Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich folgendes bekannt. Interfraktionell besteht Einvernehmen, an Stelle der unter Tagesordnungspunkt 22 vorgesehenen Beratung gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zum Entwurf eines Biokennzeichnungsgesetzes für Lebensmittel heute bereits in die zweite und dritte Beratung einzutreten. Die Beschlußempfehlung und der Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten liegt Ihnen auf Drucksache 11/6598 vor. Von der Frist für die Beratung soll abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3, Zusatzpunkt 4 und den weiteren Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Deutschland und Polen
— Drucksache 11/6579 —
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze
— Drucksache 11/6591 —
ZP Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Garantie der polnischen Westgrenze
— Drucksache 11/6611 —
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung zwei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Bötsch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von deutschem Boden wird niemals Krieg ausgehen, nein, von deutschem Boden soll für immer Frieden ausgehen. Das ist das Bestreben des deutschen Volkes, das nach über vier Jahrzehnten die Wiedervereinigung vor Augen sieht.In diesem Zusammenhang möchte ich an die Charta der Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 erinnern, wo es heißt:Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.Meine Damen und Herren, wenn ich hier die großartige Charta der Heimatvertriebenen zitiert habe, so gelten diese Worte heute weiter.Auch im ersten Satz der Präambel zu unserem Grundgesetz findet sich als Maxime Frieden in Europa. Diese Maxime wurde zur Richtschnur des politischen Handels aller Bundesregierungen seit Konrad Adenauer. Eine weitere Maxime in der Präambel ist die Einheit. Die Freiheit gehört mit dazu. Deshalb war unsere Politik immer auf ein Ziel gerichtet: ein einiges Deutschland in Frieden und Freiheit.
Nicht ein geteiltes, sondern ein geeintes Europa ist der Garant des Friedens. Ein einiges, stabiles Europa ist auf Dauer nur mit einem einigen Deutschland möglich.Das Grundgesetz ist eine demokratische freiheitliche und friedenstiftende Verfassung. Es gilt seit über 40 Jahren. Wir Deutsche haben in dieser Zeit bewiesen, daß wir ein friedfertiges und friedliebendes Volk sind. Das Grundgesetz ist auch die richtige Verfassung für ein wiedervereinigtes Deutschland.
Daran läßt diese Koalition keinen Zweifel. Ich freue mich, daß sich nach dem gestrigen Tag offensichtlich auch die Opposition dieser Meinung annähert.
— Wenn es nicht so ist, dann müßten Sie es hier noch einmal anders sagen. Dann müßten wir uns erneut über diese Frage auseinandersetzen.
„Vor einem friedfertigen demokratischen deutschen Staat müssen die Nachbarn keine Angst haben, und mag er noch so groß sein, wie er will. " Das sagte
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15406 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Dr. BötschVaclav Havel bei seinem ersten Auslandsbesuch als Präsident der Tschechoslowakei in Ost-Berlin.Um diesen demokratischen Staat zum Wohle seiner Bürger im Innern zu gestalten — ich betone: im Innern zu gestalten — , brauchen wir auch nicht die Nachhilfe irgendeines großen Bruders im Osten.
Es ist schon ein starkes Stück, wenn Herr Modrow seit dem 19. Dezember seine Hausaufgaben nur sehr unzureichend gemacht hat
und jetzt — ich zitiere — „die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken mit ihren Rechten als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs
in bezug auf ein späteres Gesamtdeutschland sowie unter Nutzung ihres bedeutenden internationalen Einflusses für die Sicherung der Eigentumsverhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik eintritt".
Meine Damen und Herren, das deutsche Volk ist willens und in der Lage, seine inneren Verhältnisse selbst zu regeln.
Es bedarf dazu weder der Vorstellungen eines offensichtlich noch in seiner Vergangenheit lebenden SED-Mannes noch der brüderlichen Hilfe von außen. Herr Modrow tritt als Biedermann auf,
in Wirklichkeit betätigt er sich aber in ganz anderer Funktion, meine Damen und Herren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die politischen Entwicklungen der letzten Monate haben ein Tor aufgestoßen.
Was noch vor einem Jahr als Vision erschien, ist jetzt greifbar nahe. Wir Deutschen sind uns unserer Verantwortung in dem begonnenen und über Deutschland hinausreichenden Einigungsprozeß, der ein Friedensprozeß ist, bewußt.Der Fortgang der Aussöhnung mit Polen hat deshalb für uns eine hohe politische Priorität. Meine Damen und Herren, die endgültige Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen, die Aufarbeitung gemeinsamer und gegenseitig zugefügter Leiden ist in den letzten Jahren erheblich gewachsen.
Ganz entscheidende Schritte dafür sind durch die neuen politischen Kräfte in Polen erfolgt. Die Politiker der Solidaritätsbewegung haben das Tabu der Existenz von Deutschen im polnischen Machtbereich gebrochen und ihre Geschichte und ihr Recht auf ihre kulturelle Identität anerkannt —
ein entscheidender Schritt gegenüber der Politik der Kommunisten in Polen! Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, das sollten Sie sich auch merken.
Noch wichtiger und noch mutiger waren die Feststellungen, daß nicht nur den Polen, sondern auch den Deutschen bitteres Unrecht zugefügt wurde,
die Schuldverstrickung nicht einseitig verteilt ist, wie führende Politiker der Solidarnosc wiederholt erklärt haben. Die Leistung dieser aufrechten und mutigen Politiker auch in Polen wird bei uns leider kaum beachtet; denn in Polen versuchen die Kommunisten jetzt, gegen sie mit nationalen Kampagnen Stimmung zu machen.
Daran sieht man, der Weg der Aussöhnung ist mühsam; er ist es aber wert, daß wir ihn gehen. Die feierlich am 14. November 1989 in Warschau von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki unterschriebene gemeinsame deutschpolnische Erklärung ist dafür die Basis.Die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen haben sich in diesem Dokument unmißverständlich für eine Politik des Friedens, der Verständigung und der Zusammenarbeit im Interesse der Menschen und Völker in Europa ausgesprochen. Beide zeigen sich entschlossen, ihre Beziehungen im Gedenken an die tragischen und schmerzlichen Seiten der Geschichte zukunftsgewandt zu gestalten und damit ein Beispiel für gute Nachbarschaft zu geben. An die Adresse der Bürgerinnen und Bürger in Polen gerichtet, sage ich eindeutig: Wir wollen zu Ihnen enge und freundschaftliche Beziehungen.Auf Antrag der CDU/CSU und der FDP hat der Deutsche Bundestag dies sechs Tage vor Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zum wiederholten Male bekundet. In der vom Bundestag am 8. November 1989 gefaßten Entschließung heißt es:Das polnische Volk ... soll wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.... Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa.Soweit der damalige Beschluß.Meine Damen und Herren, vor fast genau vier Monaten wurde die Mauer geöffnet und die Grenze zwischen Deutschland in Deutschland durchlässig gemacht. Zu diesem Zeitpunkt haben unsere Landsleute
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15407
Dr. Bötschin der DDR in einer friedlichen Revolution dem SED-Unterdrückungsregime den Todesstoß versetzt. Seitdem ist viel geschehen.In zehn Tagen finden die ersten freien Wahlen in der DDR statt. Der dringende Wunsch des deutschen Volkes nach Einheit hat sich unmißverständlich ausgedrückt. An der Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsunion wird gearbeitet. Für Verhandlungen beider deutschen Staaten mit den Vier Mächten ist der Weg bereitet.In dieser Situation wollen wir entsprechend den Prinzipien der KSZE-Schlußakte die Unverletzlichkeit der Grenzen gegenüber Polen als unverzichtbare Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa noch einmal bekräftigen und unsere Absicht bekunden, in diesem Sinne die Grenzfrage in einem Vertrag zwischen einer gesamtdeutschen Regierung und der polnischen Regierung zu regeln, der die Aussöhnung zwischen beiden Völkern besiegelt.Die Gültigkeit der Gemeinsamen Erklärung vom 14. November 1989 bleibt davon unberührt. Darin sind sich beide Staaten einig, daß Personen und Bevölkerungsgruppen, die deutscher bzw. polnischer Abstammung sind oder die sich zur Sprache, Kultur oder Tradition der jeweils anderen Seite bekennen, ihre kulturelle Identität wahren und entfalten können.Meine Damen und Herren, zum Aussöhnungsprozeß gehört auch, daß mehr als 44 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs das gelten muß, was am 23. August 1953 gegolten hat, als Polen gegenüber Deutschland, nicht nur gegenüber der DDR, auf Reparationen verzichtete, und darunter fallen nach allgemeinem Verständnis im Völkerrecht staatliche Kriegsentschädigungsforderungen ebenso wie Forderungen von Privatpersonen.Es ist an der Zeit, die Beziehungen zwischen allen europäischen Staaten nicht rückblickend, sondern vorausblickend zu gestalten. Freundschaftlich und solidarisch sind wir bereit, den Aufbauprozeß Polens in Frieden und Freiheit zu unterstützen. Die zahlreichen bis heute mit der Regierung Mazowiecki unterzeichneten Abkommen beweisen dies.Wir wissen, daß wir damit zugleich am Zustandekommen eines einigen Europas arbeiten, das den Menschen Frieden, Freiheit, demokratische Grundrechte und Wohlstand sichert. In diesem einigen Europa werden die Grenzen ihr Trennendes verlieren. Wir wollen Grenzen, die verbinden und die praktisch nicht mehr wahrgenommen werden. Das soll für uns keine unerfüllte Vision sein, kein Traum, der nie Wirklichkeit wird, nein, wir haben die politische Aufgabe, wir haben die Pflicht, unseren Beitrag dazu zu leisten, daß er für alle Menschen erlebte und gelebte Wirklichkeit wird. In diesem Sinne bitte ich Sie, dem vorliegenden Entschließungsantrag der CDU/CSU und der FDP zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem Grundgesetz ist es die Pflicht des Bundeskanzlers, den Nutzen des Deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden.
— Der Beifall ist verfrüht. Sie sollen jetzt, beim zweiten Satz, klatschen,
und der lautet: Selten hat ein Bundeskanzler dieser Pflicht so zuwider gehandelt wie Bundeskanzler Kohl in den letzten Tagen und Wochen in der Frage der polnischen Westgrenze.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben Vertrauen zerstört, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter Ihren Amtsvorgängern, von Konrad Adenauer bis Willy Brandt und Helmut Schmidt, in gemeinsamer Anstrengung mühsam genug aufgebaut worden ist. Sie haben ohne irgendeinen vernünftigen Grund das Thema deutscher Reparationszahlungen herb eigeredet und auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Sie sind Ihrem Außenminister und dessen anerkennenswerten Bemühungen um ein günstiges Klima für den Prozeß der deutschen Einigung in den Rücken gefallen, und Sie haben dadurch den Einigungsprozeß in spürbarer Weise belastet.
Der Deutsche Bundestag hat auf unsere Initiative hin am 8. November 1989 mit sehr großer Mehrheit eine Erklärung beschlossen, deren Kernsatz lautet:Das polnische Volk soll wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.Es war schon schlimm genug, daß Sie danach mit unklaren und widersprüchlichen Äußerungen immer wieder Zweifel daran geweckt haben, ob es Ihnen mit dieser Erklärung eigentlich wirklich ernst ist, daß Sie auf präzise Fragen immer wieder mit Ausführungen antworteten, die dahin verstanden wurden, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen, für ein vereinigtes Deutschland komme auch noch eine andere Lösung der Grenzfrage in Betracht. Es war schlimm genug, daß Sie sich lange sogar dem Vorschlag von Frau Kollegin Süssmuth, die Parlamente der beiden deutschen Staaten sollten alsbald nach dem 18. März 1990 übereinstimmende Garantieerklärungen abgeben, widersetzten und sie auf das Schärfste kritisieren ließen.Vollends unverantwortlich, Herr Bundeskanzler, ist es aber, daß Sie am vergangenen Freitag die Frage der
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Dr. VogelAnerkennung der polnischen Westgrenze mit Bedingungen verknüpft haben,
nach denen Polen auf Reparationen verzichten und die Rechte der deutschen Minderheit gewährleisten soll.
Was, in Gottes Namen, hat Sie eigentlich bewogen, von sich aus das Thema neuer deutscher Reparationen aufzuwerfen? Wissen Sie eigentlich, wovon Sie reden,
welches Stichwort Sie damit in alle Welt hinausposaunt haben und welche Angst Sie damit gerade den Deutschen in der DDR einjagen, die wahrlich genug Reparationen bezahlt haben?
Verstehen Sie denn nicht, daß es geradezu als Einladung aufgefaßt wird, wenn ausgerechnet der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland jetzt anfängt, von deutschen Reparationen zu reden?
Jetzt schreiben Sie in Ihrem Entschließungsentwurf :
Der Verzicht Polens auf Reparationen gegenüber Deutschland vom 23. August 1953 und die gemeinsame Erklärung von Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl vom 14. November 1989 bleiben auch für das vereinte Deutschland gültig.Wußten Sie das am letzten Freitag noch nicht, daß diese Vereinbarungen gültig bleiben? Ist Ihnen das erst über das Wochenende eingefallen? Oder — und das kann man ja bei Ihrem Verhalten in dieser Frage nicht ausschließen — ist das etwa insgeheim doch wieder als Bedingung für die Anerkennung gemeint?
So haben Sie es doch am Freitag ausdrücklich formuliert. Bedingung heißt aber, daß Sie eben nicht endgültig zur Anerkennung der Grenze entschlossen sind — oder jedenfalls waren —, daß Sie die Anerkennung verweigern wollen, wenn Ihre Bedingungen nicht erfüllt werden. So hat es doch Ihr eigener neben Ihnen sitzender Außenminister verstanden, und deshalb hat er erfreulicherweise auch so entschieden Widerstand geleistet.Können Sie sich denn wirklich über das Echo außerhalb der Bundesrepublik wundern, insbesondere dann, wenn Parteifreunde von Ihnen gleichzeitig, ohne daß Sie ein Wort des Widerspruchs hören lassen, von Polen verlangen, man solle sich in der Grenzfrage in der Mitte — wohlgemerkt: geographisch in derMitte — treffen? Ich frage Sie: Was wollen Sie und Ihre Parteifreunde eigentlich dem polnischen Volk, das wie wenige andere unter dem von Hitler entfesselten Krieg gelitten hat, noch alles zumuten?
Das internationale Echo auf Ihre persönliche Diplomatie war ja dann auch geradezu vernichtend:
„Geschmackloser Handel", „Plumpe Geste", „Provozierende Entgleisung", „Sinnloses und kurzsichtiges Spiel" , „Weiteres Eigentor von Kohl" , „Kohl mehr Krämer als Staatsmann", das sind noch die freundlicheren Überschriften der internationalen Presse.
Das sind noch die freundlicheren Überschriften der Presse.
Zu den Auswirkungen Ihrer persönlichen Diplomatie heißt es unter anderem in der internationalen Presse — und ich zitiere nur Zeitungen, die Sie sonst üblicherweise hier zitieren — : „Kohl schädigt den Ruf der Deutschen" , „Kohl ist dabei, den guten Willen seiner Umwelt in Sachen deutscher Frage zu verspielen", „Was Kohl in Bonn da zusammenbraut, nährt den Argwohn in anderen Hauptstädten" oder: „Kohl weckt alte Ängste vor deutschem Nationalismus" oder: „Kohl bringt die Polen in Harnisch und zugleich den Rest von Europa und die USA gegen sich auf " . Das alles ist leider wahr.Aber es sind ja nicht nur die Zeitungen; es sind inzwischen auch unsere Freunde, Verbündeten und Nachbarn. Herr Dumas, der französische Außenminister, ruft Sie in Berlin in öffentlicher Rede zur Ordnung.
Herr Delors äußert seine Besorgnis.
Meine Damen und Herren, der engste Mitarbeiter von Herrn Kohl hat gesagt, Herr Schewardnadse und die sowjetische Führung werden sich noch wundern, was in Deutschland alles geschehe.
— Sie mit Ihrem Gelächter werden sich noch wundern, was Sie im Ausland mit dieser Politik und dieser Haltung angerichtet haben.
Herr Delors äußert seine Besorgnis. In den Vereinigten Staaten bringt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Senats einen Tadelsantrag ein. Aus Moskau kommen immer deutlichere Warnungen. Und
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Dr. VogelFrau Thatcher, der wir gemeinsam entgegengetreten sind, fühlt sich im nachhinein bestätigt.
— Ihre Heiterkeit ist eindrucksvoll, und sie wird sich möglicherweise noch verstärken, wenn ich sage: Verglichen mit diesen außenpolitischen Aktivitäten des Bundeskanzlers, erscheint der sprichwörtliche Elefant geradezu als Ballettänzer!
Aber die Sache ist gar nicht heiter. Die Sache ist bitter ernst. Sie gefährden nämlich den Prozeß der deutschen Einigung in seiner sensibelsten Phase. Sie verschleudern das Vertrauen, das sich das deutsche Volk nach dem Zweiten Weltkrieg bei unseren Nachbarn und in der Welt Schritt für Schritt erworben hat. Vor allem auch durch unsere Ostpolitik im Rahmen des gegen Ihren Widerstand in Gang gekommenen Helsinki-Prozesses. Das Vertrauen, das wir gerade jetzt dringender denn je brauchen, damit unsere Nachbarn das vereinigte Deutschland bejahen und ihm nicht widerstrebend und mit wachsendem Mißtrauen begegnen. Es wäre eine fatale Fehleinschätzung, wenn man im Bundeskanzleramt glauben wollte, auf unsere Nachbarn käme es gar nicht mehr an, es sei ja alles schon gelaufen.Herr Bundeskanzler, Sie gebärden sich gerne als Vorkämpfer der deutschen Einigung. In Wahrheit haben Sie durch Ihr Verhalten in der Frage der polnischen Westgrenze diese Einigung gefährdet.
Wenn jetzt wieder vom häßlichen Deutschen die Rede ist, wenn es jetzt zu Verzögerungen kommt, wenn die Konferenzen und Konsultationen schwieriger verlaufen, wenn die Menschen in der DDR auch deshalb zunehmend Sorgen haben, dann ist das Ihre Schuld.
Die Schwierigkeiten wachsen ja auch schon. Der Kreis derer, die in der deutschen Frage mitbestimmen wollen, weitet sich aus. Der italienische Ministerpräsident beispielsweise
ist aus Washington bereits mit einer entsprechenden Zusage der US-Administration zurückgekehrt.Der „General-Anzeiger", weiß Gott keine Zeitung, die sozialdemokratischen Auffassungen nach dem Munde redet, hat gestern festgestellt: „Selten zuvor hat die vehemente publizistische Reaktion in Ost und West auf die Fehlleistung des Kanzlers die mögliche politische Einsamkeit der Deutschen so klar hervortreten lassen."Übrigens, mit Blick auf Ihre Aktivitäten in der DDR füge ich noch hinzu: Auch derjenige mißachtet die Gefühle und Wünsche der Menschen in der DDR, der von Einheit redet und gleichzeitig bei jeder Gelegenheit Zwietracht sät, und das tun Sie, Herr Bundeskanzler.
Es ist beschämend, daß Sie, Herr Bundeskanzler — und ich spreche Sie persönlich an — Ihren Wahlkampf in der DDR nicht in erster Linie gegen die alten Kräfte, gegen die SED und die mit ihnen vierzig Jahre verbundenen Blockparteien, insbesondere die Ost-CDU,
sondern mit der Ost-CSU zusammen mit schäbigen Verleumdungen gegen die dortige Sozialdemokratie führen. Ich weise das in aller Entschiedenheit zurück.
Jetzt legen Sie eine Entschließung vor, die weitgehend mit dem Antrag übereinstimmt, den wir schon am 17. Januar 1990 im Bundestag eingebracht haben; jetzt sagen Sie das, was wir schon lange sagen. Was wäre an Schaden vermieden worden, wenn Sie unseren Antrag schon damals angenommen und seitdem geschwiegen hätten! Auch die FDP muß sich übrigens fragen lassen, warum sie damals noch nicht zur Zustimmung bereit war.Bleibt die Frage, warum Sie das alles so gemacht haben, warum Sie eigentlich nie den Mut hatten, den Vertriebenen und ihren Nachkommen, deren Gefühle über ihre verlorene Heimat wir verstehen und teilen,
klipp und klar zu sagen, daß ihre Heimat nicht nach 1945 verlorengegangen ist, sondern daß ihre Heimat schon vor 50 Jahren von Adolf Hitler verspielt worden ist
und daß es jetzt allein darum geht, Grenzen durchlässiger zu machen, nicht, diese Grenzen zu verändern. Manche meinen, Sie tun das aus Ungeschicklichkeit oder tun es aus dem Bedürfnis, Ihren Außenminister einmal mehr beiseite zu drängen. Andere sagen, es gehe Ihnen um Wählerstimmen am rechten Rand. Ich fürchte, diese Vermutung ist von der Wahrheit nicht weit entfernt; sonst würden Sie ja auch nicht so beredt schweigen, wenn Herr Czaja, Mitglied Ihrer Partei und Fraktion, öffentlich äußert, in Ihrer Entschließung sei ja gar nicht gesagt, wo die sichere Grenze Polens verlaufe, und — man möchte es kaum glauben — hinzufügt, der Verzicht auf Gebietsansprüche beziehe sich nur auf solche Ansprüche, die über die Grenzen von 1937 hinausgehen. Und das ist ja nicht nur die Meinung von Herrn Czaja, das ist ja die Meinung der 26 CDU-Kollegen, die sich am 8. November in einer Erklärung zur Abstimmung diesem Standpunkt ausdrücklich angeschlossen haben.
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Dr. VogelSo entsteht der bedrückende Eindruck, dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sei die Rücksichtnahme auf Herrn Czaja und seine Anhänger wichtiger als das gute Einvernehmen mit unseren Nachbarn und damit die deutsche Einigung und die Interessen der weit überwiegenden Mehrheit unseres Volkes.
Die Situation, in der wir uns befinden, verlangt Behutsamkeit und Besonnenheit.
Sie verlangt im Grunde auch Kooperation über die Fraktions- und Parteigrenzen hinweg. Ich stelle fest: Mit dem Außenminister ist diese Kooperation in nicht wenigen Punkten möglich. Mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, nicht. Sie sind kein Faktor politischer Orientierung, Sie sind zu einem Faktor des politischen Risikos geworden.
Wer Sie unterstützt, erhöht das Risiko. Wer Ihnen entgegentritt, vermindert es. Wir treten Ihnen entgegen, und zwar mit aller Entschiedenheit — Deutschland, Europa und dem Frieden zuliebe.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Ronneburger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion und auch ich sind heute morgen in das Plenum des Bundestags gekommen, um uns mit der Frage der Aussöhnung zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk und mit der Frage der deutschen Einheit zu befassen. Die Rede, die wir soeben gehört haben, war keine Rede für Aussöhnung, sondern eine Rede, Herr Kollege Dr. Vogel,
zum Aufputschen und Verschärfen innenpolitischer Gegensätze.
Ich habe das mit großem Bedauern gehört, Herr Dr. Vogel. Ich fände es sehr schlimm, wenn der Deutsche Bundestag heute morgen die Chance verpassen würde, zu diesen entscheidenden Schicksalsfragen Europas,
aber auch unseres deutschen Volkes in aller Sachlichkeit und mit der Bereitschaft zum Abbau von Gegensätzen Stellung zu beziehen.
Ich hoffe, ich werde nicht falsch verstanden, wenn ich versuche, zu diesen beiden Themen zurückzuführen. Ich tue das zunächst einmal, indem ich einen französischen Staatsmann zitiere. Er hat einmal gesagt, die Situation in Europa könne nie besser sein als das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen. Nun kann ich mir durchaus vorstellen, daß es den einen oder anderen gibt, dem diese Absolutheit der Aussage zu weit zu gehen scheint. Es ist auch denkbar, daß es den einen oder anderen gibt, dem es zu weit geht, die Situation in Europa so ausschließlich mit dem Verhältnis Polen-Deutsche unter Ausklammerung unserer anderen osteuropäischen Nachbarn in Beziehung zu setzen. Aber unbestreitbar und unübersehbar ist doch wohl, daß in der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen der Schlüssel zur Lösung einer ganzen Reihe anderer Probleme zu finden ist. Der Schlüssel zum gemeinsamen europäischen Haus, der Schlüssel zum Tor zu einer friedlichen Entwicklung Europas liegt in dieser Aussöhnung, um die wir uns bemühen. Und heute bekräftigen wir mit einer weiteren Entschließung noch einmal, was unsere Auffassung, die Auffassung des Deutschen Bundestages, in dieser Frage ist.Aber was ich zu den beiden anderen europäischen Problemen gesagt habe, gilt wohl auch für die europäische Friedensordnung, für die Überwindung, nicht die Verschiebung von Grenzen. Damit liegt in dieser Frage auch der Ausgangspunkt für die Einigung des deutschen Volkes in einer nahen Zukunft und in einer Situation, in der wir das, wovon wir jahrzehntelang geträumt haben, greifbar nahe vor uns haben und die Deutschen in der DDR und wir eigentlich nur noch zuzugreifen brauchen, um das zu verwirklichen, was unser Traum war: Recht und Freiheit auch für die Deutschen jenseits der Grenze, die unser Land so lange schmerzlich geteilt hat.
Es geht um das Schicksal von Menschen. Es geht um das Schicksal der deutschen Nation, aber nicht nur um das Schicksal unserer Nation. Es geht um Freiheit und Verantwortung auf einem Wege, der uns in eine gute Zukunft in Europa führen kann. Es geht letzten Endes darum, ob wir, die wir in Freiheit leben, bereit sind, eine freie Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt zu treffen, der wir nicht ausweichen dürfen und ausweichen können. Es wird eine politische Entscheidung von uns verlangt.
Die Entscheidung des Deutschen Bundestages sollte eigentlich deutlich machen — das hoffe ich von ganzem Herzen — , daß es über parteipolitische Kontroversen hinweg unter den Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland in einer Schicksalsfrage der Deutschen Übereinstimmung und Gemeinsamkeit gibt.
Ich bin auf Grund dessen, was heute gesagt worden ist, veranlaßt, ein weiteres Zitat zu bringen. Der polnische Senator und Schriftsteller Szczypiorski hat gestern morgen im Deutschlandfunk u. a. folgendes ge-
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Ronneburgersagt: „Natürlich verstehe ich, das ist ein Ergebnis, eine Folge der deutschen Innenpolitik. Ich bin ganz sicher, für mich ist das klar. Aber für einen Passanten auf der Warschauer Straße ist das sehr, sehr unklar. "Ich glaube, wir haben alle Veranlassung, dafür zu sorgen, daß diese Unklarheit aus der Welt geschafft wird. Dazu war das, Herr Kollege Vogel, was Sie heute morgen gesagt haben, keineswegs hilfreich.
Ich stelle in aller Nüchternheit fest: In 40 Jahren hat diese Bundesrepublik Deutschland — ich darf wohl ohne Selbstüberhebung hinzufügen: unter maßgeblicher Mitwirkung der Freien Demokraten in diesem Hohen Hause — eine Reputation in West und Ost erworben, die auch heute an der Vertragstreue und der Zuverlässigkeit unseres Staates und unserer Entscheidungen keinen begründeten Zweifel zuläßt. Allerdings sollte es keine Bemühung in unseren eigenen Reihen geben, diese Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit selbst in Frage zu stellen.
Wir haben eine ganze Reihe von sehr deutlichen Entscheidungen auf unserem politischen Wege in Richtung auf die Aussöhnung mit dem polnischen Volke getroffen. Ich will nur einige wenige nennen. Ich denke an den Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970. Ich denke an die Äußerung des Bundesaußenministers vor der UNO-Vollversammlung in New York. Es sei mir gestattet, mit einiger Befriedigung festzustellen, daß in allen Entschließungen und allen wegweisenden Ausführungen der letzten Zeit diese Worte, die der Bundesaußenminister in New York gesprochen hat, Kern und wesentlicher Inhalt sind und, wie ich hoffe, bleiben werden.
Die Gemeinsame Erklärung von Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Kohl vom 10. November letzten Jahres und die Äußerungen des Bundeskanzlers in Paris zeigen: Wir haben die politischen Ziele wie auch die rechtliche Situation zweifelsfrei formuliert.Ich meine, wir sollten am heutigen Tage nicht hinter dem zurückbleiben, was wir am 8. November vergangenen Jahres mit einer Mehrheit von über 400 Stimmen — mit mehr Stimmen , als zu einer verfassungsändernden Mehrheit erforderlich sind — beschlossen haben.
Ich bitte deswegen sehr herzlich darum, daß das Ergebnis der Abstimmungen des heutigen Tages nicht etwa den Schluß zuläßt, die Akzeptanz dessen, was wir damals so eindeutig ausgesprochen und beschlossen haben, sei im Schwinden oder jedenfalls in einem Prozeß der Verringerung begriffen.
Ich appelliere an jeden in diesem Hause, sich dieser Verantwortung bewußt zu sein.
Ich möchte deswegen noch einige wenige Worte zu der Entschließung, die die Koalitionsfraktionen heute vorgelegt haben, anschließen. Diese Entschließung ist an bestimmten Punkten präziser und ausdrucksvoller als das, was wir am 8. November 1989 beschlossen haben.
Der entscheidende Satz „Das polnische Volk soll wissen ... " steht nicht mehr wie damals unter dem Vorbehalt „Für die Bundesrepublik Deutschland gilt", sondern hier steht eindeutig und klar die Formulierung „von uns Deutschen" . Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung.
Es geht weiterhin um die Unverletzlichkeit der Grenze gegenüber Polen als unverzichtbare Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa. Es geht darum, einen Vertrag zu schließen, der nach dem Text dieser Entschließung nichts anderes regeln soll als die Grenzfrage zwischen den beiden Staaten Deutschland und Polen. Es geht schließlich um eine nüchterne Feststellung, daß Dinge, die vertraglich und in Erklärungen geregelt sind, auch weiterhin ihre Geltung behalten.Das zu bekräftigen und zu bestätigen wird uns auch den Weg in die deutsche Einheit erleichtern. Dieser Weg wird aus unserer Sicht im Augenblick nicht von uns bestimmt. Nicht wir entscheiden über die Anwendung von Art. 23 oder Art. 146 des Grundgesetzes, sondern die Deutschen in der DDR haben nach alledem, was sie in 40 Jahren durchgemacht haben, das Recht, diese Entscheidung zu treffen.
Aber ich will überhaupt nicht verschweigen, Herr Dr. Vogel, daß Art. 23 GG für mich der Weg ist, der am schnellsten, am klarsten und ohne ein Überstülpen unserer eigenen Rechtsordnung — allerdings ist es eine Entscheidung der Deutschen in der DDR — zu dem gemeinsamen Weg
und dazu führen wird, daß auch die Deutschen jenseits der Grenze die Freiheitsrechte und die Lebensumstände in Anspruch nehmen können, an die wir uns in 40 Jahren so selbstverständlich gewöhnt haben und die in Anspruch zu nehmen uns überhaupt keine schwierige Entscheidung abverlangt hat.
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RonneburgerWir stehen an einer wichtigen Wende und zukunftsweisenden Etappe unseres Weges in Deutschland. Lassen Sie uns dieser Verantwortung gerecht werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zwei Wochen tagte in Posen das deutsch-polnische Forum. Die Frage, die dort den deutschen Teilnehmern auf verschiedene Weise wiederholt mit besorgtem Nachdruck gestellt wurde, war die, warum der Bundeskanzler immer wieder Ausflüchte brauche, wenn es um die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gehe. Alle Teilnehmer, quer durch alle Fraktionen, und selbst ich sagten gut für diesen Kanzler und beteuerten, das Problem sei doch inhaltlich vom Tisch. Das Verhalten des Kanzlers sei zwar bedauerlich und kleinkariert, sei von wahltaktischen Rücksichten bestimmt, aber daß er mit etwas hinter dem Berge halte, dürfe man ihm wirklich nicht unterstellen. So auch ich.Wir sind Lügen gestraft worden; denn als der Kanzler und sein Küchenkabinett vor einigen Tagen zum Befreiungsschlag ausholten, zeigte sich: Der Argwohn ist doch berechtigt gewesen; da war doch eine Reservatio mentalis vorhanden.
Statt das Selbstverständliche zu tun und sich das so arg strapazierte Goodwill der Nachbarn zu bewahren, versuchte der Kanzler eben doch einen Handel, und zwar in der unsinnigsten Form; denn die von Polen vorgebrachte Frage der Entschädigung der Zwangsarbeiter ist eine Frage der Moral, der Wiedergutmachung von persönlich erlittenem Unrecht.
Es ist eine Frage der NS-Verfolgung und eben keine Frage der Reparationen, des Ersatzes von Schäden infolge von Kriegsführung.Die routinierten Koalitionsunterhändler geben sich zufrieden. Die Kuh ist vom Eis. Die FDP hat den Kanzler auf den richtigen Weg gebracht. Aber um welchen Preis? Auch den, der zu spät zahlt, bestraft das Leben.
Es ist ja nicht nur so — wie kürzlich ein polnischer Journalist bedauerte — , daß man die deutsch-polnischen Versöhnungsmöglichkeiten nicht so kurzsichtig vergeuden solle und daß — ich zitiere — „dieses Treffen in Kreisau auf einmal in den Schatten einer Politik geraten war, die keine Zukunft hat" . Nein, wo immer der Kanzler auf der internationalen Bühne auftrat, hinterließ er Verunsicherung und produzierte den Eindruck der Unberechenbarkeit deutscher Außenpolitik. So genügte Frau Adam-Schwaetzer in Brüssel nicht; Herr Genscher mußte hinterher. So unberechenbar ist man geworden.Ich denke, wir alle stimmen darin überein, daß nach dem vorigen Jahr der großen, gewaltfreien Revolution in Osteuropa dieses Jahr das wichtigste Jahr der Nachkriegszeit ist. Es ist das Jahr der Gestaltung eines neuen Europa. Da muß jeder, wenn er der Herausforderung gewachsen sein will, bereit sein zu lernen und über seinen Schatten zu springen. Das haben auchwir GRÜNEN erfahren, die wir meinten, die Lösung des Einheitsstaats sei nicht europaverträglich, störe auch den wichtigen Prozeß der Demokratisierung in der DDR und in Osteuropa. Wir mußten lernen: Es gab nicht nur in Paris, sondern gerade auch in Warschau, in Moskau, in Prag eine stärkere Bereitschaft, als wir vermutet hatten, Deutschland in den Kategorien eines gemeinsamen Staates zu denken.Aber meine Frage ist: Wieweit und was ist dieser Kanzler eigentlich bereit zu lernen? Wie geht er mit diesem dem deutschen Problem entgegengebrachten Goodwill um? Zerstört er ihn nicht in einem erschrekkenden schnellen Maße?Helmuth Plessner hat in den 50er Jahren das Wort von Deutschland als einer verspäteten Nation geprägt. Er meinte damit, daß der Umstand, das Deutschland seinen Einheitsstaat nicht schon seit dem Mittelalter im Gleichklang mit den westlichen Demokratien entwickelt hatte, zu jener gewaltsamen — weil verspäteten — Form der Bismarckschen Reichsgründung führte, ein Erbe, das uns auf Grund seiner militaristischen Belastung in die Katastrophen der Kriege und des Faschismus geführt hat, wodurch wir diesen Staat verspielten.Zumindest eines können wir aufgreifen: Die Anfänge, die Art und Weise einer Begründung neuer deutscher Gemeinsamkeit werden sehr stark die weitere Geschichte dieses Landes bestimmen. Diesen Anfängen versucht der Kanzler ja nun seinen Stempel aufzudrücken. Das Bild, das dabei herauskommt, finden wir beispielsweise in der westlichen Presse, wo die deutsche Politik immer häufiger als ein steam-rolling, als Politik der Dampfwalze, charakterisiert wird. Wir finden das Bild z. B. in der Karikatur der „International Herald Tribune" vom 1. März 1990. Da haben wir ihn wieder, den häßlichen deutschen Kraftprotz mit der Pickelhaube auf dem Kopf und den Zügen des Kanzlers. Dieses Bild rührt von jener in bornierter Konkurrenz zum Außenminister entwickelten und deshalb unberatenen Politik her, mit der er Geschichte gestalten will und doch nur seinen Partnern diktiert und dabei dann in Folgezwänge gerät.Die durch den unabgestimmten Zehn-Stufen-Plan verursachten Irritationen ließen sich ja noch überwinden. Der gegen den Rat aller Wirtschaftsinstitute beschlossene Vorrang der Währungsunion vor einer Durchführung von Wirtschaftsreformen aber führte hinein in jenen Zugzwang, der dann den schroffen Empfang der Modrow-Delegation mit dem Diktat bestimmte: D-Mark gegen Wirtschaftsordnung, und zwar sofort. Da sich Wirtschaftsordnung und Verfassungsordnung letztlich doch sehr durchdringen, führt das zur Stilisierung des Wegs nach Art. 23 des Grundgesetzes als die nächste Gretchenfrage an den Koalitionspartner.Andererseits führte solches Vorgehen zur Ernüchterung am Runden Tisch in Ost-Berlin und zum
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15413
Dr. Lippelt
Modrow-Besuch in Moskau aus Sorge um das Schicksal weiter Teile der Bevölkerung, die sich in ihrem Eigentum bedroht fühlen, wobei der Kanzler ihm jetzt nachruft, in zehn Tagen sei er ja weg vom Fenster, dann gehöre Modrow der Vergangenheit an; er finde nicht mehr wesentlich, was er sage. Wenn das der Stil ist, so sollten wir einen Augenblick innehalten und uns dem Problem stellen, daß zwei deutsche Staaten ihre je eigene 45jährige Geschichte haben und daß man mit der Geschichte des anderen Staats sorgfältiger umgehen muß, als dieser Kanzler dazu in der Lage ist.
Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen an die FDP:Erstens. Wie lange wollen Sie noch die Politik Ihres Außenministers von der Dampfwalze bedrohen lassen? Zweitens. Ist nicht die vom Kanzler Ihnen gestellte Gretchenfrage auch eine Gretchenfrage an Ihr eigenes Selbstverständnis?
Wurzelt es im Erbe derjenigen, die für den liberalen Verfassungsstaat gegen Bismarck antraten, oder im Erbe derjenigen, die sich in nationaler Verengung ihres Denkens nach der Reichsgründung Bismarck mit Blut und Eisen unterwarfen? Entspricht Ihrem Verfassungsideal nicht auch die freie Vereinigung eines Volks in freier Selbstbestimmung über eine verfassungsgebende Versammlung mehr als der Anschluß nach Art. 23 des Grundgesetzes?
— Alle Welt versteht es so. Sie müssen mehr internationale Presse lesen.Es ergibt sich für mich auch eine Frage an die SPD. Wenn Sie, wie der Kollege Vogel es immer wieder betont hat, der Meinung sind, daß uns die Herausforderung der Geschichte zu einer gemeinsamen Politik jenseits von Parteidifferenzen zwingen sollte und wenn Ihr wiederholter Vorschlag eines Runden Tisches in Bonn vom Kanzler mit Nichtachtung gestraft wird, müssen Sie dann nicht ernsthaft die Frage stellen, ob dieser Kanzler den Aufgaben dieses so wichtigen Jahres gewachsen ist? Wenn nicht, müssen Sie dann nicht versuchen, herauszufinden, ob es für den Stil seiner Deutschlandpolitik möglicherweise genauso wenig eine Mehrheit in diesem Parlament gibt, wie es sie für die Nichtakzeptierung der Oder-NeißeGrenze gegeben hat?Jedenfalls brauchen wir eine Politik der freien, selbstbestimmten Einigung und keine Politik der Dampfwalze.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Schmude.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu unser aller Überraschung, auch zu Ihrer Überraschung, hat sich mit dem Wandel in der DDR die Möglichkeit ergeben, die Einheit Deutschlands endlich zu verwirklichen.
Eine große Chance für die Menschen beiderseits der deutsch-deutschen Grenze und natürlich auch eine große, unverdiente Chance für den Politiker, der in dieser Zeit Bundeskanzler ist. Für sich und seine Partei kann er viel daraus machen.Aber was haben Sie daraus gemacht, Herr Bundeskanzler? In welche Situation bringen Sie die Opposition, daß sie sich gegen eigenes parteipolitisches Interesse wünschen muß, Sie hätten etwas daraus gemacht. Das wäre ja nur ein Nachteil für eine Partei. Aber was Sie tatsächlich angerichtet haben, ist nachteilig für unser Land und schädlich für die Sache der deutschen Einheit.
Da genügt es nicht, wenn der Sprecher der FDP-Fraktion, Herr Ronneburger, den Gesichtspunkt der Aussöhnung allein betont und sich gegen Aufputschen wendet. Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der FDP: Ist es nicht zutreffend, daß Sie koalitionsintern einen großen Krach veranstaltet haben, um das heutige Ergebnis überhaupt zu erreichen? Erwarten Sie etwa von uns, daß die von Ihnen mit dem Bundeskanzler vereinbarte Vertraulichkeit im Bundestag durchgehalten wird? Nein, was da passiert ist, muß auf den Tisch.
Es war doch von vornherein klar, daß es aller politischen Kunstfertigkeit und Sensibilität bedürfen würde, um unseren Freunden und Nachbarn und allen betroffenen ausländischen Staaten die Einheit Deutschlands akzeptabel zu machen. Da ist kein Raum für Fehler. Da ist es zerstörerisch, wenn wir Mißtrauen und Sorgen nicht besänftigen, sondern schüren. Argwohn und auch ungerechtfertigte Verdächtigungen, wir Deutschen wollten nationale Größe zurückgewinnen, um sie gegen andere auszuspielen, gibt es wahrlich genug. Diese Haltungen zu bestärken, ihnen auch noch Nahrung zu geben, das ist politische Brandstiftung im europäischen Haus, und zwar mit Wirkung auf den deutschen Teil dieses Hauses.
Ausgerechnet gegen Polen wird das politische Gewicht der Bundesrepublik Deutschland ausgespielt; gegen Polen, dessen Bürger wir für ihren Mut zur Auflehnung und zur demokratischen Umgestaltung bewundert haben; gegen Polen, dem wir gemeinsam danken für die Ermöglichung des Wandels in der DDR; gegen Polen, das jetzt in wirtschaftlich bedrängter Lage ist und das zum erstenmal nach dem Krieg eine nichtkommunistische Regierung hat; gegen jenes Polen, das unter dem deutschen Überfall und unter deutschen Verbrechen gelitten hat wie kein anderes Land. Dieses Land, mit dem wir, wie der Bundestag am 8. November letzten Jahres gesagt hat, für ein besseres Europa der Zukunft arbeiten wollen, darf nicht zum Ziel einer Verunsicherungskampagne aus15414 Deutscher Bundestag —11 Wahlperiode - 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den März 1990Dr. Schmudedem Bundeskanzleramt der Bundesrepublik Deutschland gemacht werden.
Das ist nicht anständig, und das geschieht auch gegen den Willen der großen Mehrheit der Bürger unseres Landes.
Die Wirkungen reichen ja weit über das deutschpolnische Verhältnis hinaus. Andere Länder nehmen Anteil, fühlen sich mitbetroffen und engagieren sich auch. Es war doch niemand anderes als der amerikanische Präsident, der kürzlich auf einer Pressekonferenz mit dem Bundeskanzler seinen Abstand zur Position des Kanzlers öffentlich dokumentiert hat.Dem Kanzler war und ist die feste Haltung unserer Verbündeten zur deutsch-polnischen Grenze bekannt. Er hätte darauf durch eine politische Erklärung eingehen können, wie sie heute im Mittelteil der uns vorliegenden Entschließungsentwürfe enthalten ist. Er hat es in Washington vorgezogen, statt dessen in den rechtlichen Bereich auszuweichen, wo derzeit noch Hindernisse für die Festlegung und Klarstellung bestehen. Die damit erreichte Wirkung, eine politische Wirkung, war beabsichtigt, um die Grenzfrage offenzuhalten und auch die politische Zusage des Fortbestandes der Grenze zu vermeiden.Statt Klarheit zu schaffen, hat der Herr Bundeskanzler seine Haltung immer wieder als klar bezeichnet. So kennen wir ihn ja. Aber wie unrichtig das gewesen ist, ist aller Welt offenbar, nachdem er plötzlich selbst mit der überraschenden Bedingung für diese doch so klare Sache herausgekommen ist, nämlich der Regelung der Reparationsfragen und des Minderheitenschutzes. Ein solches Manöver ist zerstörerisch. Es wirkt wie der Versuch, die übelsten Vorurteile gegen die Bundesrepublik Deutschland von hier aus zu bestätigen.
Wer in dieser Weise unsere Freunde und Verhandlungspartner im Ausland irritiert, gibt ihnen Anlaß zu Mißtrauen. Und wer unser Land in die Isolation geraten läßt, die sich aus dem Mißtrauen der Nachbarn ergeben kann,
der verdirbt auch das innenpolitische Klima bei uns.
Ausländisches Mißtrauen und deutsche Gekränktheit können sich nämlich schnell gegenseitig steigern.Das alles geht nun nicht von irgendwem, es geht vom Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland aus.
In seinem Verhalten zeichnet sich das Deutschlandab, das wir mit der Einheit gerade nicht wollen: einüberhebliches, rücksichtsloses, seine politische und wirtschaftliche Kraft ausspielendes Deutschland.
Ich meine, davor sollte uns grausen;
das kann uns sogar die Einheit verleiden.Von welchen Maßstäben geht der Bundeskanzler aus? Am Montag abend hat er im Fraktionsvorstand der CDU/CSU im Zusammenhang mit seinen mit der Anerkennung der Grenze Polens verknüpften Forderungen erklärt, seine Partei sei die einzige, die die rechtsradikalen Republikaner wirksam bekämpfe.
Damit ist es heraus: Was allenthalben unsere Nachbarn und Freunde befremdet, was auch in der DDR kein Mensch versteht und akzeptiert, richtet sich in Wahrheit schlicht auf die Erhaltung von drei, zwei oder einem Prozent der Wählerstimmen. Ihnen gilt die Sorge, sie könnten nach rechts abwandern, ihnen gilt eine Politik, mit der, wie es heißt, „Rücksicht auf die Vertriebenen" genommen werden soll.
Da frage ich: Rücksicht auf wen? Ich selbst bin Vertriebener und weiß, daß andere in meinem Herkunftsland Heimat und Auskommen gefunden haben wie ich hier. Ich will keine Wahrnehmung meiner Interessen, die diese anderen bedroht und die Sicherheit ihrer Heimat in Frage stellt.
Zahllose Vertriebene, ihre ganz große Mehrheit, denken ebenso. „Rücksicht auf Vertriebene " heißt also Rücksicht auf einige wenige, die es immer noch nicht wahrhaben wollen, daß unsere frühere Heimat schon seit dem Krieg unwiederbringlich verloren ist. Damit wird Rücksicht auf die Sprecher einer ganz kleinen Vertriebenengruppe genommen.Meine Damen und Herren, ich will das Zitat des Herrn Czaja zu dem heutigen Entschließungsentwurf, auf das Herr Vogel vorhin abgestellt hat, hier wörtlich bringen. Er sagte am Montag abend in einem Fernsehinterview:Es ist ja von einer sicheren Grenze Polens die Rede. Es ist aber nicht die Rede von einer Grenze an Oder und Neiße. Das ist auch in diesem Papier nicht enthalten.Soweit Herr Czaja.
Hier wird im Windschatten der politischen Taktik des Bundeskanzlers mit abenteuerlichen Advokatentricks gearbeitet, die die heute anstehende Entschließung wieder entwerten sollen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben einmal vor Jahren die abenteuerlichen deutschlandpolitischen Wunsch-
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Dr. Schmudeträume eines umtriebigen Kollegen aus Ihrer Fraktion als „blühenden Unsinn" vom Tisch gewischt. Wo bleibt heute die Klarstellung, daß es sich bei den Interpretationen des Herrn Czaja um höchst gefährlichen Unsinn handelt?
