit nutzt, hier 20 Minuten lang zu sprechen.
Ich habe dies angeführt, um deutlich zu machen, welchen Mut dieser Kandidat hat. Herr Blüm hätte sich ja hier in die Diskussion einspannen und mit uns diskutieren können. Er hat aber darauf bestanden, als letzter hier anzutreten und dann 20 Minuten lang zu reden. Er hat noch nicht einmal Mut, hier mit uns offen zu diskutieren und sich der Debatte zu stellen. Das ist der Kandidat, mit dem Sie es zu tun haben!
Das Wort hat Herr Dr. Blüm. Sie sprechen als Minister? — Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf das Niveau meines Vorredners werde ich nicht herabsteigen.
Ich bekenne mich ausdrücklich
zum demokratischen Meinungskampf. Der gehört zur Demokratie.
Doch gerade deshalb und an einem Tag wie dem heutigen gilt es darauf hinzuweisen, daß die parteipolitische Gegnerschaft nicht in Feindschaft umschlagen darf
und daß alle Demokraten in der Pflicht stehen, sich gemeinsam gegen Gewalt und Fanatismus in der Politik zu wehren.
Es geht in dieser Anfrage um Nordrhein-Westfalen. Es ist keine Blüm-Anfrage. Es geht um unser Land. Es ist kein SPD-Land. Es ist kein CDU-Land. Es ist kein FDP-Land. Es ist kein Land der GRÜNEN. Es ist überhaupt kein Land, das im Besitz der Parteien ist, sondern es ist Heimat aller Bürger. Wer in Nordrhein-Westfalen regiert, bestimmt nicht eine Partei, das bestimmen Gott sei Dank alle Wähler.
Und deren Votum wollen wir abwarten.
Nordrhein-Westfalen hat alle Chancen — es gilt, die Chancen zu nutzen — , Kernland im werdenden Europa zu sein, Herzstück, auch industrielles Herzstück in einem wiedervereinigten Deutschland zu sein. Nordrhein-Westfalen hat eine große Tradition, an die es wieder anzuknüpfen gilt. Denn, Herr Einert: Wenn es seinen Spitzenplatz gehalten hätte, dann hätten Sie ja nicht plakatiert, wieder Nummer 1 werden zu wollen.
Unser gemeinsames Interesse ist, diesem Land zu helfen.Der Bund — das will ich Ihnen sagen, um Ihnen gegen alle parteipolitischen Einseitigkeiten diese Antwort zu geben — habe dieses Land im Stich gelassen; so lautet Ihr Vorwurf. Sie wissen ja, noch vor wenigen Jahren war eine Arbeitsgruppe in der Staatskanzlei damit beschäftigt, der Frage nachzugehen, wie man die Proteste nach Bonn umleiten könne. Ich nehme an, daß die Arbeitsgruppe inzwischen umgeschult ist und daß die gleiche Arbeitsgruppe den Auftrag hat, dem Wähler zu erläutern, daß alle Erfolge von Düsseldorf kommen.In dieser Großen Anfrage und der Antwort darauf geht es darum, den Beitrag des Bundes zu zeigen, nicht mit dem Anspruch, daß wir das Alleinverdienst der Besserung hätten.
Nein, Millionen von Arbeitnehmern und Unternehmern, Millionen von fleißigen Handwerksmeistern haben zur Besserung beigetragen. Nur, der Bund beansprucht, mit dabeigewesen zu sein und mitgeholfen zu haben. Der Bund hat in den vergangenen acht Jahren dem Land Nordrhein-Westfalen mehr geholfen als jedem anderen Land in der Bundesrepublik.
Ich füge hinzu: Der Bund hat in den vergangenen acht Jahren dem Land Nordrhein-Westfalen mehr geholfen als jede Bundesregierung vor uns.
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16228 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Bundesminister Dr. BlümDie Hilfen bestehen u. a. in direkter Unterstützung. Im übrigen ist Nordrhein-Westfalen keine Insel in der Bundesrepublik. Es profitiert vom Aufschwung in der Bundesrepublik als ein Land unter elfen; Gott sei Dank profitiert es mit davon!Von 1983 bis heute sind Hilfen in Höhe von nahezu 100 Milliarden DM von Bonn nach Düsseldorf geflossen. 100 Milliarden DM entsprechen der Höhe der Schulden des Landes Nordrhein-Westfalen. In dieser Zahl sind die Kredite aus zinsvergünstigten Förderungsprogrammen im Umfang von 17 Milliarden DM, steuerbegünstigte Umweltinvestitionen von 15,6 Milliarden DM und Bundeszuschüsse zur Knappschaft von 72,4 Milliarden DM nicht enthalten. Nicht darin enthalten sind die Hilfen für den Verstromungsfonds deutscher Steinkohle. Sie addieren sich von 1983 bis 1989 auf 18,3 Milliarden DM.
Herr Einert hat gesagt, das seien Leistungen, die auch anderen Ländern zustünden. Lieber Herr Einert, wollen Sie sagen, die Ruhrgebietskonferenz sei eine Konferenz gewesen, die auch allen anderen Ländern zugestanden habe? Das war eine Sonderhilfe für Nordrhein-Westfalen. Sie sollten es der Fairneß halber anerkennen.Herr Jens, wenn Sie sagen, zu dieser Ruhrgebietskonferenz habe die Bundesregierung geprügelt werden müssen, frage ich Sie: Warum haben Sie sich, als Sie die Bundesregierung stellten, nicht selber geprügelt? Sie hätten doch diese Ruhrgebietskonferenz in den 13 Jahren Ihrer Regierungszeit in eigener Zuständigkeit veranstalten können.
Die Strukturkrise begann doch nicht erst 1982. Sie hätten eine solche Konferenz schon vorher durchführen können.Allein 1989 hat Nordrhein-Westfalen mit 25 Milliarden DM von Bonn profitiert. Ich will einmal ein paar Zahlen nennen, die leicht vergessen werden. Nordrhein-Westfalen hat 5,2 Milliarden DM Steuermehreinnahmen infolge der Bonner Steuergesetzgebung. Die Landesregierung hat von der Steuerreform profitiert, die sie bekämpft hat.
Freilich leuchtet Sozialdemokraten wahrscheinlich nie ein, wieso man durch Steuernachlaß mehr Steuern einnehmen kann. Das ist in einem rein auf Verteilungspolitik fixierten Denken überhaupt nicht enthalten.Durch die drei Stufen der Steuerreform haben die Bürger in Nordrhein-Westfalen zusammen 34 Milliarden DM an Kaufkraft gewonnen, davon allein in diesem Jahr 14,6 Milliarden DM. Das ist der Erfolg unserer Politik.Ich gebe zu, die Verteilungspolitik hat einen leichten öffentlichen Wettbewerbsvorteil. Das Geld wird erst leise, klammheimlich eingenommen und dann wie ein Geschenk von einem Geschenkonkel zurückgegeben.
Wir folgen der Philosophie: Eine vernünftige Steuerpolitik bringt das Geld in die Hände, die es erwirtschaftet haben und die es auch besser ausgeben können.
Herr Kollege Dreßler — weil Sie mir auch diesen Ball vor die Füße gelegt, vors Tor gespielt haben —: Von den 17,7 Milliarden DM im Jahre 1989 und 1990, um die die Beitragszahler durch die Gesundheitsreform entlastet werden, entfallen rd. 4,8 Milliarden DM auf die Bürger von Nordrhein-Westfalen — fast 5 Milliarden DM durch die Gesundheitsreform, die Sie bekämpft haben! Das ist Kaufkraft.
Diese 5 Milliarden DM durch die Gesundheitsreform sind für die Bürger von Nordrhein-Westfalen 24mal mehr, als das ganze Land Nordrhein-Westfalen 1989 für den Wohnungsbau ausgegeben hat — 24mal mehr, nur durch die Entlastungen durch die Gesundheitsreform!Nordrhein-Westfalen hat auch an den Erfolgen der Beschäftigungspolitik teil. — Wenn ich das in Parenthese sagen darf, Herr Dreßler: Sie werfen mir in der Beschäftigungspolitik, in der Arbeitsmarktpolitik Kürzungen vor. Wenn ich richtig rechne, sind doch über 17 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik 1990 mehr als das Doppelte von dem, was Sie in Ihrer Regierungsverantwortung ausgegeben haben; da waren es nämlich 7 Milliarden DM. Wie jemand, der 7 Milliarden DM zu verantworten hat, über 17 Milliarden DM als Kürzung ausgeben kann, das ist höhere sozialdemokratische Mathematik.
Wir haben seit 1983 im Bund 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, nachdem es vorher Arbeitsplatzverluste gab. Mit 28 Millionen Erwerbstätigen haben wir in diesem Frühjahr das höchste Beschäftigungsniveau seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erreicht.
Frauen hatten am Beschäftigungsgewinn zu annähernd zwei Dritteln Anteil. Die Beschäftigungssituation für junge Menschen ist so günstig wie nie zuvor. Wir haben keine Lehrstellenkatastrophe, sondern wir haben mehr Ausbildungsplätze als Lehrlinge. Das halte ich für einen Erfolg. Das gilt natürlich auch für Nordrhein-Westfalen. Wir freuen uns darüber, daß dieser Erfolg in allen Bundesländern, Gott sei Dank auch in Nordrhein-Westfalen, vorhanden ist.
Allein 1989 wurden bundesweit 570 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, in Nordrhein-Westfalen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16229
Bundesminister Dr. Blüm148 000. Der Arbeitsplatzaufbau liegt in Nordrhein-Westfalen allerdings unter dem Bundesdurchschnitt. Sie wollen Nummer 1 werden, wir wollen Nummer 1 werden. Aber die Arbeitsplatzgewinne sind noch nicht einmal Durchschnitt — noch nicht einmal Durchschnitt! Von den 570 000 neuen Arbeitsplätzen im Bundesgebiet hätten in Nordrhein-Westfalen proportional — Herr Einert, immer Zahlen — 170 000 geschaffen werden müssen; in Wirklichkeit sind 148 000 geschaffen worden.
— Das scheint heute morgen Ihr Lieblingswort zu sein. Herr Müntefering, wenn Sie außer Beleidigungen der deutschen Öffentlichkeit auch ein paar Fakten mitteilen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Wir haben Nordrhein-Westfalen auch in den besonderen Hilfen überproportional beteiligt, z. B. im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" mit 37 %. Wissen Sie, wieviel Prozent das in SPD-Zeiten waren? — 9 %!Wir haben Maßnahmen zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen ergriffen. Ich erinnere an die Hilfen für die Arbeitsmarktregion Dortmund, Duisburg, Oberhausen und Bochum. Ich hoffe, Sie geben der Wahrheit den Vorzug vor parteipolitischer Befangenheit. Wenn Sie der Wahrheit den Vorzug geben, sehe ich der Auseinandersetzung mit großer Gelassenheit entgegen. Nicht Ideologie verändert das Leben der Menschen, sondern handfeste Hilfen verändern es. Wir haben handfeste Hilfen gegeben.
— Wir reden über Hilfen für Nordrhein-Westfalen. Ich sage Ihnen hier: Auch die CDU Nordrhein-Westfalen hat mitgeholfen. Ich kenne überhaupt keine Opposition in einem Bundesland, die ihrem Land soviel Mittel von Bonn beschafft hat wie die CDU Nordrhein-Westfalen. Darauf bin ich stolz.
Wir haben nicht schadenfroh auf den Zuschauerbänken gesessen, sondern wir haben dem Land und seinen Bürgern geholfen.
Es geht nicht um Parteien, sondern es geht um Arbeitnehmer, Handwerker, Unternehmer, denen wir helfen wollten und geholfen haben. Darauf bin ich stolz.
Wir haben mit dem Strukturhilfegesetz geholfen. Im Rahmen dieses Programms hilft der Bund den Kommunen bei Investitionen. Nordrhein-Westfalen hat die eigenen Investitionen — das sind die Arbeitsplätze von morgen — von 11,5 Milliarden DM imJahre 1980 auf heute 8 Milliarden DM zurückgenommen.Herr Einert, Sie sprachen vom Wohnungsbau. Dazu gleich die Zahlen: Die Landesmittel für den Wohnungsbau wurden drastisch zurückgefahren, von 2,8 Milliarden DM im Jahre 1980 auf 179 Millionen DM 1988!
— Wollen Sie die Zahlen des Bundes hören? Die kann ich Ihnen auch nennen. Während der Bund im gleichen Zeitraum die Mittel von 2,15 Milliarden DM auf 2,65 Milliarden DM aufgebessert hat, zeichnet sich die Wohnungsbaupolitik von Nordrhein-Westfalen ausweislich der Zahlen dadurch aus, daß diese Landesregierung immer doppelt soviel Wohnungsbau ankündigt, wie sie anschließend durchführt. Das ist die Arbeitsteilung: sich für Ankündigungen feiern lassen und darüber die Durchführung vergessen.Den Gemeinden wird seit 1982 jährlich 4 Milliarden DM Investitionskraft durch das Land entzogen.
Bei den kostenintensiven Zukunftsaufgaben werden die Kommunen im Stich gelassen. Ich will auf die Probleme der Abwasserbeseitigung hinweisen. 622 Millionen DM weist der Landeshaushalt für 1990 für Abwasserbeseitigung aus. Davon kommen — man höre und staune — 317 Millionen DM vom Bund, und 301 Millionen DM kommen aus dem Anteil der Kommunen an Landes-Steuereinnahmen. Bund und Kommunen liefern das Geld, und die Landesregierung läßt sich dafür feiern. Diese Arbeitsteilung sollte in der heutigen Debatte durchkreuzt werden.
Die im Land Nordrhein-Westfalen geförderten rund 900 Projekte beweisen die fruchtbare Partnerschaft zwischen Kommunen und Bund, die das Strukturhilfegesetz möglich macht. Sie haben ein Ausgabevolumen von ca. 1 Milliarde DM. Davon trägt der Bund rund 580 Millionen DM, die Gemeinden tragen 429 Millionen DM, und das Land — man höre und staune — trägt 27,5 Millionen DM. Der Bund übernimmt also 56 %, die Gemeinden 41 % und das Land weniger als 3 % ! Und mit diesen 3 % reist der Ministerpräsident durch das Land, um sie zu verteilen, als wäre es Geld aus seiner eigenen Kasse.
Ich will aber auf noch etwas hinweisen, was man in dieser Debatte nicht verschweigen darf. Wir wollen helfen, und wir helfen. Ich sprach von den 756 Millionen DM Strukturhilfe. 193 Millionen DM hat das Land 1989 gar nicht abgeholt. Für 100 Millionen DM hat das Land keine Vorhaben angemeldet. Gründe dafür hat das Land nicht mitgeteilt. Das ist mir unbegreiflich. Sie haben das Geld nicht abgeholt, Herr Einert. Das müssen Sie dem Wähler deutlich machen. Und während Sie, Herr Einert, anklagen und die Unterstützung für die Wissenschaft einfordern, weisen Sie jene Projekte ab, die wissenschaftliche Flaggschiffe in Nordrhein-Westfalen sein könnten. Warum
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16230 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Bundesminister Dr. Blümliefern Sie nicht die nötigen Planungsvorbereitungen und Trassenfestlegungen für Transrapid?
Solange Transrapid für Niedersachsen vorgesehen war, stand Johannes Rau anklagend, einfordernd an unserer Tür. Und jetzt, nach dieser Entscheidung für Nordrhein-Westfalen — ich gebe es zu: mit unserer Hilfe —, was macht die nordrhein-westfälische Landesregierung?
Sie ist dort, wo ihr Lieblingsaufenthalt ist, wenn es Widerstände gibt: auf Tauchstation. Das werden wir auch von Bonn her anzuklagen haben.
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Hilfe kann allerdings nicht nur in Geld bestehen, sondern wir brauchen für Nordrhein-Westfalen — dazu rufe ich alle auf — eine Aufbruchsmentalität, die private Initiativen fördert.
— Das sind die Reden und die Zahlen, die ich Ihren Beleidigungen entgegengesetzt habe.Ich wollte heute keine sozialpolitische Debatte führen; aber Sie haben darum gebeten, daß ich auf Diskussionsbeiträge antworte. Ich will doch hinzufügen, daß das Sozialbudget von 525 Milliarden DM im Jahre 1982 auf 680 Milliarden DM in Jahre 1989 gewachsen ist. Wie man eine solche Steigerung zum Kahlschlag erklären kann, ist das Geheimnis der SPD.Herr Dreßler, wenn wir schon vergleichen, dann wollen wir uns einmal die Sozialpolitik in Nordrhein-Westfalen ansehen. Seit 1980 wurden insgesamt über 2 Milliarden DM zu Lasten von Jugend, Familien, alten Menschen und Behinderten eingespart, beispielsweise im Landesjugendplan um 27 % , bei der Altenhilfe und dem Altenheimbau um 57 % und bei der Behindertenarbeit, Herr Dreßler, deren Anklagevertreter Sie gegenüber der Bundesregierung waren, um 37%.
Nennen Sie mir einmal eine vergleichbare Zahl von Sparmaßnahmen unsererseits!
Wir mußten sparen; insgesamt allerdings erfüllen wir unsere sozialen Verpflichtungen.Ich sehe auch im Gesundheits-Reformgesetz einen wichtigen Beitrag. Zum erstenmal wird hier Pflege mit über 5 Milliarden DM unterstützt. Wir haben die Vorsorge mit 1 Milliarde DM ausgebaut. Meine Damen und Herren, wir sparen doch nicht für staatliche Finanzquellen; wir sparen für die Versicherten. Der nordrhein-westfälische Finanzminister hat unsere Regelungen nicht nur pflichtgemäß übernommen, sondern mit lautem Lob für den Festbetrag. Mit lautem Lob!
Deshalb lassen wir das beiseite!
Die Versicherten werden selber entscheiden müssen, ob Ihr Plakat „Ab 1. Januar 1989 dürfen Sie nicht mehr krank werden" der Wahrheit entsprochen hat.
Das überlasse ich Millionen von Mitbürgern, die Sie mit diesem Plakat in Angst und Schrecken versetzt haben und die jetzt erfahren, daß für dieses Plakat kein Anlaß bestand. Im Gegenteil: Rezeptblattgebühren fallen weg. Dort, wo man bisher zuzahlen mußte, gibt es keine Zuzahlung. 350 Millionen DM Ersparnis für Versicherte. Festbeträge sinken, die Arzneimittelpreise bis zu 50 %.Ich stehe hier vor Ihnen mit dem guten Gewissen, daß wir unseren Beitrag zum Sozialstaat geleistet haben. Er hat noch viele Probleme. Ich sehe in der Pflege ein großes Problem. Wir können die Hände nicht in den Schoß legen. Aber er ist der sozialste Staat, der auf deutschem Boden je existiert hat.
Ich sehe noch viele Probleme; aber zur Wahrheit gehört auch: Es ging den Bundesrepublikanern noch nie so gut wie 1990. Es ist unsere Aufgabe, in Solidarität auch dafür zu sorgen, daß unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands einer gemeinsamen Zukunft mit uns hoffnungsvoll entgegensehen können.
Dazu wollen wir auch von Nordrhein-Westfalen aus unseren Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6981. Wer für diese Entschließung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der GRÜNEN abgelehnt worden.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthäus-Maier, Schmidt , Poß, Adler, Bachmaier, Becker-Inglau, Blunck, Dr. Böhme (Unna), Börnsen (Ritterhude), Bulmahn, Catenhusen, Conrad, Dr. Diederich (Berlin), Diller, Egert, Esters, Faße, Fuchs (Köln), Fuchs (Verl), Ganseforth, Gilges, Dr. Götte, Hämmerle, Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Huonker, Jungmann (Wittmoldt), Kastner, Kastning, Kühbacher, Kuhlwein, Luuk, Dr. Mertens (Bottrop), Müller (Düsseldorf), Nehm, Odendahl, Oesinghaus,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16231
Vizepräsident WestphalOpel, Peter , Purps, Renger, Reschke, Rixe, Schmidt (München), Schmidt (Salzgitter), Schulte (Hameln), Seuster, Sieler (Amberg), Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Dr. Sonntag-Wolgast, Steinhauer, Dr. Struck, Terborg, Dr. Timm, Waltemathe, Walther, Dr. Wegner, Weiler, Westphal, Weyel, Wieczorek (Duisburg), Dr. Wieczorek, Wieczorek-Zeul, Wittich, Zander, Ibrügger, Jaunich, Leidinger, Kolbow, Müller (Pleisweiler), Bernrath, Zumkley, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDFür einen kinderfreundlichen, gerechten, einfachen und finanziell soliden Familienlastenausgleich— Drucksache 11/6751 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Finanzausschuß
InnenausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit HaushaltsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angenommen, hier im Deutschen Bundestag würde ein Gesetz mit dem Titel „Entlastung von Familien mit Kindern" eingebracht, und es würde in § 1 dieses Gesetzes heißen:
Beträgt das zu versteuernde Einkommen einer Familie mit einem Kind 24 000 DM, so ergibt sich eine Entlastung von 50 DM im Monat
und § 2 würde lauten:
Beträgt das zu versteuernde Einkommen einer Familie mit einem Kind 240 000 DM im Jahr,
— also zehnmal soviel —
dann ergibt sich eine Entlastung von 134 DM im Monat
dann würde jeder gerecht denkende Mensch sagen: Das ist aber komisch; die Kleinverdienerfamilie erhält wenig Kindergeld, und die reichen Leute erhalten fast dreimal soviel Kindergeld; das muß ein Irrtum sein, sicher sind die Beträge vertauscht worden. —
Meine Damen und Herren, das ist nicht der Fall, sondern dies entspricht leider der Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Dies ist die Wirkung der ungerechten steuerlichen Kinderfreibeträge in unserem Steuerrecht. Dies wird leider nicht so deutlich sichtbar, weil diese Auswirkung hinter der Kompliziertheit des Steuerrechts versteckt wird.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gattermann?
Sofort. — Nur noch Fachleute können erkennen, daß bei der Entlastung der Kinder in unserem Land das Prinzip gilt: Wer hat, dem wird gegeben, und wer mehr hat, dem wir mehr gegeben.
Herr Gattermann, bitte schön.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, würden Sie zustimmen, daß man diesen Gesetzentwurf noch dahin gehend ergänzen könnte, daß derjenige, der kein Einkommen hat, null Mark Entlastung bekommt, und stimmen Sie mir zu, daß dann offenkundig würde, daß Ihr Vergleich mit absoluten Zahlen Nehmen und Geben verwechselt?
Nein, Herr Gattermann, ich habe hier von Entlastungen gesprochen, und es ist genau das der Fall, was Sie sagen. Die Folge wäre in der Tat: Wer gar kein Einkommen hat, erhält null Mark. Aber weil sogar Sie sehen, daß das ein skandalöser Zustand wäre, haben Sie den Kindergeldzuschlag erfunden, um dieses ungerechte Ergebnis zu vermeiden.
— Zu mildern. — Es bleibt der Tatbestand: Je mehr Sie verdienen, um so mehr bekommen Sie an Entlastung für Ihr Kind, je weniger Sie verdienen, um so geringer ist die Entlastung.
Übrigens, in den Versammlungen bis weit hinein in die Union können die Menschen das nicht verstehen.
Meine Damen und Herren, obwohl die Kinder von Empfängern kleiner Einkommen sehr viel mehr auf die Hilfe angewiesen sind, bekommen sie viel weniger. Jeder weiß doch, daß die Kinder von Abgeordneten, von höheren Beamten, von Ärzten, von Rechtsanwälten und Professoren es ohnehin leichter im Leben haben, weil die Eltern von dem Berufsstand wie vom Einkommen her ihren Kindern, etwa bei dem schulischen Fortkommen, besser helfen können. Deswegen ist es besonders ungerecht, daß zusätzlich zu den sozialen Ungerechtigkeiten, die ohnehin bestehen, das Geld auch noch ungleichmäßig verteilt wird.Wenn wir Sie fragen: „Warum machen Sie das?", dann antwortet Frau Lehr: „Was haben Sie denn dagegen? Der Kinderfreibetrag ist für alle gleich hoch." Das trifft zu, aber die Auswirkungen sind höchst ungerecht. Dann fragt uns Frau Lehr, ob die SPD nicht die Aufwendungen der Eltern für ihre Kinder als so notwendige Ausgaben ansehe wie solche — jetzt zitiere ich wörtlich — „für Versicherungsbeiträge, für Steuerberatung, für Kirchensteuer und für Werbung". Meine Damen und Herren, die SPD sieht allerdings einen Unterschied zwischen den Aufwendungen für
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16232 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau Matthäus-MaierKinder einerseits und Steuerberatungskosten auf der anderen Seite.
Übrigens, Herr Gattermann, dieses System der gleich hohen Entlastung haben wir doch auch beim Grundfreibetrag für die Eltern selber. Der Grundfreibetrag bei der Steuer entlastet alle Steuerzahler in gleicher Höhe, nämlich progressionsunabhängig. Und warum darf das, was für die Eltern gilt, so frage ich Sie, nicht eigentlich auch für die Kinder gelten?Nein, unser Gegenkonzept ist: Dem Staat muß jedes Kind gleich lieb und damit auch gleichwert sein. Deswegen das gleich hohe Kindergeld für alle.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte schön, Frau Abgeordnete Will-Feld.
Frau Kollegin, unterliegen Sie da nicht einer Täuschung? Sie haben zu Recht gesagt, die Kinderfreibeträge seien für alle gleich. Das Kindergeld ist nicht für alle gleich; denn Kindergeld wird brutto für netto gezahlt. Teilen Sie deshalb meine Meinung, daß, wer einer Besteuerung von 50 % unterliegt, nicht 200 DM hat, so wie in Ihrem Programm vorgesehen, sondern 400 DM?
Frau Will-Feld, ich weiß, daß Sie wie Frau Lehr und wie Herr Gattermann seit Jahren alle möglichen Konstruktionen erfinden, um diese ungerechte Situation steuersystematisch oder wie auch immer zu erklären. Daß Sie hier auf der falschen Linie liegen, zeigt doch eines ganz deutlich: Die CDU/CSU und die FDP haben im Jahre 1974 im Deutschen Bundestag einen Antrag eingebracht, in dem es wörtlich heißt: Aus familien- und sozialpolitischen Gründen — ich will das nicht alles zitieren — ist die CDU für die Aufhebung der Kinderfreibeträge im Einkommensteuergesetz und für ein gleich hohes Kindergeld.Ich darf Sie zurückfragen: Was um Himmels willen hat Sie veranlaßt, von dieser Gemeinsamkeit im Deutschen Bundestag abzuweichen?
Meine Damen und Herren, die heutige Situation im Familienlastenausgleich ist nicht nur ungerecht, sie ist sehr bürokratisch und unübersichtlich. Wir haben nebeneinander das Kindergeld, die steuerlichen Kinderfreibeträge, eine Einkommensgrenze beim Kindergeld und den Kindergeldzuschlag. Dieses Durcheinander führt dazu, daß niemand in unserem Lande weiß, was ihm denn nun wirklich für sein Kind im Monat zusteht. Dieses unkoordinierte Durcheinander führt auch zu Ungereimtheiten. So entsteht z. B. bei Nettojahreseinkommen zwischen 45 000 und 65 000 DM das sogenannte Mittelstandsloch. Einerseits verdienen die Bezieher dieser mittleren Einkommen nicht genug, um in den vollen Genuß der steuerlichen Kinderfreibeträge zu kommen, andererseits verdienen sie aber so viel, daß sie die Einkommensgrenzen beim Kindergeld überschreiten und nur gekürztes Kindergeld erhalten. Meine Damen und Herren, dies ist ein offensichtlicher Widerspruch zu dem Prinzip „Leistung muß sich lohnen".
— Wir sind nicht für Einkommensgrenzen, Herr Eimer. Gut, daß Sie das dazwischenrufen. Ich bitte um Entschuldigung, aber unser Konzept sieht seit Jahren vor — und es steht auch in diesem Antrag, den Sie bitte nachlesen wollen — : gleich hohes Kindergeld für alle, vom ersten Kind an, von mindestens 200 DM.Übrigens, warum können Sie eigentlich nicht Ihre ideologischen Scheuklappen ablegen und sich ein Beispiel an Ihrer Schwesterpartei, der Ost-CDU nehmen? In den Koalitionsvereinbarungen mit der SPD hat die Allianz ausdrücklich das einheitliche Kindergeld vereinbart. Ich halte das für eine gute Lösung und rate Ihnen, sich dieses, was noch vor 15 Jahren Ihre eigene Meinung war, wieder zu eigen zu machen.
Wir geben Ihnen hier heute dazu mit unserem Antrag Gelegenheit.Unser Antrag verbindet die zwei Hauptgrundsätze unseres Programms, nämlich einerseits soziale Gerechtigkeit und andererseits finanzpolitische Solidität. Wir wollen, daß die ungerechten Kinderfreibeträge bei der Steuer durch ein einheitliches Kindergeld in Höhe von mindestens 200 DM im Monat für jedes Kind ersetzt werden. Übrigens, sobald dem Staat zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, möchten wir diesen Betrag gerne von 200 auf 250 DM pro Monat und Kind anheben.Zusätzlich zu diesem erhöhten Kindergeld sehen wir die Einführung eines Familienzuschlages für kinderreiche Familien vor, weil kinderreiche Familien selbstverständlich größere Probleme hab en. Dieser Familienzuschlag, der ab dem vierten Kind gewährt wird, beträgt 100 DM im Monat und erhöht sich für jedes weitere Kind um zusätzliche 100 DM im Monat. Wir möchten, daß dieses für alle gleich hohe Kindergeld sofort von der Steuer abgezogen wird, so daß die Eltern von Kindern weniger Steuern als die Bürger ohne Kinder zahlen. Selbstverständlich soll für die Verschiebungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ein finanzieller Ausgleich durchgeführt werden.Diese kräftige Erhöhung, insbesondere des Erstkindergeldes, führt auch zu einer deutlichen Verbesserung der Situation der Mehrkinderfamilien, denn jedermann, der Kinder hat, weiß: Jede Mehrkinderfamilie ist erst einmal eine Erstkinderfamilie und eine Zweitkinderfamilie. Das ist so.Dazu kommt: Wenn das älteste Kind aus der Mehrkinderfamilie herauswächst, haben wir heute die Ungerechtigkeit, daß man nicht das niedrige Erstkindergeld verliert, sondern das hohe Drittkindergeld. Dies alles würde mit unserem Konzept erledigt. Da es für
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Frau Matthäus-Maierjedes Kind 200 DM gibt, würde diese Ungerechtigkeit nicht mehr auftauchen.
Wir verbinden mit unserem Konzept eine Reform des Ehegatten-Splittings. Warum? — Zum einen gibt uns das die finanzielle Masse, um die 200 DM Kindergeld für jedes Kind zu bezahlen; zum anderen wird damit eine wirklich skandalöse Ungerechtigkeit beschnitten. Sie besteht in folgendem: Heiratet ein Spitzenverdiener — das ist nach unserem Steuerrecht jemand, der 240 000 DM oder mehr verdient — eine nicht erwerbstätige Frau oder umgekehrt,
wird man für diese pure Eheschließung durch 22 842 DM im Jahr steuerlich entlastet; eine ungeheure Summe für zwei Menschen, ohne daß in dieser Ehe Kinder vorhanden sein müssen. Vergleichen Sie einmal diese Entlastung, die Jahr für Jahr gewährt wird, mit der Entlastung, wenn Sie ein Kind großziehen. Die Entlastung für die Kinderbetreuung bei einem Kind ist, wenn Sie Kindergeld und die Mindestentlastung beim Kinderfreibetrag im Jahr addieren, in 18 Jahren nicht so hoch wie der Splittingvorteil für Spitzenverdiener ohne ein Kind in einem einzigen Jahr. Dieser Unterschied ist so grotesk, die Ungerechtigkeit ist so grotesk, daß bis weit hinein in den Bereich der Kirchen, der Familienverbände und — machen wir uns doch nichts vor — bis weit hinein in die Reihen Ihrer eigenen Familienpolitiker jedermann weiß: Das Splitting muß gekappt und begrenzt werden.Aus den Mitteln, die wir durch eine maßvolle Kappung freimachen, muß das Kindergeld erhöht werden.
— Bitte schön?
— Nein. Ich bitte um Entschuldigung, Frau Verhülsdonk: Dies ist unzutreffend. Das Splitting kostet den Staat heute 24 Milliarden DM. Wir möchten durch eine Kappung auf einen maximalen Splitting-Vorteil von 6 000 DM 6 Milliarden DM — ein Viertel des gesamten Splittings; das ist wirklich maßvoll — frei machen und diesen Betrag zum Kindergeld umschichten. Bitte sagen Sie mir, an welcher anderen Stelle wir dieses Geld verwenden wollen! Das wäre unzutreffend. Ich unterstelle, daß Sie sich hier vielleicht geirrt haben. Wir haben das nicht vor. Es handelt sich um eine klassische Reform des Splittings zugunsten der Familien mit Kindern.
Ich weiß, Herr Gattermann sagt dann gerne in der Öffentlichkeit, das würde schon Familien mit Einkommen von 60 000 DM treffen. Das ist aber nicht der Fall. Sie haben unser Konzept längst nachgerechnet und wissen, daß unsere Kappung bei Einkommen von Ehepaaren ab 100 000 DM brutto aufwärts beginnt. 90 % aller Ehepaare würden von einer solchen Kappung überhaupt nicht betroffen.Um ein weiteres klarzumachen: Selbstverständlich würden auch die Ehepaare oberhalb der 100 000 DM noch den Splittingvorteil weiterhin erhalten. Er wäre aber eben bei 6 000 DM eingefroren und würde nicht zu den — ich bitte um Entschuldigung — idiotisch und ungerecht hohen 22 842 DM führen, die wir leider heute durch Ihre Steuerpolitik im Gesetz vorgesehen haben. Ich weiß, daß Sie heute ganz still sind und gar nicht laut dazwischenrufen.
Der Herr Dregger, Ihre Familienpolitiker, die Kirchen, wen Sie auch immer fragen, sie sagen entweder offen oder hinter vorgehaltener Hand: Wir geben euch Sozialdemokraten ja nicht immer recht, aber das ist ungerecht. Deswegen brauchen wir eine Reform des Splittings zugunsten der Familie mit Kindern.
Sie gestatten noch eine Zwischenfrage? — Bitte schön, Frau Kollegin Will-Feld.
Frau Kollegin, darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie dann auch die Unterhaltspflichten ändern wollen, daß Sie einen einheitlichen Unterhalt bei Scheidung für die Ehefrau einsetzen wollen, oder wollen Sie nur das Ehegattensplitting ändern?
Selbstverständlich würde eine solche Reform des Splittings analog für die Menschen gelten müssen, die dann geschieden sind. Denn man darf als Geschiedener nicht besserstehen denn als Ehegatte. Das halte ich für selbstverständlich.
— Frau Will-Feld, ich finde, es gibt in der Politik manchmal gute Argumente, wenn A-, B-, C-, D-Gegenargumente gegen etwas vorgebracht werden: Sehen Sie einmal ins Ausland. Fast in der gesamten ausländischen Steuerwelt, in der gesamten westlichen Welt hat fast kein einziges Land den seltsamen Zustand wie wir, daß das Verheiratet-Sein soviel besser behandelt wird als die Kinderziehung. Bei uns ist das so. Deswegen gelten wir weltweit zwar als das ehefreundlichste, bei weitem aber nicht als das kinderfreundlichste Land. Und das möchten wir ändern.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß unser Vorschlag insbesondere zwei große Vorteile hat. Wir kommen ja nicht hier hin und sagen: Wir möchten 300 DM Kindergeld für alle — was wir am liebsten hätten. Wir sagen offen: Das kann der Staat im Moment nicht bezahlen. Wir machen einen Vorschlag, der, wie es so schön heißt, aufkommensneutral ist. Das heißt, er verbindet die soziale Gerechtigkeit mit der
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Frau Matthäus-Maierfinanziellen Solidität. Denn wir schichten um. Wir ersetzen den Kinderfreibetrag bei der Steuer. Wir kappen das Ehegatten-Splitting. Deswegen haben wir eine Reform, die nicht mehr Geld kostet, meine Damen und Herren. Mir liegt sehr daran. Denn manchmal hat man das Stichwort Reform dadurch diskriminiert, daß man sagt: Reformen kosten immer nur Geld. Im Gegenteil: Dies ist eine klassische Reform, die durch Einsparungen und Umschichtung eine Sache gerechter macht, obwohl sie nicht teurer ist.Wir fordern Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck! Folgen Sie uns in einer Frage, in der die große Mehrheit der Bevölkerung, ob mit oder ohne Kinder, hinter uns steht. Denn auch die Menschen ohne Kinder empfinden es als nicht gerecht, daß die mit Kindern so schlecht dastehen, wie sie heute dastehen. Geben Sie sich einen Ruck, folgen Sie unserem Vorschlag, mindestens 200 DM Kindergeld pro Kind pro Monat! Wir meinen, Gemeinsamkeit in dieser Frage im Parlament täte uns allen gut.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Glos.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit ihren Forderungen — die gerade noch einmal mündlich bekräftigt worden sind -- nach Abschaffung der Kinderfreibeträge und Einschränkung des Ehegatten-Splitting wirft die SPD tragende Prinzipien unseres Steuerrechts einfach über Bord, nämlich das Gebot der Steuergerechtigkeit und der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.
Wir haben erst vor kurzem einstimmig, auch auf den Druck aus Ihrer Fraktion hin, eingeführt, daß man z. B. Beiträge für Kaninchenzüchtervereine von der Steuer absetzen kann.
Das ist so angenommen worden. Aber das, was für Kinder aufgebracht werden soll, soll nicht von der Steuer abgesetzt werden können. Ich sehe da einen gewaltigen Widerspruch.
Seit dem Jahre 1984 ist es ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß zwangsläufige Unterhaltslasten des Steuerpflichtigen — dazu gehören auch Unterhaltsaufwendungen für Kinder — im Einkommensteuerrecht realitätsnah zu berücksichtigen sind, um nicht gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip und damit gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes zu verstoßen. Genau das wäre die Folge einer Umstellung des Familienlastenausgleichs auf ein reines Transfersystem, wie die SPD es fordert.Frau Matthäus-Maier, Sie haben 1974 angesprochen. Vielleicht hat 1974 die CDU den Fehler gemacht, den Antrag so zu stellen, wie Sie ihn dargestellt haben. Denn man hat sich damals noch nicht vorstellen können,
daß sieben Jahre danach eine Regierung kommt, von Ihnen getragen,
die einkommensundifferenziert am Kindergeld für das zweite und dritte Kind glatt wegstreicht, nur um den Haushalt zu sanieren, was letztendlich nicht gelungen ist.
Das ist doch der Grund.
Weil wir nicht wollen, daß die Leistungen für Kinder willkürlichen Haushaltsprinzipien unterstellt werden, deswegen wollen wir die Dynamisierung über die Freibeträge.Die Freibeträge führen zur Dynamisierung. Wenn Sie alles auf Transferleistungen schieben, dann ist die Kindergeldzahlung jährlich willkürlich gestaltbar.
Ich komme jetzt zum Ehegatten-Splitting. Das ist eine komplizierte Geschichte. Sie wissen, daß an den Freibeträgen Bund, Länder und Gemeinden beteiligt sind, weil die Einkommensteuer entsprechend aufgeteilt wird. Sie wissen, daß das Kindergeld eine reine Bundesleistung
und deswegen ganz gleich disponierbar ist, weil hier lediglich der Haushaltsgesetzgeber des Bundes gefragt ist. Insofern ist das doch qualitativ ein großer Unterschied. Tun Sie doch nicht so, als ob Sie das nicht wüßten! Sie haben jedenfalls Persönlichkeiten in Ihren Reihen, die es genau wissen.Ich möchte jetzt noch einmal versuchen, ein kompliziertes Thema anzusprechen. Ich meine den Splittingbereich. Auch hier ist mit Polemik wenig gedient, sondern man benötigt Sachaufklärung.Das sogenannte Ehegatten-Splitting kann nach unserer Überzeugung nicht ohne Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip eingeschränkt werden. Ich begründe das. Das einkommensteuerrechtliche Splittingverfahren ist, wie das Bundesverfassungsgericht seit dem sogenannten Alleinerziehungsurteil vom 3. November 1982 wiederholt ausgeführt hat, kein Steuerprivileg. Das Splittingverfahren ist danach eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepartner orientierte sachgerechte Besteuerung, die an die bürgerlich-rechtlich vorgesehene Erwerbs-und Verbrauchsgemeinschaft der Ehegatten anknüpft,
an der ein Ehegatte an den Einkünften und Lasten des anderen wirtschaftlich jeweils zur Hälfte teilhat.
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GlosAn diese bürgerlich-rechtliche Vorgabe hält sich das geltende Einkommensteuerrecht. Durch das Splittingverfahren wird den Ehegatten das gemeinschaftlich erwirtschaftete Einkommen jeweils zur Hälfte zugerechnet. Die sich aus den Hälften ergebenden Steuerbeträge werden dann zur gemeinsamen Steuerschuld zusammengerechnet. Dieses Verfahren bewirkt, daß den Ehegatten zwei tarifliche Grundfreibeträge zugute kommen und sie hinsichtlich der Steuerprogression zwei ledigen Steuerzahlern gleichgestellt werden, die jeweils ein Einkommen in gleicher Höhe erwirtschaften.Eine Einschränkung des Ehegatten-Splittings entsprechend den Plänen der SPD mißachtet diese zivilrechtliche Ausgangslage, denn im Ergebnis wird dann das gemeinsame Einkommen für die Steuerberechnung insoweit nicht mehr im Verhältnis 1 zu 1 aufgeteilt, sondern in einem anderen, willkürlich gewählten Verhältnis. Die Folge ist eine höhere Steuerprogression auf das gemeinsame Einkommen der Ehepartner. Wer also das Ehegatten-Splitting kritisiert, wer es einschränken oder gar gänzlich abschaffen will, dem ist in Wahrheit das bürgerlich-rechtliche Institut der ehelichen Wirtschaftsgemeinschaft ein Dorn im Auge.
Er sollte dies dann aber auch offen sagen, und er sollte nicht den Sack schlagen, wenn er den Esel meint.Eine Einschränkung des Ehegatten-Splittings wäre auch verfassungsrechtlich äußerst bedenklich.
— Hören Sie doch bitte einmal zu, bevor Sie schreien.
Denn sie würde die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betonte Wahlfreiheit der Ehegatten beeinträchtigen. Danach unterliegt die Verteilung der Haus- und Berufsarbeit auf die Ehepartner ihrer freien Entscheidung. Sie propagieren den Hausmann — ich meine jetzt nicht den von der FDP. Er ist doch eigentlich Ihre Idealvorstellung. Bei einer Einschränkung des Ehegatten-Splittings greift die Steuer in diese Wahlfreiheit ein, weil bei gleichem Einkommen des Ehepaars unterschiedliche Steuern zu zahlen sind, je nach dem, ob es sich um ein Alleinverdienerehepaar oder um ein Beidverdienerehepaar handelt.Im übrigen — und deswegen muß ich mich sehr wundern, daß die Forderung ausgerechnet von der SPD kommt, die von sich behauptet, sie sei arbeitnehmerfreundlich — ist eine Abschaffung des EhegattenSplittings extrem arbeitnehmerfeindlich.
— Ich erkläre es Ihnen. Wenn Sie zuhören, erkläre ich es Ihnen.Gewerbetreibende, Freiberufler, Kapitalbesitzer oder Wohnungsvermieter usw. können durch Arbeitsverträge, Darlehensverträge, Wertpapierpensionsgeschäfte oder durch Einräumung von Nießbrauchrechten ihre Einkunftsquellen so auf den anderen Ehepartner verlagern, daß eine Einschränkung des Ehegatten-Splittings für sie völlig ins Leere geht. Bezieher von Arbeitslohn können dies dagegen nicht; denn Arbeitslohn kann als originäre Einnahme des Arbeitnehmers nicht mit steuerlicher Wirkung auf den Ehegatten übertragen werden.Das gelbe Licht leuchtet, meine Redezeit ist abgelaufen. Ich hätte diese komplizierte Materie gern noch ausführlicher dargestellt. Wir werden in den Ausschüssen des Bundestages Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Saibold.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Begriff „Familienlastenausgleich" ist irreführend, wenn wir uns nicht deutlich machen, daß unsere Gesellschaft nicht geschlechtsneutral ist. Deswegen ist es notwendig, zu klären, zu wessen Gunsten hier Lasten ausgeglichen werden müssen.Es betrifft Frauen und Kinder, für die das geltende Recht in seiner Dreifaltigkeit der Kinderförderung mit Kindergeld, Steuerersparnis oder Zuschlag bzw. Kürzung eher einfältig und kinderfeindlich ist. Die bestehende antiquierte steuerrechtliche Heiratsbelohnung geht längst an den gesellschaftlichen Realitäten verschiedener Familienkonstellationen vorbei. Obwohl es trotz dieser Ehesubvention mittlerweile rund 1 Million Einelternfamilien mit ca. 1,3 Millionen Kindern gibt, hält die Bundesregierung unverdrossen am Ehegattensplitting fest, so, als gäbe es entweder den Patriarchen als Familienoberhaupt, der imstande ist, seine Großfamilie allein zu ernähren, oder als wäre der Ehestand an sich unterstützenswerter als unverheiratete Mütter oder Väter mit ihren Kindern.Die GRÜNEN sind für die Abschaffung des Ehegattensplittings und für die Gewährung eines doppelten Grundfreibetrages.Zur „Normalfamilie" gehören heute statt dessen schon längst auch Stieffamilien, Wohngemeinschaften und Einelternfamilien. Daß Frauen den überwältigenden Teil der Alleinerziehenden ausmachen und die meiste Arbeit haben, dürfte sich auch auf der Regierungsbank herumgesprochen haben. Eine Familienpolitik kann erst dann kinderfreundlich und gerecht genannt werden, wenn sie unterschiedliche Familienkonstellationen weder belohnt noch bestraft. Die steuerlichen Kinderfreibeträge sind ungerecht, weil die steuerliche Entlastung mit steigendem Einkommen wächst. Frauen gehören aber nicht zu den Spitzenverdienerinnen, sondern haben als Mütter angesichts der schlechten Arbeitsmarktlage und der völlig unzureichenden Kinderbetreuung oft nicht einmal die Wahl zwischen Sozialhilfe und Berufstätigkeit. Insofern ist jeder Initiative, die den gesellschaftlichen Veränderungen im Interesse der Frauen Rechnung trägt, zuzustimmen. Deswegen ist zu fragen, ob ein einheitliches Kindergeld, wie es die SPD will, zur Beseitigung der gravierenden Benachteiligungen von
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Frau SaiboldFrauen in unserer stark arbeitsteiligen Gesellschaft beiträgt und zum Wohl der Kinder ist.Auf den ersten Blick scheint der SPD-Antrag, der ein einheitliches Kindergeld von 200 DM fordert, die beste Lösung zu sein; denn die jetzige Regelung, nach der es 50 DM für das erste Kind, 130 DM für das zweite Kind und 240 DM für jedes weitere Kind gibt, ist für einkommensschwache Familien lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Tatsache, daß Höchstverdiener für ihre Kinder heute fast dreimal so viel erhalten wie Erziehende mit niedrigem Einkommen, reicht schon als Argument für einen gerechteren Lastenausgleich.Bei einem konsequenten Familienlastenausgleich geht es aber um mehr als um die Abschaffung der diskriminierenden Kindergeldförderung der materiell oder sozial benachteiligten Einelternfamilien.Das unkoordinierte Nebeneinander von Kinderfreibeträgen, Kindergeld, einkommensabhängiger Kürzung des Kindergeldes und Kindergeldzuschlag ist in der Tat verwirrend für die Bürgerinnen und Bürger.Diese bürokratiefreundliche Regelung ist aber keine zufällige Gedankenlosigkeit, die es abzuschaffen gilt. Diese Bürokratie ist eben jener Ausdruck des Festhaltens an Familienbildern, die längst nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmen.
Die GRÜNEN favorisieren zwar ebenfalls ein Kindergeld, aber eines, das nicht mehr nach der Ordnungszahl der Kinder gestaffelt ist. Es soll vielmehr ein Kindergeld sein, das wirklich bedarfsdeckend ist; denn Familienlastenausgleich meint ja hier Ausgleich für Kinder. Familienpolitik kann nicht in erster Linie aus der Sicht der Erwachsenen gestaltet sein, so wie es die SPD vorschlägt.Notwendig ist eine Kindergeldregelung, die sich am Existenzminimum eines Kindes orientiert. Diese Lösung halten wir für die beste. Ein Mindestbedarf ist aber bei einer gleichbleibenden Summe für Kinder nicht gegeben. Alltägliche, praktische Erfahrungen sagen jeder und jedem, daß sich das Existenzminimum bei einem Kind am Alter und nicht an den Eltern orientiert. Die GRÜNEN fordern hier entsprechend den Forderungen von Familienverbänden eine Staffelung von 210 DM im Monat für Kinder unter sieben Jahren bis zu 450 DM im Monat für 15jährige und ältere.Ich möchte noch einmal betonen, daß es sich hier um eine Forderung der Familienverbände handelt und daß es hier nicht um irgendeine grüne Spinnerei geht.Wir halten eine stufenweise Kürzung des Kindergeldes für Haushalte mit hohem Einkommen aus finanziellen und sozialen Gründen für vertretbar und notwendig.
— Moment, Sie müssen sich aber die Einkommenshöhe bei unserer Lösung ansehen.
— Sie müssen sich die Einkommenshöhe bei unserer Lösung anschauen. Dann muß man wirklich sagen: Bei höherem Einkommen muß hier eine Kürzung vorgenommen werden.
Denn staatliche Fürsorge hat sich an einem realitätsgerechten Familienlastenausgleich zu orientieren, und zur Realitätstüchtigkeit gehört auch, die Familienlasten tatsächlich auszugleichen. Wir wissen, daß die Entwicklung und das Aufwachsen von Kindern ganz massiv mit der wirtschaftlichen Versorgung der Familie und ihrem sozioökonomischen Status zusammenhängen. Deshalb muß die Bundesregierung von dem überzogenen Vorteil für wenige Höchstverdiener Abschied nehmen.
Unter denen — das ist ja hinlänglich bekannt — sind kaum alleinerziehende Frauen zu finden.Einen Familienzuschlag für eine Familie mit vier Kindern in Höhe von 100 DM, wie ihn die SPD vorschlägt, halten wir für halbherzig. Man weiß auch nicht recht, wem sie denn mit diesem kleinen Geschenk eine kleine Freude machen will. Das soll wohl die finanziell solide Familienpolitik der SPD unterstreichen, hat aber wirklich nichts mit irgendeinem großen Wurf zu tun.Die SPD kritisiert die ungerechte und bürokratische Familienpolitik. Ich kann ihr nicht den Vorwurf ersparen, daß sie ein Kästchendenken hat. Solange sich auch die SPD-regierten Länder an der chronischen Unterversorgung öffentlicher Kinderbetreuung beteiligen, kann von einem gerechten Familienlastenausgleich tatsächlich nicht die Rede sein. Das muß hier mitbedacht und problematisiert werden.Das jüngst verabschiedete Kinder- und Jugendhilferecht zeigt ebenso, wie sparsam die großen Parteien werden, wenn es um die Kinder geht. Auch hier zeigt sich das Prinzip, eher an die Rechte der Eltern als an die Rechte der Kinder zu denken. Kinderkriegen ist eine Privatsache. Aber Kinder gehen alle an. Für die GRÜNEN gehört zu einem Familienlastenausgleich eben auch die angemessene Betreuung von Kindern, ohne daß die Mutter oder der Vater bei ihrer sozialen Sicherung benachteiligt werden.
Eine familienfreundliche Arbeitszeitgestaltung ist daher nach unserer Auffassung unverzichtbarer Bestandteil einer umfassenden Familienpolitik. Es gilt, endlich Abschied zu nehmen von der Großzügigkeit gegenüber denen, die staatliche Unterstützung nicht nötig haben, und dem Verteilen von Brosamen als vermeintlich verantwortungsbewußte Gemeinschaftsaufgabe gegenüber denen, die unsere Solidarität tatsächlich brauchen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16237
Frau SaiboldEin realitätsgerechter Familienlastenausgleich hat die deutsch-deutsche Entwicklung mit einzubeziehen. Hier möchte ich — um ihren Einwendungen entgegenzutreten — Pater Oswald von Nell-Breuning zitieren, der sagte:Und komme mir keiner mit dem Einwand: Wer soll das bezahlen? Alles, was sich güterwirtschaftlich erstellen läßt, das läßt sich auch finanzieren, unter der einzigen Bedingung, daß er— ich füge dazu: oder sie —es ehrlich und ernsthaft will!Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat ihren Antrag überschrieben: „Für einen familienfreundlichen, gerechten, einfachen und finanziell soliden Familienlastenausgleich". Eine derartige Forderung kann jeder unterschreiben, zumal ich zugeben muß, daß ich die Kritik der SPD, unser System sei umständlich und unübersichtlich und verstoße bei den Einkommensgrenzen gegen das Leistungsprinzip, teile. Deswegen habe ich auch bei der Abstimmung im Bundestag zur ersten Stufe der Steuerreform, als es um die Familienkomponente ging, nicht nur dagegen gestimmt, sondern auch dagegen gesprochen. Auch die FDP ist für einen kinderfreundlichen, gerechten, einfachen und finanziell soliden Familienlastenausgleich.Der SPD-Antrag erreicht diese Ziele aber nicht; ganz im Gegenteil. Eine derartige Debatte könnte eine wertvolle Hilfe sein für diesen Bundestag, für uns alle, darüber nachzudenken, wie ein derartiges System eines Familienlastenausgleichs beschaffen sein könnte.Der Antrag der SPD und die Debatte sind aber nicht so angelegt. Das Problem wird gebraucht — ich sage: mißbraucht — für die vor uns liegenden Wahlkämpfe.
Beginnen wir mit dem Wort „solide". Schon der alte Vorschlag der SPD sollte ebenso finanziert werden, durch die Streichung der Freibeträge und durch die Kappung des Ehegatten-Splittings. Das Finanzministerium rechnete uns damals vor, daß das so nicht geht. Am 6. Oktober wurde mir in einem Zwischenruf, der leider nur teilweise im Protokoll vermerkt ist, angeboten, die Zahlen vorzulegen, damit ich die Möglichkeit habe, diese zu überprüfen. Natürlich hätte ich als mißtrauischer Liberaler auch gern die Möglichkeit gehabt, die Angaben des Finanzministers zu überprüfen. Es ist leider nicht geschehen.
— Ich wäre sehr froh, wenn Sie mir das liefern würden.
Im Gegenteil, der Vorschlag der SPD wurde verändert. Jetzt will die SPD mehr ausgeben als beim damaligen Vorschlag, nämlich 300 DM statt 200 DM beim vierten und bei jedem weiteren Kind, und beim Ehegatten-Splitting wird weniger gekappt.
Die SPD hat wohl selbst eingesehen, daß bei ihren ursprünglichen Vorstellungen ihre eigene Klientel, nämlich Facharbeiter, betroffen gewesen wäre. Statt bei 81 700 DM, wie es ein Zwischenruf von Frau Matthäus-Maier im Protokoll dokumentiert, wird nun die Kappungsgrenze bei 100 000 DM Einkommen angesetzt. Zusammengefaßt heißt das doch: Die SPD will mehr ausgeben, sie will weniger einsparen. Da muß ich schon fragen, was daran noch solide ist.Nun kann natürlich eine Opposition blind versprechen; Sie müssen ja nicht den Haushalt aufstellen, Sie müssen es nicht finanzieren, und Sie werden nicht zur Verantwortung gezogen. Man kann nur hoffen, daß eine solche Opposition vom Wähler nicht in die Verantwortung gelassen wird.
Da auch diesmal wieder von der Kappung des Ehegatten-Splittings gesprochen wird, muß ich noch einmal darauf eingehen. Das Kappen klingt ja sehr gut, vor allem, wenn ich Neidkomplexe ansprechen will. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß ein Kappen des Ehegatten-Splittings verfassungsgemäß wäre. Für die FDP ist das Einkommen von Mann und Frau immer gemeinsames Einkommen der Familie, partnerschaftliches Einkommen der Familie. Das Einkommen des Ehemannes gehört zur Hälfte der Ehefrau, zur Hälfte ihm — und umgekehrt. So verfahren auch alle Gerichte in Deutschland bei einer Ehescheidung.
— Das ist Praxis unseres Steuergesetzes. Wenn sich einzelne nicht daran halten, kann ich das nur bedauern. Aber wir können doch nicht hingehen und ein System, das wir wohl gemeinsam als schlecht empfinden, noch durch ein Steuersystem dokumentieren. — Ich verstehe nicht, warum dieses Prinzip der Partnerschaft nur bei einer Scheidung, aber nicht bei einer intakten Ehe gelten soll.
Das heißt aber doch auch, daß man in dieser Partnerschaft, von der ich gerade gesprochen habe, nur das Durchschnittseinkommen pro Kopf besteuern kann. Wenn man das nicht tut, wird ein Partner — das ist derjenige, der weniger verdient; das ist heute meistens immer noch die Frau — nicht als gleichberechtigter Partner anerkannt.Will die SPD, will Frau Matthäus-Maier tatsächlich zwei Ehepaare unterschiedlich besteuern, die beide gemeinsam dasselbe verdienen, und zwar in dem ei-
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nen Fall der eine Partner allein, in dem anderen Fall jeder Partner jeweils die Hälfte?
— Das ist aber doch die Folge Ihres Systems. Haben Sie das nicht verstanden? Leider habe ich nicht die Einkommensteuertabelle, die sich aus Ihrem Antrag ergäbe. Wenn ich sie von Ihnen bekäme, wäre es sicherlich sehr einfach und sehr schnell möglich, Beispiele zu finden, wo ein Ehepaar mehr Steuern zahlt, obwohl es gemeinsam weniger hat als ein anderes. Das wollen Sie als gerecht bezeichnen?
Dazu kommt noch etwas anderes. Diejenigen, die in der Lage sind, das Einkommen hin- und herzuschieben, wie z. B. Selbständige — das sind ja oft die vielzitierten Großverdiener —, können sich beide das Ehegatten-Splitting selbst genehmigen, und zwar ganz legal.
— Ja; natürlich.
— Nein. Sie wollen das Ehegatten-Splitting für diejenigen erhalten, die es sich selber genehmigen können;
und für die Arbeitnehmer wollen Sie es abschaffen.
Genau das gleiche habe ich am 6. Oktober in einer ähnlichen Debatte gesagt.
— Gehen Sie zu Frau Matthäus-Maier, die versteht das. Das Protokoll verzeichnet nämlich einen Zwischenruf von Frau Matthäus-Maier : „Das ist ein Problem, ja!"
Dem ist nichts entgegenzusetzen.
— Na, jetzt begreifen Sie das plötzlich, nachdem es auch von Frau Matthäus-Maier begriffen worden ist.
Wir meinen, das Ehegatten-Splitting ist das Prinzip der Partnerschaft. Das brauchen vor allem diejenigen, die lohnabhängig sind.Die SPD begründet ja ihre Ablehnung der Freibeträge immer mit dem Schlagwort: Dem Staat müssen alle Kinder gleich viel wert sein. Ich füge hinzu: Nach unserem Grundgesetz müssen wir sogar alle gleich behandeln.Es gibt aber drei Möglichkeiten, eine Gleichbehandlung vorzunehmen, und die sieht in allen drei Fällen unterschiedlich aus.Der erste Fall: Alle Eltern bekommen für ihre Kinder das gleiche Geld vom Staat, das gleiche Kindergeld. Dann dürften wir aber auch keine Einkommensgrenzen vorsehen. Da stimme ich mit Ihnen überein. Dieses Modell sieht aber Eltern als Einkommensbezieher des Staates vor. Nach liberalem Verständnis sind wir nicht Lohnempfänger des Staates,
sondern ist der Staat Empfänger eines Teiles unseres Lohnes über die Steuern.
Das zweite Modell: Allen Eltern werden die gleichen Ausgaben für ein Kind zugebilligt. Um diesen Betrag haben die Eltern ein geringer zu versteuerndes Einkommen. Entsprechend niedriger ist ihre Steuer. Dieses Modell, das ebenfalls von der Gleichheit, und zwar der Ausgaben für ein Kind, ausgeht, führt zu dem Prinzip der Freibeträge. 100 DM Einkommen in den oberen Einkommensbereichen kosten mehr Steuern als 100 DM in den unteren. Um ein Beispiel zu sagen: Hat ein Ehepaar 2 000 DM Einkommen pro Monat, also 24 000 DM pro Jahr, so zahlt es für die letzten 100 DM 16 DM Steuern. Ein Paar, das 100 000 DM Einkommen im Jahr hat — um bei den ominösen 100 000 DM der SPD zu bleiben —, zahlt dagegen für die letzten 100 DM 30 DM Steuern. Wenn nun jeder um 100 DM weniger Einkommen hat, ist klar, daß der Bezieher eines höheren Einkommens, der für seine letzten 100 DM fast doppelt so viel Steuern zahlt wie der Geringverdienende, entsprechend weniger Steuern zahlen muß.Ich will gleich dazusagen, meine Kollegen von der SPD, daß ich von diesem System nicht voll überzeugt bin, weil ich Kinder nicht gern als Kostenfaktoren bezeichne, so als wenn ich mir ein Buch kaufe und es über Sonderausgaben absetze. Apropos steuerliche Freibeträge: Bei der Absetzung eines Fachbuchs oder bei steuerlichen Freibeträgen, z. B. dem Weihnachtsfreibetrag, hat die SPD diese Wirkung der Freibeträge noch nie kritisiert.Das dritte Beispiel einer Gleichbehandlung wäre: Alle Familienmitglieder werden steuerlich gleichbehandelt; besteuert wird das pro Kopf zur Verfügung stehende Einkommen. Das wäre Familiensplitting. Das käme dem Prinzip der Partnerschaft in einer Familie am ehesten entgegen, und wir hätten erstmals die Möglichkeit, Alleinerziehende gerecht zu besteuern.
— Das müßte eigentlich den Vorstellungen der GRÜNEN entgegenkommen.Ich sage gleich dazu: Das würde auch meinen Vorstellungen von Partnerschaft am ehesten entsprechen. Aber ich weiß, wenn ich an solide Finanzen denke: Es ist im Moment nicht zu finanzieren. Es ist vor allem
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Eimer
deswegen nicht zu finanzieren, weil wir eine im Verhältnis zu anderen Ländern unheimlich hohe Steuerprogression haben.Wenn wir ein vernünftiges System entwerfen wollen, müssen wir uns für ein Grundprinzip entscheiden. Dieses Grundprinzip entspricht einem Menschenbild. Entweder sind wir Geldempfänger des Staates, oder die Kinder sind ein Kostenfaktor, oder die Familie ist eine Partnerschaft.Ich mache kein Hehl daraus, daß für mich das Optimum ein Familiensplitting und zusätzlich als soziale Grundsicherung ein Kindergeld ist, das für alle gleich ausgezahlt wird, und zwar als Maßnahme des sozialen Ausgleichs für die Bezieher kleiner Einkommen. Aber ich kann dieses eine Prinzip nicht zum Gesamtprinzip machen, weil ich dann davon abgehe, daß wir Herr über unser eigenes Einkommen und nicht Almosenempfänger des Staates sind.Aber die SPD ist offensichtlich auch blind gegenüber den zur Zeit laufenden Entwicklungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die uns zu einem Sozialexport in andere EG-Länder zwingen. Das bedeutet, daß wir durch diese Entscheidungen gezwungen sind, unser ganzes System der direkten Transferleistungen neu zu überdenken.Wenn wir bei unserem System aber vielleicht doch bleiben könnten, dann teile ich die Meinung der SPD, daß eine Erhöhung des Erstkindergeldes dringend erforderlich ist. Ich teile auch die Meinung der SPD, daß die Verwaltungswege umständlich und für die Bürger unübersichtlich geworden sind, und das könnte am besten überwunden werden, wenn wir zu einer Finanzamtslösung kommen würden.
Aber die SPD will ja mit ihrem Antrag und mit ihrer Debatte noch etwas anderes darstellen. Sie tut so, als ob die Steuerreform unsozial wäre und die Bezieher hoher Einkommen unangemessen stark entlastet würden. Sie kennen auch die Drucksache 11/6828, und da sind ja die Wirkungen ausgerechnet. Ein Verheirateter ohne Kinder mit einem Bruttojahresverdienst von 30 000 DM hat eine Entlastung von 27,70/s, einer mit 80 000 DM Einkommen nur eine von 19,3 %. Bei Verheirateten mit einem Kind ist die Entlastung 47,5 % bzw. 21,8 %, bei Verheirateten mit drei Kindern 90 % zu 27,3 %.
— Ich komme gleich dazu. Ich habe das natürlich erwartet.So sehr ich auch immer die Vielstufigkeit und die Unübersichtlichkeit unseres Systems kritisiert habe, eines kann man ihm nicht vorwerfen: daß es unsozial sei und daß die Bezieher kleiner Einkommen nichts davon hätten.
Die Beispiele der SPD — da komme ich zu den absoluten Zahlen — sind unseriös, solange sie nicht zu den Steuern ins Verhältnis gesetzt werden, die die Bezieher hoher Einkommen trotzdem immer noch zahlen müssen.
— Natürlich auch zahlen können.
Ich bedaure, daß die Diskussion um den Familienlastenausgleich nicht als Chance genutzt worden ist, nicht als Anlaß genommen werden kann, sich gemeinsam Gedanken zu machen über einen kinderfreundlichen, gerechten, einfachen und finanziell soliden Familienlastenausgleich.
Denn das ist notwendig, wenn wir ehrlich sind. Vor allem im Hinblick auf die Entscheidungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft müssen wir das tun, und wir sind noch nicht so weit, daß wir das wissen. Geben wir doch zu, daß wir kein optimales System haben!Diese Debatte wird für den Wahlkampf mißbraucht. Ich habe in allen Debatten bewiesen — ich glaube, auch in dieser — , daß ich der eigenen Regierung sehr kritisch gegenüberstehe, und ich habe es nicht nur durch Reden im Bundestag, sondern auch durch mein Abstimmungsverhalten bewiesen. Ich hätte mir von der Opposition in dieser Debatte wenigstens ein bißchen mehr Objektivität in dieser Frage gewünscht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Herr Pfeifer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst mal feststellen, weil ich meine, daß das auch in diese Debatte gehört, daß für die Familien mit Kindern in den letzten Jahren von der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien wesentliche Verbesserungen erreicht worden sind.
Ich erinnere an die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, an die Einführung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, an die Einführung des Kindergeldzuschlages, an die Erhöhung des Kindergeldes für das zweite Kind ab dem 1. Juli dieses Jahres, an die Wiedereinführung des Kindergeldes für arbeitslose Jugendliche über 18 Jahre, an die Erhöhung des Kinderfreibetrages auf 3 024 DM pro Kind, an die Erhöhung der Ausbildungsfreibeträge. Meine Damen und Herren, das sind Leistungen, die sich sehen lassen können.
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16240 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Parl. Staatssekretär PfeiferFür die wichtigste dieser Leistungen halte ich die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, für die wir im nächsten Jahre rund 5,5 Milliarden DM ausgeben werden. Wenn heute rund 97 % der Eltern nach der Geburt ihres Kindes Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, wenn heute also in 97 % der Fälle nach der Geburt eines Kindes ein Elternteil, in der Regel die Mutter, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub beansprucht und damit ganz oder überwiegend für ein und demnächst eineinhalb Jahre auf Berufstätigkeit verzichtet und diese Zeit dem Kind zuwendet, dann ist das ein familienpolitischer Durchbruch von großem Wert.
Der Ausbau und die Verlängerung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub ist und bleibt für uns in der Familienpolitik deshalb von hoher Priorität. Es fällt ja auf, daß in dem vorliegenden Antrag davon überhaupt nicht die Rede ist, obwohl auch das ein wichtiger Beitrag zum Familienlastenausgleich ist.
Beim Familienlastenausgleich halten wir am bewährten dualen System aus Kindergeld und Kinderfreibeträgen bei der Steuer fest. Kinderfreibeträge halte ich nicht für ungerecht. Im Gegenteil, in meinen Augen wäre es ungerecht, wenn wir im Steuerrecht das, was die Eltern mit ihrem Einkommen für den Lebensunterhalt ihrer Kinder erarbeitet haben, genauso mit Steuern belasten würden, als ob sie keine Kinder hätten.Die SPD begründet ihren Antrag, das duale System im Familienlastenausgleich aufzugeben und für alle Kinder das gleiche Kindergeld zu zahlen, u. a. damit, daß sie sagt: Jedes Kind ist gleich viel wert. Meine Damen und Herren, es ist unbestritten, daß jedes Kind gleich viel wert ist, aber beim Familienlastenausgleich geht es darum, den Familien mit Kindern in ihren unterschiedlichen Ausgangssituationen gerecht zu werden. Das heißt doch, daß es das Ziel des Familienlastenausgleichs sein muß, Familien mit Kindern desto mehr zu fördern, je geringer das Einkommen der Eltern und je höher die Zahl der Kinder ist. Das ist ein gerechter Familienlastenausgleich.
Ich weiß, wir haben dieses Ziel noch nicht in dem Umfang erreicht, wie wir uns das vorstellen. Aber an dem Ziel, daß die Förderung desto höher sein muß, je geringer das Einkommen der Eltern und je höher die Zahl der Kinder ist, halten wir fest.
Dieses Ziel ist am ehesten mit einem ausreichend differenzierten und sozial ausgewogenen dualen System des Familienlastenausgleichs erreichbar.
Die Einführung des Kindergeldzuschlags belegt dies ebenso wie die Regelung, daß Eltern mit höherem Einkommen nur ein geringeres Kindergeld bekommen.Im übrigen ist die Forderung, ein einheitliches Kindergeld einzuführen und die Kinderfreibeträge abzuschaffen, ja keine neue Idee. Darauf ist heute morgen schon hingewiesen worden. Dies gab es bereits einmal zwischen 1975 und 1982.
Frau Kollegin Schmidt, Sie haben damals in der SPD gesagt, daß die Steuermehreinnahmen, die Sie durch die Abschaffung der Kinderfreibeträge erreichen, den Familien mit Kindern über das Kindergeld wieder in vollem Umfang zukommen sollen. Sie haben damals demgemäß zugesagt, das Kindergeld regelmäßig entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung erhöhen zu wollen. Diese Zusage ist zu keiner Zeit eingehalten worden.