Noch ein Wort zur Entschließung: Herr Ronneburger, ich hätte von Ihnen erwartet, daß Sie nicht nur den vorderen Teil Ihres Entschließungsentwurfs würdigten,
sondern daß Sie auf die Frage eingegangen wären, warum erneut an dieser Stelle die Frage der Reparationen und des Minderheitenschutzes aufgeworfen wird.
Sie hätten sich dann auseinanderzusetzen gehabt mit Triumphrufen aus der CDU/CSU-Fraktion, von Finanzminister Waigel und von Herrn Rühe, man sei sehr zufrieden damit, daß die Reparationsfrage auf einem Papier mit der Grenzfrage stehe.
— Das ist Ihre Meinung, wollen Sie dem zustimmen?
Meine Damen und Herren, wir haben die große Chance, aus der bevorstehenden Einigung etwas wirklich Gutes zu machen: Ein Deutschland, das niemandem durch seine Größe und Stärke imponieren will, sondern das durch Freiheitlichkeit, Friedfertigkeit, soziale Gerechtigkeit, Sicherung der Menschenrechte und durch internationale Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft beeindruckt.
Nie wieder soll jemand vor Deutschland Angst haben müssen!Vertrauen und Wertschätzung in aller Welt sollen unsere wahre Stärke sein. Geben wir uns gemeinsam alle Mühe, dieses Ziel trotz der vom Bundeskanzler angerichteten Schäden doch noch zu erreichen!
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, Herr Genscher.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Geschichte hat uns Deutschen eine historische Chance eröffnet, den Auftrag des Grundgesetzes zu erfüllen und die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Dieses Ziel werden wir nur erreichen, wenn wir uns auch des anderen Auftrags des Grundgesetzes bewußt sind, nämlich als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.
Die Mütter und die Väter unseres Grundgesetzes haben der deutschen Außenpolitik damit den Auftrag gegeben, an die Stelle von nationalem Egoismus und an die Stelle von Machtpolitik Verantwortungspolitik zu setzen. Sie haben die deutsche Außenpolitik auf die europäische Einigung und auf weltweite Friedenssicherung verpflichtet. Diesem Verfassungsauftrag entspricht die Politik der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen.
Die historische Chance, von der wir heute sprechen können, ist das Ergebnis einer über Jahrzehnte entwickelten Politik. Ihre grundlegenden Elemente sind die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu den Gemeinschaften der westlichen Demokratien,
nämlich der Europäischen Gemeinschaft und dem westlichen Bündnis. Zu ihrem unverzichtbaren Bestandteilen gehören die Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland und die Schlußakte von Helsinki.
Die gemeinsamen Erklärungen des Bundeskanzlers mit dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow und dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki bauen auf diesen Verträgen auf. Sie eröffnen neue Perspektiven für das deutsch-sowjetische und das deutsch-polnische Verhältnis.Aber wir könnten von dieser historischen Chance nicht sprechen, hätte es nicht die friedliche Freiheitsrevolution in der DDR und den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas gegeben.
Und diese europäische Freiheitsrevolution wäre nicht möglich gewesen — jedenfalls nicht friedlich — ohne die grundlegende Änderung der sowjetischen Politik durch Generalsekretär Gorbatschow.
Wir Deutschen müssen heute die Frage beantworten, was vereinigt werden soll. Die Antwort auf diese Frage steht außer Zweifel: Es sind die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und das ganze Berlin — nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Die notwendige Klarheit über das, was vereinigt werden soll, macht die Erklärung erforderlich, die in dem Entschließungsantrag der Regierungsparteien zur polnischen Westgrenze gegeben wird. Auch wenn diese Erklärung und der später zu schließende Vertrag nichts aufgeben, was nicht schon durch nationalsozialistische Gewaltherrschaft und durch den
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Bundesminister GenscherKrieg verspielt war, so wird sie doch viele Menschen, die damals — und ganz gewiß nicht heute — ihre Heimat verloren haben, in ihren Gefühlen tief berühren. Wer die eigene Heimat liebt, wird diese Gefühle gut verstehen. Diese Gefühle verdienen unsere Achtung genauso wie der Beitrag, den die Vertriebenen nicht nur zum wirtschaftlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch zum Aufbau unserer freiheitlichen Demokratie und zur Aussöhnung mit unseren östlichen Nachbarn geleistet haben.
Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, in den Gesprächen der beiden deutschen Staaten mit den vier für Deutschland verantwortlichen Mächten die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung zu besprechen. Gefordert sind Klarheit, Verantwortung und Augenmaß. Es liegt in unserem Interesse, durch die Verhandlungen und Gespräche der beiden deutschen Staaten miteinander und mit den Vier Mächten Verständigung über die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung zu erzielen. Der Rahmen dafür ist in Ottawa vereinbart worden. Wir werden diese Gespräche so führen, daß ihr Ergebnis von allen unseren Verbündeten, von allen Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und auch von allen anderen Unterzeichnerstaaten der Schlußakte von Helsinki als Stabilitätsgewinn für das ganze Europa empfunden wird.
Und an die polnische Adresse gerichtet, möchte ich das unterstreichen
— das kommt jetzt, Herr Kollege —, was Präsident Bush gesagt hat. Wir werden in diesem Rahmen keine Polen betreffende Entscheidung ohne seine Beteiligung treffen.
Es ist unser Ziel, daß die sechs Staaten dem Gipfel der 35 KSZE-Staaten ein Ergebnis präsentieren können, das in völliger Übereinstimmung mit den Prinzipien der Schlußakte von Helsinki steht und deshalb für alle akzeptabel ist. Wir wissen, daß wir dabei die Sicherheitsinteressen aller Staaten Europas, vor allem auch der Sowjetunion, zu berücksichtigen haben, und nicht nur die Sicherheitsinteressen, sondern auch das Interesse der europäischen Völker am Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses, an der Schaffung einer europäischen Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural, für deren Stabilität die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe haben werden.Die Bundesrepublik Deutschland hat mit ihren Verbündeten und Partnern keinen Zweifel daran gelassen, daß wir aus den Veränderungen in Mittel- und Osteuropa keine einseitigen Vorteile für den Westen ziehen wollen.Das gilt zuallererst für die Frage der Sicherheit in Europa. Wir wollen Sicherheit nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander. Deshalb wollen wir die deutsche Vereinigung als Beitrag zur Stabilität in Europa. Wenn das gemeinsame westöstliche Ziel, denBündnissen einen immer mehr politischen und abrüstungspolitischen Charakter zu geben, verwirklicht wird, können die komplizierten mit der deutschen Einigung verbundenen Sicherheitsfragen besser gelöst werden.Der sich vollziehende Wandel von der Konfrontation zur Kooperation wird die Bündnisse zu Elementen neuer kooperativer Sicherheitsstrukturen machen, in denen sie schließlich aufgehen können. Der KSZE-Prozeß bietet den Stabilitätsrahmen für die von uns erstrebte europäische Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural. Die Europäische Gemeinschaft ist ein Stabilitätsanker für diese europäische Friedensordnung.Der europäischen Stabilität dienen auch die Intensivierung und die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses als Ergebnis der von uns unterstützten KSZE-Gipfelkonferenz. Entschlossene und einschneidende Abrüstungsschritte müssen hinzukommen. Wir wissen, welche Bedeutung die deutsche Vereinigung für das künftige Schicksal Europas hat. Deshalb wollen wir sie in Harmonie mit allen am KSZE-Prozeß beteiligten Staaten.Die Bundesregierung wird das in ihren Kräften Stehende tun, um im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft den Vereinigungsprozeß zu erläutern und dabei auch die Auffassung unserer Verbündeten und Partner zu berücksichtigen. Denn diese Partner und Verbündeten sind — was nicht vergessen werden darf — auch als Verbündete und als Mitgliedsstaaten der EG unmittelbar von der Vereinigung betroffen.Wir werden genauso mit den Neutralen und Ungebundenen und mit unseren östlichen Nachbarn das Gespräch über den Weg zur Erreichung des Ziels führen, das den Deutschen in West und Ost so am Herzen liegt und das das Schicksal Europas so sehr betrifft.Wir suchen diese Übereinstimmung mit den anderen europäischen Staaten nicht nur wegen unserer Geschichte, sondern auch wegen unserer geographischen Lage
und auch wegen des Gewichts, das 76 Millionen Deutsche in einem Staat politisch und ökonomisch haben werden. Deshalb wollen wir die Einheit auch nicht als ein neutralistischer Nationalstaat, sondern als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft, als Mitglied des westlichen Bündnisses ohne die Ausdehnung seiner Streitkräfte über die heutigen Grenzen des Bündnisses hinaus. Und wir wollen die deutsche Einheit im Rahmen und in der Perspektive einer entstehenden europäischen Friedensordnung. Wir wollen den Weg zur deutschen Vereinigung nicht hinter dem Rücken anderer gehen und erst recht nicht andere vor vollendete Tatsachen stellen. Das gilt auch für den staatsrechtlichen Weg, unabhängig davon, ob sich die DDR nach dem 18. März 1990 für den Art. 23 unseres Grundgesetzes entscheidet oder nicht.
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Bundesminister GenscherArt. 23 ist nicht eine Anschlußbestimmung, sondern eine Beitrittsbestimmung.
Nicht wir entscheiden, sondern die DDR entscheidet in eigener Souveränität, demokratisch legitimiert, ob sie von diesem Angebot des Grundgesetzes Gebrauch macht oder nicht.
Der staatsrechtliche Weg kann weder vorwegnehmen noch präjudizieren, was an äußeren Aspekten der deutschen Vereinigung zu regeln ist.
Erst wenn diese Fragen geklärt sind, wird sich die deutsche Einigung vollziehen können.
Wir werden — das möchte ich mit aller Klarheit sagen — niemanden vor vollendete Tatsachen stellen.
Mit der Vereinigung in den Grenzen der beiden deutschen Staaten von heute finden der Vereinigungsauftrag der Präambel unseres Grundgesetzes und auch die Art. 23 und 146 unseres Grundgesetzes ihre Erledigung. Sie sind dann zu streichen. Der Bundesminister des Innern hat das mit Recht festgestellt.
Wir sind uns unserer Verantwortung in vollem Umfang bewußt. Niemand hat Anlaß, an der Aufrichtigkeit unseres Willens zu zweifeln. Den Weg zur Vereinigung wollen wir zusammen mit der frei gewählten Regierung der DDR gehen. Das wird auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung geschehen.
Zu diesen Gesprächen und Verhandlungen wird die frei gewählte Regierung der DDR nicht mit leeren Händen kommen. Sie kommt mit dem kostbaren Gut friedlich erstrittener Freiheit.
Und sie kommt ganz gewiß auch in dem Bewußtsein, daß wir die Auffassung teilen, daß die Deutschen in der DDR die größere Last der gemeinsamen Geschichte zu tragen hatten.
Wir werden mit der frei gewählten Regierung der DDR nicht nur die Verständigung über die komplizierten und schwerwiegenden Fragen der inneren Vereinigung, die für das Schicksal vor allem der Deutschen in der DDR von besonderer Bedeutung sind, suchen, sondern wir werden mit ihr auch die Klärung der äußeren Aspekte unserer Vereinigung suchen und ganz gewiß finden.Die Frage aus dem europäischen Ausland „Was wollen die Deutschen, und wohin wollen sie?" können wir offen und ohne jede Einschränkung beantworten: Wir Deutschen wollen nichts anderes, als in Freiheit, in Demokratie, in Einheit und in Frieden mit allen unseren Nachbarn zu leben.
Es bleibt bei dem Wort von Thomas Mann aus dem Jahre 1952: „Wir wollen nicht ein deutsches Europa, sondern wir wollen ein europäisches Deutschland."Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, wenn man das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR ins Recht setzen will, muß man ihnen auch eine echte Wahlfreiheit geben. Dazu gehört — frei von äußerem Druck — zwischen zwei Möglichkeiten frei wählen zu können, z. B. zwischen Art. 23 und Art. 146.
Wir fragen uns ja alle: Wer hat nun eigentlich den Koalitionskrach gewonnen, Herr Kohl oder Herr Genscher? Das ist offenbar auch nach genauem Studium nicht gut auszumachen, und ich weiß es auch heute noch nicht.Auszumachen aber ist, wer schon jetzt für die Verliererseite auserkoren wurde: wieder einmal die Polen, die sich Hoffnungen auf die westdeutsche Politik gemacht hatten, und wieder einmal — das ist besonders schäbig — die NS-Opfer und die polnischen Zwangsarbeiter.
Leider habe ich zu dieser Frage von Ihnen, Herr Genscher, heute auch nichts gehört, nichts Klärendes, nichts Beruhigendes. Diese NS-Opfer mußten für das Dritte Deutsche Reich schuften, und sie sollen nun als um ihre Entschädigung Betrogene an der Schwelle des Einigungsprozesses der Deutschen stehen. Dieses in Planung begriffene Deutschland nach dem Bild und dem Gardemaß des Kanzlers stopft vieles vom Wertvollsten in sich hinein:
Hoffnungen, Ängste, internationales Vertrauen und auch die berechtigten Wünsche wenigstens nach einer symbolischen Geste der Versöhnung für die ehemaligen Opfer deutschen Größenwahns.Es ist nämlich eine gigantische Mogelei, die Helmut Kohl in der Reparationsfrage betreibt, wenn er sie zum Junktim für die polnische Westgrenze zu machen versuchte. Die Fakten sehen schlicht folgendermaßen aus. Erstens hat 1953 Polen tatsächlich gegenüber der DDR auf Reparationen verzichtet. Zu dieser Verzichtserklärung standen alle polnischen Regierungen und steht auch die jetzige. Allerdings ist hier anzumerken, daß Helmut Kohl, wenn er sich auf diese Erklärung jetzt beruft, der Profiteur von Zahlungen ist, zu denen
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Frau Dr. Vollmerdie Bundesrepublik nichts beigetragen hat. Sich auf diese Zahlungen zu berufen hieße fairerweise, daß wir der DDR für die von ihr allein getragenen Reparationsleistungen einen Lastenausgleich zukommen lassen müßten.
Zweitens. Die Forderungen, die von polnischer Seite tatsächlich erhoben werden, betreffen etwas ganz anderes. Sie betreffen die zivilrechtlichen Ansprüche zur Entschädigung der NS-Opfer, insbesondere der noch lebenden 700 000 polnischen Zwangsarbeiter. Polen hat seit 1947 über alle Regierungen hinweg die Entschädigung dieser NS-Opfer gefordert, und auch zu Recht. In den vergangenen Jahren fielen sie damit unter die Ausschlußklauseln des Kalten Krieges. Bisher hat man argumentiert, es dürfe keine Entschädigung für Zwangsarbeiter geben, weil es keinen Friedensvertrag gebe. Das war sachlich schon immer falsch. Gegenüber den westlichen Ländern — das hat mit dem Kalten Krieg zu tun — ist auch immer anders verfahren worden. Das heißt, es gab faktisch zwei Klassen von Opfern: die westlichen und die osteuropäischen. Heute aber heißt die Leitlinie Kohls: Wir können keinen Friedensvertrag gebrauchen, da wir dann ja die Zwangsarbeiter entschädigen müssen. Der Trick dabei ist, Zwangsarbeit zu einem Reparationsfall zu erklären, also zu so etwas wie einer normalen Kriegsbegleiterscheinung. Das ist sie aber gerade nicht. Zwangsarbeit war gigantisches NS-Unrecht. Es betraf 7,5 Millionen Menschen. Daß es hier um typisches NS-Unrecht geht, haben auch fast alle Sachverständigen in der Anhörung bestätigt, sogar die der Regierungskoalition. Ohne diese 7,5 Millionen Zwangsarbeiter, die vom Dritten Reich und den Konzernen ausgebeutet worden sind, hätte das NS-Reich weder expandieren noch seine Kriege vorbereiten können.Drittens. Um welche Summen geht es denn tatsächlich? Seit wir dieses Thema aufgegriffen haben, haben wir immer und durchaus mit Bitterkeit festgestellt, daß es gar nicht mehr um eine echte Entschädigung gehen kann, sondern nur noch um eine symbolische. Unsere Forderung war, schnell und unbürokratisch jedem der noch lebenden Zwangsarbeiter 2 000 DM zur Verfügung zu stellen. Das hieße heute für Polen die Summe von etwa 1,5 Milliarden DM. Alle anderen Zahlen, die genannt werden, sind ermogelt und werden auch von der polnischen Regierung nicht vertreten. Sie sollen nur dazu dienen, antipolnische Ressentiments zu schüren. Dafür sollte sich Helmut Kohl persönlich beim polnischen Volk entschuldigen.
Das Ganze ist auch nur ein Test auf die wirklich entscheidende Frage, die heute auf der Tagesordnung steht, nämlich: Wie geht dieses Land gerade jetzt und wie gehen seine Regierungen mit der NS-Vergangenheit der Deutschen in der Zeit des Einigungsprozesses um?Ich bin tief davon überzeugt, daß kein neues Europa entstehen kann, wenn es nicht den Versuch — wenigstens den Versuch! — einer friedenschaffenden Lösung für das noch offene vergangene Unrecht gibt. Darum geht es in Wahrheit. Dem entzieht sich derKanzler in Wahrheit. Aber wenn die deutsche Einigung mit soviel Unrecht im Fundament gebaut werden soll, dann muß ich keine Prophetin sein, um zu sagen: Dieses Fundament wird nicht halten. Dieser Bau ist dann heute schon historisch auf Sand gebaut.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme, auch zu einer Stellungnahme zum gemeinsamen Entschließungsantrag der Fraktionen der FDP und der CDU/CSU, erlauben Sie mir zum Ablauf der Debatte zwei kurze Bemerkungen:Erstens. Herr Kollege Schmude, erlauben Sie mir ein Wort der Entgegnung auf das, was Sie zu dem Kollegen Czaja gesagt haben. — Sie mögen anderer Meinung sein als der Kollege Czaja
— ich bin auch oft, in vielen Jahren, anderer Meinung gewesen als der Kollege Czaja —,
aber das, Herr Kollege Schmude, rechtfertigt in gar keiner Weise die Art, in der Sie diesen Kollegen angesprochen haben.
Czaja ist seit 1953 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist ein Kollege, der in einer ungewöhnlich engagierten Weise in diesen Jahrzehnten seinen Dienst in diesem Hohen Hause getan hat. Er ist ein engagierter Demokrat,
und er hat in diesen Jahren immer wieder bewiesen, daß er aus dem Geist der Charta der Vertriebenen aus dem Jahre 1950, die der Kollege Bötsch hier erwähnt hat,
also nicht aus dem Geist der Rache, sondern aus dem Geist des Miteinander seinen Weg sucht.
Ob Sie und andere — ich sage noch einmal: gelegentlich auch ich — diesen Weg genauso sehen,
ist eine andere Frage. Aber er verdient unseren Respekt.
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Bundeskanzler Dr. KohlMeine Damen und Herren, gerade weil ich immer wieder Auseinandersetzungen mit ihm hatte — Sie haben ja auf eine solche hingewiesen — , habe ich sehr viel Verständnis für ihn und manchen anderen. Ich habe Verständnis dafür, daß er in dieser tief aufwühlenden Diskussion mit einer besonderen Leidenschaft seine Überzeugungen vertritt. Deswegen respektiere ich auch seine Überzeugungen. Sie werden meine Äußerungen zur Sache gleich hören.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Dr. Schmude?
Nein.
— Meine Damen und Herren, Sie müssen es mir überlassen, ob ich hier weiterrede oder nicht.
Ich nehme mein Recht wahr wie jeder andere von Ihnen auch.Zweitens. Der Herr Vorsitzende der SPD-Fraktion, der Herr Abgeordnete Vogel, hat im Laufe seiner Ausführungen, zu denen ich sonst gar nichts sagen will,
eine Bemerkung gemacht, auf die ich gern eingehe. Er hat darauf hingewiesen, daß man auf seinen Rat nicht gehört hat.
Darauf will ich antworten.
Herr Kollege Vogel, ich habe mir oft überlegt, ob man Ihren Rat nicht beherzigen sollte.
Aber ich bin im nachhinein, wenn ich die vergangenen Jahre überblicke, heute sehr dankbar dafür, daß meine politischen Freunde in der Union, auch die Kollegen in der Koalition, von der FDP, daß wir alle rechtzeitig zu dem Ergebnis gekommen sind, daß alle Ihre Ratschläge uns in die Sackgasse geführt hätten.
Der Beitrag der deutschen Sozialdemokraten — ich habe keine Freude an dieser Bemerkung —
zur Deutschlandpolitik in den letzten Jahren war schlicht und einfach von einer Art, daß man es nur als traurig bezeichnen kann.
— Herr Abgeordneter Vogel, da Sie hier vor allem auch im Blick
auf die Wähler — gnädige Frau, wie Sie dazwischenrufen — gesprochen haben, will ich den Wählern in der Bundesrepublik und auch denen in der DDR gern noch einmal vorlesen, was Sie in einer entscheidenden Stunde der Deutschlandpolitik zu sagen hatten. Ich zitiere aus dem gemeinsamen Grundwertepapier von SPD und SED vom August 1987. Da lauten entscheidende Sätze:Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen.
Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, daß ein System das andere abschafft.
Niemand in Deutschland hat Erich Honecker und seinem Regime eine solche Bestandsgarantie gegeben wie Sie.
Sie haben diese Erklärung wenige Wochen vor dem Zeitpunkt abgegeben, zu dem Erich Honecker hier in Bonn war
und ich in meiner Tischrede zu ihm gesagt habe — ich zitiere wörtlich:Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung. Sie wollen zueinanderkommen können, weil sie zusammengehören.Das war unsere Deutschlandpolitik.
Es ist müßig, noch einmal darauf hinzuweisen, meine Damen und Herren, daß Sie die Geraer Forderungen Erich Honeckers akzeptieren wollten,
daß Sie die Menschen in der DDR, die Sie jetzt bei der Wahl gewinnen wollen, ausbürgern wollten mitten in Deutschland. Das wollten Sie.
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Bundeskanzler Dr. KohlEs ist auch müßig, darauf hinzuweisen, daß Sie die Erfassungsstelle in Salzgitter abschaffen wollten, obwohl heute jeder erkennt — und selbst Dienststellen der DDR-Regierung sagen es heute — , daß es wichtig war, daß Verstöße gegen die Menschlichkeit in Salzgitter wenigstens noch einmal aktenkundig gemacht werden konnten. — Das war Ihr Beitrag zur Deutschlandpolitik!
Meine Damen und Herren, noch nie, seit unser Land geteilt wurde, sind wir unserem nationalen Ziel — der staatlichen Einheit der Deutschen in Freiheit — so nahe gekommen wie jetzt. Dies ist vor allem das Verdienst unserer Landsleute drüben in der DDR,
die dies in einer friedlichen Revolution durchgesetzt haben. Sie haben damit unterstrichen — ebenso wie wir in der Bundesrepublik auch — , daß wir gemeinsam aus der Geschichte gelernt haben. Wir wollen Frieden und Freiheit in Deutschland und für Europa.Mit ihren Demonstrationen haben die Menschen in der DDR auf eine eindrucksvolle Weise sichtbar gemacht: Wir sind ein Volk. Sie wollen die Einheit unseres Vaterlandes in Freiheit, sie wollen die Soziale Marktwirtschaft einführen, sie wollen eine Chance auf Wohlstand, privates Glück und soziale Sicherheit. Das ist nicht nur mein Eindruck. Ich habe ja die Gelegenheit, jede Woche vor Hunderttausenden in der DDR zu sprechen und von den Menschen zu hören, was sie wollen.
— Das können Sie ja nun nicht leugnen. Ich weiß, daß Ihnen das schwerfällt.
— Herr Vogel, das weiß ich. — Ich verstehe diesen Zuspruch, den wir, die Redner der Koalition, drüben in der DDR erfahren, auch als einen Zuspruch für unsere Deutschlandpolitik.
Meine Damen und Herren, am Sonntag in acht Tagen finden in der DDR die Wahlen zur Volkskammer statt, die ersten freien und geheimen Wahlen. Es kommt jetzt darauf an, daß diese Wahlen in einer deutlichen Weise den Willen des Volkes bekunden, den Willen zur Demokratie, zur Einheit, zur Freiheit unseres Vaterlandes.
Das heißt auch, Herr Abgeordneter Vogel, daß wir darauf hoffen, daß die Wähler in der DDR dem sozialistischen System eine klare Absage erteilen.
Wie notwendig dies ist, konnte man, meine Damen und Herren, in den letzten Tagen erkennen, als eine Regierung, die nicht vom Wähler legitimiert ist, in letzter Stunde, sozusagen wenige Tage vor ihrem Abtreten, noch einmal versucht hat, die alten Strukturen, die das Land ins Elend führten, zu verfestigen.
Meine Damen und Herren, ich hätte mir eigentlich schon gewünscht, daß die Sozialdemokratische Partei, die eine große Tradition — auch im Hinblick auf die Arbeitnehmerschaft — hat,
in diesen Tagen einmal ein klares Wort zu dem neuen Gewerkschaftsgesetz der DDR gesagt hätte,
mit dem nicht nur die Interessen der Arbeitnehmerschaft verraten werden, sondern mit dem vor allem jeder vernünftige wirtschaftliche Aufbau unmöglich gemacht würde.
Ich bitte um Ruhe, damit hier gesprochen werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht jetzt darum, schon über den Tag der Wahl zur Volkskammer hinauszublicken. Auch der 6. Mai, an dem Kommunalwahlen in der DDR stattfinden, wird ein wichtiges Datum sein. Denn wir dürfen nie vergessen, daß die Fälschung der Wahlergebnisse bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr für die Menschen in der DDR das Faß zum Überlaufen brachte.
Und schließlich, meine Damen und Herren, wünschen wir uns — ich will das hier offen sagen — , daß dem Willen vieler Menschen in der DDR bald entsprochen wird und die Länder in der DDR wieder hergestellt werden
und daß auch bald die Landtage in freier und geheimer Wahl gewählt werden können.Sobald nach der Volkskammerwahl eine Regierung in der DDR gebildet ist, die demokratisch legitimiert und auch politisch handlungsfähig ist, wollen wir alles tun, um die notwendigen Gespräche auf allen Ebenen über die konkreten Schritte zur Einheit zu beginnen.Das entscheidende Ergebnis bei meiner Begegnung mit Generalsekretär Gorbatschow am 11. Februar in
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15421
Bundeskanzler Dr. KohlMoskau war für mich die Feststellung, die er gemacht hat — ich zitiere ihn wörtlich — :daß es jetzt zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR keine Meinungsverschiedenheit darüber gibt, daß die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden.Ich weiß — und Sie wissen es im übrigen auch —, daß die große Mehrheit unserer Landsleute in der DDR eine möglichst rasche Wiedervereinigung wünscht und daß deswegen die notwendigen Reformen bald auf den Weg gebracht werden müssen.Wir wissen auch — und auch darin sind wir einig, ich hoffe es jedenfalls —, daß die Menschen in der DDR selbst darüber zu befinden haben, wie dieser Weg aussieht und welcher verfassungsrechtliche Weg dabei zu beschreiten ist. Aber auch unsere Landsleute drüben wissen, daß wir in der Bundesrepublik durch diese Entscheidung elementar berührt werden. Legen Sie doch den Art. 23 hier nicht in einer Weise aus, die den Eindruck erweckt, als ginge das nur die eine Seite an. Wir wollen die eine Seite nicht bevormunden, und die andere will uns nicht bevormunden. Das ist doch die Erfahrung.
— Ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. Sie sind nach den jüngsten Beschlüssen doch gegen die Wiedervereinigung, wenn ich Sie richtig verstehe. Man weiß nie genau, wo Sie stehen. Aber ich weiß das eine, daß Ihr Beitrag nicht sinnvoll und konstruktiv ist.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Nickels?
Nein. — Der beste Weg in eine gemeinsame Zukunft ist nach meiner und unserer Überzeugung der Weg über den Art. 23 des Grundgesetzes.
Das ist der beste Weg, nach den vier Jahrzehnten der Teilung die Deutschen wieder in die Lage zu versetzen, gemeinsam und in Freiheit ihre Zukunft zu gestalten.Meine Damen und Herren — das hat gar nichts mit Bevormundung zu tun; denn bis vor kurzem waren wir uns in der Frage sehr einig —,
wir haben allen Grund und auch das Recht, darauf hinzuweisen, daß sich das Grundgesetz in den vier Jahrzehnten der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bewährt hat. Dieses Grundgesetz ist ein Garant für Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es ist allgemein anerkannt als Basis für die erste stabile Demokratie auf deutschem Boden.
Es ist die beste Verfassung in der Geschichte der Deutschen.
Es ist eine Verfassung, die uns den Frieden bewahrt hat und uns zu einem geachteten Mitglied der Staatengemeinschaft gemacht hat. Das wissen auch die Deutschen in der DDR.In jedem Fall wird es natürlich notwendig sein, mit den frei gewählten Vertretern der DDR über die Bedingungen und Modalitäten der Vereinigung zu verhandeln, wobei selbstverständlich die DDR in solche Verhandlungen und Gespräche ihre Vorstellungen einbringen muß; denn entgegen jenen Ansichten, die jetzt wiederum verbreitet werden, ist es doch so, daß auch bei einem Beitritt nach Art. 23 das Grundgesetz nicht automatisch und nicht in allen seinen Teilen von einem Tag zum anderen in Kraft gesetzt werden kann. Es sind Übergangsfristen notwendig. All dies ist oft genug diskutiert worden.Meine Damen und Herren, was wir wollen, ist, daß unverzüglich nach den Wahlen zur Volkskammer die neue Regierung darangeht, unser Angebot nicht nur zu prüfen, sondern möglichst rasch daranzugehen, die Währungsunion, die Wirtschaftsgemeinschaft und die Sozialunion gemeinsam mit uns zu verwirklichen.
— Gnädige Frau, Sie müssen mir wenigstens überlassen, die Reihenfolge meiner Themen am Rednerpult zu bestimmen.
Sie sind doch hier einmal eingezogen unter dem großen Signum des Friedens und der Demokratie, und jetzt schreien Sie nur. Das ist nicht sehr ladylike.
Meine Damen und Herren, dies macht nur dann Sinn, wenn in der DDR unverzüglich umfassende marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt werden. Ohne sie kann ein wirtschaftlicher Neubeginn in der DDR nicht erfolgreich sein. Die verheerenden Folgen der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR können eben nur mit einer marktwirtschaftlichen und zugleich sozial und ökologisch ausgerichteten Umgestaltung beseitigt werden.Meine Damen und Herren, ich weiß, daß viele in der DDR Ängste haben, sich Fragen stellen, was dies alles für sie in ihrem persönlichen Umfeld bedeutet.
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15422 Deutscher Bundestag — 11 . Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Bundeskanzler Dr. KohlWir nehmen diese Sorgen ernst, gerade auch die der Älteren, und die Sorgen derer, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Dabei darf man nicht vergessen, daß diese Ängste — das kann jeder erleben — ja auch gezielt geschürt werden. Die Bankrotteure von gestern sind die Angstmacher von heute. Das ist die Beobachtung, die wir gemacht haben.
Ich möchte unseren Landsleuten in der DDR ganz einfach zurufen: Wenn wir in der Bundesrepublik in der Lage waren, im letzten Jahr rund ein Drittel des gesamten Sozialprodukts für Sozialleistungen auszugeben — das sind rund 700 Milliarden DM — dann wird dies nach einer Übergangszeit — wenn die DDR wieder ein blühendes Land geworden ist — auch dort möglich sein.
Wir in der Bundesrepublik müssen wissen, daß vor allem auf drei Feldern wichtige Entscheidungen notwendig sind, die unsere volle Unterstützung finden müssen. Das eine ist eine notwendige Anschubfinanzierung im Bereich der Arbeitslosenversicherung, um den Risiken zu begegnen, die dort jetzt für die Menschen entstehen. Das andere ist die Frage der Sicherung des Lebensabends für die älteren Menschen. Auch hier ist bei der Umgestaltung und beim Ausbau des Rentensystems in der DDR eine entsprechende Unterstützung notwendig. Das dritte ist, daß, wenn im Falle der Währungsumstellung auch die Frage der Sparkonten mit auf die Tagesordnung kommt, wir daran denken müssen, daß die Sparkonten in der DDR für viele ein Notgroschen fürs Alter sind. Wir müssen daran mitarbeiten, daß hier eine sozialverträgliche Form gefunden wird.
Ich bin völlig mit Ihnen einig, daß hier vernünftige Lösungen gefunden werden können.
Aber, meine Damen und Herren, wir haben nicht nur zu sehen, was zwischen uns und den Bürgern der DDR, was in Deutschland geschieht, sondern wir haben auch unseren Partnern, den Nachbarn und den Freunden im Ausland, eine Antwort zu geben. Die deutsche Vereinigung vollzieht sich auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts. Sie berührt natürlich auch die Interessen unserer Nachbarn. Wir haben deshalb von Anfang an darauf geachtet, daß der Prozeß der Einigung in einen stabilen europäischen Rahmen eingebettet wird und bleibt. Der Außenminister hat eben die einzelnen Stationen hier gekennzeichnet. Vor uns liegt die Aufgabe, die Einigung Deutschlands, die in vielen Bereichen bereits in vollem Gange ist, auch mit den außenpolitischen und sicherheitspolitischen Erfordernissen in Einklang zu bringen.Ich glaube, ich darf hier sagen: Niemand von uns erzeugt einen künstlichen Zeitdruck. Der Zeitdruck wird in einer ganz anderen Weise von den Bürgern der DDR erzeugt, von ihren Erwartungen, von ihren Hoffnungen. Es hat sich — und ich zitiere hier gerne Generalsekretär Gorbatschow — „jetzt die Geschichte plötzlich mit großer Geschwindigkeit in Bewegung gesetzt". Diesem Zitat kann man nur zustimmen.Die äußeren Bedingungen betreffen die Verantwortung der Vier Mächte für Berlin, für Deutschland als Ganzes, die Grenzfragen wie auch die bestehenden und zukünftigen Sicherheitsstrukturen. Die ersten Gespräche in Ottawa mit der Vereinbarung der Formel „Zwei plus Vier" waren sehr nützlich und erfolgreich. Wir haben als Deutsche ein Interesse, daß diese Gespräche zügig vorankommen, und legen Wert darauf, daß die Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einigung und der innerdeutsche Prozeß möglichst gleichermaßen vorankommen.
Unser gemeinsames Ziel muß sein, daß die Gespräche „Zwei plus Vier" bis zum KSZE-Gipfel abgeschlossen sind; denn die deutsche Vereinigung betrifft ja nicht nur die deutschen Staaten und die Vier Mächte. Wir haben Sorge dafür zu tragen, daß unsere Partner in der NATO und in der Europäischen Gemeinschaft laufend unterrichtet und zu den sie betreffenden Fragen gehört werden. Es geht ganz Europa, es geht alle an:Erstens: Das künftige geeinte Deutschland darf nicht neutralisiert oder demilitarisiert werden.
Generalsekretär Gorbatschow hat mir am 10. Februar in Moskau gesagt, daß eine Neutralität Deutschlands einen Rahmen schüfe, der das deutsche Volk erniedrige.
Und er fügte hinzu, daß auch nicht der Eindruck entstehen dürfe, als würden alle Leistungen für den Frieden, die in der Vergangenheit von den Deutschen erbracht worden seien, jetzt gestrichen werden.Zweitens: Das künftige geeinte Deutschland muß im westlichen Bündnis eingebunden bleiben, wobei für das heutige Staatsgebiet der DDR eine militärische Übergangsregelung zu treffen ist. Das weiß jeder, und das ist ebenfalls in der Debatte heute schon ausgeführt worden.Drittens: Der transatlantische Sicherheitsverbund zwischen Europa und Nordamerika bleibt für uns Deutsche wie für Europa von existentieller Bedeutung.
Es ist das Ziel der von mir geführten Bundesregierung, in dieser ganz entscheidenden Frage im engsten Schulterschluß mit unseren Verbündeten zu bleiben. Ein Konzept deutscher Neutralität — in welcher Vari-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15423
Bundeskanzler Dr. Kohlante auch immer — widerspricht der Logik des gesamtdeutschen Einigungsprozesses.
Deutschland darf in bezug auf seine Sicherheit in Europa nicht isoliert werden. Ziel muß es vielmehr sein, durch konsequente Fortführung des KSZE-Prozesses und von Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen bündnisübergreifende Sicherheitsstrukturen in Europa zu schaffen.Meine Damen und Herren, ich habe den Vorschlag des irischen EG-Ratspräsidenten zu einem Sondergipfel im April sofort unterstützt; denn ich halte es für ungeheuer wichtig, daß wir auch mit unseren Partnern und Freunden in der EG die künftige Entwicklung in Deutschland intensiv beraten. Ich glaube auch, daß eine Botschaft der Solidarität durch den Gipfel in dieser Phase der Entwicklung gerade für die Menschen in der DDR von großer Bedeutung ist.Ich bin Jacques Delors, dem Präsidenten der EG-Kommission, dafür dankbar, daß er bereits in seiner Rede am 17. Januar vor dem Europäischen Parlament ein klares Signal gesetzt hat. Niemand braucht in Europa Sorge vor einem deutschen Übergewicht in der Europäischen Gemeinschaft zu haben.
Wir werden auch in Zukunft — vor allem gemeinsam mit unseren französischen Freunden — Motor des europäischen Einigungsprozesses sein.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Entschließungsentwurf der Koalitionsfraktionen zur Frage der polnischen Westgrenze vor. Der politische Wille der von mir geführten Bundesregierung, diese Frage endgültig zu regeln, ist von mir immer wieder zum Ausdruck gebracht worden. Hieran Fragezeichen anzubringen, dient nicht dem deutschen Interesse.
Ich habe seit der Regierungsübernahme 1982 nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir an Buchstaben und Geist des Warschauer Vertrages in all seinen Teilen festhalten. In diesem Vertrag haben die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen „die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft" bekräftigt und „sich gegenseitig zu einer uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität" verpflichtet. Beide Seiten haben erklärt, „daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden". Gleichzeitig wird festgestellt: „Dieser Vertrag berührt nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen. " Damit hat auch die damalige Bundesregierung der Tatsache Rechnung getragen, daß die BundesrepublikDeutschland nicht als gesamtdeutscher Souverän, sondern nur in eigenem Namen handeln konnte.
Wir wissen nicht Tag und Datum, wann die nationale Einheit hergestellt werden kann. Wir wissen nur, daß wir jetzt in der glücklichen Lage sind, daß dies bald sein wird. Aber nicht nur die Deutschen, sondern auch unsere Nachbarn, insbesondere die Polen, erwarten eine Antwort darauf, wie sich der künftige gesamtdeutsche Souverän zu den eingegangenen Verpflichtungen stellt.Der in dem Ihnen vorliegenden Entschließungsentwurf der Koalitionsfraktionen aufgezeigte Weg verschafft hier Klarheit. Ich unterstütze diesen Antrag nachdrücklich.
Meine Damen und Herren, es liegt auch in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse, den Weg zur Einheit nicht durch Grenzfragen zu belasten. Nur so können wir die Unterstützung unseres nationalen Anliegens — der Einheit der Deutschen — durch unsere Freunde und Nachbarn in West und Ost erhalten. Die von mir geführte Bundesregierung würde es begrüßen, wenn die beiden frei gewählten deutschen Parlamente nach den Wahlen in der DDR am 18. März eine Bleichlautende Erklärung auf der Grundlage der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 8. November 1989 abgeben würden. Eine solche Erklärung wäre klarer Ausdruck des politischen Willens des ganzen deutschen Volkes, mit Blick auf die deutsche Einheit die Unverletzlichkeit der Grenzen gegenüber Polen als unverzichtbare Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa anzuerkennen.Ich werde mich dafür einsetzen, daß dann die demokratisch gewählte Regierung der DDR und die Bundesregierung ebenfalls eine entsprechende Willenserklärung abgeben.Meine Damen und Herren, der künftige gesamtdeutsche Souverän wird diese Frage dann abschließend in völkerrechtlich verbindlicher Form in einem Vertrag mit der Republik Polen zu regeln haben. Der Ihnen vorliegende Entschließungsentwurf der Koalitionsfraktionen erhält eine klare politische Absichtserklärung für eine solche vertragliche Regelung. Mein Ziel — und ich hoffe, unser gemeinsames Ziel — ist es, die Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk auf eine dauerhafte und feste Grundlage zu stellen. Dafür ist es auch von großer Bedeutung, daß Fragen, die für das deutsch-polnische Verhältnis wesentlich sind, auch im Verhältnis zu einem wiedervereinigten Deutschland als geregelt gelten. Ich habe in meiner Pressekonferenz am Montag deutlich gesagt, daß es hier in gar keiner Weise um eine Verknüpfung der Grenzfrage mit Bedingungen geht. Wir gehen davon aus, daß die von polnischer Seite gegebenen Zusicherungen gegenüber einem künftigen gesamtdeutschen Souverän gelten. Ich denke hier vor allem an die kulturellen Rechte für die
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15424 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Bundeskanzler Dr. KohlDeutschen — unter anderem. Das ist doch in Wahrheit für niemanden eine unzumutbare Forderung.
Der Minderheitenschutz muß in einem künftigen Europa Bestandteil einer gemeinsamen Rechtsordnung sein.
Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen hat François Mitterrand in einem umfassenden Interview zu Recht darauf hingewiesen, daß die Respektierung der Grenzen mit geeigneten Maßnahmen zugunsten der Minderheiten, die durch diese Grenzen eingeschlossen sind, einhergehen muß.
Er hat dabei ausdrücklich auf die Vereinbarungen von Helsinki hingewiesen. Und jetzt frage ich Sie: Wenn der Präsident der Französischen Republik dies prinzipiell im Blick auf die Reformentwicklung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in Bulgarien, in Rumänien, in Ungarn, in Polen und auch anderswo, angesprochen hat, was ist dann eigentlich so Schlimmes daran, wenn der deutsche Bundeskanzler das auch im Blick auf die Deutschen, die in Polen leben, klar und deutlich ausspricht?
Ist das nicht eigentlich eine bedrückende Situation, daß wir darüber hier überhaupt diskutieren müssen?
Vor dem Hintergrund von Forderungen, die gerade in den letzten Wochen von verschiedenen Seiten laut geworden sind, kann ich und kann auch die Bundesregierung nicht umhin, auf Klarheit auch in der Frage sogenannter Reparationsleistungen zu bestehen. Ich will auch hier die Entwicklungen in der Vergangenheit noch einmal in Erinnerung rufen.Bei den Verhandlungen über das Rentenabkommen mit Polen damals unter der Regierung Schmidt — der Kollege Genscher hat das mit ausgehandelt —
kam es entscheidend auf die Zustimmung des deutschen Bundesrates an, weil der Bundesrat verfassungsmäßig mit zuständig war. Im deutschen Bundesrat waren es die Stimmen der CDU/CSU-Länder — sie besaßen dort eine große Mehrheit — , die diese Regelung überhaupt erst möglich gemacht hatten. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Nachtsitzung, als Sie drüben im Öllenhauer-Haus schon fest damit rechneten, daß die CDU/CSU diese Vereinbarung zu Fall bringen würde und Sie bei den damals anstehenden Wahlen daraus politisches Kapital schlagen könnten.
Sie mußten die Flugblätter wieder einstampfen, weil wir schon damals für Frieden und Miteinander mit den Polen eingetreten sind.
Es ist doch unstreitig, daß in Polen und auch anderswo Forderungen diskutiert werden; deswegen ist dies eben kein Scheinproblem, und deswegen muß es angesprochen werden. Diese Klarstellung liegt im wohlverstandenen deutschen Interesse und im wohlverstandenen Interesse freundschaftlicher Beziehungen mit unseren polnischen Nachbarn. Es ist niemandem damit gedient, daß Forderungen auf dem Tisch bleiben .. .
Frau Vollmer, es reicht.
... und der Eindruck erweckt wird, als kämen in der Zukunft unabsehbare Lasten auf die Deutschen zu.
Die geschichtlichen Erfahrungen sollten uns eine Warnung sein.
Was Polen betrifft, gehe ich davon aus, daß der Verzicht Polens auf Reparationen gegenüber Deutschland vom August 1953 auch für das vereinte Deutschland gültig bleibt.
Dies ist ausdrücklich im Entschließungsentwurf noch einmal festgestellt.
Meine Damen und Herren, bei allen Gegensätzen hoffe ich, daß ich zum Schluß sagen darf, daß wir, der Deutsche Bundestag, das frei gewählte Parlament der Bundesrepublik Deutschland, in dieser Frage einer Meinung sind: einer Meinung darin, daß wir in dieser geschichtlichen Stunde einen Beitrag leisten, daß ein wiedervereinigtes Deutschland bald kommt; daß es eingebettet ist und bleibt in die Entwicklung in Europa; daß Deutschland in Europa nur gedeihen kann, wenn Europa frei und geeint ist und wenn Deutschland frei und geeint ist; und daß wir einen Beitrag zum Frieden leisten wollen.
Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ergibt sich für uns eine neue Chance. Wir wollen sie nutzen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kohl, das war nicht
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15425
Frau Dr. Däubler-Gmelindie Rede, die das deutsche Volk und die unsere Nachbarn vom Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland erwarten durften,
die sie in dieser Stunde erwarten mußten.
Das war eine parteipolitische Wahlrede und — lassen Sie sich das sagen, Herr Kollege Kohl — noch nicht einmal eine gute.
Auch politische Wahlreden, Herr Kohl, sollten sich dadurch auszeichnen, daß man die Wahrheit sagt.
Das, was Sie hier zu Sozialdemokraten gesagt haben, was Sie zu der Haltung der Sozialdemokraten zu den Geraer Forderungen gesagt haben, das war eine schlichte Lüge,
und das wissen Sie auch.
Herr Kohl, auch eine Wahlrede sollte nicht doppelzüngig sein, und Sie sind hier doppelzüngig aufgetreten.
Hier tun Sie so, als hätten Sie bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig in der ersten Reihe gestanden, als die Menschen in der DDR für Freiheit eingetreten sind,
und dabei haben Sie hier im bequemen Sessel gesessen;
dabei haben Sie hier gebremst, und dabei haben Sie hier gesagt, „die deutsche Frage" — das sind Ihre Worte — „steht nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte".
Herr Kohl,
das waren damals Ihre Worte; erst heute reden Sie anders.
Frau Kollegin, einen Moment bitte. Ich bitte die Damen und Herren, sich hinzusetzen oder den Saal zu verlassen, sich aber nicht dort hinten im Stehen zu unterhalten.
Herr Bundeskanzler — jetzt sage ich bewußt „Herr Bundeskanzler" —,
und jetzt sind Sie auch noch mit Parteien in der DDR verbündet, die 40 Jahre lang für Mauer, Stacheldraht und Stasi eingetreten sind.
Meine Damen und Herren, mit Recht beschwert sich die Rednerin, daß sie nicht zu Wort kommen kann.
— Herr Kollege, ich bitte Sie doch wirklich! Sie wissen, daß ich sehr tolerant bin. Zwischenfragen und Zwischenrufe sind das Salz in der Suppe. Aber es ist unmöglich, daß ich nicht in der Lage bin, hier einer Rednerin Gehör zu verschaffen; das geht einfach nicht. Ich bitte Sie um Ruhe.
Wenn es nicht möglich ist, daß hier in Ruhe diskutiert wird, muß die Sitzung unterbrochen werden, bis es soweit ist.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole das: Jetzt verbünden Sie sich im DDR-Wahlkampf mit einer CDU, die 40 Jahre lang mit der SED für Mauer, für Stacheldraht und für den Stasi eingetreten ist.