Im Gegenteil, als Sie zwischen 1980 und 1982 mit dem Haushaltsausgleich in große Schwierigkeiten gerieten, haben Sie beim Kindergeld eingespart:
20 DM beim zweiten Kind, 20 DM beim dritten Kind. Ja, Sie haben sogar das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche über 18 Jahre abgeschafft. Wir haben mit dem Konzept, das Sie uns heute vorlegen, schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht. Deswegen halte ich dieses Konzept für nicht glaubwürdig und für nicht gut.
Unser Ziel bleibt der weitere Ausbau des dualen Systems des Familienlastenausgleichs. Sicher müssen auch wir dabei auf die Entwicklung der finanziellen Spielräume in den kommenden Jahren Rücksicht nehmen. Aber gerade dabei gilt für uns, was der Bundeskanzler in seinen Regierungserklärungen der Jahre 1983 und 1987 immer wieder betont hat: Die Familienpolitik ist für uns ein Herzstück unserer Politik und genießt damit hohe Priorität. — Entsprechend werden wir weiter handeln.
Das Wort hat Frau Verhülsdonk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur Böswillige können bestreiten, daß die Regierung Kohl die Familienpolitik wieder in das Zentrum der Politik zurückgeholt hat, nachdem sie in der Zeit der sozialliberalen Regierung ins Abseits geraten war. Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, die Anerkennung von Erziehungsleistungen für Frauen im Rentenrecht sind nicht nur aus frauenpolitischer Sicht, sondern auch aus familienpolitischer Sicht Glanzleistungen. Aber auch auf dem klassischen Feld der Familienpolitik, dem Familienlastenausgleich, können wir uns sehen lassen. Wir haben ihn kräftig ausgebaut. Dabei hat sich erwiesen — das ist ja heute hier vielfach vorgetragen worden — , daß sich das duale System des Familienlastenausgleichs bewährt hat. Immerhin geben wir zur Zeit, Frau Kollegin Schmidt, jährlich 16,5 Milliarden DM
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16241
Frau Verhülsdonkmehr für Familien aus, als das zu Ihrer Zeit der Fall war.
Das ist ein erheblicher Batzen. Der Kollege Pfeifer hat ja die Punkte noch einmal genannt.
— Das kann ich Ihnen zuschicken, Herr Kollege. — Die SPD und vor allem Sie, Frau Matthäus-Maier, ziehen seit langem gegen dieses duale System zu Felde. Gebetsmühlenhaft verbreiten Sie Ihre Ideologie, nur ein einheitliches Kindergeld sei gerecht. Daß sich damit leicht Neidkomplexe erwecken lassen, will ich Ihnen gern zugestehen.
Aber ich kann mir nicht denken, daß Sie nicht selbst wissen, liebe Kollegen, daß die von Ihnen aufgestellte Behauptung falsch ist. Sie haben nur einen Vorteil: Die Bürger durchschauen das nicht sofort.Deshalb zur Sache: Für die Familie zählt, was sie netto in der Tasche hat, und zwar an Einkommen und an Transferleistungen des Staates. Wenn Sie nun bei dem vielzitierten Generaldirektor mit einem Steuersatz von, sagen wir, 50 % 200 DM Kindergeld zahlen wollen, dann entsprechen diese 200 DM netto bei seiner Steuerschuld ja doch einem erheblich höheren Bruttoeinkommen, als das gleiche Kindergeld von 200 DM bei einem Familienvater ausmacht, der nur mit 20 %besteuert wird. So betrachtet — ich rate Ihnen, es mal so zu betrachten — ist auch bei Ihrem Modell Kind eben nicht gleich Kind. Aus unserer Sicht kann das auch gar nicht erstrebenswert und gerecht sein. Unser progressives Steuersystem geht ja schließlich von dem Prinzip der Besteuerung der Bürger nach der Leistungsfähigkeit aus. Und die ist eben nicht bei allen gleich.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Weyel?
Ich habe so wenig Zeit; es tut mir leid. — Für Gerechtigkeit haben wir gesorgt; denn Familien mit hohem Einkommen, die stärker steuerlich entlastet werden, erhalten infolge der bestehenden Einkommensgrenzen ein niedrigeres Kindergeld, und Familien mit sehr geringem Einkommen, die die Steuervorteile nicht nutzen können, erhalten statt dessen einen Kindergeldzuschlag.
Ich gebe zu, das duale System ist recht kompliziert und deshalb nicht so leicht zu vermarkten. Das erleichtert Ihnen die Polemik. Aber das System ist gerecht; das ist ja eben hier noch einmal deutlich gemacht worden.
Meine Damen und Herren, trotz der großzügigen Leistungen, die wir in der Familienpolitik neu geschaffen haben, wissen auch wir von der Union, daß der Familienlastenausgleich weiter ausgebaut werden muß. Ich sage dies deutlich auch angesichts der noch nicht überschaubaren Haushaltsbelastungen, die die deutsche Einheit mit sich bringt. Wir Familienpolitiker der Union sind uns darin einig, daß als nächstes der Ausbau der direkten Leistungen für die Familie ansteht, nachdem in dieser Legislaturperiode ganz besonders die steuerliche Entlastung weiterentwikkelt worden ist.
Also an erster Stelle mehr Kindergeld. Klar ist aber auch, daß die weitere Verlängerung von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld aus frauen- und familienpolitischer Sicht unabdingbar ist.
Ich habe die Hoffnung, daß gerade das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten uns zwingt, auch in der Familienpolitik zukunftsträchtige Lösungen zu finden. Davon können dann die Frauen und Familien in beiden Teilen Deutschlands profitieren. Die Frauen in der DDR treten zu Recht dafür ein, daß die Kinderbetreuungsangebote dort dem Umfang nach erhalten bleiben, daß aber das pädagogische Konzept auf das Qualitätsniveau in der Bundesrepublik hin weiterentwickelt werden muß. Das kostet natürlich Geld. Die Frauen in der Bundesrepublik können in diesem Zusammenhang zu Recht hoffen, daß der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen bei uns erheblich beschleunigt wird. Das geht zunächst einmal die Länder und Kommunen an. Zunehmend erkennen aber auch Unternehmer, daß sie ihren Arbeitnehmerinnen in der Frage der Kinderbetreuung hilfreich sein müssen.
Meine Damen und Herren, wer mit Frauen und Frauenverbänden in der DDR spricht, hört aber noch eine andere Forderung. In der DDR wünschen sich viele Menschen endlich mehr Zeit für ihre Kinder, Zeit, die sie in den vergangenen Jahrzehnten nicht aufwenden durften, weil das sozialistische System sie als Arbeitnehmer voll in Anspruch genommen hat. Die Frauen fordern drüben die Wahlfreiheit, die wir von der Union hier bei uns politisch verwirklicht haben.
— Doch, wir haben sie in einem großen Umfang verwirklicht. Wir wollen sie ja weiter ausbauen.
Deshalb werden wir fortfahren, die Arbeit in der Familie durch soziale Leistungen zu fördern, Mütter sozial abzusichern und zumindest einem Elternteil die Möglichkeit zu geben, daß er bei seinen Kindern zu Hause bleiben kann.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Schmidt .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Glos, ich möchte gerne — ich weiß nicht, ob man jemandem so etwas an einer solchen Stelle dann glaubt — das, was Herr Eimer gesagt hat — ich bin ihm für seine Rede dankbar, obwohl ich nicht mit allem einverstanden bin — jetzt zum Anlaß für eine
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16242 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau Schmidt
Bitte nehmen: Versuchen wir doch wirklich in einen Wettstreit darüber zu treten, welches das beste System ist, um zu einem vernünftigen Familienlastenausgleich zu kommen.Sie haben hier in sieben oder acht Minuten versucht, den Menschen das Ehegatten-Splitting zu erklären und zu erklären, warum das Ganze doch sozial gerecht ist. Ich habe in den ganzen Jahren meiner Berufstätigkeit bisher etwas gelernt: Wenn ich es nicht schaffe, einem Menschen in fünf bis zehn Minuten auch komplizierte Sachverhalte so deutlich zu machen, daß er sie verstehen kann, dann ist etwas an dem Sachverhalt faul, und dann sind nicht etwa die Menschen zu blöd.
Insoweit glaube ich, daß Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Glos, sehr recht hat, der uns hier gesagt hat— und nicht nur er, sondern z. B. auch der Postminister — , irgend etwas sei an diesem System nicht in Ordnung; da müßten Änderungen eintreten. Wir nehmen Ihren Herrn Dregger, Ihren Herrn Schwarz-Schilling in Anspruch, die uns alle vorgeschlagen haben: Ändern wir doch an diesem System des EhegattenSplitting etwas.
Herr Eimer, ich habe jetzt gerade nachgeschaut. Ich habe nur einen Teil dabei: Aber ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen heute noch unsere Berechnungen in die Post gebe, die nachgerechnet worden sind.
— Ohne Briefmarken; das geht mit der Hauspost.Diese Berechnungen sind nicht nur auf unserem Mist gewachsen, sondern dankenswerterweise hat das BMJFFG sämtliche auf dem Markt befindlichen Modelle nachgerechnet und hat festgestellt, unser Modell geht. Wir haben keine Daten, wie es beim Splitting ganz genau ist. Sie kamen bei unserem Modell einschließlich Kindergeldzuschlag ab dem vierten Kind und allem Drum und Dran auf einen Fehlbedarf von einer halben bis 1 Milliarde DM. Es ist nachgerechnet, und es ist solide.
Nun noch einige Ausführungen zu der Frage des Ehegatten-Splittings. Ich werde mir das, was Sie heute gesagt haben, noch einmal zu Herzen nehmen und auch, was die Ehepaare betrifft, noch einmal nachrechnen; das ist vollkommen klar. Wenn ein Fehler darin ist, kann man so etwas korrigieren.Aber das stellt doch nicht das ganze System in Frage. Ich meine, daß unser heutiges System nicht in Ordnung ist. Wir werden doch nicht nur von Herrn Dregger und nicht nur von Herrn Schwarz-Schilling, sondern z. B. auch vom Wissenschaftlichen Beirat des BMJFFG bestätigt, der gesagt hat, so sei es nicht in Ordnung, und der ebenfalls die Umschichtung vorschlägt, wobei er allerdings sagt — da sind wir ja mit Ihnen einig — , nicht etwa als Transferleistung, sondern als Abzug von der Steuerschuld. Das ist also die Finanzamtslösung, und genau diese wollen wir.Ich habe in den Jahren, in denen ich hier als Familienpolitikerin versucht habe, etwas beizutragen, eines gelernt: Wir Familienpolitiker können uns alle viel ausdenken, Gutes und weniger Gutes; wir können Modelle und sonstige Dinge ausrechnen. Das alles bleibt Gedankenspielerei und Makulatur, wenn wir die Finanzleute nicht an unserer Seite haben.
Deshalb trete ich — das wird Sie manchmal vielleicht gewundert haben — in letzter Zeit immer mit der Finanzverantwortlichen unserer Fraktion wie Siamesische Zwillinge auf. Diese will ich mit im Boot haben, und für jede 20 DM, die ich ausgeben will, möchte ich ihre Zustimmung haben, damit ich weiß, daß wir das, was wir da machen wollen, auch machen können.
— Nein, wir sehen ganz unterschiedlich aus.
— Gleich, Herr Glos.Es ist der Vorteil unseres Modells, das wir Ihnen mit diesem Antrag vorstellen, daß wir das alles wirklich tun wollen und nicht in irgendwelchen Fachzeitschriften vorstellen wollen, wie es mit dem Modell Pfeifer oder dem Modell Hoffacker oder dem Modell Wagner oder wie sie alle heißen, geschieht — übrigens ist es nicht ganz untypisch, daß es ein Modell Lehr nicht gibt —, die alle den Nachteil haben, daß sie zusätzlich 8 bis 10 bis 14 Milliarden DM mehr ausgeben wollen, ohne bei einer einzigen Milliarde davon zu sagen, woher sie eigentlich kommen soll.Jetzt, Herr Glos.
Ah ja, Sie haben es nicht vergessen.
Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, ob Sie in Anbetracht der vernünftigen Dinge, die Sie gesagt haben, noch voll hinter dem Vorschlag stehen, der anscheinend von Frau Matthäus-Maier ausgearbeitet worden ist, und darf ich Ihnen ausnahmsweise bestätigen, daß Sie anscheinend mehr davon verstehen als Ihre Kollegin?
Wieso denn?
Weil es Unterschiede gibt. Sie haben grundsätzlich anerkannt, daß das duale System richtig ist, fortentwickelt und ausgebaut gehört.
— Dann habe ich Sie mißverstanden.
Da haben Sie mich grundsätzlich mißverstanden. Ich habe gesagt — Herr Eimer hat uns das erläutert — , daß ich nicht der Meinung bin, daß das die herkömmliche Transferleistung sein soll — ich komme noch einmal darauf — , sondern
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16243
Frau Schmidt
daß wir unsere einheitlichen Kindergeldbeträge von der Steuerschuld abziehen wollen. Ich habe weiterhin gesagt, daß unser Modell vom BMJFFG — nicht nur von uns — nachgerechnet ist und daß das, was wir Ihnen vorschlagen, mit den Mechanismen, die Frau Matthäus-Maier Ihnen schon genannt hat, solide finanziert ist.In diesem Zusammenhang möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf ein Wörtchen dieses Antrags lenken, auf das wir beide großen Wert legen, nämlich auf das Wörtchen „mindestens" 200 DM Kindergeld und ab dem vierten Kind den Zuschlag von 100 DM; denn wir sind der Meinung, daß dies tatsächlich eine untere Grenze ist. Auch wir werden, wenn tatsächlich 8, 10 oder 14 Milliarden DM mehr zur Verfügung stehen, die wir nicht für den sozialen Wohnungsbau, nicht für die Bekämpfung der Armut auch gerade junger Familien, nicht für die Reduzierung von Langzeitarbeitslosigkeit und nicht für die Sanierung und Bewahrung unserer Umwelt brauchen, diesen Betrag deutlich aufstocken. Aber auch da gilt wieder das Prinzip: für alle Kinder gleich.An der Diskussion zum Familienlastenausgleich ärgern mich — wie auch wohl viele andere — zunehmend die Unehrlichkeit und Verschleierung sowie die gegenseitigen Unterstellungen. Ich unterstelle Ihnen doch allen, wie Sie da sitzen, daß Sie etwas für Familien tun wollen. Bitte, unterstellen Sie doch dasselbe auch uns, auch wenn wir das auf verschiedenen Wegen erreichen wollen.Wir können aus unserer Sicht auf eine ganze Reihe familienpolitischer Leistungen aus unserer Regierungszeit, Frau Verhülsdonk, stolz sein, z. B. auf das von Ihnen damals befürwortete Kindergeld, auf das von Ihnen dann auf Null reduzierte Schüler-BAfÖG, die Unterhaltsvorschußkassen, die von uns eingeführt worden sind, den Mutterschaftsurlaub und vieles andere. Aber auch wir — da haben Sie recht — haben uns nicht mit Ruhm bekleckert, als wir 1982 das Kindergeld gekürzt haben.Sie haben ebenfalls nicht nur familienpolitischen Mist gebaut; das behaupten wir überhaupt nicht. Wir erkennen neidlos an — da gebe ich Herrn Pfeifer recht — , daß Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld — auch wenn wir viele Einzelheiten für verbesserungswürdig halten — positive Leistungen sind. Aber auch Sie haben wahrhaftig keine familienpolitisch weiße Weste — wenn Sie das doch endlich einmal zugeben würden —; denn Ihre ersten Taten in Ihrer Regierungszeit waren das Zusammenstreichen wichtiger familienpolitischer Leistungen wie SchülerBAfÖG, Mutterschaftsurlaub, Kindergeld. Alles sank im Vergleich zu den Jahren davor auf einen Tiefstand.
— Lassen Sie doch die blöden Worte; es bringt uns doch nichts.Wenn das Familienministerium in seinen Presseverlautbarungen die familienpolitischen Leistungen des Jahres 1990 am liebsten mit denen des Jahres 1985, nicht mit unseren Regierungszeiten, sondern mit Ihren Regierungszeiten vergleicht, stimmt Ihr Vergleich, Frau Verhülsdonk, weil in jenem Jahr so wenig für Familien getan worden ist — das ist nachweisbar; ich habe die Zahlen hier; sie können sofort nachgeprüft werden — wie in den 10 Jahren davor kein einziges Mal. Also, bitte, ein bißchen mehr Ehrlichkeit, ein bißchen weniger Manipulation der Statistiken würde uns vielleicht einander endlich näherkommen lassen.Ich hoffe das, denn ich kann wirklich nicht glauben, daß Sie Ihr System für das beste aller möglichen halten, weil es nämlich undurchsichtig, bürokratisch und ungerecht ist. Undurchsichtig, weil keine Mutter und kein Vater kalkulieren können, wieviel Geld ihnen eigentlich monatlich für ihre Kinder zur Verfügung steht.
Freibeträge, einkommensabhängiges Kindergeld mit unterschiedlichen Grundlagen!Sie müssen sich mal vorstellen, wie viele Einkommensbegriffe es in der Zwischenzeit im Familienlastenausgleich gibt! Das ist völlig undurchschaubar. Das Zusatzkindergeld kann erst beim Lohnsteuerjahresausgleich oder der Einkommensteuererklärung überhaupt beantragt werden, ohne daß die betroffenen Eltern überhaupt eine Ahnung davon haben, ob sie einen Anspruch darauf haben. Dadurch wächst sich dieser Kindergeldzuschlag, den Sie eingeführt haben, um die ungerechte Wirkung der Kinderfreibeträge zugunsten sehr gut Verdienender wenigstens in einem gewissen Umfang auszugleichen, zunehmend zum Skandal aus. Nur circa die Hälfte aller Anspruchsberechtigten beantragt diesen Zuschlag, weil sie nicht darüber informiert sind, weil es viel zu kompliziert ist, und weil z. B. diejenigen, die wegen eines zu geringen Einkommens gar keine Steuern zahlen, gar nicht erfahren, daß sie ihre Kinderfreibeträge nicht ausgenutzt haben, aber diesen Anspruch noch hätten. Das heißt, Ihr Familienlastenausgleich benachteiligt auch hier insbesondere Familien mit geringem Einkommen.
Die Entlastungsbeiträge von 98 DM für ein Kind oder von 216 DM für zwei Kinder stehen für Alleinerziehende und für Familien mit geringem Einkommen teilweise nur auf dem Papier. Sie bekommen nur das Kindergeld, und ihre obersten Vorgesetzten, die vielleicht in dem gleichen Betrieb arbeiten, bekommen jeden Monat alles, was ihnen zusteht, ohne den Finger krumm machen zu müssen, ohne einen Antrag zu stellen, pünktlich aufs Konto überwiesen. Das kann doch nicht gerecht sein.
Sie haben das auch selbst erkannt, und Frau Verhülsdonk hat es gerade gesagt; ich zitiere aus einem Papier der Arbeitsgruppe Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit der CDU/CSU-Fraktion, die dort schreibt: Da wir aber in der nächsten Legislaturperiode insbesondere Familien mit geringem Einkommen wirksamer entlasten wollen, geht dies effektiv nur über das Kindergeld. Das heißt auf gut deutsch: Nur über eine Erhöhung des Kindergeldes können
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16244 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau Schmidt
Familien mit geringem Einkommen wirksam entlastet werden. Genau das schlagen wir vor: die Mittel dort einzusetzen, wo sie vor allem benötigt werden. Denn es kann uns doch nicht unberührt lassen, daß nahezu die Hälfte aller Familien mit allen Einkommensarten weniger als 3 000 DM monatlich zur Verfügung haben.Sie konzentrieren mit Ihrem Familienlastenausgleich Ihre Bemühungen auf die weniger als 16 % der Familien, die mehr als 5 000 DM im Monat zur Verfügung haben.
— Weisen Sie mir das Gegenteil nach! — Wir wollen vor allem den 48 % helfen, die weniger als 3 000 DM im Monat für sich und ihre Kinder ausgeben können.
Nun haben Sie auch heute wieder dafür plädiert, daß die Kinderfreibeträge deshalb zu bevorzugen sind, weil damit der Kinderlastenausgleich automatisch steigt und man nicht auf Festbeträge angewiesen ist. Aber das wird doch durch Kinderfreibeträge nicht vermieden. Sie haben doch keine Gewähr dafür, daß der Finanzminister die Kinderfreibeträge regelmäßig erhöht. Das wird sich doch auch nach der Finanzlage richten.
Zum anderen ist es so, daß sich dann der Kinderlastenausgleich nur für diejenigen erhöht, deren Einkommen steigt. Für diejenigen, deren Einkommen stagniert oder z. B. wegen Arbeitslosigkeit sinkt, reduziert sich der Kinderlastenausgleich. Das ist doch ebenfalls sozial ungerecht. Das bringt's doch nicht.
Deshalb ist auch hier das einheitliche Kindergeld besser, wenn es mit einer regelmäßigen Anpassung verbunden ist, und das könnten wir doch gemeinsam organisieren, ähnlich wie wir es bei der Rentenanpassung ebenfalls tun.Sie kritisieren weiterhin, daß wir durch die Transferleistungen Kindergeld-Wohltaten verteilen wollten und den Familienlastenausgleich als disponible Sozialleistung betrachten. Dies ist Schlichtweg Unsinn. Wir sind auch der Meinung, daß die Entlastung der Familien eine Pflicht des Staates ist und nicht irgendeine soziale Wohltat. Das ist kein Kann, sondern ein Muß. Deshalb plädieren wir dafür, für jedes Kind diese 200 DM gleich von der Steuerschuld abzuziehen, wie es der Wissenschaftliche Beirat des Ministeriums vorschlägt.Dies ist in der Vergangenheit — auch daraus haben wir gelernt — immer wieder am Widerstand der Länder gescheitert. Wir haben uns deshalb in unserer Arbeitsgruppe Fortschritt '90 unter Vorsitz von Oskar Lafontaine der Unterstützung der Länder versichert, aber ihnen natürlich zugesichert, daß sie einen adäquaten Ausgleich bekommen, wenn wir hier tatsächlich eine Veränderung des Systems vornehmen.Nun wird uns auch noch vorgeworfen, wir würden mit unserem Vorschlag für einen sozial gerechten, unbürokratischen und kalkulierbaren Familienlastenausgleich Geld nur umschichten und nicht mehr Geld für Kinder ausgeben. Das stimmt: Wir schichten um von Kinderlosen zu denjenigen, die Kinder haben. Das stimmt: Wir schichten um von den sehr gut verdienenden Familien zu Familien mit geringem Einkommen. Das möchten wir auch. Das beabsichtigen wir damit auch und nicht etwa das Gegenteil.
Mehr soziale Gerechtigkeit durch das Ausgeben nicht vorhandender Milliarden herzustellen, das kann jeder. Dies finanzierbar und mit Verstand und Augenmaß zu tun, das ist die Kunst, die unserem Antrag zugrunde liegt.
Nicht zuletzt die Sozialunion mit der DDR müßte Sie eigentlich dazu zwingen, den derzeitigen Familienlastenausgleich zu überdenken und mit uns gemeinsam ein einheitliches Kindergeld einzuführen. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, daß Sie mit dem lapidaren Satz aus Anlage 4 des Entwurfs eines Staatsvertrags — ich zitiere: — gültig für die DDR: „übernommen werden mit Wirkung ab 1. Januar 1991 das Einkommen- und Lohnsteuerrecht" — unser ungerechtes, bürokratisches System mit Kindergeldkassen und Anträgen beim Finanzamt, beim Arbeitsamt und bei den Sozialämtern, die es dort alle nicht gibt, einführen wollen.Zudem steht dem die Koalitionsvereinbarung der DDR-Regierung entgegen, die ausdrücklich von einer einheitlichen Leistung für Kinder, unabhängig von der Einkommenshöhe der Familie, spricht.
Wollen Sie sich über dieses Votum nach Ihrem Dauermotto „Bei uns ist alles gut, besser, am besten" einfach hinwegsetzen?Aber wir wollen selbstverständlich auch materiell mehr für Familien tun; denn Familienlastenausgleich ist mehr als Kindergeld oder Steuerpolitik. Dazu gehört die Wiedereinführung des Schüler-BAföG. Dazu gehört, daß wir für einen Rechtsanspruch auf Kindergartenbetreuung mit einem Ausgleich durch den Bund bei den Ländern und Kommunen sorgen müssen.
Dazu gehört, daß wir Requalifzierungsprogramme für die Frauen, die wieder in den Beruf einsteigen wollen, mit Rechtsansprüchen und nicht nur mit Modellvorhaben schaffen.
All das haben wir Ihnen vorgelegt oder werden wir Ihnen noch vorlegen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16245
Frau Schmidt
Unser Antrag zur Änderung des Familienlastenausgleichs ist ein Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu einer kinder-, frauen- und familienfreundlicheren Gesellschaft und nicht zuletzt zu einer Sozialunion mit der DDR, die die Wünsche unserer und Ihrer Parteifreunde in der DDR respektiert.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Schmidt, ich möchte einige Anmerkungen zu dem, was Sie gesagt haben, machen. Sie sprachen nicht zuletzt davon, was Sie alles noch herbeiführen wollen. Sie hätten in den 70er Jahren Zeit genug gehabt, in die Richtung zu gehen, die Sie heute hier so lautstark ankündigen. Wenn Sie von der Schaffung von Rechtsansprüchen auf Kindergartenplätze sprechen, sage ich: Damals wäre die Möglichkeit dazu gewesen.
Ich sage es bewußt: Es wäre die Möglichkeit dazu gewesen, wenn Sie in gleichem Maße auf Ihre Ministerpräsidenten eingewirkt hätten, wie diese Regierung und wir an diesem Punkt gearbeitet haben.
— Wenn Sie von Geld sprechen, dann muß ich doch sagen: Sie sprechen immer davon, daß sämtliche zusätzliche Leistungen im Bereich des Familienlastenausgleichs, aber auch der gesamten Familienpolitik stets beim Bund in Anrechnung gelangen sollen.
Politik für die Familie ist eine Aufgabe für alle Gliederungen, für alle staatlichen Bereiche. Ich meine, dies sollte man nicht vergessen.
Ich möchte die Debatte zur sozialen Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland deswegen auch gar nicht wiederholen, sondern hier nur wenige Worte zu Ihrem Antrag sagen.Ich billige Ihnen zu, daß Ihr Antrag, wenn man ihn durchliest und vor allen Dingen im Detail bis 100 000 DM hochrechnet, verlockend klingt.
Er ist es wert — ich sage das bewußt — , nachgerechnet zu werden. Ich habe es versucht. Er ist natürlich nicht ungeschickt, gerade in einem Wahljahr, weil er unter dem Motto „Was kommt in Heller und Pfennig sichtbar heraus?" in manchen Bereichen denjenigen, der der Empfänger dieser staatlichen Transferleistung ist, zunächst einmal besserstellt. Er sieht deutlicher, was er bekommt.Er sieht allerdings nicht: Was wurde in anderen Teilen dafür weggenommen? Ich möchte Ihnen fairerweise einräumen, daß wir uns im Ausschuß auch über die Form der Gegenrechnungen unterhalten sollten. Ich sage bewußt „fairerweise", denn wir sollten — ich knüpfe an den Kollegen Eimer an — diese Diskussion führen, ohne auf der einen Seite die Neiddiskussion herbeizuführen und ohne auf der anderen Seite immer gleich zu unterstellen, daß jedwede Umstellung im Steuerrecht gleichsam ein Staatsverbrechen sei.
Ich möchte daran erinnern, daß die CDU/CSU, wenn ich mich nicht täusche, die erste Fraktion war, die damals in dem Althammer-Bericht einen breitangelegten Vorschlag in Sachen Familien-Splitting ausgearbeitet hatte. In diese Richtung, glaube ich, lohnte es sich, erneut auf den Weg zu gehen — und zwar gemeinsam! Ich meine, daß gerade die Entwicklung, in der die beiden deutschen Staaten aufeinander zukommen, jetzt eine Chance bietet, auch hier einen Schritt möglichst gemeinsam voranzukommen, aber dies läßt sich anhand eines derartigen SPD-Vorschlages jetzt nicht so schnell über das Knie brechen!Ich möchte die Sinnhaftigkeit auch von Kinderfreibeträgen nicht wiederholen. Norbert Eimer hat darauf hingewiesen, daß man immer die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das Pro-Kopf-Einkommen der Familie berücksichtigen muß. Ich räume Ihnen allerdings sofort ein, daß dieser Gesichtspunkt bei Ihnen auch gesehen wird, aber Sie gehen den Weg, den Eimer mit Recht kritisiert hat, daß Sie das Ganze primär als eine Anlage staatlicher Transferleistungen sehen und weniger unter der Frage behandeln: Was bleibt als Familieneinkommen im Vergleich zu jenem Einkommen, das einer ohne Familie bzw. ohne Kinder hat? Ich glaube, auch hier sollten wir uns noch etwas offener darüber unterhalten, welches Maß an Gemeinsamkeit wir erreichen können.Eines, glaube ich, sollte nicht der Fall sein: daß wir in der Diskussion über das Ehegatten-Splitting zulassen, aus der Richtung des Steuerrechts — ich bin fast verleitet, andere Bereiche der Gesetzgebung aufzuzeigen, wo Sie derartige Vorstöße unternehmen — jetzt unterschwellig Angriffe gegen die Sinnhaftigkeit der Ehe, deren Anerkennung und Förderungswürdigkeit in dieser Gesellschaft zu führen.
Gerade der Gesichtspunkt, daß ein Ehepaar das erarbeitete Familieneinkommen gemeinsam besitzt, sollte gesehen werden.Wir sollten — Herr Präsident, ich sehe das Zeichen — die Dinge gemeinsam diskutieren. Wir sollten auch den Vorschlag, den Max Wingen jüngst gemacht hat, 8 000 DM pro Jahr und Kind zu berücksichtigen, einbeziehen. Allerdings sollten wir dabei immer bedenken, welche finanziellen Mittel wir in dieser Situation zur Verfügung haben, damit auch wir, die Familienpolitiker, Realisten bleiben.
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16246 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Werner
Bei all unserem Sehnen nach mehr Geld dürfen wir nicht in den Bereich der Träumerei abstürzen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Herr Voss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden SPD-Antrag soll das bestehende duale System zur Berücksichtigung der Unterhaltsbelastungen der Eltern durch Steuerermäßigung und Einkommensübertragungen abgeschafft werden. Der Antrag lehnt sich an einen Entschließungsantrag an, der bereits am 14. Juni 1989 eingebracht und hier am 16. Juni debattiert worden ist. Er wurde damals mehrheitlich abgelehnt, denn er führt dazu, daß ein Ehepaar mit Kindern ebensoviel Steuern zu zahlen hat wie ein kinderloses Ehepaar mit gleichem Einkommen. Das Prinzip der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit bei Familien mit Kindern wird also außer acht gelassen, und das widerspricht meinem Gerechtigkeitsempfinden.
Ich schließe mich hier nahtlos an das an, was die Kollegin Verhülsdonk eben ausgeführt hat, der ich im übrigen recht herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratuliere.
Aber auch die in der Antragsbegründung, meine Damen und Herren, vorgetragenen Argumente, die hier noch einmal wiederholt worden sind, halten einer Nachprüfung nicht stand.Im übrigen, Frau Kollegin Schmidt, haben Sie eben gesagt, der Finanzminister gebe keine Gewähr für eine Erhöhung des Kindergeldes.
— Der Kinderfreibeträge.Hier erinnere ich Sie nur einmal daran, daß im Jahre 1982, als diese Regierung die Verantwortung übernahm, der Kinderfreibetrag 432 DM betrug. Diesel-war nur deshalb entstanden, weil wir damals als Opposition sehr großen Wert darauf gelegt und uns hier durchgesetzt haben. Inzwischen beträgt der Kinderfreibetrag 3 024 DM. Ich kann hier durchaus sagen, daß wir daran denken, daß im weiteren Verlauf unserer Steuergesetzgebung in der nächsten Legislaturperiode hier Erhöhungen durchaus vorgesehen sind. Also das, Frau Kollegin, was Sie hier eben gesagt haben, entspricht nicht den Tatsachen.
Lassen Sie mich ein paar weitere Bemerkungen machen:Erstens. Die Steuerermäßigung durch den Kinderfreibetrag ist keine staatliche Leistung. Eltern erhalten, wenn sie eine kindbedingte Steuerermäßigung in Anspruch nehmen, vom Staat nichts. Der Kinderfreibetrag sorgt vielmehr nur dafür, daß sie im Vergleich zu Kinderlosen nicht zu hoch besteuert werden. Einkommensteile, die in einer Familie mit Kindern für deren Unterhalt verwendet werden müssen, werden also nicht besteuert. Wenn aber keine staatliche Leistung vorliegt, meine Damen und Herren, geht der Appell an das Neidgefühl, Kinder von begüterten Steuerpflichtigen erhielten mehr als die von weniger begüterten, fehl.Die andere Ansicht beruht meiner Einschätzung nach auf einem etwas als sozialistisch zu qualifizierenden Denksystem, nämlich daß der Staat das Recht habe, das Einkommen seiner Bürger zu 100 % in Anspruch zu nehmen und dann auf Grund seiner Gnade und Güte davon einen Teil wieder dem Bürger zurückzugeben. Meine Damen und Herren, das kann nicht richtig sein.
Zweitens. Wer von der progressiven Gestaltung des Einkommensteuertarifs ausgeht, muß die bei den Einkommensminderungen spiegelbildlich eintretenden regressiven Auswirkungen mit einbeziehen. Sie ergeben sich in ähnlicher Weise auch bei vielen anderen Abzügen, wie bereits gesagt worden ist, bei Betriebsausgaben, Werbungskosten, aber auch bei Unterhaltsaufwendungen für andere Angehörige sowie beim Behindertenpauschbetrag und generell bei allen Steuerbefreiungen. Ich sehe also keinen überzeugenden Grund, warum diese Wirkung bei Kinderfreibeträgen entfallen soll.Drittens. Der von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, aufgezeigte Finanzierungsvorschlag für den Familienlastenausgleich ist nicht haltbar. Die Wirkung des Ehegatten-Splitting läßt sich nicht auf maximal 6 000 DM begrenzen. Das Bundesverfassungsgericht hat das Ehegatten-Splitting aus verfassungsrechtlicher Sicht als ein nicht beliebig veränderbares, sogenanntes Steuervergünstigungssystem qualifiziert, sondern als eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare — Art. 3 Abs. 1 — orientierte sachgerechte Besteuerung bewertet.
Deshalb ist es irreführend, sogenannte Vorteile dieses Verfahrens abbauen zu wollen.Viertens. Aus steuer- und familienpolitischer Sicht spricht insbesondere folgendes für die Beibehaltung des Ehegatten-Splitting: Das uneingeschränkte Ehegatten-Splitting entspricht den Wertungen des bürgerlichen Rechts und den Anforderungen des Leistungsfähigkeitsprinzips.
Es knüpft an die Lebensverhältnisse der intaktenDurchschnittsehe als Erwerbs-, Verbrauchs- und Ver-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16247
Parl. Staatssekretär Dr. Vosssorgungsgemeinschaft an. Das uneingeschränkte Ehegatten-Splitting ist Ausdruck der Gleichwertigkeit der Arbeit von Mann und Frau, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Haus- oder Berufsarbeit handelt. Diese Unterscheidung, meine Damen und Herren von der SPD, dürfte doch auch für Sie nicht gleichgültig sein.Von der Begrenzung der Splittingwirkung wären vielfach diejenigen Ehen betroffen, bei denen die Kinder bereits aus dem Hause sind und beide Ehegatten bei ihrer Erwerbstätigkeit unterschiedlich hohe Einkünfte erzielen.
Fünftens. Die Begrenzung der Splittingwirkung auf 6 000 DM bedeutet für eine Reihe von Familien mit noch im Haushalt lebenden Kindern Verschlechterungen. Die eintretende Steuererhöhung wird nämlich durch die von Ihnen vorgeschlagene Kindergelderhöhung nicht ausgeglichen. Die Begrenzung der Splittingwirkung wirkt sich deshalb bei Wegfall der Kinderfreibeträge in der Regel bereits bei einem Bruttoeinkommen von rund 93 000 DM und nicht erst, wie Sie in Ihrer Antragsbegründung sagen, bei 100 000 DM aus.Sechstens. Die von Ihnen vorgeschlagene Finanzamtslösung wird wohl auch bei Ihrem reinen Kindergeldvorschlag keine entscheidende Vereinfachung bringen.Siebtens. Die vorgeschlagene Neuregelung läßt sich auch nicht durch finanzielle Umschichtungen aufkommensneutral durchführen. Nach Berechnungen, die wir im Bundesfinanzministerium angestellt haben, besteht in dem zur Abstimmung gestellten Antrag eine erhebliche Deckungslücke in der Größenordnung von bis zu 3 Milliarden DM.Die vorgetragenen Argumente überzeugen also nicht. Wir sollten deshalb am bestehenden Rechtszustand festhalten. Nach dem Verständnis der Bundesregierung hat der Staat zwingende Unterhaltsverpflichtungen bei der Einkommensbesteuerung zu berücksichtigen.Aus der Sicht der Bundesregierung ist daher der von der SPD-Opposition gestellte Antrag abzulehnen. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6751 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14.00 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung wieder.
Wir kommen zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Fragestunde
— Drucksache 11/6944 —
Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns dankenswerterweise Herr Staatsminister Schäfer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Jäger auf:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in die Wege geleitet oder erwägt sie, allein oder zusammen mit ihren EG-Partnern, um nach der Öl-Liefersperre der UdSSR gegenüber Litauen und der dadurch eingetretenen Versorgungskrise dem bedrängten litauischen Volk zu helfen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die zwölf Außenminister der EG haben in ihrem Treffen in Dublin am 21. April 1990 ausführlich die Lage in Litauen erörtert. Sie haben eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der sie ihre ernste Besorgnis über die von Moskau gegen Litauen verfügten Maßnahmen zum Ausdruck gebracht haben.. Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, daß Zwangsmaßnahmen keinen Beitrag zur Suche nach einer Lösung leisten können, die nur im Wege eines Dialogs möglich ist.
Eine Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Staatsminister, nachdem Sie den eigentlichen Kern der Frage 31 in Ihrer Antwort gar nicht berührt haben, darf ich Sie fragen, welche Maßnahmen zur Hilfe für das litauische Volk, sei es von der EG, sei es von der Bundesregierung, denn nun erwogen oder in die Wege geleitet werden?
Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, es ist zunächst einmal notwendig, daß das litauische Volk, vertreten durch seine Regierung, in Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung zu einem einvernehmlichen Weg findet, damit die Sanktionen, die Moskau verhängt hat, aufgehoben werden können. Ich glaube, erst in zweiter Linie können wir davon ausgehen, daß europäische Staaten — das sollten wir nicht allein tun, sondern gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarstaaten — über mögliche Hilfsmaßnahmen beraten.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatsminister, ist denn die Bundesregierung bereit, für die zu leistende Hilfe für das litauische Volk die besondere Verantwortung der Bundesregierung anzuerkennen, die sich daraus ergibt, daß durch den Hitler/Stalin-Pakt dieses Volk wie die anderen baltischen Völker der stalinistischen Herrschaft in der Sowjetunion ausgeliefert worden ist?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, Sie sind mit mir der Meinung, daß der Hitler/StalinPakt nicht von der Bundesregierung zu verantworten war, daß die Bundesregierung diesen Pakt niemals anerkannt hat und daß das, was an Folgen für das litauische Volk entstanden ist, natürlich gerade in die-
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16248 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Staatsminister Schäferser Zeit der Reformen in Osteuropa und auch in der Sowjetunion nur durch ein vernünftiges Vorgehen gemildert werden kann, zu dem wir unseren Beitrag leisten werden. Mit einer Dramatisierung der Lage in Litauen wäre sicher weder uns noch den Litauern gedient.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Graf Huyn.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung nicht der Meinung, daß angesichts der Tatsache, daß die von Ihnen apostrophierten Verhandlungen nicht stattfinden können, nachdem die litauische Verhandlungsdelegation in Moskau nicht empfangen wird und andererseits die Zwangsmaßnahmen der Sowjetunion gegen das litauische Volk, die auch Kinder und Frauen treffen, eine neue Situation eingetreten ist und daß die Bundesregierung gerade auf Grund der deutschen Verantwortung für den Hitler/Stalin-Pakt aufgerufen ist, unverzüglich zu handeln, um wenigstens die Not der Menschen zu lindern?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf wiederholen, was ich gerade gesagt habe. Wir sollten nicht zu einer Dramatisierung der Lage beitragen, indem wir die Not des litauischen Volkes, wie Sie das eben getan haben, so dramatisch darstellen. Was wir gemeinsam mit unseren Freunden in der Europäischen Gemeinschaft tun, ist, die Lage sehr sorgfältig zu beobachten und auch bei unseren Kontakten und den Kontakten unserer Nachbarstaaten mit der Sowjetunion darauf hinzuwirken, daß es keine zusätzliche Steigerung der bereits — Sie haben das qualifiziert — verhängten Maßnahmen gegenüber Litauen geben darf, sondern daß eine Verhandlung stattfinden muß. Es gibt Anzeichen dafür, daß die Sowjetunion diesen Weg auch so sieht.
Wir sollten uns also in der jetzigen Phase darauf verständigen, alles zu tun, um die Möglichkeit des Dialogs zwischen Litauen und der Sowjetunion zu eröffnen und nur im Falle einer weiteren Zuspitzung der Lage den Weg zu gehen, den Sie in Ihrer Frage eben angedeutet haben.
Der Abgeordnete Hinsken hat eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Herr Staatsminister, sind der Bundesregierung private Hilfen bekannt, die eventuell an die Litauer gegeben werden? Wenn ja: In welchem Umfang sind diese bisher geflossen?
Schäfer, Staatsminister: Es tut mir leid, daß ich Ihnen im Augenblick zu privaten Hilfen nichts sagen kann. Ich kann mich gerne umhören, aber Sie wissen, daß es Bemühungen der Ministerpräsidentin von Litauen gegeben hat, in Norwegen 01 als Ersatz für ausgefallene Lieferungen zur Verfügung gestellt zu bekommen. Daß es wohl auch, wie heute zu lesen ist, Bemühungen der Litauer gibt, mit bestimmten sowjetischen Republiken eine Zusammenarbeit zu ermöglichen, auch mit der Nachbarregion Leningrad, ist richtig. Aber private Hilfen aus der Bundesrepublik kann ich Ihnen im Augenblick nicht belegen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Dann rufe ich die Frage 32 des Abgeordneten Jäger auf :
Ist aus der Antwort der Staatsministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer auf meine schriftliche Frage vom März 1990 zu folgern, daß jedenfalls die Bundesregierung in den internationalen Gremien, in denen die Bundesrepublik Deutschland vertreten ist, die Auffassung vertritt, daß auch dem ungeborenen Kind der menschenrechtliche Schutz des Rechts auf Leben zukommt, und wenn ja, welche dem Europarat angehörenden Staaten unterstützen diese Auffassung der Bundesregierung?
Ich bitte um Beantwortung.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung versteht Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die einschlägigen internationalen Menschenrechtsgarantien, z. B. Art. 6 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie Art. 2 Abs. 2 unseres Grundgesetzes in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dahin, daß das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut vom Staat zu schützen ist, wobei es — wie das Bundesverfassungsgericht besonders betont — Sache des Gesetzgebers ist, zu entscheiden, wie der Staat seine Verpflichtungen zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt.
Diese Auslegung ist indessen nicht zwingend. Sie wird international nicht allgemein akzeptiert. Bei der Diskussion des Entwurfs eines Übereinkommens über die Rechte des Kindes hat darum die Delegation der Bundesrepublik Deutschland ihr Eintreten für die wörtliche Wiederholung des in der Erklärung der Rechte des Kindes vom 20. November 1958 verankerten Bekenntnisses zur Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens in der Präambel der Konvention in erster Linie auf die innerstaatliche Verfassungslage sowie besonders auf das Argument gestützt, daß ohne die gewünschte Klarstellung die Ratifikation der Kinderkonvention durch die Bundesrepublik Deutschland erschwert, wenn nicht unmöglich sei.
Sie ist bei der Durchsetzung ihrer Forderungen von anderen Mitgliedstaaten des Europarats, etwa von Irland und Italien, unterstützt worden. Inwieweit diese und andere Staaten — so wie es in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt — die eingangs genannte Auslegung teilen, entzieht sich der Kenntnis der Bundesregierung.
Herr Abgeordneter Jäger zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, darf ich nach dieser sehr positiven Antwort, für die ich mich bedanke, die Frage stellen, ob denn die Frage der Auslegung des Art. 3 und auch des von Ihnen herangezogenen Art. 6 des IPBPR dazu geführt haben, daß innerhalb der Bundesregierung Überlegungen angestellt werden, also z. B. auch in Ihrem Hause, immer dann, wenn von Menschenrechten und vom Recht auf Leben die Rede ist, auch diesen Abschnitt, also insbesondere die in großer Zahl bedrohten und getöteten ungeborenen Kinder, mit zu erfassen?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16249
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin nicht sicher, ob wir immer, wie Sie das jetzt fragen, bei allen Menschenrechtsdiskussionen, die ja in vielfältiger Form an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Gremien stattfinden, auch diese Frage mit einbeziehen können, wenn sich der Sachverhalt ganz anders stellt.Aber ich habe Ihnen in meiner Antwort deutlich gemacht, daß — soweit das vom Auswärtigen Amt überhaupt geschehen kann; das ist ja eigentlich eine Materie, die weitgehend in den Bereich des Bundesministers der Justiz gehört — wir bei vergleichbaren Vorgängen, wie Sie sie angesprochen haben, auf unsere Verfassungslage und die Interpretation des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht hinweisen, die international nicht überall entsprechend gesehen wird. Wir haben aber jedenfalls diesen Standpunkt dort so vertreten.
Weitere Zusatzfrage, Herr Jäger.
Herr Staatsminister, ist Ihnen denn irgendeine Erklärung greifbar, weshalb in dem Menschenrechtsbericht der Bundesregierung — nach dem ich auch damals in meiner schriftlichen Frage gefragt hatte, die Ihre Kollegin dann beantwortet hat — , in dem es ja ausschließlich um die Menschenrechtssituation in der Bundesrepublik Deutschland geht und nicht um die in dritten Ländern, dieses Thema entgegen der von Ihnen gerade vorgetragenen Auffassung der Bundesregierung überhaupt nicht aufgetaucht ist? Gibt es dafür irgendeine Erklärung, oder hat man das schlicht vergessen?
Schäfer, Staatsminister: Weil ich nicht zu den Verfassern des Berichts über die Menschenrechte zähle, fällt es mir sehr schwer, zu qualifizieren, ob das bewußt nicht gemacht wurde oder ob es unbewußt nicht geschehen ist. Ich bin aber gern bereit, das nachzuprüfen, Herr Kollege.
Nachdem der Abgeordnete Lowack gebeten hat, seine Frage 33 schriftlich zu beantworten — die Antwort wird als Anlage abgedruckt — , kann ich nunmehr die Frage 36 des Abgeordneten Hinsken aufrufen:
Treffen Pressemeldungen zu, wonach zwischen der italienischen und der CSFR-Regierung Einigkeit erzielt wurde, ab 1. Juli 1990 auf Ausstellung von Visa zu verzichten, und wenn ja, ab wann gibt es diese Visafreiheit, ggf. das „Schengener Abkommen" unterlaufend, auch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSFR?
Herr Staatsminister!
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, nach der Berichterstattung unserer Botschaften in Rom und in Prag unterzeichneten Italien und — jetzt muß man acht geben, weil es hier eine neue Abkürzung gibt — die CSFR beim Besuch des tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Calfa am 29. März 1990 in Rom eine Vereinbarung, wonach die Sichtvermerkspflicht im bilateralen Verhältnis für touristische Reisen bis zu 30 Tagen aufgehoben wird. Die Vereinbarung soll nach Abschluß des innerstaatlichen Zustimmungsverfahrens am 1. Juli 1990 in Kraft treten.
Wie bereits in der Antwort auf die mündliche Frage des Abgeordneten Stiegler in der Fragestunde am 29. März 1990 mitgeteilt wurde, wurden im Schengen- und im EG-Rahmen Konsultationen über die Aufhebung der Visapflicht gegenüber der CSFR eingeleitet. Der Allgemeine EG-Rat wird sich mit dieser Frage erneut auf seiner Sitzung am 7. Mai befassen.
Die Bundesregierung hat bereits bei den Beratungen im Allgemeinen Rat am 2. April dieses Jahres erklärt, sie beabsichtige, nach Ungarn auch die Sichtvermerkspflicht gegenüber der CSFR aufzuheben. Sie wird eine abschließende Entscheidung hierüber nach der Ratstagung am 7. Mai treffen.
Zusatzfragen? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Hinsken.
Herr Staatsminister, was denken Sie denn, bis wann diese Visafreiheit zwischen der CSFR auf der einen Seite und uns auf der anderen Seite in etwa umgesetzt werden kann?
Schäfer, Staatsminister: Ich habe darauf verwiesen, daß wir zunächst einmal die Ratstagung am 7. Mai und die Haltung unserer im Schengener Abkommen versammelten westlichen Nachbarstaaten abwarten wollen. Dort wird sich herausstellen, wie man zu der Aufhebung der Visapflicht, die wir beabsichtigen, steht. Je nach dem Ausgang dieser Besprechungen am 7. Mai werden wir dann zu entscheiden haben, wie schnell wir uns mit einer Aufhebung der Visapflicht befassen können.
Noch eine Zusatzfrage? — Bitte schön.
Das wäre sehr wünschenswert, Herr Staatsminister.
Aber ich habe noch eine Frage. Herr Bundesaußenminister Genscher hat mir gegenüber in einem Gespräch geantwortet, daß er gegebenenfalls bereit ist, einen eigenen Weg einzuschlagen und dieses Schengener Abkommen zu unterlaufen, falls hier kein befriedigendes Ergebnis herauskommt. Kann das hier von Ihnen als Vertreter der Bundesregierung amtlicherseits bestätigt werden?
Schäfer, Staatsminister: Wenn Sie im persönlichen Gespräch mit dem Bundesaußenminister etwas festgestellt haben, dann ist es für mich schwierig, wenn ich Ihnen das jetzt amtlich bestätigen soll. Ich gehe davon aus, daß ein Staatsminister grundsätzlich seinem Minister nicht widerspricht und dessen Auskünfte nachträglich auch nicht aufhebt.
Nur, Herr Kollege Hinsken, ich darf Ihnen in dem Zusammenhang sagen, von einem Unterlaufen des Schengener Abkommens kann deshalb keine Rede sein, weil im zweiten Schengener Abkommen die Konsultationspflicht vorgesehen ist, die aber noch nicht verabschiedet worden ist, so daß wir durchaus in der Lage sind — insofern hat der Bundesaußenminister recht — , unabhängig von dem, was dort am 7. Mai geschieht, hier eine Entscheidung zu treffen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder.
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16250 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Herr Staatsminister, bisher galt, daß Konsultation nicht Abhängigkeit von Zustimmung bedeutet. Gilt das auch heute noch?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß es immer gegolten hat und auch heute noch gilt. Dabei darf ich allerdings hinzufügen, daß wir nach Möglichkeit keine Reizungen provozieren sollten, bevor wir nicht solche Konsultationen geführt haben. Das heißt, daß wir nicht jetzt schon unsere Absicht verdeutlichen sollten, bevor diese Runde über die Bühne gegangen ist. Sonst würde dort der Eindruck entstehen, wir würden uns unabhängig von dem, was andere Staaten dazu sagen, so entscheiden. Ich hielte das nicht für sehr klug.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, ich kann mich zwar nicht auf ein Gespräch mit dem Bundesminister des Auswärtigen berufen,
aber ich habe die Frage an Sie, wie es denn kommt, daß die Italiener mit den Tschechen und Slowaken auf diesem Gebiet schon so weit sind, während wir da offenbar noch ein bißchen im zeitlichen Rückstand sind. Was haben die Italiener für besondere Einflüsse und Gnaden in Prag, daß sie schon so weit vorangeschritten sind?
Schäfer, Staatsminister: Es ist sicher nicht so sehr die tschechoslowakische Seite, die hier Schwierigkeiten macht, sondern es war unsere vielleicht größere Rücksichtnahme auf andere europäische Staaten, die uns hier etwas vorsichtiger vorgehen ließ, als es von Ihnen den Italienern unterstellt wird. Es hängt sicher nicht an Prag, sondern es hängt einfach an der Frage einer Absprache. Aber wir haben deutlich gemacht, daß wir den Willen haben, diese Politik fortzusetzen und die Visafreiheit nicht nur auf Ungarn zu beschränken.
Herr Staatsminister, ich möchte mich bei Ihnen bedanken und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Hier steht uns Staatssekretär Spranger zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung. Ich rufe zunächst die Fragen 34 und 35 des Abgeordneten Dr. Emmerlich auf:
Wie viele Rechnungen des Versicherungsdetektivs Mauss an seine Auftraggeber in der Versicherungswirtschaft hat das Bundeskriminalamt in welchen Zeiträumen überprüft?
Auf welche Ermittlungsverfahren bezogen sich die Abrechnungen des Versicherungsdetektivs Mauss, die das BKA auf ihre sachliche Richtigkeit überprüft hat, und von wem wurden diese Ermittlungsverfahren geführt?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Dr. Emmerlich, die Beantwortung beider Fragen ist in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Das Bundeskriminalamt hält hierfür umfangreiche personal- und zeitaufwendige Überprüfungen der dort vorliegenden Akten für nötig. Die diesbezüglichen Recherchen werden voraussichtlich zwei bis drei Wochen in Anspruch nehmen. Soweit mir die entsprechenden Daten und Fakten vorliegen, werde ich Ihnen, wenn Sie einverstanden sind, die Antwort auf schriftlichem Wege übermitteln.
Herr Abgeordneter Emmerlich, bitte schön.
Ich gehe davon aus, daß sich die Antwort — wie Sie es auch sagten — auf beide Fragen bezieht. Im Hinblick auf die Bereitschaft zur schriftlichen Beantwortung bin ich einverstanden, daß wir die weitere Erörterung für heute einstellen.
Dann bedanke ich mich im Namen des Hauses.
Die Fragen 37 und 38 der Abgeordneten Frau Hämmerle werden schriftlich beantwortet — die Antworten werden als Anlagen abgedruckt —, so daß ich nunmehr die Fragen des Abgeordneten Funke aufrufen müßte, der aber noch nicht im Saale ist.
Ich rufe daher zunächst einmal die Frage 41 des Abgeordneten Baum auf:
Wieweit sind die Überlegungen der Bundesregierung gediehen, auf Grund des Zusammenbruchs des politischen Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland die Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz auch durch Verringerung des dafür eingesetzten Personals einzuschränken?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß von einem Zusammenbruch des politischen Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden kann. Wohl gibt es Verfallserscheinungen im Bereich des orthodoxen Kommunismus; es ist aber nicht damit zu rechnen, daß sich beispielsweise alle aus der DKP ausscheidenden Personen von ihrer grundsätzlich verfassungsfeindlichen Einstellung gegenüber unserem Grundgesetz lösen. Man wird vielmehr zu erwarten haben, daß sich neue linksextremistische Gruppierungen bilden werden. Insgesamt wird man deshalb allenfalls von Verlagerungen im Bereich des politischen Linksextremismus sprechen können. Die Bundesregierung verweist insofern auf die Beantwortung von Fragen des Herrn Abgeordneten Lüder am 21. Dezember 1989, wo sie sich bereits zu der Problematik im einzelnen geäußert hat.
In dieser Antwort hat die Bundesregierung ferner mitgeteilt, daß geprüft werde, ob und gegebenenfalls welche konzeptionellen und organisatorischen Konsequenzen aus den Verlagerungen im Bereich des Linksextremismus zu ziehen sind. Über erste Ergebnisse ihrer Überlegungen hat die Bundesregierung am 15. März 1990 dem Vertrauensgremium des Bundestages in einer vertraulichen Sitzung berichtet. Die Prüfungen sind aber insgesamt noch nicht abgeschlossen. Zur Zeit befaßt sich eine Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz mit den Folgerungen, welche sich für den Verfassungsschutz aus dem deutschdeutschen Einigungsprozeß ergeben. Die von Ihnen angesprochenen Probleme werden dabei einbezogen werden.
Zusatzfrage, bitte schön.
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Herr Kollege Spranger, auch wenn ich zugebe, daß die Feststellung, der Linksextremismus sei zusammengebrochen, etwas zu apodiktisch ist: Sind Sie nicht dennoch der Meinung, daß durch den Wegfall der SED und des alten DDR-Regimes und dessen Infiltrations- und Agitationsmaßnahmen hier eine wesentliche Veränderung der Lage eingetreten ist, die auch Konsequenzen in den Ämtern nach sich ziehen muß?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Wir sind uns sicherlich darin einig, daß es hier Veränderungen gegeben hat. Über den Grad, die Art und die Auswirkungen dieser Veränderungen kann man unterschiedlicher Meinung sein. Das ergibt sich auch aus dem Prüfungsauftrag der Innenminister von Bund und Ländern an eine dafür eingesetzte Arbeitsgruppe. Ich sagte, auf dieser Ebene wird über die Konsequenzen, die auch in Ihrer Frage angesprochen werden, beraten.
Ich bitte um Nachsicht, wenn ich heute angesichts des Sachstandes, auch angesichts der Beteiligung der Länder sowie angesichts der Tatsache, daß man hier Vertraulichkeit vereinbart hat, über die Perspektive und über die zu gegebener Zeit fälligen Entscheidungen noch nichts Näheres sagen kann.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Baum.
Herr Kollege Spranger, teilen Sie nicht Befürchtungen, daß, wenn man sich jetzt nicht konsequent auf eine neue Lage einstellt, die Ämter in einem gewissen Beharrungsvermögen, was z. B. ihr Personal angeht, auf die Idee kommen könnten — darüber gibt es ja schon Informationen — , sich neue Aufgaben zu suchen, beispielsweise die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, die nun wirklich keine originäre Aufgabe eines Verfassungsschutzes ist? Wie wird die Regierung hier ihrem politischen Auftrag gerecht? Was tut sie selber aktiv, um der Situation gerecht zu werden?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube nicht, Herr Kollege Baum, daß sich die Ämter Tätigkeitsfelder suchen werden, die ihrem Auftrag widersprechen oder nicht im Rahmen ihres Auftrags liegen. Ich bin davon überzeugt, daß sich die Ämter und die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern wirklich konsequent Gedanken über die notwendigen und richtigen, im Interesse der Ämter und auch des Staates liegenden Konsequenzen aus den stattgefundenen Veränderungen machen werden und die Ämter die entsprechenden politischen Entscheidungen beachten werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder.
Herr Staatssekretär, zu Ihrer ersten Antwort habe ich folgende Zusatzfrage. Nach meiner Beobachtung existiert der real existierende Sozialismus real nicht mehr. Dieses würde bedeuten, daß daraus Menschen vielleicht Konsequenzen ziehen. Deswegen frage ich Sie: Gibt es tatsächlich Kenntnisse Ihres Amtes, daß es neue Bestrebungen von früher an den real existierenden Sozialismus glaubenden Personen gibt, sich nun erneut für einen neuen real zu existieren habenden Sozialismus einzusetzen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Es mag für Sie angesichts der Entwicklungen und Erfahrungen nach 40 Jahren real existierendem Sozialismus — beispielsweise in der DDR — absurd erscheinen, daß es noch Menschen gibt, die diesen Ideen und Ideologien anhängen. Nach dem jetzigen Sachstand — ich habe das in der Antwort auf die Frage des Kollegen Baum schon vorgetragen — müssen wir leider feststellen, daß es zwar Verfallserscheinungen im Bereich des orthodoxen Kommunismus gibt, daß es aber noch große Gruppierungen gibt — ich glaube, im Dezember sprach ich in meiner Antwort auf Ihre Frage von etwa 15 000 sonstigen Linksextremisten, Marxisten und Anarchisten — , die nach wie vor solchen Ideologien anhängen.
Es ist, so bedauerlich das sein mag, eine Tatsache, daß der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus nicht zu dem von Ihnen an sich gewünschten Ergebnis geführt hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, teilen Sie nicht die Auffassung, daß gerade der in jüngster Zeit bekanntgewordene Vorgang, daß die Stasi einen geradezu flächendeckenden Teppich von Kontakten und Unterwanderungen in der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut hatte, der erst jetzt in seinem vollen Umfang sichtbar geworden ist, zusätzliche Aufgaben für die Behörden des Verfassungsschutzes mit sich bringt
und daß zuerst einmal diese Aufgaben erledigt werden müssen, ehe man an Verringerungen und Zurückstufungen denkt?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, ich möchte mich irgendeiner Bewertung mit Bezug auf den Bereich der DDR zu diesen Fragen enthalten. Es sind hier Fragen zur Arbeit des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland gestellt, und darauf möchte ich mich beschränken.
Sollte sich aber beispielsweise — wie schon angedeutet oder diskutiert — eine Partei wie die PDS hier mit Programmen der Art, wie sie drüben bereits existieren, hier konstituieren, stellen sich auch hier neue Fragen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Die letzte Bemerkung des Staatssekretärs bringt mich fast von der Frage ab, die ich stellen wollte, weil sie wirklich sehr interessant war.Herr Kollege Spranger, Sie können sich hier nicht einfach hinter der uns allen bekannten Tatsache verstecken, daß Gespräche zwischen Bund und Ländern geführt werden. Wir möchten von Ihnen, der Sie hier als Vertreter der Bundesregierung sprechen, wissen,
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16252 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Dr. Hirschwelche Konsequenzen die Bundesregierung für ihren eigenen Verantwortungsbereich ziehen will; nicht, welche Gespräche sie führen will, sondern was sie selber tun will. Verstehe ich alles, was Sie gesagt haben, richtig, wenn ich davon ausgehe, daß sie gar keine Konsequenzen ziehen will?Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, niemand will hier eine Antwort hintanhalten. Tatsache ist aber, daß hier ein Themenbereich angesprochen wird, den wir zusammen mit den Ländern einer Lösung zuführen müssen. Tatsache ist, daß wir aus diesen unabhängig von der Thematik vertraulich geführten Gesprächen hier in der Öffentlichkeit nicht irgendwelche Ergebnisse oder Gesprächsinhalte vortragen, was die Kooperation in diesem Gremium nicht zu Unrecht erheblich beeinträchtigen würde. Ich kann hier nur noch einmal um Verständnis bitten, daß ich hier angesichts des Verhandlungsstands und des Diskussionsstands nicht in der Lage bin, hier irgendwelche Gesprächstendenzen vorzutragen. Aber ich habe zum Ausdruck gebracht — und das bitte ich auch der Antwort an den Herrn Kollegen Baum zu entnehmen — , daß natürlich diese Tendenzen und auch das, was Herr Kollege Baum angesprochen hat, in die Gespräche mit eingebracht wird. Es wird darüber diskutiert, und dann wird entschieden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Opel.
Herr Staatssekretär, die Bemerkung des Kollegen Dr. Hirsch gibt mir Anlaß zu versuchen, zu empfinden, welche Frage er nicht gestellt hat.
Sie wissen ja, daß Dreiecksfragen nicht erlaubt sind. Sie beachten das bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident, ich werde das gern tun.
Ihre Bemerkung zwingt mich wirklich zu der Frage, Herr Staatssekretär, ob Sie unter der Voraussetzung, daß wir eine gesamtdeutsche Verfassung auf der Grundlage des Grundgesetzes im wesentlichen gemeinsam wollen, die PDS grundsätzlich als verfassungsfeindlich einstufen.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe hier überhaupt keine Einstufung vorgenommen. Ich habe nur zum Ausdruck gebracht, daß man sich nach der Frage des Kollegen Jäger natürlich auch unter dem Gesichtspunkt von verfassungsfeindlichen Bestrebungen und Linksextremismus immer wieder neu Gedanken machen muß, auch angesichts der Entwicklungen, die auf uns zukommen können.
Nun rufe ich die Frage 42 des Abgeordneten Baum auf:
Welche Verfassungsschutzbehörden der Bundesländer werden nach Kenntnis der Bundesregierung ihren Arbeitsumfang auf Grund des Zusammenbruchs des politischen Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland einschränken?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, ich gebe eine Antwort, die Sie selber früher öfters in ähnlicher Form zu solchen Themen gegeben haben: Die Bundesregierung äußert sich nach ständiger Übung nicht öffentlich zu Fragen, die den Kompetenzbereich der Länder betreffen.
Zusatzfrage.
Herr Kollege, ich bin jetzt in einer anderen Rolle,
und mein parlamentarisches Bewußtsein ist in den letzten Jahren auch sehr stark gewachsen.
Angesichts der Tatsache, daß einige Länder, nämlich Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, bereits Zahlen über die Reduzierung des Verfassungsschutzpersonals bekanntgegeben haben, frage ich Sie: Wird auch die Bundesregierung so etwas tun; oder bleibt sie beim Status quo? Angesichts klarer öffentlicher Erklärungen von Bundesländern, nämlich von Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, CDU-regiert und SPD-regiert, eine Reduzierung des Personals, auf eine bestimmte Zahl bezogen, vorzunehmen, frage ich: Warum zögert der Bund, und wann wird er möglicherweise nachziehen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Baum, ich habe doch zum Ausdruck gebracht, daß es angesichts der Veränderungen, gleich wie man sie wertet, gewichtet und einschätzt, sicher nicht beim Status quo bleiben kann und bleiben wird, sondern daß Veränderungen stattfinden werden. In welcher Zielrichtung? In welchem Ausmaß? Auf welchen Sektoren? Hierüber jetzt schon irgendwelche öffentlichen Erklärungen abzugeben, halte ich angesichts des Verhandlungsstands und des Gesprächsstands mit den Ländern für verfrüht.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte schön!
Herr Kollege Spranger, jetzt ganz konkret die Frage: Werden vom Bundesamt für Verfassungsschutz mit Billigung des Bundesministeriums des Innern neue Aufgaben für den Verfassungsschutz des Bundes angepeilt? Ja oder nein?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Mir ist nicht bekannt, daß bereits neue Aufgaben im Verfassungsschutzamt in Köln vorbereitet werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder.
Herr Staatssekretär, ich glaube, der Präsident wird es als unzulässig rügen, wenn ich sage, daß ich meine, daß Sie uns nicht damit abspeisen können, über Länder nicht zu berichten, nachdem Sie auf die Frage vorher gesagt haben, Sie könnten nicht antworten, weil Sie mit den Ländern sprechen müßten. Das macht mich bissig.Jetzt aber zum legalen Teil meiner Frage: Ist die Aussage des Berliner Senators Pätzold in öffentlicher Sitzung des zuständigen Ausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses der Bundesregierung bekannt,
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Lüderdaß auch das Bundesland Bayern und weitere Länder personelle Konsequenzen ziehen würden?Spranger, Parl. Staatssekretär: Mir ist die Aussage von Herrn Pätzold nicht bekannt, und ich kann sie jetzt auch nicht verifizieren. Ich bitte sehr um Nachsicht; ich kann gern versuchen, das auf Grund von öffentlichen Informationen nachzuprüfen und Ihnen zugänglich zu machen.
Herr Staatssekretär, das ist zu respektieren. Ich glaube, das ist in Ordnung.
Bitte schön, Herr Dr. Hirsch.
Herr Kollege Spranger, da sich die Frage 42 des Kollegen Baum nicht auf einen Vorgang in den Ländern bezieht, sondern auf die Kenntnis der Bundesregierung und die Kenntnis der Bundesregierung, hoffe ich, etwas ist, was im Bereich der Bundesregierung liegt, möchte ich Sie noch einmal fragen, ob Ihnen andere Bundesländer bekannt sind, die die Zahl der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes wie Schleswig-Holstein — um ein Drittel — und Baden-Württemberg — um mindestens 100 Planstellen — reduzieren wollen. Sie brauchen sie ja nicht zu nennen. Sagen Sie uns doch wenigstens, ob der Bundesregierung weitere Länder bekannt sind.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Sie versuchen sehr geschickt, Herr Dr. Hirsch, nun doch noch die Zulässigkeit einer Auskunft bei dieser Frage zu konstruieren, aber ich bitte wirklich um Verständnis, daß ich der üblichen Handhabung hier im Hause entspreche und mich über Verfassungsschutzbehörden, gleich welcher Länder, mit ihren Intentionen auch personeller Art hier nicht äußere. Ich bitte sehr um Verständnis.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kalisch.
Herr Staatssekretär, abgesehen von den Äußerungen des Innensenators von Berlin, der den Verfassungsschutz schon vor der Wende in der DDR weitgehend reduzieren, wenn nicht gar abschaffen wollte, frage ich Sie: Glauben Sie, daß man in einem so sensiblen Bereich — es gab ja 40 Jahre lang real existierenden Sozialismus — hier schon Vorleistungen, wie ich es einmal nennen möchte, erbringen sollte, bevor man sicher ist, daß das Unwesen nicht weiter getrieben wird?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kalisch, die Tatsache, daß sich hier die Bundesländer und der Innenminister in der zuständigen Arbeitsgruppe in der Innenministerkonferenz, welche auch weiterhin tätig sein wird, zusammengesetzt haben, zeigt die Schwierigkeit und das Risiko jedweder Entscheidungen in dieser Materie. Sie zeigt auch, daß man hier sehr viele Überlegungen anstellen muß, um Gefährdungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihre freiheitlich-demokratische Grundordnung auszuschließen. Deswegen bin ich der Meinung, daß man hier nicht Entscheidungen über das Knie brechen sollte, sondern jeweils sehr sorgfältig abzuwägen hat.
Herr Staatssekretär, dann rufe ich jetzt die Frage 39 des Abgeordneten Funke auf und bitte Sie, diese zu beantworten:
Wieviel Prozent der Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz sind eingesetzt für Aufgaben im Bereich des Links-
bzw. des Rechtsextremismus, des Terrorismus und sonstiger Tätigkeiten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Funke, in den zur Bearbeitung der Fachaufgaben des Bundesamtes eingerichteten Abteilungen des Amtes sind ohne Berücksichtigung der zentralen Dienste, die allen Abteilungen dienen und die ich gesondert nenne, derzeit an Mitarbeitern eingesetzt: Rechtsextremismus 4,1 %, Linksextremismus 5,7 %, davon in bezug auf orthodoxe Kommunisten 2,9 % , Terrorismusabwehr 6,9 %, Spionageabwehr 16,4 %, Geheim- und Sabotageschutz 9,4 %, Ausländerextremismus, -terrorismus 6,1 %. In den erwähnten sonstigen zentralen Bereichen sind 51,4 % der Mitarbeiter des Amtes tätig. Das betrifft die allgemeine Verwaltung, die Oberservation, die Datenverarbeitung, zentrale Hilfsdienste, das Sicherheitsreferat, das Pressereferat, Schule und anderes.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, können Sie mir auch sagen, wie viele Mitarbeiter in bezug auf die DDR eingesetzt sind?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Ich kann mich bemühen, das noch aufzuschlüsseln.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Staatssekretär, Sie wissen ja, daß ich auf die Zahl von 5,7 % im Dezember schon einmal eingegangen bin.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Schon mehrfach. Bis zu 6 % haben wir — aufgerundet — schon gehabt.
Ich frage: Wieviele von den gut 51 der Mitarbeiter, die Sie generell für die Observation etc. einsetzen — von Gemeinkosten würde man in der Betriebswirtschaft sprechen — , rechnen Sie dabei der Bekämpfung des Linksextremismus zu?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann das aus dem Stegreif nicht sagen. Ich kann jetzt auch nicht sagen, ob man überhaupt in der Lage ist, das genau zu quantifizieren. Ich kann es versuchen, aber ich kann das jetzt nicht im einzelnen aufteilen.
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht — wie wir — der Meinung, daß die Prozentzahlen, die Sie angeben, schlicht irreführend sind, und daß es nicht weiterhilft, wenn Sie 51 % der Mitarbeiter, die zentralen Diensten angehören, pauschal herausnehmen und dann Gruppierungen wie z. B. die Beschaffung auch noch herausnehmen und auf diese Weise zu
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Dr. Hirscheiner relativ geringen Zahl, nämlich zu gut 4 % kommen? Sind Sie nicht in der Lage — jeder geordnete Betrieb ist dazu in der Lage — , uns zu sagen, wie die zentralen Dienste auf die einzelnen Gruppierungen aufzuschlüsseln sind? Das läßt sich ja machen.Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nicht, ob sich das machen läßt. Ich habe vorhin schon Herrn Kollegen Lüder zugesichert, daß ich versuchen werde, es nochmals zu quantifizieren. Aber nach dem jetzigen Sachstand habe ich meine Zweifel, ob das möglich sein wird.
Ich rufe Frage 40 des Abgeordneten Funke auf:
Hat die Bundesregierung im Sicherheitsbereich einschließlich des BND bereits personalwirtschaftliche Konsequenzen aus den polizeilichen Veränderungen in der DDR gezogen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Prüfungen zu konzeptionellen und organisatorischen Konsequenzen aus den politischen Veränderungen in der DDR sind noch nicht abgeschlossen. Was den Bereich des Verfassungsschutzes anlangt, so verweist die Bundesregierung auf das, was sie über erste Ergebnisse ihrer einschlägigen Überlegungen am 15. März 1990 in einer vertraulichen Sitzung dem Vertrauensgremium des Bundestages berichtet hat. Zur Zeit befaßt sich eine Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz mit den Folgerungen, welche sich aus dem deutsch-deutschen Einigungsprozeß für den Verfassungsschutz ergeben. Die von Ihnen angesprochenen Probleme werden hier einbezogen werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Funke, bitte.
Herr Staatssekretär, wann rechnen Sie damit, daß Ihnen die Zahlen, die Ihnen jetzt noch nicht vorliegen, vorliegen und die zeitlichen Abläufe bekannt sein werden? Sie sagten ja, daß die Überlegungen zur Zeit noch nicht abgeschlossen seien. Wann werden sie abgeschlossen sein?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich wage hier keine Vorhersage. Die gemeinsame Kommission hat vor wenigen Tagen getagt. Sie tritt, glaube ich, im Mai erneut zusammen. Ich bin gerne bereit, Ihnen in den nächsten drei Wochen einen weiteren Sachstandsbericht über die Arbeitsfortschritte zu übermitteln.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder.
Herr Staatssekretär, da ich diesem Vertrauensgremium nicht angehöre, frage ich Sie — aber ich würde diese Frage auch stellen, wenn ich ihm angehörte — : Sind Sie bereit, die Zwischenergebnisse zu veröffentlichen, sobald die Möglichkeit dazu besteht, da die Ergebnisse ansonsten schon vorher auf Grund der Kenntnisse des Innenministers der DDR entsprechend den Regeln der Verfassung der DDR und der Geschäftsordnung der Volkskammer der DDR veröffentlicht werden? Stünde es uns nicht gut an, wenn die Bundesrepublik zuerst Öffentlichkeit herstellen würde?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Lieber Kollege Lüder, ich mache mir überhaupt keine Sorgen darüber. Das, was man der Öffentlichkeit ohne Nachteile für die Bundesrepublik Deutschland oder für die Verhandlungen oder für die Sicherheitsbehörden vortragen kann, sollte man auch vortragen. Sie können davon ausgehen, daß die Bundesregierung der Öffentlichkeit und vor allen Dingen auch dem Parlament das rechtzeitig zugänglich machen wird, was in dem Zusammenhang möglich ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Opel.
Herr Staatssekretär, bisher wurde von verantwortlicher Seite — unwidersprochen — immer wieder betont, daß sich der Hauptzweig der Aufklärung des BND gegen die DDR richte. Können Sie mir wenigstens grob sagen, wieviel Prozent der Kräfte des BND gegen die DDR eingesetzt waren?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich muß Ihnen leider sagen, daß ich nicht für den BND, sondern nur für das Bundesamt für Verfassungsschutz Verantwortung trage.
Das wäre eine Sache, nach der an anderer Stelle zu fragen wäre.
Herr Dr. Hirsch, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit Rücksicht auf den nun ja alsbald anstehenden Staatsvertrag bereit, uns zuzusichern, daß Sie dem Innenausschuß noch vor der Sommerpause einen detaillierten Bericht über die Fragen geben werden, deren Beantwortung Sie hier zur Zeit verweigern?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß ich Ihnen im Rahmen der Möglichkeiten und der Grenzen, die ich heute aufgezeigt habe, zusichern kann, daß wir dem Innenausschuß vor der Sommerpause einen Bericht zugänglich machen.
Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage 43 des Abgeordneten Lüder:
Gibt es Gespräche, Verhandlungen oder Vereinbarungen von Dienststellen des Bundes oder der Länder mit irgendwelchen Stellen in der DDR über die Zusammenarbeit beider deutscher Staaten im Bereich der Aufgaben, für die das Bundesamt für Verfassungsschutz zuständig ist?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, soweit Dienststellen des Bundes angesprochen sind, lautet die Antwort nein. Soweit Dienststellen der Länder angesprochen sind, weist die Bundesregierung darauf hin, daß sie sich nach ständiger Übung hierzu nicht öffentlich äußert.
Zusatzfrage? — Bitte!
Ist im Rahmen der Verhandlungen der Innenminster beider deutscher Staaten in Aussicht genommen, Gespräche über eine Zusammenarbeit auf Verfassungsschutzebene zum Zwecke der Vertei-
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Lüderdigung der Demokratie in beiden deutschen Staaten vor der Herstellung der Einheit zu führen?Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich war bei den Gesprächen der beiden Minister nicht dabei. Ich habe nur aus der Öffentlichkeit erfahren, daß darüber gesprochen wurde, die gegenseitigen nachrichtendienstlichen Aktivitäten einzustellen.
Weitere Zusatzfragen? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Im Hinblick auf die Vereinbarung zum Zusatzabkommen zum Schengener Abkommen, die ja noch vor dem Inkrafttreten des deutsch-deutschen Abkommens verabschiedet werden soll, frage ich: Wie beabsichtigt die Bundesregierung, Regeln über die Zusammenarbeit von Sicherheitsdienststellen mit den Schengener Partnern durchzuführen, wenn sie vorher nicht mit dem Partner DDR darüber gesprochen hat, wie man zusammenarbeitet?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, wenn Sie einverstanden sind, kommen wir auf das Thema Schengener Abkommen bei der Frage von Herrn Irmer zu sprechen. Ich würde dann gern mit darauf antworten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie vorhin interessanterweise die Bemerkung gemacht haben, daß eine Gründung der PDS in der Bundesrepublik zu neuen Fragestellungen führen könnte, darf ich Sie fragen, ob Sie die Frage der Beobachtung der PDS zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der DDR oder zu einem späteren Zeitpunkt in einem Gesamtdeutschland mit ihren Gesprächspartnern in der DDR als eine dieser gemeinsamen Aufgaben, nach denen Herr Lüder fragte, erörtert haben.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Vielleicht war ich in der Frage der PDS etwas voreilig. Ich habe nur die Perspektive aufgegriffen, die Herr Kollege Jäger angeschnitten hat. Es war meines Erachtens richtig, auch diese Perspektive einer Auffassung entgegenzusetzen, die unter dem Motto, der Linksextremismus sei jetzt verschwunden, er werde nicht wieder auferstehen, zu falschen Entscheidungen führen würde.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage werden nicht gestellt.
Dann rufe ich die Frage 44 des Abgeordneten Lüder auf:
Gibt es solche Gespräche, Verhandlungen oder Vereinbarungen, für die der Militärische Abschirmdienst oder der BND zuständig ist?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, die Antwort lautet einfach nein.
Zusatzfragen? —
Nein.
Dann rufe ich die Frage 45 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf.
Gibt es in der Bundesrepublik Deutschland Überlegungen, im Rahmen der zunehmenden Offenheit und Öffentlichkeit politischer Auseinandersetzungen in beiden deutschen Staaten mehr Daten über den Verfassungsschutz zu veröffentlichen als bisher?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung nimmt Bezug auf die Beantwortung Ihrer Fragen in der Fragestunde am 8. März 1990. Sie sieht derzeit keinen Anlaß, von der dort mitgeteilten grundsätzlichen Übung abzugehen, Strukturdaten des Verfassungsschutzes, wie insbesondere die seit Jahren rückläufige Zahl der Speicherungen personenbezogener Daten, aber auch die Zahl der überwachten Telefonanschlüsse sowie Aufschlüsselungen des Personalbestandes und der Haushaltsansätze, nicht öffentlich bekanntzugeben. Das wäre, wie auf Ihre einschlägige Frage hin am 8. März gesagt, mit den Belangen eines Nachrichtendienstes nicht vereinbar. Welche Regelungen der Gesetzgeber im übrigen in dieser Hinsicht in dem beabsichtigten neuen Bundesverfassungsschutzgesetz treffen wird, bleibt abzuwarten. Wie Ihnen bekannt ist, wird in diesem Zusammenhang derzeit erwogen, die Bekanntgabe einzelner Strukturdaten des Verfassungsschutzes im jährlichen Verfassungsschutzbericht vorzusehen. Soweit sich Ihre Frage auf Überlegungen außerhalb des Bereichs der Bundesregierung bezieht, weist die Bundesregierung darauf hin, daß sie sich in ständiger Übung zur Tätigkeit von Landesstellen nicht öffentlich äußert.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Nachdem Sie sich in der von Ihnen eben erwähnten Fragestunde nur auf allgemeine Geheimhaltungsinteressen bezogen haben, können Sie uns nach der Zeit, die nun vergangen ist, etwas näher darlegen, worin eigentlich eine Gefährdung irgendwelcher Sicherheitsinteressen besteht, wenn Sie, wie auch in anderen Ländern, die Zahl der überwachten Telefonanschlüsse oder vielleicht sogar die Zahl der gespeicherten Personendaten bekanntgeben?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, ich habe am 25. Januar 1990 laut Protokoll und auch nach meiner Erinnerung keineswegs nur mit dem einen Satz, den Sie eingangs zitiert haben, die Situation begründet und die Haltung der Bundesregierung deutlich gemacht. Ich bin gerne bereit — an sich ist es überflüssig — , Ihnen das gesamte Protokoll mit der Fülle von Argumenten zu diesem Thema zu übermitteln. Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn wir erneut in diese Debatte eintreten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Das sollten Sie uns in der Tat ersparen. Die Frage war ja nur, ob es seitdem irgendwelche Fortschreibungen Ihrer Überlegungen gegeben hat.Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß meine Antwort deutlich gemacht hat, was die Haltung der Bundesregierung ist.
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16256 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Der Abgeordnete Lüder hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie bei Ihrer Haltung auch dann bleiben, wenn etwa aus Ländern mit öffentlich tagenden Ausschüssen Derartiges bekannt würde?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung wird immer gute Erfahrungen in ihre Entscheidungen einbeziehen.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Gibt es in der Bundesregierung Überlegungen, ob und wie der Verfassungsschutz bei Herstellung der deutschen Einheit organisiert werden soll?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Zur Zeit befaßt sich eine Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz unter Beteiligung des Bundesministers des Innern mit den Folgerungen, die sich aus dem deutsch-deutschen Einigungsprozeß für den Verfassungsschutz ergeben. Die von Ihnen angesprochenen Fragen werden dabei einzubeziehen sein.
Auch im Bereich der Bundesregierung sind Überlegungen dieser Art bereits angestellt worden. Ergebnisse können indessen auch im Hinblick auf die erwähnte Arbeitsgruppe noch nicht mitgeteilt werden.
Keine Zusatzfrage, Dr. Hirsch? — Danke schön.
Dann rufe ich die Frage 47 des Abgeordneten Irmer auf:
Gibt es Überlegungen in der Bundesregierung, die beabsichtigte Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste im Rahmen des geplanten Zusatzabkommens zum Schengener Abkommen auch auf die Zusammenarbeit mit Dienststellen der DDR auszudehnen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985 hat zum Ziel, die Freiheit des Personenverkehrs durch Verzicht auf Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen der Vertragsstaaten zu gewährleisten. Zur Vermeidung unvertretbarer Sicherheitsrisiken durch den Wegfall der Grenzkontrollen sind Ausgleichsmaßnahmen auf dem Gebiet der inneren Sicherheit erforderlich, die insbesondere eine verstärkte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden der Schengener Vertragsstaaten notwendig machen. Diese Ausgleichsmaßnahmen sind Gegenstand des in Ihrer Frage genannten Zusatzabkommens.
Die neue Situation in Deutschland und der absehbare Wegfall der innerdeutschen Grenze im Zuge der deutschen Vereinigung bedingen naturgemäß eine sich verstärkende Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden der DDR. Diese Entwicklung hat unmittelbare Rückwirkungen auf die Sicherheitsinteressen der übrigen Schengener Vertragsstaaten. Sie ist deshalb Gegenstand der laufenden Verhandlungen, die zur Unterzeichnung des Schengener Zusatzübereinkommens führen sollen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Irmer.
Sind die Verhandlungen der Bundesregierung mit den anderen Vertragsstaaten schon soweit gediehen, daß man sich darauf geeinigt hat, mit welchen Stellen in der DDR man diesbezüglich zusammenarbeiten kann?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, soweit konnte das noch nicht gediehen sein, da man ja auch im Verhältnis zur DDR hier noch im Status nascendi ist.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Sehen die Partner des Schengener Abkommens hier Probleme, wenn sie die Art, Natur und Vergangenheit der einschlägigen Institutionen in der DDR betrachten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Irmer, ich kann jetzt nicht beantworten, welche offen geäußerten oder nur versteckten Bedenken möglicherweise bei den Vertragspartnern vorhanden sind. Vielleicht ergeben die nächsten Gespräche da auch Näheres. Es soll ja am 7. Mai wieder eine Diskussionsrunde stattfinden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder.
Herr Staatssekretär, vielleicht liegt es an meiner mangelnden Aufmerksamkeit. Aber die Antwort auf meine vorhin gestellte Zusatzfrage, die Sie in diesem Zusammenhang geben wollten, vermisse ich.
Um es noch einmal zu verdeutlichen: Sie haben eben von Polizeidienststellen gesprochen, die zusammenarbeiten. Ich hatte nach der Zusammenarbeit der Verfassungsschutze im Hinblick auf das Schengener Abkommen gefragt, weil dazu auch entsprechende Passus im Abkommensentwurf vorgesehen sind.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Vielleicht darf ich in Ergänzung zu den Antworten an den Kollegen Irmer sagen, daß nach meiner Kenntnis der Dinge diese Art von Zusammenarbeit mit den Schengener Partnerstaaten im einzelnen noch nicht erörtert worden ist. Ich bitte um Nachsicht; ich müßte das eruieren. Ich bin gerne bereit, da nachzufragen und Ihnen das Ergebnis schriftlich zu übermitteln.
Ich rufe die Frage 48 des Abgeordneten Irmer auf:Gibt es Konsultationen der Bundesregierung mit Schengener Vertragsstaaten darüber, welche Veränderungen im geplanten Zusatzabkommen zum Schengener Abkommen hinsichtlich der Sicherheitsdienste vorgenommen werden müssen, wenn Deutschland in den Grenzen von 1990 vereinigt ist?Spranger, Parl. Staatssekretär: Die in der Antwort zur vorigen Frage genannten Verhandlungen schließen auch die Situation eines künftig vereinten Deutschlands ein. Aus Sicht der Bundesregierung macht die Vereinigung Deutschlands eine Änderung des vorliegenden Entwurftextes des Zusatzübereinkommens über die Zusammenarbeit im Bereich von Polizei und Sicherheit, Titel III, nicht erforderlich.
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Parl. Staatssekretär SprangerDie Auswirkungen der deutschen Vereinigung liegen in erster Linie bei der praktischen Durchführung dieses Zusatzübereinkommens. Auch von den übrigen Schengener Vertragspartnern sind redaktionelle Änderungswünsche bisher nicht geltend gemacht worden.Es geht z. B. um die Frage, wie in der Übergangszeit bis zur deutschen Vereinigung an der innerdeutschen Grenze und nach der Vereinigung an den Außengrenzen Deutschlands zu Polen und zur Tschechoslowakei die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs nach den Grundsätzen des Schengener Zusatzabkommens gewährleistet werden kann.Eine weitere wichtige Frage, die aber ebenfalls nicht den Text des Zusatzabkommens berührt, betrifft die Behandlung der Deutschen aus der DDR bei Einreise in das Hoheitsgebiet der übrigen Schengener Vertragsstaaten. Es ist das Anliegen der Bundesregierung, daß Deutsche aus der DDR wie Bundesbürger sichtvermerksfrei einreisen können.
Zusatzfrage, bitte sehr.
Liegen Ihnen, Herr Staatssekretär, irgendwelche Erkenntnisse darüber vor, daß in den Vertragsstaaten des Schengener Abkommens in diesem Zusammenhang Ihre Besorgnisse, die Sie vorher in der Antwort auf eine andere Frage im Hinblick auf die PDS geäußert haben, geteilt werden?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Mir liegen dazu keine Erkenntnisse vor.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Irmer.
Die vereinbarte Visafreiheit zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland sowie die beabsichtigte Visafreiheit zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik Deutschland betreffen auch die Partner des Schengener Abkommens. Gibt es Widerstände in den Partnerstaaten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Gegenüber der Visafreiheit im Zusammenhang mit Ungarn und der Tschechoslowakei?
Gegenüber den Vereinbarungen, die hier getroffen werden.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das hängt mit der ursprünglichen Frage wohl nicht mehr zusammen, aber ich glaube, ich kann in Fortführung der Aussagen des Kollegen Schäfer zum Ausdruck bringen, daß es offensichtlich Bedenken gegeben hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder.
Auf dem Parteitag sind wir freundlich miteinander; hier fragen wir nur freundlich. — Herr Staatssekretär, darf ich fragen, ob aus Ihrer Antwort die erfreuliche Tatsache zu entnehmen ist, daß für die Reisefreiheit im Schengener Vertragsgebiet keinerlei
Daten, die bisher von den Sicherheitsdiensten der DDR gesammelt worden sind, Berücksichtigung finden?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das können Sie meinen bisherigen Antworten wohl nicht entnehmen.
Dann müßten wir doch darüber reden.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Sie haben mir etwas unterstellt, was ich meiner Meinung nach nicht gesagt habe. Das habe ich noch einmal bekräftigt.
Herr Präsident, darf ich versuchen, meine Frage zu präzisieren? — Sie haben gesagt — so habe ich Sie verstanden — : Es gibt keine Verhandlungen mit der DDR um die Einbeziehung von Daten im Zusammenhang mit den Sicherheitsdiensten, mit dem Verfassungsschutz.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Zur Zeit, habe ich gesagt.
Am 1. Juli soll das in Kraft treten. Das wird zur Konsequenz haben — das war meine Frage — , daß man Daten von drüben nicht berücksichtigen darf.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Erstens. Wann das in Kraft tritt, ist unbekannt. Zweitens. Was bis dahin geschieht und vereinbart wird, ist ebenfalls unbekannt. Insofern ist die Schlußfolgerung vielleicht etwas voreilig.
Nun bitte ich die Großzügigkeit nicht weiter zu strapazieren. — Bitte sehr, Herr Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie der Meinung sind, daß entgegen den bisher mit Staatsminister Stavenhagen zum Schengener Zusatzabkommen geführten Besprechungen in dem Zusatzabkommen die Vereinbarung einer uneingeschränkten Generalklausel der Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste enthalten bleiben sollte, obwohl sie mit dem Schengener Abkommen eigentlich nichts zu tun hat?
Ich weiß nicht, Herr Kollege Hirsch, was der Kollege Stavenhagen gesagt hat, aber die Schlußfolgerung, die Sie jetzt ziehen, können Sie aus meinen Aussagen auch nicht herleiten.
Dann rufe ich die Frage 49 des Abgeordneten Richter auf:Ist der Bundesregierung bekannt, ob bei dem in der Regel öffentlich tagenden Parlamentsausschuß des Landes Berlin Probleme im Sicherheitsbereich aufgetreten sind, die auch für die Bundesbehörden beachtlich sein können?Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung äußert sich in ständiger Übung nicht öffentlich zu Tätigkeiten von Landesstellen. Sie gibt daher keine Beurteilung zu der Frage ab, ob bei dem in der Regel öffentlich tagenden Parlamentsausschuß des Landes Berlin Probleme im Sicherheitsbereich aufgetreten
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16258 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Parl. Staatssekretär Sprangersind, die auch für die Bundesbehörden beachtlich sein könnten.
Bitte schön, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß es für die Sicherheitserwägungen der Bundesregierung uninteressant ist, was aus Ländern bekannt wird? Denn die Frage ist ja bewußt sauber formuliert.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Es ist völlig klar, wie Sie formuliert haben, und meine Antwort ist auch eindeutig. Die Ablehnung einer öffentlichen Äußerung zur Arbeit von Landesbehörden ist nicht das gleiche wie die Bewertung dieser Tätigkeit durch die Bundesregierung und ihre nichtöffentlichen Schlußfolgerungen aus dieser Tätigkeit.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Dann, Herr Abgeordneter Schreiner, kommen wir zur Frage 50:
Aus welchen Gründen ist das Bundesministerium des Innern der Auffassung, daß einer deutschen Ehefrau christlichen Glaubens sowie ihren erwachsenen Töchtern zugemutet werden kann, als eine Voraussetzung für die von ihrem Ehemann bzw. Vater angestrebte Entlassung aus der iranischen Staatsangehörigkeit, sich mit dem Tschador verschleiert bei dem iranischen Generalkonsulat einzufinden?
Herr Staatssekretär!
Spranger, Parl. Staatssekretär: Der Wartezeit ist auch die Dauer der Antwort gemäß, Herr Kollege Schreiner.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß bisher im Rahmen von Entlassungsverfahren deutschverheirateter iranischer Einbürgerungsbewerber aus der iranischen Staatsangehörigkeit nur Forderungen nach Paßfotos der Ehefrau mit schwarzem Kopftuch bekannt geworden sind. Ich betone, daß es sich hier ausschließlich um Forderungen des Iran und nicht des Bundesministeriums des Innern handelt.
Es sind hier drei Fallgestaltungen zu unterscheiden:
Erstens. Die Botschaft des Iran hat im Jahre 1987 mitgeteilt, daß ein iranischer Staatsangehöriger, dessen Ehe bei iranischen Behörden nicht registriert ist, nur für sich einen Entlassungsantrag zu stellen braucht. Die Einbeziehung der Ehefrau und der Kinder in den Entlassungsantrag eines Iraners mit den in der Frage geschilderten Folgen ist damit in diesen Fällen nicht erforderlich. Fotos mit der Abbildung der verschleierten Ehefrau sind nicht beizufügen.
Zweitens. Nach Mitteilung iranischer Behörden im Jahre 1984 kann die Registrierung einer Ehe nur erfolgen, wenn der deutsche Partner zum Islam übergetreten ist. Diese Forderung des Übertritts der Frau zum Islam wird auch bei sogenannten Alt-Ehen, das heißt Ehen, die zu Schah-Zeiten registriert worden sind, verlangt. Tritt die Ehefrau nicht zum Islam über, ist ihre Ehe nicht gültig, und der Ehemann kann seine Entlassung als Unverheirateter betreiben. Die Ehefrau braucht in diesem Fall ebenfalls kein Paßfoto mit Schador vorzulegen.
Drittens. Ist eine Ehe nach islamischem Ritus geschlossen, von iranischen Behörden registriert und die Ehefrau islamischen Glaubens — sie ist dann nach iranischem Recht auch iranische Staatsangehörige — , so ist sie, ebenso wie ihre aus der Ehe hervorgegangenen Kinder, in den Entlassungsantrag des Ehemannes aufzunehmen.
Die Forderung des Iran, in diesem letztgenannten Fall, Paßfotos der weiblichen Familienangehörigen, auf denen sie mit einem schwarzen Kopftuch abgebildet sind, einzureichen, steht nicht im Widerspruch mit verfassungsrechtlichen und sonstigen grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Was ein Staat im Rahmen seiner Personalhoheit von seinen Staatsangehörigen verlangt, kann nur dann von einem anderen Staat wegen Unzumutbarkeit mit rechtlichen Konsequenzen belegt werden, wenn es als Verstoß gegen seine Ordre public zu werten wäre.
Herr Präsident, ich bitte sehr um Nachsicht, daß die Antwort so lang ausfiel, aber die Kompliziertheit des Sachverhalts ließ eine andere Lösung nicht zu.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß der Abgeordnete Schreiner Ihre Bemühungen zu schätzen weiß. — Bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Vizepräsident, ich muß Sie leider enttäuschen, weil meine Frage nicht beantwortet worden ist. Deshalb will ich die schriftliche Frage, die Frage 50, hier mündlich wiederholen:
Trifft es zu, daß das Bundesinnenministerium der Auffassung ist, daß einer deutschen katholischen Ehefrau sowie den deutschen katholischen Töchtern eines persischen Staatsangehörigen zuzumuten ist, mit dem Schador verschleiert, was von ihnen als Symbol einer reaktionären Frauenhaltung empfunden wird, auf dem persischen Generalkonsulat zu erscheinen, dort Fingerabdrücke auf internationalen Formularen abzuliefern, und das Ganze als eine Voraussetzung für die denkbare Entlassung des Ehemannes bzw. Vaters aus der persischen Staatsangehörigkeit begriffen wird?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, das ist nicht eine Frage der Auffassung des Bundesministeriums des Innern. Es gibt eine Reihe von Gerichtsentscheidungen, die angesichts des Wunsches des Ehemannes, aus der iranischen Staatsbürgerschaft auszuscheiden, und angesichts der Vertragslage aus dem Jahre 1929 ein Entlassungsverfahren zwingend vorschreiben.
Das ist schon wieder nicht richtig. Nun reicht es langsam! Herr Staatssekretär, können Sie mir zustimmen, daß nach Auffassung der obersten Gerichte das Ermessen des Bundesinnenministeriums bei einem Einbürgerunsantrag eines Persers dann gegen Null schrumpfen kann, wenn Forderungen von der persischen Seite erhoben werden, die als nicht vertretbar gelten? Ist es — ich wiederhole jetzt die Frage — nach Auffassung des Bundesinnenministeriums vertretbar, daß in diesem Fall sowohl eine katholische Ehefrau deutscher Staatsangehörigkeit als auch ihre beiden Töchter, mit dem Schador verschleiert, in
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SchreinerFrankfurt zu erscheinen haben? Ist das nach Auffassung des Ministeriums zumutbar? Ist das vertretbar?Spranger, Parl. Staatssekretär: Erstens. Ihren Vorwurf, den Sie eingangs machten, weise ich zurück.Zweitens. Der Sachverhalt, den Sie ganz allgemein beschrieben haben, wann es zumutbar ist oder nicht, ist, da die Einzelfälle das Entscheidende sind, so generell nicht zu beantworten.Drittens. Die Bundesregierung und das Bundesinnenministerium halten sich an die Rechtsprechung und bewerten nicht von sich aus etwas als zumutbar oder unzumutbar.
Das ist ja unglaublich. Sie mißachten das ganze Parlament mit diesem Geschwafel. So kann man das nicht stehenlassen, Herr Vizepräsident.
Herr Abgeordneter Schreiner, dann müssen wir das später klären. Ich kann die Antwort des Staatssekretärs Spranger nicht kritisieren. Wenn er glaubt, diese Antwort so geben zu müssen, dann ist das von mir nicht zu beanstanden.
Der Abgeordnete Irmer hat eine Zusatzfrage. Ich wäre an sich dankbar, Herr Abgeordneter Lüder, wenn Sie auf Ihre Zusatzfrage verzichten könnten; denn wir sind jetzt über die Zeit.
Herr Abgeordneter Irmer.
Herr Staatssekretär, mich interessiert, ob aus der Tatsache, daß viele der Antworten hier doch sehr verschleiert gegeben werden, auf ein Fortschreiten des Islam im Bundesinnenministerium geschlossen werden darf.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, Herr Kollege Irmer, dies können Sie daraus nicht schließen.
Herr Abgeordneter Lüder, bitte schön.
Herr Präsident, die Frage, die ich stelle, ist mit Ja oder Nein zu beantworten.
Herr Staatssekretär, wäre ein Fall, wie er vom Kollegen gebildet worden ist, nach Ihrer Auffassung unzumutbar oder nicht? Ja oder nein?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, darf ich daran erinnern, daß so, wie Herr Schreiner das beschrieben hat, mindestens drei Fallgestaltungen denkbar sind, davon zwei, die überhaupt nicht zu der genannten Konsequenz führen. Bei dem dritten Fall, den ich geschildert habe, entspricht es der Verfassungsrechtslage, unter Anerkennung der Vertragslage, zu sagen: Es ist angesichts der von der Rechtsprechung bestätigten rechtlichen Notwendigkeit, diesen Vertrag zu erfüllen, zumutbar, daß der Forderung des Iran entsprochen wird.
Herr Abgeordneter Schreiner, ich kann jetzt nicht eine Debatte über dieses Thema zulassen, so interessant sie zu werden scheint. Es tut mir schrecklich leid. Die Fragestunde ist zu Ende.
Nun kommen wir zum Zusatztagesordnungspunkt 3:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu militärischen
Flugübungen über bewohntem Gebiet
Diese Aktuelle Stunde wurde von der Fraktion der SPD gemäß unserer Geschäftsordnung beantragt.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Zunächst einmal hat die Abgeordnete Frau Hämmerle das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie durch ein Wunder entging die Stadt Karlsruhe einer Katastrophe. „Absturz zweier kanadischer Düsenjäger über dem Stadtgebiet" : So begannen am Dienstag nach Ostern die Meldungen des Rundfunks und des Fernsehens. Wir haben es alle gehört. Was wäre heute, wenn es das Wunder nicht gegeben hätte: Hunderte von Toten, spielende Kinder in den Osterferien erschlagen, ahnungslose Passanten durch Trümmer verletzt oder getötet, brennende Häuser. Dies ist keine bloße Horrorvision. Nein, dies wäre beinahe zur grausigen Wirklichkeit in meiner Heimatstadt geworden. 200 m Luftlinie von meinem Haus schlugen der Rumpf, Tragflächen und der tote Pilot auf. Wenn man bedenkt, daß in Sichtweite der Hauptabsturzstelle Millionen Liter Rohöl in den Raffinerien am Rhein lagern und daß sich ebenfalls unweit davon das Kernforschungszentrum befindet, dann wird klar, welche Katastrophe zum Greifen nahe war, Entfernungen, die für die Geschwindigkeit dieser Maschinen nur Sekunden bedeuten.Wut und Entsetzen hat die Bevölkerung ergriffen. Wut vor allem aus zwei Gründen: erstens, weil überhaupt eine Luftkampfübung über dem Stadtgebiet von Karlsruhe und Bruchsal stattgefunden hat, und zweitens, weil noch Stunden nach dem Unglück Düsenjäger über der Stadt gekreist sind. Ich habe den letzten um 18.22 Uhr abdrehen sehen, um 16.00 Uhr aber war das Unglück. Als Erklärung wurde dazu gesagt, es sei nicht möglich gewesen, die Piloten so schnell über den Vorfall zu unterrichten und zum Abdrehen aufzufordern.
Dies ist so absurd, daß die Menschen sich an der Nase herumgeführt fühlen müssen.Aber mit dieser Antwort war es noch nicht genug. Nicht nur am Dienstag, nein, auch am Mittwoch und den ganzen Donnerstag wurde weitergeflogen. Was für eine Stillosigkeit, was für ein Mangel an Gespür, und was für eine Verächtlichmachung der Menschen, die die Angst ergriffen hat!
Die Präsidenten Bush und Mitterand haben am vergangenen Freitag in Florida erklärt, daß ein vereintes Deutschland die volle Souveränität haben müsse. Die Karlsruher Bevölkerung hat auf einer großen Demonstration am Samstag erklärt: Wir wollen keine Tief-
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Frau Hämmerleflüge und keine Luftkampfübungen mehr. — Das ist unsere Souveränität.
Wir wollen keine Tiefflüge, und wir brauchen sie auch nicht. Die politischen Veränderungen in Ost und West machen diese Flüge überflüssig, sie bedrohen nur noch Leib und Leben der Bevölkerung.
Was muß eigentlich noch passieren? Genügt Ramstein nicht, genügt Forst bei Bruchsal nicht, genügt Remscheid nicht? Die Bevölkerung stellt voller Wut und Groll fest, daß die Verantwortlichen aus dem Leid und dem Tod der Menschen, auch dem der Piloten und ihrer Angehörigen, nichts lernen. Ich fordere für die betroffene Bevölkerung die sofortige Einstellung der Tiefflüge und der Luftkampfübungen. Die Erfüllung dieser Forderungen und der Abzug der Truppen ist eine ganz neue Qualität der Abrüstung. Aber wir werden im Südwesten Zeugen eines verwirrenden Vorgangs. CDU-Abgeordnete, wie z. B. Heiner Geißler, und CDU-Organisationen stellen sich in der Region als energische Gegner dieser Flüge dar, stimmen aber in Bonn, wie z. B. am 29. September letzten Jahres, gegen einen SPD-Antrag, der einen TiefflugStopp fordert.
Auch der Bundesrat hat am 10. November 1989 eine Entschließung verabschiedet, die von der Regierung sofort keinen Tiefflug unter 300 m und keine Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet verlangt.
Ich gehe weiter. Meine persönliche Forderung heißt: überhaupt keinen Tiefflug mehr, überhaupt keine Luftkampfübungen mehr.
Wer weiterhin Tiefflug und Luftkampf zuläßt, macht sich mitschuldig an einem nächsten Absturz, bei dem es dann kein Wunder mehr geben wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Unfall über Karlsruhe muß uns innehalten lassen, und er muß uns nachdenklich stimmen.
Nachdenklich stimmen heißt, genau zu überdenken, was der Tod eines jungen Piloten und die gerade noch verhinderte Katastrophe für die politische Verantwortung bedeuten.
Ich denke, daß man das Ganze auf dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Situation sehen muß. Diese sicherheitspolitische Situation — das ist für mich eindeutig — hat sich gegenüber der sicherheitspolitischen Situation der Vergangenheit geändert. Sie hat sich insofern geändert, als das Risiko eines Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland
und unsere Verbündeten gegen Null geht.
Das heißt, meine Damen und Herren, daß man Flugübungen, ob dies Luftkampfübungen in der Art, wie sie über Karlsruhe stattgefunden haben, oder Tiefflugübungen sind, für die Zukunft unter anderen Gesichtspunkten sehen muß.
Ich möchte zunächst sagen, daß auch in Zukunft Übungen stattzufinden haben. Aber es ist nicht mehr zu verantworten, daß in einer Art und Weise geübt wird, als wenn keine politische Veränderung in Ost-und Mitteleuropa stattgefunden hätte.
Meine Damen und Herren, hier gilt es Unterschiede zu machen hinsichtlich dessen, was die Bundesluftwaffe tut, und dessen, was von den verbündeten Streitkräften praktiziert wird. Was Luftkampfübungen angeht, so trainiert die Bundesluftwaffe heute, im Jahre 1990, nur noch zu 14 To über Land, 86 To werden über See oder im Ausland geübt.
— Das sind die Zahlen, die uns von der Bundesluftwaffe zur Verfügung gestellt werden.
Ich bin der Meinung, daß wir uns dafür einsetzen müssen — und das ist meine Bitte, die ich an den Verteidigungsminister richten möchte — , daß sich die alliierten Streitkräfte hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland genauso verhalten wie die Bundesluftwaffe.
Nun könnte man leger sagen: Bei der Bundesluftwaffe 86 % im Ausland oder über See, das gilt auch für die alliierten Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland; auch das ist Ausland. Aber ich denke, hier gilt es erhebliche Unterschiede zu machen. Die Bundesrepublik Deutschland ist mehr als andere Länder ein sehr dicht besiedeltes Gebiet. Hier gelten andere Gesichtspunkte.Ich glaube, meine Damen und Herren, daß die Haltung der SPD, kategorisch zu sagen, wir könnten es verantworten, in Zukunft überhaupt keine Flugübungen mehr zu machen,
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Breuernicht realistisch ist. Das könnte auch ich nicht verantworten.
Die Zielsetzung muß sein, daß wir die neue politische Situation erkennen,
drastisch reduzieren und insofern Einschränkungen machen, als daß besondere Risiken, die beispielsweise von Übungen über großen Städten, von Übungen über kerntechnischen Anlagen und anderen Industrieanlagen ausgehen, durch klare Einschränkungen weiter vermindert werden. Das muß die Zielsetzung sein.Ich denke, es ist noch ein anderes notwendig: Es gibt eine neue politische Situation. Früher war die Abrüstungsinitiative vor der politischen Entwicklung. Heute ist die politische Entwicklung vor der Abrüstung. Das hat sich überrollt.
Es ist notwendig, daß wir dieser neuen politischen Situation Rechnung tragen. Wir müssen Übungskonzepte entwickeln, die für die Zeit, wo gleichzeitige und gleichgewichtige Abrüstung noch nicht möglich ist — sie wird kommen, davon bin ich überzeugt —, den Konsens mit der Bevölkerung, aber gleichzeitig auch das Funktionieren der Landesverteidigung möglich machen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Zehn Abstürze, 200 Tote, das ist die traurige Bilanz militärischer Übungsflüge. Immer wieder BeinaheKatastrophen, die hier noch nicht mitgezählt sind.Wir haben heute wunderschönes Wetter. Wir haben Sonne, und wir haben eine Regierung, die die Bevölkerung durch ihre unvernünftige Beibehaltung von militärischen Kampfübungen dazu gebracht hat, daß sie sich zum Teil nicht mehr über diese Sonne freuen kann; denn schönes Wetter ist der Startbefehl für Tiefflieger, für Luftkampfübungen, weil es sich dann am besten üben läßt.Herr Stoltenberg, es reicht. Der Warschauer Vertrag löst sich auf. Und die NATO spielt mit Ihrem Einverständnis über dem Gebiet der Bundesrepublik den Krieg.Während der Tiefflug und die Luftkampfübungen zu einer unerträglichen Belastung in der Bevölkerung geworden sind, übt sich vor allem das Bundesverteidigungsministerium in der Akrobatik des Rechtfertigungskampfes für die Beibehaltung militärischer Übungsflüge und vor allen Dingen offensiver Angriffsübungen. Die Haltung der Bundesregierung zu diesem Thema ist eindeutig: Gut eine Woche nach dem Absturz, nämlich heute, stimmt sie dem Wiedereinsetzen der Luftkampfübungen der kanadischen Flieger mit den gleichen Maschinen ab Montag zu; das ist heute morgen bekanntgeworden. Das ist ein ungeheurer Skandal und eine Ignoranz gegenüber der Bevölkerung.Ich möchte kurz aus der ersten Stellungnahme des Bundesverteidigungsministeriums zitieren, die in gravierender Art an die Äußerungen von Herrn Scholz erinnert, der diese Politik auf Dauer nicht rechtfertigen konnte:Die kanadische Luftwaffenführung wurde gebeten, die Unfallursachen rasch und umfassend aufzuklären und über das Ergebnis und mögliche Folgerungen zu unterrichten.Das ist die Reaktion, ohne auf die Sorgen der Bevölkerung einzugehen, ohne den gestorbenen Piloten auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Diese Erklärung, Herr Stoltenberg, ist der Versuch, jede Verantwortung des Bundesverteidigungsministeriums auf die Alliierten abzuschieben.Ihre zweite Sorge gilt der Flugsicherheit eines Erdkampfflugzeuges, das mit Luft-Luft-Lenkwaffen bestückt werden kann. Fahrlässige Ignoranz zeigen Sie bezüglich der Sicherheit der Menschen, die diese Maschinen fliegen, und der Sicherheit der vom Luftkampfterror bedrohten Bevölkerung.Das Festhalten an Luftkampfübungen und am Tiefflug ist ein Verstoß gegen die Fürsorgepflicht und die Schutzaufgabe der Bundesregierung gegenüber der Bevölkerung in der Bundesrepublik, aber auch gegenüber anderen Menschen.
Es ist das bewußte Ignorieren der Chance, angesichts der Veränderungen in Osteuropa den Kalten Krieg und militärische Abschreckung endlich, endlich zu beenden. Statt dessen werden neue Bedrohungsängste und -bilder aufgebaut. Die Luftkampffähigkeit gegenüber Ost und Süd soll angesichts der Rüstungsbeschränkungen, über die gerade in Wien verhandelt wird, erhöht werden.Die Stellungnahmen der FDP und der SPD sind bei weitem nicht weitreichend genug. Das vorgestrige Lippenbekenntnis der SPD zur NATO macht deutlich, daß eine abrüstungsunwillige NATO nicht dazu führen wird, Tiefflugübungen und alles andere an aggressiven Operationen einzustellen.
Herr Kollege Feldmann, es ist unlauter, durch eine Verlagerung auf See oder in die Türkei — etwa nach Konya — , wo genauso Menschen leben, Sicherheit vorzugaukeln. Es gibt nur eine Alternative, die wir als Antrag eingebracht haben: Abschaffung sämtlicher Militärübungen und sämtlicher Übungsflüge. Selbst nach dem Bundeswehrverständnis macht das keinen Sinn mehr. Was Sie sich leisten, ist die Gefährdung der Bevölkerung in Friedenszeiten und das Verspie-
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Frau Beerlen der möglichen Sicherheit in einer neuen Friedensordnung, die Sie nicht begreifen wollen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Karlsruhe ist am 17. April 1990 knapp einer Katastrophe entgangen. In der Stadt schlugen die verunglückten Flugzeuge und über 200 Flugzeugtrümmer ein. Jedes davon hätte Menschen töten können. Auch der Sachschaden war beträchtlich, ganz zu schweigen von dem Schock für die Menschen.
Unser Mitgefühl gilt aber auch den Angehörigen des kanadischen Piloten, der beim Absturz ums Leben kam. Seiner Familie und den kanadischen Streitkräften möchte ich im Namen der FDP-Fraktion unser Beileid aussprechen.
Wir sind nicht im Krieg. Wir können daher nicht so weitermachen wie bisher.
Es geht heute nicht nur um Karlsruhe. Die Kette tragischer Unfälle mit Militärflugzeugen reißt nicht ab. Dieses Unglück hätte jede andere Stadt im Bundesgebiet treffen können. Es ist schon Schlimmes passiert; aber jeden Tag kann noch Schlimmeres passieren, wenn so weitergeflogen wird wie bisher. Eine Katastrophe kann nicht ausgeschlossen werden. Daran sollten wir gerade heute, am vierten Jahrestag von Tschernobyl, denken.
Diese Unfälle haben nicht nur die Piloten zu verantworten. Verantwortlich ist letztendlich die Politik.
Die Politik definiert den Verteidigungsauftrag. Sie bestimmt, womit, wo und wieviel geflogen wird. Wir sind daher als Parlament gefordert, Konsequenzen zu ziehen.
Die Risiken militärischer Flugübungen sind in unserem dicht besiedelten Land besonders hoch. Dennoch findet in keinem Land der Welt ein solch intensiver militärischer Flugbetrieb statt wie bei uns. Diese Risiken sind weder unserer Bevölkerung noch den Piloten weiter zuzumuten. Ost und West sind nicht mehr im Kalten Krieg. Wir sind auf dem Weg von der Konfrontation zur Kooperation, auf dem Weg zu einer blockübergreifenden kooperativen Sicherheitspolitik.
Die sicherheitspolitische Lage in Europa hat sich grundlegend geändert. Das muß in unserer Verteidigungspolitik stärkere Berücksichtigung finden. Die FDP hat bereits auf ihrem Wiesbadener Parteitag 1988 einen umfassenden Forderungskatalog zur Reduzierung der militärischen Flugbewegungen verabschiedet. Wir anerkennen, daß erste Schritte in dieser Richtung getan wurden, Herr Verteidigungsminister. Dabei ist die Bundesluftwaffe vorangegangen. Wir anerkennen, daß auch in Verhandlungen mit den Alliierten einiges erreicht wurde. Angesichts der erreichten militärischen und politischen Entspannung reicht das allerdings bei weitem nicht aus.
Das Luftverteidigungskonzept der NATO muß der sicherheitspolitischen Entwicklung entschiedener angepaßt werden.
Wir müssen die Risiken neu bewerten — ich meine, da werden auch Sie zustimmen, Frau Beer — und die Sicherheitsvorschriften diesen Risiken unverzüglich anpassen.
— Frau Beer, wir können uns als Regierungskoalition diesen Dingen nur etwas differenzierter nähern und werden das nicht so pauschal abtun, wie Sie es im allgemeinen machen.
Die FDP hat am Dienstag auf meine Initiative ein Bündel von Sofortmaßnahmen beschlossen. Jetzt hören Sie gut zu, damit Sie nicht wieder Falsches behaupten. Wir fordern, Luftkampfübungen drastisch einzuschränken
und soweit wie möglich bis auf weiteres nur über See durchzuführen. Darüber muß schnellstens mit den Alliierten verhandelt werden. Ab sofort sind Luftkampfübungen der Bundesluftwaffe nur noch in einem deutlichen Sicherheitsabstand zu Städten und Risikoobjekten wie kerntechnischen Anlagen oder chemischen Fabriken zu erlauben.
Von den Bündnispartnern erwarten wir die Bereitschaft, Auflagen, die der Bundesminister für Verteidigung im Interesse der Sicherheit für den militärischen Flugbetrieb der Bundesluftwaffe erläßt, zu übernehmen. Wir fordern Verhandlungen mit den Alliierten über die bündniseinheitliche Definition ausreichender Risikozonen um Städte und Risikoobjekte.
Zum Schluß: Die Zulassung des Flugbetriebs der kanadischen F-18-Flugzeuge darf erst dann wieder erteilt werden,
wenn überzeugend dargelegt wird, wie das hohe Absturzrisiko dieser Maschinen —
sei es auf Grund menschlicher oder technischer Mängel — drastisch verringert werden kann.
Die FDP will diesen Maßnahmenkatalog auch als ein abrüstungspolitisches Signal verstanden wissen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Heistermann.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man liest, daß der Absturz der beiden kanadischen Düsenjäger seit 1980 der 140. Absturz von militärischen Strahlflugzeugen in der Bundesrepublik war und der 23., der bei Luftkampfübungen passierte, könnte man meinen, daß eigentlich nichts Außergewöhnliches passiert ist. Wieder einmal ist ein Düsenjäger abgestürzt.
Darf man eigentlich so denken? Ich denke: Nein, so darf man nicht zur Tagesordnung übergehen.
Der Verteidigungsminister bittet in diesem Fall die kanadische Luftwaffe, Unfallursachen rasch und umfassend aufzuklären und über das Ergebnis und mögliche Folgerungen zu unterrichten. So seine Erklärung vom 18. April 1990. Herr Minister, wer hat denn hier eigentlich mögliche Folgerungen zu ziehen: die Kanadier oder wir?
Als Ergebnis kommt nach längerer Zeit, wenn das öffentliche Interesse bereits merklich nachgelassen hat, heraus, daß es sich bei der Ursache entweder um menschliches oder technisches Versagen handelt. Damit ist dann bis zum nächsten Absturz erst einmal wieder Ruhe an der Fliegerfront; denn die Anträge der SPD, den Tiefflug und die Luftkampfübungen über der Bundesrepublik einzustellen, wurden von den Regierungsfraktionen mit schöner Regelmäßigkeit abgelehnt. So geschehen selbst nach den fürchterlichen Abstürzen in Remscheid und in Ramstein.
Das, was sich in den letzten Jahren abgespielt hat, ist nicht mehr zu ertragen. Im Verteidigungsausschuß, im Unterausschuß „Militärischer Fluglärm" und auch im Plenum des Deutschen Bundestages wurden wahre Hymnen auf die absolute Notwendigkeit des Tiefflugs und der damit verbundenen Tiefflugausbildung gesungen. Wer es wagte, Sinn und Nutzen der bisherigen Luftverteidigungskonzeption in Frage zu stellen, wurde doch mit allerlei Verdächtigungen überzogen.
Wer auf die Gefährdungspotentiale wie Kernkraftanlagen und chemische Industriebetriebe hinwies, wurde der Schwarzmalerei geziehen.
Man muß es doch deutlich aussprechen: Wir haben Glück gehabt, daß keine Großanlagen und — das ist noch wichtiger — keine großen Wohnsiedlungen betroffen waren.
Aber gilt das auch für das nächste Mal?
Kollege Breuer, wir hören auf Ihre Zwischentöne. Wir hoffen, daß es nicht nur Worte bleiben, sondern daß es Taten werden.
Dabei hätte es die großpolitische Wetterlage in Europa schon längst geboten, neue Wege einzuschlagen. Die Entspannungssignale im Ost-West-Verhältnis wurden ignoriert. Die Bundesrepublik Deutschland hat damit zugelassen, daß die Akzeptanz des verteidigungspolitischen Auftrages der Bundeswehr und der Alliierten dramatisch gesunken ist.
Für die Bundesregierung kommt die Nagelprobe am 9. Mai 1990; denn an dem Tag muß sie verbindlich erklären, ob sie dem SPD-Antrag auf sofortige Einstellung aller Luftkampfübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland folgen wird. Das Aussetzen der Abstimmung über unseren Antrag in der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses ist eine Chance, endlich aus dem bisherigen Denken auszusteigen. Diese Chance zu einem gemeinsamen Neubeginn sollte von uns allen genutzt werden.
Militärisch jedenfalls gibt es keine Begründung dafür, daß Luftkampfübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland stattfinden müssen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam dafür sorgen, derartige Luftkampfübungen sofort einzustellen, auch wenn wir damit die Unglücke der Vergangenheit mit ihren schrecklichen Folgen nicht ungeschehen machen können. Gefragt ist jetzt die menschliche Vernunft. Geben wir ihr gemeinsam eine Chance.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind alle erschüttert über den Tod eines hochqualifizierten Soldaten unseres Verbündeten Kanada,
eines Soldaten, der unsere gemeinsame Freiheit, die des Bündnisses, verteidigen wollte, der sich dafür ausgebildet hat; eines Bündnisses, das wie kein anderes in der Welt dadurch erfolgreich war, daß es eine funktionierende Abrüstung erreichen konnte, das besonders in der Zukunft erfolgreich sein will, weil es nämlich stabilisiert, Abrüstungsverhandlungen führt und dann eines Tages mit Verträgen ein Ergebnis erreichen kann, das diese Flüge — so hoffen wir — nicht mehr notwendig macht.Wir sollten eigentlich viel mehr darüber erschüttert sein — ich bedauere, daß das bisher noch keine Rolle gespielt hat — , daß auch heute noch, 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, fast 400 000 sowjetische Soldaten auf deutschem Boden stehen
mit modernster Rüstung nicht nur für eine Armee oder für ein Heer, sondern mit Tausenden von Kurzstrekkenraketen, chemischen, konventionellen, nuklearen Waffensystemen
und vor allen Dingen mit Hunderten modernsten Flugzeugen, denen wir von deutscher Seite gar nichts entgegenzusetzen haben.
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LowackDas wiederum bedingt, daß wir nur im Verbund mit unseren Alliierten in der Lage sind, die Luftverteidigung vernünftig aufzubauen.Ich bedauere, daß die Erschütterung über den Tod eines Soldaten zum Teil ausgenutzt wird, um mehr oder weniger opportunistische Gründe vorzuschieben.
Es geht gar nicht so sehr darum, daß man echte Erschütterung zeigt, sondern man möchte die Gunst der Stunde nur nutzen, um von seiten der Opposition in irgendeiner Art und Weise beim Bürger gut anzukommen.
Man sollte auch einmal anerkennen, was in der Zwischenzeit geleistet wurde.
— Liebe Frau Kollegin Schulte, die Flugzeuge, die wir heute fliegen, sind alle in der Zeit der sozialliberalen Koalition eingeführt worden.
Die Anzahl der Tiefflüge und die Anzahl der Flüge, die für die Luftkampfübungen notwendig sind, sind seit 1982 permanent und drastisch reduziert worden.
Sie haben es ja gehört: Nur noch 14 % der Flüge werden heute über Land durchgeführt; die anderen bereits über dem Meer oder im Ausland.Vielleicht an dieser Stelle ein kleiner Hinweis: Sie wissen, daß die Luftkampfausbildung deswegen auch ein Problem über unserem Territorium bleibt, weil sie nur dann wirklich abschreckend wirken kann, wenn wir den Vorteil der Kenntnis des eigenen Geländes nutzen können. Nur dann dient sie ihrer Aufgabe, wirklich die Spitze der Abschreckung darzustellen.
Für mich ist der entscheidende Ansatz — da sollten wir zusammenarbeiten — , daß wir möglichst schnell bei den anstehenden Wiener Verhandlungen die Sowjetunion davon überzeugen können, daß tatsächlich die Obergrenze an Fluggeräten so reduziert wird, daß diese Art von Übungen in Zukunft entfallen kann. Da brauchten wir Unterstützung und Ihre Hilfe.Da frage ich, warum die Sowjetunion gerade in diesem Bereich nicht bereit ist nachzugeben, weshalb sie über den NATO-Vorschlag hinaus fast 4 000 Kampfflugzeuge mehr in ihren Arsenalen behalten will.
Dort wird die Auseinandersetzung geführt. Wenn wirdort zu vernünftigen Ergebnissen kommen, dann— so hoffe ich — können wir auch eines Tages das, was heute noch notwendig ist, nämlich die Durchführung von Luftkampfübungen über dem Bundesgebiet, so stark reduzieren, daß Gefahren weitgehend auszuschließen sind.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe die herzliche Bitte, daß wir über allem, was uns nach so einem furchtbaren Unfall bewegen kann, nicht vergessen: Es geht immer noch darum, daß wir auf lange Sicht unseren Frieden stabil halten, indem wir nicht vorzeitig alles aufgeben, was bisher den Frieden erhalten hat, sondern indem wir das in vernünftige Verhandlungen einbringen.Danke schön.
Das Wort hat noch einmal die Abgeordnete Frau Beer.
— Es war Ihr Wunsch, Frau Abgeordnete.
Ich hatte gehofft, daß sich der Verteidigungsminister vorher zu Wort melden würde.Ich möchte noch einmal ganz deutlich machen, was Tiefflug eigentlich bedeutet. Tiefflug heißt: Militärische Manöver und Übungen — egal, ob am Boden oder in der Luft — sind eine Bedrohung für den Frieden. Sie dienen der Vorbereitung und der Führbarkeit von Kriegen. Das ist das, was wir verhindern und abschaffen wollen und müssen, um glaubhaft zu bleiben.Ich möchte auch folgendes noch einmal ganz deutlich sagen — vor allen Dingen zur SPD — : Sie wissen sicherlich, daß die Bundesregierung auf meine Frage, wann mit der Verlegung der Tiefflüge zu rechnen ist, am 12. April 1990 geantwortet hat, daß die AIR FORCE SUB GROUP — das ist diejenige Stelle der NATO, die diese Entscheidung trifft — der NATO empfiehlt, das NATO Tactical Fighter Center — das ist die Ausbildungsstätte für die Luftkampfübungen der NATO — , nach Konya in der Türkei zu verlegen. Zu deutsch heißt das: Die Bundesregierung weiß, daß der Widerstand in der bundesdeutschen Bevölkerung, die Bewegung dagegen weit über alle Parteien hinweg zu stark geworden ist und daß man diesen elementaren Angriffsflug woanders üben muß.Es ist ebenso menschenverachtend, diese Übungen in andere Gebiete zu verlagern. Menschenrechte sind nicht auf Gebiete begrenzt — weder auf bundesdeutsches Gebiet noch auf andere Gebiete —, sondern es geht um das Existenzrecht.
Ich hoffe, daß sich die Sozialdemokraten in diesem Punkt weiter hervortrauen, d. h. nicht nur Luftkampfübungen hier ablehnen, sondern definitiv sagen: Sicherheitspolitisch, friedenspolitisch, militärisch gibt es hierfür keine Rechtfertigung mehr.Der Wert des Lebens der Menschen ist höher als das, was hier an Kriegsübungen durchgeführt wird. Wir dürfen bitte in dieser Diskussion nicht davon aus-
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Frau Beergehen, daß Todesopfer gang und gäbe bei Tiefflügen sind. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, daß jedes einzelne Opfer — ganz egal, ob aus dem Kreis der Soldaten oder aus der Zivilbevölkerung — zuviel ist und durch nichts gerechtfertigt werden kann.Wir möchten von Ihnen eine Stellungnahme dazu hören, wie Sie diese Vorfälle und die nächsten Unglücke legitimieren wollen; denn das tun Sie hier die ganze Zeit.
Nun hat noch einmal der Abgeordnete Dr. Feldmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand will den Verteidigungsauftrag vernachlässigen, Herr Kollege Ortwin Lowack, aber der Sicherheit der Menschen gebührt Vorrang, vor allem in Zeiten politischer und militärischer Entspannung.
Natürlich liegen in Wien noch keine befriedigenden Ergebnisse vor. Wir wollen die drastische Einschränkung aller Luftkampfübungen aber gerade auch als ein Signal für Wien verstanden wissen.
Wir können uns dieses Signal leisten; ein Signal ist keine Festlegung.
Unabhängig von Wien fordern wir aber erstens, Luftkampfübungen bis auf weiteres möglichst nur noch auf See durchzuführen, und zwar zumindest so lange, bis die Sicherheitsbestimmungen für alle Bündnisstreitkräfte den jeweiligen Risiken angepaßt sind.
Zweitens. Wir brauchen differenzierte und gestaffelte Sicherheitszonen im Umkreis von Städten und Risikoobjekten, die die Einwohnerzahl und den Gefährdungsgrad berücksichtigen. Diese Zonen sollten möglichst nach bündniseinheitlichen Kriterien definiert werden und für die Luftstreitkräfte aller Bündnispartner verbindlich sein. Die Luftverkehrsordnung allein kann den besonderen Risiken des militärischen Flugverkehrs nicht gerecht werden. Die wenigen Auflagen für den militärischen Flugbetrieb, z. B. das Tiefflugverbot über Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, sind nicht ausreichend.
Gerade Karlsruhe zeigt, daß die Gefährdung der Bevölkerung und der Piloten auch bei sogenannten normalen Luftkampfübungen in derselben Weise gegeben ist.
Drittens ein Wort zum Faktor Mensch. Zwölf der 13 Abstürze kanadischer F-18 sollen auf menschliches Versagen zurückzuführen sein. Das muß uns zu denken geben. Die gestern von den Kanadiern angekündigte Wiederaufnahme des Flugbetriebes mit
F-18-Maschinen scheint mir voreilig und stößt auf unseren entschiedenen Protest.
Wir sollten uns eine Flugpause gönnen — auch zum Nachdenken —, bis die Ursache der Unfälle wirklich geklärt ist und eine Wiederholung nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden kann.
Viertens. Es geht zu allererst um mehr Sicherheit für unsere Bevölkerung. Es geht aber auch um die Akzeptanz unserer Sicherheitspolitik, um die Akzeptanz der Streitkräfte und des Bündnisses. Schon die Fluglärmdebatte hat gezeigt, daß die Bürger immer weniger bereit sind, diese Belastungen hinzunehmen, weil sie in diesem Ausmaß nicht einzusehen sind.
Das gilt in noch stärkerem Maße, wenn es nicht um Lärm, sondern wenn es um Sicherheit geht.
Eine Sicherheitspolitik — Frau Beer, da werden Sie mir vielleicht zustimmen —, der es nicht gelingt, die Gefährdung der eigenen Menschen auf ein Minimum zu reduzieren, läuft in einer Demokratie Gefahr, daß sie überhaupt nicht mehr akzeptiert wird.
Und zum Schluß: Die Forderungen des Stadtrats von Karlsruhe sind berechtigt: umgehende und umfassende Aufklärung der Unglücksursachen, Verzicht auf militärische Überflüge, vor allem auf Luftkampfmanöver über bewohntem Gebiet. Berechtigt ist auch der deutliche Protest des Städtetages von Baden-Württemberg, der von den Oberbürgermeistern von Karlsruhe und Mannheim unterschrieben wurde.
Wir sind als deutsches Parlament gefordert, den Sicherheitsinteressen unserer Bürger absolute Priorität zu geben.
Die FDP fordert den Bundesverteidigungsminister auf, diese Interessen mit allem Nachdruck gegenüber den Alliierten zu vertreten.
Die Bundesluftwaffe muß hier mit gutem Beispiel vorangehen. Aber wir erwarten von den Alliierten, daß sie diesem Beispiel folgen, soweit sie auf deutschem Territorium üben. Wir müssen zu einer drastischen Reduzierung von militärischen Flugbewegungen kommen.
Vielen Dank.
Nun hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Stoltenberg, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Auftrag und die Ausbildung der Luftfahrzeugbesatzungen der Luftwaffe und ihrer Verbündeten ist nicht
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16266 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Bundesminister Dr. Stoltenbergzum ersten Mal Gegenstand einer Debatte in diesem Hohen Hause.
Es ist sicher immer wieder notwendig, die Rahmenbedingungen zu prüfen, um Sicherheit zu verstärken; Sicherheit allerdings unter verschiedenen Aspekten: natürlich für die Piloten selbst, für unsere Bürger und Sicherheit für unser Land.Eindeutig ist der Wille der Bundesregierung, gemeinsam mit den Verbündeten und den übrigen Staaten Europas eine Sicherheitsstruktur zu erreichen, welche Frieden und Stabilität mit wesentlich verringerten Streitkräfteumfängen, Waffenumfängen und auch weniger Übungen gewährleisten kann, wobei wir bei den Übungen in allen Bereichen bereits eine erhebliche Verringerung veranlaßt haben.
Dieses Ziel verfolgen wir bei den Verhandlungen in Wien. Wir gehen auch weiter davon aus, daß sie in diesem Jahr zu einem ersten Abkommen führen. Allerdings muß man bei der Diskussion über Flugzeuge auch in diesem Hohen Haus zur Kenntnis nehmen, was die internationale und deutsche Presse in den letzten Tagen bestimmt hat: Die Verhandlungen in Wien stocken an einem wichtigen Punkt, weil die Sowjetunion darauf besteht, statt der Obergrenze von 4 700, die das westliche Bündnis für Kampfflugzeuge für West und Ost vorgeschlagen hat, fast 7 500 Flugzeuge zu behalten. Deswegen ist es sinnvoll, hier nicht nur kritisch über unsere Verbündeten zu reden, sondern auch an die Sowjetunion zu appellieren, ihren Beitrag zu einem baldigen Erfolg dieser Abrüstungsvereinbarungen mit wesentlich weniger Flugzeugen zu leisten.
Aber auch nach der Abrüstung brauchen wir weiterhin moderne Streitkräfte als Rückversicherung gegen die Unwägbarkeiten geschichtlicher Entwicklungen. Luftstreitkräfte und damit auch die Luftwaffe sind und bleiben auch im verringerten Umfang Teil unseres künftigen Sicherheitskonzepts.
Das bedeutet, daß ihnen Übungsmöglichkeiten eingeräumt werden müssen, um ihre volle Einsatzbereitschaft im Falle einer Krise herzustellen.Wir haben ja nun mit dem Tiefflugbericht im September vergangenen Jahres — abgestimmt mit den Verbündeten — ein Konzept vorgestellt, das durch ein umfassendes Bündel verschiedener Maßnahmen eine deutliche Verringerung der Lärmbelästigung, aber auch des Tiefflugs in niedrigen Höhen bringt. Es stellt unter den damals gegebenen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, wie ich glaube, einen vertretbaren Kompromiß zwischen den Einsatzbereitschaftsforderungen und dem berechtigten Interesse der Bevölkerung dar. Schon damals hat die Bundesregierung ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, alle Möglichkeiten zu weiteren Entlastungen zu nutzen, sobald sie sich bieten.Seit dem Herbst 1989 hat sich die politische Landschaft nachhaltig und positiv verändert. Dies wird, wenn wir angesichts der Fortschritte bei den Wiener Verhandlungen jetzt Abkommen erreichen, eine Einschätzung begründen, daß sich die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung deutlich verringert hat. Selbst für den Fall eines Konflikts kann künftig von verlängerten Warnzeiten ausgegangen werden.Ich habe deshalb vor knapp zwei Monaten den Inspekteur der Luftwaffe beauftragt, die friedensmäßige Tiefflugausbildung in eine Gesamtüberprüfung des Ausbildungs- und Übungskonzepts einzubeziehen. Das Ziel dieser Initiative ist eine weitere nachhaltige Entlastung. Wir werden diese Vorstellungen, sobald sie endgültig ausgeformt sind, in die zuständigen Gremien des Bündnisses einführen, weil es ja auch in dieser Debatte nicht nur um die Luftwaffe geht, sondern um ein Konzept, das auch von den Alliierten mitgetragen wird.Wir haben im Herbst auch Verbesserungen, Entlastungen für die Luftkampfausbildung angekündigt. Sie ist ja eine Voraussetzung für erfolgreiche Luftverteidigung. Dies bleibt auch so.
Das bedeutet auch, daß Luftkampfausbildung — zumindest in großen Teilen — mit mehreren Flugzeugen gleichzeitig geübt werden muß. Gerade Sicherheit setzt voraus, daß die Luftfahrzeugbesatzungen ihre Flugzeuge fliegerisch völlig beherrschen. So ist eine Ausbildung im Frieden unerläßlich.Sie wissen, daß im Jahre 1976 von der damaligen sozialdemokratisch geführten Bundesregierung bestimmte Räume eingerichtet wurden, die zeitweilig für die Luftkampfausbildung reserviert sind; nicht exklusiv, aber zeitweilig. Die deutsche Luftwaffe wie auch die Alliierten führen nur einen Teil ihrer gesamten Luftkampfausbildung in der Bundesrepublik Deutschland durch.Am Beispiel der Luftwaffe wird deutlich, wie wir gerade in den vergangenen Jahren entscheidende Veränderungen herbeigeführt haben. Von den rund 9 000 Luftkampfausbildungseinsätzen der Luftwaffe wurden 1987 etwa 33 %, 1988 etwa 43 % und 1989 mehr als 60 % über See oder im Ausland durchgeführt. Für dieses Jahr streben wir einen Anteil von 86 % an.
— Das ist eine wirklich dramatische Veränderung gegenüber Ihrer Regierungszeit. Da haben Sie nicht einmal ein Viertel der Luftkampfausbildung außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik durchgeführt.
Damit wir uns in der Richtung einig sind: Wir wollen dies fortsetzen. Wir haben auch erste positive Ergebnisse in parallelen Gesprächen mit den Verbündeten erreicht, die wir fortführen werden. Kanadische Luftverteidigungskräfte werden künftig durch Verlagerung erheblich weniger als bisher über der Bundesrepublik üben. Die englischen Verbände werden ihren
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Bundesminister Dr. StoltenbergAnteil an der Luftkampfausbildung in unserem Land kurzfristig um 25 % verringern. Bei den Amerikanern zeichnet sich ein ähnlicher Trend ab.
Allein im Vergleich zu 1989 wird bereits 1990 eine Reduzierung aller Luftkampfübungen um mehr als 20 % erfolgen.Wir sind uns hier in der Tendenz mit den meisten Vorrednern in dem, was wir bewirken wollen, einig, vor allem auch bei den Verbündeten.Natürlich bleibt eine Verlagerung über See nicht ohne Probleme. Wenn Verbände aus Süddeutschland auf Flugplätzen an der See kurz zwischenlanden müssen, um dann über der See zu üben, gibt es ebenfalls Proteste. Ich halte dies aber für richtig und notwendig.Die Unfälle von Karlsruhe und Maxdorf sind tragisch; und ich bedaure mit Ihnen zutiefst den Tod zweier Piloten — einmal in Maxdorf und einmal in Karlsruhe — und die verletzten Zivilpersonen.
Auch wenn es nicht zu einem Unglück größeren Maßes gekommen ist, nehmen wir dies sehr ernst. Mein Dank gilt den Rettern und Helfern am Boden, und unser Mitgefühl den Opfern und den Angehörigen der Opfer.Aber wir sollten auch zur Kenntnis nehmen, daß sich die Zahl der Unfälle vor allem für unsere Luftwaffe durch eine gute Ausbildung und ein verantwortungsbewußtes Verhalten in den letzten Jahren drastisch verringert hat. Diesen Trend müssen wir stärken.
Das Ziel ist also vorgegeben: die politischen Veränderungen, die hoffentlich bald erreichten Abrüstungsvereinbarungen zu nutzen und zu weiteren substantiellen Entlastungen zu kommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Herr Minister Stoltenberg, es ist wenig befriedigend, wenn Sie sozusagen „business as usual" machen, nach dem Motto: Ich habe Auftrag an den Führungsstab der Luftwaffe erteilt, unser Ausbildungskonzept zu überprüfen.Es gibt Situationen und Sachverhalte, da gehen graduelle Lösungen nicht, da bringt es wenig, zu sagen, wir machen weniger. Es gibt Situationen und Sachverhalte, da muß man sagen: stopp!, und zwar wirklich generell.