Herr Bundeskanzler, Sie haben hier kritisiert, daß das Gewerkschaftsgesetz der DDR beschlossen worden ist. Sie wissen, wir stimmen Ihnen zu. Aber warum sagen Sie hier nicht gleich auch, daß auch die CDU in der Volkskammer nicht gegen dieses Gesetz gestimmt hat? Das wäre die Wahrheit, nicht Ihre Doppelzüngigkeit.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eimer?
Nein, jetzt nicht; Sie schreien ja genügend dazwischen.Meine Damen und Herren, ich will hier feststellen: Von einem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland erwarten wir nicht nur, daß er die Wahrheit sagt und nicht mit Doppelzüngigkeit auftritt, son-
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15426 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Frau Dr. Däubler-Gmelindern wir erwarten in dieser Stunde auch eine Rede, die zeigt, daß er verstanden hat, worum es geht.
Es geht um die deutsch-deutsche Einigung. Das ist die größte Gestaltungsaufgabe im Nachkriegseuropa, Herr Bundeskanzler. Es geht hier nicht um CDU-Wahlkampf klein-klein, Herr Kohl.
Bei der Gestaltung der deutsch-deutschen Einheit ist die Haltung zu den Grenzen zwischen Deutschland, dem geeinten Deutschland, und unseren Nachbarn ganz außerordentlich wichtig.Wenn man Sie hört, Herr Bundeskanzler, dann ist da gar nichts gewesen mit der polnischen Westgrenze; dann haben sich alle, die von Koalitionskrise geredet und geschrieben haben, geirrt;
dann haben alle geträumt, die selbst im Fernsehen gesehen haben, daß Herr Bush in Camp David Bundeskanzler Kohl ermahnt hat, er möge reinen Tisch machen,
und dann haben alle die Unrecht, die wie so hervorragende Autoren, Schriftsteller und Europäer wie Andrzei Szczypiorski gestern ebenfalls — Herr Ronneburger hat ihn zitiert; an dieser Stelle stimme ich Ihnen zu — den Bundeskanzler ermahnt haben, nicht weiter Porzellan zu zerschlagen, für Aussöhnung einzutreten und für Klarheit zu sorgen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie kommen mir vor wie jemand, der sein Auto gegen einen Baum fährt und jetzt auch noch sein Heil in Unfallflucht sucht.
Wir sagen Ihnen: Dadurch sind Schäden eingetreten, und diese Schäden sind unendlich groß: Sie haben in West und Ost Mißtrauen gegen die Deutschen geweckt. Sie haben jenen wenigen Vertriebenenfunktionären im Innern unserer Republik Mut gemacht, die heute wieder laut von „Verzicht" und „Verrat" reden, wenn es um die Garantie der polnischen Westgrenze geht, obwohl alle wissen, daß die Oder-NeißeGrenze völkerrechtlich schon längst anerkannt ist.Herr Bundeskanzler, Sie haben auch Schaden angerichtet, Sie haben Anstand und Würde verletzt, weil Sie nicht nur die Frage der Reparationen, sondern auch die Hilfe für Zwangsarbeiter, denen doch ganz unstreitig Unrecht geschehen ist, jetzt auch noch mit der polnischen Grenzfrage zusammengebracht haben. Auch daß Sie die Grenzfrage in Ihrer Rede jetzt wieder in einem Atemzug mit Reparationen nennen, Herr Bundeskanzler, ist ein Schaden, der wiedergutgemacht werden muß.
Wir sagen deshalb: Dieser Schaden muß beseitigt werden.Meine Damen und Herren, so sehr wir die Tatsache der neuen gemeinsamen Erklärung zwischen Union und FDP begrüßen, so deutlich sagen wir doch: Diese Erklärung ist bestenfalls ein erster Schritt, nicht mehr. Da muß noch einiges hinzukommen, da muß Schaden wiedergutgemacht werden. Deswegen geht es gar nicht an, das zu tun, was Sie jetzt am liebsten hätten, nämlich die ganze Angelegenheit mit dem Mantel der Liebe zu überdecken, ganz abgesehen davon, daß es so weite Mäntel gar nicht gibt. Herr Kohl tappt ja schneller in viel mehr Fettnäpfchen hinein, als ein ganzes Räumkommando wegräumen könnte.
Deswegen sagen wir, meine Damen und Herren: Wir bestehen weiter auf Klarheit in drei Punkten. — Ich nenne sie und wäre Ihnen ganz dankbar, Herr Bundeskanzler, wenn Sie wenigstens jetzt zuhören würden; ich glaube, es ist auch für Sie wichtig.
Erstens. Wir müssen versuchen, wieder Vertrauen zu schaffen. Ich sage Ihnen: Das wird schwer sein, und es wird auch teuer werden. Ich befürchte, daß wir alle in Heller und Pfennig bezahlen müssen, was der Herr Bundeskanzler an Schaden angerichtet hat.Zweitens erwarten wir klare Worte gegen die Vertriebenenfunktionäre und ihren Worten von „Verzicht" und „Verrat" , Herr Bundeskanzler.
Es geht doch nicht darum, daß Sie die persönliche Anständigkeit des Kollegen Czaja hier verteidigen; die greifen wir nicht an. Es geht vielmehr darum, daß Sie in der Sache Position beziehen.
Es geht darum, daß Sie dem Zitat von Herrn Czaja widersprechen. Es geht darum — dazu fordern wir Sie auf — , die Worte von Verzicht, die Worte von Verrat zurückzuweisen.
Meine Damen und Herren, wir fordern Sie auch auf, die von Ihnen ermutigten antipolnischen Ressentiments zurückzuweisen.
Müssen wir Sie in diesem Haus wirklich daran erinnern, Herr Bundeskanzler, daß antipolnische Ressentiments keine vernünftigen Mittel der Wählerwerbung sind?
Auf diese Wähler können Sie doch leicht verzichten, Herr Bundeskanzler. Sagen Sie diese klaren Worte!
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15427
Frau Dr. Däubler-Gmelin
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerade weil der Schaden eingetreten ist, verlangen wir von Ihnen — wir verlangen das übrigens auch von der FDP,
und wir verlangen es ebenso von den Kolleginnen und Kollegen von der Union — , daß Sie mit uns schnell nach einem Weg zur Hilfe, zur Wiedergutmachung des Unrechts an polnischen Zwangsarbeitern suchen.
Sie wissen genau: Es geht hier um Wiedergutmachung von Unrecht an Menschen, die aus Polen verschleppt wurden, von denen viele gestorben sind, von denen sehr viele ihre Gesundheit ruiniert haben, die heute alt sind und im Elend leben. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe. Sie wissen auch: Das ist keine Frage von Grenzen und Reparationen. Es gibt auch einen geeigneten Weg: Wir haben die Errichtung einer Stiftung vorgeschlagen.
Meine Damen und Herren, glauben Sie ja nicht, daß die Menschen bei uns in der Bundesrepublik oder die in der DDR so schäbig sind, nicht anzuerkennen, daß dieses Unrecht wiedergutgemacht werden muß.
Uns sind Tausende von Briefen zugegangen. Es gibt auch Unternehmen, in deren Vorgänger Zwangsarbeiter im Rahmen des Nazi-Programms „Vernichtung durch Arbeit" gearbeitet haben, die sagen: Jawohl, wir machen mit, wenn der Bund einen Weg aufzeigt: Das gilt für BMW, auch für Daimler-Benz.
Der Schaden, den Sie angerichtet haben — ich darf das wiederholen — , kann nur wiedergutgemacht werden, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, wenn die Bundesregierung, wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, zusammen mit uns schnell nach einer Lösung suchen und eine Stiftung ins Leben rufen, die Unrecht wiedergutmacht, wo das heute noch geht.
Ich will Ihnen noch eines sagen — das sage ich mit allem Nachdruck — : Sie alle, wir alle reden davon, daß in 40 Jahren SED-Herrschaft in der DDR viel Unrecht geschehen ist und daß dieses Unrecht wiedergutgemacht werden muß. Halten Sie es für glaubwürdig, wenn Sie das erklären und gleichzeitig in der Frage der polnischen Zwangsarbeiter so handeln, so reden, wie Sie das tun?
Ich sage Ihnen: Das ist unglaubwürdig. Hier müssen wir und Sie gemeinsam etwas tun. Wir entlassen Sie hier nicht aus der Verantwortung.
Meine Damen und Herren, wir verlangen Klarheit. Wir verlangen die Wiedergutmachung des Schadens. Unser Antrag ist klar und deutlich. Herr Mischnick, er ist sehr viel klarer als das, was Sie zusammen mit der Union vorgelegt oder dem Sie zugestimmt haben.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, in bezug auf das Verfahren zur Garantie der polnischen Westgrenze ist unser Antrag ebenfalls deutlicher als Ihrer. Deshalb können wir beiden Anträgen nicht zustimmen. Im Gegenteil: Wir bitten Sie, unserem Antrag im Interesse auch der Deutschen und im Interesse der Klarheit und der Schadenswiedergutmachung zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Drei Minuten werden Sie vielleicht noch Zeit haben; denn drei Minuten sind schnell vorüber. Wie ein Herr Bundeskanzler Kohl in drei Minuten die „Gnade" seiner „späten Geburt" vergißt, das war in den letzten Wochen ein Schulbeispiel eines Mannes, von dem man gedacht hat, er hätte gelernt. Leider hat dieser Mann aus der Geschichte nicht gelernt.Er hätte mit der Gnade seiner späten Geburt die große Versöhnung einleiten können, statt klein und gehässig z. B. den Vertriebenen — und da einer ganz geringen Minderheit, Herr Dregger —
nach dem Munde zu reden. Anstatt hier in der Bundesrepublik Deutschland die soziale Dimension der christlichen Grundwerte erdacht oder erstritten zu haben, lenken Sie ab auf unsere Brüder und Schwestern in der DDR, bringen dort alles restlos durcheinander und vergessen die soziale Dimension des Denkens.
Nehmen Sie eines zur Kenntnis: Ihre Großschnäuzigkeit da drüben erschüttert die Menschen. Gott sei Dank haben wir Alten es geschafft, auch in der gesamten DDR Graue Panther aufzubauen.
Ohne diese Großschnäuzigkeit, ohne das Geld, das Sie dahin scheffeln, ohne daß Sie — genauso wie die SPD — es wagen — —
— Jetzt hören Sie einmal beide zu: Beide haben Sie es in der DDR versäumt, eine Versöhnung einzuleiten, die wir Grauen ganz kurz betiteln: die Wendehalsbewährung.
— Hören Sie mit den Gehässigkeiten auf!Nehmen Sie die Wendehalsbewährung ernst. Nehmen Sie bitte auch ernst, wenn die Rentner hier wie drüben enorme Angst haben. Ich bin in der Hitlerzeit groß geworden. Was ist danach passiert? Wer ist wieder in die Regierungsverantwortung gekommen? Machen Sie nicht genau denselben Fehler wie nach 1945!
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15428 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Frau Unruh— Herr Bötsch, Sie haben die besten Veranlagungen dazu. Unterlassen Sie das!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Die Reaktionen sind natürlich dem Ernst der Debatte angemessen.
Ich möchte zu den Ausführungen von Herrn Kohl folgendes bemerken. Dazu würde man sagen: Thema verfehlt. Neun Minuten waren glatter Wahlkampf, siebzehn Minuten waren deutsch-deutsche Debatte, und vier Minuten waren dem eigentlichen Thema gewidmet.
Ich möchte auch folgendes feststellen: Herr Dr. Kohl hat als Bundeskanzler in diesem Haus keine politische Mehrheit für seine Position in der Frage der Westgrenze Polens.
Zum zweiten: Die Verbindung der Grenzfrage mit den Reparationen ist erstmals — und das geht vor allen Dingen an die Adresse der FDP — in einer vorgesehenen Entschließung des Bundestages enthalten. Dies, meine Damen und Herren, ist ein moralischer und politischer Skandal.
Drittens. Die FDP sollte auch realisieren, daß dieser Kanzler heute — nicht nur heute, auch im Vorfeld der heutigen Debatte — nicht mehr als Kanzler einer Koalitionsregierung auftritt, sondern als Kanzler der Union.
Viertens. Wir haben am 1. September letzten Jahres
— zum 50. Jahrestag des Kriegsbeginns durch das Dritte Reich — sowie am 8. November Entschließungen verabschiedet. Wir haben auch am 25. Januar dieses Jahres eine Entschließung verabschiedet. Sie sind fast wortgleich mit dem, was heute von den Regierungsfraktionen zur Abstimmung gestellt wird. Das alles hat nicht verhindern können, daß wir diese peinlichen internationalen Auftritte erlebt haben. Ich prophezeie Ihnen, daß auch die heutige Entschließung, zumal sie durch die Verbindung mit den Reparationen noch einen Rückschritt darstellt, solche Peinlichkeiten auch in Zukunft nicht verhindern wird.
Wir haben erlebt, wie im Vorfeld der Debatte vom 25. Januar dieses Jahres im Zusammenhang mit einer Entschließung, die fast wortgleich mit der heutigen ist, alle Stürme abgeblasen worden sind, auch von den bundesdeutschen Kommentatoren, ob von Peter Voß in „ZDF" oder von der „FAZ" . Wir haben den gleichen Effekt in den letzten zwei Tagen, von vorgestern bis heute, im Hinblick auf die heutige Debatte gehabt. Das wird in der Sache überhaupt nichts bringen.
Das, was im Hinterkopf von Herrn Dr. Kohl ist
— denn er hat ja das ummantelt, was Herr Czaja deutlich ausdrückt —, ist folgendes: Bei festzustellender zeitlicher Diskontinuität zwischen dem deutschen Vereinigungsprozeß und dem europäischen Integrationsprozeß wird immer klarer, daß das knapp 80 Millionen zählende Volk im Zentrum Europas
eine wirtschaftliche Hegemonialmacht sein wird. Daß diese Wirtschaftsmacht, Herr Dr. Dregger, nicht auch eine politische Macht werden wird, das glaubt doch wohl keiner. Daß, wenn es solch eine politische Macht, eine wirkliche Hegemonialmacht, sein kann
— der europäische Integrationsprozeß wird zu dem Zeitpunkt nicht so weit vorangeschritten sein — , wieder entsprechende Gelüste nach dem Motto „Der Appetit kommt beim Essen" laut werden, dürfte nach den Diskussionen der letzten Tage und Wochen auch deutlich geworden sein. Ich bin ferner der Auffassung, daß kaum etwas Disqualifizierenderes gemacht werden kann, als diese Fragen für innerparteiliche Kalküle und Wahlkampftaktik zu mißbrauchen.
Ich glaube zudem, daß wir in den letzten Tagen mit dem Verhalten des Bundeskanzlers Dr. Kohl ein bewegendes Beispiel dafür erlebt haben, daß die Frage gestellt werden muß, ob die Deutschen ihre inneren Angelegenheiten, wie hier so selbstverständlich behauptet, tatsächlich alleine regeln können. Insofern erscheint die Formulierung im Entschließungsantrag der GRÜNEN, daß die Alliierten die Garantiemächte für die Westgrenze Polens darstellen, ausgesprochen weise.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Mir liegt der Wunsch nach einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von Herrn Dr. Lippelt vor.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da Frau Däubler-Gmelin das Abstimmungsverhalten der SPD kurz begründet hat, möchte ich auch unseres erläutern: Wir finden, es hat ein sehr fruchtbarer Dialog zwischen meiner Fraktion und der der SPD stattgefunden.
— Wenn Sie meinen, da entdeckten Sie etwas, dann entdecken Sie es sehr spät.
Auf die erste Fassung der SPD haben wir mit unserem Antrag reagiert. Und auf unseren Antrag hat die SPD noch eine zweite, bessere Fassung gemacht. Das war ein guter indirekter Dialog.
Deshalb sehen wir keinen Anlaß, auf Grund von Subtilitäten, in denen wir uns unterscheiden, dem SPD-Antrag etwa nicht zuzustimmen, und stimmen insofern natürlich beiden Anträgen zu.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15429
Meine Damen und Herren, zur Abstimmung liegen schriftliche Erklärungen — ich darf sie erwähnen — des Herrn Abgeordneten Lowack, des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja
— nein, ich bin nicht bereit, das vorzulesen, denn dann könnte das auch mündlich erklärt werden — , der Abgeordneten Matthias Engelsberger, Kurt Rossmanith, Dr. Franz-Hermann Kappes, des Herrn Abgeordneten Werner und des Herrn Abgeordneten Wilz vor. * )
Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Ihnen liegt zur Abstimmung der Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP auf Drucksache 11/6579 vor. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei 5 Enthaltungen aus der CDU/CSU ist dieser Antrag mit Mehrheit angenommen.
Wer stimmt nun für den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6591? — Gegenprobe!
— Enthaltungen? — Dieser Antrag ist bei einigen Enthaltungen aus der SPD mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6611. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit bei einer oder einigen Enthaltungen — man kann das nicht so schnell sehen — abgelehnt.
Damit erübrigt sich eine Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6570, und wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf.
15. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1990
— Drucksache 11/6400 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
— Drucksache 11/6592 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Waigel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol-') Anlagen 2 bis 4 legen! Ich darf mich bei Ihnen, Frau Präsident, bedanken, daß Sie auf die Wichtigkeit dieser Aussprache hingewiesen haben. Die Anwesenheit aller Fraktionen steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu dieser Bedeutung.
Aber wir sind das gewöhnt und werden trotzdem unsere Pflicht tun. — Die wichtigen sind da — ich gebe Ihnen völlig recht — , und zwar betrifft das alle Seiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem zur ersten Beratung vorgelegten Entwurf des Nachtragshaushalts 1990 schaffen wir die Grundlagen für humanitäre Soforthilfe sowie für eine wirksame Unterstützung der DDR auf dem Weg zur Marktwirtschaft. Der Nachtragshaushalt 1990 ist Teil unserer Gesamtkonzeption zur Vereinigung Deutschlands. — Frau Präsidentin, da leuchtet laufend die rote Lampe mit der Aufschrift „Präsident" auf. Wäre es möglich, daß man die ausschaltet? — Ich bedanke mich.
— Nein, die Präsidentin beruhigt mich.
— Hier ist Gelächter, auch in den eigenen Reihen, fehl am Platz — das möchte ich ausdrücklich betonen —, weil diese Präsidentin uneingeschränkt meine politische und meine persönliche Hochachtung genießt. Das möchte ich noch einmal feststellen.
Unser Angebot an die Mitbürger in der DDR ist umfassend und uneingeschränkt. Es enthält unsere in mehr als 40 Jahren erprobte und erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft. Es enthält unsere außerordentlich stabile, weltweit begehrte Währung, die Deutsche Mark. Und es enthält solidarische Hilfe beim Aufbau und bei der Festigung der sozialen Sicherungssysteme.Der Nachtragshaushalt 1990 ist Teil unserer Gesamtkonzeption zur Vereinigung Deutschlands. Wir machen die Tür zur deutschen Einheit, die die Menschen in Ost und West wollen, weit auf. Wir wollen niemanden vereinnahmen, sondern es geht um die Einheit und Solidarität aller Deutschen. Jeder der bisher getrennten Teile wird zur Stärke der neuen Gemeinschaft beitragen, und jeder Teil wird aus ihr Vorteile ziehen.Die Einführung einer Währungsunion ist ein Schritt auf dem Weg zur staatlichen Einheit. Wie wir diesen Weg gehen wollen, müssen wir zusammen mit der DDR entscheiden. Wir können — das ist ja bereits in der Debatte vorher zum Ausdruck gekommen — mit dem Grundgesetz die freiheitlichste und beste Verfassung, die Deutschland je besaß, anbieten. Unser Grundgesetz hat sich in mehr als 40 Jahren hervorragend bewährt. Deshalb schlagen wir den Weg über
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15430 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Bundesminister Dr. WaigelArt. 23 GG vor, der den erweiterten Geltungsbereich des Grundgesetzes ermöglicht und damit den bestmöglichen Rahmen für eine wirtschaftliche, für eine währungsmäßige und für eine politische Einigung darstellt.
Der Weg über Art. 23 GG eröffnet zugleich den Deutschen in der DDR und den staatlichen Institutionen im anderen Teil Deutschlands, insbesondere den wiederzuerrichtenden Ländern, unmittelbar die Möglichkeit, die Rechte aus unserer Verfassung zu nutzen und an der Entwicklung Deutschlands und Europas aktiv mitzuarbeiten. Und wir sollten, meine Damen und Herren, nicht zuletzt daran denken, was das im Hinblick auf die europäische Einigung bedeutet.
Es wird im Augenblick doch wohl niemand einen Gedanken darauf verschwenden, auf einem anderen Weg nochmals neue Beitrittsverhandlungen und nochmals einen neuen EG-Vertrag abschließen zu wollen.
Und bei keiner anderen Lösung könnten die politischen Stellen, die neuen demokratischen politischen Institutionen der DDR, daran mitwirken und über die Länder, über den Zentralbankrat und über andere Möglichkeiten hier institutionell beteiligt sein.Meine Damen und Herren, die effektive Unterstützung für die Menschen in der DDR ist kein Milliardenspiel. Solidarität beweist nicht der, der ohne Konzeption am Umverteilungskarussell der staatlichen Haushalte dreht.
Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Es geht um die wirksame Unterstützung eines wirtschaftlichen Aufholprozesses. Es geht darum, die Kräfte in der DDR, den Aufbauwillen und die Fähigkeiten der Menschen zu nutzen. Aber wir sollten nicht versuchen, eine moderne Volkswirtschaft nach unserem Bild auf dem Reißbrett zu planen und mit Milliardenbeträgen aus öffentlichen Kassen sozusagen auf der grünen Wiese zu errichten.
— Das ginge auch gar nicht. Sie haben völlig recht. Das würde jeden öffentlichen Haushalt und alle öffentlichen Haushalte überfordern.
Professor Karl Schiller hat in einem wirklich bedenkenswerten und nachlesenswerten Interview der „Wirtschaftswoche" dem gegenwärtigen Zahlenrausch eine klare Absage erteilt und die entsprechenden Berechnungen als unsolide disqualifiziert. Ich habe das immer wieder in den letzten Wochen und Monaten getan. Jeder, der darüber philosophiert, jeder, der darüber Schlagzeilen produziert, weiß offensichtlich gar nicht, welch unverantwortliches Handelnim Hinblick auf die Finanzmärkte er damit auf sich nimmt. Ich kann nur an alle Politiker der Opposition und der Koalition appellieren, sich dieser Disziplin im Hinblick auf das Gemeinwohl und auf die Auswirkungen für unsere Chancen, helfen zu können, voll bewußt zu sein.
Wir geben statt dessen, was die Bürger im anderen Teil Deutschlands brauchen: Solidarität, Orientierung und einen festen Rahmen für die wirtschaftliche und für die politische Wiedervereinigung.Durch den Nachtragshaushalt 1990 wird zum einen die bereits vereinbarte humanitäre Soforthilfe für die DDR finanziert. Zum zweiten geht es um die Förderung marktwirtschaftlicher Strukturen in der DDR und der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen. Schließlich schaffen wir eine Haushaltsreserve zur Finanzierung künftiger deutschlandpolitischer Aufgaben, deren Finanzbedarf noch nicht feststeht.Auch unter Einbeziehung des Nachtragshaushalts von rund 7 Milliarden DM hält sich der Anstieg der Bundesausgaben 1990 im Rahmen des erwarteten Zuwachses des Bruttosozialprodukts. Auch das ist Ausdruck einer soliden, verantwortlichen Finanzpolitik und Haushaltspolitik auch in Zeiten großer Herausforderung, großer Verantwortung, großer Begehrlichkeit, wenn wir hier mit dem Zuwachs des Haushalts immer noch unter dem nominellen Zuwachs des Bruttosozialprodukts liegen.
Wir befinden uns damit heute noch in einer solideren Phase, als dies Ende der 70er und vor allem Anfang der 80er Jahre der Fall war.Wir haben sieben Jahre in die Zukunft investiert und können deshalb die Probleme der Gegenwart meistern.
— Frau Kollegin, hereinzukommen und sofort einen Zwischenruf zu machen und noch nicht einmal zu wissen, was ich gesagt habe,
das verzeihe ich nur Ihnen, sonst niemandem.
Unverantwortliche finanzpolitische Experimente wie die vom Spitzenkandidaten der PDS, Herrn Modrow, der zwar immer sehr solide redet und sich sehr solide gibt, der aber immer noch ein in der Wolle gefärbter Kommunist ist, was er in den letzten Tagen wieder bewiesen hat,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15431
Bundesminister Dr. Waigelwie diese von ihm und leider auch von der Opposition bei uns vorgetragene Forderung nach ungebundenen Finanzhilfen von 10 bis 15 Milliarden DM
wird es mit uns auch in der Zukunft nicht geben.
— Ich bedanke mich für den Hinweis: Mit Ihnen auch nicht. Dann frage ich mich aber, warum Sie uns kritisiert haben, als wir dieser Forderung nach 15 Milliarden DM Soforthilfe damals widerstanden haben. Nichts anderes wäre das damals gewesen.
Wir investieren dort in die Soziale Marktwirtschaft. Wir investieren in die Freiheit und den Aufbau der Demokratie. Wir investieren in den Wandel. Wir investieren in die soziale Flankierung dieses Aufbaus einer Sozialen Marktwirtschaft. Wir investieren aber nicht in ein marodes, kaputtes System, das bisher seinen Wandel nicht unter Beweis gestellt hat, was das ökonomische Feld anbelangt.
Leider können Sozialdemokraten offensichtlich auch heute noch weder wirtschaften noch rechnen.
Das zeigt sich zuletzt im Vorwurf von Frau Matthäus-Maier und auch von Herrn Wieczorek, der Nachtrag enthalte nur 1 Milliarde DM für die DDR. Ich meine eigentlich, in einer solchen Phase stünde es der Opposition gut an, die Begehrlichkeit anderer Seiten abzuwehren, statt die Begehrlichkeit anderer Seiten zu schüren und uns zu kritisieren, wir betrieben keine solide Haushaltspolitik.
Das paßt nicht zusammen.
Aber richtig ist: Von den insgesamt eingeplanten 7 Milliarden DM kommen direkt und indirekt fast 6 Milliarden DM den Bürgen im anderen Teil Deutschlands zugute. Das ist in einer schwierigen Situation die angemessene, solidarische und notwendige Hilfe. Es ist eine bedeutende Leistung.Die jetzt vorgesehenen Leistungen übertreffen z. B. das gesamte Haushaltsvolumen einiger Bundesländer, beispielsweise des Saarlands. Es würde mich als Finanzminister natürlich reizen, auf die Äußerungen des Landesrechnungshofs einzugehen und zu fragen, ob eigentlich jemand für die gesamte Bundesrepublik Deutschland die finanzpolitische Verantwortung übernehmen kann, wenn ihm sein eigener Rechnungshof das bescheinigt, was heute in den Zeitungen zu lesen ist. Sie sollten sich damit noch einmal sehr eingehend auseinandersetzen.
Mit über 2 Milliarden DM tragen wir zum Reisedevisenfonds von insgesamt 2,9 Milliarden DM bei. Durch die Aufstockung des ERP-Sondervermögens um insgesamt 2 Milliarden DM stehen in den nächsten Jahren 6 Milliarden DM an Krediten für den Aufbau eines leistungsfähigen Mittelstands in der DDR zur Verfügung. Das, meine Damen und Herren, ist eine ganz wichtige Grundentscheidung, dem Mittelstand, dem Handwerk in der DDR eine Chance zu geben, von diesen verheerenden Strukturen wegzukommen und den Mittelschichten dort Entwicklungsmöglichkeiten zu geben. Das tun wir mit diesem Programm.Neben den ERP-Krediten haben wir 90 Millionen DM für weitere mittelstandspolitische Maßnahmen, insbesondere im Bereich Technologietransfer, Forschung und Entwicklung sowie Information, Schulung und Ausbildung bereitgestellt.Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit einmal bei den Handwerkskammern, den Industrie- und Handelskammern und all diesen Organisationen — vor allen Dingen im grenznahen Bereich — für die großartige Kooperation, Hilfe, Unterstützung und Schulung bedanken, die in den letzten Wochen und Monaten erfolgte.
Das war beispielhaft, das war vorbildlich. Man hat gehandelt, ohne lange zu warten, bis der Staat mit irgendwelchen Hilfszusagen kommt. Ich meine: Dieses Geld ist wirklich gut angelegt. Wir wollen das auch in der Zukunft tun.Wir fördern gezielt Infrastrukturprojekte in der DDR oder mit unmittelbarem Bezug zur DDR. Wir bauen die innerdeutschen Verkehrswege aus. Die Mittel für Umweltschutzinvestitionen, für die im Finanzplan bisher 300 Millionen DM vorgesehen waren, werden um 600 Millionen DM aufgestockt. Es sind insgesamt über 21 Projekte, über die der Bundesumweltminister mit der anderen Seite im Augenblick im Gespräch ist.Es hängt allein von der anderen Seite ab, wie schnell und in welchem Umfang sie verwirklicht werden können. An uns und an unserem Beitrag zur Finanzierung wird in dem Zusammenhang nichts scheitern. Auch das möchte ich ganz klar zum Ausdruck bringen. Es hilft den Menschen drüben, und es hilft den Menschen hier.Ich meine, das ist ein besonders wirksamer Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit, und zwar nicht nur in Deutschland.
Wir wollen darüber hinaus auch aus den Mitteln der neuen, aus der Salzgitter-Privatisierung finanzierten Deutschen Stiftung Umwelt innerdeutsche Kooperationsprojekte im Bereich der Umwelt fördern. Dabei geht es vor allem um die Anwendung von Umwelttechniken, vorwiegend im Bereich mittelständischer Unternehmen. In diese Förderung sollen auch Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung einbezogen werden.Ich glaube, daß es richtig ist, gerade in dieser Zeit stärker in diese Richtung zu gehen und das deutsch-
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15432 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Bundesminister Dr. Waigeldeutsche Verhältnis bei diesen Umweltschutzinnovationen in den Vordergrund zu rücken.
Ich darf Sie sehr herzlich bitten, uns in den nächsten Wochen und Monaten, wenn wir mit dem entsprechenden Stiftungsgesetz kommen, zu unterstützen, damit es noch rechtzeitig in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann.
Wir haben eine Soforthilfe von 320 Millionen DM für die medizinische Versorgung vorgesehen, um dringende Engpässe bei der Versorgung mit Medizintechnik, Arzneimitteln sowie Verbrauchsmaterialien in der DDR zu beheben.Wir helfen den Bundesländern, den unverändert hohen Zustrom an Übersiedlern zu bewältigen. 500 Millionen DM sind im Nachtragshaushalt 1990 für Investitionen in Einrichtungen zur vorläufigen Unterbringung von Aus- und Übersiedlern vorgesehen.Wir tragen der besonderen Belastung Berlins nach Öffnung der Grenzen durch eine Erhöhung der Bundeshilfe um 400 Millionen DM Rechnung.
Zusätzlich zum Bundeshaushalt erfolgen Leistungen an die DDR aus den Haushalten der Postunternehmen. Die Postpauschale für das Jahr 1990 wurde um 100 Millionen DM auf 300 Millionen DM erhöht. 250 Millionen DM hiervon stehen zur Erneuerung und zum Ausbau des Post- und Fernmeldewesens in der DDR zur Verfügung; eine ganz wichtige Investition, um dann auch im industriellen Bereich, im handwerklichen und mittelständischen Bereich, im Bankenbereich und auch sonstwo die notwendige Infrastruktur zu schaffen.Angesichts dieser großen Leistungen vergessen wir die Hilfen für andere Völker in Europa nicht. Auch angesichts der besonderen Verpflichtungen unseren Mitbürgern in der DDR gegenüber übersehen wir nicht die Probleme und die politischen Prozesse in den anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Wir haben Polen den sogenannten Jumbo-Kredit erlassen bzw. in Zloty umgewandelt. Für den deutschen Beitrag zum Stabilisierungsfonds der westlichen Industrieländer für Polen haben wir Zinsverbilligungsmittel von insgesamt 105 Millionen DM eingeplant. Darüber hinaus leisten wir im Rahmen des Nachtragshaushalts 1990 Nahrungsmittelhilfe für die Sowjetunion in Höhe von 220 Millionen DM, Soforthilfe für Rumänien von 60 Millionen DM sowie eine Unterstützung der polnischen Landwirtschaft in Höhe von 10 Millionen DM.Was zum jetzigen Zeitpunkt im Zusammenhang mit der deutschlandpolitischen Entwicklung finanziert werden muß, steht im Nachtragshaushalt 1990. Wir verfügen mit dem Globaltitel von 2 Milliarden DM über Handlungsspielraum für noch hinzukommende Aufgaben. Insofern geht die Kritik der Opposition an diesem Etat, seiner Höhe und seiner Struktur völlig ins Leere. Wir tun zum jetzigen Zeitpunkt das Mögliche und Notwendige und brauchen uns dafür von niemandem kritisieren lassen.
Aber noch viel wichtiger, meine Damen und Herren, als die Bereitstellung öffentlicher Mittel sind die Herbeiführung attraktiver Investitionsbedingungen in der DDR, marktwirtschaftlicher Reformen und ein verläßlicher rechtlicher Rahmen für das Zusammenwachsen der beiden deutschen Volkswirtschaften. Hier hat die Übergangsregierung der DDR, Herr Modrow und seine Minister, kläglich versagt. Sie hätten in den letzten Wochen und Monaten viel mehr tun können.
Sie sind noch weit hinter dem zurück, was Polen, Ungarn und andere Länder mutig in Angriff genommen haben.
Unser Angebot einer Währungsunion — das muß immer wieder gesagt werden — steht und fällt mit der Durchsetzung umfassender marktwirtschaftlicher Reformen. Hier haben die Regierung der DDR und die Volkskammer mit ihren letzten Beschlüssen keinen produktiven und fruchtbaren Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet. Auch das muß heute in aller Klarheit und Offenheit gesagt werden.Ich kenne und respektiere die wissenschaftlich fundierten Argumente der Kritiker einer raschen Währungsunion. Ich weiß, daß dieses Angebot von manchem als riskant beurteilt wird. Wir sind uns der Risiken und Probleme und auch der fundierten kritischen Beiträge voll bewußt. Wir müssen aber bei dieser Entscheidung — auch das hat Professor Schiller, wie ich meine, sehr fundiert und fair zum Ausdruck gebracht — die Entscheidung der Menschen berücksichtigen, die Dynamik, die Selbständigkeit der Entwicklung in Deutschland in Rechnung stellen. Wir müssen uns überlegen: Wer kann, wer soll und wer wird jetzt und nach dem 18. März die Kraft, die politische Autorität, den Mut und das Durchsetzungsvermögen haben, um das schrittweise in einem Zeitraum von vielen Monaten oder Jahren in die Wege zu leiten, was notwendig wäre, um über eine Konvertibilität zur Währungsunion zu kommen? Meine Sorge und wohl unsere gemeinsame Sorge ist es doch, daß dann die neuen demokratischen Kräfte zerrieben werden könnten
zwischen der Demagogie der Altkommunisten von links
und vielleicht auch Kräften von rechts, selbstverständlich.
— Was haben Sie gesagt? Haben Sie gesagt „Ihre Leute"?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15433
Bundesminister Dr. WaigelFrau Matthäus-Maier, ich weise diese Bemerkung „radikale Kräfte von rechts und Ihre Leute" zurück.
Es ist eine politische Unverschämtheit, was Sie mir und uns hier unterstellen.
Ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie jetzt drüben gemeinsame Sache mit der SED oder mit linksradikalen Kräften betreiben. Ich lasse mir nicht unterstellen und wir lassen uns von Ihnen nicht unterstellen, daß wir etwas mit rechten Kräften, die sich drüben bisher — Gott sei Dank — gar nicht etablieren konnten, zu tun haben.Aber ich äußere nochmals meine Sorge, daß — wie in jeder neuen Demokratie — die Kräfte der Mitte, die demokratischen Kräfte in einer so schwierigen Situation zwischen den Radikalen von links und rechts aufgerieben werden könnten, wenn hier nicht schnelle Entscheidungen fallen und wenn wir nicht solidarisch bereit sind, die Dinge mitzutragen.
Wenn wir abwarten, wenn wir den scheinbar sicheren Weg einer allmählichen Annäherung der beiden deutschen Volkswirtschaften wählen, riskieren wir den wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch der DDR mit allen unübersehbaren Konsequenzen. Im übrigen ist auch ein schrittweiser Anpassungsprozeß mit großen Problemen behaftet. Verzögerungen und ungleichgewichtige Reformfortschritte in einzelnen Bereichen können dringend erforderliche Erfolge in Frage stellen.Eine Währungsunion mit Wirtschaftsreform bedeutet den Sprung ins kalte Wasser. Erst gestern hat mir ein sehr verantwortlicher Vertreter der Bankenwelt gesagt: Jedermann weiß, daß man es nicht tun dürfte, und jedermann weiß, daß man es tun muß. — In diesem Spannungsfeld und in diesem Zielkonflikt befinden wir uns.Wir wissen, was wir mit unserer außerordentlich erfolgreichen Wettbewerbs- und Sozialordnung anbieten. Es wird mehr Wachstum und mehr Beschäftigung geben. Damit werden auch die Grundlagen für die Finanzierung der notwendigen sozialen Leistungen entscheidend verbessert. Die Bundesregierung bietet den Menschen in der DDR einen klaren Weg zur deutschen Einheit und zur wirtschaftlichen Gesundung.Was aber sind die Alternativen der Opposition? Es ist ein durchsichtiges deutschlandpolitisches Doppelspiel — ich muß das leider feststellen — , in dem Brandt und Lafontaine verschiedene Rollen spielen:
Willy Brandt für die gesamtdeutsche Seele und Lafontaine für den bundesdeutschen Neid.
Das ist die Aufgabenverteilung, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen.Sie fordern ungedeckte Versprechen auf unlimitierte Finanzhilfen, und Sie bieten unausgegorene Wirtschaftskonzeptionen mit den alten Rezepten staatlicher Planung und sozialistischer Bevormundung.
— Liebe Frau Kollegin, lesen Sie doch einmal, was der frühere Staatssekretär Rohwedder, der nun wirklich von Wirtschaft etwas versteht, Ihnen zu sagen hat.
Durch Ihr ganzes Programm geht der sozialistische Mief, sagt er. Darüber sollten Sie nachdenken.
Es sind doch die härtesten Kritiken, die Sie aus den eigenen Reihen einholen und immer wieder erreichen.
Wie sagte Ihr mutmaßlicher Kanzlerkanditat auf dem Parteitag in Berlin? Er sagte: Wer unser System preist, hat überhaupt nicht die Zeichen der Zeit verstanden. — Warum wollen dann Millionen im Ostblock, in Osteuropa, in Mitteleuropa und in der DDR dieses System, das politisch freie System und das System der freien Sozialen Marktwirtschaft? Sie wollen keine Annäherungsstrategie, wie Sie sie in den 60er Jahren uns einmal empfehlen wollten.Wenn in Ihrem Grundsatzprogramm immer noch über Investitionslenkung und über die Zusammenführung übergreifender staatlicher Entwicklungspläne philosophiert wird, dann zeigt dies, daß Sie aus der Entwicklung nichts gelernt haben.
Wenn Herr Lafontaine — was ich aus dem Interview mit Karl Schiller entnommen habe — ihm in die Hand versprochen hat, einen marktwirtschaftlichen Weg zu gehen, dann würde ich auf diesen Handschlag nicht zählen.
Das muß ich in aller Klarheit sagen.Wer hat eigentlich das finanzpolitische Sagen in der SPD, Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Sie sich für die Währungsunion — möglichst schnell — einsetzen, oder Ministerpräsident Lafontaine, der sich sehr skeptisch zu Ihnen geäußert hat? — Wenn Sie hier noch nicht einmal Klarheit in diesen zur Entscheidung anstehenden Fragen gefunden haben, wie wollen Sie dann in diesen entscheidenden Fragen Kompetenz für sich beanspruchen?Meine Damen und Herren, wir müssen den Deutschen in Ost und West Sicherheit geben. Das deutschlandpolitische Taktieren der Oppositon ist vor allem deswegen zu verurteilen, weil die Menschen in diesen
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15434 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Bundesminister Dr. WaigelZeiten des dramatischen Umbruchs natürlich mit Sorgen und mit Unsicherheit in die Zukunft blicken.Die Überwindung der mehr als 40 Jahre andauernden Teilung, der fast hermetischen Trennung der Menschen, der Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme bedeutet natürlich für alle Deutschen, aber vor allem für diejenigen in der DDR, drastische Veränderungen in ihren alltäglichen Lebensbedingungen. Das wenigste, was wir tun können, ist, die Zeit der Unsicherheit soweit wie möglich zu verkürzen und auf angstmachende Parolen zu verzichten.Wir können es den Verantwortlichen in der DDR allerdings nicht erlassen — wir brauchen das für die Zukunft, wir brauchen das für die Entscheidungen —, daß eine umfassende, ehrliche Eröffnungsbilanz vorgelegt wird. Man hat den Menschen in der DDR mehr als 40 Jahre lang die Illusion umfassender sozialer Sicherheit vorgegaukelt. Das Versprechen vom Arbeiter- und Bauernparadies ist die größte Lüge dieses Jahrhunderts.
Man hat von der Substanz gelebt, Wohnungen, Infrastruktur und den Produktionsapparat verfallen lassen; man hat die Arbeitslosigkeit in die Betriebe verlagert; man hat Inflation und immer weiter nachlassende Wettbewerbsfähigkeit durch gefälschte Statistiken und Propagandaparolen übertönt. Jetzt werden die Sünden der Vergangenheit sichtbar.Aber wir wollen die Wahrheit nicht in kleinen Scheiben, sondern wir brauchen eine umfassende Eröffnungsbilanz. Die in 40 Jahren angesammelten Probleme sozialistischer Mißwirtschaft dürfen nicht der neuen Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft und den Demokraten angelastet werden.Mit der Einführung einer gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsordnung sowie der vollständigen Öffnung der Grenzen wird es auch zu Betriebsschließungen und zu vorübergehenden Freisetzungen von Arbeitskräften kommen. Niemand will das. Aber das wird bei der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe leider unumgänglich sein. Aber die jetzt von einigen gezeichneten Horrorvisionen der Folgen der Vereinigung haben mit der Realität nichts zu tun.Die Masse der Betriebe in der DDR wird bei richtiger Festlegung des Umtauschkurses und angemessener Lohnentwicklung weiterhin produzieren und zur Versorgung der Bevölkerung und zunehmend auch zum Export beitragen. Bei rascher Ausnutzung der technischen und organisatorischen Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung in den Betrieben wird sich auch der Lohnabstand zwischen Ost und West verringern. Nur darf dies auch nicht zu schnell gehen,
um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Investitionen stattfinden und möglichst schnell viele neue produktive Arbeitsplätze entstehen.
— Sicherlich ist hier ein Zusammenhang mit der Produktivität gegeben. Man muß natürlich auch genau überlegen, wie viele neue Arbeitsplätze entstehen. Wir brauchen ja viele neue Arbeitsplätze in den nächsten Monaten und Jahren in der DDR.In der Frage nach dem richtigen Umstellungskurs bei der Verwirklichung der Währungsunion spiegeln sich fast alle Probleme der wirtschaftlichen Vereinigung wider. Die Bewertung des Leistungsstands der DDR-Wirtschaft, die Frage des möglichen Kaufkraftüberhangs, Probleme der sozialen Absicherung und die künftige Wettbewerbsfähigkeit sind gleichermaßen einbezogen.Die beim Besuch des Ministerpräsidenten Modrow in Bonn eingesetzte, vertraulich arbeitende Expertengruppe prüft zur Zeit die zahlreichen Bestimmungsfaktoren der Umstellungsmodalitäten. Entscheidungen sind bisher nicht getroffen, konnten auch gar nicht getroffen werden, zumal die Regierung in der DDR ja gar keine Handlungsvollmacht hatte, um Entscheidungen zu treffen.Vor einer Festlegung sind alle Spekulationen über das tatsächliche Umtauschverhältnis absolut schädlich und führen zu Unsicherheit und Panikreaktion. Ich kann auch hier alle Politiker aller Fraktionen und aller Parteien nur bitten, sich dieser Verantwortung bewußt zu sein. Das hat mit parteipolitischen Entscheidungen überhaupt nichts zu tun.
Jeder muß wissen, was Festlegungen in anderen Bereichen bedeuten, zu welchen Konsequenzen das führt und — vor allen Dingen — welche Überlegungen manchmal fälschlicher Art die Bürger in der DDR dann daraus ableiten könnten.
Es geht um die Gesundung der Wirtschaft in der DDR. Verteilt werden kann nur, was vorher erwirtschaftet wurde. Die Deutschen in der DDR können aber sicher sein: Ihre beruflichen Leistungen und die Sicherung ihres Lebensstandards werden bei den Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion voll berücksichtigt.Ich weiß: Viele Sparer in der DDR haben Angst um ihre Ersparnisse. Sie sehen die Kurse, wie sie sich heute am freien Markt bilden, und sie sind bestürzt. Aber die Kurse in den Wechselstuben sind nicht repräsentativ für die volkswirtschaftliche Leistungsstärke der DDR und können kein Maßstab für die tatsächlichen Umstellungskurse sein. Nicht der Status quo, sondern die Perspektive ist das Entscheidende. Wir wollen und werden deshalb Lösungen finden, durch die die Sparer in der DDR an dem Ertrag einer sich wirtschaftlich kräftigenden DDR voll teilhaben können. Sie müssen wissen, daß wir uns bei unseren Entscheidungen der Wichtigkeit dieses Aspektes und der Auswirkungen auf sie voll bewußt sind.Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf dem Gebiet der DDR setzt eine Befreiung von den zahlreichen politischen Belastungen voraus. Vor allem müssen die Kosten der Arbeitslosigkeit künftig von den Betrieben und der Gemeinschaft der Beschäftigten zusammen getragen werden. Die Bun-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15435
Bundesminister Dr. Waigeldesrepublik wird der DDR beim Aufbau einer effektiven Arbeitslosenversicherung helfen.Den Menschen in der DDR wird es nicht schlechter-, sondern sehr schnell bessergehen. Die Soziale Marktwirtschaft ist der sozialistischen Kommandowirtschaft an ökonomischer Effizienz und deshalb auch an sozialer Leistungsfähigkeit weit überlegen. Es ist schon ein starkes Stück, wenn man in diesen Tagen und Wochen immer wieder von den sogenannten sozialen Errungenschaften liest.
Nur ein paar Daten: Die Durchschnittsrente beträgt bei uns rund 1 600 DM, drüben sind es nur knapp 400 Mark der DDR. Die Wochenarbeitszeit beträgt bei uns 38 Stunden, drüben hingegen 43 Stunden. Das Gesundheitssystem kann kaum vorbildlich sein, wenn jetzt unsere Soforthilfe zur Verbesserung der medizinischen Versorgung dringend erwünscht ist.Wenn man die Menschen drüben so aufhetzt, daß sie sich Sorgen machen, ob sie sich bei der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft dann noch eine Operation oder einen Krankenhausaufenthalt leisten können, dann ist das schlimme Demagogie, schlimm und natürlich auch dumm — genauso wie der Spruch „Rot ist in, Frau Nachbarin" , der an die Türen geklebt wird. Nein, rot ist out in der DDR, und ich glaube, es wird in absehbarer Zeit auch keine Chance mehr haben.
Der Gipfelpunkt der Diskussion der letzten Wochen ist gestern oder vorgestern erreicht worden, als der amtierende Ministerpräsident Modrow versucht hat, sogenannte sozialistische Errungenschaften durch Vereinbarungen mit der Sowjetunion für alle Zeiten zu sichern.