Das gilt für Luftkampf über der Bundesrepublik Deutschland.
Es ist geradezu abenteuerlich, wenn ein Zusammenhang zwischen Luftkampf in 4 000 m Höhe und Geländekenntnis hergestellt wird, wie Ortwin Lowack es getan hat, oder wenn der Kollege Paul Breuer, der leider an der entscheidenden Stelle gestern nicht im Ausschuß war, eine Sollzahl als Istzahl nimmt, nämlich das, was bis Ende des Jahres erreicht werden soll: 14 % nur noch über Land und 86 % Luftwaffe über See. Das ist kein Ist, sondern eine Sollzahl.
Manchmal ist es ganz sinnvoll, lieber Paul Breuer, im Ausschuß dabei zu sein, wenn die Regierung etwas mitteilt.Wieder, meine Damen und Herren und liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Tausende von Menschen einer Katastrophe knapp entkommen. Und wieder wird es ähnliche Erklärungen wie nach der Katastrophe von Ramstein geben, auch wenn das Unglück im übrigen ungleich größer als diesmal war.Es wird menschliches Versagen als Grund herauskommen, menschliches Versagen eines Piloten, das hätte bewirken können, daß im Extremfall viele tausend Menschen — Frau Kollegin Hämmerle hat es belegt — in einer Großstadt wie Karlsruhe ihr Leben hätten verlieren können.Wer es prinzipiell noch für vertretbar hält, daß Luftkampf über der Bundesrepublik, über Ballungsgebieten stattfindet, dem empfehle ich die Lektüre der neuesten Ausgabe von „Soldat und Technik", wo Luftkampf beschrieben wird und wo aus militärfachlicher Sicht beschrieben wird, welche ungeheure Belastung auf den Flugzeugführer einwirkt, der ständig in einer Grenzsituation ist.Jetzt sage ich Ihnen und uns allen: Wenn wir der Meinung sind, das, was wir an Waffen noch für notwendig halten — wie lang auch immer —, muß beherrscht werden, dann aber doch bitte so, daß keine Risiken für Dritte, für Unbeteiligte dadurch entstehen.Deswegen: Ab sofort Luftkampf nur noch über der See und nicht über bewohntem Gebiet!Wenn wir dies auf Antrag der SPD und nach dem Beschluß des Bundesrats hier im Bundestag vor einigen Monaten beschlossen hätten — wir hatten die Gelegenheit dazu —, hätte dieser Unfall, dieser Absturz nicht stattfinden können. Ich sage dazu: Unabhängig von der völkerrechtlichen Situation hätten wir einen solchen Bundestagsbeschluß politisch auch gegenüber den Alliierten durchsetzen können und durchsetzen müssen. Das wäre möglich gewesen, wenn wir uns hier im Bundesparlament einig gewesen wären.Deswegen fordere ich Sie auf: Wenn Sie wirklich bereit sind und den Konsens suchen, wie Kollege Breuer — manchmal gegen seine Art — und Olaf Feldmann es angedeutet haben, dann suchen wir den Konsens für eine wirklich dauerhafte Lösung, die ausschließt, daß Luftkampf über bewohntem Gebiet, über Städten, über der Bundesrepublik überhaupt noch stattfinden kann! Sonst wird immer wieder dasselbe geschehen: Wir werden nämlich im nachhinein das
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16268 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Gerster
beklagen, was passiert ist, während wir sonst der Meinung sind, daß Vorbeugen besser als Heilen ist.Wenn es schließlich um die gesamtpolitischen Rahmenbedingungen geht: Wie wollen wir eigentlich rechtfertigen, daß möglicherweise im nächsten Jahr in einem vereinten Deutschland, möglicherweise auf beiden Seiten, die Luftwaffen, die dann welchen Bündnissen auch immer angehören, zumindest nicht einem gemeinsamen Bündnis, über der eigenen Bevölkerung gegeneinander Krieg üben? Daß dies grotesk und unvorstellbar ist, ist uns allen klar. Wir sollten heute schon den Schritt vollziehen, der spätestens dann zwingend notwendig wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Hauser .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Streitkräfte sind ein Mittel der Politik, und wenn sich die Politik ändert, müssen sich auch die Streitkräfte ändern. Es ist gar keine Frage, Herr Kollege Heistermann, niemand geht zur Tagesordnung über. Auch uns bedrückt das, was jetzt in Karlsruhe passiert ist. Sie müssen uns abnehmen, daß wir alle als verantwortliche Politiker, Sie in der Opposition wie wir in der Regierungskoalition, natürlich in einem Spannungsverhältnis stehen: daß wir auf der einen Seite die Verteidigung aufrechterhalten wollen und auf der anderen Seite den Forderungen und Bitten dieser Bürger nachkommen möchten, die durch solche Unfälle wie jetzt in Karlsruhe zu Recht Angst haben. Ich verstehe das.
Es ist auch schwer, diesen Menschen, diesen Bürgern, mit rationalen Argumenten gegenüberzutreten. Sie können das schwer aufnehmen, zumal dort in Karlsruhe, da der Absturz in Forst noch gar nicht so lange zurückliegt, natürlich schon Verängstigung eingetreten ist.
Nur sollten wir, liebe Kollegen von der SPD — ich spreche nur Sie an, die GRÜNEN interessieren in diesem Zusammenhang eigentlich wenig —,
nicht so tun, als sei jetzt plötzlich alles anders.
Es ist vielleicht ganz interessant, immer mal wieder Revue passieren zu lassen, daß der frühere Staatssekretär Penner 1981/82 auf Briefe des Kollegen Ganz aus dem Saarland immer wieder betont hat — Herr Penner, Sie sitzen da, und Sie werden sich dessen erinnern — , und zwar hinsichtlich der Reduzierung von Tiefflügen, das sei der Preis der Freiheit, das müsse man eben bezahlen. Wir dürfen, liebe Kollegen von der SPD, nicht so tun, als sei erst seit dem Oktober 1982 plötzlich alles gefährlicher geworden, während es davor nicht gefährlich gewesen sei. So dürfen wir die Arbeitsteilung hier nicht vornehmen.
— Ich stimme Ihnen zu, nur sollten wir bei diesem emotionalen Thema, das es ohne Zweifel ist, redlicher miteinander umgehen und jetzt nicht alles in Abrede stellen, was wir an Reduzierungen, an Umänderungen machen. Die Politik hinkt mitunter den Ereignissen zum Teil hinterher. Sie haben auch die Einlassungen des Verteidigungsministers gehört, der gesagt hat, daß wir hier auf einem guten Wege sind.
Wir sind schon der Auffassung, daß wir diese Luftkampfübungen weiter zurückführen, daß wir vielleicht zu einer Verlagerung von 100 % über See kommen. Das kann die Zeit durchaus bringen. Ich bin ohnehin der Auffassung: So wie wir einen Infanteristen- oder einen Panzerverband in ausgewiesene Manövergebiete zu Übungen schicken, so dürften Luftkampfübungen auch nur über solchen ausgewiesenen Gebieten sein.
Ich glaube, daß dafür auch die Alliierten Verständnis haben. Ich war mit einigen Kollegen dieser Tage in Washington und habe mit denen auch über das Thema Tiefflug gesprochen. Wir sind dort auf Verständnis gestoßen. Ich habe jedenfalls den Eindruck, daß sie hierfür Verständnis haben, denn wir müssen eines sehen: Sowohl in unserer Bevölkerung als auch in der Bevölkerung in Amerika und anderswo wird Verteidigung von den Menschen nur so lange akzeptiert, wie sie für sich selber kein Risiko dabei sehen. Wir müssen eben schauen, daß Verteidigung nicht nur für uns gewählte Politiker, sondern auch für die Bürger verantwortbar ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Unfall vom 17. April hat folgende Bilanz: 1 toter Pilot, 3 verletzte Zivilpersonen, 43 beschädigte Gebäude, 87 kaputte Autos und eine abgeräumte Oberleitung der Bundesbahn. Trümmer fand man, verteilt auf ein Gelände von 7 mal 5 Kilometern, an 250 verschiedenen Stellen. Ein Triebwerk landete 5 m von einer Tankstellenzapfsäule entfernt. Brennende Rumpfteile flogen auf einen Siemens-Parkplatz, auf den zehn Minuten später die Arbeitnehmer gekommen wären, um wegzufahren. Andere Trümmer fielen auf einen Spielhof für Kinder, auf dem sich zufällig keine Kinder befanden. Allgemein bemüht man jetzt einen Schutzengel, um zu erklären, wieso nicht mehr Menschen zu Schaden kamen.Ich meine, der einzige Trost dabei ist, daß jetzt vielleicht noch etwas anderes beschädigt worden ist, nämlich — wir mußten soeben leider wieder Beispiele dafür hören — der Konsens darüber, daß über der Bundesrepublik Tiefflug- und Flugkampfübungen nach wie vor stattfinden müssen. Dieser Konsens umfaßt bisher, daß bis zu 40 % des Gebiets der Bundesrepublik für solche Übungen zeitweilig zur Verfügung gestellt werden. In diesen sogenannten TRA, den „Temporary Reserved Airspaces" , liegen eine ganze
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16269
ErlerReihe von deutschen Großstädten, neben Karlsruhe auch Städte wie Landshut, Ulm, Freiburg, Ludwigshafen, Saarbrücken, Koblenz, Bielefeld, Oldenburg, Bremerhaven und Flensburg. Man kann sich auch gut vorstellen, was für Anlagen in diesen Städten auf diese Weise bedroht werden.Daß der Konsens in der Öffentlichkeit vielleicht doch — wenigstens ein bißchen — erschüttert ist, kann man daraus entnehmen, daß im „Spiegel" in bezug auf diese TRA von „Kampfsportplätzen für JetHelden" die Rede war und — das ist interessant — im „Rheinischen Merkur" zu lesen war, dort handele es sich um zu drehende Souveränitätspirouetten über Deutschland.Wir haben jetzt einige Vorschläge gehört. Die FDP schlägt eine Verminderung der Zahl von Kampfübungen vor. Herr Späth und Herr Geißler schlagen vor, die Kampfübungen wenigstens über Ballungsräumen einzuschränken. Die SPD hat die sofortige Einstellung aller Luftkampfübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik gefordert.Ich hätte jetzt eigentlich erwartet, daß wir vom Minister hier etwas Genaueres darüber hören, was die Bundesregierung nun eigentlich plant. Nach wie vor bleibt die Frage offen, wieso es eigentlich möglich ist, ohne eine Einschränkung für unsere Sicherheit auf 86 % der Luftkampfübungen über der Bundesrepublik zu verzichten und wieso 14 % offenbar unverzichtbar bleiben. Völlig unbeantwortet blieb auch die Frage, wieso die Übungen der Bundesluftwaffe — ich wiederhole — ohne Einschränkung für die Sicherheit der Bundesrepublik verlagert werden können, die der Alliierten aber offenbar nicht. Wir haben auch nichts darüber gehört, was eigentlich das Ziel dieser Gespräche und Verhandlungen ist. Die Alliierten haben ihre Bereitschaft bekundet, auf bis zu 25 % der Übungen zu verzichten.
Aber wir wissen nicht, mit welchem Ziel die Bundesregierung in diese Gespräche hineingeht. Dabei macht es keinen Sinn, sich tatsächlich nur auf eine Verminderung oder auf eine Begrenzung solcher Übungen auf Nicht-Ballungsgebiete zu beschränken.In der Fragestunde am 15. Februar haben wir uns mit dem Unfall von Maxdorf beschäftigt. Am 18. Dezember waren zwei amerikanische F-16-Kampfflugzeuge 10 km von dem 20 km2 großen BASF-Gelände abgestürzt. Hintergrund war eine interessante Kontroverse zwischen dem Vorstand von BASF und der Bundesregierung, weil ihr allen Ernstes vorgeschlagen wurde, das Gelände, das 20 km2 umfaßt, zu härten, um es gegen Absturz zu schützen. Damals ist von der Bundesregierung die Auskunft gegeben worden — ich zitiere wörtlich — : „Luftfahrzeuge stürzen in der Regel nicht senkrecht ab, sondern fliegen in einer im wesentlichen von Höhe und Geschwindigkeit abhängigen, nicht vorher bestimmbaren Parabel." — Das ist in der Tat so. Sie fliegen unter Umständen sehr weit. Der eine oder andere wird sich noch an den Überflug fast ganz Europas durch ein sowjetisches MIG-Flugzeug erinnern.Daraus folgt aber, daß alle diese Begrenzungen oder Einschränkungen nichts wert sind, daß sie keinen Schutz für die Bevölkerung bedeuten. Ein bißchen Vernunft reicht hier einfach nicht aus. Die einzige Möglichkeit ist, unserem Vorschlag zu folgen und unserem Antrag zuzustimmen, der eine sofortige Einstellung aller Luftkampfübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beinhaltet.Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Vorschlag.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe den heute morgen aufgesetzten Zusatztagesordnungspunkt auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
— Drucksachen 11/6955, 11/6960 — zu dema) Gesetzentwurf der BundesregierungEntwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts— Drucksachen 11/6321, 11/6541 —b) Gesetzentwurf der BundesregierungEntwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes— Drucksache 11/4732 —c) Gesetzentwurf des BundesratesEntwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes— Drucksache 11/4958 —d) Gesetzentwurf der Fraktion der SPDEntwurf eines Bundesausländergesetzes
— Drucksache 11/5637 —e) Antrag der Fraktion der SPD Bundesausländergesetz— Drucksache 11/2598 —f) Gesetzentwurf der Fraktion der SPDEntwurf eines Gesetzes über die Wiederkehrerlaubnis für in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsene Ausländer— Drucksache 11/1931 —g) Antrag der Fraktion der SPD Flüchtlings- und Asylkonzeption— Drucksache 11/3055 —h) Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNENEntwurf eines Gesetzes für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ausländerinnen und Ausländer— Drucksache 11/4463 —
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16270 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Vizepräsident Stückleni) Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNENEntwurf eines Gesetzes zur rechtlichen Gleichstellung der ausländischen Wohnbevölkerung durch Einbürgerung und Geburt
— Drucksache 11/4464 —j) Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNENEntwurf eines Gesetzes über die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern
— Drucksache 11/4466 —k) Antrag der Fraktion DIE GRÜNENFür eine Politik der offenen Grenzen — Für ein Recht auf Zuflucht — Flüchtlings- und Asylkonzeption— Drucksache 11/3249 —Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Ausländerrechts liegt eine Reihe von Änderungs- und Entschließungsanträgen der Fraktion der GRÜNEN sowie der Fraktion der SPD vor.Meine Damen und Herren, entsprechend der Vereinbarung im Ältestenrat soll die Aussprache zwei Stunden dauern. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Gegen 18.00 Uhr oder 18.15 Uhr werden zahlreiche namentliche Abstimmungen beginnen.Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort kann ich noch nicht erteilen, weil noch keine Wortmeldungen erfolgt sind. Das liegt daran, daß wir mit der Aktuellen Stunde etwas früher fertiggeworden sind. Wir könnten eine Ruhepause oder eine Kaffeepause einlegen. Wir können auch ein bißchen Geduld haben in der Hoffnung, daß sich die vorgesehenen Debattenredner einfinden werden. Ein bißchen Ruhe in diesem Haus schadet überhaupt nichts.
— Gut! Das Wort hat dann die Abgeordnete Frau Dr. Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Einstimmung ein Zitat:Es geht nicht mehr darum, ob wir eine multikulturelle Gesellschaft wollen — wir haben sie bereits. Die Frage ist nicht mehr, ob wir mit Ausländern zusammenleben wollen, sondern nur noch, wie wir zusammenleben werden.Diese Aussage, die manchen unserer Unionskollegen vermutlich etwas Magengrimmen verursacht, stammt von einem Ihrer immer noch prominenten Parteifreunde, nämlich von Heiner Geißler, aus einem „Spiegel"-Essay.
Ich mache mir wahrhaftig nicht alle Thesen diesesAufsatzes von Geißler zu eigen. Mir ist darin ein bißchen zuviel vom pragmatischen Egoismus eines Bundesbürgers spürbar, der das eigene Volk vor sogenannter Vergreisung schützen und etwaige Lücken auf dem Arbeitsmarkt mit billigen Kräften von außerhalb stopfen will. Aber die zitierte Grundaussage stimmt. Sie ist so selbstverständlich, daß sie überhaupt nur auffällt, weil sie von einem CDU-Mann stammt.Meine Kollegen und Kolleginnen, über vier Millionen Ausländer leben hier, die Mehrheit seit mehr als einem Jahrzehnt. Über 70 To der Jugendlichen sind hier geboren. Ausländische Arbeitnehmer — wir wissen es — stützen ganze Branchen: den Bergbau beispielsweise, die Eisen- und Stahlindustrie, die Gastronomie. Das sind keine Leute, die man noch länger so behandeln kann, als seien sie hier nur auf Stippvisite, meine Kollegen und Kolleginnen.
Jahrelang hat die SPD ein neues Ausländergesetz verlangt, weil sie meint, es geht nicht mehr an, daß die Belange von Ausländern nach polizeirechtlichem Ordnungsdenken geregelt werden. Eine erste Reform kündigte die Bundesregierung bereits im Oktober 1982 an. Lange geschah dann nichts. Dann verursachte — wir erinnern uns — im Frühjahr 1988 ein von Deutschtümelei und Fremdenfeindlichkeit durchwirktes Papier aus dem Haus des damaligen Innenministers Zimmermann einen derartigen Aufruhr und so massive Kritik, daß es wieder in den Schubladen verschwand. Im April 1989 rückten — nach zähen internen Auseinandersetzungen — die Koalitionsfraktionen mit ihren Eckwerten zur Neuregelung des Ausländerrechts heraus. Weitere neun Monate gingen ins Land, bis dem Deutschen Bundestag dann im Januar 1990 der jetzige Entwurf zugeleitet wurde.Alles in allem sind also von der ersten Ankündigung bis zur Verabreichung der Vorlage über sieben Jahre vergangen. Was geschieht jetzt plötzlich? — Diese Hast, diese vorgetäuschte Eilbedürftigkeit! Ein überstürzt anberaumtes Hearing, auf das sich die Experten nur noch halbwegs gründlich vorbereiten konnten, weil wir von der Opposition wenigstens einen zeitlichen Aufschub erwirkten. Das niederschmetternde Urteil der meisten Sachverständigen hätte Sie, meine Kollegen und Kolleginnen aus der Koalition, dazu bringen müssen, diesen Entwurf zurückzuziehen.Einen Unterausschuß zwecks gründlicherer Beratung lehnten CDU/CSU und FDP ab. In weniger als drei Monaten soll das Gesetz über die parlamentarischen Hürden gehetzt werden. Sagen Sie mir jetzt bitte nicht, Sie hätten im Ausschuß ja noch gnädig zusätzliche Sitzungen einschließlich am Karfreitag angeboten. Nein, es geht nicht allein um die Zahl der abgeleisteten Stunden der parlamentarischen Behandlung. Ein so wichtiges Ziel, nämlich nach 25 Jahren das Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern auf eine neue und zeitgemäße Grundlage zu stellen, das hätte, Herr Hirsch, ein ausgereifteres Gesetz verdient, das nach ruhigen, in einer breiten Öffentlichkeit geführten Diskussionen gesellschaftlichen Konsens hätte erzeugen können.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16271
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hirsch? — Bitte sehr.
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wollen Sie ernsthaft bestreiten, daß wir angeboten haben, Tag für Tag bis Mitternacht, Stunde für Stunde, solange Sie wollen, zu beraten, und wollen Sie bestreiten, daß Sie teilweise selbst an den ordnungsgemäßen Ausschußsitzungen nicht teilgenommen haben? Der einzige, der ständig teilgenommen hat, war der Ausschußvorsitzende Ihrer Fraktion. Wollen Sie das bestreiten?
Das letztere stimmt überhaupt nicht. Ich war immer dabei, bis auf eine halbe Stunde, wo einmal etwas Zwingendes war, sonst immer.
Sie werden mir nichts vorwerfen können.
Das Zweite ist: Herr Hirsch — ich habe es soeben schon gesagt — , es kommt nicht allein auf das Abhaken binnen vieler Sitzungen und Stunden an. Sie haben alle anderen Vorlagen, vor allen Dingen unsere Änderungsanträge und auch unseren Gesetzentwurf, nicht ernsthaft gewürdigt und sich nicht direkt damit auseinandergesetzt. Das war der Punkt. Sie haben vor allen Dingen nicht die breite öffentliche Diskussion wirklich in Gang kommen lassen. Sie wissen sehr genau, daß sich viele überhaupt nicht ausreichend informiert und vorbereitet gefühlt haben.
Sie haben also die Chance zum gesellschaftlichen Konsens, meine Kollegen und Kolleginnen aus der Koalition, verspielt und vertan. Sie wollten die Sache rasch abhaken. Dabei sitzen Ihnen die Angst vor der niedersächsischen Landtagswahl und der drohende Verlust der Bundesratsmehrheit im Rücken.
Das Gesetz soll auf Biegen und Brechen noch vor dem 13. Mai abgehakt werden und die Länderkammer passieren. Sie betreiben ein taktisches Manöver. Denn einen sachlichen Grund für diese Hast gibt es nicht, meine Kollegen und Kolleginnen.Es kann Sie nicht wundern, daß sich der Innenausschuß des Bundesrates diesem Zeitdruck ebenso widersetzt wie wir. Es kann Sie ebenso wenig wundern, daß die Adressaten des Gesetzes, nämlich die Ausländer und ihre Organisationen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften den Protest in diesen Tagen auf die Straße tragen. Sie riskieren diese Konfrontation einfach, weil Sie wissen, daß sich die Betroffenen nicht einmal mit ihrem Kreuzchen am Wahltag wehren können. Die Aufregung in der Öffentlichkeit wäre bestimmt noch viel stärker, drängte nicht die Dominanz der deutsch-deutschen Einigung alles andere momentan in den Hintergrund.Die SPD-Fraktion hat ihren eigenen Entwurf zu einem Bundesausländergesetz vorgelegt, übrigens eine beträchtliche Zeitspanne vor dem Regierungsentwurf. Wir bringen ihn heute als Änderungsantrag erneut ein. Denn wir sagen, wir brauchen ein klares, ein übersichtliches, ein weltoffenes und liberales Gesetz. Es soll der 30jährigen Einwanderungsgeschichte ebenso Rechnung tragen wie der Entwicklung der kommenden Jahre.Wir Sozialdemokraten machen ein faires Angebot, um denjenigen, die mit ihren Familien bei uns bleiben wollen, eine sichere Lebensplanung zu ermöglichen. Deshalb unser Vorschlag für ein klar gegliedertes Aufenthaltsrecht, das sich stufenweise verfestigt, und für ein Niederlassungsrecht nach acht Jahren.Wir halten am Anwerbestopp fest. Aber wer zu uns kommen will, um hier eine selbständige oder unselbständige Beschäftigung aufzunehmen, der soll die Chance dazu haben, wenn es mit den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen vereinbar ist.Abhängige Erwerbsarbeit soll möglich sein, wenn die Bundesanstalt sie befürwortet und der Arbeitgeber Wohnraum zur Verfügung stellt. Denn wir wollen es nicht noch einmal erleben, daß aus purem Geschäftsinteresse Kräfte angeworben werden, ohne Rücksicht auf die sozialen und die familiären Folgen für die Betroffenen.
Sie dagegen wollen den Aufenthalt zwecks Arbeitsaufnahme befristet zulassen, nach dem Motto: Du kannst kommen, solange du nützlich bist. Das ist nichts anderes als Anheuern auf Abruf. Es macht Ausländer zur Manövriermasse für den Arbeitsmarkt. Es ist schlimm genug, daß so etwas in der Praxis gang und gäbe ist, nicht nur bei der Weinlese oder bei der Kirschenernte im Alten Land. Segnen Sie so etwas nicht noch durch ein Gesetz ab! Es ist weder moralisch noch beschäftigungspolitisch vertretbar.Sozialdemokraten verlangen für nachgezogene Ehegatten ein wirklich eigenständiges Daueraufenthaltsrecht. Es darf nicht mehr passieren, daß etwa Frauen nach einer Scheidung oder nach dem Tod ihres Mannes in ihr Heimatland zurückgeschickt werden. Die SPD will den Asylberechtigten und den 300 000 De-facto-Flüchtlingen einen gesicherten Rechtsstatus geben und das Arbeitsverbot für Flüchtlinge auf höchstens sechs Monate beschränken. Das entspricht nicht nur der Menschenwürde, es kann auch den Fremdenhaß bei Bundesbürgern abbauen, wenn sie nicht länger behaupten können: Da kommen sie aus aller Herren Länder, wollen Asyl und liegen uns als faule Nutznießer noch jahrelang auf der Tasche.Wir verdeutlichen unsere Haltung zur Asyl- und Flüchtlingspolitik in dem Entschließungsantrag, der Ihnen vorliegt. Wir sagen insgesamt nein zum Regierungsentwurf, auch angesichts der Erkenntnis, daß einzelne Artikel und Paragraphen gewisse Verbesserungen gegenüber dem geltenden Recht zeigen. Aber wir lehnen das Gesamtkonzept ab. Sie werden sich nicht wundern, daß wir auch solche Artikel wie die Art. 16 und 17 aus diesem Grunde ablehnen, obwohl es eigentlich nicht nötig wäre, darüber im einzelnen abzustimmen.Das Gesetz ist vom Geist der Abschottung und der Abwehr beherrscht. Sie bieten uns ein kompliziertes und bürokratisches Instrumentarium. Das gilt auch
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16272 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau Dr. Sonntag-Wolgastnoch angesichts der zahlreichen Änderungsanträge, zu denen sich die Koalition schließlich bequemt hat; denn Menge ersetzt nicht Substanz. Ich räume ein, daß Sie sich in einigen wenigen Punkten bewegt haben, z. B. beim Rechtsstatus der Flüchtlinge, beim Asyl für Familienangehörige und bei dem Wohnraumerfordernis. Das ist es dann aber auch im wesentlichen. Ansonsten sind Ihre Änderungen eher kosmetischer Natur: hier ein bißchen redaktionelle Glättung, dort ein paar Verdeutlichungen. Das alles kann unsere schwerwiegenden Einwände nicht ausräumen.In einer Zeit, da alte Grenzen und Trennlinien aufgebrochen werden, nationale Blöcke sich auflösen und die Völker sich einander annähern, just in dieser aufregenden und aufwühlenden Phase stellen Sie die Signale in die falsche Richtung. Argwohn und Mißtrauen prägen Ihr Gesetz, wo Toleranz und Entgegenkommen gefordert wären.
In wichtigen Einzelheiten fällt dieses Gesetz sogar hinter die geltende Praxis zurück.Vor Monaten haben Sie, Herr Minister Schäuble, beteuert — ich zitiere — : „Die Bundesrepublik ist ein ausländerfreundliches Land, dabei soll es bleiben." Heute verstehe ich diese Worte leider so: Wir haben uns zwar mit den Zugewanderten zu arrangieren, aber wir wollen den Bundesbürgern nicht zuviel zumuten. Wann endlich reift bei Ihnen die Einsicht, daß Ausländer keine Zumutung sind?Solange Sie so tun, als müßten Rechte von Ausländern beschnitten werden, um Fremdenhaß zu verhindern, erreichen Sie das Gegenteil; denn Feindseligkeit schürt, wer Ausländer zur Bedrohung stempelt.
Ich sage das auch und gerade vor dem Hintergrund der bedrückenden Zeichen von Ausländerfeindlichkeit in der DDR. Gerade wenn solche Regungen spürbar werden, darf der Gesetzgeber nicht noch eins draufsetzen und demonstrativ zeigen, wie sehr ihm an Abschottung liegt.Vor wenigen Wochen haben Parlamentarierinnen parteiübergreifend einen Aufruf gegen Fremdenfeindlichkeit verfaßt, um zu zeigen, daß man positive Signale setzen muß. Auch Frauen aus der Koalition gehörten zu den Erstunterzeichnerinnen, auch Rita Süssmuth. Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie einem Regierungsentwurf zustimmen, der solche positiven und deutlichen Signale für eine wirklich humane Ausländerpolitik vermissen läßt. Wenn sie es tun, dann können wir uns eigentlich solche Initiativen sparen; dann bleiben sie eine reine Farce.Der Gesetzentwurf — auch mit den Änderungen der Koalition — betreibt Etikettenschwindel. Er gaukelt Ausländern Rechtsansprüche vor, die er im nächsten Atemzug ganz oder teilweise zurücknimmt.
Dafür ein paar Beispiele:
Aufenthaltsgenehmigungen können erteilt werden, aber nicht, wenn Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigt oder gefährdet werden. Das ist tatsächlich eine Verschlechterung im Vergleich zur geltenden Praxis, in der beider Belange, nämlich die des Staates und die der Ausländer, gegeneinander abgewogen werden. Jetzt aber soll einseitig auf die Interessen der Bundesrepublik abgestellt werden.Und weiter: Familiennachzug soll stattfinden dürfen, aber nur, wenn ausreichender Wohnraum vorhanden ist, wobei die Berechnungsmodalitäten der Sozialwohnung zugrundegelegt werden. Daß Sie es nach der einschlägigen Kritik der Experten so gefaßt haben, daß nunmehr Krabbelkinder bis zu zwei Jahren nicht mitzählen, ändert kaum etwas an der Stoßrichtung. Sie haben in den Ausschußberatungen beteuert, Sie wollten verhindern, daß eine vielköpfige Familie womöglich in feuchten und engen Löchern haust. Angesichts dieses plötzlichen Anflugs von Fürsorge kommen mir die Tränen. Sie wissen doch, daß Ausländer angesichts des katastrophalen Wohnraummangels kaum eine Chance haben, etwas Geeignetes zu finden. Sie mißbrauchen doch das Übel einer verfehlten Wohnungspolitik als Waffe, um Neuankömmlinge abzuwimmeln.
Und Sie verhindern Familienzusammenführung, auf die Sie sich sonst so viel zugute halten. Helfen Sie dem Mangel an Wohnraum allgemein ab, dann können Sie sich derartige Bedingungen im Ausländergesetz sparen!
Im übrigen: Was Sie in den §§ 26 und 46 jungen Ausländern etwa an Bedingungen für die Aufenthaltserlaubnis abverlangen, steht in krassem Widerspruch zu Beschlüssen, die der Bundestag erst vor wenigen Wochen zur Jugendhilfe gefaßt hat.Politische Betätigung soll Ausländern gestattet sein. Gnädig! Doch gleich folgt wieder ein Rattenschwanz von Einschränkungen. Auch dafür hatten Sie von der CDU/CSU und der FDP im Ausschuß Erklärungen parat. Es hieß: Wir wollen nicht, daß radikale Gruppen ihre Fehden auf deutschem Boden austragen. Fürwahr, die Stammtische dürften Beifall klatschen. In Wahrheit kann es doch wohl für diesen Punkt nur eine Bedingung für die Ausübung dieses Grundrechts geben: einzig die Wahrung des Versammlungs- und Strafrechts. So haben wir als Sozialdemokraten es auch in unseren Entwurf geschrieben. Alles andere ist doch einer selbstbewußten Demokratie unwürdig. Wie sollen eigentlich politisch engagierte Ausländer die Vorzüge unserer so hoch gepriesenen freiheitlichen Grundordnung schätzen lernen, wenn man sie gleich mit Verboten und Vorschriften darüber belehrt, daß sie als Nutznießer der Demokratie nur zweitklassig bedacht werden?Spätestens bei diesem Paragraphen — oder auch bei den weitreichenden Möglichkeiten zur Datenerhebung — hätten wir eigentlich den tapferen Widerstand der FDP erwartet, Herr Hirsch. Das sind doch so Ihre ureigenen Themen: die bürgerlichen Freiheitsrechte, zu deren Wahrung Sie hin und wieder gegen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16273
Frau Dr. Sonntag-Wolgastden Stachel der Koalitionsdisziplin löcken! Wo war das Fähnlein der blaugelben Aufrechten?
Fehlanzeige! Oder sollten Sie etwa mit dem, was jetzt im Entwurf steht, bereits das Maximum an Liberalität gegen die Hardliner erreicht haben? Das wäre erbärmlich wenig.
Darf ich eine Frage stellen?
Bitte schön!
Warum verschweigen Sie denn vorsätzlich, daß in dem Gesetzentwurf ausdrücklich steht, daß Ausländer in denselben Grenzen der für Deutsche geltenden Bestimmungen politische Versammlungsrechte ausüben können? Warum verschweigen Sie das?
Sie haben die Behauptung positiv vorangestellt, und es kommen trotzdem wieder die Einschränkungen; auf die habe ich mich jetzt sehr deutlich bezogen. Das ist doch das Entscheidende.
Für Deutsche geltende Versammlungsvorschriften; in demselben Rahmen können Ausländer, es steht ausdrücklich drin, politische Rechte ausüben. Warum verschweigen Sie das?
Aber selbstverständlich! Sie haben die positive Behauptung vorangestellt — das habe ich anerkannt — , aber es kommen dann doch wieder die Einschränkungen.
— Das ist ein ziemlich langer Passus.
— Ich heiße nicht Susanne, aber das ist trotzdem gut!
— Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie dürfen ja gleich Ihre Meinung sagen. Haben Sie bitte noch einen Moment Geduld!
Allmacht und Eigennutz des Staates sind in Ihrem Gesetz allenthalben spürbar, auch wenn Sie es leugnen. Ich zitiere dazu einen Experten: „Das absolutistische Verständnis vom Menschen als Untertan feiert mit dem Segen der Liberalen fröhlich Urständ. " Das mag Sie schmerzen, aber ich kann es Ihnen nicht ersparen, hier darauf zurückzukommen.
Meine Damen und Herren! Die Ausländer, die zur Zeit demonstrieren und protestieren, sprechen von „Überwachungswahn" oder gar von „Apartheids-Gesetz". Ich distanziere mich von solchen Begriffen, weil derlei Anspielungen die Zustände in totalitären Staaten verharmlosen. Aber ich kann schon nachvollziehen, was die Kritiker meinen, nämlich die Einteilung in Menschen höheren und minderen Rechts, die in dem Gesetz überall mitschwingt. Das paßt nicht in unsere Zeit, und das paßt nicht in die Zukunft. Es paßt auch nicht in ein Land, das nach drei Jahrzehnten Einwanderung gemerkt haben sollte, wie sehr es von anderen Kulturen auch lernen und profitieren kann.
Wenn es Ihr politischer Wille gewesen sein sollte, ein jahrelanges Reizthema gütlich zu regeln, dann ist Ihnen das gründlich mißlungen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß wirklich nicht, ob Frau Kollegin Sonntag-Wolgast hier böswillig Unwahrheiten verbreitet oder ob sie einfach nicht verstanden hat, was sich in der Gesetzesberatung über ein neues Ausländerrecht wirklich abgespielt hat.
Zum Verfahren: Mir liegt hier ein Vermerk vom 14. Dezember letzten Jahres vor. Er lautet folgendermaßen:In der Obleutebesprechung dieses Tages wurde vereinbart: Die Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein neues Ausländerrecht und zu den sonstigen einschlägigen Entwürfen ... soll am 5. Februar 1990 stattfinden. Als Ersatztermin ist der 15. Februar vorgesehen, der insbesondere dann genutzt werden soll, wenn die Zeit am 5. Februar nicht ausreicht.Wir sind dann auf Bitten der SPD auf den 15. Februar ausgewichen.Dann heißt es, nachdem die Modalitäten über die Anhörung festgehalten sind: „Nach dem Terminplan sollte der Abschluß am 26. April erfolgen. " Wir haben heute den 26. April und bewegen uns in dem Zeitraum, den die Obleute der vier Fraktionen damals vereinbart haben.
Heute morgen wird uns der Vorwurf gemacht, wir hätten einen Unterausschuß verweigert.
In demselben Vermerk, Kollege Penner, steht:Es besteht Einvernehmen darüber, den Vorschlag des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Dr. Penner abzulehnen, einen Unterausschuß zu bilden.Alle Obleute haben also diesen Unterausschuß verweigert. Warum kommen Sie hierher und werfen uns einen Terminplan vor, der zwischen den Obleuten abgesprochen wurde? Warum werfen Sie uns vor, daß wir gemeinsam aus guten Gründen einen Unterausschuß abgelehnt haben? Das ist weder fair, noch ist es wahrheitsgemäß. Sie sollten diese tibetanischen Gebetsmühlen endlich abstellen. Das Verfahren ist ord-
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nungsgemäß verlaufen, und jeder hatte Gelegenheit, seine Vorschläge einzubringen.Frau Sonntag-Wolgast, es ist die Wahrheit, daß Sie am Donnerstag, den 29. März, ab etwa 14 Uhr bis zum Ende der Beratungen nicht mehr teilgenommem haben,
daß Ihr Mitberichterstatter Wartenberg nicht teilgenommen hat, daß als einziger SPD-Vertreter der Vorsitzende Bernrath noch in der Sitzung war und daß diese Sitzung ansonsten unter Ausschluß der SPD stattgefunden hat.
Es ist die Wahrheit, daß wir die Schlußberatung an diesem Montag bis 24 Uhr angeboten haben und um 12 Uhr der Beratungsbedarf der Opposition beendet war.
Hören Sie also mit den alten Kisten auf! Entweder sind Sie zu faul, oder Sie glauben, hier eine Pflichtübung gegenüber bestimmten Leuten vollziehen zu können. Das Gesetz wurde ordnungsgemäß beraten, und jeder hatte die Möglichkeit, seine Ideen einzubringen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne, Herr Kollege Nöbel.
Bitte sehr.
Würden Sie sich bitte, Herr Kollege, in zwei Dingen korrigieren, indem Sie zur Kenntnis nehmen, daß erstens der Obmann der SPD-Fraktion an der besagten Sitzung, wo die Vereinbarungen getroffen worden sind, nicht teilgenommen hat und nie seine Zustimmung dazu gegeben hat und daß zweitens der Obmann der SPD-Fraktion in der Sitzung, von der Sie sagen, daß niemand von der SPD anwesend war, nach einer kurzen Unterbrechung bis zum Schluß teilgenommen hat?
Erstens. Ich finde es bemerkenswert, daß Sie den Vorsitzenden des Innenausschusses, der diese Besprechung geleitet hat, nicht mehr Ihrer Fraktion zurechnen.
Wenn ich ihm jetzt schaden wollte, würde ich sagen: Gottfried, du bist uns in der CDU/CSU herzlich willkommen, du bist nämlich ein anständiger Kerl.Zweitens. Es wird nach den Obleutebesprechungen ein Protokoll verschickt. Die Obleute haben die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen. Es ist kein Widerspruch eingelegt worden. Also müssen wir davon ausgehen, daß der geschätzte Kollege Dr. Nöbel, auch wenn er einen Moment nicht in der Sitzung war, nachträglich mit dieser Sache einverstanden gewesen ist. Es wurde jedenfalls nie ein Widerspruch angemeldet.Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich zu den Grundsätzen des Gesetzes einiges sagen. Offenbar steht die internationale, die europäische Entwicklung in einem Widerspruch, den man sehen muß, auch wenn man das Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern regeln will. Die Welt öffnet sich, erfreulicherweise fallen Mauern und Stacheldrähte weg.
Völker als geschlossene Gesellschaften werden zu Recht und immer mehr als überholte Absurditäten verstanden. Wo es die geschlossenen Gesellschaften noch gibt, ob in China oder Birma, wachsen Unverständnis und Widerstand.
Auf der anderen Seite — dieser Aspekt wird von den Oppositionsfraktionen immer wieder übersehen — wächst doch ganz offenbar die Sehnsucht nach kultureller Identität in allen Vielvölkerstaaten. Je kleiner und damit mit modernen Verkehrsmitteln überwindbarer und transparenter die Welt wird, desto ungeduldiger wird nach Geborgenheit und Halt in noch überschaubaren Kulturgemeinschaften gerufen. Wer diese Entwicklungen in Staaten übersieht oder ignorieren will, wird eines Tages ebenso die Quittung präsentiert bekommen wie derjenige, der noch heute glaubt, man könne Völkergemeinschaften hermetisch von der Außenwelt abriegeln.Wir brauchen Staaten, in denen sich die Menschen zu Hause fühlen können, in denen Solidargemeinschaft organisiert wird und auch funktioniert. Wir werden noch lange Staatsbürger brauchen, die mit ausgewogenen Rechten und Pflichten diesen Staat mittragen und über die eigene Generation hinaus mitverantworten.Wir brauchen aber auch die Offenheit dieser Staaten für neue Entwicklungen, für neue Einflüsse, für neue Ideen, die, anderswo ausgedacht, frische Luft bringen und damit zur Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen beitragen, und wir brauchen die Solidarität über eigene Grenzen hinweg.Wer den Menschen die Chance nimmt, sich in einer eigenen kulturellen Identität wiederzufinden, wird sehr schnell erfahren, daß sich die Menschen auf andere Weise abschließen und ausklinken. Wer andererseits die Menschen einschließt, einmauert, isoliert, wird erfahren, daß sie irgendwann ausbrechen.Lassen Sie es mich in bezug auf die konkrete Situation bei uns anders ausdrücken: Je mehr wir den deutschen Mitbürgern die Gewißheit geben, daß sie in vertrauter Umgebung ihre eigene Identität bewahren können, desto offener werden sie sich gegenüber den ausländischen Mitbürgern verhalten, und je mehr wir den ausländischen Mitbürgern das Gefühl vermitteln, daß sie nicht isoliert und in Ghettos eingeschlossen
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werden, desto weniger werden sie veranlaßt werden, irgendwann irrational auszubrechen.Das neue Ausländerrecht versucht, den scheinbaren Widerspruch zwischen kultureller Geborgenheit und menschlicher Offenheit schrittweise zu überwinden. Wir sind selbstkritisch genug, zu erkennen, daß dies vielleicht nur in Etappen gelingt, weshalb wir auch in einer eigenen Entschließung durch den Bundestag die Bundesregierung auffordern, in zwei Jahren einmal die Erfahrungen mit diesem Gesetz wiederzugeben. Aber wir sind sicher, daß das neue Gesetz für hier lebende Ausländer Vorteile, und zwar entscheidende Vorteile bringt
und daß es deshalb zum friedlichen Ausgleich unterschiedlicher Interessen führt und damit dem friedlichen Miteinander von Deutschen und Ausländern dient.Das neue Ausländerrecht ist ein Angebot an deutsche und ausländische Mitbürger, zusammen in Partnerschaft und guter Nachbarschaft leben zu können, denn es werden für beide Ängste abgebaut. Es werden nicht bestreitbare Ängste bei Deutschen abgebaut,
es gäbe so etwas wie einen unkontrollierten Zuzug von Menschen mit unkontrollierbaren Risiken für sie. Diese Angst kann den deutschen Mitbürgern durch dieses Gesetz genommen werden.Es werden aber auch Ängste bei Ausländern abgebaut.
Ich füge allerdings hinzu: Dies geschieht um so stärker, je mehr es uns gelingt, diejenigen, die Politik mit Angst betreiben gegenüber Ausländern, die es natürlich schwierig haben, so ein Gesetz nachzuvollziehen, in die Schranken zu weisen, indem die Ausländer die Chancen, die das neue Gesetz bietet, erkennen und nutzen können. Es gibt für Ausländer durch dieses neue Gesetz Chancen, in größerer Rechtssicherheit leben zu können, als sie je bestand. Kein ausländischer Mitbürger, der seit Jahren hier lebt, muß befürchten, daß er durch dieses Gesetz Nachteile erfährt.
Das ist nicht die Wahrheit. Wer dies behauptet, redet wider den Geist, den Inhalt und die Buchstaben dieses Gesetzes.
Meine Damen, meine Herren, mir ist die Haltung der SPD hier mehr als unverständlich. Da das Gesetz Vorteile bringt — übrigens, auch Heiner Geißler und alle anderen, die hier zitiert wurden, erkennen das an —, ist eine Ablehnung natürlich unsinnig.
Ich hätte Verständnis für Sie, wenn Sie sagten: Das Gesetz geht uns in bestimmten Punkten nicht weit genug, wir wollen deswegen zustimmen und trotzdem weitere Forderungen erheben. Aber sich hinzustellen und Verbesserungen einfach abzulehnen, scheint mir relativ unsinnig zu sein. Ich meine, Sie sollten Ihr Abstimmungsverhalten hier noch einmal überdenken.Tatsache ist, daß durch das neue Gesetz das, was Verbände und Organisationen, auch Ausländerorganisationen, über Jahre beklagt haben, beseitigt wird: Unsicherheiten und die Unberechenbarkeit für die ausländischen Mitbürger, die auf Grund der vielen, vielen Ermessenstatbestände des Gesetzes von 1965 entstanden waren und noch bestehen. Wir schaffen in zentralen Fragen für ausländische Mitbürger klare Rechtsansprüche. Ihre Rechtsposition wird berechenbarer gemacht. Sie können sich stärker, und zwar von Anfang an, auf das verlassen, was die deutsche Rechtsordnung und die deutsche Gesellschaft ihnen als Möglichkeiten anbietet.Ich will dies auf einige konkrete Beispiele hin verdeutlichen:Natürlich wird die Einbürgerung zukünftig unter leichteren Voraussetzungen und wesentlich verbilligt möglich.Natürlich gibt es klare Regelungen für die unbefristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.Natürlich gibt es klare und berechenbare Regelungen für die Aufenthaltsgenehmigung oder die Aufenthaltsberechtigung.Der Ehegattennachzug wird geregelt, und es wird eine Verselbständigung des Aufenthaltsrechtes eines nachgezogenen Ehegatten möglich.Es gibt den Nachzug für Kinder bis 16 Jahre und die Verselbständigung des Aufenthaltsrechtes eines nachgezogenen Kindes. Es gibt die Wiederkehroption, d. h. das Recht eines Kindes, nach Übersiedlung ins Heimatland wieder ins Bundesgebiet zurückzukehren.Meine Damen, meine Herren, wollen Sie das wirklich alles ablehnen? Ist Ihnen das alte Gesetz von 1965, das hinter diesen Verbesserungen zurückbleibt, lieber? Das kann doch nicht wahr sein.
Der Gesetzentwurf regelt erstmals die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für die sogenannten Defacto-Flüchtlinge. Das sind Ausländer, denen z. B. aus humanitären Gründen oder wichtigen politischen Interessen des Bundes der Aufenthalt im Bundesgebiet einstweilen oder auf Dauer erlaubt wird. Das Gesetz enthält Bestimmungen, die für eine Reihe von Personengruppen einen besonderen Ausweisungsschutz begründen. Es enthält das Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter in den Verfolgerstaat und einen Katalog von Abschiebungshindernissen bei Gefahren für die Person, Folter, Todesstrafe, anderweitige Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit. Es enthält das Verbot der Abschiebung in Staaten mit politischer, religiöser oder rassischer Verfolgung. Dieses Verbot
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bleibt nach wie vor bestehen. Allerdings wird das Anerkennungsverfahren aus Gründen, die zumindest von Teilen von Ihnen für sinnvoll gehalten werden, zukünftig durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vollzogen.Meine Damen, meine Herren, das waren alles Verbesserungen, die bereits im Regierungsentwurf drin waren. Tatsache ist, daß wir als Koalition nach der Anhörung im Februar weitere über 200 Änderungsanträge durchgesetzt haben. Was ich bedaure, ist, daß trotz vieler Anfragen Demonstrationen, die jetzt veranstaltet werden, an diesen Änderungen total vorbeigehen. Offenbar hat sich hier manche Erkenntnis auch bei den Kollegen der Opposition noch nicht durchgesetzt.Ich will einige nennen: Es gibt eine privilegierte Einbürgerung für Ausländer der ersten Generation mit einem Aufenthalt von 15 Jahren. Praktisch voraussetzungsfrei können sie Deutsche werden. Ausgeweitet wird die privilegierte Einbürgerung für Ausländer der zweiten und dritten Generation bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres. Endlich wird für heimatlose Ausländer ein vereinfachtes Einbürgerungsverfahren geschaffen, wenn sie sich sieben Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten — einzige Ausnahme: wenn sie schwere Straftaten begangen haben. Übrigens werden Ehegatten und minderjährige ledige Kinder vereinfacht miteingebürgert. Es gibt die Hinnahme der Mehrstaatigkeit, wenn der Heimatstaat die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit verweigert oder zum Beispiel von der Ableistung des Wehrdienstes abhängig macht. Die Härteklausel bei der nun gesetzlich zu regelnden Rückkehroption wird noch einmal durch die Koalitionsfraktionen erweitert. Es gibt die Verbesserung des Familiennachzugs zur Herstellung nicht der häuslich-familiären, sondern ausschließlich der familiären Lebensgemeinschaft. Kinder bis zu zwei Jahren werden beim Wohnraumnachweis nicht mitgezählt. Kinder, die im Bundesgebiet geboren werden, erhalten zukünftig von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis. Ausländische Ehepartner von Deutschen erhalten bereits nach drei Jahren — nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, nach fünf Jahren — eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Die Erteilung der Aufenthaltsberechtigung kann in zahlreichen Fällen bereits nach fünf Jahren erfolgen. Natürlich wird — Kollege Hirsch hat das mit einer Frage noch einmal verdeutlicht — klargestellt, daß sich Ausländer hier grundsätzlich politisch betätigen können. Deshalb verstehe ich auch nicht, weshalb Sie lange Passagen Ihrer wertvollen Redezeit einem Sachverhalt widmen, der in dem Entwurf überhaupt nicht mehr enthalten ist.Bei der Ausreisepflicht wird die Härteklausel erweitert. Wehrdienstzeiten im Ausland und Aufenthaltsunterbrechungen von weniger als sechs Monaten werden nicht mehr zur Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet führen. Es gilt der besondere Ausweisungsschutz für Minderjährige zukünftig auch für Heranwachsende. Den Ehegatten und minderjährigen Kindern eines Asylberechtigten wird, was im Asylrecht eine ganz entscheidendeFrage ist, ebenfalls die Rechtsstellung eines Asylberechtigten gewährt.Des weiteren wird im Asylverfahren erstmals das Verhältnis von Asyl zum sogenannten kleinen Asyl eindeutig geregelt: Ausländer, bei denen das Bundesamt festgestellt hat, daß Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 vorliegen, erfüllen künftig ebenfalls die Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention.Meine Damen, meine Herren, ich konnte nicht alle Änderungsanträge nennen. Wer sich aber wirklich die Mühe macht, das Gesetz von 1965, den Regierungsentwurf von Oktober/November letzten Jahres und die über 200 Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen anzusehen, kann doch allen Ernstes nicht bestreiten, daß das Leben der hier lange lebenden Ausländer auf Grund dieses neuen Gesetzes rechtlich erheblich verbessert wird und daß sie eine neue Chance für Partnerschaft bekommen,
daß sie in die Lage versetzt werden, ihre rechtlichen Möglichkeiten von vornherein zu berechnen, um sich dann mit den entsprechenden Anträgen und Maßnahmen, die dieses Gesetz bietet, einzustellen.Ich habe — ich sage es noch einmal — Verständnis, wenn Kollegen in diesem Haus diese Änderungen nicht weit genug gehen. Diese Frage ist leider Gottes sehr emotional. Sie ist von Extremen geprägt. Sie ist von Leuten geprägt, die ein Einwanderungsgesetz im Sinne von „Alle können kommen, wenn sie wollen" wünschen, aber auch von denen, die völlig unsinnigerweise schreien: „Ausländer raus! " In dieser sehr sensiblen Materie, bei der man Einzelfallgerechtigkeit nur durch sehr differenzierte Bestimmungen erreichen kann, war nicht nur der gute Wille vorhanden; es kann auch nicht bestritten werden, daß der gute Wille zu besseren Regelungen führt. Deswegen lade ich Sie herzlich ein, zwei Dinge zu tun: erstens, in sich zu gehen und noch einmal zu prüfen, ob wir nicht ein bedeutend besseres Gesetz als das von 1965 machen, und zweitens, das zu tun, was vernünftige Leute immer tun, wenn etwas besser wird: zuzustimmen und nicht abzulehnen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Meneses Vogl.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist keine Ironie des Schicksals, geschweige denn ein Zufall, daß ausgerechnet ich, ein Ausländer, heute in diesem Haus gegen das Ausländergesetz reden will und reden kann.Ich möchte heute ganz bewußt als Ausländer und nicht als deutscher Bundestagsabgeordneter reden, denn ich verkörpere in diesem Haus — offensichtlich geht das — das Bild des neuen Volkes in diesem Land, das faktisch nicht mehr aus „reinrassigen" Deutschen besteht, sondern aus einer bunten, reichen und vielfältigen Kultur.
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Meneses VoglIch will auch nicht auf die Einzelheiten dieses makabren Gesetzes eingehen, denn meine Redezeit ist viel zu kurz dafür. Andere Kolleginnen haben es bereits getan bzw. werden es mit Sicherheit noch tun.Ich will Ihnen, Kolleginnen der Regierungskoalition — ich sage ganz bewußt: „Kolleginnen" —, eine letzte Möglichkeit geben, Ihre vorbereitete Entscheidung zu überdenken, denn ich weiß, daß Sie bewußt nicht genügend über den Inhalt dieses Gesetzes durch Ihre Fraktionskollegen — es handelt sich nämlich um ein grundsätzlich männliches Gesetz — informiert worden sind.Ich gebe Ihnen eine Schweigeminute aus meiner Redezeit, damit Sie darüber nachdenken können, ob Sie dieses Gesetz mittragen wollen, ein Gesetz, das Hilfe verweigert, wenn ausländische Kinder in dieser Republik ihre letzte Möglichkeit zum Überleben suchen, ein Gesetz, das diese Republik gegen zufluchtsuchende Menschen prinzipiell abschottet, ein Gesetz, das deutsche Bürger auffordert, ausländische Bürger zu bespitzeln, ein Gesetz, das den Datenschutz für ausländische Menschen aufheben wird, ein Gesetz, das die Familienzusammenführung als ein Privileg von Deutschen und Deutschstämmigen festschreibt, ein Gesetz, das junge Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, die kein anderes Land und keine andere Sprache so gründlich kennen wie Deutschland und die deutsche Sprache, trotzdem als sogenannte Ausländer abstempelt und verunsichert, ein Gesetz, das den demokratischen Ansprüchen dieses Landes widerspricht.Diese Minute Schweigen soll aber auch der künftigen Opfer dieses Gesetzes gedenken,
der Flüchtlinge, die in den sicheren Tod abgeschoben werden, der zerstörten Familien, die nie zusammenkommen werden, der ausländischen Jugendlichen, deren Zukunft an diesem Gesetz scheitern wird.
Es soll eine Minute des Nachdenkens über den Hungerstreik der ausländischen Jugendlichen in Bielefeld und Bonn und der vielfältigen anderen Aktionen gegen die Verabschiedung dieses Gesetzes sein, über den massiven Protest der Demokraten, die heute eine parlamentarische Niederlage einstecken werden. Schweigen ist Gold. Es ist aber auch Trauer und Entrüstung.Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die es auch in diesem Sinne sehen, sich vom Platz zu erheben und der heutigen Niederlage der Demokratie eine Minute lang im Schweigen zu gedenken.
Ich frage mich und Sie: Was für ein Europa wollen wir? Was für ein Europa erleben wir zur Zeit? In Italien wird auf Afrikaner geschossen. In Frankreich übernehmen die Schwesterparteien der CDU die Sprache von Le Pen und propagieren eine Hetze gegen Ausländer. In der Bundesrepublik wird ein Abschottungsgesetz verabschiedet. Wir reden von einem Europa des Friedens, der Weltoffenheit, die kosmopolitische Weltstädte beherbergen soll. Wir erleben aber eine Bundesrepublik und ein Europa der Feindseligkeit gegenüber den Menschen aus der Dritten Welt, ein Europa, wo das kolonialistische Denken eine Renaissance erfährt. In diesem Europa, wo neue Definitionen gepredigt werden, wird die kollektive Entwertung von gesellschaftlichen Gruppen verstärkt, die nicht europäisch sind, wird die Persönlichkeitsbildung erschwert zugunsten einer Identitätsspaltung von jungen Menschen, die nicht europäisch sind, wird der soziale Bürgerkrieg zwischen Europäern und Nichteuropäern zugunsten eines nationalistischen, europäischen Denkens geschürt. Ein Europa, wo Araber, Asiaten oder Lateinamerikaner mit negativen Merkmalen stigmatisiert werden, ein solches Europa, ein solches Deutschland ist nicht weltoffen, solange es die Ausländerfreundlichkeit auf Europäer reduziert.
Solange selbst in Europa Unterschiede zwischen Deutschen, Polen, Türken oder Jugoslawen gemacht werden, bleibt Europa gespalten und weltfeindlich. Denn die Freundlichkeit eines mächtigen Kontinentes oder Landes wie Deutschland gegenüber dem Rest der Welt wird nicht nur an ihrer wirtschaftlichen Macht gemessen, sondern an ihrer Fähigkeit zur Menschlichkeit. Alles andere ist Opportunismus und Selbstbetrug.Wir sollten als Hoffnung betrachten, daß Immigranten und Flüchtlinge mitten in unserer Gesellschaft sind und daß diese Immigration uns nur helfen kann, das europäische, deutsche nationalistische Denken zu überwinden.
Ein weltoffenes, kosmopolitisches Land kann nicht nur aus Deutschen bestehen. Wenn in diesem Land demnächst „das zusammenwachsen soll, was zusammengehört" , dann gehören dazu alle Menschen, die hier leben und leben wollen. Mauern sollen in Deutschland nie mehr errichtet werden, weder aus Stein noch aus Gedanken oder Gedankenlosigkeit.
Das neue Ausländergesetz bleibt aber eine Mauer. Unsere Aufgabe wird es sein, sie zu zerstören.Die SPD hat einige Anträge gestellt. Wir werden uns enthalten, weil sie aus unserer Sicht nicht weitgehend genug sind. Der Unterschied ist aber, daß wir an diesen Anträgen etwas spüren, was bei dem Ausländergesetz der Bundesregierung völlig fehlt, nämlich daß Menschen überhaupt berücksichtigt werden und
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Meneses Voglnicht ausschließlich bundesdeutsche Interessen. Zumindest ein starker Hauch von internationalistischer Einstellung ist zu spüren. Internationalismus bedeutet nicht die Solidarität unter den Reichen und Mächtigen, sondern die Solidarität mit den Ohnmächtigen der Welt.Danke schön.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegen dieses Gesetz sind Emotionen mobilisiert worden, die nicht verantwortet werden können. Wir haben eben ein Beispiel dafür gesehen.
Ich hoffe, daß sich wenigstens der eine oder andere von Ihnen ein Gefühl dafür bewahrt hat, was politische Diskussion und was Theater ist.
Ich kenne kein Gesetz, dessen tatsächlicher Inhalt so vollständig anders ist, als es diese Agitation behauptet. Es schmerzt mich, wie viele auch achtenswerte Organisationen und Persönlichkeiten sich daran beteiligen, diesen Entwurf herunterzumachen, seine wesentlichen Fortschritte gering zu achten und seine überhaupt nicht geleugneten Probleme als vorsätzliche Schikanen zu verdächtigen. Es ist offenbar kaum noch möglich, eine sachliche Debatte zur Ausländerpolitik zu führen. Die meisten Kritiker kennen den Inhalt unserer Beschlüsse überhaupt nicht,
die wir nach der öffentlichen Anhörung gefaßt haben. Sie sind aber blindlings bereit, jede noch so absurde Behauptung über den angeblichen Inhalt zu glauben. Darüber muß jeder nachdenken, der politische Verantwortung hat, empfindet oder bekommen will.
Die Fraktion der GRÜNEN macht mit dem Antrag auf 20 namentliche Abstimmungen ein altehrwürdiges parlamentarisches Instrument der individuellen Verantwortung zum absurden Theater.
Sie bestätigen auf Ihre Weise meine Behauptung, daß die Ausländerpolitik in der Bundesrepublik selten an den Ausländern selbst orientiert war, sondern überwiegend an innenpolitischen Interessen, an Emotionen und an Wahlkampfthemen.
Die öffentliche Meinung über die richtige Ausländerpolitik ist zerrissen wie bei selten einem anderen politischen Thema. Die Polarisierung wächst: auf der einen Seite schlichte Ausländerfeindlichkeit oder Angst vor ihrer Zahl und Leistungskraft und auf der anderen Seite die Selbstgerechtigkeit einer unheilbar edlen Moral bis zu der wohlkalkulierten Absicht, ausländerrechtliche Regelungen zu einem schreienden Unrecht per se zu machen. Die Leidtragenden dieser Polarisierung sind die Ausländer selbst,
die sich im Gegensatz zu uns in ihrer großen Mehrzahl nur schwer ein eigenes Urteil über den Inhalt, die Vor-und Nachteile dieses Gesetzentwurfes bilden können. Sie werden zu einem Knüppel in der deutschen innenpolitischen Auseinandersetzung gemacht, zu einem Werkzeug für andere Ziele.
— Ihr Geplärre ist ein Zeichen dafür, wie Sie menschenverachtend diese Ausländer zu Ihrem Knüppel machen. Es geht Ihnen gar nicht um die Ausländer selber.
Natürlich taugt das Ausländerrecht von 1965 nicht mehr. Nun muß ich meinen Kollegen von der SPD sagen: In der ganzen Zeit, in der Sie mit uns in der Regierungsverantwortung waren, gab es keine einzige parlamentarische oder politische Initiative von Ihrer Seite, dieses Ausländerrecht von 1965 zu modernisieren — nicht eine einzige. Das muß ich Ihnen einmal sagen.
Meine Bemühungen, z. B. einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung einzuführen, konnten auch bei der SPD nur unter größten Schwierigkeiten überwunden werden.
— Sie, Herr Kollege Penner, wissen das ganz genau.
Gestatten Sie, Herr Abgeordneter Hirsch, eine Zwischenfrage?
Ja, natürlich.
Herr Hirsch, ich verstehe den Grad Ihres Engagements sehr gut. Ist Ihnen aber entgangen, daß während der Zeit der sozialliberalen Koalition zu keiner Zeit ein Sozialdemokrat im Innenressort politische Verantwortung trug?
Sagen Sie, verehrter Herr Kollege, ist Ihnen eigentlich entgangen, daß in der gesamten Zeit die Bundeskanzler Sozialdemokraten waren?
Sind Sie der Meinung, daß politische Initiative nur von den Innenministern ausgehen kann? Sagen Sie mir das einmal! Was ist denn in den Ländern? Ist es nicht so, daß auf der Grundlage des Ausländergesetzes von 1965 diese Wohnraumklauseln, die hier zu einem Problem gemacht werden, auch in sozialdemokratischen Ländern als Verwaltungserlaß existieren? Haben Sie diese bis heute abgeschafft, in Hamburg, in Berlin oder sonstwo? Nein, das haben Sie nicht getan.
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Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage?
Ja. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Hirsch, es ist ja völlig unbestritten, daß die Ausländerpolitik quer durch die Parteien Schwierigkeiten macht; auch in meiner Partei. Aber, Herr Hirsch, Sie stellen sich hier so hin, als seien Sie gewissermaßen der ungekrönte Sachwalter von Ausländerinteressen.
Sie haben das auch auf die Länderebene bezogen. Jetzt frage ich Sie, der Sie einmal Innenminister von Nordrhein-Westfalen gewesen sind: Haben Sie je im nordrhein-westfälischen Kabinett einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Ausländerrechts initiiert?
Ja, ich habe mich darum bemüht, die Mitwirkung der Ausländer in der Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen zu verbessern, und ich habe mich, wie ich Ihnen das eben dargestellt habe, darum bemüht, einen Gesetzentwurf durch das Kabinett zu bringen — schließlich mit Erfolg — , der den Ausländern der zweiten Generation einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung gewährt. Reicht Ihnen das?
Einen Unterschied, Herr Kollege, gibt es auch noch. Ich stelle mich nämlich nicht mit der Selbstgerechtigkeit hin, mit der die Frau Kollegin Sonntag-Wolgast hier ein unheilbar gutes Gewissen vorgeführt hat, als wäre sie die einzige, die die Fürsorge für Ausländer in diesem Hause gepachtet hat.
Ich finde das unglaublich.Es hat natürlich völlig ungeeignete Gesetzentwürfe gegeben, die den Ausländer unverändert als einen Fremden, einen mehr oder weniger ungebetenen Gast behandelten, der nach Möglichkeit wieder außer Landes gebracht werden sollte. — Tiefstes neunzehntes Jahrhundert.Mit der wachsenden Verflechtung der Industriestaaten ist die Vorstellung einer völkischen Isolierung unvereinbar.
An der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb Westeuropas haben wir ein eigenes hohes Interesse. Der Gesetzentwurf ändert daran natürlich nichts.Wir haben auch ein Interesse daran, daß nicht mehr oder weniger große Menschengruppen auf Dauer unter uns leben, die weder klare Rechte noch eine faire Integrationschance haben.Natürlich waren wir ein Einwanderungsland, als die Große Koalition die Anwerbung von Arbeitskräften rings um das Mittelmeer betrieb, und natürlich sind wir ein Einwanderungsland kraft unserer wirtschaftlichen Attraktivität,
seitdem die Ostblockstaaten dem Drängen der freien Welt folgen und die Freizügigkeit allmählich herstellen. Und natürlich haben die unter uns lebenden Ausländer dieselben Bedürfnisse wie wir — ob es nun Türken, Jugoslawen, Portugiesen, Engländer oder Deutsche aus Kasachstan sind. Dieser Wandel zu einer offenen Gesellschaft wird nur schrittweise gelingen: mit Geduld, mit Kompromißbereitschaft und mit einem Bewußtsein dafür, daß ein Gesetz zwar Integrationschancen eröffnen kann, daß aber die Aufnahmebereitschaft und die Aufnahmefähigkeit — also die Brüderlichkeit — von der Gesellschaft selbst geleistet werden müssen. Wir haben alle Veranlassung, denen, die sich dieser Aufgabe unverdrossen widmen, zu danken.Die Eiferer beider Extreme schaden uns Deutschen ebenso wie den unter uns lebenden Ausländern.
Das hier vorgelegte Gesetz ist sicherlich umständlich, perfektionistisch, meinetwegen bürokratisch. Es ist schwer zugänglich, und darum ist es so leicht angreifbar. Es gibt aber den Ausländern eine Rechtsstellung, wie sie in Deutschland noch nie günstiger war.
Ich kenne kein anderes Land auf dieser Erde, das den dort lebenden Ausländern mehr Rechte einräumt, als es dieses Gesetz bei uns tut. Wenn wir Ausländerrechte nur auf Gegenseitigkeit einräumen würden, gäbe es ein großes Erwachen. Viele Deutsche, insbesondere deutsche Frauen — Frau Kollegin Sonntag-Wolgast! — , würden sich glücklich schätzen, wenn sie nur einen Teil der Rechte hätten, die wir den hier bei uns lebenden Ausländern einräumen.
Das hier vorgelegte Gesetz gibt dem Ausländer klare, neue Rechtsansprüche, die er bisher nicht hatte, auf Aufenthaltsverfestigung, auf Wiederkehroption — nicht nur für Kinder, sondern auch für ausländische Rentner — , Rechte auf Familienzusammenführung mit Ehepartner und Kindern, die sie bisher nicht hatten. Natürlich erhalten die in der Bundesrepublik geborenen ausländischen Kinder von Amts wegen eine Aufenthaltsberechtigung. Natürlich gelten im wesentlichen dieselben Datenschutzbestimmungen für Ausländer wie für Deutsche.
Der Datenschutzbeauftragte hat sich ausdrücklich mit den Regelungen einverstanden erklärt.
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Dr. HirschNatürlich wird die Einbürgerung drastisch erleichtert — übrigens auch für heimatlose Ausländer und für Ausländer, die fünfzehn Jahre bei uns leben. Natürlich werden die sogenannten De-facto-Flüchtlinge zum erstenmal alle Rechte nach der Genfer Konvention bekommen. Natürlich findet keine Abschiebung bei drohender Folter oder bei drohender Todesstrafe statt. Das Asylrecht wird automatisch — das hat Herr Gerster schon ausgeführt — auf den Ehepartner und die Kinder des politischen Flüchtlings erstreckt. Der Arbeitsminister erhält die Ermächtigung, das Arbeitsverbot ganz oder teilweise aufzuheben. Und natürlich gibt es keine einzige familienrelevante Entscheidung, in der der Ausländer schlechter behandelt würde als bisher.
Herr Abgeordneter Hirsch, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Trenz?
Nachdem ich ihre Rede kenne, tue ich das nur sehr ungern. Aber bitte schön.
Herr Dr. Hirsch, Sie haben eben gesagt: Kinder, die hier geboren sind, erhalten von Amts wegen eine Aufenthaltsberechtigung.
Genehmigung!
Sie haben „Berechtigung" gesagt. Ich wollte Sie nur daran erinnern, daß sie eben eine Aufenthaltserlaubnis erhalten.
Die Kinder erhalten automatisch dieselbe Rechtsstellung wie die Mutter oder der personensorgeberechtigte Vater.
Aber auch nur eine Aufenthaltserlaubnis. Und Sie wissen ganz genau, daß die Kinder — —
Frau Abgeordnete Trenz, das wäre eine weitere Zwischenfrage, und dazu müßten Sie schon die Genehmigung haben. Aber bleiben Sie bitte noch am Mikrophon; denn Sie bekommen ja eine Antwort.
Sie will doch gar keine Antwort haben.
Frau Kollegin Trenz, wir hätten jede Ihrer Fragen in der Ausschußsitzung bis ins einzelne erörtern und verhandeln können. Die Ausschußsitzung hat für mich zu einer unverständlich frühen Zeit geendet, weil keine Fragen mehr da waren. Das ist doch die Wahrheit. Wenn Sie den Gesetzestext und die Änderungsbeschlüsse, denen Sie widersprochen haben, lesen, dann werden Sie feststellen, daß das in der Bundesre-
publik geborene Kind von Amts wegen die Aufenthaltsberechtigung bekommt, und zwar in demselben Status wie die Mutter.
Sie gestatten eine weitere Zwischenfrage?
Nein. — Es gibt im Gesetz — das will ich nicht verschweigen — aber auch Dinge, die weniger gefällig, aber notwendig sind. Wer Straftaten von Bedeutung begeht, wird eher gehen müssen als bisher. Wer seine politischen Bürgerkriege austragen, also Gewalt ausüben will, wird das bei uns nicht mehr tun können. Ich halte das im Grundsatz, aber auch im Interesse des Zusammenlebens zwischen Ausländern und Deutschen für vertretbar. Wir fühlen uns verpflichtet, den ausländischen Mitbürgern gerecht zu werden. Wir wissen auch, daß viele Deutsche das Verhalten des Staates gegenüber der Minderheit von Ausländern zu einem Maßstab für die humanitäre und liberale Substanz unseres Staates machen. Wir denken selbst so. Die Qualität unseres Staates entscheidet sich auch daran, wie er sich gegenüber Minderheiten und gegenüber denen verhält, die bei ihm Hilfe und Schutz suchen und die sich nicht selbst helfen können.
In diesem Jahr werden es, Herr Kollege Meneses Vogl, wahrscheinlich über 170 000 Menschen sein, die in der Bundesrepublik um Asyl nachsuchen. Der Gesetzgeber kann aber weder dem Ausländer die Last seiner Lebensentscheidung ersparen, noch kann der Gesetzgeber der Gesellschaft die eigentliche Aufgabe abnehmen, zur Aufnahme und zur Integration der bei uns lebenden Ausländer bereit zu sein und sie zu akzeptieren.
Wir wollen, daß der Innenminister nach zwei Jahren einen eingehenden Bericht über die Erfahrungen erstattet, die mit diesem Gesetz gemacht werden. Wir hoffen, daß wir dann einen weiteren Schritt in eine moderne und offene Gesellschaft vollziehen können. In diesem Sinne werden wir dem Gesetz zustimmen.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Innern, Herrn Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist soeben darüber diskutiert worden, wer wohl die Interessen von Ausländern hier vertrete und wer sich bei diesem Gesetz mehr dafür einsetze. Ich würde deshalb gerne noch darauf hinweisen, daß, wenn wir dem inneren Frieden dienen wollen und wenn wir das Ziel Ausländerfreundlichkeit nicht nur predigen, sondern tatsächlich verwirklichen wollen, es dann darauf ankommt — —
Herr Minister Schäuble, ich bitte Sie, zu unterbrechen. — Darf ich Sie bitten, die-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16281
Vizepräsident Stücklenses Transparent zu entfernen. Ich verweise Herrn Abgeordneten Meneses Vogl und Sie, Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin, des Saales. Ich schließe Sie für diesen Tag aus der Sitzung aus. Darf ich Sie bitten, den Saal zu verlassen!
Herr Minister, darf ich Sie bitten, mit Ihren Ausführungen fortzufahren.
Am besten, Herr Präsident, fange ich noch einmal an; denn es hat keinen Sinn mit diesem Theater. Es geht denjenigen, die sich so verhalten, ganz offensichtlich ja nicht darum, Ausländerfreundlichkeit in diesem Land zu bewahren, sondern die verschiedenen Gruppen unserer Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen.
Wer dies tut, schafft nicht Ausländerfreundlichkeit, sondern das Gegenteil.
— Natürlich. Es geht ja darum, gegeneinander aufzuhetzen, zu teilen, zu polarisieren, zu radikalisieren. Das ist nicht für den inneren Frieden, sondern dagegen. Das ist nicht im Interesse der Ausländer, und es ist nicht im Interesse der Deutschen, sondern es ist im Interesse von Auseinandersetzung und Radikalisierung.
Ich finde, gerade am heutigen Tag sollten wir alle miteinander dem mit Entschiedenheit entgegentreten.
Deswegen will das neue Ausländerrecht einen fairen Ausgleich schaffen zwischen den Hoffnungen und den legitimen Erwartungen der bei uns lebenden Ausländer einerseits und den Interessen der deutschen Bevölkerung andererseits. Darum geht es. Nur auf dieser Grundlage läßt sich Ausländerfreundlichkeit bewahren, und nur auf dieser Grundlage kann radikalen Kräften, die ausländerfeindliche Ressentiments schüren und ausbeuten wollen, das Handwerk gelegt werden.
Zu diesem fairen Interessenausgleich gehört, daß der weitere Zuzug von Ausländern begrenzt bleiben muß, weil es für jede Gesellschaft Grenzen der Integrationsfähigkeit und der Integrationsbereitschaft gibt. Wir haben, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, den Anwerbestopp seit 1973. Ich will jetzt nicht aufzählen, wer damals Bundeskanzler und wer Bundesinnenminister war. Bei Ihrer Rede haben Sie den Eindruck erweckt, als wollten Sie den Anwerbestopp aufheben; dann sagen Sie es. Aber Sie haben es nicht getan seit 1973. Ich halte ihn auch für richtig. Wir brauchen ihn auch weiterhin. Wer den Zuzug von Ausländern nicht begrenzt hält, wird Ausländerfreundlichkeit in diesem Land und in dieser Gesellschaft nicht dauerhaft bewahren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Sonntag-Wolgast?
Bitte sehr.
Herr Minister Schäuble, ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß ich wörtlich gesagt habe „Wir Sozialdemokraten halten am Anwerbestopp fest" ?
Das ist mir überhaupt nicht entgangen; das habe ich wohl gehört. Aber ich habe ja gesagt: Sie haben im Rest Ihrer Rede den Eindruck erweckt — denn sonst macht Ihre Rede keinen Sinn, Frau Kollegin —, als wollten Sie ihn eben doch aufheben.
Wenn Sie uns vorwerfen, daß wir eine Politik der weiteren Begrenzung des Zuzugs aufrechterhalten, obwohl wir ja den Familiennachzug erstmals einführen, der seit 1973 gefordert wird, aber nie — von Ihnen jedenfalls nicht — eingeführt worden ist, macht all das, was Sie uns kritisch vorwerfen, keinen Sinn, es sei denn, Sie wollten am Anwerbestopp nicht mehr festhalten.
Wir müssen bei allen diesen Diskussionen auch die besondere Verantwortung beachten, die uns unser Grundgesetz für Aus- und Übersiedler auferlegt. Ich hätte mir, meine Damen und Herren, schon bei manchen Debatten über Aus- und Übersiedler in den letzten Monaten gewünscht, daß die Maßstäbe der Großzügigkeit, die gegenüber Ausländern und Asylbewerbern zu Recht gefordert werden, auch an Aus- und Übersiedlern angelegt worden wären.
Wenn uns in den Diskussionen gelegentlich andere europäische Staaten als angeblich großzügigere Vorbilder vorgehalten werden, so will ich dem doch einmal mit dem Hinweis begegnen, daß ein Verzicht auf Zuzugsbegrenzung in einem Europa der offenen Grenzen bei keinem einzigen unserer Partner — weder beim Schengener Abkommen noch in der Europäischen Gemeinschaft — auf Zustimmung stoßen würde. Im übrigen gewährt kein anderer Staat in so großzügiger Weise, wie das bei uns durch Art. 16 unseres Grundgesetzes festgelegt ist, politisch Verfolgten einen uneingeschränkten Rechtsanspruch auf Asyl.
Gerade um auch in Zukunft fähig zu bleiben, Verfolgten Schutz und Zuflucht zu gewähren, müssen wir die mißbräuchliche Berufung auf das Asylrecht wirkungsvoller unterbinden, durch schnellere Asylverfahren und durch den Vollzug der Entscheidungen, d. h. gegebenenfalls auch durch die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber.Wir haben doch bei der Diskussion um Aus- und Übersiedler in den letzten Wochen erlebt, wie schnell hehre Vorsätze auch bei der SPD-Fraktion in das Gegenteil umschlagen, wenn sich öffentliche Stimmungen verändern. Deswegen sage ich: Wer weiter fähig bleiben will, Zuflucht für politisch Verfolgte zu gewähren, muß den Zuzug begrenzt halten.
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16282 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Bundesminister Dr. SchäubleWir haben im Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern in den zurückliegenden zwölf Monaten erhebliche Fortschritte bei der Beschleunigung der Asylverfahren erreicht. Ich bin überzeugt, daß die mit der Novellierung des Asylverfahrensgesetzes zu beschließenden Beschleunigungen auch bei den Gerichtsverfahren Verbesserungen bringen. Auch die klareren Abschiebungsregelungen des neuen Ausländerrechts werden dazu beitragen, den Vollzug zu verbessern.Ich weiß auch — und ich will es auch in dieser Debatte nicht verschweigen — , daß die allermeisten, die sich zu Unrecht auf das Asylrecht berufen und damit die seit 1973 verfolgte Politik des Anwerbestopps unterlaufen wollen, zumindest im Vergleich zu unserer wirtschaftlichen und sozialen Lage aus unendlich viel schlechteren Verhältnissen kommen. Aber wir können nicht allen, die auf dieser Erde in Hunger, Not oder Elend leben, dadurch helfen, daß wir sie in unsere Bundesrepublik Deutschland aufnehmen.Deshalb ist es noch wichtiger, daß wir als Deutsche wie als Europäer unsere Anstrengungen verstärken, um das Wohlstandsgefälle in Europa und um Hunger und Not in der Dritten Welt wirkungsvoller als bis heute zu bekämpfen. Dazu ist im übrigen auch erforderlich, daß wir unsere Bundesrepublik Deutschland nicht destabilisieren lassen, damit wir auch in Zukunft zur Hilfe nicht nur bereit, sondern auch fähig bleiben.Im übrigen liegt die Begrenzung des weiteren Zuzugs von Ausländern vor allem im Interesse unserer ausländischen Mitbürger selbst.Für diese, also für die hier seit langem rechtmäßig lebenden Ausländer, bringt das neue Recht im wesentlichen nur Verbesserungen. Dies ist in der Diskussion der letzten Monate von vielen, die sich angeblich oder tatsächlich für die Interessen von Ausländern engagieren, verschwiegen worden.Es ist hier schon gesagt worden, und auch ich finde: Es ist völlig legitim, wenn sich etwa kirchliche oder andere Wohlfahrtsorganisationen, die sich der Betreuung von Ausländern widmen und die hierfür unser aller Dank verdienen, für weitergehende Verbesserungen für Ausländer einsetzen, als sie dieses Gesetz enthält.
Das ist legitim.Aber wer den ausländischen Mitbürgern in den letzten Monaten eingeredet hat, daß dieses Gesetz für sie Verschlechterungen bringe, der hat — und das sage ich zu kirchlichen Organisationen — im Sinne des achten Gebots falsch Zeugnis geredet.
Der hat wahrheitswidrig und zu Unrecht und meist wieder besseres Wissen Ängste bei ausländischen Mitbürgern geschürt,
und er hat damit gegen sein eigenes Anliegen der Ausländerfreundlichkeit eklatant verstoßen.
Ich wiederhole: Die kirchlichen Stellungnahmen habe ich hier, die kirchlichen Stimmen habe ich eingefordert, und die haben das begrüßt.Im übrigen will ich doch, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, eine Agenturmeldung vom heutigen Tag verlesen:UNO-Flüchtlingskommissar begrüßt neues Ausländergesetz. Der Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik, Walter Koisser, hat das am Donnerstag im Bundestag zur abschließenden Beratung anstehende neue Ausländergesetz begrüßt.Mit dem Zerrbild, das Sie hier vorgetragen haben, hat das nun wirklich nichts zu tun.
Sie stehen gegen den Rest der Welt mit dem Zerrbild, das Sie von dem neuen Gesetz hier aufzeigen.Ich wiederhole: Dieses neue Ausländerrecht bringt für die hier seit langem lebenden Ausländer im wesentlichen nur Verbesserungen, und zwar so umfassend, wie es überhaupt möglich ist im Sinne des von mir genannten fairen Interessenausgleichs zwischen Deutschen und ausländischen Mitbürgern. Dazu gehören die seit mehr als einem Jahrzehnt von vielen geforderten Rechtsansprüche auf Ehegatten- und Kindernachzug, auf Aufenthaltsverlängerung und Aufenthaltsverfestigung sowie die Wiederkehroption für Ausländer der zweiten und der dritten Generation und vor allem die Rechtsansprüche auf Einbürgerung. All dies dient dem Ziel, die Integration der hier lebenden Ausländer zu verbessern.Ich will, Herr Präsident, an einem einzigen Thema, nämlich am Erfordernis ausreichenden Wohnraums, verdeutlichen, was ich mit notwendigem fairem Interessenausgleich meine. Die Forderung nach dem Vorhandensein ausreichenden Wohnraums — bei der im übrigen Kinder unter zwei Jahren überhaupt nicht mitgezählt werden und die generell für Kinder nicht zur Versagung der Aufenthaltsverlängerung führen kann — ist die geringste Stufe, die überhaupt verlangt werden kann.Es macht eben keinen Sinn, wenn bei der Unterbringung von Asylbewerbern kritisiert wird, es würden zu wenige Quadratmeter Wohnfläche pro Person zur Verfügung gestellt, wenn diese Kritiker gleichzeitig ihr Einverständnis damit signalisieren, daß ausländische Arbeitnehmer, die doch auf Dauer hier leben und leben wollen, auf noch geringeren Wohnflächen untergebracht werden sollten.
Für mich sind sozial deklassierende Wohnverhältnisse für ausländische Familien nicht akzeptabel.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16283
Bundesminister Dr. SchäubleDas Gesetz läßt durch Obergrenzen, nämlich das Sozialwohnungsniveau, und Untergrenzen, nämlich die Einhaltung der auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften — wollen Sie wirklich Ausländer schlechter behandeln als Deutsche? ich nicht — , ausreichenden Spielraum.Es ist eben unrichtig, unwahr und dient lediglich einer aufhetzenden Stimmungsmache, wenn in auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund mitgetragenen Flugblattaktionen für eine fünfköpfige Familie als ausreichender Wohnraum lediglich die für Sozialwohnungen mögliche Obergrenze von 105 Quadratmetern genannt und dabei verschwiegen wird, daß die Untergrenze in Wahrheit bei 45 bis 50 Quadratmetern liegt. Die halte ich dann auch für angemessen, und die brauchen wir gerade aus Gründen des Schutzes der Familie und des Kindeswohls, wenn wir ausländische Arbeitnehmerfamilien hier unterbringen wollen.
Das eigentliche Elend bei dieser Art von Verhetzung ist, daß mit solchem agitatorischen Verschweigen ausländische Mitbürger bewußt verunsichert und in die Irre geführt werden.
Wir alle, denen wirklich an einem friedlichen und freundlichen Zusammenleben von deutschen und ausländischen Mitbürgern gelegen ist und die sich diesem Ziel verpflichtet fühlen, sollten mitwirken, gerade den Ausländern zu erklären, welche Verbesserungen für sie mit diesem Gesetz eingeführt werden, und wir sollten ihnen eben nicht unbegründete Ängste einreden.Der Gesetzestext ist — dies gehört nicht zu seinen Vorzügen — nicht einfach zu verstehen, für Deutsche nicht, offenbar auch nicht für Mitglieder dieses Hauses und schon gar nicht für ausländische Mitbürger. Ein Stück weit ist das eine unvermeidliche Folge des ausländerfreundlichen Ansatzes, klare, einklagbare Rechtsansprüche zu schaffen, wie es sonst kaum ein anderer Staat auf dieser Erde tut,
etwa auf Familiennachzug, auf Aufenthaltsverlängerung und -verfestigung und auf Einbürgerung. Aber wer einklagbare Rechtsansprüche einführt, der muß auch die Voraussetzungen und die Ausnahmen präzise definieren.Aber gerade weil sich unsere Gesetzessprache dem Laien nicht leicht erschließt, ist es um so wichtiger, daß sich alle, die sich für die Betreuung ausländischer Mitbürger engagieren und dafür verantwortlich fühlen, mitwirken, die ausländerfreundliche Zielsetzung und Wirkung dieses Gesetzes zu erläutern, und dies gilt auch für Ausländerbehörden, auch für Wohlfahrtsverbände und auch für Fraktionen dieses Hauses.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. HammBracher?
Ja.
Eine Zwischenfrage: Herr Bundesinnenminister, ich glaube, Sie haben etwas ganz Entscheidendes gesagt, was auch in der Auseinandersetzung um dieses Gesetz diese Emotionalisierung so schürt. Sie sagen mit Recht: Dieses Gesetz ist sehr schwer verständlich. Ich versuche seit Dienstag nach der Fraktionssitzung, mich wirklich zu vertiefen, wo die für mich sehr schwer erträglichen Punkte liegen. Es ist kaum nachzuvollziehen, was da aufgeschrieben ist.
Ich frage Sie jetzt als Innenminister: Was werden Sie tun, damit dieses Gesetz in der Offentlicheit so verstanden wird, wie Sie und andere Redner es hier interpretieren? Denn das ist ja die Voraussetzung dafür, daß es dann auch überkommt. Tun Sie doch als mal was!
Zunächst einmal war ich gerade dabei, etwas in dieser Richtung zu tun, indem ich es erstens erläutere, zweitens an alle, die sich dafür verantwortlich fühlen, appeliere, nicht falsch zu reden; diejenigen, die es wissen, sollten richtig darüber reden. Drittens bitte ich nicht aufzuhetzen.
Das gilt insbesondere auch für die Fraktion DIE GRÜNEN.Viertens. Sobald das Gesetz verabschiedet ist — vorher dürfen wir ja nicht, da wir als Bundesregierung nicht während der laufenden Gesetzesberatung über ein noch vom Bundestag zu beschließendes Gesetz Informationen durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung geben dürfen —, werden wir darüber informieren. Deswegen ist es übrigens so wichtig, daß es jetzt und heute verabschiedet wird, damit nicht weitere Wochen der Verunsicherung anstehen. Das ist der Grund, warum es wichtig ist, das heute zu machen. Wenn es verabschiedet ist, werden wir Fassungen zur öffentlichen Information schaffen, auch in Übersetzungen, für ausländische Mitbürger verständlich, die die ausländischen Mitbürger, die Betreuungsorganisationen, auch die Ausländerbehörden in den Stand setzen, dieses — zugegeben — komplizierte Gesetz zu verstehen und auch in der Praxis human und ausländerfreundlich zu handhaben.
Ich bin dem Deutschen Bundestag und dem Innenausschuß dankbar, daß diese so komplizierte Materie zügig beraten worden ist, so daß genügend Zeit bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes am 1. Januar nächsten Jahres besteht, um Ausländer wahrheitsgemäß aufzuklären, statt sie zu verunsichern oder zu Unrecht Ängste zu schüren.
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16284 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher?
Bitte sehr.
Bitte.
Herr Minister, weshalb eigentlich werden die Gesetze so vorgelegt, daß man sie, wenn man nicht Fachmann ist, von vornherein nicht versteht?
Der Kollege Dr. Hirsch hat gerade davon gesprochen — er wird für Sie genauso vertrauenswürdig sein wie ich — ,
daß es wohl keinen anderen Staat gibt, in dem Ausländer ein höheres Maß an einklagbaren rechtlichen Ansprüchen und auch an Rechtssicherheit haben, als wir mit diesem Gesetz schaffen. Welches andere Land gewährt denn schon Rechtsansprüche auf Einbürgerung in der ersten, zweiten und dritten Generation, auf Ehegatten- und Kindernachzug usw.? Ich will nicht alles wiederholen. Weil wir einklagbare Rechtsansprüche schaffen und ein hochentwickeltes rechtsstaatliches System haben, müssen wir die Voraussetzungen präziser fassen, als das bei den zu Recht beklagten breiten Ermessensspielräumen des alten Ausländergesetzes der Fall war. Wir müssen dann auch die Ausnahmen präziser beschreiben. Deswegen ist das Gesetz so kompliziert geworden.
Nachdem seit 1973 mit dem Anwerbestopp lange versucht worden ist, das dringend Notwendige zu tun und da es richtig ist, in dieser Legislaturperiode, die zu Ende geht, ein neues Ausländerrecht zu schaffen, und nachdem im April vergangenen Jahres die Kollegen der Koalitionsfraktionen, die in besonderer Weise engagiert und verdienstvoll gewirkt haben, Eckwerte für ein neues Ausländerrecht zustande gebracht haben, haben wir uns unter zeitlichem Druck, aber doch mit aller Gründlichkeit bemüht, das jetzt endlich mögliche gute Werk zu tun. Daran sollten sich nun alle beteiligen.
— Herr Kollege Bernrath, reden Sie doch nicht gegen Ihre eigene Überzeugung. Das ist wirklich ärgerlich. Sie sind ein sachlicher Vorsitzender des Innenausschusses,
und Sie wissen ganz genau, daß Sie die Grundlinien dieses neuen Ausländergesetzes begrüßt haben. Sie sind doch froh, daß es endlich zustande kommt. Sie wissen, daß alle Bundesländer dies in Wahrheit für das größtmögliche Entgegenkommen gegenüber den Interessen von Ausländern — insbesondere in den Fragen der Nachzugsregelungen — ansehen. Nach dem
alten Prinzip „Ablehnung, wenn Zustimmung sicher" kann man sich als Opposition natürlich auch im Bundesrat verhalten. Hätten Sie die Mehrheit, dann würden Sie zustimmen. Die kommunalen Spitzenverbände sind derselben Meinung. Das, was Ihre Partei und Ihre Fraktion zu den Problemen der Aufnahme von deutschen Aus- und Übersiedlern in den letzten Monaten zustande gebracht haben, zeigt ja, daß Sie die Großzügigkeit, die Sie Deutschen nicht mehr gewähren wollen, gegenüber Ausländern ganz sicher nicht durchhalten würden.
— Sie nehme ich nach dem Spektakel, das Sie hier aufgeführt haben, nicht mehr ernst.
An diejenigen, denen es darum geht, Ausländerfreundlichkeit nicht nur verbal zu praktizieren, sondern auch dafür zu sorgen, daß möglichst alle in diesem Land ausländerfreundlich bleiben und daß radikale Kräfte, die ausländerfeindliche Ressentiments schüren und ausbeuten wollen, keine Chance haben
— das verstehe ich unter Ausländerfreundlichkeit —, appelliere ich, daran mitzuwirken, daß wir dieses Ziel durch die Verabschiedung dieses Gesetzes auch wirklich erreichen, denn die Bundesrepublik Deutschland
— das sage ich noch einmal; Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, Sie haben mich zu Recht zitiert — ist ein ausländerfreundliches Land. Es ist unser Ziel, daß sie es auch in Zukunft bleibt. So dienen wir am besten dem inneren Frieden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Andres.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Die Damen und Herren von der Koalition bestreiten diese Debatte über weite Strecken mit der Verunglimpfung von Verbänden und Sachverständigen.
Der Herr Minister versteigt sich sogar dazu, die großen Kirchen, die eindeutige Positionen bezogen haben, der Abgabe falschen Zeugnisses zu bezichtigen. Das Problem in der Ausländerdiskussion besteht darin, daß es sich um einen sehr sensiblen Bereich handelt. Ich glaube, daß die Form der Diskussion mit darüber entscheidet, wie die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sich in dieser Debatte verhalten.
— Ja, das sage ich mal. — Herr Dr. Hirsch, ich habe in einer ganzen Reihe von Diskussionen mit Ausländerbeauftragten und mit engagierten Ausländern immer wieder die geradezu wehmütige Bemerkung gehört, man verstehe nicht, warum sich die FDP so verhalten habe. Ich habe immer versucht, das so zu erklären: Es ist klar, es gibt einen großen Widerspruch zwischen den liberalen Positionen, die nach außen vertreten werden, und der inhaltlichen Zustimmung zu diesem Gesetz. Darin liegt auch die Schwierigkeit für viele
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16285
Andresengagierte Leute in diesen Bereichen, das Verhalten der FDP und auch Ihr Verhalten zu begreifen. Wenn ich Sie im Fernsehen sehe, wie Sie Seiten schlenkern und einzelne Formulierungen und Bestimmungen kritisieren und sagen, die hätte man besser machen können, dann muß ich sagen, das verstehe ich auch nicht so recht.Die zweite Bemerkung möchte ich an die Vertreter der GRÜNEN richten. Ich habe den Diskussionsbeitrag des Kollegen Meneses Vogl vorhin gehört. Ich verstehe die Verbitterung und die Verängstigung vieler Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, aber ich denke, eine absolute moralische Überhöhung der eigenen Position und die Art und Weise des Auftretens hier helfen der Sache auch nicht.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes wird die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland nicht abgeschafft! Deswegen sage ich, Kolleginnen und Kollegen: Ein solcher Diskussionsstil hilft weder der Sache noch den betroffenen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Wir sollten in der Sache ringen, und da notfalls auch hart und kompromißlos.Hier gab es vorhin die Zwischenbemerkung, was ich eigentlich damit zu tun hätte. Das will ich Ihnen gern sagen. Herr Kollege Fellner, wir verstehen uns ja gut.
— Nur persönlich, menschlich; nicht politisch, das versteht sich von selbst. — Ich bin Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Viele dieser Probleme, die wir hier beraten, haben mit ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu tun, die seit vielen Jahren bei uns leben, betreffen deren Lebensbedingungen und die Umstände ihrer Lebensplanung ganz eklatant. Man kann sich natürlich hier hinstellen und sagen, wir haben ganz viele Termine angeboten, wir hätten bis 24.00 Uhr tagen können. Das erinnert mich an die Diskussion des sogenannten Gesundheitsreformgesetzes. Ich habe in meinem Ausschuß erlebt, daß wir in den zwei Stunden von 22.00 Uhr bis 24.00 Uhr alle Gesetzentwürfe, die zu dieser Thematik vorlagen, beraten haben.
Die Unionskolleginnen und -kollegen saßen da und sagten mit Krokodilstränen in den Augen: Wir bieten Euch gern noch weitere Termine an. — Am vergangenen Montag haben Sie insgesamt 200 Änderungsanträge zu beraten gehabt, von denen wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung überhaupt nichts wußten. Wenn man weiß, eine Beratung ist nur noch reine Prozedur und reine Makulatur, dann kann man auf diese Beratung auch verzichten, weil sie in der Sache überhaupt keine Jota ändert. Deswegen ist das alles, was hier abgeliefert wird mit der Zusicherung von Ihnen, es hätte genügend Zeit und Möglichkeit gegeben, Schaugeplänkel. Der Verabschiedungstermin stand fest. Der Termin lag vor dem 13. Mai. Sie wissen auch genau, warum vor dem 13. Mai, nämlich weilIhnen möglicherweise nach dem 13. Mai die Bundesratsmehrheit fehlt.
Deswegen geschieht das alles, was Sie hier formal zusichern, mit genau denselben Krokodilstränen, die wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung erlebt haben.Zu einzelnen Punkten in der Sache: Herr Schäuble, das mit dem Anwerbestopp wissen Sie doch auch viel besser. Ich war in der Woche vor Ostern in Jugoslawien. Trotz des generellen Anwerbestopps, den es in der Bundesrepublik gibt, bemüht sich die zentrale Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit momentan — wahrscheinlich auch erfolgreich — um die Anwerbung von Krankenpflegekräften aus Jugoslawien, weil die bei uns fehlen und weil das über ein Instrument des Arbeitsförderungsgesetzes geht.Sie stellen sich hier hin und sagen: Frau Sonntag-Wolgast, Sie haben ganz schlimme Sachen gesagt; Sie wollen das aufheben usw. Man muß wissen, daß es auch jetzt Sonderbedingungen gibt, daß der generelle Anwerbestopp natürlich gilt, daß aber in bestimmten Bereichen, in denen die Bundesrepublik Deutschland ein Interesse hat, dieser Anwerbestopp sehr wohl durchbrochen werden kann. Ich sage voraus, es wird künftig Beschäftigungsbereiche geben — ich denke an den Bausektor; ich denke an Krankenpflege und andere Dinge — , in denen wir ganz massiv den generellen Anwerbestopp durch solche Vereinbarungen und Anwerbungen aufheben werden.Aber das hat nichts mit dem § 10 zu tun, der in diesem Zusammenhang diskutiert wird. Diesen lehnen wir in der vorliegenden Form ebenso wie den Art. 6 und die damit vorgesehene Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes ab, weil sie eine sektorale Aushöhlung des Anwerbestopps bedeuten und hier ein Ermessen und ein Instrumentarium zur Verfügung gestellt wird, um aufenthaltsrechtlich die Voraussetzung dafür zu schaffen, ausländische Arbeitnehmer nach dem Rotationsprinzip zu beschäftigen. Mit dem § 10 und der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes würde die Innenbehörde die Möglichkeit erhalten, Fragen des Arbeitsmarktes, die nicht ohne Beteiligung der Bundesanstalt für Arbeit geregelt werden sollten, zu entscheiden.Deswegen sage ich: Das, was im § 10 steht, wird von uns abgelehnt, weil durch diese Möglichkeit Rotation und Saisonarbeit über das Ausländerrecht legalisiert werden. Da stimme ich meiner Kollegin Sonntag-Wolgast völlig zu: Das ist genau die Position des Heuerns und Feuerns, die hier ausländerrechtlich verankert wird.Der zweite Punkt, der hier diskutiert worden ist: Wir lehnen ganz entschieden die Regelung des § 17 ab, daß sowohl beim Ehegatten- und Kindernachzug als auch bei der Verfestigung des Aufenthaltes der Nachweis ausreichenden Wohnraums verlangt wird. Da sage ich einmal: Bei dem gerade durch Ihre Politik verursachten und damit von Ihnen zu verantwortenden Wohnungsfehlbestand von über einer Million Wohnungen in der Bundesrepublik Deutschland kann
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Andresich die Aufnahme des Nachweises von ausreichendem Wohnraum nur als zynisch beschreiben.
Ich sage dazu: Noch schlimmer wird es, wenn man nachliest, was die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung dazu gesagt hat. Ich will sie da wörtlich zitieren:Schon heute ist die Forderung nach einer bestimmten Wohnungsgröße ein Motiv zum Schwangerschaftsabbruch.
— Ja, ja, genau darauf komme ich, Herr Fellner.Daß nun Kinder unter zwei Jahren bei der Feststellung des Wohnraumbedarfs nicht mitgezählt werden sollen, dient doch nur der kosmetischen Retusche genau dieses schwerwiegenden Vowurfs.
Das haben Sie hereingenommen, damit exakt diese Argumentation in der öffentlichen Auseinandersetzung so nicht gegen Sie verwandt werden kann.
Große Sorge bereitet uns auch die im Regierungsentwurf enthaltene besondere Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen. Den Kindern und Jugendlichen, die eine Erziehungs- oder Familienhilfe, wie eine vorübergehende Unterbringung in einer Pflegefamilie oder in einem Erziehungsheim, in Anspruch nehmen müssen, die Abschiebung anzudrohen, ist zutiefst inhuman.
Diese Vorschrift war schon im kürzlich verabschiedeten neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz enthalten. Die SPD hat vor Monatsfrist diesem Gesetz trotz mancher weiterer Mängel nur deshalb zustimmen können, weil diese Diskriminierungsbestimmung herausgenommen worden ist. Nun taucht sie im Ausländerrecht wieder auf. Das, denke ich, darf auf keinen Fall so bleiben.
Ähnlich problematisch ist die Situation der in die Bundesrepublik einreisenden unbegleiteten Flüchtlingskinder.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Darf ich noch zwei Sätze sagen? — Es tut mir leid, ich bin mit meiner Rede fast am Ende. Ich bitte um Entschuldigung.
Wir sind zwar auch der Auffassung, daß nicht jeder dieser Fälle unsere humanitäre Hilfe erforderlich macht; die große Zahl der aus den Spannungsländern in die Bundesrepublik geschickten Kinder und Jugendlichen muß jedoch um Leib und Leben fürchten. Darum ist ihre Aufnahme eine humanitäre Leistung und die im Gesetzentwurf der Regierung vorgeschriebene Visumspflicht ein verwerflicher Akt gegen jede internationale Regel. Viele Verbände wie Terres des Hommes, Amnesty International, die Arbeiterwohlfahrt und die Kirchen fordern mit Recht unsere Solidarität mit diesen Kindern.
Es ist unbestritten, meine Damen und Herren, daß wir ein neues Ausländerrecht brauchen. Ebenso unbestritten ist auch, daß wir Sozialdemokraten ein liberales, menschliches Recht für Ausländer wollen.
Herr Gerster, ich muß Sie leider enttäuschen. Auch wenn Ihr Gesetzentwurf einzelne Verbesserungen enthält, wird uns das nicht dazu verführen, ihm zuzustimmen. Wir haben nämlich, falls Sie es nicht gemerkt haben, einen eigenen Entwurf eingebracht. Für diesen werden wir stimmen, weil wir ihn für wesentlich besser und der innenpolitischen Situation angemessener halten.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich mache darauf aufmerksam, wenn ein Redner seine Redezeit überzieht, dann geht das auf Kosten der Gesamtzuteilung der Redezeit. Ich klopfe immer so ganz vorsichtig an das Glas, damit der Redner darauf aufmerksam gemacht wird, daß jetzt seine Redezeit zu Ende ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fellner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist kein Schaden, daß von den GRÜNEN nur ein paar wenige im Saal sind. Der Kollege Vogl war ohnehin am besten, als er während der Schweigeminute nicht geredet hat — wobei ich es ausdrücklich für keine gute Idee halte, was Sie von den GRÜNEN veranstaltet haben. Im Grunde hat sich bei uns beim Nachdenken nur die Überzeugung bestätigt, daß wir ein sehr tolerantes Land sind, wenn man hier im Deutschen Bundestag so etwas veranstalten kann. Es macht mich allerdings auch besorgt, weil ich natürlich weiß, daß es Ihnen nicht um die Sache geht, sondern um Agitation, daß Sie den Leuten Angst machen wollen und daß Sie sich davon einen billigen Vorteil versprechen.Ich bedaure, daß sich die SPD in der Auseinandersetzung mit dieser Materie nicht etwas staatsmännischer darstellen konnte.
— Ja, ihr habt keine Staatsmänner. — Ich weiß nicht, ob Ihnen das guttut. Wenn dieses Gesetz hier verabschiedet ist
— ich weiß nicht, ob man „Staatsfrauen" sagen darf — und wenn einmal für alle Gelegenheit besteht, sich ernsthaft mit dem verabschiedeten Gesetz auseinanderzusetzen, dann habe ich eigentlich keine Sorge, daß all diejenigen, die jetzt entweder oberflächlich oder vielleicht auch bewußt hemmungslos agitatorisch gegen dieses Gesetz zu Felde ziehen, ganz klein beigeben werden; denn dieses Gesetz ist wahrlich ausländerfreundlich und gibt durch die Bank Verbes-
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Fellnerserungen für die Rechtsstellung und Position von Ausländern.Wir haben als Bundesrepublik Deutschland durchaus ein Interesse daran, ein ausländerfreundliches Land zu sein und ein ausländerfreundliches Land zu bleiben. Wir sind in die Europäische Gemeinschaft eingebettet und haben am Rande zu Osteuropa hin sicherlich die meisten Nachbarn. Das hat uns nicht nur wirtschaftlich durchaus gutgetan, sondern es hat uns auch zu einer toleranten Gesellschaft gemacht. Wir haben überhaupt keinen Grund, davon abzugehen, gerade jetzt nicht, wo sich die Welt bewegt und wo es neue Möglichkeiten gibt. Deshalb gibt es für uns überhaupt keinen Grund und deshalb halte ich die Vorwürfe für pervers, als wollten wir hier ein ausländerunfreundliches Gesetz verabschieden und das auch noch in einer Art und Weise tun als hätten wir irgend etwas zu verstecken.Ich verstehe auch, daß der Kollege Andres nicht auf dem allerletzten Stand der Diskussion sein konnte. Ich bedaure, daß in seinem Ausschuß unsere Änderungsanträge noch nicht vorgelegen haben. Das ist sicherlich ein Fehler.
— In zwei Stunden hätte er es wohl geschafft; auch Sie haben es in zwei, drei Stunden geschafft. — Herr Kollege Andres, daß das Gesetz schnell beraten worden ist, war wohl kein Fehler. Das Gesundheits-Reformgesetz bestätigt eigentlich, daß es nicht zu Lasten des Gesetzes gehen muß, wenn es zügig verabschiedet wird; denn das Gesundheits-Reformgesetz, das wir verabschiedet haben, war eindeutig ein sehr erfolgreiches Gesetz.
— Ich weiß, daß es schwer ist, den Ausländern das jetzt noch zu vermitteln, wo sie so maßlos irritiert und wegen des Inhalts unserer Gesetze in die Irre geführt sind. Aber ich persönlich bin sehr sicher, daß die Ausländer sehr schnell begreifen werden, daß dieses Gesetz für sie positiv ist.
Ich weiß nicht, ob nicht noch der Wunsch laut wird, daß einzelne Vorschriften dieses Gesetzes sogar früher in Kraft gesetzt werden. Seien Sie vorsichtig; das könnte durchaus sein. Ich begrüße es, daß der Bundesinnenminister die Zeit nutzen will, daß man die Verwaltungskräfte, die künftig mit diesem Gesetz zu tun haben, entsprechend schult
und daß man sicherlich auch eine Übersetzung anfertigt, die die SPD lesen kann, aber auch eine, die von unseren türkischen Mitbürgern gelesen werden kann. Ich glaube, daß dann in vielen Punkten deutlich wird,daß Sie bei diesem Gesetz wirklich neben der Sache gelegen haben.Wenn Sie meinen, das alte Gesetz sei besser, dann müssen Sie sich entscheiden, ob Sie wieder einen Rechtszustand wollen — —
— Entschuldigen Sie: Daß Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf hier vor diesem Hohen Hause noch anzudienen wagen, überrascht mich eigentlich; denn Sie haben sicherlich schon im Zuge der Beratungen gemerkt, daß Sie eine ganze Menge von regelungsbedürftiger Materie überhaupt nicht geregelt haben, daß Sie ein Gesetz gemacht haben, das sehr indifferenziert ein Einwanderungsgesetz sein würde, das es nur in ganz geringem Umfange überhaupt ermöglichen würde, unerwünschte Einwanderung fernzuhalten, daß Sie ein Gesetz haben — da unterscheiden wir uns — , das mehr Ermessen ermöglicht, während wir einfach eindeutige rechtliche Regelungen haben wollen, weil es für Ausländer positiv ist, wenn sie über ihre Rechte Klarheit haben und wenn ihre Ansprüche klar und eindeutig definiert werden.Ich glaube nicht, daß es gut wäre, dem SPD-Gesetzentwurf zu folgen. Erst recht wäre es nicht gut, zu meinen, der alte Rechtszustand sei besser mit seinen unterschiedlichen Regelungen in den verschiedenen Ländern, mit der unterschiedlichen Verwaltungspraxis, mit dem Durcheinander bei gerichtlichen Entscheidungen.Wir schaffen jetzt Klarheit für ein Aufenthaltsrecht, für die Verfestigung des Aufenthaltsrechts je nach dem Stand der Integration. Es ist z. B. ein gravierender Mangel Ihres Gesetzentwurfs, daß Sie darauf nicht Rücksicht nehmen wollen; das ist sicherlich auch nicht positiv. Wir haben jetzt ein Gesetz, das den Nachzug von Ehegatten und Kindern klar regelt.Ich darf noch einmal an die ausländerpolitischen Diskussionen noch vor wenigen Jahren erinnern. Wenn Sie ehrlich sind, dann werden Sie zugeben, daß wir dabei im wesentlichen solche Stichworte diskutiert haben wie Ehebestandsdauer beim Ehegattennachzug und das Nachzugsalter bei den Kindern. Das waren so die Themen, die die ausländerpolitische Diskussion damals bestimmt haben. Wir haben hier — ich fürchte, nahezu nebenbei — all die Dinge geklärt, und zwar in einem keineswegs kleinlichen Sinne, sondern wir haben sie in einer sehr großzügigen Art geregelt. All das wird, wie Sie meinen, jetzt in der öffentlichen Diskussion untergehen. Ich verspreche Ihnen, daß das nicht untergeht und daß denen, die dieses Gesetz demnächst einmal ordnungsgemäß lesen, bewußt wird, daß wir hier sehr ehrliche, sehr ausländerfreundliche Regelungen getroffen haben. Ich denke dabei an die Wiederkehroption für jugendliche Ausländer. Geben Sie doch zu, daß auch dies bei Ihnen noch gar nicht so lange in der politischen Diskussion ist. Sie müssen zugeben, daß viel in dem Gesetz steht, und das wird alles so beiläufig verfrühstückt. Sie tun so, als wäre das überhaupt nichts: Erleichterung der Einbürgerung bis hin zu einer Altfallregelung bei der Einbürgerung. All das steht darin. Sie haben es leider geschafft, das durch eine teilweise wirklich hem-
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16288 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Fellnermungslose Agitation untergehen zu lassen. Aber wenn es erst einmal Gesetz ist, dann wird das deutlich werden.
— Nein, Amberg steigt nicht ab! Wilfried Penner, ich bedanke mich für deine Fürsorge. Ich weiß auch, daß dir die Sorge um die Ausländer sehr ernst ist und daß du sie angesichts unserer Diskussion hier und angesichts unserer Gesetzgebung auch nicht als gefährdet ansiehst, und deswegen kannst du dich auch um den FC Amberg kümmern, der zugegebenermaßen gefährdet ist.Ich will nicht bestreiten, daß auch die Auseinandersetzung mit den Verbänden bei diesem Gesetz außerordentlich prägend war; so will ich es einmal formulieren. Wir haben ungewöhnlich viele Stellungnahmen bekommen. Leider ließen ungewöhnlich viele Stellungnahmen auch erkennen, daß der Verfasser zumindest nicht den allerletzten Stand unserer Diskussionen gekannt hat. Manche haben ungeniert erkennen lassen, daß sie das Gesetz nie gelesen haben konnten. Das hat immerhin dazu geführt, daß wir in der Beratung sehr vieles aufgegriffen haben. Ich verwahre mich etwas dagegen — ich würde mich auch an Ihrer Stelle als Parlamentarier dagegen verwahren —, daß, wenn man aus Anhörungen und aus Stellungnahmen als Parlamentarier Konsequenzen zieht gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf, dies einem dann zum Vorwurf gemacht wird und das Gesetz ständig schlecht gemacht wird.
Dabei ist es dem Selbstverständnis des Parlamentariers einfach angemessen, daß er Änderungen vornimmt. Das zeigt, daß wir die Beratungen sehr, sehr ernst genommen haben. Wenn Sie sich darauf verlegt hätten, bei den Beratungen mitzutun, dann wären wir mit der Zeit alle sehr gut zurecht gekommen, dann hätten wir wahrscheinlich sogar etwas intensiver beraten. Sie haben uns zu Ihrem eigenen Gesetzentwurf, um das noch hinzuzufügen, auch nicht mehr allzuviel zu sagen gehabt.Ich meine also, daß wir alle gut daran tun, dieses Gesetz jetzt zu verabschieden. Ich meine, daß wir ein gutes, ein ausländerfreundliches Gesetz machen; aber auch ein Gesetz, von dem unsere Bundesbürger überzeugt sein können, daß es das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern erleichtert und verbessert. Das ist der eigentliche Sinn der Gesetzgebung insgesamt, und dem folgen wir hier.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Trenz.
Frau Abgeordnete Trenz, bevor Sie mit ihren Ausführungen beginnen, mache ich darauf aufmerksam, daß ich den Text vorliegen habe, den Herr Meneses Vogl verwandt hat, um seine Kolleginnen und Kollegen aufzufordern, sich in einer Gedenkminute vom Platz zu erheben. Diese Gedenkminute sollte der Niederlage der Demokratie wegen des heute zu verabschiedenden Gesetzes gelten. Diese Gedenkminute ist weder von der Sache noch moralisch gerechtfertigt gewesen. Weder der Schriftführer links von mir, der aus Ihrer eigenen Fraktion stammte, noch der Schriftführer rechts von mir konnten Herrn Kollegen Meneses Vogl von hier aus verstehen, sonst hätte ich die Gedenkminute als ungerechtfertigt untersagt.
Frau Trenz, darf ich Sie bitten, mit Ihren Ausführungen zu beginnen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dennoch der Meinung, daß mit diesem Ausländergesetz ein Stück Demokratie stirbt.
Das zeigt auch der Ablauf. Die Regierungskoalition hat das Gesetz mit einer Eile durch die parlamentarischen Gremien gejagt, die allen Anforderungen an ein seriöses Beratungsverfahren Hohn sprechen. In diesen Zusammenhang gehört die Verkürzung der Vorlagefrist im Bundesrat, die nahezu parallele Beratung im Bundestag und Bundesrat und nicht zuletzt die Farce, daß sich der Rechtsausschuß ganze zwei Tage vor der geplanten Endabstimmung im Bundestag erstmals und letztmals mit dem Regierungsentwurf befaßte.
Es gab keine auch nur annähernd ausreichende Auseinandersetzung mit den Bedenken und der Kritik von Immigranten- und Flüchtlingsorganisationen, von Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden oder den juristischen Sachverständigen. Wo sie überhaupt zu Wort kamen, sind ihre Forderungen und ihre Kritik in den Papierbergen der Bürokratie abgeheftet und begraben worden.
Schließlich geht es dieser Bundesregierung nicht um sachliche Beratung, sondern um Machterhalt. Das Gesetz muß noch vor der Landtagswahl in Niedersachen verabschiedet sein, damit es auch im Falle einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Landesparlament für den Bundestagswahlkampf eingesetzt werden kann.
Wie das derzeit geltende so leistet auch dieses Sondergesetz dem täglichen Rassismus Vorschub, der Immigranten, Immigrantinnen und Flüchtlinge als Sündenböcke für die sozialen Mängel und Mißstände unserer Gesellschaft verantwortlich macht. So wird der Bundesinnenminister ermächtigt, durch Rechtsverordnung das Rotationsprinzip einzuführen, wobei Aufenthaltsverfestigung und Familiennachzug von vornherein ausgeschlossen werden können.
Für die eingewanderte Bevölkerung wird ein sicherer Aufenthalt durch kaum erfüllbare Auflagen so gut wie unmöglich gemacht. Trotz Rechtsansprüchen sind die Auflagen so hoch.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16289
Frau TrenzDer Familiennachzug wird weiter erschwert. Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ehegatten gibt es nur nach einer Durchhaltefrist von vier Jahren.
Das Recht auf politische Betätigung wird noch mehr beschnitten.
Arbeitslosigkeit ist ein Grund für nachträgliche Befristungen des Aufenthalts.
Ihre sogenannten Nachbesserungen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Kinder bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres bei der Berechnung des nachzuweisenden Wohnraums nicht mitzuzählen, sind Teil Ihrer menschenverachtenden Logik und Strategie.
Diese zeigen Sie deutlich durch die Einführung der Visumpflicht für Kinder, die ohne ihre Eltern in die Bundesrepublik flüchten müssen. Die Heimunterbringung wird für sie zum Ausweisungsgrund
und bewirkt damit eine lebenslange Aufenthaltsunsicherheit.
Auf weitere Details kann ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen.
Fest steht: Mit diesem Entwurf leistet die Bundesregierung ihren Beitrag zur sogenannten Harmonisierung des europäischen Asylrechts auf niedrigstem Niveau.Alles dies ist kein „Ausländerproblem", sondern institutionalisierter Rassismus.
Darum lehnen wir GRÜNEN den Gesetzentwurf ab: jeden einzelnen Paragraphen, jeden einzelnen Artikel, das ganze Machwerk. Wir werden keine Zeile und keinen Gedanken dieses Gesetzes unterstützen, das auf der Klassifzierung von Menschen an Hand von völkischen Abstammungskriterien beruht und das die einwanderungspolitische Konzeptionslosigkeit dieser Bundesregierung durch nationalistisches Pathos zu übertünchen sucht.Ich teile die Auffassung des österreichischen Schriftstellers Heimito von Doderer zum Thema Nationalismus:Meine Staatsangehörigkeit ist mir auch mit einer Fülle widerwärtiger Individuen gemeinsam, so daß ich es mir verbitten möchte, lediglich mit Hilfe jenes Begriffes bestimmt zu werden. Darauf läuft es aber bestimmt hinaus, je mehr die Anschaulichkeit der Person ins Unbestimmte der Nation verdunstet, woran nur jene interessiert sein können, die Grund haben, vor sich selbst auf der Flucht zu sein, und in einem begrifflichenSammellager Unterschlupf suchen, wo Werte ausgeteilt werden, die sich jeder leicht anheften kann.Wenn dieser Entwurf auch auf Sie und mich angewendet werden würde, dann würde dieses Hohe Haus vermutlich leer sein. Wir wären längst ausgewiesen worden. Oder haben Sie noch nie versäumt, Ihren Pkw nach einem Umzug rechtzeitig umzumelden?
Wer von Ihnen hat noch nie die Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr überschritten oder gar bei Rot eine Ampel überfahren? Sagen Sie nicht, das seien Bagatellen!
Frau Abgeordnete Trenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hamm-Brücher?
Wenn es auf die Redezeit nicht angerechnet wird.
Nein. — Bitte schön.
Frau Kollegin, weil Sie Heimito von Doderer zitiert haben: Ist Ihnen eigentlich klar, wer Heimito von Doderer war, daß das ein Kronzeuge in der Nazi-Zeit, ein Heimatdichter mit der Tünche war, die Sie hier gerade kritisiert haben? Sie müßten sich, bevor Sie Zitate verwenden, bessere Kronzeugen suchen als ausgerechnet Heimito von Do-derer.
Frau Hamm-Brücher, die Aussage, die er in diesem Zusammenhang macht, zeigt ziemlich deutlich, daß es auf den Menschen und nicht auf die Staatsangehörigkeit ankommt.
— Ich komme darauf noch einmal zurück. Ich kann hier nicht reden, wenn es hier derart laut ist. Können Sie nicht einmal etwas für Ruhe sorgen? —Sagen Sie nicht, das seien Bagatellen. Für Ausländerinnen und Ausländer erfüllen zwei solcher Delikte, die ich genannt habe, den Tatbestand „Ausweisungsgrund" und können jede Lebensplanung vereiteln. Wer den falschen Paß in der Tasche trägt, kann schon wegen geringfügiger Lappalien jede Aufenthaltssicherheit vergessen; darum geht es.Aber die dicken Fische mit deutschem Paß sitzen zugleich selbstverständlch auf der Regierungsbank. Unser früherer Innenminister Zimmermann z. B., ein engagierter Verfechter der „nationalen Homogenität" , hat in den 50er Jahren wegen Meineids vor Ge-
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16290 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau Trenzricht gestanden; ihn haben „zu niedrige Blutzuckerwerte" gerettet.
Aus Asylverfahren sind mir derlei sensible Praktiken bisher nicht bekannt.Graf Lambsdorff, ehemaliger Wirtschaftsminister, wurde seinerzeit wegen Steuerhinterziehung zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, und Herr Stoltenberg ist durch die U-Boot-Geschäfte mit Südafrika ja auch ziemlich ins Gerede gekommen.
Und niemand geringeres als der Bundeskanzler hat sich des Verstoßes gegen das Grundgesetz — Art. 21 — schuldig gemacht. Ich erinnere nur an die Flick- und Parteispendenaffäre. Für dieses Ausländergesetz wird aber Herr Kohl verantwortlich gemacht. Da wird er sich nicht mit einem „Blackout" herausreden können.Noch etwas. Daß selbst Mitglieder der zuständigen Ausschüsse den Paragraphendschungel des Gesetzes nicht durchschauen, war inzwischen als Selbstbekenntnis einiger Abgeordneter in der Presse zu lesen. Es ist ein Skandal, daß auf einer solchen Grundlage heute über das Gesetz entschieden wird.
Ich appelliere an Sie — —
Frau Abgeordnete Trenz, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich habe bei allen Zwischenfragen gestoppt.
Das ist nicht wahr. Sie haben mir gesagt, daß ich die Frage beantworten kann und Sie mir die Zeit nicht auf die Rede anrechnen.
Ist auch nicht angerechnet worden. Da hat die Uhr stillgestanden.
Das ist angerechnet worden. Ich kenne meinen Text.
Aber Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich mache Sie zum zweitenmal darauf aufmerksam.
Ich möchte noch einen Satz sagen. Ich habe hier 26 000 Unterschriften von Ausländern und Ausländerinnen und von Deutschen, die sich gegen dieses Gesetz zur Wehr setzen wollen.
Ich möchte sie Herrn Schäuble übergeben.
Frau Abgeordnete Trenz, ich bestreite nicht, daß Sie die Unterschriften haben, aber Ihre Redezeit ist zu Ende.
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Trenz, die mir zur Verfügung stehende Redezeit gestattet es nicht, alle Unwahrheiten Ihrer Rede im einzelnen zu widerlegen.
Ich drehe deswegen die Argumentation um und sage: Ihre Rede enthielt nur an einem Punkt die Wahrheit.
Und dies war, als Sie erklärten, wenn so weiter debattiert werde, würden Sie, die GRÜNEN, nicht mehr hier sein.
Das Verhalten Ihrer beiden Kollegen hat schon ein erstes Beispiel dafür gesetzt. Ihr politisches Verhalten wird weitere Zeichen geben.Lassen Sie mich bitte mit aller Deutlichkeit eines sagen: Meine Damen und Herren, wer hier anfängt, von „Sondergesetz", von „Sterben der Demokratie", von „menschenverachtender Strategie" zu reden, der verrät mit seiner eigenen Sprache, was er selbst will. Mit dem, was er dem Gegner vorwirft, entlarvt er, was er will. Diese Worte schlagen auf Sie zurück.
Meine Damen und Herren, ich bedaure, daß es in dieser Debatte auch von anderen Rednern der Opposition immer noch Sachdarstellungen gab, die durch den Text des Gesetzes nicht getragen werden. Deswegen will ich auf zwei Punkte vom Kollegen Andres eingehen.Die Klausel zum Wohnraumnachweis bei Zweijährigen ist auf Grund und nach der Anhörung aufgenommen worden, nicht jetzt nachträglich hier aus irgendwelchen Gründen eingebaut worden.Zweitens. Es ist falsch, wenn Sie davon sprechen, daß die Inanspruchnahme der Jugendhilfe immer ein Ausweisungsgrund sei. Nur für den Fall, daß kein Elternteil in der Bundesrepublik ist, ist es aufgenommen und für keinen anderen.Meine Damen und Herren, wir werden noch mühselig deutlich machen müssen, was in diesem Gesetz steht. Es ist mehrfach davon gesprochen worden, daß das Gesetz zu kompliziert sei. Nein, meine Damen und Herren, nicht das Gesetz ist kompliziert, sondern wir haben uns das Verfahren kompliziert gemacht, weil wir differenziert und detailliert beraten haben, weil wir immer wieder überprüft haben, welche Verbesserungen wir noch vornehmen könnten.
— Lieber Herr Bernrath, wenn Sie das Gesetz amEnde in Druckschrift sehen werden, ob in Türkisch,Deutsch oder Französisch, werden Sie feststellen: Das
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16291
LüderGesetz als solches ist verständlich, das Gesetz ist übersichtlich, und es ist rechtsstaatlich.
Uns kam es darauf an, ein Ausländerrecht zu schaffen, das gegenüber dem geltenden Recht mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Ausländerfreundlichkeit, mehr Familienfreundlichkeit bringt. Dies ist erreicht worden.Jeder Kritiker des Gesetzes heute hat verschwiegen, was geltende Rechtslage ist. Wir haben hier eine Verbesserung gebracht, die über Jahre nicht möglich schien.
Ich verschweige nicht, meine Damen und Herren — auch Kollege Gerster hat das vorhin in seinem Beitrag angesprochen —, daß es auch zwischen den Koalitionsp artnern unterschiedliche Auffassungen gab. Ich verschweige nicht, daß wir von den Freien Demokraten eigentlich alle Wünsche der christlichen Kirchen gern aufgenommen hätten.
Es gab Sachgründe dagegen. Die haben wir akzeptiert. Aber wir bitten, dann doch zu respektieren, daß das, was hier als Ergebnis vorliegt, aus liberaler Sicht voll verantwortlich ist und daß dies eine Verbesserung gegenüber allem bringt, was bisher denkbar erschien.Vergleichen Sie doch einmal, was in den früheren Debatten gesagt worden ist. Vergleichen Sie einmal, was an Verdächtigungen kam, wie ein neues Ausländerrecht aussehen würde.Meine Damen und Herren, wir haben mit diesem Gesetz etwas geschaffen, was sich in Europa sehen lassen kann. Lassen Sie mich als Berliner auch noch hinzufügen: Wenn wir im nächsten Jahr die Herstellung der Einheit haben werden, werden wir ein Ausländerrecht haben, daß auch im vereinten Deutschland wirksam werden kann und das Ausländerfreundlichkeit auch gegenüber ausländerfeindlichen Stimmen, die aus der DDR immer wieder hörbar werden, und Rechtsstaatlichkeit bringt. Mit diesem Gesetz werden wir gut in die Zukunft gehen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bernrath.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich wende mich an die Kollegen der Koalition und an den Minister. Sie haben heute mehrfach darauf hingewiesen, daß es ein sehr unübersichtliches und sehr kompliziert aufgebautes Gesetz sei, daß es sehr schnell beraten worden sei und daß es etwas überhastet vorbereitet werden mußte.
Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, daß es in-
haltlich unzureichend sei. Herr Hirsch hat das sogar
öffentlich vor den Fernsehkameras getan. Ich muß Sie
darum fragen: Wie sollen nun die Städte und Gemeinden in der Tagespraxis mit diesem Gesetz fertig werden,
nicht verwaltungstechnisch, sondern bei ihrem gleichzeitigen Bemühen, mit der Anwendung eines solchen Gesetzes auch die Integration zu fördern und zu erleichtern?
Das ist die Aufgabe der Kommunen, wenn sie ein solches Gesetz anwenden. Es wird sehr schwer sein, damit fertig zu werden. Jedenfalls haben sich die Städte und Gemeinden ein anderes Gesetz erhofft.
Sie haben auf Erleichterungen gesetzt.
Sie haben vor allen Dingen nicht gewollt, daß nur der Bestand an Altlasten gemindert wird, im übrigen aber kaum Regelungen im Gesetz sind, die in die Zukunft weisen.
Für die Kommunen wird es daher sehr schwer sein, damit fertig zu werden.
Herr Abgeordneter Bernrath, der Abgeordnete Hirsch würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege, ich würde Sie nicht fragen, wenn Sie mich nicht angesprochen hätten. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich in dieser Fernsehsendung das Gesetz durchweg gelobt habe; nur auf die wiederholte Frage: „Ist denn irgend etwas übrig geblieben, was Sie anders gemacht hätten?" habe ich diesen einen Satz gesagt, der dann leider als einziger tatsächlich gesendet wurde. Das ist das Schicksal bei solchen Sendungen.
Herr Hirsch, es war so, daß ich meiner Frau habe sagen müssen, daß Sie doch ein anständiger Mensch sind, aber in der Koalition eine schwierige Position hätten. Mit Ihrer Äußerung wollten Sie noch einmal klarmachen, daß das Gesetz tatsächlich unzureichend ist.
Ich möchte ausdrücklich sagen: Die Kommunen werden mit dem Gesetz aus bei ihnen lebenden Ausländern, die ja im Augenblick nichts anderes als Einwohner sind, keine Bürger machen können. Die Ausländer aber, die bei uns leben, wollen Bürger werden. Sie wollen nicht eingeschränkte Rechte und alle Pflichten haben, sondern sie wollen dann auch den gleichen Bestand an Rechten in den Kommunen haben, den ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger deutschen Passes dort haben. Von daher sage ich noch einmal: Als „Nur-Einwohner" werden sie künftig gro-
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16292 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Bernrathßen Problemen in den Kommunen gegenüberstehen, und die Kommunen werden ihrerseits Schwierigkeiten bekommen.
Die Kommunen brauchen einen praktikablen, nicht einen zu interpretierenden und zu übersetzenden Rechtsrahmen im Ausländerbereich.Das, was uns jetzt zur Beschlußfassung vorliegt, ist dafür nicht geeignet, auch wenn zweifellos die eine oder andere Verbesserung im Rechtsstatus der hier lebenden Ausländer über die Beratungen im Innenausschuß — auch darauf ist hingewiesen worden — noch durchgesetzt werden konnte.Es tut mir leid, Herr Minister, daß ich das noch sagen muß: Der unglaublich schludrige Entwurf war dilettantisch angelegt und kleinkariert. Er konnte auch durch noch so hastige Beratungen und durch noch so verzweifelte Versuche einiger Koalitionsabgeordneter eben nicht zu einem zeitgerechten europäischen, also in die Zukunft weisenden Ausländergesetz umgeprägt werden, und zwar auch nicht mit 200 Einzelanträgen, die auf Änderung zielten.
Eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kappes.
Herr Kollege Bernrath, muß man Ihren Ausführungen eventuell entnehmen, daß Sie das neue Gesetz für noch komplizierter halten als die mindestens 25 Leitzordner von Bestimmungen unterhalb der Gesetzesebene, mit denen zur Zeit jedes Ausländeramt arbeiten muß?
Nach kurzer Zeit der Anwendung dieses Gesetzes werden es 50 Leitzordner sein,
die sich mit Auslegungen und Interpretierunden beschäftigen. Wir werden uns dann noch einmal austauschen.
Es gibt Stichworte — ich will sie nicht alle aufzählen — , die belegen, daß das Gesetz eben nicht praktikabel ist, etwa die völlig überflüssige Wohnraumklausel. Der Wohnraum ist ein Instrument, das der Markt prägt. Wir haben überhaupt keine Probleme, die Ausländer unterzubringen. Aber Sie können mit noch so niedrigen Grenzen arbeiten: Wenn heute 30 Quadratmeter 900 DM kosten, dann haben Sie keine Chance mehr, Ausländer unterzubringen. Das ist einfach eine Marktfrage und nicht die Frage eines Rechtsrahmens.
Die Aufweichung des Datenschutzes wird riesige Probleme bringen, bis hinein in die Bildungsinstitute, die künftig die Karten offenlegen müssen. Die nur ganz begrenzte Zulassung von Doppelstaatlichkeit, etwa im Zusammenhang mit dem Wehrdienst, prägt eben nicht das Gesetz. Alle diese Regelungen verlieren einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung durch die Einbindung in ein sehr bürokratisches, aufgeblähtes Konvolut, mit dem sich nun die Ausländerbehörden, die Sozialämter und die Jugendämter herumschlagen müssen.
Es bleibt bei eklatanten Benachteiligungen ausländischer Mitbürger. Das Gesetz berücksichtigt weder die deutsch-deutsche Entwicklung noch die europäische Entwicklung. Im übrigen wird es uns auch gesellschaftlich Schwierigkeiten bereiten. Sie können in diesen Tagen in Frankreich beobachten, wohin es führt, wenn eine Rechtspraxis im Ausländerbereich zu steigendem Haß führt, statt über vernünftige Regelungen ausgleichen zu helfen und damit das Zusammenleben zu erleichtern.
Um es ganz kurz zu sagen: Es ist ein raffiniertes Gesetz. Es ist raffiniert, weil es einerseits hier und da ein paar Verbesserungen oder Vereinfachungen bringt — sie sind hier erwähnt worden — , andererseits aber über die Bürokratisierung die Anwendung erschwert — ich bleibe einmal im Zitat einer Zeitung — , so daß es den Städten und Gemeinden vor der Rechtsanwendung aus diesem Gesetz heraus graut.
Integration findet in den Städten, Gemeinden und in den Kreisen statt. Sie mühen sich dabei. Sie geben dafür sehr viel Geld aus. Aber sie kommen nur sehr mühsam voran. Darum haben sie auf ein nach vorne weisendes, in die Zukunft weisendes Gesetz gesetzt. Sie sind nunmehr enttäuscht. Ich brauche Sie nur auf das hinzuweisen, was dazu der Präsident des Städtetages, Oberbürgermeister Rommel aus Stuttgart, in diesen Tagen gesagt hat. Sie werden dort nachlesen können, daß die Kommunen nicht auf dieses Gesetz setzen, sondern sich selbst werden weiterhelfen müssen, um mit ihren Problemen fertigzuwerden.
Aber, wie gesagt: statt weltoffener, liberaler, demokratischer, von gegenseitigem Respekt geprägter Gesetzgebung ein nicht über den Tag hinausreichendes Gesetz. Es taugt letztlich nur, um aus den Verschlingungen eines unzureichenden Entwurfs herauszukommen, etwas auf den Tisch zu bringen. Für die Praxis bringt es kaum ein Ergebnis. Es ist eine Minderung des Altlastenbestandes, aber keine Erleichterung für das, was wir in den nächsten Jahren zu bewältigen haben.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wir bestreiten nicht, daß das Gesetz, Kollege Bernrath, kompliziert ist. Es ist auch eine komplizierte Materie. Nur finde ich, zwei Aussagen halten einer etwas kritischen Prüfung nicht stand.Erstens. Sie sagten, das Gesetz sei schludrig ausgearbeitet. Hier muß ich die Beamten des Innenministeriums wirklich in Schutz nehmen. Denn alle Welt behauptet, das Gesetz sei zu perfektionistisch und zu genau. Herr Bernrath, Sie sind also ein einsamer Exot, wenn Sie den Beamten des Ministeriums Schludrigkeit vorwerfen. Diesen Vorwurf muß ich im Interesse der Beamten zurückweisen, denen ich ein Dankeschön sage. Sie waren nicht immer ganz einfach, aber
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16293
Gerster
ordentlich gearbeitet haben sie. Herr Minister, richten Sie das bitte Ihren Beamten aus.
Zweite Feststellung. Herr Kollege Bernrath, Sie sagen, das neue Gesetz sei komplizierter als das bisherige Recht. Als erfahrener Kommunalpolitiker wissen Sie doch, daß das alte Gesetz mit weiten Ermessenstatbeständen und mit vielen, vielen Verwaltungsvorschriften
in der Praxis viel schwerer anzuwenden war als ein Gesetz, das jetzt Einzeltatbestände mit klaren Rechtsgrundsätzen regelt.Also die Behauptung, es würde komplizierter als bisher, stimmt nicht. Die neue Materie ist kompliziert, weil das, was zu regeln ist, kompliziert ist. Aber daß es komplizierter wird als der derzeitige Dschungel zwischen Bundesrecht, Landesverwaltungsvorschriften und kommunalen Besonderheiten, trifft natürlich nicht zu. Es wird einfacher, auch wenn es nach wie vor eine komplizierte Sache ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bernrath?
Aber gerne. Vizepräsident Westphal: Bitte schön.
Ich möchte Herrn Gerster als Verwaltungsjuristen fragen, ob er nicht weiß, daß die beste Grundlage für eine sorgfältige, eigenverantwortliche und erfolgreiche Verwaltungspraxis das Einräumen von möglichst großen Ermessensspielräumen ist, um aus der örtlichen, jeweiligen Situation heraus entscheiden zu können und nicht an unzureichende, wenn auch enumerativ aufgezählte Einzeltatbestände gebunden zu sein.
Herr Kollege Bernrath, die weiten Ermessensspielräume des alten Gesetzes von 1965 haben zu einem Auseinanderlaufen der Verwaltungspraxis in elf Bundesländern geführt, was letzten Endes die Verunsicherung der Ausländer mit bewirkt hat. Unzufriedenheit und Rechtsunsicherheit führen in Einzelfällen sogar zur Ungerechtigkeit, wenn in unterschiedlichen Ländern gleiche Sachverhalte unterschiedllich entschieden werden.
Deswegen ist ein Gesetz, das klare Rechtsgrundlagen schafft, in jedem Fall gerechter und für die Beamten einfacher anzuwenden als die weiten Ermessenstatbestände. In diesem Punkt widerspreche ich Ihnen sehr deutlich.
Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich eine zweite Bemerkung zu einem zweiten Komplex machen, nämlich zu Frau Kollegin Trenz. Ich bedaure, daß dieser Beitrag nicht im Fernsehen übertragen wurde. Ich bin sicher, sie hätte damit dem begonnenen Exodus der GRÜNEN einen wichtigen Dienst geleistet. Das, was Sie gemacht haben, Frau Trenz, war unerträglich und unwahr. Es ist einfach nicht verantwortbar, jemandem klarmachen zu wollen, ein Ausländer würde, weil er sein Auto nicht umgemeldet habe, abgeschoben. Das ist Verblendung, was zu Diffamierung und letzten Endes zu Haß führt. Mit diesem Gesetz wird nicht ein Stück Demokratie zu Grabe getragen. Sie selbst beweisen vielmehr undemokratisches Verhalten, weil Sie als Minderheit nicht in der Lage sind, eine Mehrheitsentscheidung hinzunehmen. Sie setzen Ihre Meinung absolut, was letzten Endes Ausdruck totalitären Denkens der GRÜNEN ist.
Weil es nicht so läuft, wie Sie wollen, stellen Sie die Demokratie in Frage, wobei gerade zur Demokratie gehört, daß die Mehrheitsmeinung gegen die Minderheitsmeinung obsiegt und nicht umgekehrt.
Meine Damen, meine Herren, eine letzte Berner-kung. Ich möchte an alle deutschen Mitbürger appellieren, auf der Grundlage des neuen Gesetzes mitzuwirken hin zu einem partnerschaftlichen, gutnachbarlichen Zusammenleben mit Ausländern. Ängste, wir würden überfremdet, sind nicht begründet. Ängste, Partnerschaft mit Ausländern sei nicht möglich, sind unbegründet. Wir sollten das Zusammenleben suchen und finden.
Aber ich appelliere auch an die ausländischen Mitbürger: Dieses Gesetz schafft Ihnen eine neue Rechtsgrundlage. Lassen Sie sich nicht von Menschen, die Sie leider aufhetzen wollen, in eine falsche Spur bringen. Nutzen Sie die Chance dieses neuen Gesetzes! Denn nur wenn deutsche und ausländische Mitbürger aufeinander zugehen, ist ein friedliches Zusammenleben zwischen deutschen und ausländischen Mitbürgern möglich.
Ich appelliere an deutsche und an ausländische Mitbürger: Gehen Sie aufeinander zu. Leben Sie nicht nebeneinander, sondern miteinander. Genau dieses neue Gesetz gibt die Chance zu einem friedlichen Zusammenwirken aller Mitbürger in diesem Land.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gerster, Ihr Appell in allen Ehren, aber wie wirkungsvoll soll er eigentlich sein, wenn Sie sich als Koalitionsfraktion in diesen Beratungen nicht ein einziges Mal versucht haben, auf die Oppositionsparteien zuzugehen, wenn sie es selbst in diesem Hause nicht schafften, das Gesetz durch gute und wichtige Änderungsanträge der Opposition auch nur ein einziges Mal zugunsten der Ausländer zu ändern, und statt dessen erklären, diese Änderungsvorschläge seien alle unsinnig, nützten nichts, seien schlecht?