Ein solches Verhalten ist mit der Souveränität der deutschen Bürger, die selbst über ihre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entscheiden wollen, nicht zu vereinbaren.Ich war zugegen, als Ministerpräsident Modrow bei der Pressekonferenz hier immerhin eingestanden hat, daß das Scheitern von 40 Jahren real existierendem Sozialismus verzeichnet werden muß. Wenn er dann versucht, über die Sowjetunion, die selber versucht, von einem ineffizienten, falschen System wegzukommen, das wieder festzumachen, was sich bei uns als falsch erwiesen hat, dann zeigt dies deutlich: Der Mann hat nichts begriffen, und es ist höchste Zeit, daß nach dem 18. März in der DDR ein neuer Ministerpräsident gewählt wird.
Die Wiedervereinigung ist keine Belastung, sondern eine große Chance. Ich halte es für falsch, immer nur von den Kosten der Vereinigung zu sprechen. Die Menschen haben immer gewonnen, wenn Grenzen gefallen sind, wirtschaftliche und politische Bevormundung aufgehoben wurden und der Weg zur Freiheit geöffnet wurde.
Im übrigen haben wir in den vergangenen 40 Jahren große nationale Aufgaben gemeinsam gemeistert. Die Bewältigung dieser Aufgaben hat erst die Grundlagen für Freiheit und Wohlstand gelegt. Ich nenne nur den Lastenausgleich mit einem Gesamtvolumen von 136 Milliarden DM seit 1949; ich nenne die Bundeshilfen für Berlin, die bisher 192 Milliarden DM beanspruchten; ich nenne die Zonenrandförderung, den Aufbau der Bundeswehr und die Strukturanpassung im Steinkohlebergbau.Wer allerdings jetzt den Vereinigungsprozeß mit milliardenschwerden Reparationsforderungen der DDR gegen die Bundesrepublik belastet, handelt eindeutig gegen die Interessen aller Deutschen.
Die in dem absurden Peter-Gutachten dargestellten und von Angehörigen der DDR-Übergangsregierung ebenso wie von Bremer SPD-Senatoren unterstützten Ansprüche entbehren jeglicher Grundlage. Ich wäre Ihnen dankbar, Frau Kollegin Matthäus-Maier, wenn Sie oder ein anderer Sprecher der SPD endlich einmal klipp und klar etwas dazu sagen würden, was Senatoren bzw. eine Senatorin, der SPD angehörig, aus Bremen hierzu gesagt haben.
— Sagen Sie das bitte einmal; Sie gehören der SPD an. Sie vergiften damit die politische Landschaft. Sie sollten diese Dinge endlich einmal vom Tisch bringen.
Die Bundesrepublik hat ebenso wie die DDR gewaltige Kriegsfolgelasten getragen. Neben dem bereits erwähnten Lastenausgleich haben wir allein 85 Milliarden DM für die Wiedergutmachung aufgebracht. Hinzu kommen 14 Milliarden DM nach dem Londoner Schuldenabkommen, Reparationen durch Demontagen, Entnahmen aus der laufenden Produktion und die Beschlagnahme deutschen Auslandsvermögens — um nur die wichtigsten Positionen zu nennen. Für die ehemaligen Ostblockländer haben wir einschließlich des staatlichen Gewährleistungsrahmens seit Kriegsende über 34 Milliarden DM an Entschädigungen, Wiedergutmachung sowie finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe bereitgestellt.Es kann nicht darum gehen, das Sozialprodukt neu zu verteilen, sondern darum, zusätzliche Wachstumsspielräume zu erschließen. Wir beseitigen die Kosten der Teilung in der Bundesrepublik und darüber hinaus in ganz Europa.Was bisher Peripherie war, wird zum Zentrum. Die Chancen eines vereinigten Deutschlands in einem zusammenwachsenden Europa, unsere Möglichkeiten als Drehscheibe des künftigen Ost-West-Handels und die Impulse aus der Herausforderung des wirtschaftlichen Aufbaus Mittel- und Osteuropas, lassen sich zur Zeit noch nicht abschätzen. Aber sie sind ebenso sicher wie die bereits sichtbaren Erfolge der westeuropäischen Integration.Eines ist klar: Es bleibt bei der Stabilität unserer Geldpolitik; es bleibt bei der Solidität unserer Finanz-
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15436 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Bundesminister Dr. Waigelpolitik. Weil die Bundesbank die Kontrolle über die Geldmenge auch in einer Währungsunion behalten wird, ist die Stabilität der Deutschen Mark nach innen wie nach außen gewährleistet.
Die Deutsche Bundesbank hat ihre volle Unterstützung bei der Verwirklichung einer Währungsunion mit der DDR zugesagt. Das ist eine eindeutige, für das In- und Ausland unmißverständliche Stabilitätsgarantie für beide Teile Deutschlands. Dafür und für diese konstruktive Mitwirkung möchte ich der Deutschen Bundesbank ausdrücklich danken.
Die Zinsentwicklung wird sich nach der gegenwärtigen Phase der Verunsicherung wieder umkehren, wenn die Verantwortlichen in der DDR klare Konzeptionen vorlegen und unser Angebot der engen Zusammenarbeit annehmen.Ein sich vereinigendes Deutschland, das an die erfolgreiche Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik anknüpft, wird das Vertrauen der internationalen Anleger ebenso erhalten wie bisher die Bundesrepublik alleine, und bei gesicherter Stabilität wird das ausreichend vorhandene Investitionskapital westlich und östlich der Elbe wieder zu niedrigeren Zinssätzen zur Verfügung stehen. Je rascher die wirtschafts- und währungspolitische Integration mit der DDR vorankommt, je klarer die Zukunftsperspektiven für die Menschen werden, umso schneller werden sich auch die Probleme im Zusammenhang mit dem noch anhaltenden Übersiedlerstrom bewältigen lassen.
— Nicht nur hier, aber ich bedanke mich trotzdem für den Zuruf.
— Das haben Sie schon fünfmal gesagt, daß ich recht habe; dann ist es ja auch in Ordnung.Nur bei entscheidenden Veränderungen in der DDR wird der Übersiedlerstrom versiegen, und viele unserer neuen Mitbürger werden in die alte Heimat zurückkehren.
Wir handeln entschlossen für die deutsche Einheit. Wir gehen den Weg zur deutschen Einheit. Wir haben die Zustimmung und Unterstützung unserer Freunde und Nachbarn in Ost und West. Wir wollen gemeinsam mit ihnen ein friedliches, sicheres und wirtschaftlich erfolgreiches Europa aufbauen. Die Deutschen in der DDR setzen auf uns, bauen auf unsere Solidarität und Freundschaft, und ebenso wollen die Deutschen in der Bundesrepublik die Überwindung der Teilung.Der Weg wird nicht einfach; aber es geht nicht um Opfer und Entbehrungen, sondern um die Ingangsetzung eines gewaltigen wirtschaftlichen Aufbauprogramms mit großartigen Chancen für die Menschen in Ost und West. Deutschland wird zum Vollmitglied der Gemeinschaft der freien und friedliebenden Völker. Wir können einen Beitrag leisten zur Überwindung von Unfreiheit und wirtschaftlicher Not. Der Makel der Teilung wird von uns genommen. Dafür lohnt sich der Einsatz, und der Einsatz wird sich vielfach auszahlen. Investitionen für Frieden, Freiheit und Einheit in Deutschland und Europa sind lohnender als Subventionen für Teilung und Diktatur.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben den Nachtragshaushalt unter die Überschrift gestellt: Hilfen für Sofortmaßnahmen in der DDR. Geht man aber die einzelnen Positionen durch, so stellt man fest: 13,4 Millionen DM für die Öffentlichkeitsarbeit des Bundeskanzlers.
Was hat das eigentlich mit der DDR zu tun? Wohl nur, daß Sie damit z. B. für die DDR Schallplatten mit der Stimme des Bundeskanzlers herstellen. Das ist aber nun wirklich nicht das Dringendste, was die Menschen in der DDR benötigen.
850 Millionen DM für Tarifabschluß, 1,1 Milliarde DM zur Bewältigung des Übersiedlerstroms; alles wichtig, hilft aber doch nicht den Menschen in der DDR! 2,1 Milliarden DM Reisedivisenfonds! Damit werden Reisen von DDR-Bürgern hierher unterstützt, nicht aber der Aufbau in der DDR.
Schließlich ein Globaltitel von 2 Millarden DM, bei dem noch völlig offen ist, wohin das Geld fließt. Wenn Sie den Übersiedlerstrom aus der DDR nicht stoppen, dann wird dieses Geld nicht einmal ausreichen, um die sozialen Probleme des Übersiedlerstroms hier in der Bundesrepublik zu bewältigen.Auch wenn man sich die Nettobeträge Ihres Nachtragshaushalts ansieht, ist klar: von den gesamten 6,9 Milliarden DM geht nur eine Milliarde unmittelbar in konkrete Hilfsmaßnahmen in die DDR, Herr Waigel.
Deswegen ist es gefährlich, wenn Sie hier andere Zahlen nennen, weil Sie damit Erwartungen schüren, die Sie nicht erfüllen können und die dann die Menschen drüben enttäuschen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15437
Frau Matthäus-MaierMit diesem Haushalt bleibt die Regierung leider die Antwort auf die drängendste Herausforderung dieser Tage schuldig — Sie haben sie selbst genannt Herr Waigel — , nämlich den Übersiedlerstrom aus der DDR zu stoppen. Tag für Tag blutet die DDR weiter aus, und Tag für Tag wächst bei uns die Wohnungsnot, und auf dem Arbeitsmarkt wird der Verdrängungswettbewerb immer schärfer.Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, ist ein Maßnahmenpaket mit drei Schwerpunkten erforderlich:Erstens. Die materiellen Anreize für die Übersiedlung müssen endlich abgeschafft werden.
Wer von Erfurt nach Köln umzieht, darf nicht besser behandelt werden als der, der von Hamburg nach Köln umzieht.
Das Überbrückungsgeld für Übersiedler muß gestrichen werden. Beim Eingliederungsgeld muß eine dreimonatige Sperrfrist eingeführt werden. Wer die Arbeit hier freiwillig aufgibt, hat eine dreimonatige Sperrfrist beim Arbeitslosengeld. Warum nicht das gleiche für Übersiedler?
— Selbstverständlich. Das ist beim Arbeitslosengeld aber auch so, Herr Cronenberg. — Das Notaufnahmeverfahren muß abgeschafft werden, und die Übersiedler müssen sich bei der Suche nach Sozialwohnungen genauso hinten in der Warteschlange anstellen wie die Bundesbürger hier.Nichts davon hat die Bundesregierung bisher getan, im Gegenteil.
— Von den Dingen, die ich hier genannt habe, haben Sie bisher nichts getan. Schauen Sie es sich bitte an.
Sie vergrößern mit Ihrer Tatenlosigkeit den Übersiedlerstrom. Drei Monate sind bereits vergeudet worden.
Dabei ist gerade hier Zeit auch Geld. Hunderttausend Übersiedler kosten die Bundesrepublik mindestens 1,8 Milliarden DM — so die Zahl von Herrn Blüm. Hunderttausend DDR-Bürger, die nicht übersiedeln, sparen dem Staat also 1,8 Milliarden DM. Indem Sie Zeit vertun, vertun Sie Geld und machen die Probleme nur teurer. Wir fordern Sie auf: Weg mit den Prämien für die Übersiedlung und statt dessen Finanzierung von Projekten, damit den Menschen in der DDR die Perspektive bleibt, in ihrer Heimat zu bleiben und dortbeim wirtschaftlichen und sozialen Aufbau mitzuwirken!
Wenn man wirklich will, daß die Menschen in der DDR bleiben, gehört zweitens dazu, daß durch Sofortmaßnahmen in der DDR geholfen wird. Es war sicher nicht hilfreich, daß der Runde Tisch Herrn Modrow mit Forderungen von 15 Milliarden DM hierher geschickt hat.
— Nein, das ist wirklich unzutreffend, Herr Uldall. Sie können mir viel vorwerfen, aber daß ich versuche, zumindest über Tage, vor allem aber über die Jahre die gleiche Linie zu halten, das können Sie mir wohl nicht absprechen — im Unterschied zu manchem anderen in diesem Hause.
Aber zwischen der 1 Milliarde DM im Nachtragshaushalt und den 15 Milliarden von Herrn Modrow gibt es doch irgendwo eine vernünftige Zahl.
Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, bares Geld in ein marodes System, in ein Faß ohne Boden zu stecken. Davon war bei den SPD-Forderungen nie die Rede.
Hilfen für konkrete Projekte, die den Menschen den Entschluß zum Bleiben erleichtern, sind aber auch in unserem Interesse. Ein Beispiel: Die Förderung einer kostengünstigen Sozialwohnung kostet in unserem Land einen öffentlichen Zuschuß von rund 100 000 DM. Mit den gleichen 100 000 DM kann ich in Leipzig ca. zehn Wohnungen, die heruntergekommen sind, wieder bewohnbar machen. Ich frage: Wo sind die 100 000 DM besser angelegt: für eine Sozialwohnung für einen Übersiedler hier oder für zehn Wohnungen in Leipzig, die den Menschen eine Perspektive geben, in ihrer Heimat zu bleiben?
Wir hätten hier Wochen gewinnen können, haben jedoch leider Monate verloren. Hilfen für Übersiedler sind allemal teurer als Soforthilfen drüben.
Der dritte Schwerpunkt der Maßnahmen dafür, daß die Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zum Bleiben erhalten, ist, daß sie für gute Arbeit auch gutes Geld bekommen. Daher haben wir die Schaffung einer D-Mark-Wirtschafts- und Währungsunion mit wirtschaftspolitischen Reformen und sozialer Flankie-
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15438 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Frau Matthäus-Maierrung gefordert, also eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion.
Es war gut, daß die Bundesregierung unseren Vorschlag aufgegriffen und der DDR eine solche Währungsunion angeboten hat. Damit stehen wir vor einer schwierigen Aufgabe, die unsere ganze Kraft erfordert und auch nicht ohne Risiken ist. Ich bin aber der festen Überzeugung: Mit der Einführung der D-Mark eröffnet sich für die DDR und auch für das künftige Gesamtdeutschland eine historische Chance. Wenn diese Chance richtig genutzt wird, dann wird diese Region in wenigen Jahren zu den leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt aufschließen können.
Ich weiß, daß die SED im DDR-Wahlkampf gegen die Währungsunion ganz bewußt Ängste schürt. Dazu gehört die Angst vor einem Währungsschnitt. Diese Angst ist unbegründet. Wir Sozialdemokraten fordern für die Währungsunion: Ein Umwandlungskurs von 1 : 1 muß sichergestellt werden. Außerdem müssen Sparguthaben eine volle Bestandsgarantie erhalten. Sparer und Rentner dürfen keine Angst davor haben müssen, daß ihre Ersparnisse entwertet werden.Das ist auch möglich, ohne daß die Stabilität der D-Mark gefährdet wird, wenn die Sparer über größere Beträge nur zeitlich gestaffelt verfügen können. Dabei ist aber klar, daß man die Rentner nicht lange warten lassen darf.Auch die von der SED geschürten Ängste, durch die Währungsunion komme es zu millionenfacher Arbeitslosigkeit, sind haltlos. Jeder muß wissen: Wenn die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft verbessert werden soll, dann sind in der DDR umfassende Ref or-men und ein tiefgreifender Strukturwandel unumgänglich — mit oder ohne Währungsunion. Die SED will davon ablenken, daß die DDR-Bürger jetzt für die schlimmen Folgen ihrer 40jährigen Kommandowirtschaft zahlen müssen. Nicht durch die Währungsunion entstehen die Probleme ; sie sind das Ergebnis eines maroden Wirtschaftssystems.
Ich fordere die Bürgerinnen und Bürger der DDR auf, die SED nicht — nur, weil sie ihren Namen geändert hat — aus der Verantwortung für den schlimmen wirtschaftlichen und ökologischen Zustand der DDR zu entlassen. Es muß klar sein und klar bleiben: Eine notwendige Operation ist mit Schmerzen verbunden. Aber schuld an diesen Schmerzen hat nicht der Arzt, der die Operation durchführt, sondern derjenige, der den Patienten so schwer krank gemacht hat, daß er dringend operiert werden muß, und das ist nun einmal die SED.
Auch diejenigen, die sich anfangs vehement gegen eine Währungsunion ausgesprochen haben, erkennen inzwischen: Zur Einführung der D-Mark in der DDR gibt es keine erfolgversprechende Alternative.Um so bedauerlicher, Herr Waigel, ist es, daß die Bundesregierung das Thema Währungsunion mit einem chaotischen Durcheinander und mit schweren handwerklichen Fehlern begonnen hat. Dazu gehört, daß Finanzminister Waigel zum Vorschlag einer Währungsunion noch wenige Tage vor dem entsprechenden Kabinettsbeschluß im „Münchner Merkur" erklärt hat, eine D-Mark-Währungsunion mit der DDR wäre nicht nur gefährlich, sondern auch ein völlig falsches Signal. Im „Münchner Merkur" heißt es wörtlich:Den Vorschlag der SPD-Abgeordneten, — gemeint war ich —alle DDR-Mark sozial gestaffelt in D-Mark umzutauschen, nannte Waigel halsbrecherisch.Diese Äußerungen haben zur Glaubwürdigkeit des Konzepts, das Sie dann eine Woche später übernommen haben,
sicher nicht beigetragen. Außerdem ist auch hierdurch wieder Zeit ins Land gegangen. Hätte die Bundesregierung unseren Plan vorher aufgegriffen, könnten die Vorbereitungen schon weiter gediehen sein.
Auch hat die Bundesregierung ohne Not das hohe Ansehen der Bundesbank und ihres Präsidenten national und international beschädigt. Nicht nur, daß die Bundesbank vor der Entscheidung von Bundeskanzler und Bundesfinanzminister nicht konsultiert wurde; noch am 6. Februar hat die Bundesregierung Bundesbankpräsident Pöhl zu Verhandlungen mit seinem DDR-Amtskollegen nach Ost-Berlin fahren lassen, ohne ihm von dem gerade erfolgten Sinneswandel etwas mitzuteilen.
— Das weiß ich, weil Pöhl das in jeder Zeitung und im Fernsehen gesagt hat. — Eine solche Behandlung ist der Bundesbank nicht angemessen.
Weder mit der EG-Kommission noch mit unseren europäischen Partnern hat sich die Bundesregierung vor ihrem Beschluß zur Währungsunion abgestimmt. Wieder einmal, wie schon beim Zehn-Punkte-Plan, hat der Bundeskanzler ohne Abstimmung mit den europäischen Freunden gehandelt und sie damit vor den Kopf gestoßen.Dabei brauchen wir bei dem Prozeß der deutschen Einigung mehr und nicht weniger europäische Einbindung. Ich unterstütze ausdrücklich, daß vor wenigen Tagen Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing wieder gefordert haben, daß die europäische Währungsunion kommt. Sie muß nicht langsamer, sie muß
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15439
Frau Matthäus-Maierschneller kommen, als Sie noch vor wenigen Monaten geglaubt haben.
Wenn ich mir außerdem, Herr Waigel und die Koalition, das unglaubliche Gezerre um die polnische Westgrenze anschaue — heute morgen hatten wir das Spektakel — , dann kann einem wirklich angst und bange werden, wenn man sich vorstellt, welches Durcheinander diese Bundesregierung bei der Vorbereitung und Durchführung des guten Projekts Währungsunion noch veranstalten wird. Da liegen auch die Ängste von Oskar Lafontaine.Ich setze daher meine ganze Hoffnung auf die Deutsche Bundesbank und gehe davon aus, daß sie durch tatkräftige Mithilfe dafür sorgen wird, daß diesmal von der Bundesregierung nicht so schlampig gearbeitet wird wie bei der Gesundheitsreform, der Quellensteuer und der Steuerreform.
Allein durch die Ankündigung der Währungsunion wird der Übersiedlerstrom allerdings nicht gestoppt. Dazu gehört mehr. Wenn die Währungsunion gelingen soll, dann muß sie wirtschafts- und sozialpolitisch wirksam flankiert werden.Die wirtschaftspolitischen Reformen muß die DDR vornehmen. Dies geschieht leider bisher nur sehr zögerlich. Die Regierung Modrow hat viel kostbare Zeit verloren,
und wenn sie etwas tut, wie gerade in diesen Tagen, handelt es sich mehr um Maßnahmen, die Investitionen abschrecken, als um solche, die Investitionen anziehen.
Aber auch die Bundesregierung hat Zeit verstreichen lassen.Die DDR steht vor einem dringend notwendigen Strukturwandel. Dabei werden auf der einen Seite unproduktive Arbeitsplätze, z. B. in der Staatsbürokratie, aber nicht nur dort, wegfallen. Auf der anderen Seite werden aber gleichzeitig Millionen neuer und zukunftssicherer Arbeitsplätze entstehen. Schon jetzt gibt es in vielen Bereichen einen erheblichen Bedarf an Arbeitsplätzen, z. B. bei den Dienstleistungen, in der Bauwirtschaft, im Tourismus, in der Gastronomie und bei den Facharbeitern.Die Währungsunion ist keine Wunderdroge, die alle Probleme auf einen Schlag löst. Durch die ökonomischen Vorteile, die die Einführung der D-Mark bringt, können die Probleme des Strukturwandels aber schneller überwunden werden. Trotz aller Übergangsprobleme bin ich davon überzeugt: Die Einführung der D-Mark wird zusammen mit den notwendigen Wirtschaftsreformen zum Startschuß für ein Wirtschaftswunder in der DDR werden.
Für den, der es nicht glaubt, meine Damen und Herren: Welchen Erfolg wird der, der mit einem so maroden Wirtschaftssystem zur zehntstärksten Industrienation aufgestiegen ist, erst einmal haben, wenn die Leistungen der Arbeitnehmer und der Unternehmer mit einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft wirklich umgesetzt werden können.
Für den anstehenden Strukturwandel müssen die Menschen qualifiziert werden. Es müssen alle Instrumente einer modernen Arbeitsmarktpolitik eingesetzt werden, vor allem Umschulung, Qualifizierung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Herr Waigel. Daran liegt uns mehr als an der ebenfalls notwendigen Arbeitslosenversicherung. Warum ist eigentlich ein solches Qualifizierungsprogramm nicht schon vor Wochen in Angriff genommen worden? Wir hätten viel Zeit gewonnen!
Außerdem — da bin ich gespannt, Kollegen von der CDU, ob Sie dann auch noch klatschen — müssen für eine Übergangszeit Anpassungshilfen für die Unternehmen vorbereitet werden, um den Betrieben, die jetzt unproduktiv arbeiten, die Möglichkeit zu geben, sich umzustellen und konkurrenzfähig zu werden. Es erscheint mir völlig scheinheilig und unglaubwürdig, wenn diese Bundesregierung, die in ihrer bisherigen Amtszeit die Subventionen um über 30 % erhöht hat, jetzt in der DDR das Hohelied der reinen Marktlehre singt und Anpassungshilfen verweigert. Selbstverständlich brauchen wir für Übergangszeiträume auch Subventionen, um nicht ganze Betriebe vor die Hunde gehen zu lassen, die man mit Anpassungshilfen nach einem halben oder nach einem Jahr wieder auf Vordermann bringen kann.
Von dieser wirtschafts- und sozialpolitischen Flankierung weist Ihr Nachtragshaushalt leider nichts aus. Damit wird Zeit verloren. Das ist bitter; denn wir, die wir öfter drüben sind, wissen doch mittlerweile, daß in der DDR massenhaft Zelte gekauft werden. Wir wissen, daß die Menschen dann bei der guten Witterung hier herüberkommen werden. Wir fragen: Müssen denn wirklich die Übersiedler erst ihre Zelte vor dem Bundeskanzleramt aufschlagen, damit der Bundeskanzler aufwacht und den Ernst der Lage erkennt?
— Entschuldigen Sie, hier mischt sich niemand ein.Alle Maßnahmen, die ich vorgeschlagen habe, betref-
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15440 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Frau Matthäus-Maierfen unser Land, betreffen diesen Nachtragshaushalt und unsere Politik.Wir fordern die Bundesregierung auf: Ergreifen Sie endlich die notwendigen Maßnahmen, um den Übersiedlerstrom zu stoppen. Sagen Sie der Bevölkerung auch, was die deutsche Einheit kostet. Legen Sie endlich ein solides und seriöses Finanzierungskonzept auf den Tisch.Der Nachtragshaushalt, den Sie hier vorgelegt haben, verstößt gegen die Grundsätze einer soliden Finanzpolitik.
Statt sich der Mühe zu unterziehen, im Bundeshaushalt mit einem Gesamtvolumen von 307 Milliarden DM einzusparen und umzuschichten, finanzieren Sie Ihren Nachtragshaushalt schlicht und einfach über höhere Staatsschulden.
Damit steigt die Neuverschuldung in diesem Jahr auf 33,5 Milliarden DM. Das ist gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um sage und schreibe 75 %. Herr Weng, wo bleiben denn Ihre üblichen Tiraden? Sagen Sie mal etwas dazu! Ich wiederhole: Das ist ein Anstieg um über 75 %. Bei einer boomenden Konjunktur und voll ausgelasteten Kapazitäten ist dieser Anstieg der Neuverschuldung ein glatter Verstoß gegen die Grundsätze, die das Karlsruher Urteil zu den Staatsschulden aufgestellt hat.
Ich halte aber auch eine Steuererhöhungsdebatte für verfehlt.
Die Bürger erwarten von uns, daß wir angesichts der neuen Aufgaben jetzt eine Einspardebatte und eine Umschichtungsdebatte, nicht aber eine Steuererhöhungsdebatte führen.
Wer es mit einer soliden Finanzpolitik ernst meint, muß jetzt alle Möglichkeiten zur Einsparung und Umschichtung ausschöpfen. Solche Möglichkeiten gibt es. — Ich sage für Sie dort oben, weil Sie das nicht hören können: Der Herr Waigel ruft jetzt immer dazwischen: Jetzt kommt der Jäger 90.
Er hat recht.
Er hat nämlich ein schlechtes Gewissen. Wir brauchen keinen Jäger 90.
Meine Damen und Herren, der Jäger 90 soll nach offiziellen Angaben über seine Laufzeit 50 MilliardenDM kosten. Nach allen Erfahrungen, die wir mit dem Tornado ja alle haben, kostet er dann mindestens 100 Milliarden DM.
Es ist unverantwortlich, über Steuererhöhungen zu sprechen und den Jäger 90 nicht endlich zu stoppen.
Die Wehrpflicht muß außerdem auf zwölf Monate abgesenkt werden. Übrigens, wir werden für das Jahr 1990 Einsparungen im Verteidigungshaushalt im Volumen von 4 Milliarden DM beantragen. Herr Waigel, da können Sie sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Bei 2,5 Milliarden DM für Munition, bei einer halben Milliarde DM für Sprit bei der Bundeswehr wollen Sie uns erzählen, Sie könnten aus diesem Haushalt nichts herausholen. Das kann doch nicht sein.
— Hier wird der Zwischenruf gemacht: „Ohne Sprit kann ich nicht üben." — Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Meyer zu Bentrup: Die Menschen wollen ohnehin keinen Tiefflug mehr. Stellen Sie die Tiefflüge ein. Dann sparen wir Sprit und Geld.
Ich komme auf unseren nächsten Einsparvorschlag zu sprechen. Ich wies schon darauf hin, daß etwa 100 000 Übersiedler 1,8 Milliarden DM kosten. Auch hier können wir umschichten, wenn wir den Übersiedlerstrom stoppen. Außerdem, das Geld, das wir heute im Zusammenhang mit der Teilung ausgeben, muß mittelfristig umgewidmet werden, um die deutsche Einheit zu finanzieren. Herr Waigel, Sie haben in diesem Zusammenhang von 40 Milliarden DM gesprochen.
Sie lassen aber bis heute völlig offen, was und zu welchem Zeitpunkt für die Finanzierung der Einheit umgeschichtet werden soll. Schon mit der Schaffung der Währungsunion könnte übrigens der Reisedevisenfonds entfallen, also 2 Milliarden DM. Sagen Sie hier klar, Herr Waigel, ob und wann Sie die Zonenrandförderung und die Berlin-Hilfen umwidmen wollen.
Schließlich: Verzichten Sie endlich auf Ihre Pläne, für Spitzenverdiener und Unternehmen erneut die Steuern um 25 Milliarden DM jährlich zu senken.
Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzminister hat in dieser Woche klargemacht, daß angesichts des Finanzbedarfs im Zusammenhang mit der DDR eine Unternehmensteuersenkung nur über eine höhere Mehrwertsteuer zu finanzieren sei. Er hat damit genau unseren Verdacht bestätigt, daß das Ihre Absicht ist.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15441
Frau Matthäus-MaierDas heißt, wer wie Bundesfinanzminister Waigel nach wie vor an seinen Plänen für eine Senkung der Unternehmensteuern um 25 Milliarden DM festhält,
der hat eine Mehrwertsteuererhöhung um zwei Prozentpunkte von 14 auf 16 % bereits fest eingeplant.
Wer Kürzungen im Verteidigungshaushalt und einen Verzicht auf neue Steuergeschenke für Spitzenverdiener und Unternehmen ablehnt, kann das nicht glaubwürdig dementieren.
Eine Senkung der Steuern für Spitzenverdiener und Unternehmen bei gleichzeitiger Erhöhung der Mehrwertsteuer, meine Damen und Herren, das wäre unter dem Deckmantel der deutschen Einheit die Umverteilungspolitik der letzten Jahre auf die Spitze getrieben.
Die bundesdeutschen Unternehmen werden in der DDR gute Gewinne machen.
Doch Millionen Verbraucher, Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Schüler und Studenten müßten für neue Steuergeschenke an Spitzenverdiener und Unternehmen zahlen. Das wäre ein schwerer Verstoß gegen das Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Das lehnen wir entschieden ab.
Übrigens würde eine Mehrwertsteuererhöhung auch das Handwerk und die kleinen und mittleren Unternehmen schwer treffen. Die Schwarzarbeit würde zunehmen, und der Konzentrationsprozeß in der deutschen Wirtschaft würde sich weiter beschleunigen.Schließlich: Schon bisher war eine Senkung der Unternehmenssteuern und der Steuern für Spitzenverdiener sachlich nicht gerechtfertigt, weil wir einer der besten Investitionsstandorte auf der ganzen Welt sind. Wenn aber der Aufbau in der DDR und in einem vereinigten Deutschland wirklich durchgeführt wird, dann ist das — wenn Sie so wollen — ein Konjunkturprogramm allerersten Ranges. Wir werden dabei und danach der Investitionsstandort Nummer eins in der Welt sein. Dann braucht man keine Unternehmenssteuersenkung.
Es ist erschreckend, daß Sie aus diesem Gesamtbereich von über 100 Milliarden DM, aus dem ja zweistellige Milliardenbeträge eingespart und umgeschichtet werden könnten, keine einzige Mark herausgeholt haben. Wo verantwortliche Finanzpolitik schwer wird und die Interessen Ihrer Klientel in Wirtschaft und Rüstungsindustrie berührt werden, da versagen Sie völlig.
Wir dürfen über die Entwicklung in der DDR aber nicht vergessen, daß es auch in der Bundesrepublik Deutschland drängende soziale Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Dringend erforderlich sind wirksame Maßnahmen zur Beseitigung der Wohnungsnot. Deshalb fordern wir, daß die Mittel für den sozialen Wohnungsbau kräftig aufgestockt werden. Wir sehen dabei auch das Problem der ausgelasteten Baukapazitäten. Um hier Preissteigerungen zu vermeiden, müssen die öffentlichen Hände ihre Baumaßnahmen möglichst aufschieben. Um Baukapazitäten für den Wohnungsbau zu schaffen, muß also über den finanziellen Aspekt hinaus das Motto gelten: Wohnungen statt Kasernen.
Notwendig sind auch wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dazu gehören vor allem die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in das Berufsleben und Maßnahmen der Qualifizierung und Weiterbildung. Es ist bedauerlich, daß Sie weder für den sozialen Wohnungsbau noch für die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit Mittel in Ihrem Nachtragshaushalt eingestellt haben.
Ich fasse zusammen: Vor der drängenden Herausforderung, den Übersiedlerstrom zu stoppen, kapituliert Ihr Nachtragshaushalt. Sie führen irritierende Diskussionen über die polnische Westgrenze und machen lange Ausführungen — auch hier heute — zu Art. 23 und Art. 146 des Grundgesetzes. Die konkreten Alltagsprobleme der Menschen hier und drüben lösen Sie damit aber nicht.
Sie haben viel Zeit vergeudet. Diese Verzögerung kommt die Bürger in beiden Teilen unseres Landes teuer zu stehen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch: erstens Beseitigung aller Prämien für die Übersiedlung, zweitens konkrete Sofortmaßnahmen für die Menschen in der DDR und konkrete Projekte dort und drittens Einführung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion.Allein kann keine dieser Maßnahmen den Übersiedlerstrom stoppen. Eine Chance besteht aber dann, wenn das gesamte Maßnahmenbündel gleichzeitig in Angriff genommen wird. Deshalb fordern wir: Greifen Sie unsere Vorschläge auf, und werden Sie damit Ihrer historischen Verantwortung gerecht.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Dieser Nachtragshaushalt ist nach Auffassung der Freien Demo-
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Dr. Graf Lambsdorffkraten notwendig, er ist gerechtfertigt und finanzierbar. Er wird weder die Zinsen nach oben treiben noch wird er die Kapitalmärkte belasten, und er wird erst recht keine Inflation bewirken.
Was Ihre Bemerkung, Frau Matthäus, hinsichtlich der Abstimmung von Bundesbank und Bundesregierung anlangt: Ein Meisterstück war das nicht. Sie wissen, ich bin wirklich ein emsiger Verteidiger der Bundesbank; aber diesmal liegt das Problem mindestens zur Hälfte zwischen Frankfurt und Bonn verteilt, wenn nicht ein bißchen mehr in Frankfurt.Im übrigen, meine Damen und Herren, haben wir eben ein Meisterstück von PR-Arbeit erlebt. Meinen Respekt! Wie man so einen Pappkameraden in die Landschaft stellt, aufbaut und ihn dann abschießt, das ist wirklich Klasse. „Jetzt kommt der Jäger 90" ruft Herr Waigel zu. Dann sagt Frau Matthäus-Maier: Das erstaunt mich aber; ich habe immer gedacht, er kommt nicht. — Aber wenn sie nun beide meinen, er komme doch, ist das eine neue Situation.
Es bedarf keiner Steuererhöhung, sagt Frau Matthäus. Dreiviertel der SPD sagt: Es bedarf der Steuererhöhung. — Dann hört man wieder: Es bedarf keiner Steuererhöhung; aber diese Bundesregierung will natürlich eine Mehrwertsteuererhöhung. Dabei hat die Bundesregierung immer gesagt, auch sie wolle keine Steuererhöhung, hat auch nie von einer Mehrwertsteuererhöhung gesprochen.
„Wir brauchen Wohnungen statt Kasernen" : Kein Mensch in diesem Lande baut Kasernen. Er sieht nur zu, daß die Kasernen, in denen die Soldaten leben müssen, ein bißchen ordentlicher aussehen. Aber hingestellt wird: „Kasernen" . Volltreffer! Abgeschossen! Wohnungen her!Und schließlich Berlin-Hilfe: „Die Berlin-Hilfe muß eingeschränkt werden. "
Fragen Sie mal Ihre sozialdemokratischen Genossen in Berlin zu einer Einschränkung der Berlin-Hilfe. Da werden Sie etwas zu hören bekommen.
— Ja, ja, natürlich, andere sollen es machen, man selber aber nicht. Man reibt sich die Hände an den Konflikten anderer. Auch das ist eine einfache Tour. Aber, wie gesagt: Respekt, wie Sie das hier dargestellt haben, verehrte Frau Kollegin.
— Wir sind ja alle nicht hinter dem Berge geboren, Herr Wieczorek.Meine Damen und Herren, die DDR braucht, da sind wir uns einig, die Soziale Marktwirtschaft. Die Bürger der DDR wissen das auch. Sie kennen dieErgebnisse der Wirtschaftspolitik der Koalition. Aber sie haben gleichzeitig Ängste und Fragen. Sie kennen nämlich unsere Ordnung nicht, und sie fürchten um ihre soziale Sicherheit.Ihnen ist 40 Jahre die Soziale Marktwirtschaft als ein System der Ausbeutung, der Ellenbogengesellschaft, der sozialen Kälte hingestellt worden. Und ausgerechnet die verantwortliche Partei, jetzt „PDS" genannt — Abkürzung für „Partei der Schuldigen" —, ausgerechnet die verantwortliche SED/PDS mit dem Konkursverwalter Gisy an der Spitze treibt wirklich übel Schindluder mit den Sorgen der Menschen. „Ausverkauf der DDR" ist eines seiner Stichworte. Einen schlimmeren Ausverkauf, als ihn der Sozialismus dort bewirkt hat, kann man sich überhaupt nicht vorstellen.
Die Rothalstaucher — das ist übrigens kein neuer Vogel; ich habe mir vom Museum Koenig bestätigen lassen, es gibt ihn — der SED/PDS sind die wahren Ausverkäufer der DDR.
„Soziale Kälte" ist ein anderes Stichwort. 40 Jahre sozialistische Experimente mit Armut und Unterdrükkung der Menschen in der DDR, und da soll immer noch Sozialismus praktiziert werden. Das nennen wir Liberalen allerdings wahrhaft eisige soziale Kälte.
Im Interesse der Chancen der DDR-Bürger darf es keine Chancen für den sogenannten besseren Sozialismus geben. Ein halbherziges Ja zur Marktwirtschaft heißt nichts anderes als halber Erfolg auf dem Weg zu neuen Wohlstandschancen, wenn überhaupt. Der Wirtschaftserfolg braucht konsequente Soziale Marktwirtschaft, Wettbewerb und Leistung. Die Wirtschaftsreformen müssen — da stimme ich mit Ihnen überein, Frau Matthäus — damit Hand in Hand gehen.Die Bundesrepublik ist zu jeder Hilfe bereit. Aber die Hilfe muß wirksam sein können. 15 Milliarden DM Bares mal eben über den Tisch geschoben ohne vorherige oder mindestens gleichzeitige Wirtschaftsreform, das hilft überhaupt nichts. Außerdem: So töricht sind wir nicht, daß wir drei Wochen vor der Wahl jemandem mal eben noch 15 Milliarden DM geben, damit er sie freundlich segnend durchs Land verteilen und auf seine Tüchtigkeit aufmerksam machen kann.
Das Geld würde in einer schlechten Wirtschaftsordnung versickern, und in wenigen Monaten würde neues Geld verlangt.Wir unterstützen alle Formen einer schnellen Währungsunion. Aber die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen dazu müssen stimmen. Frau Matthäus-Maier, es ist ja richtig, daß Sie zuerst die Idee einer
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15443
Dr. Graf LambsdorffWährungsunion in der „Zeit" beschrieben haben. Aber davon ist nun wirklich nicht mehr sehr viel übriggeblieben. Ich begrüße ja die Korrekturen und Selbsterkenntnisse, die auf dem Wege der Läuterung zu Ihren heutigen Einsichten geführt haben.
Aber vergleichen Sie das mal mit dem, was Sie damals an Falschem geschrieben haben.Meine Damen und Herren, ich sage mit großem Bedacht „Währungsunion" und nicht „Währungsreform". Im Klartext: Eine Abwertung von Sparkonten wie 1948 in der Bundesrepublik darf es in der DDR nicht geben. Sie ist wirtschaftlich nicht geboten, sie ist 45 Jahre nach Kriegsende den Bürgern der DDR nicht zumutbar. Sie haben genauso fleißig gearbeitet und gespart wie wir, und es ist nicht ihre Schuld, daß ein verrottetes System sie um große Teile des Ertrages ihrer Lebensarbeit gebracht hat.Daß sich Kontensperren nicht vermeiden läßt, das wissen wir; das wird auch drüben gesehen. Ich rege aber an, die Sparkonten zum Erwerb von Beteiligungen an zu privatisierenden Staatsbetrieben freizugeben, ebenso für Grundstückskäufe aus Staatsbesitz. Natürlich muß im übrigen ein zurückliegender Stichtag eingeführt werden. Einige törichte Zeitgenossen meinen, sie könnten da herumspekulieren; denen wird man das Handwerk legen.
Ich wiederhole auch bei dieser Gelegenheit: Liberale stehen nicht für den Kapitalismus, sondern sie stehen für die ökologisch verpflichtete soziale Marktwirtschaft. Was sozialistische Planwirtschaft für die Umwelt bedeutet, können Sie in der DDR ablesen. Es war und es ist auch unvertretbar, die DDR wegen ihrer Finanznot als Müllkippe der Bundesrepublik und West-Berlins für Sondermüll und Giftabfälle zu mißbrauchen. Insoweit ist die Bundesrepublik mitverantwortlich.
Die FDP der Bundesrepublik weiß sehr genau, daß in der DDR viele Fragen zur Sozialen Marktwirtschaft gestellt werden. Manche fragen: Gibt es denn nicht den dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus? Darauf antworte ich ihnen allerdings: Die Soziale Marktwirtschaft ist dieser dritte Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus.
Die Soziale Marktwirtschaft ist unbestreitbar leistungsfähiger als alle uns sonst bekannten Wirtschaftsordnungen. Sie ist vor allem auch deswegen vorzuziehen, weil sie die persönliche Freiheit des einzelnen am meisten gewährleistet. Soziale Marktwirtschaft und freiheitlicher Rechtsstaat gehören zusammen, und Wettbewerb ist unverzichtbarer Bestandteil dieser Wirtschaftsordnung und nicht Staatskontrolle und Zuteilung von Material, Energie und Investitionsmitteln. Das führt alles nur zu Behördenwillkür, zu Beamtenmacht, zu Korruption und Schiebereien, wie sie dieses System seit vielen Jahren ausgezeichnethaben. Es gibt eben keine wirksamere Beschränkung wirtschaftlicher und politischer Macht als Wettbewerb.Dazu gehört allerdings auch soziale Gerechtigkeit. In der speziellen Situation der DDR heißt das heute: Die Wirtschaftsreform wird vorübergehend die bisherige verdeckte Arbeitslosigkeit in eine offene Arbeitslosigkeit verwandeln. Die Bundesrepublik muß dafür sorgen, daß für einen begrenzten Zeitraum Arbeitslosenunterstützung von uns finanziert wird. Menschen dürfen nicht ins Bodenlose fallen, auch und jetzt nicht in der DDR.
Die Wirtschaftsreform wird zu höheren Preisen führen, weil die bisherigen Subventionen abgebaut werden müssen. Das trifft die Rentner hart, die ohnehin nur 35 bis 40 % ihres letzten Nettoeinkommens beziehen. Bei uns sind es 60 bis 70%. Hier müssen wir, die Bundesrepublik, ebenfalls für einen vorübergehenden Zeitraum für die Sicherung angemessener Renten sorgen.Die Mieter in der DDR wissen, daß höhere Mieten notwendig sind, wenn ihre Häuser und Wohnungen nicht weiter verfallen sollen. Wer von uns jetzt in die DDR fährt, der sieht: Die Städte sind geordnete Schutthaufen. Es ist nicht zu glauben, was dort angerichtet worden ist. Aber gleichzeitig fürchten diese Mieter höhere Belastungen und mangelnden Kündigungsschutz. Diesen Sorgen muß Rechnung getragen werden: Die Mieten werden steigen, aber auch die Einkommen werden bei höherer Produktivität steigen. Kündigungsschutz existiert auch in unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Wenn jemand dort jetzt mit einem Daimler-Benz vorfährt, an die Tür klopft und sagt: Hurra, ich bin der Eigentümer, und ich melde jetzt meine Ansprüche an, so ist dazu zu sagen, daß es überall Zeitgenossen gibt, die das Taktgefühl mit dem Schaumlöffel gefressen haben.Meine Damen und Herren, die DDR braucht Wettbewerb, Preisreform, Gewerbefreiheit, guten Lohn für gute Arbeit. Sie braucht auch freie Gewerkschaften, aber nicht den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund des Harry Tisch.
— Das weiß ich ja.Das vorgestern verabschiedete Gewerkschaftsgesetz ist politisch ein unglaublicher Vorgang: Wenige Tage vor einer demokratischen Wahl verabschiedet eine vom Volk nicht legitimierte Volkskammer ein Gesetz, das die kommunistischen Machtstrukturen in neuem Gewande festschreibt, das den FDGB-Staat fortsetzt. Mit Marktwirtschaft hat dieses Gesetz nichts zu tun, es wird Investoren vertreiben, und Arbeitsplätze entstehen auf diese Weise in der DDR mit Sicherheit nicht. Nach der Wahl muß eine nicht sozialistische Mehrheit der Volkskammer dieses Gesetz schleunigst ändern.
15444 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200 Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990Dr. Graf LambsdorffDie DDR braucht auch Privateigentum an Großbetrieben. Die Dominanz des Volkseigentums wird heute noch, etwa von Frau Luft, gepredigt. Man kann von ihr auch nicht sehr viel mehr erwarten. Sie gibt sich redliche Mühe und übernimmt Verantwortung, aber 20 Jahre lang hat sie an der Hochschule für Ökonomie Bruno Leuschner diesen Unsinn gelehrt. Ihr Mann hat das übrigens auch gelehrt, so daß sie im Zweifelsfall auch zu Hause über nichts Vernünftiges haben reden können.
Was soll man von denen erwarten? Daß jemand beim Stichwort „Dominanz des Volkseigentums" die reine Lehre predigt, ist erstaunlich, Frau Matthäus, denn daß das noch auf lange Zeit eine gemischte Ordnung bleibt, ist uns völlig klar.Aber eine marktwirtschaftliche Ordnung, eine Wirtschaftsordnung, in der die kleinen und mittleren Unternehmen, die Handwerker und Selbständigen grundsätzlich dem Wettbewerb ausgesetzt werden, die Großen aber grundsätzlich ihre Verluste vom Finanzminister — sprich: Steuerzahler — ersetzt bekommen, mag es mit Sozialisten, vielleicht auch mit einigen Sozialdemokraten geben,
mit Liberalen nicht. — Also, erstens würde ich dringlich empfehlen, daß Sie einmal einen Vergleich ziehen. Machen Sie sich einmal eine richtig schöne Synopse zwischen dem Programm, das Sie für den Westen offerieren, und dem, das Sie für den Osten offerieren.
Und dann gucken Sie doch einmal nach, warum Oskar Lafontaine im Westen der „Genosse Oskar" und drüben der „Parteifreund Oskar" ist und warum die Jugendorganisation drüben „Junge Sozialdemokraten" und hier „Jungsozialisten" heißt.
Und dann gehen Sie in sich und kehren Sie zurück zu etwas mehr Öffentlichkeitsarbeit und Ehrlichkeit!Meine Damen und Herren, es steht jetzt fest, daß Ministerpräsident Modrow — ich habe es gestern gar nicht glauben wollen — bei der Sowjetunion interveniert hat, um die von der sowjetischen Besatzungsmacht geschaffene Eigentums- und Sozialordnung auch nach Wiedererlangung der deutschen Einheit festzuschreiben.
Es soll also bei Enteignung, Volkseigentum und Kombinaten bleiben. Welch ein Demokratieverständnis offenbart ein solcher Schritt zehn Tage vor der Wahl, der ersten freien Wahl in der DDR! Ich sage hier mit allem Nachdruck, mit allem Ernst, sehr bedacht und nach erfolgter Abstimmung für die Freie Demokratische Partei und auch für den Bund freier Demokraten in derDDR: Herr Modrow hat mit diesem Brief sein Land und seine Landsleute schmählich verraten.
Wenn wir, meine Damen und Herren, es richtig machen — das heißt vor allem, daß am 18. März richtig gewählt wird— dann hat die DDR alle Chancen, wirtschaftlich und sozial zur Bundesrepublik aufzuschließen; da haben Sie recht.
— Nein, nein, sozialdemokratisch nicht. Und Sie merken auch, daß die Zahlen heruntergehen; das ist schon in Ordnung.
Meine Damen und Herren, der Ibrahim Böhme hat mir neulich gesagt: Sie schaden ja mit Ihren Reden meiner Partei. — Da habe ich gesagt: Junge, daran wirst du dich gewöhnen müssen; das kann noch häufiger passieren.
Und Sie haben auch in einem Punkt recht: Erinnern wir uns an 1950. Als bei uns die ganze Industrie — oder ein großer Teil — demontiert war und neu aufgebaut wurde, war die neu aufgebaute Industrie wettbewerbsfähiger als die unserer Nachbarn, die damals demontiert hatten. Das wird in der DDR im Verhältnis zur Industrie der Bundesrepublik auch so sein.
Wenn es richtig gemacht und wenn investiert wird, dann wird die Wirtschaft der DDR für eine Reihe von Jahren im Vergleich zu allen anderen den höchsten technologischen Standard haben. Also, sie haben eine große Chance.Deswegen rate ich jedem ab, die DDR noch zu verlassen. Das Abschaffen von Anreizen, diese lächerliche Diskussion, die wir hier über dies und jenes führen, spielt überhaupt keine Rolle.
Die Leute müssen drüben Aussichten sehen, dann bleiben sie auch. Die kommen doch nicht wegen der paar „Flöhe" hierher, die wir ihnen zahlen.
Und auch wegen der Wohnungsfrage im Westen sollte man den Leuten abraten.Die DDR hat ihre Chancen, und sie wird sie nutzen. Da wird es besonders für junge Leute mit Initiative bessere Aussichten geben als in der Bundesrepublik. Das ist nicht Wunschdenken, es ist Einsicht in wirtschaftspolitische Realitäten.Ich mache hier einen Einschub: Ich bedanke mich bei den Kollegen der CDU, daß ich diesmal früher reden durfte, und entschuldige mich gleichzeitig dafür, daß ich nachher weg muß, nämlich in die DDR. Ich bitte um Nachsicht.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15445
Dr. Graf Lambsdorff— Ich erzähle die Geschichte auf jedem Marktplatz; die Leute freuen sich darüber.
Nun, meine Damen und Herren, wir müssen noch einiges voneinander lernen, wir müssen aufeinander hören. In 40 Jahren hat sich manches auseinanderentwickelt, übrigens auch unsere Sprache. Wir sprechen natürlich alle Deutsch, aber wir verstehen uns manchmal trotzdem schwer.
— Ja. — Ich kritisiere taktlose und verletzende Reden von Bundespolitikern über die angeblich notwendige „bedingungslose Kapitulation der DDR" ,
über ihre angebliche Zahlungsunfähigkeit und ähnliches.
— Nur nicht so schnell. — Ich kritisiere aber auch taktlose Bemerkungen von Landespolitikern, nämlich das SPD-Vorstandsmitglied Gerhard Schröder aus Niedersachsen, der die Menschen in der DDR heute wörtlich aufgefordert hat, „sich selbst krummzulegen".
— Sich selbst krummzulegen. — Was für eine Sprache! Jeder in der DDR weiß, daß ihm harte Arbeitsjahre bevorstehen. Aber das ist eine menschenverachtende Formulierung angesichts der 40 Jahre, in denen sich die Menschen in der DDR wahrhaft krummlegen mußten.
Aber es ist eine Formulierung — das weiß ja auch die ganze SPD —, für die Herr Schröder immer gut ist.Solche Äußerungen, solche Formulierungen verletzen den Selbstrespekt und die Würde der Menschen in der DDR. Deren Respekt und deren Würde sind 40 Jahre lang verletzt worden. Wir müssen darauf mehr Rücksicht nehmen, als wir hier glauben. Die sind empfindlich. Das ist verständlich. Ich meine sogar, sie haben ein Recht darauf, empfindlich zu sein und von uns entsprechend behandelt zu werden.Im übrigen ist ja nicht wahr, daß bei uns alles besser sei als in der DDR. Ich nenne ein Beispiel: Die Versorgung mit Kindergärten und die Betreuung der Kinder berufstätiger Mütter sind in der DDR besser als bei uns. Das sollten wir nachmachen. Es nützt den Kindern, und es erhöht die Wahlfreiheit der Mütter.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen, in der Nationalhymne der DDR, deren Text ja seit vielen Jahren verboten war und die ja nicht mehr gesungen, sondern nur noch gespielt werden durfte — das muß man sich alles in Erinnerung rufen — , heißt es: „Auferstanden aus Ruinen". Jetzt soll das Wirklichkeit werden, nach 40 Jahren Unterdrückung der Freiheit, Zusammenfallen der Städte, wirtschaftlichen Ruins und miesen Lohns für die Arbeitsleistung der Menschen. Es muß Wirklichkeit werden — auch mit der Hilfe der Bürger der Bundesrepublik. Denken wir immer daran, auch wenn es Kritik aus der Bundesrepublik gibt und wenn Fragen kommen, ob das nicht zu teuer wird und ob das nicht Belastungen für uns sind: Es darf doch auf Dauer nicht so bleiben, daß ein Teil des deutschen Volkes den Zweiten Weltkrieg mehr verloren hat als der andere.
Wir hier sind die Glücklicheren gewesen. Jetzt müssen wir helfen. Und wir können helfen. Ich sage jedem aufgeregten und aufgescheuchten Bundesbürger dazu: Wir können helfen, ohne daß das bei uns zu fühlbaren, gar schmerzhaften Einschränkungen — von „Opfern" überhaupt nicht zu reden — führen müßte. Das, was wir zu tun haben, können wir tun. Wir müssen es tun. Wir sollten es in gemeinsamer Anstrengung tun. Die Menschen drüben warten auf uns. Sie haben unsere Hilfe verdient.
Es kann ohne unsere Hilfe nicht gehen. Es muß auch von uns jetzt versucht werden, die 40 Jahre nachträglich ein wenig mitzutragen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Lambsdorff hat gerade gesagt: Wir müssen helfen, und wir können helfen. Das ist ganz sicher richtig, Herr Lambsdorff. Aber ich frage mich: Wieso tut die Bundesregierung das nicht? In diesem Nachtragshaushalt, über den wir heute sprechen, finde ich sehr wenig, was dem Anspruch, den Sie soeben wieder formuliert haben, gerecht wird. Der Herr Finanzminister Waigel hat am 14. Februar gesagt — ich zitiere — : Der Nachtragshaushalt 1990 soll vorrangig der Finanzierung von Sofortmaßnahmen auf Grund der aktuellen Entwicklung in der DDR dienen. Das hört sich gut an. Das hört sich ebenso gut an wie die Bemerkungen, die wir dazu heute wieder gehört haben. Aber wenn man sich genauer ansieht, was da im einzelnen geplant ist, was Bestandteil dieses Nachtragshaushalts ist, wenn man genauer in den Unterlagen nachschaut, wenn man das alles genau liest, dann wird man feststellen: Es findet sich fast nichts, was diesem Anspruch gerecht werden kann.
Es findet sich der Reisedevisenfonds. Den kannten wir schon. Es finden sich Zusatzmittel für die Unterbringung von Aus- und Übersiedlern. Das ist ja wohl keine Soforthilfe für die Menschen in der DDR. Es findet sich eine Aufstockung der Bundeshilfe für Berlin. Auch das wird dem Anspruch nicht gerecht.Es finden sich Zusatzmittel für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Aber an wirklich zählbarem Neuem finden sich allenfalls die geplante Aufstockung des ERP-Sondervermögens und ein paar Millionen für Umweltsanierung in der DDR. Das ist alles, was die Bundesregierung jetzt an konkreten
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15446 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Kleinert
Maßnahmen zugunsten der Entwicklung in der DDR vorgeschlagen hat.Wenn man sich das anschaut, muß man feststellen, daß Ihr eigener Anspruch: Sofortmaßnahmen auf Grund der aktuellen Entwicklung der DDR, mit diesem Nachtragshaushalt gerade nicht eingelöst wird.
Wer diesen Nachtragshaushalt zum Maßstab für Ihre Bereitschaft nimmt, zur Verbesserung der Lage in der DDR beizutragen, muß zu dem Ergebnis kommen, daß diese Bereitschaft so sehr groß nicht sein kann und daß das, was in diesem Nachtragshaushalt zum Ausdruck kommt, in einem merkwürdigen Widerspruch zu den großen Worten steht, die im vorigen Herbst noch zu hören waren. Ich erinnere daran: Der Herr Bundeskanzler selber war es, der noch im vorigen Herbst hier geäußert hat, wenn es in der DDR zu einer demokratischen Entwicklung komme, dann könne sich diese Bundesregierung finanzielle Hilfen in ganz neuen Größenordnungen vorstellen. So war es damals zu hören. Aber wenn ich mir jetzt anschaue, was von diesen großen Worten übriggeblieben ist, jetzt, da Gelegenheit und Bedarf bestünden, das in die Tat umzusetzen, muß ich feststellen, daß davon herzlich wenig übriggeblieben ist. Allein die Umweltsanierung in der DDR wird viele Milliarden D-Mark kosten — Geld, das die DDR aus eigener Kraft auf absehbare Zeit nicht wird aufbringen können. Sie haben für solche Zwecke für die nächsten vier Jahre ganze 600 Millionen DM vorgesehen. Angesichts des riesigen Problemdrucks auf diesem Gebiet ist das mehr als dürftig.
Wo sind — so muß man weiter fragen — in Ihren Konzepten eigentlich die Aufwendungen für den Ausbau eines DDR-Sozialsystems? Sogar Herr Blüm hat häufiger von der Notwendigkeit einer Anschubfinanzierung gesprochen, die die DDR beim Aufbau eines Sozialsystems benötige. Man muß hier gar nicht die weitestgehenden Schätzungen, was die Kosten in diesem Bereich anlangt, sich zu eigen machen, um festzustellen: Für alle diese Dinge haben Sie gar nichts vorgesehen, was nennenswert wäre; Fehlanzeige auch in diesem Bereich.Ich habe ganze 15 Millionen DM gefunden für Modellmaßnahmen zur Neugestaltung der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarkts in der DDR. 15 Millionen DM sind ein lächerlicher Beitrag angesichts der Erwerbslosenzahlen, die in der DDR demnächst mit einiger Sicherheit zu erwarten sein werden. Man müßte fast annehmen, Sie wollten symbolisch jedem Erwerbslosen drüben demnächst einen neuen Zehnmarkschein überreichen, und das soll es dann gewesen sein.Ist das alles, was es auf diesem Gebiet an Konzepten gibt? Oder müssen wir davon ausgehen, daß wir demnächst, nach der DDR-Wahl, einen neuen Nachtragshaushalt hier vorgelegt bekommen? Möglicherweise haben wir damit zu rechnen, daß Sie von der Devise ausgehen, vor der Wahl in der DDR möglichst nicht konkret auf den Tisch zu legen, womit Sie rechnen, wovon Sie ausgehen, um dann hinterher mit einem neuen Nachtragshaushalt zu kommen. Damit aber würden Sie gegen das geltende Haushaltsrecht verstoßen, weil dies nämlich darauf hinausliefe, daß Sie Ausgaben, die jetzt schon absehbar sind, aus politischen Überlegungen dem Parlament verschweigen.Meine Damen und Herren, statt wirksamer Soforthilfe hat diese Bundesregierung den Menschen in der DDR wenig anzubieten, wenig mehr als vage Versprechungen von den segensreichen Wirkungen einer raschen Währungsunion und dem selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung, der sich dann angeblich wie von selbst einstellen soll. Nun will ich gar nicht leugnen, daß es einen psychologischen Druck in Richtung Währungsunion gibt und daß die Rolle, die die D-Mark heute schon in der DDR spielt, Probleme schafft.Dennoch dürfte dies alles, wenn Argumente und ökonomischer Sachverstand in diesen Fragen eine Rolle spielen sollen, nicht dazu führen, daß eine rasche Währungsunion um jeden Preis verwirklicht werden soll; denn eine rasche Währungsunion wird keines der schwierigen Übergangsprobleme lösen, mit denen wir es zu tun haben,
sondern sie wird im Gegenteil neue Probleme aufwerfen.
Niemand wird bestreiten können, daß eine rasche Währungsunion auf dem Gebiet der heutigen DDR massive Betriebsstillegungen zur Folge haben wird.
Niemand wird bestreiten können, daß ein sprunghaftes Anwachsen der Erwerbslosenzahlen die Konsequenz sein wird und daß sich aus diesem Prozeß nicht eine Abnahme der Übersiedlerzahlen ergeben wird, sondern daß sehr wahrscheinlich eine weitere Zunahme der Übersiedlerzahlen die Konsequenz einer ganz raschen Einführung der Währungsunion sein wird.Hinzu kommt bei uns die Gefahr inflationärer Entwicklungen, die die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die ganzen Umwälzungsprozesse, die vor uns liegen, negativ beeinflussen können.Das wird dazu führen können, daß am Ende die Kosten für diesen ganzen deutsch-deutschen Prozeß, die wir hier zu zahlen haben werden, die die westdeutschen Steuerzahler aufzubringen haben werden, bei einer eiligen Währungsunion höher sein werden, als es bei einer allmählicheren, langsameren Annäherung und Angleichung der Wirtschaftsgebiete der Fall sein müßte.
Gerade weil das so ist — es ist gut, daß Sie sich gerade melden —, habe ich bis heute nicht verstanden, wieso ausgerechnete Frau Matthäus-Maier den Vorschlag einer raschen Währungsunion als erste in die Diskus-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15447
Kleinert
sion gebracht hat. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß diese Überlegung nicht von ökonomischer Rationalität und von Klugheit auf diesem Gebiete zeugt. — Aber bitte, Frau Matthäus-Maier.
Sie gestatten eine Zwischenfrage? — Bitte, Frau Matthäus-Maier.
Herr Kleinert, ich möchte Sie fragen: Glauben Sie nicht, daß es zu den ökonomischen Daten, die man als Politiker berücksichtigen muß, auch gehört, wenn ein Volk seine eigene Währung schlicht und einfach ablehnt? Zweitens: Wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß, wenn wir Zeit hätten, das Ganze aus meiner Sicht zwei drei Jahre dauern könnte, wir aber gerade diese Zeit nicht haben und daß die Gefahr besteht, daß der Patient DDR, wenn wir länger warten, schlicht und einfach verstirbt?
Die Fakten nehme ich natürlich zur Kenntnis. Aber die Frage ist, welches die richtige Antwort, welches das richtige Konzept ist. Das richtige Konzept, das geeignet wäre, für diese Probleme eine Lösung anzubieten, wären Maßnahmen zur zeitweisen Stützung der DDR-Währung
mit dem Ziel, Voraussetzungen zu schaffen, weil auf der Grundlage einer Annäherung der Wirtschaftsgebiete eine Währungsunion günstiger zu machen sein wird. So wie sich das jetzt abzeichnet, müssen Sie davon ausgehen, daß ein Großteil der DDR-Betriebe quasi über Nacht nicht mehr konkurrenzfähig sein wird und daß die Erwerbslosenzahlen, die wir in der DDR als Ergebnis einer raschen Währungsunion haben,
sehr viel größer sein werden, als wenn Sie diesen ganzen Prozeß langsamer gestalten würden. Das nenne ich ökonomisch unvernünftig. Wie man es anders machen müßte, dazu komme ich gleich noch.Meine Damen und Herren, wer sich erinnert, mit welcher arroganten Pose Herr Modrow und seine Minister hier in Bonn abgefertigt worden sind
— das wird, da bin ich ganz sicher, dazu beitragen, daß die PDS ein besseres Wahlergebnis bekommen wird, als es im anderen Falle denkbar gewesen wäre; Sie haben das selber mit heraufbeschworen —,
wer sich erinnert, wie über Vorschläge des Runden Tisches hergezogen wurde — derselbe Runde Tisch, den Sie im letzten Herbst noch gegen die Regierung Modrow hochgehalten haben —,
wer sich erinnert, wie prominente Mitglieder dieser Regierung öffentlich über die angebliche Inkompetenz ihrer Verhandlungspartner aus der DDR meinten herziehen zu müssen, der muß den Eindruck gewinnen, daß im Vordergrund Ihrer Politik weniger das Interesse an einer Stabilisierung der Verhältnisse in der DDR und eines möglichst sanften Übergangs steht, sondern daß Sie eher darauf warten, daß die DDR der Bundesrepublik über einen wirtschaftlichen Auszehrungsmechanismus gewissermaßen zufällt.
Das aber würde Voraussetzungen schaffen, die keine Vereinigung von zwei gleichberechtigten Partnern ermöglichen, sondern tatsächlich nur den Anschluß des einen an den anderen Teil darstellen würden, mit all den wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und auch psychologischen Hypotheken, die sich aus einer solchen Ungleichheit von Partnern — in diesem Fall sind es eigentlich keine Partner mehr — ergäben. Eine Vereinigung, die auf einer solchen ungleichen Basis zustande kommt, ist eigentlich keine Vereinigung, sondern eine Unterordnung des einen unter den anderen Teil, und das ist eine sehr schwere Hypothek für das, was danach kommt.
Meine Damen und Herren, statt Kleinbeträge großspurig zu umfangreichen Soforthilfen aufzumotzen, wäre in der Tat eine wirksame Finanzhilfe notwendig. Wir haben dazu umfangreiche Vorschläge gemacht. Wir haben diese Vorschläge in einem Sofortprogramm für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in der DDR zusammengefaßt. Wir schlagen vor, dieses Soforthilfeprogramm mit einem Volumen von 30 Milliarden DM auszustatten. Wir gehen davon aus, daß mit einem solchen Programm die Kosten für die deutsch-deutsche Entwicklung günstiger ausfielen, als sie bei dem Kurs mit den Belastungen, die bei einer ganz raschen Verwirklichung der Währungsunion auf uns zukommen werden, den Sie eingeschlagen haben, sein werden.
Wir gehen dabei davon aus, daß es in der DDR vor allem um drei Probleme gehen muß: erstens um eine wirtschaftliche Stabilisierung, zweitens um ökologische Sanierung und drittens um den raschen Aufbau eines funktionsfähigen Sozialsystems.Die Wirtschaftsreform in der DDR muß natürlich währungspolitisch abgesichert werden. Aber eine überstürzte Währungsunion ist dafür exakt der falsche Weg. Auch wer eine Währungsunion zu einem späteren Zeitpunkt für richtig hält, der müßte zunächst die DDR-Mark stabilisieren, Voraussetzungen für eine freie Konvertierbarkeit der DDR-Mark schaffen und dies als Vorstufe für eine spätere Währungseinheit auf den Weg bringen.
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15448 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Kleinert
— Wenn es dafür zu spät ist, dann ist das auch das Ergebnis einer Politik, die Sie in diesem Bereich leider mit zu vertreten haben, Frau Matthäus-Maier.
— Weil das Tempo, in dem diese Währungsunion herbeigeredet worden ist — —
Ich kann mich noch gut daran erinnern: Vor vier Wochen hat Herr Haussmann von der Währungsunion im Jahre 1993 gesprochen, zu einem Zeitpunkt, — —
— Frau Matthäus-Maier, es war 1993.
Ich meine, daß man einen Devisenfonds im Umfang von 15 Milliarden DM einrichten sollte, mit dem Versorgungsengpässe behoben und Lieferschwierigkeiten beseitigt werden könnten, die heute in der DDR zu der Kettenreaktion von Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit, Abwanderung und neuerlichen Betriebsschließungen beitragen. Auf diese Weise könnte die DDR-Wirtschaft stabilisiert werden, und damit könnte auch zum Eindämmen der Abwanderung beigetragen werden. Natürlich müßte ein solcher Fonds auch den privaten Haushalten zugute kommen.Wir brauchen auch ein Soforthilfeprogramm für Mein- und Mittelbetriebe in der DDR. Das würde sich auf die Schaffung von Arbeitsplätzen positiv auswirken.Wir brauchen einen Betrag von 10 Milliarden DM für die ökologische Sanierung und Stabilisierung in der DDR. Wir brauchen sie für die Umgestaltung der Energieversorgung, für die Altlastensanierung, für die Kanalisation und für die Sanierung von Flüssen und anderen Gewässern.Auch die Einführung neuer sozialer Sicherungssysteme in der DDR kostet Geld, das die DDR aus eigener Kraft derzeit nicht aufbringen kann. Um das zu lösen, schlagen wir einen Solidaritätsfonds vor, der unter anderem abdecken soll eine soziale Grundsicherung, eine Sicherung für den Fall der Erwerbslosigkeit, eine Sicherung der Renten, Mietsubventionierungen und ähnliches.
Meine Damen und Herren, gerade in diesem Bereich werden wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Menschen in der DDR zu bleiben bereit sind, und dafür, daß der Strom der Übersiedler nicht ständig weiter anschwillt; denn es ist ja nicht so sehr das Einschränken oder Abbauen von Sonderleistungen für DDR-Bürger bei uns — so notwendig das ist —, was das Problem des Ausblutens der DDR lösen kann. Es ist auch nicht so sehr die rasche Währungsunion; sie wird den Übersiedlerstrom zunächst eher noch größer werden lassen.
Wirklich gut ausgegeben ist das Geld der westdeutschen Steuerzahler nur dann, wenn es zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur ökologischen Sanierung und zur sozialen Sicherung in der DDR beiträgt und wenn dieser Weg dazu führt, daß mehr Menschen bereit sind, in der DDR zu bleiben. Genau in diese Richtung geht unser Vorschlag.Ich will Ihnen auch sagen, wie man diese Ausgaben finanzieren kann. — Der Haushalt des Herrn Stoltenberg für das Jahr 1990 sieht 54 Milliarden DM vor. Insgesamt sollen in diesem Jahr mehr als 60 Milliarden DM für Rüstung ausgegeben werden — eine Absurdität in einer Zeit, in der alle Welt über Abrüstung diskutiert, in der Feindbilder verschwinden und in der Blockgrenzen überwunden werden! Wir sagen auch ganz pragmatisch: Es wäre sehr wohl möglich, 10 Milliarden DM aus diesem Rüstungsetat zugunsten der DDR-Soforthilfe umzuschichten.
Weitere Milliarden könnten aus dem Bundesbankgewinn fließen. 7 Milliarden DM würden wir durch eine Besteuerung von Zinseinkünften aufbringen.
9 Milliarden DM könnten durch Erhebung einer Ergänzungsabgabe bei den Beziehern höherer Einkommen aufgebracht werden.Meine Damen und Herren, die Debatte über die Frage, wer für die deutsch-deutsche Vereinigung zahlt, wird ohnehin in den nächsten Monaten auf der Tagesordnung stehen. Da mag es noch so viele regierungsamtliche Versicherungen geben dahingehend, daß an Steuererhöhung niemand denke, daß Sonderabgaben oder Leistungskürzungen von niemandem geplant seien und vieles mehr. Das alles werden Sie so nicht durchhalten.Deswegen ist es schon heute in dieser Debatte wichtig, folgendes festzustellen — das wird für uns in diesen Diskussionen maßgeblich sein — : Wir halten es für unverantwortlich, wenn am Ende mit dem Argument der nationalen oder meinetwegen auch der christlichen Verantwortung die kleinen Leute bei uns die Zeche zahlen sollen.
Denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und der gesellschaftliche Reichtum in der Bundesrepublik sind groß genug, um Hilfen in die DDR zu geben, ohne damit die Schwächeren in dieser Gesellschaft Bundesrepublik zu belasten.
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Kleinert
Mit Ihrem Nachtragshaushalt tun Sie das Mögliche gerade nicht, von dem Herr Waigel gesprochen hat. Ihr Nachtragshaushalt wird dem von Ihnen selbst gesetzten Anspruch in keiner Weise gerecht. Die Erwartungen der Menschen in der DDR auf wirksame finanzielle Soforthilfe werden zum wiederholten Male von Ihnen enttäuscht. Ihr Haushalt leistet jenen Beitrag nicht, der dringend geboten wäre.Auch an dieser Stelle zeigt sich, daß diese Regierung den großen Herausforderungen, die in dieser Zeit dramatischer Umwälzungen an die Politik gestellt sind, nicht gewachsen ist. Wir plädieren für einen anderen Weg. Wir haben dazu eine Reihe von Vorschlägen gemacht.Besten Dank.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr. Dann fahren wir in den Beratungen fort. Erster Redner ist der Abgeordnete Borchert.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Wir setzen damit die Beratung des Nachtragshaushaltes fort.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Borchert.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits im Herbst des vergangenen Jahres, bei der Verabschiedung des Haushalts 1990, war uns allen bewußt — und wir haben ja auch darüber diskutiert —, daß sich die Vereinigung Deutschlands auch auf den Bundeshaushalt auswirken wird. Heute ist die Projektreife für eine Reihe von Vorhaben erreicht. Von den knapp 7 Milliarden DM des Nachtragshaushalts stehen 6 Milliarden DM in Zusammenhang mit der DDR. Dieses Volumen gibt den heutigen Verhandlungsstand wieder.Daß die Kollegin Frau Matthäus-Maier heute morgen kritisiert hat, daß wir viel zu zögerlich, zu langsam handeln würden, dann ist das insofern verblüffend, als im Herbst erst kritisiert wurde, der Bundeskanzler würde viel zu schnell handeln. Inzwischen wird kritisiert, wir würden Zeit verlieren. Aber ich glaube, nicht wir haben die Zeit verloren, sondern die Regierung Modrow. Mehr als heute im Nachtragsetat zu verabschieden ist, war mit dieser Übergangsregierung Modrow nicht zu vereinbaren.Alle Haushaltsmittel sind projektgebunden. Dies ist wichtig, denn wir sind nicht bereit, das schwer verdiente Geld unserer Bürger pauschal in eine marode, sozialistische DDR-Wirtschaft zu pumpen, ohne daß dort unumkehrbare Reformschritte eingeleitet sind. Öffentliche Mittel können nur dann fließen, wenn auch die DDR die Hausaufgaben gemacht hat. Damit ist die Regierung Modrow aber leider im Verzug. Es fehlen durchgreifende, marktwirtschaftliche Reformgesetze.Das Instrument der pauschalen Leistungen, die immer wieder gefordert sind, kennen wir aus der Vergangenheit: Transitpauschale, Straßennutzungspauschale, Umtauschpauschale. Wenn wir heute fragen, wo diese Milliarden geblieben sind, dann ist damit den Menschen in der DDR doch nicht geholfen.Trotzdem gehen immer wieder neue Forderungen in diese Richtung. Auch die SPD stellt derartige Forderungen. Sie schraubt die Forderungen an die Bundesregierung von Tag zu Tag in die Höhe.
Da stimmt sie mit Herrn Modrow und der Ost-SPD überein,
um die Bundesregierung dann doch noch dazu zu bringen, mehr Geld bereitzustellen, um dies dann wiederum genau gegen die Bundesregierung ins Feld zu führen. Mal sind wir zu schnell, mal zu langsam!
Innerhalb der SPD gibt es ja eine personelle Aufgabenverteilung: hier der Fraktionsvorsitzende Dr. Vogel, dort der saarländische Ministerpräsident Lafontaine. Vogel sagt, der DDR müsse sofort und ohne jede Bedingung zweistellige Milliardenbeträge überwiesen werden. Lafontaine aber stellt sich hin und schürt den Sozialneid,
so daß sich bei den Bundesbürgern und -bürgerinnen eine Stimmung gegen die Wiedervereinigung ausbreitet.Frau Kollegin, auch Ihre Forderung heute morgen, die „Prämien" für Übersiedler zu streichen — wobei ich davon ausgehe, daß das Wort „Prämie" bewußt gewählt ist —
trägt dazu bei, daß hier wieder Neid geweckt wird. Und drüben in der DDR werden die Befürchtungen geschürt, wir nähmen drastische Eingriffe vor.
Von gemeinsamer Verantwortung aller deutschen Demokraten in dieser wichtigen Frage läßt diese Haltung nichts verspüren. Ich bedaure dies. Aber in der deutschen Frage gingen Sozialdemokraten schon immer seltsame Wege. Das gemeinsame Papier der SPD mit der SED ist noch druckfrisch; dieses Papier ist noch nicht vergessen.
— In der Zeit, als wir an der Wiedervereinigung festgehalten und Sie gefordert haben, wir sollten nun endlich die Realität zweier deutscher Staaten anerkennen, war das.Die Bundesregierung hat der DDR die Währungsunion angeboten, und zwar mit der Bedingung, gleichzeitig die Soziale Marktwirtschaft in der DDR einzuführen. Beides gehört zusammen. Es kann nicht
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15450 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Borchertgetrennt werden, obwohl die ökonomische Logik sicher dafür spricht, erst eine Währungsreform durchzuführen und danach die Währungsunion einzuführen.
— Ich würde gern die Passage zur Währungsunion noch zu Ende führen, Frau Kollegin.Die menschlichen, politischen und sozialen Entwicklungen in der DDR, insbesondere das Tempo der Entwicklungen, lassen keine andere Wahl als eine möglichst schnelle Einführung der Währungsunion. Wir wollen eine schnelle Einführung von Währungs- und Wirtschaftsunion.In der SPD herrscht das gewohnte Durcheinander. Frau Matthäus-Maier forderte am 15. Februar und heute die Währungsunion. Damals war Lafontaine noch in Urlaub. Der Ärmste mußte sich am Mittelmeer von den Strapazen des Wahlkampfes erholen.
— Aber Sie haben die Probleme mit der Erholung. Aus dem Urlaub zurückgekehrt, warnte der Kanzlerkandidat Lafontaine vor einer schnellen Schaffung der Währungsunion. Daraufhin sagte Kollege Roth: Derjenige, der sagt, wir können mit der Schaffung der Währungsunion abwarten, der irrt! Am 2. 3. meldete „dpa" : „Oskar Lafontaine stellt in Leipzig das hohe Tempo einer Währungsunion in Frage! ", während Kollege Roth am gleichen Tage laut „dpa" erklärt: „Die Währungsunion ist bereits entschieden! " Hier wird deutlich, wie das durcheinandergeht. Während Lafontaine fordert und durchsetzt, daß SPD-Politiker seinen Kurs vorbehaltlos unterstützen, wenn er Kanzlerkandidat wird, glaubt Kollege Roth immer noch, daß Oskar Lafontaine „ein flinker Lerner" ist. Ich habe eher den Eindruck: Meistens ist er im Urlaub ein ferner Linker!Die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der SPD können bei der Forderung von Lafontaine, seinen Kurs bedingungslos zu unterstützen, jetzt ihren Sachverstand an der Garderobe abgeben. Lafontaine bestimmt bis zur Bundestagswahl, unbelastet von jeder Sachkenntnis, den Kurs, und ich bin gespannt, Frau Kollegin, wie lange Sie Ihre Forderungen nach der Währungsunion durchhalten.
— Nach der Bundestagswahl ist er wieder Ministerpräsident im Saarland und wird uns dann hier in der Debatte wenig beschäftigen. — Die geforderte bedingungslose Unterordnung der SPD-Fachleute als Preis für die Kanzlerkandidatur wird Ihnen noch häufig Magenschmerzen bereiten.Wir wissen, daß die Bundesrepublik auf die Herausforderung der Vereinigung Deutschlands gut vorbereitet ist. Wenn diese Revolution in der DDR zu Beginn der 80er Jahre eingetreten wäre, dann wäre dies für die Bundesrepublik sehr viel schwieriger gewesen. Wir hatten damals statt Außenhandelsüberschüsse Defizite; wir hatten keine solide Haushaltsführung, sondern geplünderte öffentliche Kassen. Mit einem Wort, wir hatten die Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft durch staatliche Gängelung erstickt. Die Jahre seit 1982 zeigen uns aber, wie es gemacht werden muß. 1982 war das reale Bruttosozialprodukt um 14 Milliarden DM niedriger als 1980. Allein 1989 aber stieg das Bruttosozialprodukt real um rund 70 Milliarden DM. 1981 bis 1982 sank die Beschäftigung um 627 000 Beschäftigte; allein in den Jahren 1989 und 1990 wird demgegenüber die Beschäftigung um rund 700 000 wachsen, und seit dem Herbst 1982 haben wir einen Beschäftigungszuwachs von anderthalb Millionen.Unser Konzept setzt auf die systemimmanenten Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft, und trotz der Belastungen, die auf uns zukommen, werden wir deshalb die erfolgreiche Haushalts- und Steuerpolitik fortsetzen. Restriktive Ausgabenpolitik, weitere Steuerentlastungen und eine kontinuierliche Eindämmung des Schuldenzuwachses, das sind die Eckpfeiler auch für die Zukunft eines vereinten Deutschlands.Wir hatten von 1980 bis 1982 eine Phase, die Sie immer verniedlichend mit Minuswachstum umschrieben haben, und trotz Ihrer Steuererhöhungspolitik einen Rückgang der realen Einkommen. Wir haben heute reale Einkommenszuwächse. Die Bürger können mehr kaufen. Auch dies ist ein Erfolg unserer Finanz- und Steuerpolitik. Aber Sie polemisieren gegen die Steuerpolitik, es seien Steuergeschenke für Besserverdienende und Reiche.
Wir werden auf der Grundlage unserer Erfolge die angebotsorientierte Wirtschafts-, Haushalts- und Steuerpolitik fortsetzen. Sie ist der beste Garant für wirtschaftliches Wachstum, für stabilen Geldwert und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in ganz Deutschland.
Die SPD vertraute damals, wie sie es auch heute tut, falschen Rezepten. Sie träumten damals — wie heute — vom demokratischen Sozialismus. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, daß die Geschichte lehrt, daß alle sozialistischen Varianten gescheitert sind. Die Sowjetunion, Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei entledigen sich schrittweise der sozialistischen Fesseln. Schweden als das nordische Musterländle des demokratischen Sozialismus ist am Ende.
Der öffentliche Sektor in Schweden verschlingt zwei Drittel des Bruttosozialprodukts. Ich finde es schon bezeichnend, wie die deutschen Sozialdemokraten die Pleite ihrer nordischen Genossen mit Schweigen übergehen.
Trotz dieser Erfahrung fordern Sie Steuererhöhungen, Mehrausgaben und neue Schulden. Der Regierende Bürgermeister von Berlin fordert Steuererhöhungen für Besserverdienende. Steuererhöhungen aber lähmen den Leistungsanreiz, verschlechtern die Standortbedingungen und gefährden das Wirtschaftswachstum. Sie führen letztlich zu einem geringeren Anstieg der Steuereinnahmen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15451
BorchertUnsere Politik zeigt, Steuerreform, Steuersenkungen schaffen Leistungsanreize, verbessern die Qualität des Investitions- und Wirtschaftsstandortes Bundesrepublik und erhöhen die Fähigkeit der Unternehmen zu schnellen Anpassungen an strukturelle Veränderungen. Genau dies brauchen wir in dieser Phase.
Die Frage nach den Kosten der deutschen Einheit ist schwer zu beantworten. Eines ist sicher, sie ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir wissen aber, wie hoch die Ressourcen sind, die wir heute einsetzen können. Die Zunahme des realen Bruttosozialprodukts belief sich allein 1989 auf 70 Milliarden DM. Der Kapitalexport 1989 betrug rund 90 Milliarden DM. Der Finanzminister hat darauf hingewiesen, daß allein die öffentliche Hand zur Zeit rund 40 Milliarden DM für Aufgaben ausgibt, die in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit der deutschen Teilung stehen.Diese Zahlen zeigen, die vor uns liegenden Auf gaben sind zu finanzieren. Es liegt nun an uns, an den Deutschen in Ost und West, diese Chance zu nutzen.Mit der Währungsunion und der gleichzeitigen Wirtschaftsreform in der DDR werden die notwendigen marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen geschaffen. Eine prosperierende Wirtschaft ist die wichtigste Voraussetzung, damit dieser Prozeß staatlicherseits begleitet werden kann, ohne die erfolgreiche Haushalts- und Steuerpolitik zu gefährden. Dies kann gelingen, wenn heute die Ausgabenzuwachsrate niedriger liegt als der Anstieg des Bruttosozialprodukts. Es ist nun unsere Aufgabe bei den Beratungen im Haushaltsausschuß, die zusätzlichen Ausgaben des Nachtragshaushalts auch durch Kürzungen an anderer Stelle im Haushalt wieder aufzufangen. Dabei wird jeder Einzelplan auf dem Prüfstand stehen. Wir werden gerade den Verteidigungsetat besonders kritisch unter die Lupe nehmen.
— Es war natürlich klar, daß Sie heute wieder mit dem Jäger 90 kommen. Sie stellen die Kosten des Jägers 90 in den Raum, als wären sie bei einem Verzicht auf den Jäger 90 einzusparen. Sie sollten dann, wenn Sie diese Summen sparen wollen, ehrlicherweise sagen, das bedeutet den Verzicht auf die Luftwaffe.
Was wir sparen können, ist eventuell die Differenz zwischen den Kosten des Jägers 90 und denen eines preiswerteren Systems, wenn es dieses gibt. Und wir können sparen, wenn wir weniger anschaffen, was unter Umständen im Rahmen von Abrüstungsverhandlungen möglich ist.Der vorübergehende Anstieg der Zuwachsraten ist die notwendige Folge der Überwindung der Teilung Deutschlands. Die Bundesrepublik erbringt heute zunehmend Leistungen für die bevorstehende deutsche Einheit, ohne daß bereits ein öffentlicher Haushalt fürGesamtdeutschland existiert. Die Bundesrepublik erbringt aber gleichzeitig noch Leistungen, die mit der deutschen Teilung verbunden sind. Es ist selbstverständlich, daß auch in Zukunft die notwendigen staatlichen Ausgaben für 75 Millionen Bürger nach der Wiedervereinigung nicht mit dem Haushaltsvolumen zu finanzieren sind, das bisher Leistungen für 60 Millionen Bürger erbracht hat. Insoweit werden wir sicher vorübergehend einen Anstieg der Ausgaben haben.Aber es muß unsere Aufgabe sein, nach einer Anpassungsphase den Anstieg der Ausgaben konsequent wieder zu begrenzen. Das wird schon bei den Haushaltsberatungen 1991 viel Feinarbeit von uns verlangen.
Es kann nicht Aufgabe der Haushaltspolitiker sein, nur draufzusatteln, sondern alle Aufgaben müssen überprüft werden. Die Ausgaben müssen auf den notwendigen Umfang reduziert werden, damit neue Aufgaben finanziert werden können. Wir werden bei der Beratung des Nachtragshaushaltes mit der Lösung dieser Aufgabe beginnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wieczorek .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will versuchen, zu dem Thema zurückzukommen, über das wir heute eigentlich reden wollen, nämlich zum Nachtragshaushalt und zu den damit verbundenen Problemen in der DDR.Ich bemerke voller Erstaunen, Herr Kollege Borchert, daß Sie in unsere Finanzrechnung eine neue Dimension bringen. Plötzlich haben Sie entdeckt, daß das Wachstum auf einen einzigen Punkt gelenkt werden kann, und plötzlich wollen Sie Zukunftsaufgaben nur aus dem Wachstum heraus finanzieren. Es ist das erste Mal, daß wir all das, was wir in diesem Land erarbeiten und was wir in der Zukunft für uns alle haben wollen, auf einen einzigen Zweck lenken, nämlich auf die Hilfe für die DDR. Ich bewundere das sehr. Wenn Sie es durchhalten könnten, wäre es eine wunderschöne Sache. Aber ich glaube, es hat gar nichts mit der Realität zu tun, sondern es hat damit zu tun, daß Sie den Menschen nach wie vor Sand in die Augen streuen wollen, um von Ihren eigentlichen Problemen abzulenken.
Die Art und Weise, wie der Nachtragshaushalt behandelt wird und wie die Bundesregierung ihn seit Wochen benutzt, um Hilfsmaßnahmen für die DDR zu verhindern, statt zu beschleunigen, ist schlicht und einfach ein Skandal.
Die Blockade dringend benötigter Hilfe ist Teil eines perfiden Kalküls im Bundeskanzleramt, das nur auf ein einziges Ziel ausgerichtet ist: Der Kanzler will den schnellen nationalen Durchmarsch zur Einheit auf
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Wieczorek
dem Wege des Anschlusses, um im Herbst dieses Jahres als Kanzler aller Deutschen in den Bundestagswahlkampf zu ziehen.
Die DDR-Bevölkerung soll schlicht und einfach unter Druck gesetzt werden, schwarz zu wählen, um sich hinterher schwarz zu ärgern.
Viele Menschen fürchten bereits, sonst von Bonn ganz im Stich gelassen zu werden. Das ist das Perfide dabei.Abgerundet wird diese schäbige Strategie durch gezielte Desinformationen aus dem Kanzleramt,
durch eine infame Schmutzkampagne gegenüber der SPD in der DDR und durch die schändliche Diskussion um die polnische Westgrenze. Wir haben ja heute morgen einiges dazu gehört.Der Kanzler ist auf Abwegen. Er setzt auf die politische Zuspitzung. Er blockiert die dringend erforderliche Wirtschaftshilfe, weil er auf den wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruch der DDR spekuliert. Ich appelliere an Sie, diesem bösen und unehrlichen Treiben ein Ende zu setzen. Wer die deutsche Einheit will, muß eine Deutschlandpolitik der Vernunft und der nationalen Verantwortung betreiben. Er muß an die Menschen in der DDR und an die Menschen bei uns denken, die sich zunehmend im Stich gelassen fühlen.
Deshalb führt einfach kein Weg daran vorbei, in der Frage der politischen Vereinigung einen Gang zurückzuschalten. Gerade nach der chaotischen Zuspitzung durch den Bundeskanzler brauchen wir ein klares Bekenntnis zu einem behutsamen Einigungsprozeß,
der die Menschen nicht überfordert und die Nachbarn nicht verunsichert.Zurückhaltung ist auch gegenüber einer überstürzten Einführung der D-Mark in der DDR geboten. Die D-Mark gilt vielen in der DDR als Schlüssel für den schnellen Weg zum Wohlstand. Sie ist aber keine Wunderdroge, die die realwirtschaftlichen Probleme einfach aus der Welt schafft. Ich mahne zur Zurückhaltung in dieser Frage auch deshalb, weil sich die Politik hier gefährlich weit von allem wissenschaftlichen Sachverstand entfernt hat.
Die Politik und ihre selbsternannten Fachleute werben mit einer scheinbar einfachen Lösung — aber eben doch nur mit einer Scheinlösung — um Wählerstimmen, die mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Risiken verbunden ist. Sie tun es deshalbleichtfertig, weil diese Rechnung erst nach dem Wahltag bezahlt werden muß.
— Sie wollen mich sicherlich fragen, ob das ein Widerspruch zu den Äußerungen meiner Kollegin Frau Matthäus-Maier ist. Das ist kein Widerspruch. Ich mahne schlicht und einfach an, daß wir den wirtschaftspolitischen Sachverstand einfließen lassen müssen, daß die wirtschaftspolitischen Veränderungen gleichrangig mit den Veränderungen im Bereich der Währung kommen müssen.
Herr Abgeordneter Wieczorek, Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Aber natürlich, gern.
Herr Kollege, ich bewundere Ihre hellseherischen Fähigkeiten. Aber hier haben Sie nicht recht. Ich wollte Sie nicht nach dem offensichtlichen Dissens zwischen der Frau Kollegin Matthäus-Maier heute morgen und Ihnen, sondern danach fragen, was Ihre konkreten Schlußfolgerungen sind. Wollen Sie zu dem Stufenplan zurückkommen, d. h. wollen Sie jahrelang warten, bis die Währungsunion eingeführt wird? Sonst hat die Anmahnung, die Sie vorbringen, keinerlei Wert.
Nein, ich mahne nicht den Stufenplan an. Vielmehr geht es mir schlicht und einfach darum, daß wir mit der Diskussion über die Einführung der D-Mark keinen übertriebenen Erwartungshorizont in der DDR auslösen. Die Währungseinheit muß ein Teil eines Gesamtprogrammes sein. Man kann damit nicht isoliert die Probleme lösen.
— Herr Kollege Weng, wenn mit der gebotenen intellektuellen Redlichkeit an der Lösung dieses Problems gearbeitet würde, wären wir, glaube ich, eine ganze Ecke weiter. Dann hätten wir auch die Einlassungen der Deutschen Bundesbank, die sich sehr schwergetan hat, ins rechte Licht gerückt und den Präsidenten der Bundesbank und die für unser Geld Verantwortung Tragenden nicht in eine derartig repressive Situation gebracht.Ich darf noch einmal daran erinnern, daß der niedrige Wohlstand in der DDR nicht nur an der falschen oder richtigen Mark im Portemonnaie liegt. Vielmehr liegen die Ursachen dafür in der niedrigen Arbeitsproduktivität, in der maroden wirtschaftlichen Infrastruktur und in den Systemfehlern eines zentralen Planungssystems. Wirtschaftsreformen und Aufbauhilfen sind vordringlich. Sie schaffen die Grundlage für eine Einheitswährung und nicht umgekehrt.Wir müssen unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, die realen Lebensbedingungen der Menschen in der DDR zu verbessern. Das ist die Stunde der Haushaltspolitik. Jede Mark, mit der wir denen helfen, die in der DDR bleiben, sparen wir bei den Kosten für Übersiedler. Jede Mark, mit der wir zum Aufbau einer solidarischen und gerechten Gesellschaft in der
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DDR beitragen, macht den Frieden in Europa sicherer und trägt uns reichlich Dividende ein.Der Bundeskanzler hat am 19. Dezember 1989 in Dresden öffentlich großzügige und solidarische Soforthilfe versprochen.
Davon ist bis heute wenig zu merken. Natürlich freuen wir uns alle mit der DDR und mit dem Kanzler, daß eine Eisdiele in Ost-Berlin mit Hilfe des Bundes neue Kühlmaschinen anschaffen kann.
Nur, so hatten wir uns die Modernisierung der DDR-Wirtschaft nach vier Monaten nicht vorgestellt. Da ist wirklich mehr zu tun. Die Leute erwarten von uns auch mehr. Nehmen Sie zur Kenntnis, Herr Bundeskanzler, daß sich die Menschen in der DDR von Ihnen getäuscht und im Stich gelassen fühlen.Von den insgesamt 7 Milliarden DM, die Sie in den Nachtragshaushalt einstellen, wird in der Tat nur 1 Milliarde DM in der DDR wirksam. Der Kollege Kleinert hat Ihnen vor der Mittagspause genau aufgedröselt, wo die Mittel im einzelnen wirksam werden.
— Ich scheue mich nicht, Herr Kollege Glos, auf die Feststellung eines Kollegen der GRÜNEN einzugehen, wenn sie richtig ist. Und wenn sie Blödsinn erzählen, bleibt es Blödsinn, Herr Kollege.
— Daß er Blödsinn redet, passiert selten, weil er kaum einmal hier ist.Wir sollten uns an die Fakten erinnern. Wir sollten uns daran erinnern, daß täglich immer noch 2 000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Überlegung der Menschen drüben ist denkbar einfach. Jeder, der für seine persönliche Zukunft in der DDR keine Chance mehr sieht, weil er arbeitslos wird, weil die Gesundheitsversorgung zusammenbricht, weil er katastrophalen Umweltbedingungen ausgesetzt ist, nimmt das zum Anlaß, seine Koffer zu packen. Er sagt sich: Wenn schon neu anfangen, dann im Westen.Lassen Sie uns weiterdenken. Der aus ökonomischen wie ökologischen Gründen unvermeidliche Strukturwandel wird der DDR zumindest vorübergehend einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosenquote bescheren. Schätzungen gehen von einer Million aus, also von einer Quote von etwa 15 %, bezogen auf unsere Verhältnisse. Viele werden sich die gleiche Frage stellen: Wo fange ich eigentlich neu an?Die Eindämmung des Übersiedlerstroms ist die Kardinalfrage, an der sich das wirtschaftliche Überleben der DDR in den nächsten Monaten entscheidet. Deshalb haben wir schon bei der Schlußberatung desHaushalts 1990 im letzten November auf ein wirtschaftliches Soforthilfeprogramm gedrängt und schon damals diesen Nachtragshaushalt gefordert. Die Entwicklung seitdem beweist, daß wir recht hatten. Hätte die Bundesregierung nicht gemauert, wären wir heute weiter.