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16294 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Wartenberg
Ich glaube, die Debatte heute hier im Hause hat deutlich gemacht, daß eine Chance vertan worden ist. Der Grund dafür liegt in erster Linie — ich sage: in erster Linie — bei der Koalition. Dieses Gesetz bestimmt die Lebensumstände von 4,7 Millionen Menschen auf Dauer. Ein Gesetz, das die Lebensumstände von 4,7 Millionen Menschen auf Dauer bestimmt, hätte hier eigentlich einen Konsens verdient.
Ausdruck dafür, daß Sie von Anfang einen Konsens überhaupt nicht versucht haben — ob er zustande gekommen wäre, ist eine andere Frage — , ist, daß Sie schon im Dezember erklärt haben: Am 11. Mai muß der Gesetzentwurf im Bundesrat sein; denn danach könnte sich ja durch die Landtagswahlen die Mehrheit geändert haben. Das heißt, ein Konsens war gar nicht angedacht worden. Man wußte, man konnte das Gesetz nur im Konflikt mit der alten Mehrheit durchsetzen. Wer so schon im letzten Jahr an ein Gesetz herangegangen ist, kann sich nicht wundern, wenn die Öffentlichkeit polarisiert ist.
Ich finde, die Tränen, die hier geweint werden, weil in der Tat eine sehr emotionale Debatte in Teilbereichen der Öffentlichkeit geführt wird — ich halte diese Emotionen auch für außerordentlich problematisch; darin stimme ich Ihnen ja zu, Herr Hirsch — , sind Krokodilstränen ; denn die Anlage zu dieser Emotionalisierung liegt nicht nur bei den Menschen, die sich jetzt engagiert ausdrücken, oder bei der Opposition. Vielmehr hätte man ein so wichtiges Gesetzesvorhaben anders anpacken müssen.
Meine Damen und Herren, Sie haben in dieser Debatte mehrfach versucht darzustellen, die Opposition heize mit unqualifizierten Argumenten an; dies sei ein gutes Gesetz; dagegen könne man zwar in Einzelpunkten etwas einwenden, aber man dürfe es nicht in Bausch und Bogen abqualifizieren.Ich will Ihnen eine Passage aus der Gesamtbewertung durch die Evangelische Kirche und durch das Diakonische Werk vorlesen, weil sie die Grundstimmung und die Grundkritik am besten ausdrückt. Die EKD und das Diakonische Werk schreiben:Besonders bedauerlich ist, daß sich offenbar die Sichtweise des Gesetzes gegenüber der Ausländerpolizeiverordnung und dem jetzt geltenden Ausländergesetz als Polizei- und Ordnungsrecht nicht entscheidend gewandelt hat. Ausländer werden weiterhin als potentielle Störer betrachtet. Sie stehen auch nach langjährigem Aufenthalt unter einem ständigen Bewährungsdruck.Ich finde, das sind die Schlüsselworte: erstens der Geist des alten Polizeiaufsichtsgesetzes und zweitens Bewährungsdruck. Das heißt: Wenn du die und die Fristen nicht eingehalten hast, wenn du das und das nicht nachweist, dann bekommst du nicht den gesicherten Status. Das heißt, dem Ausländer wird Mißtrauen entgegengebracht, es werden Verhaltensanforderungen gestellt, die einem Deutschen, einem anderen Mitbürger nicht abverlangt werden.
Egal, wie man zu Einzelregelungen steht — dazu mag man ja unterschiedliche Meinungen haben; hier respektiere ich auch abweichende Meinungen zwischen Union, FDP, SPD und GRÜNEN —, ist der Grundtenor des Gesetzes, das Mißtrauen gegenüber dem Ausländer, der es verhindert, daß wir eine Gesellschaft der Toleranz und der Liberalität, in der alle Menschen, die in unserem Staat leben, gleichberechtigt sind, schaffen. Das ist das eigentlich Traurige an diesem Gesetz.
Meine Damen und Herren, das Ausländerrecht in der Bundesrepublik Deutschland und auch das Gesetz, das Sie vorlegen, hat bestimmt einige liberale Grundzüge, aber es hat ebenso sehr restriktive Züge. Wir haben noch einmal auf diese schrecklichen Anforderungen hingewiesen — etwa bezüglich des Wohnraums — , um bestimmte Rechtsansprüche zu erhalten.Ich will zum Schluß noch auf zwei andere Probleme hinweisen: Wie der Datenschutz in diesem Gesetz verankert ist, macht deutlich, daß das Erheben von Daten, das Speichern von Daten, das Auswerten von Daten hier anderen Grundsätzen unterliegt, als das bei Deutschen der Fall ist. Was für eine Gesellschaft ist dies, die es erlaubt, daß ausländischen Mitbürgern viel mehr Intimdaten abverlangt werden, die bei öffentlichen Stellen gespeichert werden, um damit Bewertungen über diese Menschen zu ermöglichen? Allein die Tatsache, daß es im Bereich der informationellen Selbstbestimmung zwei Kategorien gibt, muß eigentlich jeden nachdenklich stimmen.
Wenn informationelle Selbstbestimmung ein Grundrecht ist, dann kann es für Ausländer und Deutsche keine unterschiedlichen Kriterien geben.
Ein weiterer Punkt. Im Asylrecht sind Verbesserungen erreicht worden. Der Herr Innenminister oder jemand aus den Reihen der Koalition hat Herrn Koisser, den Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik zitiert und gesagt, er habe dem Ausländergesetz insgesamt zugestimmt. Herr Koisser hat nur im Asylrecht Bedenken angemeldet. In diesem Punkt wurde eine Verbesserung erreicht, eine Verbesserung der Zusammenführung der Genfer Konvention mit dem Ausländerrecht bzw. dem Asylrecht. Das ist der einzige Punkt, den er in der Anhörung moniert hatte. Allerdings geht die Regelung, die jetzt festgeschrieben wurde, nach unseren Vorstellungen nicht weit genug.Meine Damen und Herren, ich glaube, die Regierungskoalition hat sowohl durch den Stil der Gesetzesberatung als auch durch die Art der öffentlichen Debatte eine Chance vertan: die große Chance, nachdem in den 50er Jahren die ersten Ausländer in größerer Zahl in die Bundesrepublik eingewandert sind, für alle Ausländer endlich einen liberalen und toleran-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16295
Wartenberg
ten Lebensraum abzusichern. Diese Chance wurde vertan. Wir als Sozialdemokraten werden deswegen unseren Gesetzentwurf als Änderungsantrag gegen Ihren Entwurf stellen und Ihr Gesetz in der dritten Lesung ablehnen. Es ist schade, daß in dieser Republik kein vernünftiges Ausländerrecht zustande gekommen ist.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Zunächst hat der Vorsitzende des Ausschusses in seiner Berichterstattereigenschaft das Wort zur Korrektur von Druckfehlern. Bitte schön, Herr Bernrath.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie kurz darauf hinweisen, daß bei der Drucklegung der Gesetzessynopse in Art. 1 — § 62 —, Art. 13 und Art. 14 drei kleine Fehler unterlaufen sind. Zu § 62 muß es in der Spalte „Beschlüsse des 4. Ausschusses" heißen: „unverändert". Bei Art. 13 muß es heißen: „entfällt", und bei Art. 14 muß es ebenfalls heißen: „entfällt".
Ich höre, meine Damen und Herren, daß es den Wunsch der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher nach einer Kurzintervention gibt. Das gehört noch zur Aussprache. Es tut mir leid, Frau Dr. Hamm-Brücher hat diese Kurzintervention angemeldet, aber dies ist mir nicht übermittelt worden. Herr Stücklen bestätigt das.
Bitte schön, Frau Dr. Hamm-Brücher. Sie haben zwei Minuten.
Vielen Dank, Herr Präsident. Der vorherige amtierende Präsident hatte mir das in der Tat zugesagt, weil es für Abgeordnete, die nicht Fachleute bei den zu beratenden Gesetzen sind, erfahrungsgemäß sehr schwierig ist, in einer Debatte — obgleich wir volle Mitverantwortung tragen — auch noch etwas zu sagen, was einem wichtig ist. Die Entscheidung über dieses Gesetz ist für jeden Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine sehr wichtige Entscheidung.
— Da haben sie völlig recht. Es soll ja auch nicht jeder reden. Aber wir haben im Zuge der Parlamentsreform ja ermöglicht, daß Kurzinterventionen erfolgen.
Ich habe zwei Bemerkungen, die mir zu diesem Gesetz wichtig sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. Zum einen ist mir eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen, als die Frau Kollegin Trenz sagte, dieses Gesetz sei institutionalisierter Rassismus. Nachdem die Älteren unter uns zwölf Jahre unter institutionalisiertem Rassismus leben mußten, meine Damen und Herren, bitte ich Sie, insbesondere die jüngeren Kollegen, angesichts dieser schrecklichen Erfahrungen Respekt zu haben und solche Begriffe nicht im tagespolitischen Geschäft einzuführen.
Es ist wirklich unerträglich — bei aller berechtigten Kritik und auch bei aller berechtigten Leidenschaft im Streit um dieses Gesetz —, hier wieder Vokabeln einzuführen, die diese schrecklichen Erinnerungen wachrufen und eigentlich alle die kränken, die unter diesem institutionalisierten Rassismus Schreckliches erlitten haben.
Das zweite, was ich in dieser Kurzintervention sagen wollte, geht an Sie, Herr Minister Schäuble. Sie haben die verschiedenen Stellungnahmen der Kirchen und der engagierten Bürgerinnen und Bürger zensiert, die Einwände gegen dieses Gesetz haben. Ich bin sehr stolz darauf, daß in unserer Demokratie bei einem Gesetz, in dem es um die Rechte und den Schutz von Minderheiten geht, ein solch großes Engagement vorhanden ist.
Ich finde, das ist ein gutes Zeichen für die Lebendigkeit unserer Demokratie. Dann müssen wir halt ein bißchen mehr Geduld miteinander haben.
— Die Meinungen sind halt unterschiedlich. Jeder, der in der Ausländerarbeit steht, macht leider auch sehr, sehr negative Erfahrungen und möchte die Verhältnisse verbessern.
Es kommt jetzt darauf an, was mit diesem Gesetz gemacht wird. Dann werden wir es überprüfen. Auch mir schmeckt vieles nicht, Kolleginnen und Kollegen. Aber ohne Gesetz, ohne Novelle geht es nicht weiter. Deshalb bin ich froh, wenn wir zunächst einmal ein besseres Gesetz machen, als wir es bisher haben. Gut ist es nicht.
Meine Damen und Herren, es liegt mir noch eine Wortmeldung der Abgeordneten Frau Hillerich zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Sie wissen: Die Debatte ist beendet. Ich muß das jetzt extra noch einmal sagen, weil wir sie noch einmal eröffnet hatten. Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich komme aus Duisburg. Ich habe dort vor meiner Zeit als Abgeordnete als Lehrerin gearbeitet. Über ein Viertel der Schülerinnen und Schüler in Duisburg kommen aus ausländischen Familien. Auch ich habe immer ausländische Schülerinnen und Schüler im Unterricht gehabt. Das möchte ich auch, wenn ich nicht mehr Abgeordnete bin. Ich möchte ausländische Kinder und Jugendliche so gut wie möglich fördern können. Deshalb muß ich das zur Abstimmung stehende Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts ablehnen. Es entzieht nämlich Lehrerinnen und Lehrern die Grundlage für ein Vertrauensverhältnis mit ihren ausländischen Schülerinnen und Schülern.
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16296 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Frau HillerichEs entzieht die Grundlage für die häufig praktizierte soziale Fürsorge ihnen gegenüber, die für viele Lehrerinnen und Lehrer selbstverständlich ist.
Hierzu drei Beispiele aus dem Schulalltag.
— Können Sie bitte zuhören.
Klassenreisen sind ungemein wichtig für den Zusammenhalt von Lerngruppen, für das gemeinsame Erleben und für das Kennenlernen außerhalb der Schule. Ausländische Schülerinnen und Schüler müssen dafür häufig Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Das gilt auch für deutsche Kinder und Jugendliche aus Familien, wo Väter und Mütter arbeitslos geworden sind.
Aber für ausländische Familien ist die Inanspruchnahme von Sozialhilfe nach diesem Gesetz ein Ausweisungsgrund. Nur dann, wenn Lehrerinnen und Lehrer gegen die in diesem Gesetz vorgeschriebene Meldepflicht verstoßen, werden sie sich weiterhin für diese Hilfe für ausländische Schülerinnen und Schüler einsetzen können.Nächstes Beispiel.
Viele Kinder und Jugendliche machen Krisen durch, die die Lehrerinnen und Lehrer miterleben: Schwierigkeiten bei Hausaufgaben, Schulschwänzen, Ausreißen usw.
Frau Abgeordnete Hillerich — —
Deutsche Kinder und Jugendliche können dann Erziehungshilfe bekommen.
Frau Abgeordnete Hillerich, bitte achten Sie auf den Präsidenten. Wir haben eine Geschäftsordnung. Ich habe Ihnen erklärt, daß die Debatte beendet ist. Das heißt, eine Erklärung zur Abstimmung kann nur die besondere Darlegung eines eigenen Standpunkts beinhalten, die nicht eine Verlängerung der Debatte darstellt.
Das ist nicht richtig, Herr Präsident.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich danach richteten. Sonst muß ich Ihnen leider das Wort entziehen.
Herr Präsident, nach den Kommentaren zu diesem Paragraphen der Geschäftsordnung darf ich mein persönliches Abstimmungsverhalten auch persönlich begründen, und zwar fünf Minuten lang. Das steht in den Kommentaren zu diesem Paragraphen.
Frau Abgeordnete, Sie konnten das in der Debatte tun. Wir haben eine Debatte über Stunden gehabt. In der Debatte kann man sich zu Wort melden. Wir haben sogar die Möglichkeit der Kurzintervention, die leider nur einmal genutzt worden ist, bevor die Debatte geschlossen worden ist. Ansonsten müssen Sie bitte dabei bleiben, einen Standpunkt im Zusammenhang mit Ihrem Abstimmungsverhalten darzulegen. Ihre Erklärung darf nicht zu einer Verländerung der Debatte führen. Ich bitte, sich danach zu richten.
— Begründete Standpunkte haben alle hier vorgetragen, und sie haben sie vorher erarbeitet. Wir kommen sonst nicht weiter. Ich weiß, daß dies eine schwierige Auslegungsfrage ist. Präsidenten stehen immer vor dieser Schwierigkeit. Sie können ja erst, nachdem geredet worden ist, eingreifen. Dafür bitte ich um Verständnis. Es kann hier nicht zu einer Fortsetzung der Debatte mit einem neuen Beitrag kommen, in dem praktisch dieselben Standpunkte erneut vorgetragen werden.
Jetzt kommen wir zu dem etwas schwierigeren Vorgang, der etwas mit unseren Abstimmungen zu tun hat.
— Ich wäre dankbar, wenn Sie aufmerksam diesen Ausführungen folgen würden, die die Abstimmung betreffen, denn sie ist ja ein bißchen kompliziert.Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts in der Ausschußfassung.Hierzu liegt eine Reihe von Änderungsanträgen der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD vor. Diese Änderungsanträge werde ich vor Aufruf der Einzelvorschriften zur Abstimmung aufrufen, und zwar zuerst diejenigen Änderungsanträge, über die namentlich abgestimmt werden soll. Anschließend finden einfache Abstimmungen und später Abstimmungen über weitere Änderungsanträge statt. Wir kommen später auch zu weiteren namentlichen Abstimmungen.Wir kommen also zuerst zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6995 . Ich eröffne die Abstimmung. —Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat und dies zu tun wünscht? — Ich kann die erste Abstimmung schließen.Ich bitte die Schriftführer, die Urnen für die zweite Abstimmung zu wechseln.Ich gehe davon aus, daß wir die Beratungen fortsetzen können. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung gebe ich dann später bekannt. *)*) Seite 16298 C
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Vizepräsident WestphalWir kommen zu einer weiteren namentlichen Abstimmung. Sind die Urnen besetzt? — Wir stimmen über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7024 ab. Der Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7012 wurde zurückgezogen. Ich eröffne die Abstimmung. —Ist noch ein Abgeordneter anwesend, der seine Stimme in der zweiten namentlichen Abstimmung abgeben möchte? — Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich diese Abstimmung.Ich bitte die Schriftführer, die Urnen erneut zu wechseln. Das Ergebnis dieser namentlichen Abstimmung gebe ich ebenfalls später bekannt. ' )Wir kommen jetzt zur dritten namentlichen Abstimmung, und zwar über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7013. Ich eröffne die Abstimmung. —Meine Damen und Herren, ich frage bei der dritten namentlichen Abstimmung, ob noch ein Abgeordneter im Saal ist, der an der Abstimmung teilnehmen will und dies bis jetzt noch nicht getan hat. — Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich auch diese Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch das Ergebnis dieser namentlichen Abstimmung gebe ich später bekannt. ' )Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Änderungsanträge, über die nicht namentlich abgestimmt werden muß.Wer für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6978 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt worden.Wir stimmen jetzt über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN ab.Wer für den Änderungsantrag auf der Drucksache 11/6997 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/6998 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Wer für den Änderungsantrag auf der Drucksache 11/6999 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7002 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das*) Seite 16298CHandzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Auch hier ist die gleiche Mehrheit für Ablehnung.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7003 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Auch hier stelle ich die gleiche Mehrheit für Ablehnung fest.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7004 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die gleiche Mehrheit für Ablehnung.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7005 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch dieser Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7006 zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist auch dieser Antrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.Jetzt kommt der Änderungsantrag auf Drucksache 11/7007. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen?— Enthaltungen? — Die gleiche Mehrheit für Ablehnung.Wir stimmen über den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7008 ab. Ich bitte um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gleiche Mehrheit für Ablehnung.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7009? Ich bitte um das Handzeichen. — Dagegen? — Enthaltungen? — Gleiche Mehrheit für die Ablehnung.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7010? Das Handzeichen bitte! — Gegenprobe!— Enthaltungen? — Auch hier war es die gleiche Mehrheit, die abgelehnt hat.Nun kommt noch der Änderungsantrag auf Drucksache 11/7011. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt worden.Wir kommen jetzt zu den einzelnen Vorschriften des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Neuregelung des Ausländerrechts. Vorher brauchen wir aber das Ergebnis der drei namentlichen Abstimmungen.Es gibt den Wunsch nach einer persönlichen Erklärung. Frau Trenz, wollen Sie diese Erklärung jetzt abgeben? — Dann bitte ich um die Aufmerksamkeit für die Abgabe einer persönlichen Erklärung von Frau Trenz.
Frau Dr. Hamm-Brücher hat mich vorhin angesprochen und kritisiert, weil ich das Wort Rassismus erwähnt habe.
— Herr Gerster, lassen Sie es mich einmal erklären. Rassismus ist ein Wort, das hier im Deutschen Bundes-
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Frau Trenztag immer für Aufregung sorgt. Rassismus muß nicht immer mörderisch sein. Rassismus ist ein Wort, das z. B. in Frankreich ganz normal benutzt wird. In der Bundesrepublik Deutschland, besonders hier im Deutschen Bundestag, darf ich es nicht erwähnen; zumindest werde ich sonst immer sehr stark dafür kritisiert. Rassismus bedeutet nach der Definition einzig und allein, daß Menschen auf Grund ihrer Andersartigkeit, ihrer anderen Nationalität etc. bewertet, abgewertet und sanktioniert werden. Genau das passiert mit diesem Ausländergesetz. Deswegen habe ich das gesagt.
Meine Damen und Herren, es gibt für den Präsidenten nicht die Möglichkeit, in die Debatte einzugreifen. Als einer, der zur etwas älteren Generation gehört, möchte ich aber dies sagen: Rassismus hat den Begriff einer Ideologie in sich, schon vom Wortlaut her. Wir haben etwas erlebt, was ihn geprägt hat und was uns betroffen hat. Von daher sind wir nicht Menschen, die dieses Wort so benutzen können, wie es möglicherweise unsere französischen Nachbarn tun können.
Darf ich fragen, ob unsere Schriftführer mit der Auszählung schon so weit sind? — Dann müssen wir einen Moment unterbrechen. —Meine Damen und Herren, ich nutze die Zeit für eine Information über das Abstimmungsverfahren, das uns dann anschließend bevorsteht. Da Sie so angenehm ruhig sind, ist das vielleicht jetzt möglich.Wir werden, nachdem ich die Ergebnisse der drei namentlichen Abstimmungen habe, über die Einzelvorschriften des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Neuregelung des Ausländerrechts abstimmen.Zu diesen Einzelvorschriften, deren Annahme der Ausschuß mehrheitlich empfiehlt, verlangt die Fraktion DIE GRÜNEN namentliche Abstimmungen. Die Fraktionen haben sich angesichts der Vielzahl der namentlichen Abstimmungen auf ein Abstimmungsverfahren verständigt, das schon in der Vergangenheit wiederholt angewandt worden ist. Es stellt sicher, daß jeder Abgeordnete zu jedem Änderungsantrag sein Votum abgeben kann. Dabei werden nicht die üblichen Stimmkarten, sondern ein Stimmzettel verwendet, der Ihnen bereits ausgehändigt worden ist. Wenn einem der Stimmzettel noch fehlt, dann kann er ihn beim Sitzungsdienst in Empfang nehmen.Auf diesem Stimmzettel sind die einzelnen Artikel des Gesetzes durchnumeriert. Bei jedem Artikel ist außerdem ein Stichwort zum Inhalt hinzugefügt.Wenn Sie dann an Ihre Abstimmung herangehen, bitte ich Sie, Ihren Namen, gegebenenfalls auch den Ortszusatz zum Namen, und Ihre Fraktion auf dem Stimmzettel deutlich in Druckbuchstaben einzutragen.Ich mache darauf aufmerksam, daß der Stimmzettel gleichzeitig als Nachweis Ihrer Teilnahme an diesen namentlichen Abstimmungen gilt.Die Abstimmung geschieht dann folgendermaßen: Auf der durchnumerierten Liste können Sie für jeden Artikel bei der entsprechenden Nummer ein Kreuz entweder bei ja, nein oder Enthaltung anbringen. Soweit Sie allen Artikeln des Gesetzentwurfs in der Ausschußfassung zustimmen bzw. alle ablehnen oder sich insgesamt Ihrer Stimme enthalten wollen, können Sie dies durch ein einziges Kreuz in der Kopfspalte zum Ausdruck bringen.Falls Stimmzettel ohne jede Kennzeichnung abgegeben werden, gelten diese Stimmen als ungültig.Die gekennzeichneten Abstimmungszettel legen Sie dann bitte in eine der hier vorne aufgestellten und im Eingangsbereich vorhandenen Urnen.Ich erinnere Sie dann nachher noch einmal daran, daß Sie Ihren Namen mit dem Ortszusatz und die Fraktionen in Druckbuchstaben nicht vergessen sollten.Ich muß die Sitzung aber immer noch unterbrechen, weil wir das Ergebnis noch nicht haben; es scheint schwierig zu sein.Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen jetzt die von den Schriftführern ermittelten Ergebnisse der drei namentlichen Abstimmungen mitteilen.Zunächst geht es um den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6995 . Es sind 413 Stimmen abgegeben worden; es war keine ungültig. Mit Ja haben 174 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 236, es hat 3 Enthaltungen gegeben. Dieser Antrag ist abgelehnt. *)Bei der zweiten namentlichen Abstimmung, die den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7024 betrifft, haben 412 Abgeordnete ihre Stimme abgegeben. Keine Stimme war ungültig. Mit Ja haben 174 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 223, es hat 5 Enthaltungen gegeben. Auch dieser Antrag ist abgelehnt. *)Jetzt kommen die Ergebnisse der dritten namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7013. Da waren 417 Stimmen abgegeben worden; es war keine ungültig. Mit Ja haben 34 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 238, und es hat 145 Enthaltungen gegeben. Auch dieser Antrag ist abgelehnt. *)Nachdem dieses Ergebnis feststeht und dadurch der Vorschlag des Ausschusses unverändert geblieben ist, kommen wir jetzt zu den Einzelvorschriften des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zur Neuregelung des Ausländerrechts. Zu diesen Einzelvorschriften, deren Annahme der Ausschuß mehrheitlich empfiehlt, wird die namentliche Abstimmung auf dem Ihnen soeben erläuterten Zettel mit dem entsprechenden Verfahren beantragt.Ich möchte Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß es jetzt um die Ausschußfassung geht. Wer also dem Gesetz in der Ausschußfassung in zweiter Lesung zustimmen will, der muß entweder einzeln oder insgesamt „ja" schreiben. Wer ablehnen will, muß „nein" schreiben.*) Die endgültigen Ergebnisse mit den Namenslisten folgen in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht.
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Vizepräsident WestphalDie Abstimmung ist eröffnet.Ich muß auch noch mitteilen, daß es gleich danach weitere Abstimmungen gibt. Auch weitere namentliche Abstimmungen werden noch folgen.Meine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat und das noch tun will? — Dann schließe ich die Abstimmung. • )Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gehe davon aus, daß wir bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung die Beratung fortsetzen können. Ich bitte Platz zu nehmen. Es geht mit den Abstimmungen weiter.Wir kommen zu weiteren Einzelvorschriften in zweiter Beratung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des Ausländerrechts.Ich rufe Art. 16 und 17, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Die namentliche Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf zur Neuregelung des Ausländerrechts wird erst nach Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen Abstimmung erfolgen.Wir kommen zwischenzeitlich zur Abstimmung über weitere Vorlagen zum Ausländerrecht, und zwar zuerst zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Ausländerrechts auf Drucksache 11/4732. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 2, diesen Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Asylverfahrensrechts. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 3, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/4958 für erledigt zu erklären. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion angenommen.Jetzt kommt die Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Bundesausländergesetzes. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 4, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/5637 abzulehnen. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Das heißt, ich rufe die Ursprungsvorlage auf und frage danach, wer zustimmen oder ablehnen will.Ich rufe die §§ 1 bis 48, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der*) Ergebnis Seite 16300Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung von der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2598. Das ist das Bundesausländergesetz. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 5, den Antrag der Fraktion der SPD für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Gesetzentwurf über die Wiederkehrerlaubnis für in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsene Ausländer. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 6, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1931 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3055. Da geht es um Flüchtlings- und Asylkonzeptionen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 7, diesen Antrag abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Nun kommen wir zur Abstimmung über den von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ausländerinnen und Ausländer. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 8 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4463. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Ich rufe also die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPDFraktion gegen die Stimmen der GRÜNEN abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Jetzt kommen wir zu dem von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf zur rechtlichen Gleichstellung der ausländischen Wohnbevölkerung durch Einbürgerung und Geburt. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 9, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4464 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt
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16300 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Vizepräsident Westphaldagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern. Auch hier empfiehlt der Ausschuß auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 10, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4466 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen worden.Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3249 „Für eine Politik der offenen Grenzen — Für ein Recht auf Zuflucht — Flüchtlings- und Asylkonzeption". Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6955 unter Nr. 11, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.Jetzt müssen wir leider wieder warten, bis das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Einzelvorschriften vorliegt.Ich unterbreche die Beratung.
Ich eröffne die Beratungen wieder.
Die vier Schriftführer aller Fraktionen haben unterschrieben, daß das, was ich Ihnen jetzt sage, zutreffend ist. Die Einzelvorschriften in der Ausschußfassung, über die in zweiter Beratung des Gesetzentwurfs zur Neuregelung des Ausländerrechts auf der Drucksache 11/6955 in namentlicher Abstimmung entschieden worden ist, sind angenommen.
Ich kann hinzufügen, daß die endgültigen Einzelergebnisse, geringfügig differieren können, weil der eine oder andere dort mit Ja, an anderer Stelle mit Nein gestimmt hat, in einem Nachtrag des Protokolls nachzulesen ist. Dieser liegt Anfang der kommenden Woche vor.
Ich stelle fest, daß Art. 1 bis 15 angenommen worden sind, und zwar mit den vom Ausschußvorsitzenden vorgetragenen Berichtigungen. Damit ist die zweite Beratung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Ausländerrechts abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein.
Dazu gibt es eine Wortmeldung des Abgeordneten Kreuzeder, der vor der Abstimmung gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine Erklärung abgeben will.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe gegen diesen Gesetzentwurf gestimmt, weil er die jetzt schon unerträgliche Situation vieler meiner Freunde erheblich verschärfen wird. Ich denke dabei an viele meiner Freunde in den bayerischen Sammellagern, die dort unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht sind. Ich denke an viele meiner ausländischen Freunde, die schon jetzt unter den Schikanen der bayerischen Ausländerbehörden zu leiden haben.
Ich mache vor der Schlußabstimmung über diesen Gesetzentwurf dafür insbesondere den bayerischen Innenminister Stoiber verantwortlich, der auf dieses Machwerk starken Einfluß genommen hat,
einen Menschen, der vor der „durchmischten und durchrassten Gesellschaft" gewarnt hat, einen Menschen, der sich in der Regierungskoalition in zahlreichen Punkten durchsetzen konnte, einen Menschen, der nicht davor zurückgeschreckt ist, Worte zu finden, die in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte wiederzufinden sind.
Ich schäme mich dafür, daß ein solches Gesetz, welches von diesem Geist geprägt ist, überhaupt vorgelegt werden kann.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Schlußabstimmung. Die Fraktion der SPD und die Fraktion der GRÜNEN haben für die Schlußabstimmung namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die Abstimmung. —
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Meine Damen und Herren, ich schließe die Abstimmung. Das Ergebnis werde ich später bekanntgeben.*) Jetzt kommen wir zur namentlichen Abstimmung über die Entschließungsanträge der Fraktion der GRÜNEN, und zwar zuerst über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7000. Die Abgeordnete Frau Sonntag-Wolgast hat gebeten, dazu für ihre Fraktion eine Erklärung zur Abstimmung abzugeben.
Ich will ganz kurz das Stimmverhalten der SPD erklären.
Es ist ein Antrag der GRÜNEN, mit dem verlangt wird, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zurückzuziehen. Da wir uns gegen das Gesetz ausgesprochen haben, sind wir inhaltlich natürlich einverstanden. Wir machen uns aber nicht die Begründung in ihrem vollem Wortlaut zu eigen. Wir stimmen deswegen hier mit Enthaltung.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Abstimmung. —Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Dann schließe ich die Abstimmung. Das Ergebnis gebe ich auch hier später bekannt. )Es folgt die namentliche Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7015. Ich eröffne die Abstimmung. —*) Seite 16305
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16301
Vizepräsident WestphalIch frage, ob noch ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimme nicht abgegeben hat. — Dann schließe ich auch diese Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.*)Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6977. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft, den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ich hoffe, Sie sind einverstanden. — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7001. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt.Jetzt stimmen wir über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/7017 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.Ich bedanke mich für die Mitwirkung bei diesem etwas schwierigen Prozeß des Abstimmungsverfahrens.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Horn, Erler, Fuchs , Gerster (Worms), Heistermann, Dr. Klejdzinski, Kolbow, Koschnick, Leonhart, Steiner, Zumkley, Dr. von Bülow, Gansel, Dr. Götte, Kühbacher, Leidinger, Nagel, Opel, Dr. Scheer, Traupe, Voigt (Frankfurt), Wiefelspütz, Walther, Bernrath, Dr. Böhme (Unna), Ibrügger, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDSicherheitspolitische Lage und Entwicklung der Bundeswehr— Drucksache 11/4102 —Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6976 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Zumkley.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst geht mein Blick auf die Regierungsbank, weil ich den Verteidigungsminister nicht erkennen kann. Aber vorhin war er hier. Er wäscht sich offensichtlich die Hände. Ich darf ihm im voraus dafür*) Ergebnis Seite 16305danken, daß er auf Grund gemeinsamer Anstrengungen an dieser Debatte heute teilnimmt. Die Abwesenheit des Ministers wäre für uns nicht akzeptabel gewesen,
geht es doch heute um die Erörterung grundlegender Fragen zu einer künftigen, den aktuellen Entwicklungen entsprechenden Sicherheitspolitik und — sich daraus ableitend — um die Rolle der Bundeswehr.Anlaß dieser Debatte ist unsere Große Anfrage vom 1. März 1989, die nach fast 14 Monaten immer noch nicht beantwortet worden ist. Das, Herr Minister — Sie sind gerade zu uns gekommen — , ist ein schlechter politischer Stil und dem Parlament gegenüber wahrlich ein starkes Stück.
Die Bundesregierung hat dem Parlament die zur Erfüllung seiner Kontroll- und Mitwirkungsfunktion erforderlichen Informationen in einer angemessenen Frist zu geben. Auch unter Berücksichtigung unserer umfangreichen und detaillierten Fragestellungen ist diese Frist selbst für ganz Geduldige längst überschritten. Wir fordern Sie, Herr Minister Stoltenberg, nachdrücklich auf, nunmehr die Große Anfrage der Fraktion der SPD bis zum Ende der parlamentarischen Sommerpause endlich zu beantworten und das Trauerspiel um die Behandlung — oder besser: Nichtbehandlung — unserer Fragen zu beenden.
Wie sollen Abgeordnete fundierte Beratungen — wie in diesem Fall — zum Verteidigungshaushalt führen, wenn unverzichtbare Sachinformationen des Verteidigungsministers fehlen oder zu spät zur Verfügung gestellt werden?
Insbesondere der Opposition gegenüber ist ein derartiges Verfahren des In-die-Länge-Ziehens und Schweigens nicht nur schlechter parlamentarischer Stil, sondern zeugt davon, wie wenig es dem verantwortlichen Minister darum geht, sich in Fragen, die die Bundeswehr betreffen, um einen möglichst breiten Konsens über die eigene Koalition hinweg zu bemühen. Dies ist aber die Aufgabe eines Verteidigungsministers, auch im Interesse der Soldaten der Bundeswehr.Eine gute Zusammenarbeit — es tut mir leid, Herr Minister — setzt eine gute Informationspolitik voraus.
Sie erwecken den Eindruck, als würden Sie vor den Antworten angesichts der sich abzeichnenden vielfältigen Veränderungen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Bundeswehr kneifen.Die von uns Anfang 1989 gestellten Fragen sind größtenteils nach wie vor aktuell; einige Fragen müssen natürlich — wen wundert es nach so langer Zeit? — fortgeschrieben werden und auf die jetzige Situation bezogen beantwortet werden. Wir müssen leider über unsere Große Anfrage ohne Antworten der Bundesregierung debattieren. Herr Minister, wir er-
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16302 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Zumkleywarten von Ihnen, daß Sie heute die Gelegenheit nutzen, unsere Fragen aufzugreifen und zu beantworten.Wie beurteilen Sie beispielsweise die sicherheitspolitische Lage für die Bundesrepublik Deutschland, und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Machen Sie endlich deutlich, wie hoch der Personalumfang der Streitkräfte sein soll.Nachdem wir Sozialdemokraten in der Vergangenheit mit unserem Vorschlag, die Bundeswehr von 495 000 Mann aus Gründen der demographischen Entwicklung und der sicherheitspolitischen Lage künftig drastisch zu reduzieren, verdächtigt wurden, damit unsere Sicherheit aufs Spiel zu setzen und f alsche Signale in Richtung auf das Bündnis zu senden, sprechen Sie in letzter Zeit von 420 000, inzwischen sogar von 400 000. Ihre Vorstellung geht sogar so weit, daß auch eine Zahl darunter denkbar sei. Machen Sie jetzt Schluß mit den Spekulationen, die Unsicherheit verbreiten und kostbare Planungszeit vergeuden.Wir stünden planerisch heute besser da, wenn bereits vor Jahren die politischen Entscheidungen für die Zukunft sachgerecht getroffen worden wären. Sagen Sie uns und der Öffentlichkeit, was Sie vorhaben.Wie lange — ich greife eine weitere Frage auf — soll der junge Wehrpflichtige künftig dienen? Nach den unsäglichen und schädlichen Hin- und Herdiskussionen in der Koalition um die Wehrdienstzeit im letzten Jahr — W 15, W 18 und wieder W 15 — ist es an der Zeit, daß Sie dazu etwas Verbindliches sagen, und zwar im Parlament. Man hört, daß Sie an 15 Monate denken, aber auch, daß es eventuell zwölf Monate sein könnten. Was gilt, Herr Minister? Wir meinen, W 12 ist jetzt angemessen und ausreichend.Auch in der Frage der Strategie sollten Sie sich auf uns zubewegen. Das würden wir natürlich begrüßen. Wie steht es um die Vorneverteidigung, die flexible response und dem nuklearen Ersteinsatz? Diese Grundelemente der bisherigen westlichen Strategie haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Spätestens seit dem letzten Herbst stehen diese Fragen auf der Tagesordnung.Daraus resultieren Fragen nach der Struktur der Bundeswehr und ihre Stationierung. Die Bundesregierung sollte nicht bis nach der Bundestagswahl mit der Offenlegung der Stationierungspläne der Streitkräfte warten. Die Bevölkerung und die betroffenen Soldaten erwarten hier vorher Klarheit und Wahrheit.Treten Sie, Herr Minister, weiterhin für die geplante Modernisierung der nuklearen Kurzstrecken- und Gefechtsfeldwaffen ein oder sind Sie der Meinung, daß auf diese Waffen wegen der geänderten sicherheitspolitischen Situation verzichtet werden kann, so wie wir das schon lange fordern? Im Falle des Verzichts auf die nukleare Artillerie scheint es Konsens zwischen Regierung, Koalition und uns zu geben. Wenn dies so ist, sollte wenigstens in dieser Frage sofort gehandelt und die nukleare Komponente eliminiert werden.Wie steht es um die Bundeswehrplanung? Welche Rüstungsprogramme sind noch erforderlich, und welche können gestrichen werden? Niemand hat Verständnis dafür, wenn unnötige und kostspielige Rüstungsvorhaben einfach weiterlaufen und keine neue Weichenstellung erfolgt. Schließlich geht es darum, zum einen den Verteidigungshaushalt der sicherheitspolitischen Lage entsprechend zu reduzieren und zum anderen durch Umschichtung im Verteidigungshaushalt erkannte Schwachpunkte in der Bundeswehr zu beseitigen; so z. B. bei der Planstellen-situation für Offiziere und Unteroffiziere, der Besoldung, insbesondere von Unteroffizieren ohne Portepee, und in anderen sozialen Bereichen. Eine deutliche Verlagerung der Mittel für die Durchführung defensiver Aufgaben, verbunden mit einer entsprechenden Bundeswehrstruktur, ist geboten.Alle diese von mir aufgeworfenen Fragen stehen so oder sinngemäß in unserer Großen Anfrage. Herr Minister, Sie sollten sie wirklich beantworten.Wir brauchen für die Zukunft eine personell und materiell deutlich reduzierte Bundeswehr, die zunächst weiterhin im westlichen Bündnis und später möglicherweise innerhalb von KSZE-Streitkräften, selbstverständlich unter Beteiligung der USA und Kanada sowie der Sowjetunion, integriert ist. Erforderlich ist, in diesem festgelegten reduzierten Umfang genügend, dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform entsprechendes Personal für die Streitkräfte zu gewinnen.
Das setzt voraus, daß die Attraktivität der Bundeswehr — Herr Kollege Heistermann, Sie haben völlig recht mit Ihrem Zwischenruf —
hinsichtlich sozialer und materieller Rahmenbedingungen der Menschenführung, der politischen Bildung, der Mitbestimmung und sinnvoller Ausbildung in den 90er Jahren verbessert wird.Bildung sowie Aus- und Fortbildung in den Streitkräften müssen auch im Interesse der gesellschaftlichen Einbindung in das Gemeinwesen verstärkt Aufmerksamkeit erhalten. Zivile und reduziert benötigte militärisch nutzbare Technik muß zunehmend gegenseitig mehr austauschbar sein.Solange wir Streitkräfte haben, müssen diese ihrem Auftrag entsprechend ausgerüstet sein. Dieser Auftrag muß aber neu definiert werden und die aktuellen Entwicklungen berücksichtigen. Das Ansehen der Bundesrepublik hängt mit davon ab, ob wir zuverlässige, dabei nicht unkritische Bündnispartner sind und offen sind für eine verstärkte Westbindung der Staaten Osteuropas.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hauser .
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16303
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich habe heute nachmittag in der Aktuellen Stunde schon einmal gesagt: Streitkräfte sind Mittel der Politik. Wenn sich die Politik ändert, müssen sich auch die Streitkräfte ändern. Da ist gerade das Jahr 1989 als das entscheidende Jahr anzusehen, in dem sich vieles geändert hat.Schon unter diesem Gesichtspunkt war es überaus schwer, Ihre Fragen, die Sie in Ihrer Großen Anfrage gestellt haben, so zu beantworten, daß sie auch heute noch richtig wären. Sehen Sie es daher auch als ein Stück weit so, daß wir diese Debatte dazu nutzen, um Meinungen auszutauschen und Standorte festzulegen, soweit es überhaupt möglich ist, Standorte festzulegen. Ich mache diese Einschränkung angesichts der Veränderungen, die sich insbesondere im Osten ergeben.Dies alles ist darauf zurückzuführen, daß sich vieles in Osteuropa verändert hat, daß der Kommunismus in seiner Vormachtstellung zurückgedrängt wurde und daß in Zukunft weder Haß noch Feinddenken herrschen werden. Geringerer Haß und Feinddenken haben die Bedrohungsangst im Westen verändert.
Weniger Konfrontationsdruck der Militärblöcke wird zu weniger Rüstung auf beiden Seiten führen.
Diese Entwicklung zeigt in der Sowjetunion und im Warschauer Pakt Wirkung, die so aussieht, daß die Sowjets zwischenzeitlich den aggressiven Inhalt ihrer Militärdoktrin offengelegt und in ihrer Militärstrategie auf die Androhung des Einmarsches in andere Länder verzichtet haben. Ich glaube, es ist ein substantieller und großer Erfolg, daß man dies zunächst einmal erreichen konnte. Damit einher gingen die Reduzierungen von präsenten sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei, in der DDR und in Ungarn.Dieser Erfolg ist nur möglich geworden durch das Festhalten der westlichen Staaten an der Demokratie und an den Menschenrechten. Sie bleiben für die Völker des Ostens ein Beispiel für eine menschenwürdige Existenz in Freiheit und Selbstbestimmung.Seit der Öffnung der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs ist das sicherheitspolitische Denken hüben wie drüben in Bewegung gekommen. Viele fragen nach dem Sinn von Verteidigungsbemühungen. Dies wird auch kontrovers diskutiert. Wir haben in den letzten Jahrzehnten zu sehr auf das Bedrohungsdenken zurückgegriffen
und sind nun von der Wirklichkeit, dem scheinbaren oder tatsächlichen Wegfall der Bedrohung, eingeholt worden. Dabei hätte sicherlich schon früher daran gedacht werden können, daß auch neutrale Staaten über Armeen verfügen, ohne direkt von irgend jemandem bedroht zu sein.
Der Grundgedanke der Verteidigung des eigenen Territoriums und der eigenen Lebensform richtet sich demnach weniger auf eine konkrete oder eingebildete Bedrohung. Souveräne Staaten wollen ihre territoriale Unverletzlichkeit, ihre geistigen Werte und die Vorzüge des eigenen gesellschaftlichen Systems vor einem möglichen Zugriff anderer schützen.
Konflikte werden nicht dadurch vermieden, daß man sich jeder Verteidigungsmöglichkeit begibt.Der Vergleich mit der Feuerwehr ist oft strapaziert worden, trifft jedoch genau den Punkt, um den es hier geht: Niemand würde die Feuerwehr abschaffen, nur weil es in den letzten 40 Jahren nicht gebrannt hat.Die NATO hat seit 1949 durch die sowjetische Bedrohung inneren Zusammenhalt gefunden. Trotz des Wegfalls der unmittelbaren Bedrohung gibt es heute gute Gründe, für die NATO weiterhin einzutreten: Der Zusammenschluß der freien Demokratien des Westens ist durch die Schwäche des Warschauer Pakts nicht überflüssig geworden. Unser politischer Erfolg im Bündnis rechtfertigt es, für die Erhaltung der Wertegemeinschaft des freien Westens weiterhin entschieden einzutreten.
Die NATO wird in Zukunft weniger durch militärische Strukturen als vielmehr durch politische Handlungsfähigkeit geprägt sein müssen.Die Aufrechterhaltung einer Verteidigungsoption unseres Staates ist unumstritten. Unsere konkrete Aufgabe ist es, den Umfang dieser Verteidigungsoption festzulegen.Zu einem Überdenken der bisherigen Formen und Inhalte haben wir Anlaß durch die Veränderungen in Osteuropa und sicher auch durch die guten Aussichten bei den Wiener Vertragsverhandlungen.Diese veränderte Situation bietet neue Chancen. Ich meine, diese Chancen sollten wir nutzen.Wir wollen ein Signal dadurch setzen, daß wir den Verteidigungshaushalt einer eingehenden Prüfung unterziehen, welche bisherigen Festlegungen und Verbindlichkeiten heute anders als früher bedacht werden müssen. Als konkrete Beispiele schon für den nächsten Bundeshaushalt nenne ich: weniger Kosten durch weniger und kleinere Manöver, weniger Kosten durch weniger Tiefflüge, weniger Kosten durch ein Zurückführen der Munitionsbevorratung und weniger Kosten durch weniger Neubauten und Infrastruktur.
Wir stehen dazu, daß auch aus dem Verteidigungshaushalt ein Beitrag zur Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit erwirtschaftet werden muß. Aber für alle weitergehenden Finanzierungswünsche muß klar sein: Der Verteidigungshaushalt kann nicht als Steinbruchunternehmen dienen.
Eine vernünftige, an den neuen Erfordernissen orientierte Verteidigungsoption wird in Zukunft hoffentlich
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16304 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Hauser
weniger kosten, ist aber nicht zum Nulltarif zu haben.
Die Beschlüsse der Koalition zur Verbesserung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften und die Tarifabschlüsse sind mit erheblichen Mehrkosten auf dem Personalsektor verbunden. Schon aus diesem Grund wird der Investitionsanteil des Verteidigungshaushalts schrumpfen müssen.
Auch die Entwicklung und die Beschaffung von Waffensystemen werden einer sehr kritischen Überprüfung unterzogen werden.
Nur, bei alldem, lieber Herr Kollege Horn, und das gilt jetzt nicht für Sie persönlich, sondern für die Kollegen in der Opposition, sollten wir nicht mit gespaltener Zunge reden. Einige von Ihnen in der SPD legen in der Abrüstungsfrage ein Stück weit Doppelzüngigkeit an den Tag — was ich nicht gut finde.Ich sage Ihnen nur ein Beispiel. So forderte Egon Bahr immer lauthals die einseitige Abrüstung der Bundeswehr auf 50 To ihrer jetzigen Stärke. In dem Wahlkreis, aus dem er kommt, bejammert und kritisiert er jedoch den Abzug einiger alter Minensuchboote mit der geradezu zynischen Bemerkung,
die Bundesmarine reduziere — wörtlich — „einseitig und ohne jedes relevante Argument" ihre Stärke.
Von der Abrüstung der Sowjet-Marine, so Herr Bahr, habe man noch nichts gehört.Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist wirklich der Gipfel der Unverfrorenheit.
Man kann doch nicht vor den Wählern im Wahlkreis so und vor der Weltöffentlichkeit völlig anders reden.Den Arbeitnehmern und Beamten der Bundeswehrverwaltung versprechen wir nicht das Blaue vom Himmel. Wenn die geostrategische Lage und die Vertragsabschlüsse bei den Abrüstungsverhandlungen Truppen- und Gerätereduzierungen möglich machen, muß dies nach einem schlüssigen Gesamtkonzept geschehen, das auch den zivilen Bereich der Bundeswehr mit einschließt. Wir werden für ein sozialverträgliches und zeitlich abgestuftes Vorgehen sorgen. Wir werden nach Kräften versuchen, Härten zu vermeiden. Aber eines ist sicher: Die Möglichkeit der Truppenreduzierung wird es nicht mehr zulassen, in bisher gewohnten Bahnen zu denken und zu handeln. Alles hat seinen Preis, auch die Abrüstung.In der Bundeswehr, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird es große Veränderungen geben, wahrscheinlich die größten seit ihrem Bestehen. Die Reduzierung der Truppenstärke auf weniger als 400 000 Mann und die Festlegung von Obergrenzen für bestimmte Waffensysteme erzwingt die Auflösung oder Kaderung einer größeren Anzahl von Verbänden und Einheiten. Ein abrüstungspolitisches Signal von höchster Bedeutung ist unsere Absicht, den Grundwehrdienst auf 12 Monate zu verkürzen, und ich meine, daß wir das Gesetz dafür noch in diesem Jahr verabschieden sollten.
Die NATO-Strategie und die militärstrategische Konzeption der Bundeswehr müssen wir in den kommenden Jahren den veränderten Verhältnissen Rechnung tragen lassen. Die bisherige Fixierung auf die Führung des Abwehrkampfes durch die NATO an der Grenzlinie der Bundesrepublik im Falle eines Angriffs wird in Zukunft einer veränderten Sichtweise der Verteidigungsmöglichkeiten weichen müssen. Aber: Der Verteidigung des Staatsgebiets auch in der Tiefe wird künftig eine höhere Aufmerksamkeit zu widmen sein als bisher. Für das hoffentlich bald wiedervereinigte Deutschland wird ohnehin eine Form des Schutzes des jeweiligen Territoriums anzustreben sein, die den veränderten Rahmenbedingungen gerecht wird.Denkbar ist, daß wir in Zukunft Streitkräfte haben werden, die aus Soldaten verschiedener Nationen bestehen. Ähnlich wie die deutsch-französische Brigade kann ich mir Brigaden vorstellen, die mit Amerikanern, Kanadiern und anderen zusammen aufgefüllt werden. Neue Aufgaben für die Soldaten könnten und werden die Entsendung von Kontingenten im Rahmen von UNO-Friedensmissionen und die Kontrolle von Abrüstungsmaßnahmen durch besonders ausgebildete Truppen sein.Die allgemeine Wehrpflicht steht in der Bundesrepublik Deutschland nicht zur Disposition. Sie wird nach den Worten des Ministers Eppelmann aus der DDR auch dort als Instrument der Demokratisierung der NVA beibehalten werden. Eine Wehrpflichtarmee wird kaum je zu einem „Staat im Staate" werden. Die antidemokratisch erzogenen sogenannten Kader der bisherigen NVA können bei ihrem Lernprozeß in Richtung Demokratie und Pluralismus nur durch ständig neu in der Armee dienende Wehrpflichtige kritisch hinterfragt und auch kontrolliert werden.Die Überprüfung der Kostenfaktoren, wie ich sie an anderer Stelle beschrieben habe, muß langfristig auch zu einer Reduzierung und schließlichen Beseitigung von Strukturen führen, die nur im Rahmen der früheren Kräfteverhältnisse und Strategien Sinn machten. Ich denke hier an die Kosten für die „nukleare Teilhabe " in beiden deutschen Staaten. Nukleare bodengestützte Kurzstreckenwaffen und nukleare Artillerie entsprechen nicht den veränderten Rahmenbedingungen für die Verteidigung. Unser vereinigtes Land sollte daher schnell von diesen Waffen befreit werden.
Die Entmilitarisierung des Denkens in den östlichen Staaten, die nun begonnen hat, muß von uns aufgenommen und unterstützt werden.
Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß wir in der Sicherheitspolitik weniger von Bedrohung und von Vor-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16305
Hauser
Warnzeiten, sondern mehr von der Aufrechterhaltung der Verteidigungsoption unter Friedensbedingungen sprechen sollten.
Wir sollten künftig davon ausgehen, daß ein militärischer Konflikt — ich darf hier auch auf die Süd-NordHerausforderung verweisen — zwar nicht auszuschließen ist, aber sicherlich nicht bevorsteht. Dem müssen sich Verteidigungsplanungen und Verteidigungsvorbereitungen unterordnen.Die 90er Jahre bieten uns neue Möglichkeiten und unerwartete Chancen. Die Hypotheken des Kalten Krieges sollten wir nicht weiter mit uns herumschleppen. Wir müssen die Chancen nutzen, die sich uns durch die Demokratisierung der osteuropäischen Länder und durch die positiven Aussichten bei den Abrüstungsverhandlungen bieten.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich gern die von den Schriftführern ermittelten Ergebnisse der drei namentlichen Abstimmungen bekanntgeben, zumal ich gleich abgelöst werde.
Es geht zunächst einmal um die Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Ausländerrechts auf den Drucksachen 11/6321 und 11/6955. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 394 ihre Stimme abgegeben. Keine Stimme war ungültig. Mit Ja haben 223 Abgeordnete, mit Nein haben 168 Abgeordnete gestimmt. Es hat drei Enthaltungen gegeben.
13 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Davon war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 9 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 4 Abgeordnete. Es hat keine Enthaltungen gegeben.
Das Gesetz ist damit angenommen. *)
Sodann gebe ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7000 bekannt. 400 Kollegen haben ihre Stimme abgegeben. Keine Stimme war ungültig. Mit Ja haben 33 Abgeordnete, mit Nein haben 235 Abgeordnete gestimmt. Es hat 132 Enthaltungen gegeben.
Der Antrag ist damit abgelehnt. *)
Schließlich gebe ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7015 bekannt. 398 Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Keine Stimme war ungültig. Mit Ja haben 33 Abgeordneten, mit Nein haben 363 Abgeordnete gestimmt. Es hat 2 Enthaltungen gegeben.
Auch dieser Antrag ist damit abgelehnt. *)
*) Die endgültigen Ergebnisse mit den Namenslisten folgen in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht.
Wir setzen nun unsere Debatte fort. Als nächster Redner hat Herr Dr. Mechtersheimer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ursprünglich wollte ich einige freundliche Worte zu einigen Passagen der Rede von Herrn Hauser sagen, aber ich glaube, ich lasse es lieber, um ihm nicht zu schaden. Es ist auf jeden Fall erfreulich, zu sehen, daß die Situation in Mitteleuropa überall Nachdenklichkeit auslöst.Die sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik und die Entwicklung der Bundeswehr stimmen längst nicht mehr überein. Es gibt eine wachsende Kluft zwischen der sicherheitspolitischen Lage einerseits und der Sicherheitspolitik der Bundesregierung andererseits. Während sich die Situation in Europa tiefgreifend verändert, verharrt die Bundeswehr auf dem Stand des Kalten Krieges.
Mehr noch: Es wurde noch nie so viel wie im lauf enden Jahr für das Militär ausgegeben. Das ist eine Feststellung, die man immer wiederholen muß. Es ist überfällig, Korrekturen vorzunehmen. Es ist sehr zu bedauern, daß im Zuge des Nachtragshaushalts nur ganz minimale Veränderungen eingetreten sind, aber keine wirkliche Trendwende festgeschrieben wurde.Überall werden die Militärausgaben zusammengestrichen, nur bei uns nicht. Überall werden Waffensysteme gestoppt, nur bei uns nicht. Selbst die USA haben beispielsweise einen Baustopp für ihre Militäranlagen in der Bundesrepublik erlassen. Die Bundesregierung dagegen läßt Objekte bauen, von denen heute schon sicher ist, daß sie nie mehr gebraucht werden. In diesem Jahr werden rund 1,7 Milliarden DM Steuergelder allein für die Infrastruktur ausgegeben. Das ist eine nicht mehr zu verantwortende Realitätsblindheit. Ich appelliere an den Verteidigungsminister, sofort zu handeln, um diesen Fortschreibungswahn endlich zu stoppen.
In Zukunft sollte nicht allein deshalb gebaut werden, weil ein Vorhaben bereits geplant ist, sondern nur noch dann, wenn der Bau zu rechtfertigen ist.Die Unfähigkeit der Bundesregierung, auf die total veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa angemessen zu reagieren, sollte all diejenigen nachdenklich stimmen, die glauben, daß mit den Strukturen des Kalten Krieges eine wirkliche Friedenspolitik für das künftige Europa gemacht werden könne.Der Nordatlantik-Vertrag vom 4. April 1949 — ich empfehle die Lektüre dieses Textes — ist — abgesehen von der üblichen Vertragslyrik — im Kern unzweideutig die Rechtsgrundlage für eine Militärallianz. Die Abwehr der Sowjetunion bzw. das Rollback war die Ratio dieser kollektiven Sicherheitsorganisation unter US-amerikanischer Führung.Wer die NATO entmilitarisiert, löst sie auf.
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16306 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Dr. MechtersheimerWeil sie aber — nicht nur nach dem Willen der US-Regierung — gerade nicht aufgelöst, ja sogar ausgedehnt werden soll, darf sie aus dieser Logik heraus nicht entmilitarisiert werden.Es ist meines Erachtens auch naiv, anzunehmen — das möchte ich auch an die Kollegen von den Sozialdemokraten gerichtet sagen —, die NATO insgesamt auf eine Defensivstrategie umorientieren zu können. Zumindest die Briten und die USA haben hier Expeditionskorps stationiert, die solche Eingriffe in ihre Offensivstruktur nicht zulassen werden. Sie können das nach dem Verständnis dieser Streitkräfte auch gar nicht. Abgesehen davon ist es herrschende Theorie — neuerdings auch wieder in der Bundeswehrführung — , daß angesichts bevorstehender Streitkräfteverringerungen die Elemente von Feuer und Bewegung verstärkt werden müssen und nicht verringert werden dürfen.
Allenfalls die Bundeswehr, nicht aber die ausländischen Truppen, wird sich die Panzer und die Flugzeuge wegnehmen lassen. Die NATO-Staaten haben 1988 rund 820 Milliarden DM für die Rüstung ausgegeben. Ich glaube, diesen Betrag muß man wiederholen: 820 Milliarden DM! Das ist eine ganz schlimme Realität angesichts der Not in der Welt, aber auch angesichts der Schwierigkeiten in unserem eigenen Land und nicht zuletzt in der DDR.Man kann diese Realität, die durch diese Milliardenverschwendung charakterisiert wird, nicht durch Formeln uminterpretieren und von einer angeblich neuen politischen Funktion des Militärbündnisses sprechen. Solche Strukturen haben ein enormes Beharrungsvermögen. Was sich bei der NATO wandelt, ist nicht ihr militärischer Charakter, sondern die Begründung für ihre Existenz und für die Streitkräfte. So erleben wir das ja auch bei einzelnen Waffensystemen. Nach wie vor wird etwa der Jäger 90 gefordert, obwohl eingestanden wird, daß die ursprüngliche Begründung, nämlich eine tatsächliche oder angebliche starke Offensivkapazität der sowjetischen Luftstreitkräfte, nicht mehr trägt.Es ist kennzeichnend, daß für Militärapparate, die keine Begründung herkömmlicher Art mehr haben, neue Begründungen gesucht werden müssen. Interessant ist, daß die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt: „Die Bedrohung kommt nicht mehr aus dem Osten, sondern aus dem Süden. " Damit dies auch glaubhaft wird, liefert die Bundesregierung und liefert die Rüstungsindustrie das Potential dorthin, damit jene angebliche Bedrohung aus dem Süden erst entsteht, die das Weiterrüsten rechtfertigen soll. Daß die USA beispielsweise 700 Panzer nach Ägypten liefern wollen, die hier in Europa nicht mehr gebraucht werden, zeigt, daß nach dieser die NATO bestimmenden Politik Abrüstung in Europa zur Aufrüstung in anderen Regionen beitragen kann.Die aktuelle Diskussion über den künftigen sicherheitspolitischen Status Deutschlands wird von der Illusion bestimmt, neue gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen würden sich sozusagen von selbst entwikkeln und so die Militärblöcke früher oder später entbehrlich machen. Das ist nach meiner Einschätzung nicht US-amerikanisches Interesse. Die USA wollen zur Absicherung ihrer militärischen Europapräsenz die NATO als eine immerwährende Einrichtung erhalten — nicht die NATO selbst, sondern die NATO als einen Anlaß für die Absicherung ihrer Präsenz hier. Die Vereinigten Staaten werden neue gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen nur insofern zulassen, als sie nicht eine Alternative zur NATO werden. Wer beispielsweise den Gedanken einer Doppelmitgliedschaft Deutschlands, also die Mitgliedschaft in den beiden Militärblöcken, mit dem Argument ablehnt, dies wäre lediglich die Vorbereitung einer Entlassung Deutschlands aus der NATO-Zugehörigkeit— so die US-Regierung —, zeigt damit nur, daß er nicht die Blöcke überwinden will, sondern lediglich den Warschauer Pakt, um die NATO um so dauerhafter zu etablieren.
Wenn es schon eine Übereinstimmung darüber gibt— das ist heute ja sichtbar geworden — , daß ein grundlegender Wandel der sicherheitspolitischen Lage in Europa eingetreten ist, dann müßte dies auch zur gemeinsamen Forderung nach einer neuen Politik mit neuen Organisationen führen. Mit der NATO als einem Instrument des Kalten Krieges — das ist diese NATO bis zum heutigen Tage — lassen sich die neuen europäischen Friedensaufgaben nicht bewältigen. Für uns sind NATO und Entmilitarisierung Gegensätze und nicht vereinbar. Wer etwas anderes sagt, setzt sich dem Verdacht aus, daß er die Öffentlichkeit irreführen will. Daraus folgt, daß derjenige, der ernsthaft eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur anstrebt, sofort mit dem Abbau der alten Strukturen beginnen muß. Wir brauchen nicht noch einmal 50 Jahre Übergangszeit. Das ist nur zu erreichen, wenn neue gesamteuropäische Strukturen als Alternative zu den Militärbündnissen und nicht nur als Girlande der NATO aufgebaut werden.Wer im eigenen Land oder im befreundeten Ausland Angst hat vor deutschen Waffen, wofür wir angesichts der deutschen Geschichte ja Verständnis haben, sollte für eine Wiederentwaffnung der Bundesrepublik und der DDR eintreten. Ist es nicht widersinnig, daß in einer neuen deutschen Republik ausländische Truppen deshalb stationiert werden sollen, damit sie deutsche Waffen kontrollieren? Warum dann nicht gleich die Entmilitarisierung?Nun wird gerade von einer anderen westlichen Militär-Organisation — das ist ja auch von Herrn Hauser aufgegriffen worden —, die nicht minder überflüssig geworden ist, nämlich von der Westeuropäischen Union, vorgeschlagen, gemischte Verbände nach dem Vorbild der deutsch-französischen Brigaden zu schaffen. Das ist ein weiterer Beweis und ein weiteres Beispiel dafür, wie man für vorhandene Streitkräfte, die man sonst nicht rechtfertigen kann, neue Aufgaben sucht.Wer Völkerverbeständigung und Integration organisieren will, sollte dies durch gemeinsame Arbeitsbrigaden, beispielsweise für den Umweltschutz oder für die Hilfe in der Dritten Welt, tun, nicht mit Militäreinheiten, die erst einen Feind erfinden müssen, damit sie ihre Übungen durchführen können.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16307
Dr. MechtersheimerIch nenne einige konkrete Schritte als Konsequenz dieser Überlegungen:erstens Aufbau gesamteuropäischer Friedensstrukturen, die die Sicherheit in Europa mit nichtmilitärischen Mitteln gewährleisten, die Abrüstung und die militärischen Restpotentiale in Europa kontrollieren und für Streitschlichtungsverfahren zuständig sind;zweitens Austritt der beiden deutschen Staaten aus der militärischen Integration ihrer jeweiligen Blindnisse;drittens Halbierung der Präsenzstärken von Bundeswehr und NVA als ersten Schritt;viertens Abschaffung der Wehrpflicht auch zur Verhinderung eines bedrohlichen Reservistenpotentials. Das ist kein Plädoyer für eine Berufsarmee.
Wir kennen die historische Debatte darüber, die es auch nach dem Ersten Weltkrieg gab, wo man mit guten Gründen sagte: Die Wehrpflicht mag demokratisch adäquater sein; aber es besteht immer das Problem, daß eine Schattenarmee aufgebaut wird. Ich glaube, daß dieses Argument bei den künfigen Verhandlungen noch eine Rolle spielen könnte.
Auf jeden Fall gibt es eine neue Debatte; ich möchte das hier ausdrücklich betonen. Es ist eine neue Forderung aus der Friedensbewegung, die Abrüstung mit der Forderung zu beginnen, die Wehrpflicht abzuschaffen. Es gibt auch viele praktische Gesichtspunkte. Ab einer gewissen Größenordnung wird die Wehrungerechtigkeit so groß, daß sie — selbst, wenn man sie aus anderen Gründen wollte — nicht mehr durchgehalten werden kann.
— Es gibt zu dieser Frage einen Antrag meiner Fraktion, der genau identisch ist mit dem, was ich eben hier gesagt habe.
Herr Abgeordneter, sind Sie prinzipiell bereit, eine Frage des Abgeordneten Nolting zu beantworten? — Bitte schön.
Auch im Detail.
Herr Kollege Mechtersheimer, ist das Ihre persönliche Meinung, oder ist das die Meinung der Fraktion der GRÜNEN, und könnten Sie mir die Frage beantworten, ob Sie die Reservisten in der Bundesrepublik Deutschland als bedrohliches Potential bzw. als Schattenarmee bezeichnen wollen?
Ich würde die Diskussion nicht mit Schattenbegriffen oder ähnlichem führen, auch wenn ich das eben gesagt habe. Das nehme ich gerne zurück. Es geht um eine ganz ernste Frage der europäischen Sicherheit. Ein Land, das mit einer Bevölkerung von 80 Millionen die Wehrpflicht hat, „produziert" nun einmal militärisch ausgebildete junge Männer in einer erheblichen Zahl. Ich könnte mir vorstellen, daß man bei dem Versuch, Ängste bei unseren Nachbarn abzubauen, auch daran denken muß, daß man durch den Verzicht auf die Wehrpflicht auch dieses Reservepotential nicht schafft. Ich meine, diese Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht als einer neuen Forderung auch der grünen Fraktion insgesamt sollte ein Angebot zur Diskussion über diese Frage sein. Ich würde es bedauern, wenn das hier in einer Art und Weise aufgegriffen werden würde, die dieser schwierigen Frage nicht gerecht wird.
Es hat sich inzwischen ein weiterer Fragesteller, nämlich Herr Würzbach, gemeldet. Sind Sie bereit, auch dessen Frage zu beantworten? — Bitte sehr.
Prinzipiell und im Detail.
Herr Mechtersheimer, am Sonntag, also erst vor wenigen Tagen, ist eine Grußadresse des Sprechers der GRÜNEN auf einer Bundestagung der Reservisten der Bundeswehr verlesen worden. Zusammengefaßt wurde allen Fraktionen des Hauses applaudiert, weil ohne Abstriche auch die GRÜNEN für eine Beibehaltung der Wehrpflicht eintraten. Sie sagen jetzt hier, die GRÜNEN hätten umgedacht und seien dafür, die Wehrpflicht abzuschaffen. Da darf ich Sie einmal fragen: Was gilt?
Es gilt der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, der ungefähr drei Wochen alt ist und bei einer Pressekonferenz der Fraktionssprecherin Waltraud Schoppe vorgestellt wurde und in dem eindeutig erklärt wird: Das Ziel der GRÜNEN ist die Abschaffung der Wehrpflicht.Es ist eine ganz andere Sache, wie wir uns, solange dieses Institut besteht, um die Wehrpflichtigen kümmern. Wir haben Anhörungen zur Wehrpflicht durchgeführt, weil es dort soziale Probleme gibt. Das ist durchaus vereinbar.Ich werde prüfen, wer diese Grußbotschaft verfaßt hat; ich halte das für bedauerlich.
— Das kann man dann ja prüfen. — Im übrigen weiß ich ja, daß viele von Ihnen die grünen Abgeordneten beneiden, weil deren Freiheit viel größer ist als die in den anderen Fraktionen.
— „Grenzenlos" würde ich nicht sagen. Aber in diesem Punkt ist eine Klärung erforderlich. Ich verspreche Ihnen, daß sie auch durchgeführt wird.Der fünfte Punkt ist der Abzug bzw. die Auflösung der ausländischen Truppen. Ich halte das für eine wichtige historische Forderung, die nicht von heute auf morgen, aber bis zum Jahre 2000 zu realisieren sein könnte. Es geht ganz bewußt nicht nur um den Abzug, sondern auch um die Auflösung. Wir würden es natürlich vorziehen, wenn diese Verbände hier bei uns aufgelöst würden. In einigen Fällen geht es wohl auch nicht anders, weil in Belgien beispielsweise für die hier stationierten Kontingente der belgischen Armee keine Unterkunftsmöglichkeiten vorhanden sind.
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16308 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Dr. MechtersheimerDas sind auch Forderungen, mit denen wir die Friedensbewegung und die Abrüstungskräfte in den anderen Ländern, die zu uns Truppen entsandt haben, unterstützen wollen.Sechste Forderung: Baustopp für Militärinfrastruktur und Modernisierungsverbot für Waffensysteme.Siebtens: sofortige radikale Reduktion sämtlicher Militärübungen und Verzicht auf alle Luftkampfübungen aus dem naheliegenden Grund, daß sie nicht über dichtbesiedeltem Gebiet durchgeführt werden dürfen, und die Bundesrepublik — nicht nur sie, sondern ganz Mitteleuropa — ist angesichts der Realität dieser Übungen insgesamt als eine dichtbesiedelte Region zu bezeichnen.Achtens: staatliche Programme zur Konversion der Rüstungsbetriebe in zivile Produktionsstätten, nicht zuletzt auch deswegen, um den Rüstungsexport zu unterbinden. Was nutzt die Abrüstung, wenn die Rüstungspotentiale in der Industrie beibehalten werden? Damit kommen wir der Lösung dieses Problems nie nahe.Neuntens: Umstellungsprogramme für sämtliche Garnisonen, die von der örtlichen Militärpräsenz abhängen. Seit Jahren haben DIE GRÜNEN — das muß man einmal betonen — Konversionsprogramme gefordert, ohne daß die Regierung dies als eine Notwendigkeit erkannt hätte. Jetzt ist es in vielen Fällen schon sehr spät, und es reicht die Zeit sicher nicht, um vermeidbare soziale Härten jetzt zu verhindern.Ich komme zum Abschluß mit der Feststellung: Der Aufbau einer gemeinsamen Deutschen Republik wird anders, als es die Regierung bisher darzustellen versuchte, enorm viel Geld kosten. Wir hoffen, daß beide deutsche Regierungen die Militärhaushalte endlich als das entdecken, was sie schon seit geraumer Zeit sind: eine Finanzquelle für wirkliche gesellschaftliche Aufgaben in einem Europa jenseits der Militärblöcke.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Nolting.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Veränderungen, vor denen unsere Streitkräfte und damit unsere Sicherheitspolitik stehen, sind größer und umfassender als alles das, was es bisher an Reformen in der Bundeswehr gegeben hat. Ich weiß, daß einige dies beklagen, weil es die Truppe gegenwärtig in enorme Unsicherheiten und Ungewißheiten bringt.Diese Einstellung teilen wir Liberalen nicht; denn es ist zuallererst einmal ein Erfolg, ein Erfolg einer konsequenten und über Jahrzehnte durchgehaltenen Außen- und Sicherheitspolitik, vertreten durch liberale Außenminister, aber nicht zuletzt auch ein Erfolg für all diejenigen, die in den letzten vier Jahrzehnten ihren Dienst in der Bundeswehr geleistet haben oder noch leisten. Sie haben den größten Erfolg errungen, den Streitkräfte in Deutschland jemals erzielt haben. Auch dafür gebührt ihnen Dank und Respekt.