Ich gehe auch davon aus, daß Sie nach dem 18. März noch weitere Überlegungen anstellen werden, um die Haushaltspolitik den neuen Gegebenheiten in der DDR anzupassen.
Ich sage ausdrücklich: Lassen Sie uns dann sofort bei der Beratung dieses Nachtragshaushalts auf die Wünsche der DDR-Bürger eingehen. Sie haben keine Zeit mehr, monatelang zuzuwarten, bis in einer langen Prozedur ein zusätzlicher Nachtragshaushalt eingebracht ist. Überlegen Sie es sich genau. Lassen Sie uns dann in diesem Nachtragshaushalt die Veränderungen vornehmen. Die Hilfe, die wir leisten müssen, ist um so wertvoller, je schneller wir sie leisten und je konzentrierter wir das Ganze machen.
— Einem guten Haushalt, Herr Kollege Rossmanith, stimmen wir immer zu. Nur, von Ihnen habe ich noch nie einen guten gesehen. Das ist eben mein Problem.
Das Schlimmste, was die Bundesregierung in dieser schwierigen Situation eigentlich tun konnte, war das unverantwortliche Gerede im Bundeskanzleramt über den bevorstehenden finanziellen Zusammenbruch der DDR. Das war keine Panne, sondern vorsätzliche Panikmache. Private Hilfe soll verzögert werden, damit der innenpolitische Druck in der DDR steigt. Die DDR mag Liquiditätsprobleme haben, aber die DDR ist nicht pleite in dem Sinne, wie Sie es in der Öffentlichkeit bekanntmachen wollen. Vergleichen Sie die Schulden der DDR doch einmal mit der Verschuldung einzelner Bundesländer, vom Bund ganz abgesehen.
— Das Saarland muß leider mit einer erheblichen Erblast fertig werden, Herr Kollege, die Sie Herrn Lafontaine hinterlassen haben.Es kommt uns jetzt sehr darauf an, pragmatische Lösungen zur Beseitigung von Investitionsstaus in der DDR zu finden. Die DDR braucht dringend Baumärkte, damit die Menschen ihre Häuser in Ordnung bringen können und die Bausubstanz nicht weiter verfällt. Warum hat die Bundesregierung nicht schon längst die politischen Risiken derartiger Investitionen durch ein Bürgschaftsprogramm abgesichert? Geben Sie darauf doch eine ehrliche Antwort.Die Umweltsituation ist katastrophal. Ein Teil der Übersiedler muß als Umweltflüchtlinge betrachtet werden. Warum fördert die Bundesregierung bisher
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nur kleine Modellvorhaben im Umweltschutz, während wir längst über die Technologie verfügen, die gebraucht wird? Geben Sie auch dazu eine ehrliche Antwort.Die Energieversorgung ist desolat. Die Atomreaktoren der DDR stellen eine akute Bedrohung für ganz Mitteleuropa dar. Warum schaffen wir nicht schnellstens Ersatzkapazitäten auf der Grundlage der Erkenntnisse in der Bundesrepublik?
Die Infrastruktur im Verkehrsbereich und in der Kommunikation ist veraltet und überlastet. Wenn Transporte zwischen zwei Orten Tage dauern, wenn Telefonnetze nicht funktionieren, kann sich auch die Wirtschaft nicht entfalten. Hier muß mehr geschehen, damit sich Investitionen lohnen und die Produktivität steigt.Geben Sie endlich zu, meine Damen und Herren: Es gibt keinen Grund, staatliche Programme weiter zurückzuhalten. Je früher wir helfen, desto eher wird es uns gelingen, den Übersiedlerstrom zu kanalisieren. Jeder weitere Übersiedler, der die DDR verläßt, verschlechtert nicht nur die Zukunftschancen derer, die zurückbleiben. Auch bei uns sind die zusätzlichen Belastungen vor allem der Arbeitslosen und Wohnungssuchenden kaum noch zu tragen.Der Wohnungsmarkt war bereits vor der Ankunft der ersten Übersiedler als Folge jahrelanger Kahlschlagpolitik im sozialen Wohnungsbau völlig überlastet. Jetzt explodieren die Mieten. Vielerorts herrschen chaotische Zustände bis hin zum blanken Notstand. Die Verbitterung, der Ärger und der Widerstand vieler Betroffener sind verständlich und berechtigt. Wohnungsberechtigungsscheine sind nichts mehr wert, weil die dazugehörige Wohnung nicht zu bekommen ist. Turnhallen stehen auf Monate nicht mehr für den Vereins- und Freizeitsport zur Verfügung, weil sie als Notunterkünfte beschlagnahmt wurden.Dieser Nachtragshaushalt ist nicht nur sozial ungerecht und inhaltlich völlig unzureichend, sondern er ist auch unsolide finanziert.
Die Neuverschuldung des Bundes soll gegenüber 1989 von 19,2 Milliarden DM auf 33,5 Milliarden DM steigen. Das ist ein Zuwachs von 14,3 Milliarden DM; das sind rund 75 %.
Der kleinste Teil davon ist durch die Hilfsmaßnahmen für die DDR bedingt. Die Verschuldung steigt, weil die Bundesregierung an den übersteigerten Rüstungsprojekten von gestern festhält und so Milliarden-Einsparungen blockiert.
Jahrelang hat die Bundesregierung die Kürzungen im Sozialbereich und den Kahlschlag im sozialenWohnungsbau mit der Notwendigkeit begründet, Schulden abbauen zu müssen.
In der gleichen Zeit ist der Umfang des Rüstungshaushalts Jahr für Jahr gestiegen. Jetzt, da die Zeichen endgültig auf Abrüstung stehen, da sich der Warschauer Pakt auflöst, da Moskau seine Truppen aus der CSSR und aus Ungarn zurückzieht, machen Sie lieber neue Schulden, statt auch nur eine einzige Mark im Rüstungshaushalt zu streichen. Sie machen Schulden in dieser Höhe, weil Sie sich immer noch weigern — jetzt kommt natürlich wieder Ihr Lieblingsprojekt —, aus dem 100-Milliarden-DM-Projekt Jäger 90 auszusteigen.Namentlich erwähnen muß ich die FDP-Fraktion,
die erst gestern im Haushaltsausschuß ein Manöver angeleiert hat, um ihren eigenen Parteitagsbeschluß gegen den Jäger 90 zu kippen.Sie wollen in diesem Jahr schlicht und einfach für 2,6 Milliarden DM Munition kaufen, um die Kriegsvorräte aufzustocken. Von 1991 bis 1993 sind im Finanzplan weitere 8,7 Milliarden DM vorgesehen. Auch das sind Rekordbeträge, die mit der tatsächlichen Bedrohungslage nichts zu tun haben. Auch für diese Übertreibung machen Sie Schulden. Daß diese Schuldenmacherei sofort auf den Kapitalmarkt durchschlägt, daß wir sofort ein höheres Zinsniveau haben, weil der Staat mit seiner Nachfrage an den Kapitalmarkt herangeht, und daß der Häuslebauer draußen Ihre verfehlte Politik mit erhöhten Zinsen bezahlen muß, wollen Sie natürlich nicht wahrhaben.
Ein solches Verfahren, ein solch anachronistisches Denken ist nur aus der Sicht eines Verteidigungsministers zu begreifen, der nicht vor dem Gedanken zurückschreckt, die Bundeswehr müsse bis zur polnischen Westgrenze vorrücken.
Ich glaube, es wäre dann aber die gesamtdeutsche Ostgrenze.Wir tun mehr für die Sicherheit und den Frieden in Europa, wenn wir mit der Abrüstung gerade in Deutschland ernst machen und die eingesparten Mittel nutzen, um zur wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung der DDR beizutragen. Wir stehen an einer historischen Schwelle, angesichts der das Wort von der Sicherheitspartnerschaft eine ganz neue, aktuelle Bedeutung in Europa erhält. Wir dürfen diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen.Sie können sich der Diskussion um die Kürzung der Rüstungsausgaben nicht dadurch entziehen, daß Sie seit einigen Wochen mit der fadenscheinigen Behauptung durchs Land ziehen, die deutsche Einheit sei zum Nulltarif zu haben: keine Steuererhöhungen, keine Schulden, sondern zusätzliche Steuersenkungen für
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Unternehmer und Spitzenverdiener. Ihr Goldesel, ohne den es wie im Märchen nicht geht, heißt Zuwachs des Sozialproduktes.
Wenn es diesen Goldesel gibt, warum hat Herr Blüm dann seine unsoziale Gesundheitsreform gemacht? Die gab es doch schon, bevor wir uns mit den Problemen der DDR auseinandersetzen mußten. Das Wachstum war doch schon damals zu erkennen. Warum haben Sie es nicht für das eingesetzt, was den Menschen insgesamt in unserem Lande dient?Die Wahrheit ist: Sie treiben ein unseriöses Spiel. Sie stellen Behauptungen auf, ohne schon heute zu sagen, was an Kosten noch auf uns zukommt. Nur ein Beispiel: Der Bundeshaushalt 1990 beruht auf der Annahme, daß 100 000 Übersiedler im ganzen Jahr 1990 kommen. Diese Annahme ist schon heute überholt; denn allein im Januar und Februar kamen 117 000. Im Nachtragshaushalt wird keine Vorsorge getroffen, um die Zahlen auf ein normales und vertretbares Maß zu bringen.
Der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit geht für das Jahr 1990 sogar von nur 80 000 Übersiedlern im ganzen Jahr aus. Der Bundesanstalt geht schon heute das Geld für diesen Titel aus, und wir werden noch kräftig nachbessern müssen.Zu Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit der Politik gehört es auch einzugestehen, daß Sie und wir alle heute noch keinen vollständigen Überblick über die Situation haben.
Wir befinden uns mitten in einem historischen Umbruch. Das letzte, was irgend jemand in diesem Hause heute abgeben kann, ist das Versprechen solide finanzierter zusätzlicher Steuersenkungen in Höhe von 25 Milliarden DM und mehr.
Diese Versprechen sind einfach nicht zu halten. Was wir aber tun können — dazu sind wir unseren Bürgern und Wählern verpflichtet — , ist, alle Einsparungsmöglichkeiten zu nutzen, um die künftigen Belastungen der Bevölkerung auf das unvermeidliche Mindestmaß zu begrenzen. Das ist die einzige ehrliche Politik.Unseren Vorschlag zu den Rüstungsausgaben habe ich Ihnen bereits erläutert. Daneben müssen die Kosten der Teilung, die im jetzigen Haushalt in einer Größenordnung von 30 Milliarden DM zu Buche stehen, schrittweise für Hilfen für die deutsche Einheit umgewidmet werden. Zusätzlichen Spielraum kann uns die gut laufende Konjunktur verschaffen. Wie groß er ist, wird sich aber erst bei der nächsten Steuerschätzung im Mai dieses Jahres zeigen.Meine Damen und Herren, die Menschen in der DDR haben Jahrzehnte mit falschen Versprechungen gelebt. Gerade sie haben einen besonderen Anspruch auf Ehrlichkeit. Dazu sind wir alle moralisch verpflichtet.Unseren Bürgern müssen wir sagen: Die Einheit gibt es nicht zum Nulltarif. Wir dürfen die nicht vergessen, die in der Bundesrepublik besonderen Härten ausgesetzt sind: die Arbeitslosen und die Wohnungssuchenden. Wir brauchen eine Aufstockung der Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen und ein drastisch verstärktes Wohnungsbauprogramm, wenn wir den sozialen Frieden bei uns sichern wollen und wenn soziale Gerechtigkeit nicht zur Leerformel verkommen soll.Wir werden die deutsche Einheit nur mit Anstand erreichen, wenn wir nach innen wie nach außen klare und ehrliche Positionen vertreten. Wir können nicht ohne das Vertrauen unserer Bürger, der Menschen in der DDR und der Weltöffentlichkeit einen derart wichtigen, historischen Schritt tun. Wir sind zu äußersten Behutsamkeit aufgerufen und sollten vor allem die konkreten Bedürfnisse und Sorgen der Menschen in der DDR und bei uns zum Maßstab unseres Tuns machen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rose.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Wieczorek hielt eben eine seltsame Rede.
Er ging nicht auf den Nachtragshaushalt ein, sondern hat, wie wir es von ihm gewohnt sind, eine normale Haushaltsrede mit den bekannten Rundumschlägen gehalten.
Herr Kollege Wieczorek, nach Ihrem Wortspiel mit den Farben vorher sage ich Ihnen: Rot wählen und sich dunkelrot schämen. Das ist das Ergebnis Ihrer Rede.
Wir haben es mit dem Nachtragshaushalt zu tun. Revolutionäre Situationen verlangen ungewohnte Antworten. Nach meiner ersten Sichtung des Regierungsentwurfs möchte ich feststellen:
Der Bundesfinanzminister reagiert in dieser historischen Stunde richtig.
Bei aller finanzpolitischen Nüchternheit und gebotenen Solidität gibt Theo Waigel klar den übergeordneten deutschlandpolitischen Zielsetzungen den Vorzug vor fiskalistischem Kleingeist.
Mehr als nur oberster Kassenwart des Bundes zu sein, gestaltet unser Finanzminister politisch. Aber das solide Fundament bleibt. So bin ich auch dankbar, daß den vielfältig sprießenden Begehrlichkeiten — und aus Ihrer Rede, Herr Kollege Wieczorek, wurde das wieder sehr deutlich — Einhalt geboten, wurde. Nicht Wahlgeschenke hat der Nachtragshaushalt zum
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Dr. RoseInhalt, sondern strategische Aufgaben für Deutschlands Zukunft.Der vorgelegte Nachtragshaushalt zum Bundeshaushalt 1990 ist konjunkturgerecht und finanzpolitisch vertretbar.
Was die Kreditaufnahme anbelangt, bewegt er sich selbstverständlich im Rahmen der Verfassung, was man bei seinen von der SPD gestalteten Vorläufern nicht immer sagen konnte.
— Im Laufe dieser Debatte ist schon mehrmals vom Landeshaushalt des Saarlandes die Rede gewesen. Wenn jemand vom Rechnungshof die Verfassungswidrigkeit seines Haushalts bescheinigt bekommt, sollte er nicht so große Töne spucken.
Man sieht hier natürlich Lafontaines Sozialneidkampagne ganz anders: Den deutschen Übersiedlern möchte er die Hilfen verweigern, selbst aber den deutschen Steuerzahler für das Saarland anzapfen. Das ist Doppelmoral.Kollege Wieczorek, Sie meinten, das hänge mit der Erblast zusammen.
Haben Sie da den Koch gemeint, der zu teuer geworden ist?
Der Haushalt des Saarlandes zeigt doch deutlich: Links reden und rechts leben. Das zeigte leider auch Ihre Rede wieder, Herr Kollege Wieczorek.
Wir haben gestern im Haushaltsausschuß den endgültigen Abschluß des Haushalts 1989 beraten. Ich möchte gerade die Opposition noch einmal auf diese Debatte aufmerksam machen; denn dieser Haushalt fiel auf allen Positionen so gut aus, daß die Opposition auf eine Debatte verzichtete. Ihr war schlicht die Spucke weggeblieben. Die Zahlen 1989 waren bestens. Die seit 1974 niedrigste Nettokreditaufnahme sagt eigentlich alles. Da hatten doch noch Apel und Vogel Anfang 1988 für 1989 eine Neuverschuldung von 50 oder gar 60 Milliarden DM an die Wand gemalt.
In Wirklichkeit ist das Ergebnis 19 Milliarden DM gewesen.Herr Kollege Weng hat natürlich völlig recht: Der Apel ist schon weg. Der Vogel ist im Fliegen und hoffentlich auch bald weg.
Unsere solide Finanzpolitik, und die überaus reich sprudelnden Steuereinnahmen erlauben uns jetzt, das Haushaltsvolumen vorübergehend auszuweiten. Wir können uns die notwendige höhere Kreditaufnahme leisten. Aber dabei wird eines klar: Mit der desolaten Wirtschafts- und Finanzlage, die uns die SPD-Regierung 1982 hinterlassen hatte, wären wir für die geschichtliche Aufgabe nicht gewappnet. Mit Ihnen sähe es schlecht aus für Deutschland.Die SPD weiß das. Deshalb versucht sie auch ihre lächerlichen Manipulationen.
Sie hat seit Wochen behauptet, im Nachtragshaushalt stehe nur 1 Milliarde DM für die DDR. Heute hat die Frau Kollegin Matthäus-Maier wieder dasselbe erwähnt,
obwohl der Herr Bundesfinanzminister vorher die Zahlen vorgerechnet hatte. Sie brauchen doch bloß zuzuhören und nachzurechnen. Dann kommen Sie darauf, daß von den fast 7 Milliarden DM der weitaus größte Teil für die DDR geplant ist. Wenn Sie sich schon in der sympathischen blauen Farbe anziehen, dann sollten Sie zumindest auch bei den schwarzen Zahlen richtig nachrechnen. Dann kämen Sie zu anderen Ergebnissen und brächten die Öffentlichkeitsarbeit nicht als Beispiel für eine schlechte Nachtragshaushaltsgestaltung.
Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, Ihr Vorwurf, daß zuviel Geld für die Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben wurde, ist geradezu lächerlich.
Im Gegenteil, die Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit sind genau das, was man sich unter einer Arbeit im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft vorstellt.
Was ist es denn? Hier wird das Kapital verzinst, denn die Kanzlerreden bringen Vertrauen, und man muß diese Kanzlerreden unter das Volk bringen, damit Vertrauen gestärkt wird.Von den Mehrausgaben entfallen also rund 6 Milliarden DM auf die Sofortmaßnahmen für die DDR und Berlin.
Das können Sie auch nicht wegreden, Frau Kollegin Matthäus-Maier. Herr Vogel meinte heute, daß der eine mehr ein Elefant im Porzellanladen und der andere mehr ein Ballettarbeiter sei. Sie sind zwar eine Wort-Balletteuse, aber man kann sich durch zu viele Pirouetten auch außerhalb der Fachbühne hinauspirouettieren.
— Was Sie heute gebracht haben, war auch nicht das Wahre vom Ei.Ich möchte diese Ausgaben für die DDR noch einmal nennen, damit sie auch bei Ihnen bis in die letzten
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Dr. RoseReihen Ihrer Fraktion bekannt werden: 2,15 Milliarden DM für den Reisedevisenfonds,
400 Millionen DM zur Aufstockung des ERP-Sondervermögens, 600 Millionen DM des gesamten Programmvolumens für Umweltschutzinvestitionen in der DDR,
320 Millionen DM zusätzliche Mittel für die medizinische Versorgung und dann der Globaltitel, aus dem wir im Haushaltsausschuß noch alles machen können, wenn wir das nur entsprechend beraten.
Es ist ganz eindeutig: Sie brauchen nur mit uns mitzumachen, dann werden Sie auch auf die richtigen Zahlen kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe sehr geduldig diese zu häufigen Zwischenrufe durchgehen lassen. Ich bitte um etwas Zurückhaltung.
Herr Präsident, Sie sind sehr fürsorglich, aber Sie wissen sicher nicht, daß wir eben in der Mittagspause miteinander oder gegeneinander Fußball gespielt haben und da auch nicht zimperlich waren. Darum tut das gar nicht weh.
Herr Abgeordneter Rose, wir haben die Möglichkeit zu Zwischenfragen, und deshalb bitte ich, daß der Redner möglichst ungestört reden kann. Dafür haben Sie das Mikrofon hier.
Herr Präsident! Mit Ihrer Erlaubnis fahre ich jetzt fort.
Im Haushaltsausschuß werden wir also alle Positionen nochmal genau durchforsten. Nur eines steht jetzt schon fest: Alle Mittel können nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wir erwarten eine Initialzündung in der DDR. Wir wollen eine Flankierung für den unumgänglichen Prozeß der Wirtschaftserneuerung im anderen Teil unseres Vaterlandes. Wir unterstützen viele private Direktinvestitionen, persönliche Initiativen, unternehmerischen Mut und begabte Phantasie. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen, wie sie seit 1983 auch bei uns in der Bundesrepublik wieder stimmen.
Gerade auch aus dieser Sicht war es nur folgerichtig, daß der Herr Bundesfinanzminister die flugs von Herrn Modrow geforderten 15 Milliarden DM verweigerte. Herr Finanzminister, da gibt es gar nichts anderes: Die können zehnmal kommen; wenn sie nichts Besonderes anzubieten haben, können sie auch von uns nichts bekommen. Die SPD-Anklage, weil diese 15 Milliarden DM nicht in den Rachen eines maroden Systems geschüttet wurden, geht wirklich ins Leere.
Die Anklage, daß Deutschland geizig Vaterland wäre, ist eben einfach falsch. — Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie reden zwar sehr viel, aber nicht Sie alleine sind die SPD. Es gibt eine Reihe anderer Redner, und die haben mehrmals dargestellt, daß wir angeblich zu geizig wären.
Unsere Finanzpolitik behält das Ziel der deutschen Einheit und der ostpolitischen Versöhnung im Auge, sie verliert aber nicht den Blick für die Notwendigkeit einer weiterhin soliden Haushaltspolitik, denn diese muß die Grundlage für eine blühende Entwicklung in allen Teilen Deutschlands bleiben. Unsere Steuerzahler haben Anspruch auf eine zielgerichtete Verwendung der Finanzmittel.
So wird mit dem Entwurf des Nachtragshaushalts auch an andere Länder in Osteuropa gedacht. Für die Sowjetunion — man sollte das auch der Öffentlichkeit noch deutlicher bekanntgeben — ist bekanntlich eine Nahrungsmittelhilfe von 220 Millionen DM vorgesehen. In dem entsprechenden deutsch-sowjetischen Abkommen wird der Sowjetunion der Einkauf von 20 000 t Butter, 52 000 t Rindfleisch, 50 000 t Schweinefleisch, 15 000 t Vollmilchpulver und 5 000 t Käse zugestanden. Damit wird auch unser Agrarmarkt entlastet. Aber es ist in erster Linie zur Unterstützung der Sowjetunion gedacht, weil man dort auf Grund der desolaten Wirtschaftslage nicht selbst für die Bevölkerung sorgen kann. Ich kann nur hoffen, daß diese zur Verfügung gestellten Mittel auch entsprechend an den kleinen Mann in der Sowjetunion kommen, daß also die Verteilung und die Versorgungsmöglichkeit dort gesichert sind.
Außerdem bekommt Rumänien im Rahmen der humanitären Soforthilfe 60 Millionen DM. Wie bekannt, ist der größte Betrag für die Stromversorgung eingeplant. Aber auch die Gebührenermäßigung für Postpakete war wichtig; ebenso die Lebensmittelsoforthilfe mit Rindfleischkonserven, Magermilch und Butter. Die schnelle Reaktion der Bundesregierung bei den Bahnexpreßgütern kam ebenfalls gut an.
Wir haben auch für Polen 10 Millionen DM an humanitären Hilfsmaßnahmen eingeplant. Hier geht es hauptsächlich um die kurzfristige Lieferung gebrauchter Landmaschinen; also kann auch unserer
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Dr. Rose
Landwirtschaft mit dieser Umschichtung geholfen werden.
Es geht in Polen aber auch um die Förderung der deutschen Minderheit in Schlesien. So ist auch die auswärtige Kulturpolitik insgesamt am Nachtragshaushalt beteiligt, und zwar mit 10,5 Millionen DM. Ich begrüße das ausdrücklich, weil man mit Unterstützung deutscher Kultur, deutscher Sprache in den ostmitteleuropäischen Ländern für den Frieden der Zukunft einiges tun kann.
Da es sich um die erste Lesung handelt, meine Damen und Herren, erlaube ich mir auch eine Anregung als Abgeordneter einer bestimmten Region. Wir sind alle sehr dafür, daß die Verkehrswege in die heutige DDR ausgebaut werden und daß neue Grenzübergänge dem fließenden Verkehr dienen. Am bisherigen Eisernen Vorhang liegen aber nicht nur die Bezirke zur DDR, sondern auch die zur Tschechoslowakei.
Meine Heimatregion erwartet, nicht hintangesetzt zu werden. Gorbatschows Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" ist der Bevölkerung überall in die Glieder gefahren. Wir wollen nicht zu spät kommen. Deshalb werden wir in den Ausschußberatungen, Kollege Kalb, auch noch darüber reden, ob für das Bestehen der Zukunft wirklich die besten Voraussetzungen geschaffen sind, und zwar für alle Regionen der Bundesrepublik.
Zum Beispiel für den Eisenbahnübergang in Bayerisch Eisenstein müßte auch noch Geld übrig sein.
Meine Damen und Herren, die SPD hat zum Nachtragshaushalt keine vernünftigen Alternativen angeboten.
Die Aussetzung der dritten Stufe der Steuerreform, wie es vorgeschlagen wurde, ist ebensowenig eine Alternative wie die Aufzehrung des Verteidigungsetats. Auch die Verteilung oder Umverteilung der Mittel überzeugt nicht.
Aber vielleicht darf ich es einmal so sagen: Wir alle freuen uns doch sicher auf die Beratungen im Haushaltsausschuß. Wir haben ja fast schon Entzugserscheinungen. Die zweite Hälfte eines Jahres sind wir immer voll ausgelastet mit nächtelangen Sitzungen, nur in der ersten Hälfte ist es etwas ruhiger. Gott sei Dank haben wir jetzt die Chance, einen Nachtragshaushalt zu beraten, und damit auch die Chance zu sinnvoller Beschäftigung. Wir können deshalb die Möglichkeiten künftiger Umschichtungen und Einsparungen auch entsprechend beraten und einhalten. Haushaltspolitik macht wieder richtig Spaß!
Jetzt möchte ich noch etwas sagen, Kollege Wieczorek, weil Sie noch die Verteidigung erwähnt hatten:
Wir verschließen uns den Konsequenzen aus der Ost-West-Entspannung nicht.
Nur, das modische Nachplappern, wie es jetzt allerorten stattfindet, daß man etwa 100 Milliarden DM beim Jäger '90 — wie die Leute meinen: in einem Jahr — einsparen kann, ist absoluter Blödsinn. Die 100 Milliarden DM sind auf einen Zeitraum von 40 oder gar 50 Jahren hochgerechnet. Die plötzlich schon zu verteilen,
wie Sie das zur Zeit immer machen, ist geradezu sträflich.
Nicht das modische Nachplappern, nicht die Verunsicherung unserer Soldaten und unserer Bürger überhaupt kommt in Frage, sondern gefragt ist — auch in Zukunft — Sicherheit.
Wenn Sie, Kollege Wieczorek, gesagt haben, wir würden im Verteidigungshaushalt Kriegsvorräte anlegen,
so ist das eine infame Unterstellung.
Sie wissen genau, daß weder wir noch Sie — das halte ich Ihnen durchaus zugute — eine Vorbereitung für den Krieg treffen. Und wenn man schon bei einer Firma wie Thyssen ist, die von entsprechender Rüstung auch nicht ganz unbeleckt ist, dann sollte man solche Worte nicht in den Mund nehmen.
Meine Damen und Herren, wir beraten diesen Nachtragshaushalt in gewohnter, zügiger Weise und freuen uns jetzt schon auf die zweite und dritte Lesung in diesem Hause.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weng.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon bevor am 9. November des vergangenen Jahres Mauer und Stacheldraht fielen, war klar, daß das Jahr 1990 ein politisch sehr lebhaftes Jahr werden würde. Die zahlreichen Wahlen zu Landtagen, zu Kommunalparlamenten und zuletzt die Bundestagswahl, die vermutlich im Dezember dieses Jahres stattfinden wird, ließen eine bewegte Situation erwarten. Wieviel mehr ist nun die politische Diskussion gefragt, wo zusätzlich die Menschen in der DDR am 18. März erstmals in freier Wahl über ihre eigene Zukunft entscheiden dürfen!Unsere heutige Debatte über den Nachtragshaushalt sollte auch einen Beitrag leisten, den Bürgern der DDR klarzumachen, welche politischen Alternativen sich ihnen stellen. Ich meine, diese Menschen sollten
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Dr. Weng
allen Grund haben, sich gegen alten Sozialismus und gegen neue sozialistische Experimente zu entscheiden.
Ein geordnetes Haushaltsverfahren ist die Grundlage konstruktiver Zukunftspolitik. Ein frei gewähltes Parlament wie wir muß auf ein solches Verfahren stolz sein. Gerade die Offenheit und die Ehrlichkeit der Haushaltsdiskussion unterscheiden Demokratien wohltuend von dem, was in totalitären Staaten gemacht wird. Dort werden die Bürger nämlich nicht über die tatsächlichen Verhältnisse aufgeklärt. Das haben wir gerade in der DDR besonders eklatant erlebt. Im Moment findet ja der Versuch statt, dort wenigstens die finanziellen und die wirtschaftlichen Grundlagen festzustellen, um auf der Basis dieser Feststellungen konsequent handeln zu können. Wir stellen fest: Praktisch alle Fakten fehlen noch, obwohl schon so lange nach diesen Fakten geforscht wird. In der offenen Diskussion, wie sie bei uns stattfindet, kommen alle Zahlen, kommen alle Fakten natürlich in der Konkurrenz zwischen Opposition und Mehrheit auf den Tisch. Hier wird über alles gesprochen, und für den Bürger ist alles nachher gedruckt nachvollziehbar.Wir können haushaltsmäßig nach Recht und Gesetz nur den Entwicklungen Rechnung tragen, die entweder tatsächlich stattgefunden haben oder die sicher absehbar sind.Der vom Bundesfinanzminister, von der Bundesregierung, nach dem Kabinettsbeschluß vorgelegte Nachtragshaushalt weist eine Reihe von Erfordernissen auf, über die bei den Beratungen zum Bundeshaushalt 1990 noch keine ausreichenden Erkenntnisse vorlagen. Sie werden sich erinnern, daß damals die SPD ohne solche Erkenntnisse bereits irgendwelche Globalzahlen in den Haushalt einbringen wollte. Wir haben das abgelehnt und darauf hingewiesen, daß wir im Laufe des Verfahrens handlungsfähig bleiben würden. Der Nachtragshaushalt hier macht es deutlich. Ich sage das auch mit Blick auf Bemerkungen heute vormittag. Wir werden handlungsfähig bleiben, auch wenn dieser Nachtragshaushalt verabschiedet ist. Wir werden allen Notwendigkeiten haushaltsmäßig Rechnung tragen.Wir tragen in diesem Fall nicht nur Entwicklungen Rechnung, die bereits stattgefunden haben. Wir betreten an einer Stelle auch, glaube ich, totales parlamentarisches Neuland, nämlich mit dem qualifiziert gesperrten Globaltitel über 2 Milliarden DM, der hier geplant ist. Das ganze Geld wird gesperrt bleiben. Die Regierung wird dieses Geld — ausdrücklich unter parlamentarischer Kontrolle — für jetzt noch nicht feststehende, aber im Umfang absehbare Entwicklungen dieses Jahres in der DDR einsetzen können.Eine weitere große Position im Nachtragshaushalt: So sehr sich nach dem Bruch der Mauer unsere Mitmenschen östlich zunächst über das sogenannte Begrüßungsgeld freuten, so sehr war klar, daß diese Einrichtung bei offener Grenze ein würdeloser Zustand wäre. Die Menschen, die drüben mit ihrer Arbeit ehrlich Geld verdienen, sollten und sollen nicht auf Almosen angewiesen sein. Dieser Tatsache hat der schnell gegründete Reisedevisenfonds Rechnung getragen, bei dem 100 Ost-Mark zum Kurs von 1: 1 und weitere 100 Ost-Mark zum Kurs von 1 :5 eigenes Geld der Bürger aus der DDR in West-Mark umgetauscht werden können. An diesem Devisenfonds beteiligt sich die DDR. Er ist zeitlich befristet, weil wir davon ausgehen können, daß die künftige gemeinsame Entwicklung einen solchen Fonds entbehrlich machen wird. Daß die eingegangenen Ost-Mark-Beträge der Infrastruktur der DDR und damit einer wichtigen Voraussetzung für den dortigen Wirtschaftsaufschwung dienen sollen, muß Erwähnung finden.Das sind alles Maßnahmen, die deutlich machen, daß die Behauptung der SPD, es geschehe nichts für die DDR in diesem Nachtragshaushalt, nicht stimmt. Wer sich die Presseerklärungen der sozialdemokratischen Haushaltspolitiker nach Vorlage des Nachtragshaushalts noch einmal vor Augen hält, wer sich auch vor Augen hält, was hier gesagt worden ist, nämlich dies alles diene den Menschen nicht, stellt fest: Dies ist unwahr. Im wesentlichen dient dieser Nachtragshaushalt den Menschen in der DDR.
Leider hat sich die demokratisch nicht legitimierte Volkskammer der DDR gerade in den letzten Tagen bezüglich eines möglichen Wirtschaftsaufschwungs ausdrücklich kontraproduktiv betätigt. Die am vergangenen Dienstag und Mittwoch beschlossenen Gesetze bezüglich Streikrecht und Gewerkschaftsrechte werden, wenn sie nicht umgehend von der demokratisch gewählten Volkskammer im März wieder beseitigt werden, die Bereitschaft zu Investitionen in der DDR spürbar hemmen. An solchen Investitionen hängt die Zukunft der Menschen in der DDR.Der Versuch von Herrn Modrow, der heute hier mehrfach — zu Recht — sehr hart kritisiert wurde, in Moskau abgewirtschaftete Strukturen zu zementieren, ist nach meinem Dafürhalten völlig unverständlicherweise noch dazu vom Runden Tisch flankiert worden. Dies ist eine Hypothek für die Zukunft, die wieder beseitigt werden muß.Meine Damen und Herren, wir in der Bundesrepublik haben gegen den Widerstand der demokratischen Sozialisten öffentliche Betriebe privatisiert. Wir haben hier u. a. auch dadurch eine herausragende Wirtschaftssituation erreicht. Im Gegensatz dazu versuchen in der DDR die sogenannten realen Sozialisten, in letzter Minute die gescheiterte Struktur der funktionärsgesteuerten Großkombinate am Leben zu erhalten.
Ich appelliere an die Mitbürger in der DDR: Wählen Sie am 18. März alle sozialistischen Experimente ab!
Frau Matthäus-Maier, Sie haben heute morgen, als Graf Lambsdorff äußerte, die Bürger dort sollten richtig wählen, gefragt, was denn richtig wäre. Ich glaube, das kann man sehr eindeutig darstellen. Richtig ist es sicher nicht, wenn man die abgewirtschafteten Kom-
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Dr. Weng
munisten wählt, ganz egal, wie sie sich jetzt nennen.
Richtig ist es, wenn dort in größtmöglichem Umfang demokratisch gewählt wird. Klar ist aber auch, daß es innerhalb des Richtigen Gutes und Besseres gibt. Besser ist, wenn liberal und marktwirtschaftlich gewählt wird.
Ich will, meine Damen und Herren, auf die vielen Details des Nachtragshaushalts, die wir im Ausschuß beraten werden, nicht eingehen. Ich will aber noch einen Aspekt der Finanzierung darstellen. Die Haushaltsgruppe der Koalition sollte — wie ich weiß, wird sie es auch tun — einen Beitrag zur Finanzierung aus dem Verteidigungsetat ansteuern. In der geänderten sicherheitspolitischen Lage müssen — aber in seriöser Weise und deshalb in erträglichem Umfang — im Beschaffungsbereich Streckungen und Verzichte derart möglich sein, daß bei der Neuverschuldung eine durchaus spürbare Entlastung erreicht wird.
Dies ist auch ein friedenspolitisches Signal an unsere Nachbarn, daß wir aus der jetzigen Entspannungssituation Konsequenzen ziehen.Ich meine, bei der Finanzierung muß auch eine Aufforderung an die Bundesregierung untergebracht werden: Daß in der jetzt gebotenen Eile des Nachtragshaushalts keine volle Finanzierung der Maßnahmen durch Umschichtung erreichbar war, ist zu akzeptieren.
Wir haben, Frau Kollegin Matthäus-Maier, eine ganze Reihe von Umschichtungen.
Es ist nicht alles neue Verschuldung, was hier bei der Finanzierung eingesetzt wird. Sie wissen das auch. Jeder Umfang von Schulden ist nicht wünschenswert. Über die Frage, wieviel an Senkung seriös möglich ist, wenn auf Grund des Haushaltsgesetzes 1990 schon Konsequenzen angelaufen sind, werden wir uns im Ausschuß und vielleicht in zweiter und dritter Lesung nach der Beratung im Ausschuß hier neu unterhalten können.Die Politik solider Finanzen und sparsamen Haushaltens darf jedenfalls nicht aufgegeben werden. Für künftige Haushalte muß alles versucht werden, die Schuldensituation wieder im Rahmen der Finanzplanung zu halten.
Ich verbinde diese Aufforderung — eine Aufforderung an uns selbst — mit dem Appell an alle verbalen Währungsspekulanten in ganz Deutschland:
Lassen Sie, meine Damen und Herren, erst einmal die Fachleute eine Bestandsaufnahme machen, ehe mit allzu vielen Zusicherungen die Kapitalmärkte in Unruhe und Unsicherheit versetzt werden! Steigerungen der Zinssätze schränken unsere Haushaltsspielräume nachher ebenso ein, wie es fehlende Steuereinnahmen täten.Seien wir froh, daß die erneut eklatant und nach den neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit vom Januar wirklich ganz deutlich verbesserte Situation auf dem Arbeitsmarkt uns die Möglichkeit schafft, die Entwicklung in der DDR ohne Einschränkungen für unsere Bürger anzupacken! Die Menschen dort müssen jetzt durch ihre Wahl liberaler und marktwirtschaftlich orientierter Politiker die Voraussetzungen schaffen, daß der gewünschte Aufschwung bei Ihnen schnellstens in Gang kommen kann. Meine Partei, die FDP, unterstützt in der DDR
den Bund Freier Demokraten. Er bietet Gewähr für Bürgerfreiheit und marktwirtschaftliche Entwicklung.Vielen Dank.
— Wieso Schleichwerbung? Das war eine ganz offene Werbung, Herr Kollege Glos.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Äußerungen von Minister Waigel, der vielleicht noch einen Augenblick hierbleiben könnte, wenn es seine Zeit erlaubt, zu dem Wahlkampf in der DDR veranlassen mich zu folgendem Hinweis, Herr Kollege Waigel. Wer wie die CDU in der DDR selbst Dreck am Stecken hat, als Blockpartei 40 Jahre lang mit die Verantwortung für den desolaten Zustand in diesem Land mitgetragen hat, der hat gar kein Recht, solche Flugblätter, wie ich sie hier in der Hand habe, gegen die Sozialdemokraten in der DDR zu verteilen.
Wer SED, PDS, SDP und SPD in der DDR auf eine Stufe stellt — offensichtlich mit Billigung der CDU hier —, der versündigt sich gegen demokratische Auseinandersetzungen in der DDR. Wir lassen uns das nicht gefallen.
Wenn Sie denn eine Schlammschlacht haben wollen, dann können Sie sie bekommen. Dann werden wir aber auch darauf hinweisen, wer in der DDR mit Honecker zusammengearbeitet hat; das war jedenfalls nicht die SPD, sondern die CDU.
Herr Abgeordneter Dr. Struck, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Von Herrn Waigel, weil er es eilig hat. Herr Glos muß sich sowieso hinsetzen, wenn Waigel gesprochen hat. — Bitte sehr.
Herr Abgeordneter Waigel.
Herr Kollege Struck, sind Sie bereit zuzugeben, daß sich bei dem gemeinsamen Strategiepapier von SPD und SED beide auf die gleiche Ebene gestellt haben und beide zu gemeinsamen Ergebnissen gekommen sind, und sind Sie bereit zuzugeben, daß dies vielleicht eine stärkere Belastung ist als die eine oder andere Mitwirkung in den letzten 40 Jahren in dem Staat, an dem jetzige Sozialdemokraten ebenfalls innerhalb der SED beteiligt gewesen sind?
Herr Kollege Waigel, nun verniedlichen Sie doch nicht das, was in diesen 40 Jahren passiert ist! Der ehemalige Vorsitzende der CDU in der DDR, Herr Götting, ist einem Strafverfahren ausgesetzt und ist in Haft. Nun tun Sie doch nicht so, als sei das die „eine oder andere Mitwirkung" ! Das ist doch absolut lächerlich.
Jetzt nehme ich Herrn Glos noch dran, und dann geht es weiter.
Herr Kollege Struck, können Sie bestätigen, daß 30 To der SPD-Mitglieder in der DDR vorher SED-Mitglieder waren und daß die SPD aus diesem Grund sogar Aufnahmesperren verhängen mußte, damit der Prozentsatz nicht noch höher wird, der sich durch das Hineindrängen in diese vermeintliche Schwesterpartei ergibt?
Nein, ich bin nicht bereit das zuzugeben. Was Sie hier mittragen, ist eine Fortsetzung der Lügen, die Ihre Partei in der DDR über die Sozialdemokraten verbreitet.
Es tut mir weh — —
— Augenblick. Jetzt muß ich erst einmal weitermachen. Herr Kollege Penner, wenn Sie vielleicht einen Augenblick Platz nehmen können; ich nehme Sie dann wieder dran.
Es tut mir als Sozialdemokrat weh, wenn ich in diesem Hause davon reden höre, daß wir die Gemeinsamkeit der Demokraten brauchen, um den Menschen in der DDR bei ihrer Wahl am 18. März zu einem regierungsfähigen System zu verhelfen, und hier dann andererseits diese üblen Verunglimpfungen, die offenbar im Konrad-Adenauer-Haus oder auch in München in der Parteizentrale der CSU gesteuert werden, erleben muß. Wir werden Ihnen mit gleicher Münze heimzahlen, wenn die CDU und die CSU nicht endlich mit dieser Schmutzkampagne aufhören.
Jetzt aber zunächst mein Freund Willfried Penner.
Das ist sehr liebenswürdig; ich rucke aus der Ebene des Schülers in die Ebene des gleichberechtigten Parlamentariers. — Herr Kollege Struck, sind Sie mit mir der Auffassung, daß das Zusammengehen der CDU-Ost mit der CDU-West auf eine Art politische Komplizenschaft hinausläuft?
Ich kann das nur sehr stark bestätigen, Herr Kollege Penner.
— Penner ist immer gut!
Noch eine Zwischenfrage?
— Herr Abgeordneter Rose, bitte sehr!
Herr Kollege Dr. Struck, sind Sie mit mir nicht auch der Meinung, daß es nicht so schlimm ist, wenn verschiedene Meinungen geäußert werden, weil wir ja auch in unserer Bundestagsfußballmannschaft Rechtsaußen und Linksaußen, Stürmer und auch Verteidiger haben, und daß man solche Angriffe nicht unbedingt so ernst nehmen sollte?
Herr Abgeordneter Struck, einen Augenblick bitte!
Wenn Sie schon die ganze Mannschaft aufzählen, Herr Rose: Vergessen Sie den Torwart nicht!
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis vergesse ich auch den Sponsor nicht.
Herr Kollege Rose, Sie haben natürlich recht, wenn Sie darauf hinweisen, daß wir auch hier — wie auf dem Fußballfeld — eine faire Auseinandersetzung führen sollten. Ich spreche aber nicht Sie an, Herr Kollege Rose, sondern ich spreche die Gesamt-CDU und die Gesamt-CSU an, offenbar die Wahlkampfmanager in den Zentralen; denn ich kann mir nicht ernsthaft vorstellen, daß jemand in der DDR allein auf solche Schmutzkampagnen gekommen wäre. Das muß im Adenauer-Haus gesteuert worden sein, und das ist der Punkt, den ich beanstande.
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Dr. StruckEs ist wohl zu befürchten, daß das in der DDR bis zum 18. März nicht mehr aufhört.
Wenn ich die mir nachfolgenden Redner auf der Rednerliste sehe, nämlich Herrn Kollegen Bohl und Herrn Kollegen Austermann,
dann fürchte ich, bei dem, was ich insbesondere von Austermann gewohnt bin, daß es auch hier so weitergeht.Aber nun ein sachlicher Punkt zum Nachtragshaushalt. Ich bitte den Kollegen Carstens, ihn an den Bundesfinanzminister, der — wie mir berichtet worden ist — anderweitig unabkömmlich war, weiterzugeben. — Ich habe gestern eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa über eine Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann zum Thema „Länderfinanzausgleich und deutsche Einigung" gelesen. Diese Äußerung von Herrn Wallmann läßt sich etwa wie folgt zusammenfassen: Einen Länderfinanzausgleich jetziger Prägung wird es nicht mehr geben; das Geld muß alles an die fünf Länder in der DDR.
— Das hat er so gesagt; so ist die Meldung der Deutschen Presseagentur.Ich warne ganz dringend — ich denke mir, daß ich da für alle in diesem Hause spreche — vor Spekulationen darüber, wie denn künftig wohl der Länderfinanzausgleich aussehen wird, wenn wir nämlich einen deutschen Staat haben. Es ist doch abenteuerlich, jetzt schon davon zu reden, wie das Frau Breuel, Herr Wallmann und Herr Palm tun, daß das gesamte Geld, das jetzt im horizontalen Finanzausgleich verteilt wird, nun plötzlich an die fünf Länder der DDR gehen muß.
Es ist doch völlig klar, meine Damen und Herren Kollegen, die Sie sich da sachkundig fühlen, daß es nach einer deutschen Vereinigung nicht einen horizontalen Finanzausgleich nach den Art. 106 und 107 geben kann; denn wir wissen z. B. nicht, wie groß die Steuerkraft der Länder in der DDR ist. Wir wissen noch nicht einmal, wie überhaupt die Einnahmeseite der Länder in der DDR aussieht. Herr Kollege Weng hat mit Recht darauf hingewiesen: Wir wissen noch nicht einmal, wie der Haushalt der Gesamt-DDR aussehen wird.Deshalb ist es abenteuerlich, jetzt — wie Herr Wallmann — davon zu sprechen, die jetzigen Nehmerländer in der Bundesrepublik Deutschland würden alle zu Zahlerländern und kriegten nichts mehr. Das ist verrückt. Wir sollten das seinlassen.
Wir als Sozialdemokraten werden uns dafür einsetzen, daß man über die Fragen zu diesem Thema mit aller Ruhe, mit Sachlichkeit auch mit den betroffenen Ländern spricht. Ich könnte mir ganz gut vorstellen — ich denke, daß ich da auch Ihre Zustimmung finden werde — , daß wir, was die finanzielle Ausstattung der künftigen Bundesländer auf dem Gebiet der heutigen DDR angeht, eine ähnliche Regelung finden können, wie wir sie heute für West-Berlin haben, d. h. daß diese künftigen Länder nicht am Länderfinanzausgleich teilnehmen.Ein letzter Punkt. Der Nachtragshaushalt ist in der Tat erforderlich geworden wegen der neuen Entwicklung in der DDR. Aber ich prophezeie Ihnen und uns allen, auch den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, daß wir uns in diesem laufenden Jahr 1990 noch einmal mit Korrekturen auch an dem Nachtragshaushalt oder an dem durch den Nachtragshaushalt korrigierten Haushalt 1990 werden beschäftigen müssen; denn die Entwicklung in der DDR wird noch weitere Anforderungen an uns stellen. Im Interesse der Bürger in der DDR sollten wir uns diesen Herausforderungen auch stellen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Nachtragshaushalt ist eine klare Solidaritätsbekundung für die Menschen in der DDR, und er ist, wie auch das Angebot an die DDR, unverzüglich in Verhandlungen über die Währungsunion einzutreten, Teil eines Konzepts, mit dem wir drei Ziele verfolgen: erstens die Einheit Deutschlands so bald und so gut wie möglich wiederherzustellen, zweitens den Sozialismus ein für allemal und ohne Wenn und Aber in Deutschland zu beerdigen
und drittens den Menschen in der DDR die von interessierter Seite geschürte Angst vor dem ihnen Unbekannten und Neuen zu nehmen, ihnen Hoffnung und Mut zu machen, ihnen also eine vernünftige Perspektive für Wohlstand und Freiheit zu geben.
Ich muß sagen: Leider werden diese Ziele von der SED zum Teil nicht, zum Teil nicht mehr oder auch zum Teil kaum noch geteilt.
Es ist oft genug aufgezeigt worden, daß es Wendehälse nicht nur in der DDR,
sondern auch und vor allem in der SPD gibt.
Sah man vor kurzem in der Wiedervereinigung nochdie „politische Umweltverschmutzung" oder die „Lebenslüge der zweiten Republik" , so straften ja be-
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Bohlkanntlich die Deutschen in der DDR Ihre Aussagen Lügen, indem sie riefen: „Deutschland, einig Vaterland".
— Im Moment bitte nicht.Aber die Zeichen der Zeit haben Sie in der SPD bis heute offenbar nicht erkannt — ob bewußt oder unbewußt, weiß ich nicht — , die wahren Zusammenhänge nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Oskar Lafontaine und auch heute in der Debatte wieder die SPD meinen, das Ansteigen der Übersiedlerzahlen der Koalition und dem Bundeskanzler anlasten zu müssen.
Dabei müssen Sie doch wissen, daß die anhaltend hohe Zahl von Übersiedlern ein Signal für mangelndes Vertrauen der Deutschen in der DDR in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft in der DDR, also ihrer Heimat, ist.
Dort muß politisch angesetzt werden.
Das heißt im Klartext, daß die sozialistischen Nachhutgefechte der SED, der Modrows und der Altstalinistin Luft mit ihrer Luft-Nummer, die sie ständig produziert, aufhören müssen.
Die Beispiele, die wir in den letzten Tagen dazu erlebt haben, sprechen ja Bände.Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Erfolg in der DDR ist doch gerade die Übernahme der Wirtschafts- und auch der Sozialordnung der Bundesrepublik für die DDR. Dazu gehört auch die Übernahme des dieses System bedingenden Teils unserer Rechtsordnung. Das ist ein wesentlicher Punkt. Das ist die zwingende Voraussetzung für die Investitionsbereitschaft deutschen und ausländischen Privatkapitals, ohne das der Aufbau der DDR nicht gelingen kann.
Meine Damen und Herren, dieser Übergang muß rasch und in gesicherter Rechtsstaatlichkeit vonstatten gehen. Wir finden, daß dazu der beste Weg der Art. 23,
der Beitritt der DDR oder ihrer Länder zur Bundesrepublik, ist. Anders mag das mit den Detailvorschriften sein. Da gibt es sicherlich Anpassungsprozesse. Aber der Kernbestand, unser Grundgesetz, das sich in 40 Jahren bewährt hat und das ja noch bei den Feierlichkeiten im Mai vergangenen Jahres auch von Ihnen gepriesen wurde,
muß bleiben und übernommen werden.Meine Damen und Herren, die SPD scheint mir auch hier dem Willen der Menschen in der DDR wieder einmal nur sehr halbherzig folgen zu wollen. Sie haben zwar in Ihrem „Fahrplan zur deutschen Einheit" gesagt, es käme vielleicht auch der Art. 23 in Frage.
Aber ich sage Ihnen ganz deutlich, ich werde den Verdacht nicht los, daß die SPD über den von ihr immer wieder und zunehmend genannten Weg des Art. 146 im Grunde genommen eine neue Verfassung schaffen will, die dann möglichst viel sozialistischen Gedankengutes in diese Verfassung übernehmen will. Das ist der wahre Hintergrund.
— Sie scheinen offensichtlich direkt aus dem Wahlkampf zu kommen, denn dort wird in der Tat von „roten Socken" gesprochen, wenn man von der SED spricht.Aber, meine Damen und Herren, wie wäre es sonst zu erklären, daß SPD-Chef Vogel am 13. Oktober vergangenen Jahres ausführte: „Eine andere Leitidee, die manche schon voreilig totgesagt haben, wird an Bedeutung und Anziehungskraft gewinnen: Ich meine den demokratischen Sozialismus", daß der SPD-Ehrenvorsitzende Brandt am 27. November letzten Jahres auf die Frage, ob in der DDR ein neues sozialistisches Experiment anstehe, antwortete, er „wünschte dies sehr" und daß der SPD-Ost-Vordenker Markus Meckel am 19. Februar 1990 — also in diesem Jahr — sagte: „Wir wollen genau das, was in der Vision des Sozialismus ausgesprochen ist."
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was bräuchte es eigentlich noch mehr an Belegen dafür, daß die SPD im Westen den Sozialismus offen propagiert und die SPD in der DDR diesen Sozialismus offenkundig auch anstrebt, wenn vielleicht auch auf verschlungeneren Pfaden?
Meine Damen und Herren, Walter Momper hat der SED noch zu einer Zeit, als Erich Honecker regierte, nämlich im August letzten Jahres, bescheinigt, daß sie genug „sozialdemokratische Elemente" aufweise. Und der ehemalige SED-Generalsekretär Egon Krenz meinte am 5. Februar dieses Jahres: „Das Programm der SPD ist sehr vernünftig. " Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich frage die SPD: Wie finden Sie es, daß Walter Momper die Aussagen der SED schon unter Honecker gut fand und Egon Krenz die Aussagen der SPD heute gut findet?
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15464 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
BohlIch finde, das ist doch eine dolle Sache.
Ich will fortfahren. Sie führen in Ihrem Grundsatzprogramm zur Marktwirtschaft aus
— Herr Waltemathe, hören Sie mal Ihr Grundsatzprogramm an, das wird Sie doch interessieren, was Sie vor wenigen Monaten in Berlin beschlossen haben — :Ein historisches Grundproblem des Wettbewerbssystems ist seine Verbindung mit der privaten Verfügung über die Produktionsmittel... Das Wettbewerbssystem ist ungeeignet, die Menschen mit Gemeinschaftsgütern und -leistungen zu versorgen.
Sie fordern ein einfacheres Enteignungs- und Entschädigungsrecht.
Das sind Ihre Aussagen in Ihrem Parteiprogramm. Oskar Lafontaine sagte auf dem gleichen Parteitag: „Wer unser System preist, hat überhaupt nicht die Zeichen der Zeit verstanden".
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Wie wollen Sie den Menschen in der DDR Hoffnung auf Wohlstand durch die Soziale Marktwirtschaft vermitteln, wenn Sie schon in der Bundesrepublik Deutschland voll von Abneigung gegen Wettbewerb und Markt sind, wenn Sie die Wirtschaft offenbar staatlich planen und Enteignungen erleichtern wollen? Das ist die Frage, die ich an Sie stellen möchte.
Nun möchte ich Ihnen noch folgendes sagen: In den Jahren 1973 bis 1982 sind unter Ihrer Regierung 1,2 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen.
Seit Antritt dieser Regierung sind 1,5 Millionen Arbeitsplätze neu geschaffen worden.
Ich frage Sie, wie die SPD in der DDR Arbeitslosigkeit abbauen will,
wenn mit SPD-Politik schon in der Bundesrepublik das Gegenteil erreicht wurde. Das ist doch die Frage, die man hier stellen muß.
Wie wollen Sie eigentlich einem Mann die Verantwortung übertragen, der in seinem eigenen Land einen Haushalt hat, von dem der Landesrechnungshof feststellt, daß er wegen Überschuldung verfassungswidrig ist?
Wie wollen Sie eigentlich mit dieser „beeindruckenden" Kompetenz Ihrer Führungspersönlichkeiten Stadt und Land in der DDR aufbauen?
Das kann doch beim besten Willen nicht gutgehen.Meine Damen und Herren, wenn der Herr Kandidat von der Saar behauptet, er wünsche Hilfen für die DDR, dann sage ich: Dann soll er es doch tun! Es ist doch so, daß das Saarland das Schlußlicht bei allen Sofortmaßnahmen für die DDR ist. Lediglich 1,2 Millionen DM werden dafür zur Verfügung gestellt. Dieser lächerliche Betrag macht gerade zehnmal so viel aus, wie er für seinen französischen Koch in der Landesvertretung im Jahr zur Verfügung hat. Ich finde das beschämend.
Meine Damen und Herren, ich finde, daß ein bezeichnendes Licht auf die innere Einstellung dieses Mannes auch die Tatsache wirft, daß er am Gespräch der Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler über Hilfen für die DDR nicht teilgenommen hat. Statt dessen war er in südlichen Gefilden und hat sich in der Sonne geaalt.
Ich sage: Er ist und bleibt ein deutschlandpolitischer Deserteur.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren:
Wie sollen die Menschen in der DDR Hoffnung auf Unterstützung durch die SPD gewinnen,
wenn die SPD-Länder im Gegensatz zu den SPD — —
Meine Damen und Herren, die Zwischenrufe — von allen Seiten, ob sie zustimmend sind oder ob sie kritisch sind — stören den Ablauf der Parlamentssitzung.
— Herr Abgeordneter, ich bitte, darauf Rücksicht zu nehmen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15465
Vizepräsident Stücklen— Herr Waltemathe, Sie haben noch einige Minuten Redezeit von seiten der Fraktion der SPD. Wenn Sie mit einer Ausführung des Redners nicht einverstanden sind, haben Sie das Mikrophon.
— Was ist denn los mit Ihnen, Herr Abgeordneter Waltemathe? Sie sind doch sonst ein so ausgeglichener Mann,
und heute flippen Sie beinahe aus! Was ist los? Also es gibt das Mikrophon, und Sie haben noch einige Minuten, daß Sie nachher noch reden können. Das haben wir so eingeführt. Herr Abgeordneter Bohl, ich bitte, auch von dieser Seite aus zuzustimmen. Dann können wir diesen Nachtragshaushalt in ungefähr 25 Minuten zur Abstimmung stellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich stelle fest, daß die CDU-geführten Bundesländer mehr als das Dreizehnfache an Hilfe für die DDR zur Verfügung stellen als die SPD-Länder. Ich will dazu der Vollständigkeit halber anmerken, daß ich schon meine, daß Sie ein schlechtes Beispiel für glaubwürdige Politik abgeben, wenn Sie auf der einen Seite diese Hilfen einfordern, sich aber dann in nationalen Fragen als Obergeizhals der Nation präsentieren.
Meine Damen und Herren, wir als Koaltion geben den Menschen in der DDR eine klare Perspektive. Wir wollen die Abschaffung des Sozialismus und die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, und mit diesem Nachtragshaushalt wird ein weiterer Schritt vollzogen. Wir geben den Menschen in der DDR auch mit diesem Nachtragshaushalt Hoffnung und nehmen ihnen ihre Angst.
Ich muß — auch nach meinen Eindrücken in der DDR — sagen: Die SPD fährt wieder einmal eine Doppelstrategie. Bei uns schürt sie die Angst vor der Wiedervereinigung mit dem Argument, das werde alles furchtbar teuer, und in der DDR tritt sie der Angst vor der Wiedervereinigung, weil das angeblich alles furchtbar unsozial werde, nicht entschieden entgegen.
Ich glaube, das alles zeigt, daß sich die SPD deutschlandpolitisch in die Sackgasse manövriert hat. Das, was uns die SPD in diesen Tagen bietet, ist der Beweis dafür, daß sie auch keine Absichten hat, diese Sackgasse zu verlassen.
Willy Brandt, Momper und Lafontaine kommen mir vor, als seien sie aus dem Wilhelm-Busch-Album entsprungen: Willy Brandt als der gutmütige Schneider Böck, der vorgibt, seiner Partei mit viel Mühe eine Brücke zur deutschen Einheit zu bauen, und Lafontaine und Momper als Max und Moritz, die — ritze, ratze — diese Brücke hinter seinem Rücken zum Einsturz bringen wollen. Das Ende dieser Operation, meine Damen und Herren, ist allgemein bekannt, und sie sollten, da wir alle wissen, wie Max und Moritz geendet sind, diese Warnung sehr ernst nehmen.
Meine Damen und Herren, wir versichern: Niemand in der Bundesrepublik braucht Angst zu haben um sein Einkommen, seine Rente, sein Eigentum. Dieser Nachtragshaushalt beweist es: Soziale Marktwirtschaft in ganz Deutschland bedeutet ohne Einbußen bei uns auch Wohlstand für ganz Deutschland.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mechtersheimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat die Chance vertan, den größten Rüstungshaushalt in der Geschichte der Bundesrepublik wenigstens jetzt zu reduzieren. Auch ohne Bedrohung setzt die Bundesregierung die Aufrüstung ungebrochen fort. Die Koalition hat einen ausgeprägten Wiedervereinigungswillen; einen Abrüstungswillen hat sie nicht.
Der Bundesfinanzminister sagte heute, wenn ich mich richtig erinnere, daß dieser Nachtragshaushalt auch ein Beitrag zur deutschen Vereinigung sein sollte. Wenn er das wirklich ist, dann kann unseren Nachbarn nur angst und bange werden; denn dieses Festhalten am Weiterrüsten schürt in Ost und West Ängste vor der deutsch-deutschen Entwicklung. Die Abrüstungsunwilligkeit der Bundesregierung weckt bei unseren Nachbarn unweigerlich den Verdacht, daß die heute und möglicherweise auch künftig bestimmenden Kräfte der deutschen Politik nach der Wiedervereinigung mehr wollen als nur ökonomische Größe. Doch ein friedliches Deutschland ist mit militärischer Hochrüstung unvereinbar.Eine drastische Beschränkung der Ausgaben für die Bundeswehr wäre ein Zeichen der Hoffnung für die Menschen in der DDR. Erst dadurch würde es glaubhaft werden, was bisher an Hilfeleistungen versprochen wurde; denn beides geht ja wohl nicht: Hilfe für die DDR in dem erforderlichen Umfang und gleichzeitig Fortschreibung der extrem hohen Verteidigungsausgaben. Bei Fortsetzung der Hochrüstung müssen — das ist dann unvermeidlich — die sozial Schwachen die Wiedervereinigung bezahlen.Schon die alte DDR-Regierung — das wird ja oft etwas verwechselt und verdreht — hat eine Kürzung des Militärhaushaltes für dieses Jahr um 18 % beschlossen. Es ist zu erwarten, daß schon in Kürze — so ist gestern eine Unterrichtung im Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle durch DDR-Vertreter gewesen — die finanzielle Abrüstung für das laufende Jahr auf 25 % erhöht werden wird. Wo der politische Wille ist, kann man das auch machen.Nicht nur die DDR, alle Staaten des Warschauer Pakts geben in diesem Jahr rund 15 % weniger aus als im Jahr zuvor. Die Bundesrepublik Deutschland legt dagegen, wie ja bekannt ist, um rund 3 % zu, und das wird nicht verändert. Das ist der westdeutsche Sonderweg, der Sonderweg der Hochrüstung in Europa,
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15466 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Dr. Mechtersheimerauch der Sonderweg der Unbelehrbarkeit, der westdeutsche Sonderweg des alten Denkens.
Die Rüstungspolitik in der Bundesrepublik steht in einem diametralen Gegensatz zu der antimilitaristischen Grundstimmung, wie sie sich in der DDR sehr deutlich über das gesamte politische Spektrum zeigt. Ich erinnere an den Appell der 89, der beispielsweise die totale militärische Abrüstung bis zum Jahre 2000 fordert. Diese Forderung wird nicht von politischen Randgruppen erhoben, sondern unter dieser Erklärung stehen Namen, die von Bärbel Bohley über NVA-Offiziere, über Jürgen Fischbeck bis Rainer Eppelmann und Wolfgang Schnur reichen. Ich erinnere auch an die Initiative für Frieden und Menschenrechte in der DDR. Sie plädiert für die Auflösung der Militärblöcke, für den Abbau von NVA und Bundeswehr und für den Abzug aller fremden Truppen. Für die Wehrpflicht gibt es in der DDR längst keine Mehrheit mehr. Es erhebt sich und verbreitet sich immer stärker die Forderung nach einer Wiederentwaffnung Deutschlands. Auch in der Bundesrepublik haben sich nach einer „Stern"-Umfrage 18 % der Bundesbürger gegen eine Bewaffnung der neuen deutschen Republik ausgesprochen. Mehr als die Hälfte fordert eine drastische Reduzierung der Streitkräfte.Mit dem Festschreiben des Militärhaushalts, das wir heute diskutieren und beobachten müssen, repräsentiert die Bundesregierung mit Sicherheit nicht den Willen der Bevölkerung, sie vertritt eher die Interessen der Rüstungsindustrie.
Die Bundesregierung und die Koalition reden von Abrüstung, betreiben aber in der Praxis nach wie vor das Gegenteil. Nicht nur der Jäger 90, die gesamte Verschwendungspolitik für das Militär ist in der Bevölkerung unpopulär. Deswegen muß ich fragen: Wie groß sind eigentlich die Interessen, die die Bundesregierung zu einer solch unpopulären Position zwingen?
Es ist nun zu lesen, daß die Koalition bei den Beratungen des Nachtragshaushalts 100 Millionen DM aus dem Verteidigungshaushalt streichen möchte. Ich hoffe, das ist kein Druckfehler. Ich gehe davon aus, daß diese Zahl stimmt. Bei 54 Milliarden DM sind 100 Millionen noch nicht einmal 0,2 %. Das ist keine Abrüstung, das ist ein Hohn, das ist eine Vortäuschung von Abrüstungswillen. Wir fordern in diesem Nachtragshaushalt eine Kürzung der Militärausgaben, wie sie in der DDR bereits für dieses Jahr wirksam ist, nämlich um 18 %. Diese Kürzung wäre ein ungleich größerer Beitrag für den Frieden und die Sicherheit in Europa als die fortgesetzte Verschwendung von Steuergeldern, auch angesichts der ökologischen Katastrophe — übrigens in ganz Deutschland, nicht nur in der DDR — und nicht zuletzt angesichts von Hunger und Elend in der Dritten Welt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es erstaunt einen immer wieder, wenn man in der Debatte über den Nachtragshaushalt gemahnt wird, etwas zum Abbau der Rüstung zu tun, und das von Leuten, die sich im Grunde, solange sie praktisch gearbeitet haben, mit dem Thema Rüstung befaßt haben, aber in anderer Hinsicht. Herr Dr. Mechtersheimer, wenn ich mich recht erinnere, haben Sie Ihre Doktorarbeit über die Schaffung des Tornado erstellt, und Sie haben jahrelang in den Diensten der Bundeswehr-Hochschule gestanden. Dann müßten Sie eigentlich wissen, daß es kaum ein verantwortliches Handeln ist, wenn ein Staat sagt: Wir wollen in die Zukunft gehen, ohne uns verteidigen zu können. Sie wissen ganz genau, jedes Land hat eine Armee, entweder eine eigene oder eine fremde. Sie wissen auch, daß Länder, die neutral sind und denen kaum jemand gleiches unterstellen würde, wie Sie es gegenüber der Bundesrepublik machen, wie Schweden und die Schweiz, weit entfernt davon sind, auf ihre Armeen zu verzichten. Ich wollte dies nur kurz gesagt haben und möchte keine Zwischenfragen beantworten, da wir das Thema Nachtragshaushalt behandeln.
Herr Abgeordneter Austermann, wollen Sie keine Zwischenfragen gestatten?
Also, bitte, ja.
Herr Kollege, ich stelle Ihnen gern diese Arbeit zur Verfügung. Dann werden Sie feststellen können, zu welchem kritischen Ergebnis ich gekommen bin, nämlich daß diese Art von Rüstung wirklich Verschwendung ist und eine Irreführung der Öffentlichkeit bedeutet. Im übrigen stellt sich für uns nicht die Alternative, ob wir eine eigene oder eine fremde Armee haben; wir haben ja beides.
Das spricht aber mit Sicherheit nicht dafür, zu sagen: Wenn wir nur die eigene hätten, müßten wir auch auf diese verzichten. Ich habe Ihnen die Beispiele Schweden und Schweiz vorgehalten. Dies sollte eigentlich auch für Sie eine überzeugende Sprache sprechen.Wir sind dabei, uns über den Nachtragshaushalt und über die Frage zu unterhalten, wie mit diesem Haushalt der DDR am schnellsten geholfen werden könnte. Da unterscheiden wir uns in der Tat von der SPD. Eines ist mit Sicherheit klar: daß die überwältigende Mehrheit in der DDR einen Weg ohne Sozialismus will. Dies ist allen klar, bis auf Herrn Vogel, der hier noch vor kurzem erzählt hat: Der Sozialismus erlebt in der DDR zur Zeit eine Wiedergeburt, und dies strahlt nach Westeuropa aus.
— Das ist dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom 8. November 1989 zu entnehmen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15467
AustermannDie SPD empfiehlt in der Bundesrepublik für Übersiedler das Nagelbrett, für Asylbewerber Hotelbetten und in der DDR die rote Spendierhose. Sie übersieht dabei, daß der jetzt vorliegende Nachtragsentwurf eine Fülle positiver Anreize für einen Kurswechsel in der DDR und Sofortmaßnahmen im Bundesgebiet enthält.Der Haushalt hat, wenn man die Verpflichtungsermächtigungen mit einbezieht — und die muß man mit berücksichtigen, da die meisten Maßnahmen nicht innerhalb eines Jahres begonnen und abgeschlossen werden können — , ein Nettovolumen von 10 Milliarden DM. Berücksichtigt man die Wirkungen der Aufstockung des ERP-Sondervermögens zugunsten der DDR um 2 Milliarden DM, die kleinen und mittleren Unternehmen Neugründungen gestatten und zinsverbilligte Kredite in der Größenordnung von 6 Milliarden DM ermöglichen soll, ergibt das eine Größenordnung, die weit über 10 Milliarden DM liegt, etwa bei 15 Milliarden.
Mit diesen Krediten werden 100 000 Neugründungen und betriebliche Investitionen ermöglicht, und dies heißt nach den bisherigen Erfahrungen im Bundesgebiet etwa 500 000 neue Arbeitsplätze innerhalb eines Jahres.Es muß mit der Hilfe darum gehen, schnell sichtbare Zeichen des Kurswechsels zu setzen, d. h. wegzukommen.Weshalb sich vielerorts Skepsis ausbreitet — das wissen auch Sie von Ihren Besuchen in der DDR —, ist leicht zu erklären: Man hat die Sorge, daß der Umgestaltungsprozeß in der Administration von den gleichen Leuten verwaltet wird, die in der Vergangenheit den Wechsel nicht gewollt haben, die jetzt vielleicht den Wechsel ihres Parteiabzeichens vorgenommen haben, in der Vergangenheit aber dabei waren, den Sozialismus und seine angeblichen Errungenschaften aufzubauen. Da liegt die echte Sorge der Landsleute in der DDR; denn sie glauben, daß möglicherweise Hilfestellung gegeben wird, aber auf der anderen Seite arbeiten die gleichen Leute weiter.Ich meine, wir sollten auch nicht übersehen, daß der Aufbruch nicht durch den Nachtragshaushalt, nicht durch die öffentliche Hand alleine bewirkt wird, sondern vor allem durch die private Wirtschaft, daß die öffentliche Hilfe nur subsidiären Charakter hat. Dies zeigt z. B. die Preußenelektra, dies zeigt das Bayernwerk, die mit Unternehmen in der DDR, mit Kombinaten dort, die Errichtung zweier Steinkohlekraftwerke mit modernster Umweltschutztechnik nach dem Stand der Bundesrepublik beschlossen haben; sie haben dies bekanntgegeben. Sie werden 1991 mit dem Bau beginnen und 1995 zwei neue 500-MW-Kraftwerke in Betrieb nehmen, eins in Lübeck, eines in Rostock. Beide liefern Strom in die DDR. Schneller geht es eigentlich kaum. Wir sollten auch dies unterstützen.Allerdings heißt dies noch nicht, daß wir saubere Luft in den Industriebetrieben, saubere Luft bei den übrigen Kraftwerken in der DDR haben. Deswegen wollen wir mit dem Nachtragshaushalt beim Umweltschutz ansetzen.Wenn man dort direkte Barmittel neben die Verpflichtungsermächtigungen stellt, stellt man fest, daß es insgesamt für 15 Umweltschutzprojekte Investitionen im Umweltschutzbereich in der Größenordnung von 1 Milliarde DM gibt. Verpflichtungsermächtigung plus Baransatz ergeben 1 Milliarde DM für 15 große Umweltschutzprojekte in der DDR.Dabei muß man wissen, daß der Umweltminister schon immer Vorreiter für die innerdeutsche Zusammenarbeit gewesen ist.
1987 gab es die erste gemeinsame Übereinkunft. — Das war damals schon mit Herrn Töpfer, Herr Jungmann. — Zum Thema Elbe hat es bis 1982 keine Gespräche gegeben. 1987 gab es das erste Übereinkommen für innerdeutsche Zusammenarbeit zur Schadstoffentlastung von Elbe und Saale. Diesen Weg gehen wir jetzt weiter.Ich darf jetzt einmal folgendes Bild aufnehmen: Wir wollen den blauen Himmel auch über Bitterfeld, über Thüringen und Sachsen. Hier setzt auch der Forschungshaushalt mit dem Nachtrag an. Neben der Förderung der Reaktorsicherheit und der Kerntechnik wird es mehr Mittel für die Rauchgasreinigung fossiler Kraftwerke geben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn es tatsächlich mehr Umweltschutz geben soll.Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, der bisher nicht angesprochen wurde. Das ist die Förderung im Bereich der Stadtsanierung und Dorferneuerung.
20 Millionen DM sind für Investitionen in die Stadtsanierung und Dorferneuerung in Meißen, in Brandenburg, in Weimar und in Stralsund vorgesehen, und zwar jeweils 5 Millionen DM.Jetzt muß man wissen, daß zu diesen 20 Millionen DM auch noch ein Betrag aus dem Devisenfonds mit seinen rund 3 Milliarden DM West kommt. — Frau Matthäus-Maier, Sie sollten sich — nach dem, was Sie heute morgen gesagt haben — einmal die Funktion und das Konzept dieses Devisenfonds angucken. Dort kommt nicht nur Geld heraus, da geht auch Geld hinein. Aus diesem Devisenfonds mit seinen rund 3 Mil-harden Westmark — 9 Milliarden Ostmark — wird künftig ein Betrag von weiteren 1,5 Milliarden Ostmark in Sanierungsvorhaben gesteckt. Das wird bei Ihrer Argumentation leider oft vergessen.
Die weiteren 7,5 Milliarden Mark aus dem Devisenfonds gehen in Verkehrsprojekte und Vorhaben der Tourismusinfrastruktur. Dieses Geld steht in diesem Jahr bereit.Am ehesten für die Menschen sichtbar sind die neuen Verkehrsverbindungen in den grenznahen Bundesländern — sie sind von dem Kollegen Rose auch angesprochen worden — , z. B. die Verbindungen, die in die Tschechoslowakei gehen. Es sind die Verbindungen von Hof nach Plauen, von Bad Hersfeld nach Eisenach angesprochen worden, die Wiederherstellung der Elbebrücke Dömitz, die Ortsumgehung Schlutup. Das heißt also im echten und im wahren
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15468 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
AustermannSinne: Durch Straßen- und Schienenbau freie Fahrt für freie Bürger. Dafür werden 207 Millionen DM zusätzlich zu den Mitteln aus dem Fonds, den ich eben angesprochen habe, bewilligt. Es wird 70 neue Züge für den Verkehr zwischen Berlin und dem übrigen Teil der Bundesrepublik geben.Ich glaube, daß es jetzt wichtig ist, daß wir nach dem Bau der Nord-Süd-Verbindungen innerhalb der Bundesrepublik dazu kommen, mehr Ost-West-Verbindungen, Bahn-, Straßen-, Schienen- und Luftverbindungen, zu schaffen, von der Küste nach Berlin, aber auch vom Süden der Bundesrepublik in Richtung Berlin in die DDR hinein. Ich glaube, daß man vielleicht noch einmal ernsthaft überprüfen sollte, ob nicht eine Referenzstrecke für die Magnetbahn, die uns ja anerkanntermaßen an anderen Stellen erhebliche Schwierigkeiten macht, von Kiel über Hamburg, Berlin, Leipzig und Nürnberg nach München geschaffen werden könnte.
Ich halte es jedenfalls für besser, statt alte D-Züge aufzumöbeln, darüber nachzudenken, ob man nicht wirklich mit Spitzentechnologie anfangen und ein neues System auf den Weg bringen sollte.
Wir wollen 150 Millionen DM für Maßnahmen zur Förderung der mittelständischen Wirtschaft ausgeben. Das heißt, wir wollen die jungen Leute, die sich dort selbständig machen wollen, fit machen für die Soziale Marktwirtschaft. Beratung, Schulung, Förderung der Fortbildung, Kooperation und Technologietransfer, dies alles wird dringend gebraucht, um neue Unternehmer zu gewinnen, eine neue Schicht junger und älterer Leute, die bereit sind, sich zum erstenmal selbständig zu machen und dadurch neue Impulse in der DDR zu schaffen.
— Der Mittelstand ist sicher eine tragende Säule auch der Sozialen Marktwirtschaft, Herr Kollege.Wesentliche Mittel sieht der Nachtragshaushalt auch für die Erstaufnahme von Aus- und Übersiedlern und für die Unterstützung von Deutschen in den Aussiedlungsgebieten, d. h. dort, wo sie heute leben, vor. Das ist kein Geld, um Menschen anzulocken. Ich glaube, es ist wichtig, daß man einmal darauf hinweist, wieviel z. B. ein Übersiedlerehepaar mit zwei Kindern, das in die Bundesrepublik kommt, tatsächlich noch bekommt. Es wird immer von Prämien gesprochen, die gezahlt werden, und man vernachlässigt völlig, in welcher Situation sich dort jemand befindet. Wenn man dies einmal vergleicht, stellt man fest, was die meisten gar nicht wissen, daß das Arbeitslosengeld abgeschafft worden ist und daß statt dessen seit dem 1. Januar ein Eingliederungsgeld gewährt wird.
— Sie wissen es; aber sie verschweigen es.
Man kann das einmal zusammenrechnen und kommt bei einem Ehepaar mit zwei Kindern dann auf eine Größenordnung, die ungefähr der Sozialhilfe entspricht, die ja wohl niemand diesen Menschen verweigern will.Meine Damen und Herren, der Bundeszuschuß für den Berliner Haushalt wird um 400 Millionen DM auf 13,2 Milliarden DM erhöht. Mit 23 Millionen DM soll der Eisenbahnverkehr von und nach Berlin erleichtert werden.2,15 Milliarden DM fließen von uns aus in den Reisedevisentopf. Man kann auch hier klar und deutlich zeigen, was dies für ein Ehepaar mit zwei Kindern bedeutet. Es kann maximal 2 800 Ostmark in 1 200 Westmark tauschen, sofern beide Kinder über 14 Jahre alt sind. Wenn die Kinder jünger sind, können sie 2 100 Ostmark in 900 Westmark tauschen. Dies hilft natürlich irgendwo konkret, die Lebensverhältnisse in der DDR zu verbessern und den Menschen eine konkrete Hilfe zu geben. Dies halten wir für richtig.Eine direkte Hilfe in der DDR stellt auch die vorgenommene Krankenhilfe für DDR-Besucher mit 95 Millionen DM und die medizinische Hilfe in der DDR selbst für die Wiederherrichtung von Krankenhäusern und die Beschaffung medizinischer Geräte in der Größenordnung von 340 Millionen DM dar.2 Milliarden DM sind für Sofortmaßnahmen auf Grund der aktuellen deutschlandpolitischen Entwicklung vorgesehen.Addiert man die Beträge, die ich eben genannt habe und die nach Beschluß über den Nachtragshaushalt in der DDR selbst wirken, ergibt dies mit den ERP-Krediten einen Betrag von 10 Milliarden DM, die jetzt beschlußreif sind, nicht als Baransatz, aber als Baransatz plus Verpflichtungsermächtigung plus ERP-Kredite. Diese 10 Milliarden DM werden in der DDR wirken. Davon sind 2 Milliarden DM mit weiteren 300 Millionen VE für Sofortmaßnahmen verfügbar. Das ist eine ungewöhnliche Maßnahme; der Kollege Weng hat darauf hingewiesen. Wir werden im Haushaltsausschuß darüber reden müssen.Aber diese Beträge machen deutlich, daß wir ein Interesse daran haben, unseren Landsleuten in der DDR zu helfen, und, daß wir sie nicht hier herüberlokken. Dies ist ein deutliches Zeichen für einen neuen Anfang, für einen Aufbruch. Das nächste Signal zum Aufbruch müssen unsere Landsleute bei der Wahl am 18. März selbst geben.Meine Damen und Herren, der Nachtragshaushalt war aber auch deshalb notwendig, weil außenpolitische Hilfe geboten war — darauf ist hingewiesen worden — , weil Konsequenzen aus dem Zustrom der Landsleute gezogen werden mußten und weil wir, was überhaupt nicht erwähnt worden ist, ab 1. Oktober das Wohngeld erhöhen. Das ist eine Maßnahme, die durch Subjektfinanzierung konkret den Woh-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15469
Austermannnungsbau unterstützt. Das Wohnungsbauprogramm der KfW wird mit 300 Millionen DM erweitert.
— Ja, selbstverständlich! Sie können zwei Wege gehen. Sie können sozialen Wohnungsbau machen, oder Sie können Wohngeld zahlen. Dann fördern Sie den, der in der Wohnung sitzt, nicht den Vermieter. Ich halte das immer noch für besser. Wir schaffen also innerhalb von vier Jahren eine Million neue Wohnungen.Schließlich ist erwähnenswert, daß die Steuersenkung im Wege der Steuerreform seit dem 1. Januar alle Arbeitnehmer als Entlastung positiv trifft und daß alle öffentlichen Bediensteten durch die jetzt nachgezogene Tarifrunde mit der Anpassung der allgemeinen Zulage für den gesamten Bereich des öffentlichen Dienstes bei Post, Bahn, Bund, Ländern und Gemeinden in Höhe von 853 Millionen DM eine zweite Einkommensverbesserung in diesem Jahr erzielen. Dies macht mit Post und Bahn durch Beschlüsse, die im Frühjahr gefallen sind, ein Mehr bei den Gehältern von 5,3 Milliarden DM aus. Diese müssen im Nachtragshaushalt berücksichtigt werden. Alle genannten Maßnahmen werden dazu führen, daß unsere Landsleute in der Bundesrepublik über mehr Kaufkraft verfügen. Auch dies ist über den Nachtragshaushalt mit beschlossen worden.Der Bund erbringt also Leistungen in mehrfacher Hinsicht vor Ort in der DDR, für die Bürger in der DDR. Die Länder helfen mit. Der Kollege Bohl hat darauf hingewiesen, daß einzelne Länder in der Tat sehr unterschiedliche Leistungen erbringen. Wir können sagen, daß die CDU-regierten Länder in diesem Jahr 650 Millionen DM bereitstellen, während die SPD-regierten Länder, obwohl es etwa genauso viele gibt, 50 Millionen DM bereitstellen. Der größte Geizkragen ist Herr Lafontaine, der zweitgrößte Geizkragen der Herr Engholm. Dies sollte man sehr deutlich sagen.
Meine Damen und Herren, wir sehen, daß die Bürger in der DDR Hoffnungen, Sorgen, Ängste und Erwartungen haben. Der Nachtragshaushalt trägt dazu bei, aus Sorgen und Ängsten Hoffnungen und gute Erwartungen zu machen. Ich glaube, es ist richtig, daß wir diesen Weg weitergehen. Auf die Union, auf die Koalition ist in diesem Zusammenhang Verlaß.Von meiner letzten Reise habe ich ein Fünf -Mark-Stück übrigbehalten. Ich überlege, ob ich es wieder einführen darf; es handelt sich um fünf Ost-Mark. Dieses Fünf-Mark-Stück trägt das Prägedatum 1969. Das ist gut 20 Jahre her. Sie werden sich erinnern, daß unser Land damals in einer bombigen Verfassung gewesen ist, bevor die Sozialdemokraten dann die Regierung übernommen haben. Das Land ist heute wieder etwa in einer gleich bombigen Verfassung. DiesesGeldstück macht deutlich, was es bedeutet, wenn die falschen Leute regieren.
Wir mußten 1982 eine Explosion bei den Schulden und bei der Arbeitslosigkeit feststellen. Dies zeigt, daß der richtige Weg der marktwirtschaftliche Weg ist und daß dieser Weg auch für die DDR und für Gesamtdeutschland der richtige Weg ist. Wir wollen den gemeinsamen Aufbruch schaffen!Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 11/6400 und 11/6592. Es wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Nein. Dann ist so beschlossen.
Außerdem soll die Vorlage auf Drucksache 11/6592 zusätzlich an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Mitberatung überwiesen werden. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 11/6561 —
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatsminister Dr. Stavenhagen zur Verfügung.
Ich rufe Frage 21 des Herrn Abgeordneten Jungmann auf:
Wie hoch sind die Gesamtkosten für die 100 000 in Zusammenarbeit zwischen Bundespresseamt und Bertelsmann produzierten Schallplatten und Kassetten mit Reden des Bundeskanzlers , und welcher Anteil entfällt davon auf den Haushalt des Bundespresseamtes?
Bitte sehr.
Herr Kollege, die Gesamtkosten können im Augenblick noch nicht exakt genannt werden, weil Rechnungen noch nicht vorliegen.Die Kosten setzen sich aus den reinen Material- und Herstellungskosten der Tonträger sowie aus den Kosten für die tontechnische Bearbeitung der Reden, die Abgeltung der Senderechte für die Fernsehübertragung aus Dresden und Berlin, die Herstellung der Textbeilage für die Schallplatten, die graphischen Kosten für die Hülle bzw. den Kassetteneinschub sowie die Abgeltung der Bildrechte für die Illustration zusammen.Die Firma Bertelsmann hat angeboten, die reinen Material- und Herstellungskosten in einer geschätzten Höhe von 270 000 DM zur Hälfte selber zu tragen. Die andere Hälfte, also 135 000 DM, sowie alle vorher genannten sonstigen Kosten, die auf 30 000 DM veranschlagt werden, übernimmt das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Die auf das Bun-
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15470 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Staatsminister Dr. Stavenhagendespresseamt entfallenden Kosten werden somit auf 165 000 DM geschätzt.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, ist es richtig, was das Presseamt den Berichterstattern des Kapitels 04 03 mitgeteilt hat, nämlich daß dieses Geld im Haushalt 1990 noch gar nicht veranschlagt ist, sondern daß das Geld für die Schallplatten im Nachtragshaushalt 1990 veranschlagt ist, der nach der ersten Lesung gerade vorhin an die Ausschüsse zur Beratung überwiesen worden ist, und widerspricht es nicht dem Haushaltsrecht, Haushaltsmittel in Anspruch zu nehmen, ohne daß ein gültiger Titel dafür im Haushalt vorhanden ist?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, ob die Mittel hierfür erst im Nachtragshaushalt enthalten sind, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich werde Ihnen das schriftlich beantworten.
Noch eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, das ist ja schon bezeichnend, und ich frage Sie, ob Sie mit mir darin übereinstimmen, daß es eine schlechte Vorbereitung der Fragestunde ist, wenn Sie das nicht wissen und wenn mir als Berichterstatter für den Einzelplan 04 im Zusammenhang mit den Beratungen in der nächsten Woche im Haushaltsausschuß schriftlich mitgeteilt wird, daß von den 17,5 Millionen DM im Kapitel 04 03 des Nachtragshaushalts 150 000 DM für die Schallplatten vorgesehen sind.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Nein, Herr Kollege, ich stimme Ihnen nicht zu;
denn ich vertrete hier den Regierungssprecher, der heute leider nicht hier sein kann.
Da nicht ich dem Bundespresseamt vorstehe, sondern der Regierungssprecher, halte ich es für zulässig, daß ich Ihnen sage: Diese Frage werden wir Ihnen gerne umgehend schriftlich beantworten.
Im übrigen gehört die Tätigkeit, die Erstellung des Tonträgers und diese ganzen Dinge, zu den üblichen Tätigkeiten des Bundespresseamts.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Waltemathe.
Herr Staatsminister, kann ich dann davon ausgehen, daß die Schallplatten aus einem Titel bestellt worden sind, der für das Inland, sprich: für die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, bestimmt ist? Ist in diesem Zusammenhang eine Auflage von 100 000 bei 24,5 Millionen
Haushalten in der Bundesrepublik Deutschland nicht ein bißchen niedrig?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, erstens darf ich Sie darauf hinweisen, daß für uns die DDR kein Ausland ist.
Zweitens: Die Höhe der Auflage habe ich nicht zu vertreten. Sie ist eingeplant. Die Institutionen, denen die Platten angeboten worden sind, haben in regem Umfang davon Gebrauch gemacht, so daß diese Bestände weitgehend vergriffen sind.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wieczorek.
Herr Staatsminister, ich habe soeben voller Erstaunen gehört, daß die Firma Bertelsmann der Regierung 50 % der Kosten erläßt, ihr diesen Betrag also schenkt. Bekommt die Firma Bertelsmann dafür eine Spendenbescheinigung der Bundesregierung, oder wie verbucht die Firma Bertelsmann die Spende, und wie nehmen Sie die Einnahme irgendwo im Bundeshaushalt einnahmewirksam zur Kenntnis?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, wie Sie vermutlich wissen, kann die Bundesregierung Spendenbescheinigungen nicht ausstellen. Die Firma Bertelsmann hat sich an den Herstellungskosten beteiligt, weil es sich um wichtige und auch, wie ich meine, historische Dokumente handelt. Es geht einmal um die Rede des Bundeskanzlers zum ZehnPunkte-Proramm vom 28. November 1989 hier im Plenum. Es geht um die Ansprache vor der Frauenkirche in Dresden, die sicher als eine historische Ansprache eingestuft werden kann. Es geht schließlich um die Ansprache anläßlich der Öffnung des Brandenburger Tores vom 22. Dezember. Das sind in der Tat Ereignisse, die es wert erscheinen lassen, daß man sie festhält. Ich finde es begrüßenswert, daß sich die Firma Bertelsmann daran beteiligt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Carstensen.
Herr Staatsminister, besteht auch die Möglichkeit, diese Dokumente auf CD zu bekommen? Ich würde sie gerne in dieser Form und nicht nur als Kassette oder Schallplatte haben.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, nach meinen Unterlagen — ich sage noch einmal: ich gehöre, wie Sie wissen, nicht dem Bundespresseamt an — gibt es nur Schallplatten und Kassetten. Ich bedaure sehr.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Emmerlich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15471
Herr Staatsminister, können Sie uns mitteilen, welche Institutionen diese Schallplatten und Kassetten angefordert haben?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Die Schallplatten und Kassetten wurden nach ihrer Fertigstellung — das war Anfang Februar — als Informationsmaterial für Bürger in der DDR allen staatlichen und kommunalen Stellen, dem Deutschen Bundestag und den Landtagen sowie anderen in Frage kommenden Multiplikatoren angeboten, insbesondere auch den im Bundestag vertretenen Parteien. Für Anforderungen der angeschriebenen Stellen standen rund 40 000 Exemplare, also fast die Hälfte der Auflage, zur Verfügung. Sie sind inzwischen praktisch vergriffen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hirsch.
Herr Kollege, da ich mir das Vergnügen noch nicht gemacht habe, die Kassette zu hören,
Sie aber sagen, daß die Rede vor dem Schöneberger Rathaus auf ihr enthalten ist — —
— Ach, nicht die Rede vor dem Schöneberger Rathaus?
— Dann bitte ich um Entschuldigung.
Ich hatte nur nach dem anschließenden Gesang fragen wollen. Aber das ist dann nicht sinnvoll.
Herr Abgeordneter Hirsch, ich habe Sie sehr in Verdacht, daß dieser Versprecher nicht zufällig war.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Penner.
Herr Kollege Stavenhagen, sind die Platten oder ein Teil derselben verkauft worden, und an wen ist ggf. der Erlös geflossen?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Verkauft worden sind die Platten nicht, sondern sie werden diesen angeschriebenen Stellen zur Verfügung gestellt. Weitere Bestände sind für die Informationsstände des Bundespresseamtes, für die Informationsbusse in Berlin, für die Ständige Vertretung in Ost-Berlin sowie für das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vorgesehen. Von Verkauf ist mir also nichts bekannt.
Frau Weyel, eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Haben die Stellen, denen diese Platten zur Verfügung gestellt wurden, diese vielleicht ihrerseits verkauft,
möglicherweise um die Wahlkampfkassen etwas aufzufrischen?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Frau Kollegin, nach meinen Kenntnissen nicht. Aber da Sie so gezielt fragen, werde ich auch dieser Frage noch einmal nachgehen und Ihnen das schriftlich entweder bestätigen oder Ihnen eine andere Antwort geben.
Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Jungmann auf:
Trifft es zu, daß je 5 000 dieser Schallplatten und Kassetten anläßlich des Auftritts von Bundeskanzler Kohl auf einer Wahlkampfveranstaltung der „Demokratischen Allianz" am 20. Februar 1990 in Erfurt verteilt wurden, und, wenn ja, wer hat sie dorthin transportiert bzw. kommt für die Transportkosten auf?
Bitte schön, Herr Staatsminister.,
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege Jungmann, am 20. Februar sind in Erfurt 8 000 Schallplatten und einzelne Tonbandkassetten verteilt worden. Die CDU hatte auf Grund des Angebots, dieses Informationsmaterial im Rahmen von Kontakten zu Stellen und Organisationen in der DDR zu verwenden, um 8 000 Platten für die CDU-Bezirksstelle Erfurt gebeten. Wie bei Anforderungen dieser Größenordnung üblich, wurde das Auslieferungslager der Firma Bertelsmann gebeten, die Lieferung direkt mit dem Empfänger zu regeln. Soweit bekannt, wurde mit dem Transport ein Spediteur beauftragt, dessen Kosten die CDU zu tragen hat.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jungmann.
Herr Staatsminister, Sie haben vorhin auf die Frage der Kollegin Weyel geantwortet, Ihnen sei nicht bekannt, ob Schallplatten verkauft worden seien. Es war aber z. B. im „Rheinischen Merkur",
— ferner in der „Frankfurter Rundschau", in der „Süddeutschen Zeitung" und in anderen Zeitungen, ich glaube, auch im „Express", nachzulesen, daß die Schallplatten dort für bis zu 5 Mark verkauft worden seien und der Abteilungsleiter im Presseamt Herr Bergsdorf auf eine dementsprechende Frage gesagt habe, daß dies natürlich nicht beabsichtigt gewesen sei; aber man könne nichts daran ändern, wenn die Schallplatten in der DDR verkauft würden.
Billigt das die Bundesregierung, oder werden Sie in Zukunft bei Weitergabe von Informationsmaterial an DDR-Bürger darauf achten, daß die Institutionen, die das Material weitergeben, kein Geschäft damit machen? Denn das ist ein Verstoß gegen § 63 der Bundeshaushaltsordnung. Bei jedem Titel steht genau, was damit gemacht werden darf. Und hier steht, daß das kostenlos abzugeben ist.
15472 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März. 1990
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe der Frau Kollegin Weyel eine schriftliche Beantwortung zugesagt. Wenn sich das bestätigen sollte — in den mir vorliegenden Pressemeldungen ist das nicht der Fall —,
würde man dem am besten dadurch Rechnung tragen, daß man einen Aufdruck auf dem jeweiligen Dokument anbrächte, daß es sich um ein unentgeltliches Exemplar handelt. Und wenn man es unentgeltlich bekommen kann, wird sicher niemand bereit sein, dafür Geld zu bezahlen.