Dazu gehört aber auch, daß man ihnen klar sagt, wie es mit ihnen weitergehen soll, wenn die Streitkräfte verkleinert werden, wie wir Liberalen es wollen. Jeder Angehörige der Bundeswehr, auch der zivilen Verwaltung der Bundeswehr, hat einen Anspruch darauf, zu wissen, daß er nicht ins soziale Nichts stürzt, sondern daß seine legitimen Interessen gewahrt werden. In diesem Bewußtsein werden die Angehörigen der Bundeswehr in Uniform und Zivil die Veränderungsprozesse für unsere Streitkräfte fair und loyal mittragen.Ich kann verstehen, wenn unsere militärischen Planer präzise Bezugsrahmen haben wollen, innerhalb derer sie agieren können. Aber seien wir auch heute ehrlich — dies sage ich auch in Richtung der SPD — : Diesen Bezugsrahmen können wir gegenwärtig noch nicht besetzen. Sagen wir ebenfalls ehrlich: Unsere Streitkräfte werden noch einige Monate in der Unsicherheit über ihren zukünftigen Umfang, gegebenenfalls auch in der Unsicherheit über Restriktionen bei der Dislozierung und schließlich in der Unsicherheit über die Zukunft möglicher deutscher Streitkräfte auf dem Gebiet der jetzigen DDR leben müssen.
So sehr die Forderung verständlich ist, endlich klare Vorgaben zu bekommen, so sehr müssen wir andererseits berücksichtigen, daß wir ganz bewußt und mit sehr guten Gründen den Prozeß der deutschen Einigung in den gesamteuropäischen Kontext voll eingebracht haben. Dies bedeutet nicht nur einen Einfluß auf die Zwei-plus-vier-Gespräche, sondern auch die Berücksichtigung unserer Partner in der Europäischen Gemeinschaft und in der NATO.Meine Damen und Herren! Die NATO und der Warschauer Pakt verhandeln in Wien über den Abbau konventioneller Streitkräfte in Europa. Diese Gespräche dürfen die Bundeswehr nicht unberührt lassen und werden hoffentlich in ihrer zweiten Phase zu einer deutlichen Reduzierung auch unserer Streitkräfte führen. Wir alle wissen, daß sich der Warschauer Pakt in einem Zustand der Auflösung befindet. Wir wissen, daß bisherige Mitgliedstaaten des östlichen Bündnisses darüber nachdenken, ob sie eine Mitgliedschaft in der NATO beantragen. Dies sollte gerade die SPD sehr nachdenklich machen, die noch vor wenigen Wochen und Monaten die Diskussion über einen Austritt aus der NATO geführt hat.
Wir freuen uns allerdings, Herr Kollege Zumkley, daß es bei der SPD auch hier wie in der Deutschlandpolitik allmählich ein neues Denken gibt.
Meine Damen und Herren! Die oben aufgezeigten Faktoren machen es unmöglich, heute klare Konturen einer künftigen Sicherheitspolitik zu zeichnen. Deshalb müssen und deshalb werden wir einige Fragen, die uns gegenwärtig sehr bewegen, heute noch offen-
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Noltinglassen. Herr Kollege Zumkley, auch Sie haben eine Vielzahl von Fragen gestellt, allerdings kaum Antworten gegeben.
Um so wichtiger ist es, die Trends, die sich jetzt klar abzeichnen, festzuhalten und sich darauf auch einzustellen. Wir wissen, daß die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland in Zukunft deutlich kleiner sein werden. Wir wissen, daß Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille sind. Das heißt, bei deutlich verringerter Streitkräfteplanung kann und muß die Dauer des Grundwehrdienstes so schnell wie möglich auf maximal 12 Monate reduziert werden. Für die FDP fordere ich den Bundesminister der Verteidigung auf, hier möglichst rasch
— ich darf es einmal so sagen — über seinen Schatten zu springen und sowohl denjenigen, die demnächst den Dienst in der Bundeswehr leisten müssen, als auch den Einheiten und Verbänden der Bundeswehr selber rasch Klarheit zu verschaffen.Als sich die FDP 1989 endlich mit ihrer Forderung, auf W 18 zu verzichten, durchgesetzt hatte, wurde die Truppe vor Ort — auch dies darf ich einmal so offen ansprechen — in ein Planungs- und Organisationschaos gestürzt, weil das BMVg viel zu spät die Notwendigkeit und die Chance einer Entscheidung erkannte. Machen wir denselben Fehler nicht noch einmal! Für die FDP steht fest: W 12 muß kommen, W 12 wird kommen, und W 12 ist auch in der Praxis machbar, wenn wir die notwendigen Reformen des Dienstes bei einem konsequenten Übergang von einer Präsenz- zu einer Ausbildungs- und Mobilisierungsarmee durchführen. Der Kollege Hauser hat für die CDU an dieser Stelle auch schon darauf hingewiesen.Herr Kollege Mechtersheimer, auch zu Ihnen ein ganz kurzes Wort. Wir werden auch im Verteidigungshaushalt zu einer Verringerung der Mittel kommen. Ich möchte Sie bitten, hier heute keine neuen Feindbilder aufzubauen, wie Sie es hier heute getan haben. Die Bundeswehr hat nie Feindbilder gehabt, und wir werden auch im Süden oder wo immer keine neuen Feindbilder aufbauen. Sie als Oberstleutnant a. D. sollten das eigentlich wissen. Ich will an dieser Stelle nur sagen: Die Bundeswehr ist eine Vorsorgeeinrichtung, und wir werden auch die äußere Sicherheit nicht vernachlässigen.
Meine Damen und Herren! Es ist ein bequemes Vorurteil, wenn den militärischen Führern vorgeworfen wird, sie seien Betonköpfe, die zu planerischem Vor-denken nicht in der Lage oder nicht bereit seien. Dieser Vorwurf geht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, völlig ins Leere. Diese Vorwürfe müßten sich, wenn überhaupt, dann schon eher an die Politiker richten.
Sind wir Politiker denn bereit, den militärischen Planern frühzeitig genug die notwendigen Vorgaben zu machen?
Ich habe da so meine Zweifel. Ich weiß manchmal auch nicht, ob wir auf den verschiedenen Entscheidungsebenen und in den verschiedenen Bereichen von Planung auf der einen Seite und von Politik auf der anderen Seite die gleiche Sprache sprechen. Dies ist eine Aufforderung an uns alle, das zu ändern.Meine Damen und Herren, wir brauchen auch in Zukunft eine Armee — ich habe das schon gesagt — als Vorsorgeeinrichtung, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Kollege Hauser hat hier das Beispiel von der Feuerwehr gebracht. Die Soldaten, die für den Ernstfall gut ausgebildet sind, gerade durch ihre Fähigkeit und ihre Motivation einen potentiellen Aggressor abschrecken und dadurch den Ernstfall verhindern, müssen üben.Überall im Land aber gibt es Widerstand gegen übende Soldaten, gegen Tiefflug, gegen Manöver und gegen Truppenübungsplätze. Auch hier müssen wir uns fragen lassen, ob wir gewillt sind, uns weiterhin von unseren Bundeswehrsoldaten verteidigen zu lassen. Wenn wir diese Frage bejahen — wir Liberalen tun das — , dann ist es unsere politische Pflicht, unseren Soldaten die entsprechenden Übungsmöglichkeiten zu schaffen.
Gleichzeitig heißt das aber auch, daß nicht mehr als unbedingt nötig geübt werden darf. Ich frage für die FDP: Ist es tatsächlich nötig, daß am Rande deutscher Großstädte Luftkampfübungen durchgeführt werden? Ich frage weiter: Sind Tiefflüge über unserem dicht-besiedelten Land so wirklich noch erforderlich?
Die FDP-Fraktion ist der Ansicht, daß das erhebliche Risiko, das mit militärischen Flugübungen zwangsläufig verbunden ist, unserer Bevölkerung im bisherigen Ausmaß nicht länger zugemutet werden kann.Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion hat einen weiteren Beschluß gefaßt, demzufolge wir anstreben, den Friedensumfang der Bundeswehr in der zweiten Phase der Wiener Abrüstungsverhandlungen auf 350 000 Mann zu verringern. Langfristig ist eine noch weitergehende Reduzierung wünschenswert und zu erwarten. Eine solche Entwicklung stellt uns natürlich vor Probleme. Wenn die Stärke der Bundeswehr langfristig unter 350 000 Mann sinken sollte, dann müssen wir uns fragen, wie weit wir den Wehrdienst verkürzen können, so daß die jungen Männer noch immer befriedigend ausgebildet werden. Folgende Fragen müssen wir beantworten: Können zwölf oder weniger Monate zur Ausbildung an hochtechnischem Gerät ausreichen? Wie schaffen wir Wehrgerechtigkeit für alle jungen Männer? Können wir unsere Sicherheit durch eine Freiwilligenarmee gewährleisten? Auch diese Fragen müssen von der Politik beantwortet werden.Ganz selbstverständlich wird eine Verkürzung der Wehrdienstdauer dazu führen, daß Wehrpflichtige
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Noltingnicht mehr für sehr spezielle und lernintensive Funktionen ausgebildet werden können. Berufs- und Zeitsoldaten werden allein schon dadurch an Bedeutung gewinnen.Es stellt sich auch die Frage nach der Wehrgerechtigkeit. Wenn eine weitere Verkürzung des Wehrdienstes keine sinnvolle Ausbildung mehr ermöglicht, dann besteht die Alternative darin, weniger junge Männer einzuberufen. Aber wie können wir das unter dem Gesichtspunkt der Wehrgerechtigkeit begründen, wenn einige dienen müssen und andere nicht,
ganz abgesehen davon, daß der persönliche Beitrag des einzelnen Bürgers zu unserem Staat liberalem Selbstverständnis entspricht?
Meine Damen und Herren, wenn man alle Überlegungen zusammenfaßt, dann könnte ich mir vorstellen, daß wir irgendwann zu einer grundsätzlichen Wahlfreiheit zwischen einem Wehrdienst und einem gleichlangen Zivildienst, der dann nicht mehr als Ersatzdienst bezeichnet werden könnte, kommen werden.
Vielleicht könnte dies dann als „Dienstleistungsjahr" — ich will diesen Arbeitstitel einmal gebrauchen — bezeichnet werden.Anlaß für die heutige Debatte ist die Große Anfrage der SPD unter dem Titel „Sicherheitspolitische Lage und Entwicklung der Bundeswehr" von März 1989. Die Anfrage ist nach einem Jahr noch immer nicht beantwortet worden. Das ist aus unserer Sicht zu Recht kritisiert worden. Ich glaube, es entspricht nicht parlamentarischem Selbstverständnis, daß eine Anfrage nach mehr als einem Jahr nicht beantwortet ist.
Dieser Vorwurf geht in Richtung der gesamten Regierung.
Allerdings darf ich noch eines dazu sagen. Es macht heute ebenfalls keinen Sinn mehr, diese Fragen noch lange zu beantworten. Noch viel weniger Sinn macht es, diese überholten Fragen heute im Plenum des Deutschen Bundestages zu diskutieren.Werfen wir doch einmal einen kurzen Blick in den vorliegenden Fragenkatalog! Zum Beispiel geht es in Frage 12 um die 456 000 ständig aktiven Soldaten. Diese Frage ist seit Vorlage der neuen Bundeswehrplanung im Dezember letzten Jahres überholt.
Oder Frage 21. Hier geht es um den Grundwehrdienst von 18 Monaten. Diese Frage ist sogar schon seit Mai 1989 überholt.
Wo man auch aufschlägt, Ihre Große Anfrage ist nicht mehr aktuell. Vielleicht darf ich an dieser Stelle auch einmal auf Frage 53 verweisen, in der Sie nach der Modernisierung der Lance-Raketen fragen.
Ich frage Sie: Wollen Sie dieses Thema hier wirklich noch diskutieren? Ich bin dazu nicht bereit.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sollten Ihre Anfrage zurückziehen.
Aber offensichtlich will die SPD mit diesen Fragen und dieser Debatte nur davon ablenken, daß sie jahrelang auch in der Sicherheits- und Außenpolitik eine völlig falsche Politik verfolgt hat.
Vom Widerstand gegen die Umsetzung des von ihr selbst erfundenen NATO-Doppelbeschlusses bis zur Zusammenarbeit zwischen SPD und SED in der Deutschlandpolitik reicht die Kontinuität des Irrtums.
— Sie sollten mich erst einmal ausreden lassen. — Die unbeirrte und konsequente Abrüstungspolitik unseres Außenministers und dieser Koalition hat dazu geführt, daß wir heute ganz andere und viel interessantere Fragen diskutieren können.
Auch in der Sicherheitspolitik gilt: Diese Bundesregierung, diese Koalition handelt, die SPD nörgelt.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Stoltenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die sozialdemokratische Fraktion am 1. März 1989 ihre Große Anfrage zur sicherheitspolitischen Lage und zur Entwicklung der Bundeswehr einbrachte, sah die Welt in Europa in der Tat noch anders aus. Zwar konnte man schon damals feststellen, daß sich das Verhältnis zwischen Ost und West zu ändern begann, zwar kamen die Abrüstungsverhandlungen in Wien damals mit einigen ersten und durchaus ermutigenden Schritten voran, aber der Durchbruch zu einer tiefgreifenden Umgestaltung Europas erfolgte im Sommer und vor allem im Herbst vergangenen Jahres: der Wandel in den meisten osteuropäischen Ländern hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als historischer Wendepunkt.Die Bundesregierung gestaltet diese Politik aktiv mit. Die Große Anfrage verlangt von ihr nun, von der
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Bundesminister Dr. Stoltenbergsicherheitspolitischen Lage und von der Entwicklung der Bundeswehr ein mehrstatisches Bild zu zeichnen. Die damit verbundene Problematik hat Kollege Nolting am Schluß angesprochen; ich brauche das nicht zu wiederholen.
Zu dieser Kritik sage ich nur: Die Abstimmungsprozesse in der Bundesregierung waren unter diesem Vorzeichen ein Stückchen schwieriger, als ich es als federführender Minister mir gewünscht hätte.Wir wissen, daß die derzeitige politische Entwicklung Europa wirklich in Bewegung gebracht hat. Wir wissen, daß jahrzehntelang verfestigte Positionen von der Dynamik der vor uns ablaufenden Veränderungen nun wirklich auf den Prüfstand der Geschichte gestellt werden. Gerade in einer solchen Zeit ist Planung schwierig. Wir dürfen sie nicht als ein starres System verstehen. Genauso gilt jedoch, daß wir gewisse verläßliche Eckdaten für die Zukunft der Bundeswehr ebenso brauchen wie die Bereitschaft, solche Eckdaten auf neue Entwicklungen hin — hier unlösbar verbunden mit verbindlichen Rüstungskontrollvereinbarungen, nicht mit Absichtserklärungen — periodisch fortzuschreiben. Also: Kontinuität ist geboten, die Verbindung von weiterhin gültigen Grundgegebenheiten mit dem Vermögen, flexibel neue Chancen zu nutzen.Freiheit und Selbstbestimmung der Staaten sind in den Mittelpunkt der europäischen Politik gerückt und zugleich die Notwendigkeit, die gesamteuropäische Sicherheit, wenn möglich, qualitativ auf neue Grundlagen und Vereinbarungen zu stellen. Auch dieser Prozeß ist in vollem Gange. Der ideologische Grundwiderspruch in Europa ist dabei, sich aufzulösen. Aber zugleich werden in diesen Umwälzungen auch erhebliche neue Spannungen und Risiken sichtbar.Ich glaube, das ist auch Grund genug, kurz zurückzuschauen und die Leistungen unseres Landes für die Sicherheit und Freiheit der Staaten des Westens hervorzuheben. Unmittelbar an der Nahtstelle zwischen Ost und West gelegen, wo Freiheit und Unfreiheit in Europa bisher an einer unmenschlichen Grenze zusammenstießen, wo sich große Militärpotentiale gegenüberstehen, wo wir bis heute eine massive Überlegenheit der Roten Armee und des Warschauer Paktes haben,
hat die Bundesrepublik gemeinsam mit ihren Verbündeten einen beträchtlichen Beitrag zur Sicherung der eigenen Lebenswerte gezahlt.
Millionen unserer jungen Männer haben einen gewichtigen Anteil ihrer persönlichen Lebensplanung als Soldaten in den Dienst unseres Staates gestellt. Wir haben Jahr für Jahr beträchtliche Finanzmittel für unsere Sicherheit aufgewendet. Ich glaube, daß sich im Ergebnis, im Rückblick auf eine konflikt- und spannungsreiche Zeit diese erheblichen Anstrengungen für Frieden und Freiheit gelohnt haben. Im Kern ist die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland eine Erfolgsgeschichte, und wir können stolz darauf sein.
Wir haben gemeinsam mit unseren Verbündeten das erreicht, was unter den Bedingungen der letzten Jahrzehnte erreichbar war. Wir haben trotz Konflikten Frieden und Freiheit gesichert. Wir haben jetzt eine gute Ausgangsposition, um den Frieden in Europa durch verbindliche Vereinbarungen mit weniger Soldaten und Waffen zu gewährleisten und zugleich am bewährten Bündnis der westlichen Demokratien festzuhalten und gesamteuropäische Kooperation und Sicherheitsstrukturen schrittweise zu erzielen.So gilt also unser Dank ganz besonders unseren Soldaten, die ihrer Pflicht für unser Land in der Vergangenheit in so hohem Maße nachgekommen sind.
Vergessen wir nicht: Die Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr, die in Zukunft ihrer Verantwortung für diese Demokratie weiter nachkommen werden, können dies nur tun, wenn sie auch in einer Zeit des Umbruchs, die ja von ihnen viel verlangt, unserer nachhaltigen Unterstützung sicher sind. Alles andere wäre widersinnig und nach meiner Überzeugung unserer Demokratie unwürdig.Natürlich wissen wir, daß Verteidigung, Übungen, Manöver, für viele unserer Mitbürger auch Einschränkungen und Probleme mit sich gebracht haben und noch bringen. Wir haben das heute nachmittag in der Aktuellen Stunde ausführlich diskutiert. Dies will ich heute abend nicht wiederholen. Ich bin sicher, daß, bei aller Kritik, im Kern die meisten unserer Mitbürger die Notwendigkeit für bestimmte Einschränkungen dann anerkennen, wenn sie zugleich sehen, daß wir uns auch bemühen, veränderte Bedingungen für eine deutliche Veringerung zu nutzen.
Belastungen dürfen immer nur Ausfluß unvermeidbarer Notwendigkeiten sein. Wir nutzen neue politische Konstellationen und auch neue technische Möglichkeiten, um Bürden zu verringern.Wir haben ja schon in beachtlichem Umfang in den letzten ein bis zwei Jahren Entscheidungen getroffen, um den Übungsbetrieb unserer Streitkräfte den sich verändernden Bedingungen und neuen technischen Möglichkeiten anzupassen. Was mit dem Übungskonzept unseres Heeres begann, das mittlerweile weithin von der NATO übernommen ist und nun auch zunehmend, gerade in letzter Zeit, von unseren Alliierten in ihren eigenen Manövern auf unserem Territorium praktiziert wird, ist eine enorme Veränderung, in Zahl und Umfang eine nachhaltige Reduzierung. Rahmen-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergübungen, Computereinsatz, Simulatoren, das alles hat eine solche Entwicklung auch gefördert. Wir haben heute nachmittag ausführlich über weitere Initiativen zur Reduzierung auch der Belastungen diskutiert, die aus dem Übungsbetrieb der Luftwaffe erwachsen. Unsere Mitbürger können sicher sein, daß wir auf diesem Gebiet vorangehen wollen.Aber zugleich sage ich auch klar: Oberflächliche, pauschale Forderungen, wie die Einstellung des gesamten Übungs- und Ausbildungsbetriebes unserer Luftwaffe oder der alliierten Luftwaffen bei uns, sind mit den wirklichen Sicherheitsinteressen unseres Landes nicht vereinbar.
— Eine Fraktion — nicht Sie; aber es gibt vier Fraktionen in diesem Hause — hat das schon gefordert.Wir haben in den vergangenen Jahren vieles an sogenannten alternativen Sicherheitsvorstellungen gehört. Heute wissen wir, daß einige in der Sache falsch waren, andere zumindest zum absolut falschen Zeitpunkt vorgetragen wurden; es gibt ja schließlich auch Veränderungen. Es ist ein begrenzter Schritt, aber ein interessanter Schritt in die richtige Richtung, wenn sich die sozialdemokratische Fraktion gestern mit Mehrheit, gegen eine große Minderheit, prinzipiell dafür ausgesprochen hat, daß ein vereintes Deutschland bis auf weiteres, so haben Sie gesagt, Mitglied der NATO sein soll. So ist es zumindest von einem Kollegen vorhin vorgetragen worden, dessen Formulierung ich nehme. Das ist also ein begrenzter Schritt in die richtige Richtung, den ich begrüße.
— Gut, das ist klar, unter gewissen Bedingungen. Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie bei der Mehrheit oder bei der Minderheit waren. Ich will die Idee im Kern aber anerkennen, weil es, wie immer das von Ihnen und von uns differenziert zu bewerten ist, natürlich gut ist, daß hier zu diesem Zeitpunkt, in dem wir in die wirklich sehr bedeutenden Verhandlungen mit den Vier Mächten eintreten, eine begrenzte Gemeinsamkeit wieder möglich ist. Aber ansonsten sind Sie in vielen Punkten, die unsere Sicherheitspolitik und unsere Bundeswehr berühren, doch meilenweit von dem entfernt, was wir für nötig halten.
Ich glaube, daß Standfestigkeit, Prinzipientreue und auch ein bestimmtes Maß an Gelassenheit gegenüber kurzfristigen Schwankungen des Zeitgeistes auch in einem Wahljahr dringend notwendig sind, um eine verantwortliche Sicherheitspolitik zu gewährleisten.Unsere Mitbürger haben schon ein elementares Verständnis davon, wie wichtig Sicherheit ist. Sie verlangen dies in einer realistischen Einschätzung unserer politischen Umwelt. Die Veränderungen in Europa erfolgen ja insgesamt in eine Richtung, die von uns begrüßt wird. Sie rufen sehr wichtige Fragen hervor, die einer Antwort bedürfen: Wird der Demokratisierungsprozeß in den Staaten des Warschauer Paktes anhalten und zu dauerhafter Stabilität führen? Wird sich die Sowjetunion diesem Prozeß konsequent anschließen? In welchem Maße wird dadurch der politische Antagonismus in Europa endgültig überwunden werden können? Was bedeutet das für die vorhandenen Streitkräfte in Europa? Kann die Sowjetunion zu einem berechenbaren, stabilen Partner in einem gesamteuropäischen Friedenssystem werden? Was wird aus dem Warschauer Pakt? Wohin entwickelt sich die NATO?
— Nein, der ist nicht weg!
— Mir hat der neu berufene Minister eines Mitgliedstaates des Warschauer Paktes vor kurzer Zeit erklärt, sein Land beabsichtige, auch nach der Hinwendung zur Demokratie Mitglied in diesem System zu bleiben. Ich habe das aus erster Hand gehört und stelle deshalb die Frage, was daraus wird. Ich will jetzt gar nicht die Antwort geben. Mit letzter Sicherheit ist das auch nicht zu sagen.Zu unseren vorrangigen Zielen gehört erstens, noch in diesem Jahr ein Abkommen zur konventionellen Rüstungsbeschränkung in Europa zu erreichen. Ich habe mich natürlich, Herr Kollege Nolting, über Ihr Lob hinsichtlich des abrüstungspolitischen Engagements der Bundesregierung sehr gefreut. Mir kam nur in den Sinn, daß wir bis jetzt noch keinen Vertrag haben, worauf ich Sie aufmerksam machen möchte. Wir unternehmen zwar große Anstrenungen, haben aber noch nicht einen einzigen Vertrag. Was wir bisher in der Bundeswehrplanung an deutlichem Abbau von Planstärken getan haben, ist ein Vorgriff auf einen Vertrag, den wir erst haben müssen.
Das sage ich zu weitergehenden Vorstellungen, die mir etwas zu sehr in die futuristische Linie hineingehen, wie bis zum Dienstleistungssystem; ich hätte fast gesagt: Dienstleistungsabend. Ich glaube nicht, daß das im Horizont dessen liegt, was wir für absehbare Zeit unter dem Vorzeichen der Wehrpflicht anstreben sollten.Wir müssen zu den Verhandlungen sagen, daß sich die sowjetische Haltung nach sehr guten Fortschritten in Wien in den letzten Wochen in wichtigen Punkten versteift hat. Es ist schwer verständlich, daß die Sowjetunion z. B. fast 2 000 Kampfflugzeuge mehr fordert, und zwar mit äußerster Entschiedenheit, seit Monaten, bis jetzt ohne Kompromißbereitschaft, als wir, die NATO, als Obergrenze für West und Ost für erforderlich halten.Trotz solcher Schwierigkeiten werden wir uns beharrlich — darin sind wir uns in diesem Hohen Hause sicherlich einig — , dafür einsetzen, daß in diesem Jahr ein Abkommen erzielt wird. Ich bin der Überzeugung, daß es das vorrangige Interesse der Sowjetunion sein muß, bei einer äußerst kritischen wirtschaftlichen und sozialen Lage ein solches Abkommen zu erreichen, das sie ja auch von ihren weit überhöhten Rüstungs-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergbelastungen entlasten soll. Unter dem Vorzeichen einer solchen Erwartung haben wir in der Bundeswehrplanung, die schon erwähnt wurde, die Zahl der aktiven Soldaten von fast 500 000 auf 400 000 zu reduzieren. Ich unterstreiche nur, damit es auch unter uns keine Mißverständnisse gibt: Alle weiterführenden Perspektiven sind durch den Bechluß der Bundesregierung an weitergehende Rüstungskontrollvereinbarungen gebunden, die zu einer stärkeren Reduzierung der Roten Armee als der stärksten Militärmacht Europas führen, als jetzt bei den Wiener Verhandlungen zur Diskussion steht.Zweitens. Wir möchten mit unseren Verbündeten noch in diesem Jahr die Grundkonzeption für baldige Folgeverhandlungen in Wien abstimmen. Wir möchten, daß weiterverhandelt wird: im Hinblick auf noch stärker defensiv ausgeprägte Streitkräftestrukturen.Drittens. Wir sind auch dafür, möglichst bald nach sorgfältiger Vorbereitung Gespräche über die drastische Reduzierung der substrategischen Nuklearwaffen in Europa einzuleiten.
Auch hier hat die Sowjetunion heute eine beachtliche Überlegenheit. Natürlich muß diese Überlegenheit durch diese Verhandlungen beseitigt werden.
— Ich sage es ja hier. Wir müssen international eine breite Zustimmung für ein solches Konzept finden. Wir werben dafür, innerhalb und außerhalb dieses Hauses.Darüber hinaus können wir als Westen einer weiteren Reduzierung auf ein niedrigeres Niveau zustimmen, weil mit einem Bruchteil der heutigen Nuklearwaffen in Europa Stabilität gesichert werden kann.
Viertens. Schließlich ist es unser vorrangiges Ziel, in diesem Jahr zu Ergebnissen bei den Gesprächen der Außenminister der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte über die außen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen für ein vereintes Deutschland zu gelangen. Ich will einmal sagen, daß hier vor allem auch die Vertreter der Bundeswehr am Verhandlungstisch in Wien aktiv mitwirken. Der mit Engagement und Erfolg eingebrachte Sachverstand hoher Bundeswehroffiziere hat in Ost und West in Wien Anerkennung gefunden. Das sollte auch einmal im Deutschen Bundestag hervorgehoben werden.
Denn ohne diesen Sachverstand — bei aller Anerkennung für die Leistung der anderen Beteiligten — wäre der Fortschritt, von dem ich gesprochen habe, nicht möglich. Ich sage das hier auch, weil gelegentlich der Eindruck erweckt wird, die Bundeswehr hätte mit der Abrüstung nichts im Sinn. Ein bißchen klang das auch bei Herrn Mechtersheimer an: Sie springen gleichsammit letzter Not auf schon fahrende Züge. Das ist sicher falsch. Unsere Soldaten sind sich ihrer Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes bewußt. Sie sind bereit, diesen Auftrag unter veränderten, wenn es geht und was wir wollen, günstigeren Bedingungen, auch mit geringerem Streitkräfteumfang und weniger Waffen, allerdings auch moderner Ausrüstung wahrzunehmen.
Wir dürfen unser eigentliches Ziel nicht aus dem Auge verlieren. So richtig es ist, daß Abrüstung beschleunigt werden muß, damit sie sich parallel zur politischen Dynamik vollzieht, so richtig ist es auch, daß es letzten Endes im Kern um die wirkliche politische Gesundung Europas geht. Das ist das Wichtigste. Erst die wirkliche Bereitschaft zum Interessenausgleich, zur Kooperation, zur Vertrauensbildung reduziert die gegenseitigen Bedrohungsvorstellungen. Vertrauen zwischen den Staaten, das seinen Ausdruck in konkreten, verbindlichen Vereinbarungen findet, kann am Ende Streitkräfte vermindern, weil die Gesellschaften dann eine Begründung für ein Übermaß an Rüstung nicht mehr kennen. Das muß unser Ziel sein. Darauf arbeiten wir hin.Das ist auch die eigentliche Herausforderung für die Sowjetunion. Der Wandel in Europa bedarf einer Absicherung durch Verteidigungsfähigkeit. Unsere Streitkräfte werden die Aufgabe auch weiterhin mit den Verbündeten wahrzunehmen haben. Vor allem aber sollten wir uns darin verstehen, daß das öffentliche Nennen von Umfangszahlen als solches nichts bringt. Es muß konkretisiert werden. Es müssen fundierte Berechnungen und Begründungen mitgeliefert werden. Es muß am Rüstungskontrollprozeß der Entwicklung in ganz Europa orientiert werden, mit gesicherten Absprachen.Natürlich bedeutet jede Streitkräfteplanung auf dem Boden der Prognose zugleich auch die Weichenstellung für kostenträchtige Entscheidungen. Der Ausgangspunkt ist, daß wir heute noch fast 500 000 Soldaten und etwa 180 000 zivile Mitarbeiter haben. Sie haben einen besonderen Anspruch auf Obhut und Fürsorge.
Wir müssen deshalb also längerfristige Horizonte entwickeln, auch in der Umsetzung der schon getroffenen und noch zu treffenden Entscheidungen. Das ist wichtig, damit eine Demotivation vermieden wird. Die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter müssen wissen, daß unser Staat seine eingegangenen Verpflichtungen ihnen gegenüber einhalten wird. Das Treueverhältnis auf Gegenseitigkeit bleibt bestehen.Meine Damen und Herren, die Einzelmaßnahmen der neuen Bundeswehrplanung sind einschneidend: Die Marine wird deutlich verringert, das Heer wird eine Struktur mit erheblich geringerer Präsenz, veränderten Schwerpunkten in Ausrüstung und Bewaffnung bekommen, auch die Luftwaffe wir kleiner werden und in ihrer materiellen Ausstattung nicht ohne Abstriche bleiben.
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16314 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Bundesminister Dr. StoltenbergAuf dem Wege eines erfolgreichen europäischen Abrüstungsprozesses aber — wir arbeiten für den Erfolg — ist damit die richtige Richtung angezeigt. Ich will auch hier gegenüber einiger Kritik sagen: In Wahrheit gehören wir zu den ersten Regierungen des Atlantischen Bündnisses, die gleichsam noch im Vorgriff auf Wien so weitreichende Umstellungen planerisch auf Reduzierung hin nicht nur diskutiert, sondern auch beschlossen haben.Natürlich gibt es seit November, Dezember und Januar ein paar neue Unbekannte. Wir wissen noch nicht, wie unter dem Vorzeichen der jetzt näherrükkenden Einheit Deutschlands gesamtdeutsche Streitkräfte aussehen werden. Wir haben in diesen Tagen, wie Sie wissen, die ersten Gesprächskontakte. Man kann dies aber nicht in ein oder zwei Gesprächen klären. Die Tatsache, daß gegenüber November die Perspektive der deutschen Einheit jetzt zeitlich nähergerückt ist, stellt auch hier neue Fragen. Natürlich ist, dies vor allem der Sicherheitsstatus der DDR, ein Thema der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Wir wissen nicht, wie lange nach den Vorstellungen der Sowjetunion die Rote Armee im Gebiet der heutigen DDR bleiben soll. Natürlich ist das eines von mehreren Themen. Vor einer wirklich seriösen Fortschreibung von Bundeswehrplanung brauchen wir die Antworten hierauf, genauso wie die ersten Abrüstungsergebnisse in Wien. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen.Meine Damen und Herren, der Wandel in Europa bedarf der politischen Steuerung, der Harmonisierung und der Koordinierung. Er bedarf der Stabilisierung und der Beteiligung der USA in diesem Prozeß. Deshalb ist die NATO ein berechenbares, stabilisierendes Moment, auch für die Zukunft. Sie soll den friedlichen Wandel stützen und Mißbrauch verhindern. Es muß eigentlich im Interesse der Sowjetunion liegen, einen solchen berechenbaren, auf Stabilität im Innern und nach außen ausgerichteten Ansprech- und Verhandlungspartner zu haben, damit wir zu gemeinsamen Lösungen kommen können.Wir wollen unser Ziel nicht aus dem Auge verlieren: die Überwindung des politischen Antagonismus in Europa und, soweit es geht, den friedlichen Ausgleich von Interessen, aber zugleich Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns an den Ausgangspunkt, an den Auslöser dieser Debatte. Der Ausgangspunkt ist, daß sich die Bundesregierung nach über einem Jahr außerstande sieht, eine Große Anfrage zur sicherheitspolitischen Lage und zur Entwicklung der Bundeswehr zu beantworten. Sie weicht aus, und sie sieht sich einfach nicht in der Lage, auf verschiedene Fragen zu antworten.Lieber Herr Nolting, es ist schlicht lächerlich, wenn Sie die wenigen Fragen herausgreifen, die durch dieEntwicklungen der letzten Monate so nicht mehr aktuell sind.
Herr Minister Stoltenberg, es ist auch wenig überzeugend, wenn Sie sagen: Manche dieser Fragen stellen sich vor dem Hintergrund der beginnenden Zweiplus-Vier-Verhandlungen und der deutschen Einheit neu und können deswegen nicht abschließend beantwortet werden. Wenn Sie bei bestimmten Einzelfragen so geantwortet hätten, hätten wir mit Sicherheit nicht kritisiert, daß Sie bestimmte Fragen der langfristigen Entwicklung jetzt nicht abschließend beantworten können. Sie weichen aber generell aus und weigern sich, Fragen zu beantworten, die vor allen Dingen auch aus der Bundeswehr selbst mit viel Sorge an jeden Politiker gerichtet werden, der Truppenbesuche macht, der Kontakte mit den Soldaten hat, mit vielen, die sich im Bundeswehr-Verband und anderswo engagieren. Sie weichen dem aus, weil Sie genau wissen, daß einige Fragen die bisherige Politik der letzten Jahre und Monate in einem etwas schwierigen Licht erscheinen lassen, und Sie weichen auch dort aus, wo Sie sich prinzipiell verpflichtet haben, regelmäßig zu informieren, etwa was die Vorlage eines Weißbuches angeht. Wir warten jetzt seit fünf Jahren auf ein neues Weißbuch. Das ist der längste Zeitraum überhaupt, seit es Weißbücher gibt, daß wir auf ein Weißbuch warten müssen. Auch hier sehen Sie sich außerstande, eine Bilanz zu ziehen und eine Perspektive aufzuzeigen.Sie gehen auch mit fragenden Abgeordneten in einer Weise um, die fast parlamentarisch zu beanstanden ist; also nicht nur von den Betroffenen, sonder hinsichtlich dessen, was den Umgang der Exekutive mit der Legislative, dem Parlament, angeht.
Wenn man z. B. fragt, ob die Bundeswehr dort, wo erkennbare Reduzierungen stattfinden werden, auf regionale Strukturen Rücksicht nehmen wird und primär aus Ballungsgebieten herausgehen wird — wo das möglich ist —, dann antworten Sie in einer dermaßen lapidaren und allgemeinen Weise, daß hieraus nicht erkennbar wird, ob dieses Prinzip von der Regierung geteilt wird. Und wenn wir etwa fragen, inwieweit Sie den einzelnen Standorten etwas sagen können, wann Sie ein Konzept vorlegen können, dann verweisen Sie auf das Jahr 1991 — mit dem Zusatz „frühestens 1991". Dies schlicht und ergreifend deswegen, weil Sie die Bundestagswahl überleben wollen und weil Sie natürlich befürchten, daß Sie in Regionen, die eine besonders starke wirtschaftliche Abhängigkeit von militärischer Infrastruktur haben, bei der Sorge um Arbeitsplätze, bei der Sorge um Kaufkraft, bei der Sorge um die dortige regionale Struktur in Schwierigkeiten kommen werden.
Wir hätten auch hier viel Verständnis, wenn Sie sagen würden: Wir können keine abschließende Auskunft geben, oder wenn Sie sagen würden: Wir können nichts für die Alliierten sagen, weil die im Augenblick
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16315
Gerster
selbst nicht mit sich im reinen sind, intern zwar bereits etwas entwickeln, aber noch nicht zu Ergebnissen gekommen sind. Sie könnten aber die großen Linien erkennbar machen, wie die Regierung das, was sie bereits beschlossen hat, umsetzen will.Diese Beschlüsse — wenn ich nur einmal die Zahl 400 000 nehme — setzen ja eine Reduzierung der Bundeswehr um 20 % voraus. Dazu muß es doch Vorstellungen geben. Ich würde die Führungsstäbe sehr unterschätzen, wenn ich ihnen nicht zutraute, daß sie in einzelnen Fällen längst an der Detailplanung sind, nicht nur an der Grobplanung. Sie könnten also durchaus, ohne daß Sie sich nach wenigen Wochen revidieren müßten, die großen Linien erkennbar machen, um damit bei allen Betroffenen, bei allen Beteiligten Unsicherheit zu beseitigen — bei den Soldaten, bei den regional Verantwortlichen, bei denen, die sich letztlich um unsere Zukunft und um ihre persönliche Zukunft Sorge machen.Das alles tun Sie nicht, und Sie bewirken damit ein großes Maß an Unsicherheit, das dazu beiträgt, daß vor allen Dingen diejenigen, die sich für uns, in unserem politischen Auftrag beruflich und qua Wehrpflicht mit dem Verteidigungsauftrag identifizieren müssen, zur Zeit in einer Sinnkrise sind, die größer ist als vieles, was wir an möglichen, vorübergehenden krisenhaften Erscheinungen der Bundeswehr seit ihrem Bestehen bereits erlebt haben.Herr Minister Stoltenberg, was das Informationsverhalten des Ministeriums und auch Ihr eigenes Informationsverhalten angeht, geht es offenbar auch anders. Ich will ein Beispiel nennen. Dazu muß ich auf Quellen zurückgreifen, die uns erfreulicherweise zusätzlich und halboffiziell zur Verfügung stehen. In „Griephans Wehrdienst" war zu lesen, daß an dem Dienstag dieser Woche, also vor zwei Tagen, am 24. April, der Minister, der ursprünglich nicht bereit war, hier im Parlament anwesend zu sein, wenn unser Antrag behandelt wird, die Große Anfrage endlich zu beantworten — darüber sprechen wir jetzt —, seine Fraktion und die Arbeitgruppe „Verteidigung" umfassend über den aktuellen Stand der Bundeswehrplanung, der Strukturabsichten und ähnliches mehr informieren wird. Sie können ja den in der Regel gut informierten „Griephan", wenn es nicht stimmt, widerlegen. Das ist unser Informationsstand. Wenn es so gewesen ist, bedauern wir, daß Sie hier sehr unterschiedlich vorgehen.Im übrigen wäre das nicht das erste Mal der Fall. Es gab ja schon Situationen, in denen Inspekteure in der Arbeitsgruppe „Verteidigung" vorgetragen haben und dann, wenn die Arbeitsgruppe „Sicherheit" der SPD-Fraktion denselben Wunsch auf Information geäußert hat, nicht der Inspekteur abgesagt hat, sondern das Ministerium dem Inspekteur seinen Auftritt bei der anderen großen Fraktion nicht gestattet hat. So kann das gehen mit dem Informationsverhalten gegenüber dem Parlament. Das kontrastiert zu dem sehr seriösen Auftreten, Herr Minister Stoltenberg, das Ihnen immer wieder gelingt. Das kontrastiert sehr dazu. Deswegen werden Sie verstehen, daß wir Ihr Handeln nehmen müssen, um Sie zu beurteilen und nicht möglicherweise Ihre Absichten oder Ihren Stil, der dieses Handeln manchmal überdeckt.
Das, was Sie an perspektivischen Andeutungen erkennen lassen — mehr ist das nicht — , ist dann oft sehr nebulös, sehr allgemein. Sie knüpfen damit auch an Ihre Vorgänger — an Wörner und Scholz — an, die immer zum falschen Zeitpunkt Durchhalteparolen ausgegeben haben. Ich erinnere nur an das höchst unglückliche operative Minimum von 456 000 präsenten Soldaten, das der scheidende Minister Wörner in die Welt gesetzt hat. Wir und vor allem die Hardthöhe brauchten Jahre, um davon herunter zu kommen und endlich wieder mit einer gewissen Ergebnisoffenheit Bundeswehrplanung betreiben zu können. Sie schaden mit diesem im politisch argumentativen Sinne rein defensiven Verhalten der Bundeswehr. Sie verhindern damit Transparenz, und Sie vermitteln nicht einmal ein Mindestmaß an Perspektive.Ich könnte gut verstehen, wenn Ihre politische Erfahrung zum Teil der Grund dafür ist. Ich denke etwa an das Verhalten der Bundesregierung insgesamt und der Koalition in den letzten Monaten. Noch vor einiger Zeit hat der Bundeskanzler markig verkündet: „Es gibt den längeren Wehrdienst" . Ich habe hier Presseausschnitte, die noch gar nicht so alt sind. „Der Kanzler" — so steht hier zu lesen — „wird den Streit um die Verschiebung" — damals ging es um die Erhöhung von 15 auf 18 Monate — „durchstehen". Bezeichnenderweise hat er dies nach einem Gespräch mit Wellershoff erklärt. Er wird das durchstehen und er wird nicht populistisch in die Knie gehen, so war den Mitteilungen zu entnehmen. Inzwischen wissen wir, daß schon die 15 Monate nicht mehr der letzte Stand sind. Wir nähern uns den zwölf Monaten. Wir sagen auch ja dazu. Wir sagen aktiv und gewollt ja dazu. Aber Sie tun das im Sinne einer Salamitaktik. Sie geben immer das ab, was gar nicht anders zu halten ist. Damit nehmen Sie die Änderungen vor, die geradezu zwingend sind, die aber nicht perspektivisch zum richtigen Zeitpunkt vorgenommen werden können.Auch das Hin und Her in der Koalition um die Wehrstrukturkommission, die dann schließlich zu einer Art Beirat innerer Führung neuer Prägung geführt hat, gehört zu diesem leidigen Kapitel und vor allem auch zu der internen Auseinandersetzung der Koalition. Dabei gehören sicherlich nicht Sie, Herr Kollege Nolting, zu den drängenden, schwierigen, im guten Sinne und im Interesse der Sache schwierigen Partnern gegenüber dem Verteidigungsminister. Es sind andere Kollegen Ihrer Fraktion, die drängende und schwierige Partner für die Hardthöhe und für den Minister sind. Ich begrüße das sehr. Das verbindet uns auch menschlich und sachlich mit einigen Ihrer Kollegen. Sie gehören nicht dazu. Sie fahren im Zweifelsfall die wirksamsten Entlastungsangriffe aus Ihrer persönlichen Sicht
sozusagen als Stahlhelmer der Koalition, und vielleicht gilt dies auch noch für den in seiner Beständigkeit sympathischen Kollegen Ortwin Lowack.
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Gerster
Herr Minister Dr. Gerhard Stoltenberg hat noch am 23. Januar — nachzulesen in der „Welt" — eindringlich seine Koalitionspartner von der FDP gewarnt — wie es hier zu lesen steht — , die 400 000 zu unterschreiten. Ich nehme an, Sie, Herr Nolting, waren nicht unter denen, die solche unziemlichen Gedanken hegten. Inzwischen, wenige Wochen später, ist auch das nicht mehr der letzte Stand. Sie haben das Unterschreiten der 400 000 inzwischen als Möglichkeit angedeutet.
Ich will hier noch einmal enumerativ und als Aufzählung von Stichworten erwähnen, in welchen entscheidenden Fragen sich die Koalition zwischen FDP und CDU/CSU in den letzten Monaten und Jahren nicht einig war: Wehrstrukturkommission, Friedensumfang, die FDP ist für 350 000, seit Möllemann sich durchgesetzt hat, Dauer des Grundwehrdienstes, Entwicklung und Beschaffung des Jägers 90, Modernisierung von Kurzstreckenwaffen, dritte Null-Lösung und das Konzept der gemeinsamen Sicherheit. Das alles waren schwerwiegende sicherheitspolitische Fragen, um die wir in den letzten Jahren gerungen haben. Zu dem Zeitpunkt, als wir darum gerungen haben, waren sie jeweils innerhalb der Koalition zutiefst umstritten. Man kann im Grunde genommen von einem sicherheitspolitischen Grunddissens in der Koalition sprechen, einem Grunddissens, der uns in der Sache durchaus mit Hoffnungen erfüllt, was übergreifende Gemeinsamkeiten angeht, um den Sprung nach vorn zu schaffen, wenn diese Phase der Stagnation überwunden werden kann, die wohl auch dadurch bedingt ist, daß sich der Minister und der Generalinspekteur in ihrer übervorsichtigen und wenig transparenten Haltung gegenseitig zu bestärken scheinen.Die Symptome der Unzufriedenheit sind mit Händen zu greifen. Ich nenne nur zwei Beispiele. Da ist zum einen die Zahl der Eingaben beim Wehrbeauftragten, in der auch die Unzufriedenheit der Wehrpflichtigen, nachdem sie ihren Dienst hinter sich haben, zum Ausdruck kommt. Wenn wir hier nicht neue Antworten auf alte Fragen geben und Sie auch nicht unsere Fragen, die unverändert aktuell sind, beantworten, werden wir diese Unzufriedenheit auch innerhalb der Bundeswehr nicht beheben können.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle mit großer Genugtuung fest, daß tatsächlich die nettesten Kollegen des Deutschen Bundestags übriggeblieben sind. Nachdem auch unsere Wohnungsbauministerin gerade einmal hereingeschnuppert hatte,
ist das Kabinett sogar überrepräsentiert.
Es ist bereits vieles angeklungen, was die Entwicklung der deutschen Streitkräfte betrifft. Ich glaube, wir könnten das auch auf die größere Einheit beziehen. Wir sollten am Ende dieser Debatte durchaus festhalten: Kein politisches Bündnis, kein Verteidigungsbündnis war in der Vergangenheit erfolgreicher als das Nordatlantische Bündnis.
Die integrierte Verteidigung einschließlich der Flexible response, aber auch das Prinzip der Vorneverteidigung haben sich in der Vergangenheit als richtig erwiesen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das gilt nicht nur für die Vergangenheit. Die NATO hat heute die große Chance, für die Zukunft Weichen zu stellen, die bedeuten, daß es in Europa nie wieder einen Krieg geben wird. Nur, dazu gehört Beständigkeit, dazu gehört Prinzipienfestigkeit, und dazu gehört nicht, daß man vor den Problemen davonläuft.Ich glaube, ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung des Friedens ist auch die Überwindung der Teilung Deutschlands. Gerade hier hat sich erwiesen, daß das Festhalten an Prinzipien und auch die Verpflichtung der Bündnispartner auf die deutsche Einheit ganz wichtige Elemente sind. Sie wissen, daß sich auch die NATO die Überwindung der deutschen Teilung zur Aufgabe gemacht und die NATO-Partner durch den Hermel-Bericht darauf verpflichtet hat. Es waren sicher die positive wirtschaftliche Entwicklung bei uns, die Attraktivität der Europäischen Gemeinschaft, aber auch die Stabilisierung unserer wirtschaftlichen Entwicklung seit 1983, die dieses Ergebnis ermöglicht haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer Gorbatschow immer als den großen Heiligen darstellt, dem wir alles zu verdanken hätten,
der vergißt, daß entscheidend war, welche Bedingungen Gorbatschow vorgefunden hat und daß er feststellen mußte, daß der Westen in der Lage war, auf die großen sowjetischen Herausforderungen und Überrüstungen stabil und einig zu reagieren und damit zu zeigen, daß man nur am Verhandlungstisch zu Abrüstungsergebnissen kommen kann, aber nicht durch politischen Zwang.Mit der Überwindung der deutschen Teilung überwinden wir — das sollten wir ruhig einmal als außenpolitischen Aspekt bei einer sicherheitspolitischen Debatte mit sehen — auch die Teilung Europas.Die europäisch- amerikanische Zusammenarbeit bleibt ein großer historischer Fortschritt. Wir sollten diese Zusammenarbeit, die sich in erster Linie im militärischen Bereich ausgestaltet hat, auf keinen Fall in Frage stellen oder etwa aussetzen wollen. Eher noch: Wir sollten uns bemühen, daß diese Zusammenarbeit in der Zukunft gefördert wird und vielleicht auch noch einen stärkeren wirtschaftspolitischen, allgemeinpolitischen Charakter bekommt. Die europäische sicherheitspolitische Zusammenarbeit kann diese atlantische Zusammenarbeit nicht ersetzen. Wir sollten den
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LowackAmerikanern klar ein Angebot unterbreiten, das sie auch in Zukunft an Europa bindet.Die Bundesrepublik Deutschland war und bleibt Mitglied der NATO.
Wir können nicht bereit sein, etwa bei den Verhandlungen Zwei plus Vier einen Sonderstatus der DDR festzuschreiben.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Sicherheitsinteressen der UdSSR, die bedeuten, daß wir weiter sowjetische Truppen in Deutschland haben müßten. Wir Deutschen haben in 45 Jahren seit Ende des letzten Weltkriegs nicht nur bewiesen, daß wir verläßliche Partner in Bündnissen sind und daß wir wie kein anderes Land in die Weltwirtschaft und in die Europäische Gemeinschaft integriert sind, sondern wir haben durch den Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen und durch eine reine Defensivstruktur auch bewiesen, daß wir keine Gefahr für unsere Nachbarn sind.
45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht keinerlei Notwendigkeit für die Anwesenheit sowjetischer Truppen. Warschauer Pakt und NATO sind nicht miteinander vergleichbar.
Deswegen kann es auch nicht darum gehen, daß die eine Seite behauptet, sie erlitte einen Substanzverlust oder hätte etwa einen Terraingewinn der NATO zu akzeptieren. Das ist genau das überholte Denken, von dem Sie ja öfters sprechen.
Es gibt auch keine Siegerrechte, wie sie die Sowjetunion behauptet, die es hier abzulösen gälte.
Wir sind nicht bereit, Zahlungen etwa dafür zu leisten, daß die Sowjetunion auf deutschem Territorium Truppen unterhält. Die Sowjetunion muß natürlich wissen, daß wir gern bereit sind, mit ihr zu kooperieren, aber ausschließlich auf der Ebene der Gleichberechtigung und nicht auf der Ebene eines besetzten Landes.
— Ja, Sie werden noch einiges hören, lieber Kollege Mechtersheimer!
Ich bin auch skeptisch, ob die KSZE-Verhandlungen die großen Hoffnungen, die manchmal in sie gesetzt werden, wirklich erfüllen können. Sie können sicher als Instrumentarium zum Austausch und als Plattform für die verschiedensten Gespräche genutzt werden. Aber sie können das Problem einer Sicherheitsstruktur nicht lösen. Hier gibt es für uns nur eine Antwort: Es wird auch in Zukunft eine Sicherheitsstruktur innerhalb der NATO und auch eine integrierte deutsche Verteidigung geben.
— Es geht nicht darum; nein.
— Lieber Kollege von Bülow, wir haben doch mit der integrierten Verteidigung unsere Verteidigung am besten organisiert, weil sie nicht nur der sicherste Weg war, indem man andere für die Verteidigung des eigenen Landes engagiert hat,
sondern sie war doch auch die billigste.
Wir zahlen 2,3 % unseres Bruttosozialprodukts für die Verteidigung. Kaum ein Land in der Welt zahlt so wenig. Die Vereinigten Staaten von Amerika liegen bei 6,5 %, Frankreich bei 5,6 %, Großbritannien bei über 5%. Wir haben es fertiggebracht, andere zu engagieren. Das ist die intelligente Art und Weise, Verteidigung mit möglichst wenig eigenen Kosten, aber möglichst großem Effekt zu organisieren.
Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, viel wichtiger sind doch heute die Gespräche und vor allem die Ergebnisse in Wien. Viel wichtiger ist die deutsche Einheit.
Viel wichtiger ist der Ausbau der Europäischen Gemeinschaft. Viel wichtiger sind doch sicher auch offene Grenzen, die uns einen ganz anderen Austausch zwischen den Menschen ermöglichen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundeswehr wird sich sicher neuen sicherheitspolitischen Anforderungen anpassen. Aber das kann nicht im luftleeren Raum geschehen. Sie wird nach den Vereinbarungen in Wien sicher eine neue Bestandsaufnahme zu machen und die Planung umzustellen haben.Aber wir sollten nicht vergessen, daß ja längst auch die „Heeresstruktur 2000" ein reines Abrüstungsmodell gewesen ist, in dem wir von 34 voll einsatzfähigen Brigaden auf 16 heruntergehen wollen. Auch das wird überarbeitet. Aber auch das war bereits im Vorfeld ein echtes Abrüstungsmodell. Wir werden weniger Soldaten haben. Aber wir brauchen sicher eine bessere Technik.Wir sollen uns nicht davor drücken: Auch der Jäger 90 ist ein Gerät, das ernsthaft in der weiteren Verteidigungsfähigkeit eingebaut bleiben muß. Es geht nicht nur um den Technologieanteil der Europäer, sondern auch darum, daß wir heute mit veraltetem Fluggerät nicht mehr in der Lage sind, den Auftrag zu
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Lowackerfüllen, und schon deshalb auf die Unterstützung durch die Alliierten angewiesen sind.
Wir werden bei einer Wehrpflichtarmee bleiben, obwohl der Gedanke an eine Berufsarmee sicher einige verführerische Perspektiven eröffnet. Wir werden bei der Auftragstaktik und bei der Verantwortung des Führers und des Unterführers bleiben.
Wie groß die deutsche Armee im Endergebnis sein wird, können wir heute sicher nicht festlegen. Ich kann mir z. B. auch vorstellen, daß wir die NVA für eine Übergangszeit nicht in die Verantwortung eines deutschen Verteidigungsministers, sondern — warum auch nicht? — eines gesamtdeutschen Innenministers einbringen. Das würde vielleicht organisatorisch einiges erleichtern.Immerhin ist — ich hatte es vorhin bereits gesagt — der Anteil der Ausgaben für die Verteidigung am Bruttosozialprodukt im internationalen Vergleich außerordentlich niedrig. Meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition, es war doch in Ihrer Zeit, als der Anteil des Verteidigungsbudgets am Bundeshaushalt mehr als 22 % betragen hat. Wir haben ihn in der Zwischenzeit auf unter 18 % gedrückt. Wir haben die Verteidigung weltweit am günstigsten organisiert,
obwohl wir im Hauptspannungsgebiet liegen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frieden ist etwas Dynamisches, nichts Statisches.
Er muß jeden Tag, lieber Kollege Dieter Heistermann, neu erkämpft, gehalten, errungen, organisiert werden. Den ewigen Frieden gibt es nicht, vielleicht in manchen Hirnen bei Sozialdemokraten und GRÜNEN. Aber wir stehen in der Verantwortung; wir können allein mit dieser Hoffnung auf den ewigen Frieden hier nicht auskommen. Eine effektive Bundeswehr, eingebettet in eine integrierte atlantisch-europäische Verteidigung bleibt die große Zukunftsaufgabe für alle engagierten Verteidigungs- und Außenpolitiker.Herzlichen Dank.
Jetzt hat der Abgeordnete Dr. von Bülow das Wort. Ich hoffe, daß Sie von der angedeuteten Möglichkeit Gebrauch machen werden.
— Das ist bedauerlich.
Ich hatte ursprünglich vor, weil es so langweilig war, meine Rede zu Protokoll zu geben, weil zu wenig zuhören. Aber schließlich sind wir jetzt 13 Monate hinter der Sache her, und da tut es auch nichts, wenn wir das jetzt noch anhören.
— Warten Sie es doch ab. Sie können auch während der Zeit telefonieren, das ist doch kein Problem für Sie!Vor rund 13 Monaten erhielt der Bundesminister der Verteidigung vom Parlament oder von der SPDFraktion die Aufgabe, eine Anfrage über die Zukunft der Verteidigung, ihrer Struktur und der Auswirkung auf die Truppe, die Industrie, die Standorte, Garnisonen zu beantworten. Bestandsaufnahme und Lösungsvorschläge waren gefragt, damit an Hand dieser Angaben dann gezielt Politik gemacht werden kann. Der Bundesminister der Verteidigung ist nun auch im 13. Monat nicht in der Lage, seine Hausaufgabe vorzulegen; nicht einmal eine Entschuldigung liegt vor. Dabei zielen die Fragen der SPD-Bundestagsfraktion eigentlich in den Kernbereich des Aufgabengebiets des Bundesministers der Verteidigung. In einem gut geführten Ministerium liegen die Antworten auf nahezu alle Fragen zumindest in Optionen vor, damit sich die Politik dann für den einen oder anderen Weg entscheiden kann.Der Generalinspekteur meinte in einem seiner kürzlichen Interviews, zur Erarbeitung neuer Strukturen in den Streitkräften brauche man rundweg zwei Jahre, um zu durchdachten und durchgerechneten Lösungen zu kommen. Das ist völlig richtig.
Doch dieser Vorlauf fehlt dem Ministerium, weil sich die politische Leitung der Hardthöhe nun schon seit Jahren weigert, die Zukunftsaufgaben rechtzeitig anzupacken.
Weil Sie, Herr Stoltenberg, und Ihre Amtsvorgänger nicht rechtzeitig über die wichtigsten Fragen der Abrüstung, der Streitkräftestrukturen, der Fortentwicklung der Strategien und Beschaffung nachgedacht haben, stehen Sie heute wie ein Schüler ohne Hausaufgaben vor dem Parlamemt. Um ein Haar wäre es Ihnen auch noch geglückt, wie in Pennälerzeiten die Peinlichkeit mit Schwänzen auszusitzen.
Das amerikanische und angelsächsische Recht kennt den Begriff des Contempt of court, der Verachtung des Gerichts. Auf die Nicht-Aussage vor Gericht, auf Nicht-Herausgabe von Unterlagen, auf das NichtErscheinen von Zeugen stehen wegen Verachtung des Gerichts hohe Geld- und Haftstrafen. Die gleiche Strafandrohung wie den Gerichten steht dem amerikanischen Parlament auf jeden Fall zur Verfügung. Dort würde kein Beamter und kein Regierungsmitglied es wagen, sich dem Kongreß in einer Weise zu verweigern, wie es Stoltenberg mit dem Bundestag versucht.In unserer Form der parlamentarischen Demokratie kann die Kultur des Umgangs miteinander im Parlament letztlich nur von der jeweiligen Regierungs-
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Dr. von Bülowmehrheit sichergestellt werden. Wenn dieses angeblich so Hohe Haus von Mitgliedern der Regierung in die Rolle des Hampelmanns versetzt wird, so haben dies die Mitglieder der Regierungsmehrheit im Parlament zu verantworten, Herr Nolting. Wer Demokratie will, muß unerbittlich für die Einhaltung der Spielregeln sorgen.
Wir haben ja Verständnis nicht nur dafür, daß das Aussitzen von Problemen bei starken Nerven ein Mittel der Politik sein kann,
wir wissen auch aus unserer Regierungserfahrung, daß man versucht, die Anhäufung von für den Wähler schlechteren Nachrichten hinter Wahlen zu schieben und die Bonbons vorzuziehen — und so wird das mit den zwölf Monaten ja auch geschehen — , doch man darf sich nicht, wenn man eine völlig manipulierte Demokratie vermeiden will, vor der Beantwortung von Fragen drücken, die für das ganze Volk, insbesondere aber für die Angehörigen der Bundeswehr, die Gemeinden, in denen die Bundeswehr stationiert ist, die Mitarbeiter von Rüstungsbetrieben von existentieller Bedeutung sind.
Es vergeht doch kein Truppenbesuch, in dem nicht von den Offizieren bis zu den Mannschaften nach Orientierung durch die Politik gerufen wird:
Was wird aus unserem Beruf? Was wird aus unserem Standort? Was wird aus unseren Familien? Was sollen die Vorgesetzten den Wehrpflichtigen erklären?Die Veränderungen in der Sowjetunion gehen nun schon in das fünfte Jahr. Die Sowjetunion ist mitten auf dem Wege, ihre Streitkräfte auf das numerische Maß der NATO herunterzurüsten, und ist bereit, gemeinsam mit dem Westen noch weiterzugehen. Die bisherigen Verbündeten der Sowjetunion haben sich dem Warschauer Vertrag entwunden, obwohl die vertraglichen Bindungen nach wie vor bestehen.In der Bedrohungsrechnung , Herr Stoltenberg, klafft inzwischen eine Lücke von fast 70 Divisionen. Die sowjetischen Streitkräfte ziehen sich aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn zurück. Trotz größter Schwierigkeiten mit der Unterbringung der zurückgekehrten Soldaten nimmt die Sowjetunion eher die Unterbringung in Zelten in Kauf, als die angekündigten Termine nicht einzuhalten. Die einzige Bitte, die kürzlich ein hoher sowjetischer General an die NATO oder an die Deutschen richtete, lautete, man habe den Wunsch, sich in Würde zurückziehen zu können.Da sitzt nun schon der dritte Verteidigungsminister auf der Hardthöhe, steuert zur Abrüstung weder Gedanken noch Taten bei und läßt den Ereignissen einfach ihren Lauf. Meiner Vorstellung von einer geordneten, das Gemeinwohl im Auge behaltenden Staatsführung widerspricht diese Haltung zutiefst. Hier kommt bereits eine gewisse Verluderung des Staatsverständnisses zum Ausdruck.
Wir hatten vor rund fünf Jahren eine heftige Aktuelle Stunde über das sogenannte Bülow-Papier. Sie versuchten, mich damals in die Ecke des Landesverräters zu drängen, und ich antwortete Ihnen, daß das größte Sicherheitsrisiko dieses Landes die abgrundtiefe Denkfaulheit der Union in Sachen Verteidigungspolitik sei. Inzwischen — wie wir auch heute gehört haben, mehr von der CDU, nicht von der CSU — beginnt auch die Union, in Sachen Verteidigungspolitik nachzudenken. Auch die defensiven Strukturen einer gesamteuropäischen Verteidigungslandschaft sind wohl nicht mehr so tabu wie früher.
— Ja, aber von uns getrieben und immer mit anderthalb bis zwei Jahren Verspätung. Es könnte wesentlich schneller gehen, Herr Hauser.Es rächt sich immer wieder, wenn absehbare Herausforderungen nicht rechtzeitig angenommen werden. Wörner, Scholz und jetzt Stoltenberg haben sich— die soldatische Spitze des Hauses eingeschlossen — in einem jahrelangen Kampf dagegen gewehrt, die Veränderungen im Osten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, sie konzeptionell zu begleiten. Wenn Gorbatschow nicht anders denn ein Goebbels mit kommunistischen Vorzeichen zu betrachten war, wie der Bundeskanzler meinte, so war Denkfaulheit eine Art Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Man mußte nur darauf achten, daß die Abrüstungsverhandlungen als Alibi für die friedensbewegten Bürger die Rüstungs- und Streitkräfteplanung nicht durcheinanderbrachten. Auch heute noch— gerade vor wenigen Tagen — hat Generalinspekteur Wellershoff davon gesprochen, daß die Bundeswehrplanung auch den Erfordernissen der Abrüstungsverhandlungen entsprechen müsse. In dieser Formulierung kommt erneut zum Ausdruck, daß die Hardthöhe die Abrüstungsverhandlungen nach wie vor wie einen zu berücksichtigenden Störfaktor behandelt. In Wirklichkeit ist eine integrative Sichtweise gefordert. Nicht wie ich den Abrüstungsverhandlungen gerecht werden kann, sondern wie ich meine Sicherheit unter Einbeziehung einer kreativen Abrüstungspolitik billiger, effektiver und weniger belastend für die Bevölkerung organisieren kann, ist die richtige Fragestellung.Vielleicht baut sich der Hochmut der Bonner Regierenden im Umgang mit den Vorstellungen der neuen DDR-Regierung etwas ab. Da benennt doch die neue Koalition in Ost-Berlin das Ministerium für Nationale Verteidigung in das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung um. In einer schlichten Amtsbezeichnung wird so jedermann klargemacht, worum es geht. Die Leute in Ost-Berlin sind auf der Höhe der Zeit.Im Vergleich hierzu wirkt die Hardthöhe unter Stoltenberg wie ein Pennerasyl, wobei ich weder den Pennern noch den Soldaten zu nahe treten will, denn ich weiß, daß niemand mehr als die leistungsbereiten und kreativen Soldaten quer durch die Bundeswehr unter
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Dr. von Bülowdem stupiden Zustand des die Hausaufgaben Verweigerns leidet.
Wer nun schon seit Jahren jedes Neudurchdenken der europäischen und deutschen Verteidigungssituation unterbindet, der läuft Gefahr, stets aufs neue von den sich jagenden Ereignissen in Osteuropa konzeptionell hinweggespült zu werden.In Umrissen müßte sich nun doch abzeichnen, wie die Sicherheit eines geeinten Deutschlands im europäischen Zusammenhang gewährleistet werden kann, was auf dem noch durch den Warschauer Vertrag gebundenen Territorium der DDR geschehen soll, wie man die berechtigten Sorgen der Sowjetunion berücksichtigen kann, wie man eine Truppenverminderung unter die 400 000-Mann-Grenze konzeptionell angeht, wie man die Wehrpflicht bedrohungsgerecht auf zwölf Monate absenkt und so weiter und so fort.Die Lady von jenseits des Ärmelkanals hat leicht reden, wenn sie im Kommuniqué mit Präsident Bush fordert, ganz Deutschland müsse Mitglied der NATO bleiben, die NATO dürfe sich natürlich weder nuklear noch konventionell ändern, und natürlich müßten die Truppen der Alliierten unabhängig davon, was im Osten geschieht, in Deutschland stationiert bleiben. Klar, so behält man militärischen Einfluß und kann sich lästiges Nachdenken über die Zukunft sparen. Außerdem kann man so vermeiden, daß das Übermaß an Admiralen und Generalen, das Großbritannien aus der Zeit des britischen Weltreiches für NATO-Verwendungen herübergerettet hat, nun ebenfalls der Kostenschere zum Opfer gebracht wird.Doch so einfach wie aus britischer Sicht werden sich die Probleme nicht lösen lassen. Die westdeutsche Politik wird sehr schnell in den Vier-plus-Zwei-Gesprächen auf eine Sowjetunion treffen, die von Bonn nicht bündnistreues NATO-Gerede hören will, sondern die wissen will, wie sich der deutsche Einheitsstaat so betten will, daß die europäische Balance auch aus der Sicht der Sowjetunion nicht in Gefahr gerät. Dann muß entweder hier oder in Wien auf den Tisch, welche NATO-Strategie wir uns unter Einbeziehung sowjetischer Abrüstungs- und Umrüstungsbereitschaft denn vorstellen. Wollen wir eine defensivierte Landschaft vom Atlantik bis zum Ural immer noch mit dem Ersteinsatz von Massenvernichtungswaffen bedrohen? Können wir auf unsere offensive Luftwaffenfähigkeit verzichten, und unter welcher Bedingung? Sind wir bereit, mit der Sowjetunion auf einen Zustand unserer Streitkräfte hinzuarbeiten, der beide Seiten nicht mehr zum Eindringen befähigt? Die Bevölkerung fragt spätestens seit Ramstein und Karlsruhe, wann denn die Bundesregierung und die Regierungen unserer Verbündeten auf den gnadenlos gegen die Bürger durchgesetzten Tiefflug verzichten können. Wann kann man eigentlich angesichts der fast auf 100 % ansteigenden Gewißheit des gesicherten Friedens auf das Luft-Rodeo über dem dichtbesiedelten Deutschland verzichten?
Warum gehen wir nicht sofort auf zwölf Monate Wehrpflicht herunter? Was machen wir mit den sinnlos werdenden FOFA-Vorstellungen, was mit der ebenfalls sinnlos werdenden Vorneverteidigung?Hinzu kommen die Rüstungsprojekte. Es ist kennzeichnend, wenn der Generalinspekteur keinerlei zusammenhängende Konzeption unterbreiten kann, dafür jedoch den Jäger 90 als unverzichtbaren Edelstein westdeutscher Verteidigungsvorstellungen anzupreisen nicht müde wird. Dies in einer Situation, in der die Bundesregierung zwar die Kosten der deutschen Einheit noch verschweigt, in der jedoch jedem gesunden Menschenverstand klar sein muß, daß in wenigen Monaten, mit Sicherheit nach der Wahl, das nervenaufreibende Kratzen nach Reserven in allen Ecken des Bundeshaushalts beginnen wird. Und da haben sich ja wohl alle politischen Kräfte einschließlich der CDU zu Recht den Verteidigungshaushalt vorgenommen.Schon vor der auf uns zukommenden Kostenproblematik der Vereinigung war der Jäger 90 ein alle Proportionen der Waffenbeschaffung sprengendes Projekt. Wer sich auf die Herstellung dieses Jägers einläßt, macht ohne jede Kosten-Nutzen-Analyse den Rüstungshaushalt extrem luftwaffenlastig und schmälert dabei zum Beispiel die Chance zur Erneuerung restlos veralteten Heeresgeräts. Wer dies jedoch unter den sich abzeichnenden Bedingungen der öffentlichen Haushalte der Jahre 1991 folgende nicht bedenkt, hat schlicht den Überblick verloren.
Dies wiederum ist die Folge der Unfähigkeit, das Gesamtsystem Verteidigung mit seinen aufeinander bezogenen Elementen im Auge zu behalten. Damit, Herr Minister, wären wir wieder bei der beklagten Denkfaulheit. — Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Damit sind wir am Ende der Aussprache. Ich kann nunmehr über den SPDAntrag auf Drucksache 6976 abstimmen lassen. Der für diesen Entschließungsantrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes
— Drucksache 11/6930 —
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. Ich betone, das ist eine Höchstdebattenzeit, und ich unterstelle, daß das Haus damit einverstanden ist. — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann erteile ich zunächst der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Frau Hasselfeldt, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Wohngeld ist und bleibt ein zentraler und unverzichtbarer Bestandteil unserer Wohnungspolitik. Es hat sich nicht zuletzt dank der strukturellen Verbesserungen, die es unter
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Bundesminister Frau Hasselfeldtder Verantwortung dieser Bundesregierung erfahren hat, zu einem leistungsfähigen und treffsicheren Instrument der sozialen Absicherung des Wohnens entwickelt.Damit aber das Wohngeld seine Aufgabe auf Dauer auch wirksam erfüllen kann, muß es von Zeit zu Zeit an die Entwicklung der Mieten und Einkommen angepaßt werden.Die Koalition hat am 7. November vergangenen Jahres eine erneute allgemeine Anpassung auf der Basis des Wohngeld- und Mietenberichts der Bundesregierung in Aussicht gestellt. Dies wird nun in die Tat umgesetzt.Nachdem wir schon zum 1. Januar dieses Jahres durch die Einführung einer sechsten Mietenstufe und die Anhebung vieler Städte und Gemeinden eine erste Antwort auf die Mietenentwicklung in vielen Orten gegeben haben, ist es nun unser Ziel, zum 1. Oktober dieses Jahres die Wohngeldleistungen für alle Wohngeldempfänger zu verbessern.Sie sehen also, die Bundesregierung steht zu ihrem Wort, und sie setzt ihr wohnungspolitisches Maßnahmenprogramm zügig um.Im Zentrum des vorliegenden Gesetzentwurfs steht dabei die Anhebung der Höchstbeträge für die zuschußfähige Miete und Belastung.Durch diese Maßnahmen werden sich die durchschnittlichen Wohngeldleistungen um rund 20 DM auf ungefähr 170 DM monatlich erhöhen. In Gebieten mit besonders hohen Mieten steigt das Wohngeld im Mittel um 36 DM, und im Einzelfall kann das zusätzliche Wohngeld je nach Familiengröße, Einkommen, Miete und Wohnort sogar bei 50 DM und mehr liegen.Nachdem die bisherigen Leistungen für das Wohngeld etwa 3,7 Milliarden DM insgesamt betragen haben, wird dies nun durch die neue, Ihnen vorliegende Wohngeldnovelle auf einen Gesamtbetrag von fast fünf Milliarden DM ansteigen.
Dies ist eine Leistung, die sich sehen lassen kann, eine Leistung, die belegt: Wir lassen die Mieter gerade jetzt bei der gegenwärigen Entwicklung der Miethöhen nicht im Stich.Über die allgemeine Anhebung des Wohngeldes hinaus sieht die vorliegende Wohngeldnovelle auch eine Reihe struktureller Verbesserungen vor. So wird beispielsweise der Einkommensfreibetrag für bestimmte Gruppen von Schwerbehinderten um 600 DM auf dann 3 000 DM jährlich erhöht, die Mindestgrenze für Wohngeldzahlungen von derzeit 20 auf 10 DM gesenkt und die Treffsicherheit des Wohngeldes durch eine stärkere Berücksichtigung regionaler Mietunterschiede gesteigert. Künftig werden beispielsweise Gemeinden schon ab 10 000 Einwohnern, nicht mehr, wie bisher, ab 20 000 Einwohnern, aufgrund ihres individuellen Mietenniveaus in eine eigene Mietenstufe eingruppiert.
Hierdurch kommen 180 Gemeinden in eine höhere Mietenstufe als bisher. Herabstufungen wird es nicht geben. Das heißt, es gibt eine treffsicherere, genauere Situationsanalyse und -bewertung zugunsten der Mieter.Meine Damen und Herren, das Ziel des Wohngeldes ist die direkte Unterstützung der Mieter bei entsprechender Miethöhe in Abhängigkeit vom individuellen Einkommen. Neben diesem Ziel haben wir aber auch gemeinsam dafür zu sorgen, daß möglichst bald mehr Wohnungen gebaut werden.Deshalb hat die Bundesregierung und haben wir in der Koalition ein umfangreiches Maßnahmenbündel ergriffen, das auf eine schnelle und umfassende Verbesserung der Wohnungsmarktsituation angelegt ist.
Die ersten Ergebnisse zeigen, daß wir damit auf dem richtigen Weg sind.Das Neue, Herr Kollege, besteht z. B. darin, daß die Genehmigungszahlen im Januar 1990 im Vergleich zum Januar 1989 im Wohnungsbau insgesamt um ca. 40 % und bei den Mehrfamilienhäusern sogar um 75 % gestiegen sind.
Dies macht deutlich, daß wir auf dem richtigen Weg sind.Das Wohngeld dient der wirtschaftlichen Sicherung eines angemessenen Wohnens der einkommensschwächeren Mitbürger. In ihrem Interesse ist eine möglichst zügige Behandlung des Gesetzentwurfs in den parlamentarischen Gremien erforderlich.Ich darf Sie hierfür um Ihre Mitarbeit und Ihre Unterstützung bitten.
Das Wort hat der Abgeordnete Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Wohngeld ist nach unserem Verständnis neben der Förderung des sozialen Wohnungsbaues, über den sicherzustellen ist, daß ausreichend preisgünstige Wohnungen gebaut werden — da haben Sie versagt, Frau Ministerin, Sie persönlich, insbesondere Ihr Vorgänger und Ihre Fraktion —, das Standbein einer verantwortungsbewußten Wohnungspolitik.Ziel des Wohngeldes ist es, sicherzustellen, daß jede Familie eine familiengerechte Wohnung bewoh. nen kann und daß dadurch die Belastung durch die Miete einen bestimmten Anteil am Familieneinkommen nicht übersteigt.Im Interesse einer langfristigen Sicherheit und um das Wohngeld nicht als finanzielle Manövriermasse des Staates zu degradieren, sind zwei Fragen zu klären: Erstens. Wie groß ist eine familiengerechte Wohnung, bzw. was sehen wir als familiengerechte Wohnung an? Zweitens. Wie hoch ist der Anteil des Ein-
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16322 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Menzelkommens, den wir einer Familie für die Miete zumuten?Wenn ich mir die gesellschaftspolitische Landschaft ansehe, dann gibt es, glaube ich, keine nennenswerte Gruppierung, die nicht dafür eintritt, daß eine familiengerechte Wohnung voraussetzt, daß jedem Familienmitglied ein Raum zur Verfügung steht.Wenn man diese Ansicht vertritt, dann taucht die Frage auf: Wie hoch darf die Mietbelastung für eine solche Wohnung sein? Wenn wir uns darauf einigen, daß die Mietbelastung höchstens 25 % des Einkommens betragen darf, dann haben wir damit die entscheidende Richtgröße für unser Handeln. Dabei helfen uns allerdings kaum Durchschnittswerte; denn jede Familie muß die Miete für die Wohnung bezahlen, die sie innehat bzw. die sie zu mieten beabsichtigt.Besonders müssen uns die Fälle interessieren, in denen durch die Miete eine überdurchschnittliche Belastung entsteht, die dann durch das Wohngeld auf ein zumutbares Maß reduziert werden muß.Man wird der Aufgabe des Wohngeldes also nicht gerecht, wenn man sich nur fragt, wie die durchschnittliche Mietveränderung ist. Wer die Frage so stellt, macht sich die Antwort zu einfach. Denn die Mieter sollen auch dann vor unzumutbaren Belastungen durch Miete geschützt werden, wenn die Mieterhöhungen, die sie nicht zu vertreten haben, besonders stark sind.Die letzte Wohngeldanpassung erfolgte am 1. Januar 1986. Die Mietveränderungsraten lagen 1986 bei 1,8 %, 1987 bei 1,6 %, 1988 bei 2,1 % und 1989 bei 3 %. Für 1990 liegen noch keine Zahlen vor. Wir müssen aber leider davon ausgehen, daß sie über 3 % liegen.Mit Ihrer Vorlage wollen Sie die Mieten zum 1. Oktober des Jahres 1990 erhöhen. Legt man nur die durchschnittliche prozentuale Mietentwicklung seit 1986 zugrunde, kommt man schon auf eine Mietsteigerung von 11,5 % . Das ist aber nur die halbe Wahrheit.Betrachtet man die Entwicklung der Mieten bei Neu- bzw. Wiedervermietung, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Legt man den Mietindex für 1980 mit 100 fest, so kann man feststellen, daß er bei Erstbzw. Wiedervermietung von 1986 bis 1989 im Altbau mittlerer Wohnlage von 116 auf 142, beim Neubau von 114 auf 131 stieg. Das heißt, daß wir es von 1986 bis 1989 bei Wiedervermietung bzw. Erstvermietung mit drastischen Mietsteigerungen zu tun haben, und diese Entwicklung ist zunehmend galoppierend.Der Ring Deutscher Makler sagt in einem Bericht für das erste Quartal 1988, daß die Mieten für Neuabschlüsse bzw. Wiedervermietung um 5 bis 7 % über den Vorjahresmieten lagen. Im ersten Quartal 1989 waren bei Wiedervermietung im Altbau die Mieten um 10 bis 13 %, im Neubau von 7 bis 9 % und beim Erstbezug um rund 10 % höher als im Vorjahr.Die Mietexplosion — anders kann man eine solche Entwicklung nicht bezeichnen — ist eine Folge der Wohnungspolitik, wie Sie von den Regierungsparteien sie betrieben haben. Ihre Politik nach demMotto: Der Markt wird's schon richten; Härten gleichen wir durch das Wohngeld aus! hat zu den Fehlbeständen geführt, die nun die Mietexplosionen zur Folge haben. Das, was sich auf dem Mietsektor abspielt, haben Sie, meine Damen und Herren von der FDP und der CDU, ganz allein zu vertreten. Ihre ideologisch geprägte Wohnungsbaupolitik haben nun die öffentlichen Hände, die Mieter und die Wohnungssuchenden teuer zu bezahlen.Da die Kosten des Wasserverbrauchs, die Kosten der Abwasser- und Müllbeseitigung und die Kosten der Treppenbeleuchtung wohngeldfähig sind, muß man sich auch ihre Entwicklung betrachten, um die Frage beantworten zu können, ob eine Wohngelderhöhung angemessen ist.Von 1986 bis September 1989 stieg das Wassergeld um 14,2 %, die Abwasserbeseitigungsgebühren um 19,7 %, die Kosten für die Müllabfuhr um 16,2 % und die Straßenreinigungskosten um 10,5 %.Noch ein Indiz, das man bei der Wohngeldneuf estlegung berücksichtigen muß, ist, bei wieviel Prozent der Mieter, die Mietzuschuß erhalten, die Mieten höher sind als die Höchstbeträge für Mietzuschuß.Schon am 31. Dezember 1986 — also ein Jahr nach Inkrafttreten der letzten Wohngeldnovelle — waren die Mieten bei 30,5 % der Mietzuschußempfänger höher als die Höchstbeträge. 1988 war dieser Prozentsatz schon auf 37,6 % gestiegen. Das heißt, daß schon Ende 1988 bei fast jedem vierten Wohngeldempfänger die Miete über den für die Wohngeldzahlung festgelegten Höchstbeträgen lag. Bei Wohnungen, die zu den hohen Neuvertragsmieten angemietet werden, werden die Höchstbeträge in den meisten Fällen überschritten.Meine Damen und Herren, es ist eine alte Erfahrung, daß sich eine Mangelsituation immer in höheren Preisen niederschlägt. Durch Ihre Wohnungspolitik seit Ende der Wende haben Sie diesen Mangel herbeigeführt. Sie haben sich taub gestellt nicht nur gegenüber unseren Forderungen. Sie waren auch taub gegenüber den Forderungen der ganzen Fachwelt. Sie haben sich die Ohren zugehalten, als die Alarmschellen immer lauter wurden. Sie haben die ständig fallenden Fertigstellungszahlen und ihre sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Folgen ignoriert. Sie haben das Erbe eines ausgeglichenen Wohnungsmarktes, das Sie 1982 von uns übernommen haben, innerhalb kürzester Zeit verwirtschaftet.
Sie haben mit Ihrer Politik ein wohnungsbaupolitisches und mietenpolitisches Chaos angerichtet, und sie stehen nun vor dem Scherbenhaufen Ihrer Politik.Schon im Spätsommer des vergangenen Jahres haben wir unsere Forderungen nach Anpassung des Wohngeldes und nach strukturellen Veränderungen auf den Tisch des Hauses gelegt. Sie haben mit Ihren Mehrheiten eine rechtzeitige Anpassung des Wohngeldes verhindert.Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: Ihr Hinweis auf die gestiegenen Wohngeldausgaben des
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MenzelBundes und der Länder, Frau Ministerin, den Sie hier wieder gebracht haben, trifft doch nicht den Kern des Problems. Sie beweisen doch nur Ihre verfehlte Politik, nicht nur im Wohnungsbau, sondern auch in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Denn daß die Wohngeldausgaben so gestiegen sind, liegt doch in der Tatsache begründet, daß immer mehr Menschen in die Arbeitslosenhilfe und in die Sozialhilfe gelangen. Wegen deren geringen Einkommen erhöhen sich dann notgedrungen die Wohngeldausgaben; sie sind also kein Positivum, sondern zeigen Ihr Scheitern auch in der Arbeitsmarktpolitik.
Nun lassen Sie mich noch etwas zu den notwendigen strukturellen Veränderungen sagen.Unser gemeinsames Ziel ist es, durch eine entsprechende Wohngeldstruktur sicherzustellen, daß auch und gerade die größeren Familien eine familiengerechte Wohnung bewohnen können. Läßt man sich allein durch Zahlen blenden, könnte man den Eindruck gewinnen, die großen Familien wären besonders begünstigt. Die Mietbelastungsquote beim Wohngeld liegt nämlich beim Fünfpersonenhaushalt bei 16,4 % , während sie beim Dreipersonenhaushalt bei 22,3 % liegt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Fragt man sich einmal, wie denn diese Wohnungen aussehen, die die großen Familien bewohnen, dann zeigt sich, daß die großen Familien Wohnungen haben, die weit unter den Richtwerten liegen, die wir als ausreichend anerkennen. Das heißt, die großen Familien haben deswegen eine niedrigere Belastungsquote, weil sie zu kleine Wohnungen bewohnen. Das tun sie im Grunde genommen nur deswegen, weil sie sich größere Wohnungen nicht erlauben können.Ich will zu den strukturellen Verbesserungen, die Sie vorschlagen und die auch in unserem Vorschlag enthalten waren, gar nichts weiter sagen. Wir liegen da nämlich ganz dicht beieinander. Ich will auch nichts mehr dazu sagen, daß Sie nun auch unseren schon zweimal eingebrachten Vorschlag, das Wohngeld für Sozialhilfeempfänger zu pauschalisieren, aufgenommen haben.Lassen Sie mich aber nur einen Satz zu dem Vorwurf sagen, das habe die Ministerialbürokratie schon lange aufgeschrieben. Meine Damen und Herren, daß die Minsterialbürokratie so etwas aufgeschrieben hat, ist nicht das Entscheidende. Entscheidend war, daß Sie nicht die politische Kraft hatten, bei der vorletzten Novelle, als wir unseren Gesetzenwurf eingebracht hatten, hier zuzustimmen.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird alles tun, damit der von Ihnen eingebrachte Wohngeldentwurf so schnell und so zügig wie möglich beraten wird. Wir werden Ihre Vorschläge an den Kriterien messen, die ich vorgetragen habe. Wir werden alles tun, damit dieses Gesetz so schnell wie möglich wirksam wird, denn den Leuten draußen, den Mietern, brennt es auf den Nägeln.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rönsch.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Ich bedaure ein wenig, daß wir hier zu so später Stunde die achte Wohngeldnovelle diskutieren; denn ich meine, sie hätte mehr Öffentlichkeit verdient gehabt. Die Ausweitung dieser Novelle hätte der Öffentlichkeit besser bekanntgemacht werden müssen. Aber wir haben ja noch die Chance dazu bei der zweiten und dritten Lesung hier im Parlament. Nicht zuletzt die letzte Wohngeldnovelle hat erwiesen, daß, nachdem sie in der Öffentlichkeit diskutiert worden war, doch noch sehr viele Mieter, die Anspruch auf Wohngeld haben, diesen nicht wahrnehmen. Ich meine, wir sollten mit dazu beitragen, daß die Beratungen in diesem Hause den Mietern bekannt werden, damit die Mieter, die Anspruch haben, ihr Wohngeld dann auch beantragen.
Allerdings sollte den Mietern draußen nicht bekannt werden, wie unredlich hier teilweise diskutiert wird. Herr Kollege Menzel, wir sind hier in einer kleinen Runde. Es ist ja eine etwas erweiterte Ausschußberatung. Ich hätte schon gewünscht, daß Sie neben den tatsächlich sehr bedenklichen Zahlen bei der Mietenentwicklung gerade in diesem Jahr auch einmal erwähnt hätten, wie die realen Einkommen im Berichtszeitraum gestiegen sind. Das sind immerhin 12%.
Es hätte mit dazugehört, daß Sie auch darüber sprechen.
Ich meine auch, daß gerade die Sozialdemokraten die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung unter gar keinen Umständen mehr kritisieren dürfen; denn als Sie 1982 Ihre Arbeiten abgegeben haben,
hatte Ihr Herr Roth seinerzeit für das Jahr 1983 und folgende 5 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Es mag sein: Er hat in Ihrer Fraktion nicht mehr viel zu sagen; aber damals war er noch wirtschaftspolitischer Sprecher.Aber jetzt noch einiges zu unserer Novelle. Mit der Novelle, die wir jetzt hier vorgelegt haben, werden 1,9 Millionen Haushalte durch diese Anpassung spürbare Entlastungen erhalten. Wir haben das, was wir vorhergesagt haben, eingehalten. Wir haben Wort gehalten.
Sie haben seinerzeit das Ganze angezweifelt. Wir haben ja noch mehr Gelegenheit, über diese Novelle zu diskutieren. Dann können wir auch darüber noch weiter reden.
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Frau Rönsch
Die Frau Ministerin hat die einzelnen Verbesserungen in dieser Novelle schon angesprochen. Ich will kurz auf die Anhebung der Wohngeldleistungen um 1,2 Milliarden DM eingehen. Das bedeutet immerhin ein Plus von 14 %.
Durchschnittlich erhält der Empfängerhaushalt jetzt 20 DM mehr, also ab dem 1. Oktober 1990 rund 170 DM. Von 149 auf 170 DM, das, meine ich, kann sich sehen lassen.
Wir werden damit unserer Verantwortung gerade für die einkommensschwachen Haushalte gerecht. In Zeiten leider wieder anziehender Mieten erweist sich das Wohngeld gerade für die einkommensschwachen Haushalte als ein zielsicheres Instrument der Hilfe.
Doch wir belassen es nicht nur bei der Anpassung des Finanzvolumens. Nein, wir haben auch Strukturverbesserungen vorgenommen, auf die ich jetzt gar nicht weiter eingehen will.Ich will aber noch zwei Dinge ganz kurz ansprechen. Hier und in den Ausschüssen haben wir zum einen schon sehr ausführlich über die Pauschalierung des Wohngeldes gerade für die Sozialhilfeempfänger diskutiert.Wenn Sie hier, Kollege Menzel, angesprochen haben, daß es diese Bundesregierung endlich geschafft hat, dann hätte ich von Ihnen eigentlich auch ein kleines Dankeschön erwartet.
— Daß die Pauschalierung jetzt endlich eingeführt wird.
— Natürlich, Sie haben die Pauschalierung immer wieder gefordert; aber auch die von Ihnen geführte Bundesregierung war seinerzeit nicht in der Lage dazu.Wir haben doch sehr viele Ausschußberatungen gehabt. Sie wissen genau, an welchen technischen Schwierigkeiten es bei den Wohnungsämtern, bei den Kommunen gelegen hat. Ich empfinde es als unredlich, wenn das hier in dieser Weise dargestellt wird. Ich meine, daß gerade diese finanzielle Entlastung für die Sozialhilfeempfänger, die jetzt endlich eingetreten ist, ein großes Plus ist.Weiter möchte ich noch erwähnen, daß wir den Anspruch auf Wohngeld von 20 DM heruntergesetzt haben, daß das Wohngeld jetzt schon ab 10 DM gezahlt wird;
denn gerade für einen einkommensschwachen Haushalt sind 10 DM oder vielleicht 19 DM eine ganz beachtliche Summe, die das Wohnen angenehmer machen kann.Gerade angesichts des steigenden Anteils der Sozialhilfeempfänger an den Wohngeldbeziehern wirkt sich die Pauschalierung günstig aus. Wir tun hiermit einen echten Schritt nach vorne. An diesem Beispiel zeigt sich besser als an jedem anderen: Das Wohngeld erreicht die Bedürftigen, die Einkommensschwachen und die kinderreichen Haushalte mit seinem größten Volumen.
Über zwei Sachverhalte sollten wir in der weiteren Beratung dennoch noch einmal nachdenken, denn ich will nicht ausschließen, daß trotz der durch die Bundesregierung eingeleiteten Initiativen zur Unterstützung der Neubautätigkeit bei der gegenwärtig angespannten Wohnungsmarktlage noch Handlungsbedarf besteht. Ich meine einerseits die Möglichkeit, in regelmäßigen Abständen laufende Mietzahlungen in doch nicht unerheblichem Umfange anheben zu können. Schöpften die Vermieter ihre Spielräume lange Zeit nicht voll aus, weil sie wußten, daß ihre Objekte dann in Gefahr geraten, unvermietbar zu sein, so ist die Tendenz jetzt, daß man diesen Spielraum voll ausschöpft. Der Nachfrageboom erlaubt so manchem, die geschwächte Position des Mieters für sich zu nutzen und beim Mietenaufschlag bis an die Grenze des Erlaubten zu gehen. Das beunruhigt mich ausgesprochen. Ich meine, wir sollten im Rahmen der Beratung dieser Wohngeldnovelle in Zukunft noch einmal darüber nachdenken, wie wir zu Instrumenten kommen, um das zu bremsen.Auch einen zweiten Punkt, der im Wohngeld- und Mietenbericht ausführlich behandelt wird, will ich noch einmal nennen, nämlich die Bereinigung des Mietenindex. Nur auf Grund gesicherten Datenmaterials und einer breitangelegten Mietenstatistik kann die regional unterschiedlich verlaufende Mietenentwicklung beobachtet werden. Wir berechnen das Wohngeld nach den Ergebnissen dieser Erhebungen. Deshalb sollte eine wesentlich höhere Treffsicherheit Grundlage sein. Das Wohngeld bleibt die treffsichere Hilfe für die Empfängerhaushalte nämlich nur dann, wenn die vom Statistischen Bundesamt vorgelegten Wege beschritten werden. Gerade um eine gute Grundlage zu haben, sollten wir diese Erhebungen neu überdenken.Die Bundesregierung ist ihren Aufgaben nachgekommen. Jetzt sind die Kommunen, die Kreise und auch die Bundesländer gefordert; denn dort hängt es noch sehr oft. Es kommt zu langsamen Bewilligungen von Förderungsmitteln gerade in sozialdemokratisch geführten Ländern. Es kommt zu einer langsamen Bereitstellung von Bauland und zu einer schleppenden Verarbeitung von Baugenehmigungen. Wenn alle zusammenarbeiten, können wir das Beste für die Mieter erreichen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Teubner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die achte Wohngeldnovelle ist ebenso wie die siebte, die sechste, die fünfte oder sonstige Novelle Ausdruck dafür, daß die Wohnungs-
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Frau Teubnerpolitik aller bisherigen Bundesregierungen gescheitert ist. Hätten Sie in den letzten 40 Jahren eine wirklich soziale und auch ökologische Wohnungspolitik
— Warten Sie ab, wie es dann mit der Wohnungspolitik aussehen würde! — in diesem sich sozial nennenden Staat betrieben, dann brauchten Sie keine Wohngeldnovellen und müßten das Wohngeld nicht in jedem Jahr erhöhen. Diesmal erhöhen Sie es ja ganz schön kräftig: um 1,2 Milliarden auf insgesamt 5 Milliarden DM. Aber wenn alle Menschen, denen das Wohngeld zusteht, dieses auch in Anspruch nehmen würden, dann lägen ihre bisherigen Wohngeldausgaben nicht bei 3,8 Milliarden, sondern bei 7,6 Milliarden DM, und Sie müßten heute nicht auf 5 Milliarden, sondern auf 10 Milliarden DM erhöhen.Sie wissen selbst: Die Hälfte aller Wohngeldberechtigten nimmt ihren Anspruch gar nicht wahr, aus Scham, aus Unkenntnis oder wegen der bürokratischen Hemmnisse. Das heute beschlossene Ausländergesetz wird dazu ein übriges tun. Das ist zwar gut für den Haushalt des Kollegen Waigel, aber ein sehr schlechtes Zeugnis für die Demokratie in diesem Land. Es ist ein Armuts-Zeugnis für ein System, das bekanntlich den Anspruch erhebt — ich sagte es schon — , ein Sozialstaat zu sein.Wenn Sie dieses System samt Ihrer Wohnungspolitik und samt des privatwirtschaftlichen Wohnungsmarktes dann auch noch in der DDR eingeführt haben werden — das wird, befürchten wir, gar nicht mehr so lange dauern — , dann werden Sie aus den jährlichen Wohngelderhöhungen überhaupt nicht mehr herauskommen.
Darauf könnte man sich jetzt schon freuen, wenn es insgesamt nicht ein so schlechtes Zeichen wäre.Wir stimmen der Novelle natürlich zu. Wir werden uns auch darum bemühen, daß die Beratungen zügig voranschreiten — das ist klar — , weil wir wissen, daß gerade infolge dieser Politik fast zwei Millionen Haushalte heute nicht mehr in der Lage sind, ihre Miete ohne Wohngeld zu bezahlen.Gleichzeitig wissen wir aber alle, daß das Wohngeld eine Krücke ist. Auch diese Krücke stützt diejenigen, die darauf angewiesen sind, nur sehr unzureichend.Den wohnungssuchenden Wohngeldberechtigten nutzt das Wohngeld schon gar nichts. Es hat ihre Zahlungsfähigkeit noch nie in dem Maß erhöht, daß sie auf dem Wohnungsmarkt, der bekanntlich frei ist, gegen Personen und Haushalte mit hohem Einkommen konkurrieren können.
Auf dem heutigen Wohnungsmarkt müssen Sie einen Verdienstnachweis vorweisen. Da können Sie nicht mit dem Wohngeldbescheid wedeln, zumal Sie den überhaupt erst bekommen, wenn Sie eine Wohnung gefunden haben.Also, den wohngeldberechtigten Wohnungssuchenden nutzt das Wohngeld, ob Sie es jetzt erhöhen oder nicht, herzlich wenig. Auch das novellierte Wohngeld ist nicht dazu in der Lage, Wohngeldempfänger und Wohngeldempfängerinnen zu einer interessanten Gruppe von Nachfragern und Nachfragerinnen für Privatinvestoren zu machen. Insofern ist es die Unwahrheit zu behaupten, daß sogar dieser Art der Wohnungspolitik über Wohngeldzahlungen zu einer Initialzündung für den frei finanzierten Wohnungsbau beitragen könnte.Sie werden, wenn Sie Ihre falsche Wohnungspolitik weiterbetreiben, immer weniger preiswerte Wohnungen und immer höhere Wohngeldausgaben haben.Auch Haushalten mit niedrigem Einkommen, die bereits eine Wohnung haben, hilft das Wohngeld bei Mietsteigerungen — Kollege Menzel hat darauf hingewiesen — nur in sehr geringem Maße.Die Mieten dürfen in jedem Jahr um 10 % steigen. Die Renten beispielsweise steigen im Moment höchstens um 3 %.
Das Wohngeld fängt also die Mietsteigerungen nur zu einem Teil auf, so daß der Lebensstandard von Haushalten mit niedrigem Einkommen trotz Wohngeld von Jahr zu Jahr sinkt.Dazu kommt, daß Wohngeldempfänger und -empfängerinnen zu einer extremen Einschränkung der Fläche, die sie bewohnen können, gezwungen werden. Sie können die Richtflächen, die dem Wohngeld zugrunde liegen, gar nicht in Anspruch nehmen. In Gebieten der Mietstufe 5 liegt die tatsächliche Wohnfläche eines wohngeldberechtigten Vierpersonenhaushalts bei 77 qm und in einem Fünfpersonenhaushalt bei nur 16 qm pro Person. Was das an Streß und Bedrängnis bedeutet, können sich normale Bundestagsabgeordnete gar nicht vorstellen.
Insofern ist die Wohngeldpolitik der Bundesregierung nicht nur unsozial, sondern auch extrem familienfeindlich, kinderfeindlich, frauenfeindlich, altenfeindllich. Daran wird leider auch diese Wohngeldnovelle genausowenig ändern wie an den Folgen der gesamten Wohnungspolitik.
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Dr. Hitschler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Freien Demokraten stimmen der achten Wohngeldnovelle mit großer Befriedigung zu.Sie bringt insgesamt ein Verbesserungsvolumen von 1,2 Milliarden DM, zur Hälfte von Bund und Ländern aufgebracht. Die Wohngeldleistungen erhöhen sich damit von bisher rund 3,7 auf 4,9 Milliarden DM. Herr Kollege Menzel, Sie können das nicht allein auf das Steigen der Zahl der Wohngeldempfänger zurückführen. Wenn Sie sich im Wohngeld- und Mietenbericht einmal die Zahl der Wohngeldempfänger und ihre Entwicklung seit 1965 anschauen, stellen Sie
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Dr. Hitschlerfest, daß im Jahre 1975 1,66 Millionen Wohngeldempfänger da waren, im Jahre 1981 1,6 Millionen Wohngeldempfänger und in den Jahren 1986, 1987 und 1988 ebenfalls etwas über 1,6 Millionen Wohngeldempfänger. Das heißt, die absolute Zahl hat sich nicht wesentlich verändert, sondern sie ist mit geringen Schwankungen nach oben und unten relativ gleichgeblieben.Frau Kollegin Teubner, zu den Zahlen, die Sie genannt haben: Sie dürfen natürlich nicht nur die prozentualen Mietsteigerungen ins Auge fassen, sondern Sie müssen sehen, welche Steigerungen wir beispielsweise auch bei den verfügbaren Einkommen zu verzeichnen hatten, die in den vergangenen Jahren durchweg wesentlich über den Mietsteigerungen gelegen haben.
Damit wird deutlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß sich im Verhältnis zu den anderen Ausgaben der Wohnungspolitik das Wohngeld mehr und mehr zum wirklich zentralen Instrument der staatlichen Wohnungspolitik entwickelt hat und somit die Subjektförderung mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat. Diese Entwicklung wird von der FDP besonders begrüßt, sehen wir doch im Wohngeld die sozial vernünftigere Flankierung einer freieren Marktentwicklung im Wohnungswesen und sind wir daher auch künftig an einer weiteren Verbesserung des Wohngeldes unter gleichzeitigem Abbau anderer Subventionen im sozialen Wohnungsbau interessiert.
Die FDP ist die wohngeldfreundliche Partei, weil das Wohngeld eine bessere nachfrageorientierte Steuerung des Wohnungsmarktes ermöglicht.Diese Leistungen und vor allem die enorme Leistungsausweitung — 1965 betrugen die Wohngeldgesamtausgaben rund 908 Millionen DM, 1970 1,65 Milliarden DM, 1980 1,8 Milliarden DM, 1991 werden sie 4,9 Milliarden DM betragen — sind natürlich nur vor dem Hintergrund einer soliden Wirtschafts- und Finanzpolitik möglich gewesen, die vernünftige Rahmenbedingungen gesetzt hat, um ein derartiges Leistungsvolumen überhaupt erst zu ermöglichen.
Die Anpassung durch die achte Wohngeldnovelle erfolgt im übrigen nach einem Zeitraum von vier Jahren, Herr Menzel. Ihnen war das zu kurz. Sie erfolgte damit aber in einem zeitlich wesentlich kürzeren Abstand, als das früher der Fall gewesen ist, und zwar auch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition.Die FDP-Bundestagsfraktion hofft, daß diese Anpassung künftig in noch kürzeren Abständen vorgenommen werden kann.Die jetzige Novelle bringt eine durchschnittliche Wohngelderhöhung um 20 DM auf 170 DM je Wohngeldbezieher oder eine durchschnittliche Erhöhung von rund 14 %. Innerhalb des Gefüges der Mietenstufen ergeben sich aber im Detail erhebliche Unterschiede. Dabei wurde die regional unterschiedliche Mietenentwicklung berücksichtigt. Da die Mieten insbesondere in Gemeinden mit hoher stärker als in solchen mit niedriger Mietenstufe gestiegen sind, trägt die achte Novelle dieser Entwicklung Rechnung. Dies gilt insbesondere für Gemeinden der Mietenstufe 6, wo die Höchstbeträge am stärksten angehoben wurden.Bei einem Vier-Personen-Erwerbstätigenhaushalt mit einem Familieneinkommen von 2 046 DM — unterstellt ein Bruttoeinkommen von 3 162 DM — bringt dies in der sechsten Mietenstufe 49 DM mehr Wohngeld bei einer Miete von 750 DM und einem Höchstbetrag von 785 DM gegenüber nur 18 DM mehr Wohngeld in der Mietenstufe 3.Neben der Anpassung der Höchstbeträge bringt die achte Novelle aber durch verschiedene strukturelle Veränderungen Verbesserungen, die Frau Hasselfeldt schon angesprochen hat und auf die ich im einzelnen nicht mehr einzugehen brauche.Die Tatsache, daß sich die Wohnkostenbelastung der Wohngeldbezieher im Durchschnitt auf rund 24 des Einkommens beläuft, zeigt, daß sich die Wohnkostenbelastung einkommensschwächerer Bevölkerungsschichten insgesamt gesehen auch bei einem internationalen Vergleich in einem durchaus vertretbaren Rahmen bewegt.Besondere Probleme ergeben sich natürlich in solchen Ballungszentren, in denen die Übernachfrage nach Wohnungen besonders ausgeprägt ist und zu erheblichen Mietsteigerungen bei Neuvermietungen geführt hat. In diesen Fällen sollten die Gemeinden die Zahlung eines zusätzlichen kommunalen Wohngeldes ins Auge fassen, profitieren sie doch auf andere Weise auch von dieser Entwicklung.
— Herr Menzel, die Gemeinden haben durch ihre Ansiedlungs- und Baupolitik meist auch den Grundstein für diese Entwicklung selber gelegt. Gerade diese Gemeinden sollten sich — dabei darf ich Sie an Ihre Ausführungen erinnern — im übrigen bei der Erhöhung der nicht unbeachtlichen städtischen Gebühren, die einen erheblichen Teil der Mietnebenkosten ausmachen, eine weise Beschränkung auferlegen.
Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende der Debatte, was diesen Tagesordnungspunkt anbelangt.Ich kann Ihnen mitteilen, daß der Ältestenrat Ihnen die Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 11/6930 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse empfiehlt. — Widerspruch ergibt sich offensichtlich nicht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
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Vizepräsident CronenbergIch rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung des Mieters bei Begründung von Wohnungseigentum an vermieteten Wohnungen— Drucksache 11/6374 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauZunächst habe ich jetzt eine höchst erfreuliche Mitteilung zu machen.Die Abgeordneten Geis, Pick, Dr. Hitschler, Frau Teubner und der Parlamentarische Staatssekretär Jahn haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, so daß wir 45 Minuten gespart haben.
Ich möchte mich ausdrücklich im Namen der Beschäftigten des Hauses bedanken, die ohnehin bis 1.00 Uhr und länger arbeiten müssen.Das befreit Sie aber nicht davon, zuzustimmen, daß dieser Gesetzentwurf auf Drucksache 11/6374 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Sie liegt offensichtlich ebenfalls vor.Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags des Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNENVolksabstimmung zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten und verfassunggebende Versammlung statt Anschluß der DDR— Drucksache 11/6719 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für innerdeutsche BeziehungenLaut Beschluß des Ältestenrates sollen in der Debatte jeder Fraktion zehn Minuten Redezeit zur Verfügung stehen.
— Ja, eben. Ich möchte sehr deutlich machen, daß eine starke Verkürzung von allen sehr begrüßt würde. Ich bitte, diesen Appell ernst zu nehmen.Herr Abgeordneter Häfner, Sie haben das Wort.
Wir wollen das versuchen, Herr Präsident und liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie es an diesem schwierigen Tag noch so spät ausgehalten haben.
Auch wenn es hier unterschiedliche Meinungen zur Frage der Wiedervereinigung gab, so, glaube ich, müssen wir doch alle klar und deutlich sagen: Die deutsche Einheit wird kommen, und von uns hängt mit ab, was daraus wird. Ob ein großer mächtiger, seine Nachbarn bedrohender, aggressiver Nationalstaat,
der sich gegenüber seinen Nachbarn abschließt, oder ob ein nach innen und außen offener und demokratischer Staat entsteht, der nicht nur seinen Nachbarn, sondern auch seinen ausländischen Mitbürgern in Freundschaft zugetan ist: all das sind Fragen, die uns hier jetzt beschäftigen. Deshalb ist es wichtig, daß wir vor allem auch über den Weg dieser Vereinigung im Deutschen Bundestag heute abend sprechen. Ich werde mich kürzer fassen, als die Redezeit vorsieht. Es tut mir selber leid, daß dies so spät kommt. Es ist dem Thema eigentlich nicht angemessen, es nach 22 Uhr bei außerordentlich geringer Anwesenheit hier im Bundestag zu beraten.Wir stehen vor den vielleicht wichtigsten Weichenstellungen in der Geschichte der beiden deutschen Staaten und Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sollten auch als Parlament diese Weichenstellung nicht verschlafen. Wir sollten auch nicht sozusagen im Schweinsgalopp darüber hinweggehen, einfach nur aus dem Blickwinkel auf das gerade Aktuelle, das Notwendige und Machbare, sondern wir sollten uns fragen: welcher Weg ist eigentlich angemessen für den Prozeß, den wir hier mitzugestalten haben, für einen Prozeß, der Weichen bis weit in die Zukunft hinein stellen wird?Und da ist es notwendig, sehr deutlich zu sagen: Der Prozeß der deutschen Einheit kann, wenn er demokratisch sein soll, wenn er sich auf die Unterstützung und Beteiligung der Menschen in Ost und West gründen soll, nicht ein Prozeß von oben sein, ein Prozeß der Exekutive, der Regierung allein, sondern diese Einheit muß wachsen, und sie muß von unten gestaltet werden können, d. h. durch die Menschen, durch die Bevölkerung selbst.Das ist der Grund, warum die GRÜNEN an der Forderung nach einer Volksabstimmung in beiden deutschen Staaten zur Frage einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten festhalten. Wir meinen, daß diese wichtigste und weitreichendste Entscheidung in der Geschichte unserer beiden Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht über die Köpfe der Menschen hinweg gefällt werden kann.Wir meinen zweitens, daß die Vereinigung der deutschen Staaten eine neue Verfassung notwendig macht. Hierfür muß eine verfassunggebende Versammlung aus Bundesrepublik und DDR mit dem Auftrag, eine neue Verfassung auszuarbeiten, gewählt werden. Das ist nicht nur eine politische Notwendigkeit, es ist auch eine rechtliche und verfassungsrechtliche Notwendigkeit. Es ist ein eindeutiger Auftrag des Grundgesetzes im Zusammenklang von Präambel und Art. 146.Sie alle wissen, daß die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes dieses nicht als die endgültige deutsche Verfassung, sondern nur als ein Provisorium verstanden haben, um für eine Übergangszeit dem deutschen Volk eine neue Ordnung zu geben,
und daß sie auch von dem selbstverständlichen Erfordernis einer Volksabstimmung über diese Verfassung, wie das einem demokratischen Staat in jedem Fall angemessen wäre, nur aus dem Grund Abstand
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Häfnergenommen haben, weil sie übereinstimmend der Meinung waren: Selbstverständlich wäre eine Volksabstimmung nötig. Da dies aber bewußt nur ein Grundgesetz für eine Übergangszeit sein sollte und da einem Teil der Deutschen
— Sie haben mich offensichtlich nicht richtig verstanden, Herr Kleinert — die Mitwirkung an einer solchen Abstimmung nicht möglich gewesen wäre, haben sie gesagt, daß eine solche Abstimmung erst erfolgen soll, wenn das deutsche Volk in freier Entscheidung eine neue Verfassung in Kraft setzen kann. Dies regelt der Art. 23 unseres Grundgesetzes.
— Sie sprechen von einem völlig anderen Thema. Davon habe ich noch gar nicht gesprochen. Ich kann es aber gern Ihrem Wunsche entsprechend noch tun. Im Art. 23 also werden zunächst die Bundesländer aufgezählt. Dann regelt er die Möglichkeit des Beitritts weiterer Länder.
Diese Möglichkeit ist damals insbesondere mit Blick auf das Saarland und Großberlin diskutiert worden. Also keineswegs ist Artikel 23 der von den Eltern der Verfassung vorgesehene Weg zur deutschen Einheit. Gleichwohl ist es ein gangbarer Weg, der nun gewählt worden ist. Ich halte ihn für den falschen Weg. Ich halte ihn sozusagen für einen Weg von oben, für den Weg der Regierung.
— Erlauben Sie mir doch einmal, daß ich Ihnen erwidere, und versuchen Sie, einen Moment zuzuhören.Es ist also ein gangbarer Weg. Doch auch wenn wir den Weg über Art. 23 gehen, bleiben das Erfordernis einer neuen Verfassung durch Art. 146 und die Präambel bestehen.
— Selbstverständlich. Ich verweise hier auf Konrad Adenauer, der dies 1951 im Deutschen Bundestag sehr luzide dargelegt hat. Ich verweise auf die Beratungen im Parlamentarischen Rat. Ich verweise auf die Ausführungen von Carlo Schmid zu diesem Punkt. Da besteht gar kein Zweifel: Art. 23 regelt die räumliche Geltung des Grundgesetzes, er regelt aber nicht die Frage: Wie kommen wir zu einer endgültigen und gemeinsamen Verfassung?
Ich möchte nicht, daß dieser Prozeß gegenwärtig als ein nur einseitiger verstanden wird, als ein Prozeß des Überstülpens einer Rechtsordnung auf den anderen Teil. Ich möchte vielmehr, daß wir alle gemeinsam darüber sprechen, welche Grundlagen im künftigen Staat für das Zusammenleben gelten sollen. Dabei ist das Demokratieprinzip — also Volksbegehren undVolksentscheid — und die Frage der Ökologie, die von den Eltern unserer Verfassung noch gar nicht gesehen werden konnte, ganz zentral. Ganz zentral ist auch die Frage der sozialen Rechte, die schon bei diesem Einigungsprozeß eine große Rolle spielen. Es gibt viele weitere Fragen von großer Bedeutung.Es stünde uns gut an, die Verfassungsdiskussion nicht nur als eine Notwendigkeit zu betrachten — diese ist nicht zu bestreiten — , sondern auch als eine Chance zu verstehen, diese unsere eigenen Zukunftsfragen neuerlich zu diskutieren und so etwas Neues zu schaffen, das nicht zu dem führt, was ich vorhin genannt habe: Zu einer bloß aufgeblähten Bundesrepublik. Es muß in der Tat etwas Neues, etwas Demokratisches, etwas Ökologisches, etwas, was von den Menschen gestaltet werden kann, entstehen.Ich möchte mit dem Hinweis von Johann Wolfgang von Goethe schließen, der gesagt hat — ich halte das für einen sehr klugen Satz — : „Das Was bedenke, mehr das Wie. " Das gilt ganz besonders auch in dieser Frage.
Das Wort hat der Abgeordnete Böhm .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der GRÜNEN stammt vom 15. März 1990, also drei Tage vor der Volkskammerwahl in der DDR. Er war offenbar als eine vordergründige Wahlpropaganda, als eine Hilfe im letzten Moment für die eigenen Freunde dort gedacht. Die Menschen in der DDR haben diesen Antrag aber bereits am 18. März zur Makulatur gemacht.
Grundsätzlich können zwei Wege zur Wiedervereinigung von DDR und Bundesrepublik Deutschland führen: zum einen der Beitritt, den die Deutschen in der DDR zum Verfassungsstaat des Grundgesetzes erklären — der Weg nach Art. 23 — , zum anderen die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung, welche das ganze deutsche Volk in freier Selbstbestimmung beschließt — Art. 146 —.Der erste Weg wurde bei der Rückkehr der Saar 1956 beschritten. Der zweite führt in noch niemals betretenes Gelände. Der zweite Weg, der auch das Ende des Grundgesetzes bedeuten würde, ist in der Tat auch nur ein einziges Mal begehbar.Der Antrag der GRÜNEN will aber genau diesen Weg über Art. 146 beschreiten.
Die CDU hat sich bereits früh gegen einen solchen Weg ausgesprochen, und das mit guten Gründen.Betrachten wir zunächst den pragmatischen Grund, den Zeitfaktor. Die Deutschen in der DDR haben durch ihr Abstimmungsverhalten bei der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 unzweideutig für eine schnelle Lösung gemäß Art. 23 GG plädiert; denn sie wollen eine konkrete Perspektive für die Einheit in Freiheit jetzt, schnell und zügig.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16329
Böhm
Verfassungsgebungsprozesse, wie dies Art. 146 vorsieht, sind aber sehr schwierig und langwierig. Die Abstimmung mit den Füßen der Übersiedler könnte dann weiter andauern, sich wieder verstärken, und in der DDR könnte es zum vollständigen Ausbluten kommen.Des weiteren wären die Folgen der Wiedervereinigung über Art. 146 sehr bedenklich; denn es besteht zu Recht die weit verbreitete Ansicht, daß bei einer Wiedervereinigung über Art. 146 ein neues Staatssubjekt „Deutschland" entsteht und die beiden bisherigen Staaten untergehen. Dadurch entstünde auf der ganzen Linie das staats- und völkerrechtliche Problem der Staatensukzession und mit ihr die Notwendigkeit der Neuanerkennung als Staat durch die Völkergemeinschaft, der Neuaufnahme in die Vereinten Nationen und insbesondere in die Europäische Gemeinschaft. Es entstünde das Problem der Vertragskontinuität, das wiederum, wenn das Londoner Schuldenabkommen in Frage gestellt würde, gigantische Reparationsforderungen provozieren könnte.Es spricht somit die Wahrscheinlichkeit dafür, daß Rechtsunsicherheit über die staatliche Identität eintreten wird mit großen, in dieser schwierigen Zeit unnötigen innen- wie außenpolitischen Irritationen.Genau das wollen offenbar die GRÜNEN. Sie wollen die Einheit nicht; denn wer sie nicht schnell und zügig will, der will sie überhaupt nicht.
Sollte die Einigungsprozedur über die gesamtdeutsche Verfassung mißlingen, so ist auch die staatliche Einigung, soweit sie daran gekoppelt ist, gescheitert. Genau dieses Risiko vermeidet der Weg über Art. 23. Aber gerade dafür machen Sie sich von den GRÜNEN ja stark.Daneben wäre auch der Inhalt der neuen Verfassung schwer voraussehbar. Wir wollen Stabilität statt Ungewißheit. Oder wollen Sie die Frage der deutschen Einheit beispielsweise mit der Diskussion über die Todesstrafe oder über das Asylrecht verbinden? Wollen Sie so ganz nebenbei — neben der Lösung der schwierigen wirtschaftlichen, sozialpolitischen und währungspolitischen Probleme — auch noch eine umfassende Verfassungsreform?Sehr geehrte Damen und Herren, auch die breite Mehrheit der erstmals frei gewählten Volkskammer hat sich schließlich für einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 ausgesprochen.Selbst der Verfassungsentwurf des zentralen Runden Tisches spricht nur von einem Beitritt, und dies unter Mitarbeit der Grünen Liga, der Grünen Partei. Die Fraktion der GRÜNEN im Deutschen Bundestag aber setzt sich mit diesem Antrag, über den wir jetzt sprechen, wieder einmal über den Willen der Menschen in der DDR wie selbstverständlich hinweg.
Ich will hier kein weiteres Plädoyer für den Weg über Art. 23 halten. Das ist schon so mannigfaltig von namhaften Staats- und Verfassungsrechtlern gemacht worden. Ich denke hier nur an die Erklärung der hundert Staatsrechtler vorn 23. März 1990. Aber ich will darauf verweisen, daß sich unser Grundgesetz seit 40 Jahren bewährt hat.
Ich sehe daher keine Veranlassung, unser allseits gelobtes Grundgesetz zur Disposition zu stellen. Unser Grundgesetz war Vorbild für die Verfassungsgebung in Griechenland, in Spanien und in Portugal, als diese Staaten ihre autoritären Systeme überwunden hatten und in den Kreis der freiheitlichen Verfassungsstaaten eingetreten sind.Dieses Grundgesetz steht für eine stabile und zuverlässige Demokratie der Deutschen und bedeutet das geistige Band zu unseren westlichen Partnern. Davon darf es keine Abstriche geben. Eine andere Republik kann und darf hier nicht zur Debatte stehen. Aber genau diese andere Republik ist die Zielrichtung des Antrages der GRÜNEN, dem wir hier entschieden widersprechen.Wer darüber hinaus den Beitritt gemäß Art. 23 als „Anschluß" der DDR diskriminiert, folgt der Argumentationslinie der SED/PDS; denn die Bezeichnung „Anschluß" wurde gerade von der SED zuerst und gezielt verwendet. Diese Bezeichnung ist für uns Deutsche eine Zumutung,
da der Begriff „Anschluß" bewußt benutzt wird, um eine Analogie zum Anschluß Österreichs 1938 herzustellen. Dies ist angesichts des historischen Augenblicks, den wir heute erleben und der von dem freien Willen der Deutschen geprägt ist, empörend und zugleich beschämend.
Art. 23 ist ein Angebot und kein Anschluß.Mit Ihrem Anschlußgerede blasen Sie übrigens in das Propagandahorn des Herrn Gysi, der erst jetzt wieder den Unsinn von dem angeblich gebückten Gang geredet hat, mit dem die DDR in den Anschluß gezwungen werde.Meine Damen und Herren, die Bürger in der DDR haben weiß Gott keinen Grund zum gebückten Gang. Sie haben sich in einer großartigen friedlichen Revolution befreit. Sie gehen erhobenen Hauptes zu uns in eine gemeinsam geformte Bundesrepublik Deutschland. Ich finde es empörend, wenn Herr Gysi, dessen Partei gerade dabei ist, die Extrawürste für die eigenen Funktionäre zu retten, in der Weise argumentiert, wie das jetzt geschieht. Dabei könnte man doch gerade den Funktionären dieser Partei empfehlen, mit Reue und Buße den Weg in die gemeinsame Zukunft Deutschlands anzutreten. Das wäre eine anständige Haltung. Aber so, wie sich diese Leute heute benehmen, ist es eine dreiste Unverschämtheit.Bei dem Beitritt handelt es sich gerade nicht — wie schon gesagt — um eine Vereinnahmung. Der Weg zur Einheit ist für die DDR kein Weg nach Canossa. Vielmehr ist die Wahrheit das Gegenteil. Die Entscheidung über den Beitritt ist allein Sache der DDR.
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16330 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Böhm
Sie erfolgt in freier Selbstbestimmung der Deutschen in der DDR. Der Beitritt ist die Manifestation der politischen Freiheit und des nationalen Einheitswillens der Deutschen in der DDR, nicht ihre angebliche Überwältigung durch die Bundesrepublik Deutschland.Der Beitritt verhindert keinesfalls Anpassungsspielräume, um die näheren zeitlichen und gesetzlichen Qualitäten im Sinne von Übergangsregelungen zu klären. Das wird im Zuge der Beitrittsverhandlungen geschehen. Die in dem Antrag der GRÜNEN vorgesehene Volksabstimmung in der Bundesrepublik und in der DDR zur Wiedervereinigung zeugt von einer impertinenten Bevormundung der Menschen in der DDR. Allein die DDR und nicht wir vom Deutschen Bundestag entscheiden darüber, ob der Beitritt der DDR von der Volkskammer erklärt wird oder ein Volksentscheid erfolgt. Im übrigen hätte die DDR in der verfassungsgebenden Versammlung nur rund ein Fünftel der Stimmen, während es bei einen Beitritt nach Art. 23 Verhandlungen zwischen gleichberechtigten Partnern gibt, die auch ihre besonderen Erfahrungen mit einbringen können. Der Weg zur Wiedervereinigung von DDR und Bundesrepublik Deutschland über Art. 23 ist daher für alle vorteilhafter. Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, können uns von diesem Weg nicht abbringen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich ganz kurz zu dieser späten Stunde sagen: Der Antrag der GRÜNEN ist ein Beitrag zur Diskussion über die Frage, wie wir zur staatlichen Einheit kommen, die wir alle wollen. Mein erster Satz soll sein: Ich halte es für gut, daß in diesem Haus die Möglichkeit besteht, daß Anträge auch überwiesen werden können. Wenn es diese Möglichkeit nicht gäbe, müßte man diesen Antrag — so leid mir das für einige seiner Punkte täte — ablehnen. Denn er vermischt zwei richtige, vernünftige Gedanken mit zwei Gedanken, die man nicht weiterverfolgen sollte. Diese Gedanken sollten Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, auch fallen lassen.
Welches sind die zwei vernünftigen Ansätze?
Erstens. Die Einheit, auch die staatsrechtliche Einheit, darf nicht über den Kopf von Parlament und Volk hinweg stattfinden. Ein Überstülpen gibt es nicht. Partnerschaft ist gefragt.
Zweitens. Eine gesamtdeutsche Verfassung — Herr Böhm, darin werden Sie mir hoffentlich zustimmen — muß von den Bürgerinnen und Bürgern des neuen geeinten Deutschlands auch gebilligt werden, d. h. eine Volksabstimmung ist nötig.
Lassen Sie mich auch die zwei unvernünftigen Punkte nennen, Herr Häfner. Es ist zum einen Ihre Auffassung, daß über die Entscheidung zwischen Einheit und Konföderation noch abzustimmen wäre. Diese Entscheidung ist längst gefallen. Dazu brauchen wir keine Volksabstimmung mehr.
Der zweite Punkt betrifft den müßigen und verbal radikalen Streit über das Verfahren nach Art. 23 oder Art. 146. Herr Kollege Böhm, mir tat es ein bißchen leid, daß Sie darauf eingegangen sind. Es ist doch so: Art. 23 bedeutet weder Anschluß, noch setzt er zwangsläufig voraus, daß das Grundgesetz irgendwo unverändert in Kraft gesetzt werden muß. Vielmehr sind Vereinbarungen möglich. Herr Böhm, es ist sogar eine Vereinbarung über eine Volksabstimmung möglich. Art. 146 sagt überhaupt nichts über das Verfahren. Dieser Artikel bedeutet auch nicht, daß man eine lange Dauer vorsehen oder eine völlig neue Verfassung erarbeiten müßte. Das heißt, hier wäre ebenfalls als Grundlage das Grundgesetz mit der einen oder anderen Änderung denkbar. Richtig ist, diesen müßigen Streit aufzugeben und zu überlegen, was uns wichtig ist. Wir sagen: Partnerschaftliche Ausarbeitung, Volksabstimmung über die neue gesamtdeutsche Verfassung und ein Weg des gestreckten Art. 23 mit der Folge des Art. 146. Lassen Sie uns in den nächsten Wochen darüber reden. Dann haben wir alle, auch die Bürgerinnen und Bürger des hoffentlich bald geeinten Gesamtdeutschlands, etwas davon.
Herzlichen Dank.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Frau Däubler-Gmelin hat mich in eine furchtbare Lage gebracht. Sie hat mir nämlich eine Wette darüber angeboten, wer von uns beiden es kürzer schafft. Dem bin ich nicht nur wegen der Geschwindigkeit, in der sie ihre vorzüglichen Gedanken vortragen kann, sondern auch wegen der absolut verbrauchten Zeit, wie ich fürchte, nicht ganz gewachsen. Ich will es aber mit Rücksicht auf die bekannten Umstände, jedenfalls die für uns hier sichtbaren Umstände dieser Sitzung versuchen.Zum Thema des Anschlusses ist hier einiges gesagt worden. Besonders auffallend, Herr Häfner, ist doch, daß — vorsichtig gesagt — weiteste Teile der GRÜNEN die politische Richtung in dieser Republik repräsentiert oder jedenfalls darzustellen vorgegeben haben, die von einer Einheit Deutschlands, die von einer Wiedervereinigung dieser beiden Staaten zunächst überhaupt nichts wissen wollte.
Wir wollen Ihnen doch nicht wenige Wochen später durchgehen lassen, daß Sie alles getan haben, um dort in einer Art von Terrarium ohne Rücksicht auf die lebendigen Interessen der Bürger Ideen von einem wie auch immer gearteten utopischen Sozialismus sich weiterentwickeln zu lassen, statt sich den deutlichst vorgetragenen Wünschen der Bürger anzunähern.
Wenn Sie in diesem Zusammenhang hergehen und sagen, dieser Prozeß einer Herbeiführung der Einheit solle nicht von oben, sondern von unten erfolgen, dann muß man sich doch wirklich fragen, wo Sie und Ihre zur Zeit abwesenden Freunde ihre Augen und Ohren hatten, als sich die Menschen zu Millionen
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Kleinert
hierher in Bewegung gesetzt haben, weil sie es so wie bisher nicht mehr haben wollten, sondern weil sie hierherkommen wollten — mit allen Konsequenzen einschließlich unserer rechtsstaatlichen Verfassung.
Zugegeben — Herr Böhm hat darauf hingewiesen —, Sie haben Ihren Antrag schon wenige Tage vor der entscheidenden Wahl in der DDR fabriziert. Aber dann müssen Sie auch gesehen haben, wie diese Abstimmung von unten, erstmals geheim, jeder einzelne für sich und von niemandem gegängelt, ausgefallen ist. Sie können die Dinge dann doch nicht nachträglich in so unverschämter Weise umdrehen, wie Sie es hier tun, wenn Sie sagen: nicht von oben, sondern von unten.Genau das Gegenteil ist der Fall — auch das ist hier schon gesagt worden — : Mit Art. 23 liegt ein Angebot vor. Wir können den Vorgang nicht beeinflussen. Wir haben dies nicht nur in allen Phasen dieses ungewöhnlich überraschenden und plötzlichen Prozesses gesagt, sondern wir sind auch weiterhin entschlossen, uns daran zu halten.
Also liegt die Entscheidung sowohl über das Ob als auch über das Wie auf der anderen Seite und nicht etwa bei uns. Woher kommen dann Ihre Verdächtigungen?Natürlich hat Frau Däubler-Gmelin recht, wenn sie sagt: um Gottes willen keine Spitzfindigkeiten. Diese werden den Juristen immer gern unterstellt, aber die etwas besseren Juristen sollten auch gelernt haben, sie zu vermeiden und nicht das große Ganze zu vergessen.Frau Däubler-Gmelin hat natürlich recht, wenn sie sagt: Man kann Art. 23 so strecken, daß dabei — mindestens theoretisch, möchte ich betonen — eine fast neue Verfassung herauskommen könnte, und man kann Art. 146 vom Verfahren und vom Inhalt etwaiger Änderungen her so verkürzen, daß er dem vom Art. 23 meist vermuteten Ergebnis verzweifelt ähnlich ist. Dieser Streit führt also kein bißchen weiter; vielmehr besteht volle Übereinstimmung.Ob man dann allerdings hinterher über das in Verhandlungen zweier gleichberechtigter Partner zustande gekommene Ergebnis noch einmal gesondert abstimmen lassen muß oder ob es nach der Natur des Aufeinanderzugehens und nach dem Ergebnis der Verhandlungen nicht genügt, in einer gleichzeitig von allen Deutschen vorgenommenen freien Wahl das Ergebnis der Verhandlungen zugleich mit der Wahl einer gemeinsamen Volksvertretung zu bestätigen, ist eine Frage, die wiederum in erster Linie von den Bürgern der DDR zu entscheiden ist und über die wir uns deshalb heute abend nicht weiter zerstreiten wollen.
Die Freien Demokraten sind allerdings der Meinung, daß es ganz wichtig ist, daß wir in jedem Fall den Neuanfang so deutlich markieren — das läuft ja dann von der äußeren Darstellung in etwa auf dasselbe hinaus — , daß eine gleichzeitige gemeinsame Wahl aller Deutschen dieses geschichtliche Ergebnis besiegelt. Dann kriegen alle einzelnen, die hier und die drüben Vertretenen, bei dieser Gelegenheit auf ganz differenzierte Weise die Noten für ihre Beteiligung nicht nur an dem Vorgang der Veränderung der Verfassung, sondern auch an dem Vorgang der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten. Gerechter, überzeugender, treffsicherer geht es überhaupt nicht.
Aber vielleicht haben Sie sich davor ja gar nicht zu fürchten. Oder muß man aus der Tatsache, daß Sie diesen Antrag hier neuerdings mit so viel Verve entgegen dem erkennbaren Willen der Bürger der DDR vertreten, etwa schließen, daß Sie Ihre frühere Gegnerschaft gegen die Herbeiführung der Einigung jetzt auf einem besonders raffinierten rechtlichen Weg fortsetzen wollen? Das ist ja immerhin ein interessanter Gedanke, weil man anders Ihrem Antrag wenig innere Logik abgewinnen kann.An solchen Übungen wollen wir Sie allerdings einvernehmlich mit den Bürgern der DDR nach allen Kräften hindern.Herzlichen Dank.
Der Präsident darf den Inhalt Ihrer Rede, Herr Abgeordneter Kleinert, nicht bewerten. Aber was die Länge anlangt, haben Sie die Wette verloren.
Nun hat die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Frau Dr. Wilms, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz kennt, wie wir nun mehrmals auch heute abend hier gehört haben, zwei Wege zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit: über den Art. 23 Satz 2 und über den Art. 146. Das Grundgesetz kennt aber keine Volksabstimmung über das Ob der Vereinigung.
Sowohl in der Präambel
wie in den soeben erwähnten Art. 23 und 146
wird die Vereinigung postuliert.
Insoweit geht der Antrag der GRÜNEN am Grundgesetz vorbei. Ein Beitritt nach Art. 23 schließt keineswegs aus, daß berechtigte Interessen — —
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16332 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990
Bundesminister Frau Dr. Wilms— Das Grundgesetz postuliert die Vereinigung! Sehen Sie sich bitte die Präambel an.
— Ich darf fortfahren.
Ich denke, vielleicht führt der späte Abend zu dieser Debatte.
Ich denke, ein Beitritt nach Art. 23 schließt keineswegs aus,
— ich glaube, das tue ich — daß berechtigte Interessen der Menschen in der DDR an Übergangsfristen und Anpassungsregelungen Berücksichtigung finden. Dies wird in der Diskussion auch bei Ihnen, den GRÜNEN, tunlichst verschwiegen.
Die Eingliederung des Saarlands hat sich über mehrere Jahre vollzogen. Gerade dieses historische Beispiel lehrt, daß es sich damals um einen organischen, sorgfältig abgestuften Prozeß in freier Selbstbestimmung handelte.
Ich denke, daß sich die DDR-Bevölkerung am 18. März zu einem solchen selbstbestimmten Weg in einer mehrheitlichen Entscheidung bekannt hat.
Nicht wir wollen die DDR im Weg eines „Anschlusses" vereinnahmen, sondern es ist die Bevölkerung der DDR, die sich mit uns vereinigen will. Die Mehrheit der Bevölkerung — es waren drei Viertel — hat am 18. März für Parteien votiert, die sich ganz klar für das Ziel der Einheit eingesetzt haben. Die die Regierung der DDR tragenden Parteien haben in ihrer Koalitionsvereinbarung vom 12. April ausdrücklich die Einheit Deutschlands auf der Grundlage des Art. 23 als Koalitionsziel festgeschrieben und damit dem Wahlergebnis Rechnung getragen.
Dementsprechend hat Ministerpräsident de Maizière in seiner Regierungserklärung vom 19. April 1990 erklärt, die Verwirklichung — ich zitiere jetzt — „der Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Art. 23 des Grundgesetzes" gewährleiste am besten die Wahrung des Interesses der DDR-Bevölkerung „an Tempo und Qualität" der Vereinigung.Mit Ihrer Ablehnung des Beitritts nach Art. 23 stehen Sie daher gegen die Willenserklärung einer demokratisch legitimierten Regierung in der DDR,
eine Regierungserklärung, die die breite Zustimmung der Mehrheit der Volkskammer gefunden hat.
Wenn Sie, Herr Häfner, mit Ihrem Antrag „Beitritt" mit „Übernahme" gleichsetzen — Sie tun das, was man sieht, wenn man den Text sorgfältig liest —, so ist das nicht nur eine eindeutige Verfälschung der eben dargestellten politischen Realitäten, sondern auch ein schludriger Umgang mit der deutschen Sprache.
Denn auch Ihnen dürfte nicht verborgen geblieben sein, daß der Art. 23 die Initiative zur Vereinigung nicht der Bundesrepublik Deutschland, sondern dem anderen Teil Deutschlands in freier Selbstbestimmung zuweist.
Nicht unwichtig ist — dies sollte heute abend hier auch Erwähnung finden; Sie haben es, glaube ich, schon gesagt, Herr Kollege Böhm — , daß bei einem Beitritt über Art. 23 die Mitgliedschaft in der EG und die Ausgestaltung dieser Mitgliedschaft auch für Gesamtdeutschland unverändert fortbestehen würden. Der komplizierte Mechanismus der Aufnahme eines neuen EG-Mitgliedstaates mit seinen mancherlei politischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten brauchte dann nicht in Gang gesetzt zu werden; lediglich das sekundäre Gemeinschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft wäre anzupassen. Von daher begrüße ich es außerordentlich, daß die EG-Kommission und Präsident Jacques Delors wiederholt ihre Präferenz für die Vereinigung Deutschlands nach Art. 23 betont haben.Sie sagen in Ihrem Antrag, Herr Häfner, daß das Grundgesetz für eine Ordnung stehe, die — ich zitiere — allzusehr erstarrt ist. Ich denke, das Grundgesetz ist das Modell, das seit über 40 Jahren im Westen unseres gemeinsamen Vaterlandes die Entfaltung einer pluralistischen freiheitlichen Gesellschaft wie nie zuvor in der deutschen Geschichte bewerkstelligt hat.
Das Grundgesetz ist eine bewährte Verfassung, die darüber hinaus weltweite Anerkennung genießt, und es ist eben nicht, wie der Antrag und die Begründung des Antrages suggerieren wollen, eine überholte Verfassung auf dem Stand von 1949.Das Grundgesetz wurde durch zahlreiche Änderungen und die interpretierende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ständig weiterentwickelt,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 207. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. April 1990 16333
Bundesminister Frau Dr. Wilmsohne daß seine Grundentscheidungen revidiert wurden. Es bildet daher nach unserer Auffassung für die erfolgreiche Bewältigung der gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben eine solide und verläßliche Grundlage.
Gestatten Sie mir auch noch an dieser Stelle ein Wort zu der angeblichen Ausschaltung des Volkswillens der bundesdeutschen Bevölkerung bei einer Vereinigung nach Art. 23. Das Grundgesetz zielt auf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, und Art. 23 ist ein Angebot an die anderen Teile Deutschlands, die Einheit durch ihren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes herzustellen. Dieses Angebot steht als untrennbarer Teil des Bekenntnisses des Grundgesetzes zur Einheit Deutschlands eben nicht zur Disposition. Ich sehe auch politisch nicht das geringste Anzeichen dafür, daß unsere Bevölkerung heute nicht mehr zu diesem Angebot der Wiedervereinigung stände.
Ganz im Gegenteil, die Zustimmung zur deutschen Einheit ist gerade in den letzten Monaten deutlich gewachsen, wie alle demoskopischen Ergebnisse ausweisen.Wer angesichts dieser Tatsachen immer noch behauptet, ein Beitritt der DDR nach Art. 23 des Grundgesetzes entbehre der notwendigen demokratischen Legitimation, der hat, glaube ich, das Wesen der parlamentarischen Demokratie nicht verstanden. Er muß sich vielmehr fragen lassen, ob es ihm unter dem Vorwand der Sorge um den richtigen Weg zur deutschen Einheit nicht vielmehr darum geht — auch dieser Verdacht ist eben vom Kollegen Böhm schon einmal geäußert worden —, ob es Ihnen, Herr Häfner, nicht vielmehr darum geht, langgehegte andere politischeZiele auf diesem Wege durchzusetzen, Ziele, für die Ihnen bisher unter der Geltung des Grundgesetzes die erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten fehlten.
Die Bundesregierung wird daher gemeinsam mit der frei gewählten Regierung der DDR den Weg der staatlichen Einheit über Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes suchen. Sie weiß sich dabei von der Mehrheit in beiden frei gewählten deutschen Parlamenten und auch in der deutschen Bevölkerung getragen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung der Vorlage der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6719 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich möchte es nicht versäumen, mich bei denjenigen zu bedanken, die so lange ausgeharrt haben, und Ihnen einen angenehmen Restabend zu wünschen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 27. April 1990, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.