Herr Jungmann, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da mir persönlich bekannt ist und ich gesehen habe, daß an Informationsständen verschiedener Gruppierungen in der DDR Material der Bundesregierung, für das Mittel im Nachtragshaushalt und in anderen Haushalten steheng verteilt wird: Teilen Sie mit mir die Auffassung, daß dies angesichts dessen, daß bekanntlich am 18. März in der DDR Wahlen sind, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter dem Vorsitzenden Kohl 1977 ein Verfassungsgerichtsurteil erkämpft hat, das die Einflußnahme von Regierungen vor Wahlen drastisch einschränkt und daß wir unsere Verfassung möglichst auf das Gebiet der DDR ausdehnen wollen, zumindest im ideellen Sinne, wenn nicht im materiellen Sinne ein Verstoß gegen das Verfassungsgerichtsurteil sein kann?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, Ihre Einschätzung teile ich nicht; dieses Urteil ist hier nicht einschlägig. Vielmehr ist es nach dem Urteil vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag geboten, daß sich alle Verfassungsorgane verpflichten, den Anspruch auf die Einheit im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten. Diese Pflicht erfüllt die Bundesregierung auch mit diesem Mittel der Öffentlichkeitsarbeit.
Herr Amling, die nächste Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatsminister, gestatten Sie mir, daß ich die Frage 22 des Kollegen Jungmann aufgreife und noch eine andere Frage stelle: Können Sie mir sagen, welche Bundesministerien und obersten Bundesbehörden an welche Parteien und Gruppierungen in der DDR Sachspenden oder sonstige Zuwendungen gewährt haben, und welche Kosten sind dabei für den Steuerzahler angefallen?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, weil ich den Zusammenhang mit der Frage 22 im Moment nur mit Mühe feststellen kann. Aber ich werde Ihnen die Frage gern schriftlich beantworten.
Aber, Herr Staatsminister, diese Mühe konnte man sich vorher machen, wenn man dieses Parlament kennt.
Die Frage ist zugelassen.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Präsident, daß bei einer konkreten Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit nach sämtlichen Aufwendungen sämtlicher Ministerien für Aktivitäten in der DDR gefragt wird, war in der Tat nicht vorherzusehen. Aber, wie gesagt, ich beantworte die Frage gern schriftlich.
Herr Dr. Hirsch ist der nächste, der eine Frage stellen möchte.
Herr Staatsminister, da in der Tat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung, die der Kollege Jungmann hier angeführt hat, ausdrücklich verboten und es für verfassungswidrig erklärt hat, daß mit öffentlichen Mitteln hergestellte Erzeugnisse dieser Art in einem oder im Zusammenhang mit einem Wahlkampf von einer Partei verwendet werden, und da Sie sich hier zu meiner Überraschung auf den Grundlagenvertrag berufen haben, frage ich Sie: Sind Sie denn der Meinung, daß die Bundesregierung durch den Grundlagenvertrag das Recht erhalten hat, sich von innerstaatlichem Verfassungsrecht zu befreien, und sind Sie der Meinung, daß diese Befreiung dann nicht nur für die Bundesregierung, sondern für alle Parteien gilt?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege Hirsch, ich habe darauf hingewiesen, daß nach dem Grundlagenvertrag die Aufgabe, den Anspruch auf Einheit wachzuhalten und nach außen zu vertreten,
ein Gebot ist. Ich habe darüber hinaus darauf hingewiesen, daß das Urteil nicht einschlägig ist, denn wenn ich es richtig sehe, haben wir im Moment weder Bundestagswahlen noch Landtagswahlen, die im Urteil ausdrücklich angesprochen sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Emmerlich, bitte schön.
Herr Staatsminister, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz öffentlicher Mittel im Wahlkampf jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland zu beachten sind und daß von daher der Vertrieb dieser komischen Schallplatten und Kas-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15473
Dr. Emmerlichsetten in der Bundesrepublik Deutschland verboten ist?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, wenn Sie sich die Leitsätze des Urteils anschauen, dann sehen Sie, daß dort von Wahlkampf und von Werbung für die Bundesregierung und davon die Rede ist, daß die Bundesregierung von bestimmten Parteien getragen wird.
Es ist auch davon die Rede, daß diese Parteien zur Wiederwahl empfohlen werden. Hier aber geht es um historische Dokumente,
um Tonträger, auch um historische Bilder, die überhaupt nichts mit Werbung zu tun haben. Ich halte es für gut und richtig, daß wir die einem breiten Publikum zugänglich machen.
Herr Kollege Emmerlich, ich muß also denn doch eine Bemerkung machen: Komisch sind die Platten nicht; sie haben eine bestimmte Farbe.
Frau Seuster hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie ausschließen, daß in den Ministerien der Bundesregierung Wahlkampfmaterial gedruckt wird, das für die „Allianz" in der DDR vorgesehen ist?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Frau Kollegin, die Bundesregierung druckt in ihren Ministerien keine Werbematerialien.
Von daher kann ich das ausschließen.
— Ja, sicher.
— Herr Kollege, man muß einen Unterschied zwischen dem legitimen, berechtigten und durch dieses Urteil auch bestätigten Informationsbedürfnis und der Informationsmöglichkeit, die die Bundesregierung hat, und Wahlwerbung machen. Das sind zwei Paar Stiefel; das muß ich hier einmal wirklich deutlich sagen.
Herr Schmidt hat die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, Sie haben die Verteilung dieser Schallplatten und Kassetten jetzt mehrfach mit dem Hinweis auf den Grundlagenvertrag und das Wachhalten des Gedankens der deutschen Einheit begründet.
Könnten Sie sich vorstellen, daß bei dieser pauschalen Art der Verteilung auch genau das Gegenteil dessen eintritt, was Sie erreichen wollen, weil viele Menschen von den Reden des Kanzlers vielleicht abgeschreckt werden?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, erstens kann ich mir nicht vorstellen, daß irgend jemand von diesen historischen Reden des Bundeskanzlers abgeschreckt wird.
Zweitens ist die Nachfrage der angeschriebenen Stellen so, daß die dafür vorgesehene Teilauflage vergriffen ist. Dies spricht ebenfalls gegen Ihre These.
Drittens ist die Nachfrage auf den Informationsständen des Bundespresseamtes und in den Informationsbussen des Bundespresseamtes rege.
Augenblick! — Frau Weyel hat die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, darf ich Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Hirsch entnehmen, daß Sie der Meinung sind, daß Auftritte der CDU(West) für die CDU(Ost) keine Wahlwerbung sind,
und darf ich Sie so verstehen, daß Sie der Meinung sind, daß das von Ihnen als historisch bezeichnete Dokument nicht der Werbung für die CDU dient?Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Frau Kollegin, die dort enthaltenen Tondokumente sind, wie ich bereits ausführte, nicht Wahlauftritte, sondern erstens die Rede des Bundeskanzlers hier im Plenum zum ZehnPunkte-Programm, zweitens die Ansprache vor der Frauenkirche in Dresden — ebenfalls ein historisches Dokument
— Herr Kollege, Sie wissen, daß das falsch ist. Der Bundeskanzler war damals in seiner Eigenschaft als Bundeskanzler in Dresden und ist dort mit dem Ministerpräsidenten Modrow zusammengetroffen — , drittens die Ansprache bei der Öffnung des Brandenburger Tores — sicher ein historisches Ereignis, eine hi-
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15474 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Staatsminister Dr. Stavenhagenstorische Rede. Er war auch am 22. Dezember 1989 als Regierungschef in Berlin. All dies sind also keine Wahlkampfreden des Parteivorsitzenden, sondern wichtige Reden des Regierungschefs.
Herr Waltemathe ist der nächste Fragesteller.
Herr Staatsminister, da erstens im Nachtragshaushalt weitere 150 000 DM für ähnliche Zwecke vorgesehen sind und da Sie sich zweitens auf die historischen Reden berufen, muß ich davon ausgehen, daß Sie entweder eine weitere Erhöhung der Auflage planen oder daß Sie wegen der historischen Reden und wegen des Grundlagenvertrages nunmehr beabsichtigen, die historischen Reden desjenigen zu verbreiten, der den Grundlagenvertrag abgeschlossen hat, nämlich des Altbundeskanzlers Brandt.
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, Sie verstehen, daß die Bundesregierung und daß das Bundespresseamt dem jeweils amtierenden Regierungschef
und der Regierung die Möglichkeit gibt, ihre Politik auf dem Informationswege darzustellen. Seinerzeit, als Bundeskanzler Brandt im Amt war, hat er diese Gelegenheit auch sehr intensiv genutzt. Das hat ja gerade dazu geführt, daß wir uns seinerzeit um dieses Urteil bemüht haben.
Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs, weil die Frage 23 des Abgeordneten Stiegler schriftlich beantwortet werden soll. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Wie viele Personendatensätze deutscher Staatsangehöriger sind in den Dateien des Bundesamtes für Verfassungsschutz erfaßt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, wegen des Sachzusammenhangs bitte ich, die Fragen 24 und 25 zusammen beantworten zu dürfen.
Sind Sie einverstanden, Herr Hirsch?
Ja.
Ich rufe dann noch die Frage 25 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Was steht der Veröffentlichung solcher Gesamtdaten entgegen, zumal der DDR-Ministerrat sogar für den inzwischen aufgelösten Staatssicherheitsdienst der DDR mitgeteilt hat, daß dieser von insgesamt 16 Millionen DDR-Bürgern 6 Millionen in seinen Akten und Dateien erfaßt hatte?
Bitte schön.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung bleibt dabei, daß es, wie im Jahr 1989 in den Antworten auf die Frage des Abgeordneten Lüder auf Bundestagsdrucksache 11/4951, auf die Kleine Anfrage der GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache 11/4996 und auf die Große Anfrage der GRÜNEN zur Tätigkeit des Verfassungsschutzes auf Bundestagsdrucksache 11/5982 zum Ausdruck gebracht, mit dem Belangen eines Nachrichtendienstes nicht vereinbar ist, die — im übrigen seit Jahren rückläufige — Zahl der Speicherungen personenbezogener Daten öffentlich darzulegen.
Zu Ihrem Hinweis auf die Mitteilungen über die Zahl der von den DDR-Staatssicherheitsbehörden erfaßten DDR-Bürger sei mir die Bemerkung gestattet, daß das MfS eine Behörde zur Unterdrückung von Meinungsvielfalt, Bürgerrechten und freier Entfaltung der Person war, eine Einrichtung also, die sich nach Gutdünken angebliche Staatsfeinde schuf und somit einen würdigen Nachfolger der 1945 abgeschafften Gestapo darstellte.
Wenn es hier zu ersten Offenlegungen gekommen sein sollte, war es dringend an der Zeit. Hieraus Forderungen für die Preisgabe der Arbeitsunterlagen unserer Behörden abzuleiten halte ich nicht für angebracht.
Herr Dr. Hirsch, die erste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich nicht an Stelle der stereotypen Wiederholung, es liege im Geheimhaltungsinteresse, im Interesse des Verfassungsschutzes selber einmal der Mühe unterziehen, uns etwas näher darzulegen, warum es gegen Interessen und gegen welche Interessen es verstößt, wenn Sie die Zahl der insgesamt in den Dateien gespeicherten Personen veröffentlichen, wobei Sie ja sogar, wie Sie darstellen, den ungewöhnlichen Vorteil hätten, der Öffentlichkeit mitzuteilen, daß die Zahl sich verringert?Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, ich muß dann doch noch einmal auf die erwähnten Antworten Bezug nehmen. In der Antwort auf Ihre Frage habe ich es an sich schon getan. Ich möchte mich auf die bisher erfolgten Antworten beziehen, die sich nicht nur auf, wie Sie sagen, Geheimhaltungsgründe zurückziehen. Vielmehr wurde in der Antwort des Staatssekretärs Kroppenstedt vom 5. Juli 1989 an den Kollegen Lüder zum Ausdruck gebracht, daß eine Veröffentlichung der Gesamtzahl ohne Kommentierung oder Differenzierung wenig aussagekräftig wäre und der Öffentlichkeit ein falsches Bild von der Speicherpraxis des Verfassungsschutzes vermitteln könnte. Zum Beispiel sind die Daten von rund 50 % der vom Bundesamt für Verfassungsschutz er-
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Parl. Staatssekretär Sprangerfaßten Personen auf Grund von Sicherheitsüberprüfungen gespeichert.Ich wiederhole die Bereitschaft der Bundesregierung, die von Ihnen gewünschten Zahlen in den zur Kontrolle der Nachrichtendienste eingerichteten parlamentarischen Gremien zu nennen und vor allem zu erläutern.
Die zweite Zusatzfrage, Herr Hirsch.
Herr Staatssekretär, wäre es, wenn Sie sagen, die Zahlen könnten nur kommentiert weitergegeben werden, dann nicht möglich, daß Sie diese Zahlen kommentiert veröffentlichen? Ich bin ja ganz damit einverstanden, daß Sie sagen: Es sind soundso viele im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen und soundso viele Millionen im Rahmen von anderen Überprüfungen gespeichert. Nichts steht dem entgegen. Was haben Sie dagegen, das zu tun?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, ich habe versucht, die Gründe der Bundesregierung ausführlich zu erläutern. Ich bitte, mir abzunehmen, daß ich nicht in der Lage bin, über die bisherigen Festlegungen der Bundesregierung hinaus Zahlen zu nennen.
Die dritte Frage, Herr Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, Sie haben bisher entgegen Ihrer Antwort leider keine Begründung gegeben, sondern Sie haben nur stereotyp wiederholt, daß der Veröffentlichung irgendwelche Interessen, die Sie nicht weiter definieren, entgegenstünden. Sie haben gleichzeitig gesagt, Sie könnten das gern in den parlamentarischen Gremien tun.
Wären Sie denn bereit, diese Zahlen dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages mitzuteilen, der selbstverständlich unter dem entsprechenden Geheimhaltungsgrad tagen könnte, damit dieser die Informationen — so aufgegliedert, wie immer Sie wollen — entgegennehmen kann?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe meine Meinung, welche Gremien für diese Unterrichtung zuständig sein könnten, zum Ausdruck gebracht. Ich bin aber gern bereit, erneut Ihre Bitte oder Ihre Anregung, das auch in anderen Gremien eventuell in dieser oder jener Form noch näher zu erläutern, prüfen zu lassen.
Letzte Frage, Herr Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, kann ich nach Ihren bisherigen Antworten davon ausgehen, daß in der Vergangenheit — vielleicht im letzten oder vorletzten Jahr — die Daten von mehr als 1,5 Millionen Personen gespeichert waren?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Davon können Sie nicht ausgehen.
Herr Such ist der nächste Frager.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, daß die Personendaten einem besonderen
Schutz unterliegen. Da stimme ich mit Ihnen sicherlich überein. Können Sie mir sagen, welche Daten in diesen Personendatensätzen besonders geschützt sind? Können Sie mir sagen, warum die Anzahl geschützt sein soll und warum man nicht bereit sein kann, die Menge der Daten bekanntzugeben?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die gesamte Aufgabe des Verfassungsschutzes und auch das Sammeln irgendwelcher Daten richtet sich streng nach den gesetzlichen Voraussetzungen. Der Datenschutzbeauftragte und die von mir erwähnten zuständigen Gremien kontrollieren auch diese Art der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden. Es ist deswegen weder möglich noch notwendig, vor diesem Gremium hier im Detail weitere Eingrenzungen vorzunehmen.
Herr Dr. Emmerlich, Sie wollen auch eine Zusatzfrage stellen. Bitte.
Herr Staatssekretär, nachdem nunmehr für jedermann völlig klar ist, daß nicht danach gefragt ist, wessen Daten gespeichert sind, sondern von wieviel Personen insgesamt Daten gespeichert sind, frage ich Sie: Nach welchen Kriterien entscheidet die Bundesregierung, ob sie dem Parlament einen Sachverhalt mitteilen will oder nicht?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung entscheidet hier immer auf der Basis der Rechtsgrundlage. Was die Gremien anbelangt, die zuständig sind, zu fragen und Antworten zu erhalten, so entscheiden die Gremien selbst. Herr Dr. Emmerlich, Sie wissen als Fachmann auf diesem Gebiet sehr gut: Das geschieht auch entsprechend den jeweiligen Anforderungen und Wünschen der Mitglieder dieser Gremien.
Sie können noch eine zweite Frage stellen, Herr Emmerlich. Bitte.
Herr Staatssekretär, ich will nicht bezweifeln, daß sich die Bundesregierung bemüht, nach Recht und Gesetz zu entscheiden. Können Sie mir denn die gesetzliche Vorschrift nennen, auf die Sie sich stützen, wenn Sie sagen, hier sei ein Sachverhalt gegeben, der es uns entgegen unserem eigentlich vorhandenen Wollen zur vollständigen Unterrichtung des Bundestags unmöglich macht, diese Unterrichtung des Bundestags vorzunehmen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann hier die Antworten wiederholen, die ich Herrn Dr. Hirsch bereits gegeben habe. Die Gründe, die für ein derartiges Vorgehen sprechen, liegen auch in der Aufgabe der Behörde, effizient und rechtsstaatsgemäß zu arbeiten. Das ist die Basis der gesamten Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden. Sie kennen die entsprechenden Gesetze.
In diesem Rahmen ist die begrenzte Auskunftsbereitschaft der Bundesregierung nicht nur zu vertreten, sondern berechtigt.
Frau Dr. Segall, bitte schön.
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Entschuldigen Sie, ich bin nicht ganz so gesetzessicher wie Sie. Vielleicht könnten Sie mir helfen und mir die Gesetze genau nennen, in denen das geschrieben steht.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich würde ganz generell sagen: § 3 des Verfassungsschutzgesetzes legt den Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes eindeutig fest. Es gibt dann noch eine Reihe von Dienstanweisungen und Verwaltungsanordnungen, die die Arbeit im Detail regeln.
— Dort steht eindeutig die Aufgabe des Verfassungsschutzes.
Ich rufe nun Frage 26 des Abgeordneten Dr. Emmerlich auf:
Trifft es zu, daß der Versicherungsdetektiv Mauss in den mit ihm vom Bundeskriminalamt getroffenen Vereinbarungen als vertraglicher nichtbeamteter Mitarbeiter des BKA bezeichnet und vom BKA und anderen Polizeibehörden als solcher zu Zwecken der Strafverfolgung eingesetzt worden ist?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, der Versicherungsdetektiv Mauss ist zwar ausweislich der damaligen Vereinbarungen mit dem BKA als vertraglicher nichtbeamteter Mitarbeiter des BKA bezeichnet worden. Mauss war jedoch für das BKA lediglich in der Funktion eines V-Mannes tätig. Das ist Ihnen mehrfach, zuletzt in der Fragestunde am 14. Februar dieses Jahres, mitgeteilt und auch näher erläutert worden.
Zusatzfrage, Herr Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, nicht Sie, sondern Herr Staatssekretär Waffenschmidt hat auf meine Frage in der Fragestunde am 6. Dezember des letzten Jahres, ob Mauss ein Mitarbeiter des BKA gewesen sei, geantwortet — ich darf eben einmal nachsehen, damit ich nichts Falsches sage — , daß der Terminus freier Mitarbeiter ein ungewöhnlicher Ausdruck für die Sicherheitsbehörden sei. Stimmen Sie mir zu, daß diese Antwort auf meine Frage angesichts des Wortlauts des Vertrags zwischen Mauss und dem BKA, den Sie eben genannt haben, mindestens irreführend war?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich hätte gern gewußt, wo der Ausdruck „freier Mitarbeiter" enthalten ist.
Mitarbeiter ist doch der Kern der Aussage dieses Vertrages.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, in dem Vertrag — er ist Ihnen zugänglich gemacht worden — steht etwas von dem vertraglichen nichtbeamteten Mitarbeiter, und dieser entspricht im Aufgabenbereich und in seiner Einsatzart dem V-Mann, wie ich es Ihnen schon wiederholt vorgetragen habe.
Sie haben eine zweite Zusatzfrage, Herr Emmerlich.
In dem Ergänzungsvertrag vom 23. Dezember 1976 heißt es: „Exekutiv- oder Weisungsbefugnisse im polizeilichen Bereich stehen dem Ehepaar Mauss nicht zu. " Ist diese Vertragsergänzung darauf zurückzuführen, daß sich das Ehepaar Mauss vorher derartige Exekutiv- und Weisungsbefugnisse herausgenommen hatte?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe keinen Anlaß, dies anzunehmen. Ich habe auch keinen Anlaß, anzunehmen, daß sich Herr Mauss hier außerhalb der Definition des Vertrauensmannes bewegt hat. Die Definition ist Ihnen im Schreiben vom 12. Februar 1990 als eine auch auf Ländervereinbarungen beruhende Definition übermittelt worden.
Herr Dr. Hirsch, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist denn das Bundeskriminalamt darüber informiert und vielleicht sogar damit einverstanden gewesen, daß der Privatmann Mauss zusammen mit Polizeibehörden eines Bundeslandes nicht nur bei Strafermittlungen tätig geworden ist, sondern zusammen mit ihnen auch die Brandstiftung in einem Möbelunternehmen vorbereitet hat?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich bin jetzt nicht informiert, welches Bundesland Sie meinen. Ich kann vermuten, daß es Niedersachsen ist.
Ich habe hier wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß das BKA über die Beziehungen des Herrn Mauss zu irgendwelchen Niedersächsischen Behörden im einzelnen nicht informiert war bzw. daß hier keine Verantwortung des BKA über die Zusammenarbeit des Herrn Mauss mit anderen Länderbehörden konstruiert werden kann.
Herr Such, Sie sind der nächste Fragesteller.
Herr Staatssekretär, welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über das Vorgehen des Versicherungsdetektives Mauss in einem Entführungsfall im Mittleren Osten? Bestehen Zusammenhänge seines Einsatzes mit dem Bundeskriminalamt bzw. mit dem Bundesnachrichtendienst, und welche Erkenntnisse haben Sie — —
Herr Kollege Such, Sie müssen schon eine extra Frage daraus machen. Hier ist der Zusammenhang nicht herstellbar.Spranger, Parl. Staatssekretär: So ist es.
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Ich rufe dann die Frage 27 des Abgeordneten Dr. Emmerlich auf:
Hält die Bundesregierung gleichwohl an ihrer auf meine früheren Fragen geäußerten Auffassung fest, daß dem Versicherungsdetektiv Mauss gleichwohl nicht die Durchführung von Ermittlungstätigkeiten bei der Strafverfolgung übertragen worden ist?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, ich beantworte Ihre Frage mit Ja.
Zusatzfrage, Herr Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, ich habe nie danach gefragt, ob dieser Herr Mauss und seine Ehefrau sogenannte V-Leute gewesen sind. Ich habe stets die Frage gestellt, ob sie im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Ermittlungstätigkeiten ausgeführt haben. Wollen Sie bestreiten, daß sowohl in Verfahren des Bundeskriminalamts als auch in anderen Verfahren das Ehepaar Mauss Ermittlungstätigkeiten ausgeführt hat, und wollen Sie bestreiten, daß es zu solchen Ermittlungstätigkeiten auf Grund der Verträge mit dem BKA sogar verpflichtet war?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, ich kann nur bei meinen bisherigen Antworten bleiben, und diese lauteten eindeutig, daß nicht die Durchführung von Ermittlungstätigkeiten bei der Strafverfolgung übertragen worden ist.
Sie hatten am 15. Februar, glaube ich, auch Gelegenheit, beim Bundeskriminalamt über die von der Bundesregierung in einer Reihe von Fragestunden schon gegebenen Informationen hinaus nachzufragen. Wenn Sie Anlaß haben anzunehmen, daß die bisherigen Antworten der Bundesregierung unzutreffend seien, dann bin ich für entsprechende Informationen sehr dankbar.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Emmerlich.
In der von mir bereits eben zitierten Vertragsergänzung vom 23. Dezember 1976 heißt es wortwörtlich, daß das Ehepaar Mauss auch befugt sei zur Herbeischaffung von Beweismitteln. — Es wird statt des Wortes „Herbeischaffung" der Begriff „Ankauf" verwendet. — Wollen Sie, Herr Staatssekretär, bestreiten, daß die Herbeischaffung von Beweismitteln in einem Strafverfahren eine Ermittlungstätigkeit ist, die ausschließlich der Polizei zusteht?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann jetzt nicht bestätigen, ob das, was Sie zitieren, Inhalt dieses Vertrages ist. Ich kann nur wiederholen, daß die Bundesregierung nach allen Überprüfungen und auch nach sorgfältigen Recherchen bei der wiederholt gegebenen Auskunft bleibt.
Herr Dr. Hirsch zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da ich Sie vielleicht nicht richtig verstanden habe und Ihnen die Gelegenheit geben möchte, sich zu berichtigen, frage ich Sie, ob Sie hier verbindlich für die Bundesregierung erklären wollen, daß dem Bundeskriminalamt von einer Zusammenarbeit zwischen dem Detektiv Mauss und den Polizeibeamten eines Landes bei Strafverfolgungsmaßnahmen nichts bekannt war.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe hier wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung keinen Anlaß sieht, die Tätigkeit des Untersuchungausschusses in Niedersachsen zu dieser Frage noch in irgendeiner Form zu wiederholen oder aufzugreifen. In diesem Zusammenhang ist auch meine Antwort zu verstehen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde, denn die Frage 28 des Abgeordneten Wüppesahl und die Frage 29 des Abgeordneten Jäger sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe nun den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf: Aktuelle Stunde
Orkane, Sturmfluten und die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem obengenannten Thema verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Dr. Knabe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Orkane, Sturmfluten und die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung — das steht auf dem Programm. Die Stürme der letzten Woche haben mit unvorstellbarer Gewalt Schneisen in unsere Wälder geschlagen, Dächer abgedeckt, Sturmfluten gegen die Küste rollen lassen. Sylt meldet zehn Meter Landverlust, die Versicherungen melden Milliardenschäden, und viele Menschen wurden unmittelbar betroffen. In meinem Turnverein Bredeney können die Übungsstunden nicht mehr stattfinden, weil die Turnhallendecke beschädigt ist. In Mülheim/Ruhr kommt ein Freund zu mir und sagt, ein Baum sei mitten auf sein Auto gefallen, und er zeigt die zerbeulte Ruine und fragt: Wieso?
Die Antwort ist einfach, wenn auch noch nicht hundertprozentig abgesichert. Der Treibhauseffekt hat die tropischen Meere so erwärmt, daß fast 20 % mehr Wasser verdunstet und die gewaltigen Wasserdampfmassen auch in die nördlichen Breiten verfrachtet werden. Die bei der Verdunstung verbrauchte Energie wird beim Ausregnen wieder frei. Als Folge davon haben sich die Druckunterschiede zwischen Islandtief und Azorenhoch verstärkt, sind die Höhenwinde um etwa 30 % stärker geworden.Der Bonner Klimatologe Hermann Hohn schätzt, daß dieser feuchte Treibhauseffekt den trockenen Treibhauseffekt um das Vierfache verstärkt hat. Dabei müssen wir mit einer starken Verzögerung rechnen; denn das Klima hinkt nach. Deshalb sind noch stärkere Stürme zu erwarten.
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15478 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Dr. KnabeHeute morgen war viel von der Respektierung einer Grenze zu hören, der Oder-Neiße-Grenze zu Polen. Das ist wichtig für die Sicherung des Friedens. Aber wir Deutschen haben wie andere Industrieländer auch eine andere Grenze überschritten, die Grenze der Belastbarkeit der Erdatmosphäre.
Wir alle haben unseren unsichtbaren gasförmigen Unrat in sie hineingeblasen, weil wir die Grenzen des Wachstums nicht erkannt und nicht beherzigt haben. 50 To aller klimaschädlichen Gase sind in den letzten 30 Jahren hinzugekommen, und zwar von den Menschen.Hier hat auch die Bundesregierung ihre Teilaufgabe nicht gelöst. Sie hat ganz konkret versagt. Sie denkt über Wärmedämmprogramme, über die Förderung der Fernwärme nicht einmal nach und wehrt sich vehement gegen jede Begrenzung von Auto- und Flugverkehr. Sonntagsfahrverbote, Tempolimits erscheinen völlig außerhalb jeder Betrachtung. Der Preis wird nicht als Waffe für die Energieeinsparung und Verkehrsvermeidung eingesetzt, ja nicht einmal der Antrag der GRÜNEN gegen den Sommersmog wurde akzeptiert, obwohl die Maßnahmen nicht nur die Menschen, sondern auch das Klima entlastet hätten. Die Koalition hat noch vor wenigen Wochen ein Sofortverbot der FCKW abgeschmettert — auch Herr Baum von der FDP —, so wie sie sich gestern im Umweltausschuß weigerte, den Zielkatalog der Schwerlastverkehrsabgabe um das Stichwort Umweltbelastung zu erweitern.Wollen Sie denn warten, bis noch stärkere Stürme auch das Bonner Wasserwerk hier oben abdecken?
Sollen Hagelschauer aus tropenähnlichen Gewittern die Ernten zerschlagen? Sind 30 Millionen, 40 Millionen Festmeter Schadholz in den Wäldern in vier Wochen nicht genug? Wollen Sie warten, bis Millionen von Klimaflüchtlingen hier vor der Tür stehen?Die Lage ist ernst. Wir fordern Handeln, rasches Handeln von Regierung und Parlament, und zwar nicht nur wir GRÜNEN, sondern ganz viele Menschen hier im Lande. Da bin ich mir sehr sicher. Die Lösung des Klimaproblems duldet keinen weiteren Aufschub.Wir brauchen ein Programm zur Einsparung von Energie und rechtliche Rahmenbedingungen für eine umweltverträgliche Energieversorgung. Stichworte: Bundestarifordnung Elektrizität und Energiewirtschaftsgesetz. Wir brauchen umfassende Maßnahmen zur Förderung und Weiterentwicklung erneuerbarer Energien, insbesondere der Sonnenenergie. Es ist höchste Zeit für den ökologischen Umbau des Verkehrswesens. Wir brauchen höhere Preise für den Automobil- und Flugverkehr und eine Erleichterung des Bahnverkehrs, des öffentlichen Nahverkehrs. Der Ausbau von Bundesfernstraßen muß aufhören.Die Chemieindustrie muß ökologisch umgebaut werden. Wir brauchen sofort einen Ausstieg aus denFCKW und müssen mittelfristig auch die Chlorchemie einstellen, die so viele andere Belastungen von Böden und Wasser verursacht.
Wir fordern eine massive Umschichtung von Mitteln aus dem Militäretat in den Umweltetat.
Nur ökologische Sicherheit kann heute noch die höchste Priorität besitzen.
Vor dem Hintergrund des Treibhauseffekts ist militärische Rüstung noch anachronistischer, als dies ohnehin der Fall ist. — Meine Redezeit ist abgelaufen. Lassen Sie mich noch einen letzten Satz anfügen.Die Beziehungen zwischen Nord und Süd müssen neu geordnet werden; denn wir können es uns nicht leisten, daß die reichen Länder im Norden den Löwenanteil aller Weltressourcen verschlingen, während die Armut im Süden maßgeblich zur Zerstörung der Umwelt beiträgt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mir graust gleichermaßen vor Übertreibern wie vor Verharmlosern, um das gleich einmal zu sagen, weil Sie Antworten gefordert haben.Ich will versuchen, auch vor dem Hintergrund der Enquete-Kommission etwas zu diesem Problem zu sagen. Es ist richtig, daß sich die extremen Wettererscheinungen der vergangenen Wochen, die schweren Orkane sowie die diversen Sturmfluten, die fast 200 Menschenleben forderten, riesige Waldflächen verwüstet haben und kaum kalkulierbare finanzielle Schäden verursachten, nahtlos in eine Serie von Klimaanomalien der vergangenen Jahre einreihen.
So ist dieser Winter, ebenso wie die beiden vorangegangenen, erheblich zu mild. Seit mehr als einem halben Jahr ist das Wetter in Europa fast durchweg übernormal warm und brach viele der bestehenden Temperaturrekorde. Beispielsweise erreichte die Temperatur in Karlsruhe noch Ende Oktober ganze 27 Grad, Mitte Dezember wurden in Freiburg und München sogar noch 22 Grad gemessen. Auch die vor zwei Wochen am Rhein registrierten Temperaturen von 17 Grad Celsius dürften neue Rekordmarken darstellen.Ich will auch für die bayerischen Kollegen darauf hinweisen, daß die Temperaturen in mittleren Lagen der Alpen im Winter in den letzten Jahren um ca. 4 Grad zugenommen haben. Hinzu kommen die Folgen von fünf schweren Orkanen, die innerhalb weniger Wochen durch Europa jagten und große Verwüstungen hinterließen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15479
SchmidbauerNatürlich setzt hier das Nachdenken ein. Es ist auch gut, wenn wir über diese Wetter- und Klimaanomalien nachdenken und sie uns beunruhigen.Besonders beruhigend — das ist für mich wichtig — ist, daß auch globale Veränderungen in der Atmosphäre beobachtet werden. Hierzu wurde eine Studie von Herrn Professor Flohn zitiert. Ich meine, es wäre gut, wenn viele Modellierer, wenn viele, die sagen, daß wir warten müssen, bis wir Ergebnisse haben, wenn viele, die nur von ganz geringen Prozentsätzen und von großer Verharmlosung sprechen — es gibt aus jüngster Zeit Bücher, die einen zum Nachdenken bringen — , Studien von Forschern und Wissenschaftlern, die sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt haben, lesen würden.
Aerologische Messungen aus tropischen Breiten zeigen eine Zunahme des Wasserdampfgehalts der Atmosphäre um bis zu 20 %, gekoppelt mit einer Erwärmung um über ein Grad Celsius im Mittel der mittleren Höhen der Troposphäre, insbesondere über den schon bisher wärmsten Meeresgebieten z. B. östlich und westlich von Indonesien. Im Zusammenhang hiermit stiegen die Wassertemperaturen, die Differenz zwischen Wasser- und Lufttemperatur wurde größer, die Windgeschwindigkeit — das ist ein ganz wichtiger Faktor; es wird mehr Energie abgegeben — sowie die Meeresverdunstung stiegen an. Von besonderer Bedeutung ist die Zunahme der hoch reichenden tropischen Konvektion, die offenbar die Vergrößerung der Ozeanfläche mit Wassertemperaturen über 27,5 Grad Celsius ausgelöst hat.Die unmittelbare Konsequenz der Zunahme des Wasserdampfgehaltes ist nicht nur die beobachtete Verstärkung der Zirkulation in höheren Breiten. Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang eine Häufung der Intensivierung aller mit Niederschlag gekoppelten extremen Wetterereignisse, seien es Zyklone, Hurrikane, Sturmtiefs oder Starkregen und Hagel.Wenn wir hier ein Resümee ziehen wollen, so sind die hier von mir beschriebenen globalen Vorgänge nach meiner Bewertung und auch nach der Bewertung der Mehrheit der Enquete-Kommission — ich kann hier nicht für jeden die Hand ins Feuer legen — mit hoher Wahrscheinlichkeit als indirekte Folgen des Treibhauseffektes zu interpretieren.Ob die häufiger auftretenden extremen Wettersituationen in unserem Lande in Zusammenhang mit den Klimaänderungen stehen, läßt sich nicht beweisen, aber auch nicht ausschließen. Ich habe es so formuliert, daß wir, wenn wir die Dinge mit offenen Augen beobachten, registrieren müssen, daß wir eine Verdichtung der Hinweisketten, aber keine Beweise haben. Dies sollte einmal klar gesagt werden. Doch gerade wegen dieser Möglichkeit und den gravierenden Auswirkungen einer Klimaänderung muß gehandelt werden.Nun wird gesagt, daß irgendjemand nichts tue, und es wird sehr konrekt die Bundesregierung genannt. Verehrte Kollegen der Opposition, wer hat eigentlich, sogar gemeinsam mit Ihnen, die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" eingerichtet?
Wer hat eigentlich ein enormes Forschungsprogramm aufgelegt, parallel zu den Arbeiten der Enquete-Kommission? Eines ist richtig: Ich will Ihnen nur sagen, daß schon die Maßnahme, die wir realisieren, nämlich Verbot von FCKW, aus unserer Sicht die Schwierigkeiten zu 50 % mindern wird.
— Ich bin fertig, Herr Präsident. Ich bin zwar mit dem Thema überhaupt nicht fertig; aber ich will Ihnen sagen: Hier wird wieder einmal bewiesen, daß sich Aktuelle Stunden für solch schwierige Themen überhaupt nicht eignen, und das gilt auch für mich. Trotzdem war ich sehr dankbar, daß im Hinblick auf die Wettersituation diese Thematik hier heute kurz andiskutiert werden kann.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sicher, was die beiden Vorredner eben deutlich gemacht haben und was ich bestätige, wird am Ende dieser Debatte heute Bestand haben. Wir sind uns — jedenfalls im Grundsatz — in der Bestandsaufnahme einig. Sie lautet: Der Mensch dreht am Thermostat der Natur!
Es wird wärmer — das steht schon heute fest — , die Orkane und Sturmwinde der jüngsten Zeit — darauf hat als erster mein Kollege Müller hingewiesen — sind in der Tat Vorboten einer globalen Klimakatastrophe, die, wenn sie denn eintritt — wenn wir so weitermachen wie bisher, tritt sie ein — , zu den am besten prognostizierten Menetekeln der Geschichte gehören werden. Unsere Nachfahren werden uns, wenn wir denn so weitermachen, ob unserer Untätigkeit angesichts dieser Gefahren verfluchen.
Wir müssen deshalb das größte Experiment, das Menschen jemals mit der Natur gewagt haben, schnellstens beenden.
Ich frage: Haben wir die Kraft dazu? Sind wir bereit, unsere — auch unsere in der Bundesrepublik gegebene — Art zu produzieren und zu konsumieren grundlegend zu ändern? Sind wir auch in der Bundesrepublik bereit, radikal umzusteuern? Sind wir bereit, den Energieverbrauch in den Industrieländern in den nächsten Jahren und Jahrzehnten um mindestens 50 % zu senken, wie dies die Klimaexperten der Konferenz von Toronto 1988 verlangt haben?Herr Kollege Schmidbauer, es tut mir leid, festhalten zu müssen: Die Bundesregierung ist es offensichtlich nicht. Statt dessen nutzt sie die deutsch-deutsche
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15480 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Schäfer
Entwicklung jetzt, die Bundesrepublik als die beste aller denkbaren Welten zu malen und den Eindruck zu erwecken, als ob wir in der Bundesrepublik eine Art Insel der ökologischen Glückseligkeit wären.Die Bundesrepublik hat beispielsweise die Energiepolitik an die Energieverkäufer abgetreten, an die Energiemultis, und sie überläßt sie ausschließlich den Marktmechanismen. Diese taugen aber, Kollege Schmidbauer, wie wir wissen, angesichts der niedrigen Energiepreise nicht, Energie zu sparen. Das heute herrschende ökonomische Handeln berücksichtigt nicht die externen ökologischen Kosten unseres Wirtschaftens, die beim Energieverbrauch auf jährlich 50 Milliarden DM allein für die Bundesrepublik geschätzt werden, wohlgemerkt: ohne mögliche Folgen, auch ökonomische Folgen einer Klimakatastrophe, die heute niemand auch nur annähernd quantifizieren kann.Noch immer wird bei uns in der Bundesrepublik überwiegend die Nutzung von Rohstoffen und Bodenschätzen der Umwelt und Natur als Nutzung freier Güter angesehen, nicht aber unter dem Aspekt ihrer Knappheit, ihrer Erschöpflichkeit und ihrer Klimagefahren betrieben. Noch immer ist es bei uns in der Bundesrepublik — auch in der Bundesrepublik — für Produktion und Konsum billiger, einen möglichst großen Teil der von ihnen verursachten Kosten auf die Allgemeinheit, auf die Natur, auf unsere Nachfahren abzuwälzen. Diese Art von Billigsein, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, kommt uns allen, vor allem den nach uns Kommenden, wenn wir es weiter so betreiben wie bisher, teuer zu stehen.
Diese Art von Billigkeit wird der Planet Erde auf Dauer nicht aushalten.Ist inzwischen jedermann klar, auch den Kollegen von der Regierungskoalition, soweit sie Umwelt- und Energiepolitik betreiben, daß wir einen neuen ökologischen Ordnungsrahmen für unsere Energieversorgungsstrukturen, nein, für unser gesamtes Wirtschaften überhaupt, brauchen?Es ist sonnenklar, daß wir massiv mit öffentlichen Mitteln das Energiesparen und die Markteinführung erneuerbarer Energieträger betreiben müssen. Es ist sonnenklar, daß wir ein Tempolimit im Verkehrsbereich brauchen. Es ist sonnenklar, daß wir genauso international verbindliche Absprachen zur Absenkung des Energieverbrauchs und damit zur Reduktion der Emissionen — Spurengase und vor allem Kohlendioxid — brauchen.Es nützt mir wenig, wenn ich jetzt sage, daß diese Maßnahmen seit Jahren in diesem Hause von uns Sozialdemokraten beantragt worden sind. Es nützt mir, wenn ich die Klimakatastrophe, die drohenden Gefahren sehe, auch wenig, wenn ich jetzt darauf hinweisen muß, daß die Bundesregierung das exakte Gegenteil von dem betreibt, was notwendig wäre. Beispielsweise laufen die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Energieeinsparen aus. Beispielsweise läuft das Fernwärmeprogramm aus. Beispielsweise geben Sie, Herr Riesenhuber — in der vorletzten Woche vorgestellt — , jetzt fünfmal mehr Forschungsmittel für Kernenergie aus, für eine risikoträchtige Energie, als für erneuerbare Energien.Meine Damen und Herren, ich wünschte mir, daß wir den Vorgeschmack oder die Vorboten dieser globalen Klimakatastrophe gemeinsam nützen, nicht nur in der Bestandsaufnahme eine Gemeinsamkeit herzustellen, sondern angesichts der Überlebensnotwendigkeit auch zu einer gemeinsamen handlungsorientierten Politik fähig zu werden. Leider fehlt der Regierungskoalition dazu die Kraft. Ihnen, Kollege Schmidtbauer, und einigen Ihrer Kollegen wünschte ich in Ihrer eigenen Fraktion mehr Durchsetzungsfähigkeit.Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich werde nach dem, was hier bisher so gesprochen worden ist, wahrscheinlich in den Geruch des Verharmlosers kommen. Als ein Mitglied der liberalen Partei bin ich allerdings auch gewohnt, häufig allein auf einsamen Posten zu stehen, wie heute wieder und auch in anderen Situationen. Insofern stört mich das nicht weiter.Ich frage mich wirklich nur, ob wir jede Wetteranomalie dazu benutzen sollten, eine Aktuelle Stunde zu machen. Ich habe Verwandtschaft z. B. in San Francisco drüben wohnen. Die beklagen sich im Augenblick bitterlich, wie eiskalt es dort ist. Pflanzen im Garten frieren ein.
In Florida ist die Zitrusernte erfroren.
Ich frage mich, ob das also auf gut deutsch heißt: Dem nordamerikanischen Kontinent steht eine Eiszeit bevor.
— Eben, liebe Frau Ganseforth, da haben Sie genau auf den Nagel getroffen: Sollen wir regionale Wetteranomalien als Warnzeichen oder als Kennzeichen oder Merkmale für eine grundsätzliche Klimaveränderung nehmen? Das ist genau der Punkt.
Ich meine, wenn wir hier schon mal eine solche Stunde haben, sollten wir sie vielleicht dazu benutzen, ein bißchen weiterzudenken, auch einmal rückwärtszugucken.
Wenn Sie sich einmal angucken, wie sich dieser Planet Erde entwickelt hat, welche Aufs und Abs er mit-
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Frau Dr. Segallgemacht hat, noch bevor es den Homo sapiens überhaupt gab — —
— Dürfte ich vielleicht jetzt mal reden? Ich glaube, ich habe im Moment das Podium hier.
Ich glaube, wir gehen in bezug auf diesen Planeten eigentlich von einem falschen Verständnis oder von einer falschen Zuversicht aus. Wir glauben, diese Erde ist so sicher, auf der wir sind. Sie ist ja schon nicht sicher in bezug auf Erdbeben, in bezug auf Vulkanausbrüche. Die Veränderungen, die wir früher einmal gehabt haben, sind, wie gesagt, so gewaltig, daß das, was wir jetzt im Rahmen der Enquete-Kommission beraten, relativ minimale Veränderungen betrifft. Gerade in den letzten Wochen sind neue Forschungsergebnisse gekommen, daß sich in der Eiszeit vor etwa zehntausend, fünfzehntausend Jahren innerhalb von vier Jahrzehnten die Temperaturen um fünf Grad geändert haben. Das sind Änderungen, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können.Auf der anderen Seite hat ein Hamburger Forschungsteam herausgefunden, daß die Ozeane, wenn sie sehr stark bewegt werden, eine ungeheure Aufnahmekapazität für CO2 haben, und sie stellen die Frage: Hat es eventuell Stürme gegeben, die die Eiszeit eingeläutet haben? Wir könnten noch ein bißchen weiter greifen. Es gab jemanden, der ein Buch geschrieben hat über „Mother Gaja" und der davon ausgeht, daß sich die Erde grundsätzlich immer selber zu helfen weiß. Wenn es zu warm wird, bringt sie lauter weiße Blümchen. Sie braucht nur die Albedo zu verändern — falls Sie wissen, was das ist. Sie wird einmal mehr helle Blumen bringen, und es wird kühler werden.Das sind die grundsätzlichen Theorien, die man eigentlich im Kopf haben sollte, wenn man über solche aktuellen Dinge spricht.
— Es ist nicht völlig falsch, sondern ich führe Ihnen nur vor, welche Veränderungen es bereits gegeben hat und welche Spekulationen ernst zu nehmende Wissenschaftler oder solche, die zumindest ernstgenommen werden möchten, auf den Tisch legen. In dieser Situation muß man doch einfach seinen eigenen gesunden Menschenverstand benutzen.
— Danke für das Kompliment.Ich sage: Wir haben im Umweltschutz das Prinzip der Vorsorge — ein Prinzip, das die Politiker eingeführt haben. Damit stimme ich überein. Darum haben wir die Enquete-Kommission eingesetzt.
— Zu spät? Wann sind Sie denn vorher mit Vorschlägen gekommen, statt hinterher zu schreien „Haltet den Dieb! "?
Frau Kollegin, lassen Sie sich nicht unterbrechen.
Den Streit können wir nachher weiterführen. Aber daß Sie so tun, als ob Umweltschutz jetzt erst erfunden worden wäre, das ist wirklich unmöglich.
Ich wäre dankbar, wenn wir dem Redner ein bißchen mehr Hilfe leisten könnten, so daß man ihn verstehen kann. Nicht jeder ist da in gleicher Position. Aber die Zuhörenden sind gegenüber dem Redner in der Mehrheit und müssen deshalb Rücksicht nehmen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, wir alle haben in den letzten Wochen und Monaten daran gedacht, daß die Orkane und Stürme der vergangenen Wochen Vorboten einer von Menschen verursachten Klimaveränderung sein könnten. Zwar ist kein konkreter Zusammenhang zwischen den außergewöhnlichen Wetterverhältnissen der letzten Zeit und dem zweifelsfreien Anstieg der Treibhausgasemissionen wissenschaftlich nachweisbar. Aber zur Bewertung der Situation läßt sich doch anführen, daß wir unstrittig eine Zunahme der Konzentration von Gasen wie CO2, FCKW, CH4 und N20 in der Atmosphäre haben und, damit verbunden, einen zusätzlichen Treibhauseffekt — natürlich weltweit. Die Zuhörer, die diese Diskussion hier verfolgen, müssen den Eindruck gewinnen, es wäre die Bundesregierung, die etwas versäumen würde, und es würde sich hier nicht um globale Probleme handeln, die die ganze Menschheit angehen.
Es ist eine große Gefahr für den Umweltschutz, daß wir diese Verengung aus parteipolitischer Konfrontation wählen und damit eher Verständnislosigkeit bei den Mitbürgern auslösen.
Wir haben im Laufe dieses Jahrhunderts eine Tendenz zu global höheren Luft- und Meerestemperaturen zu verzeichnen, und es gibt Indizien für eine verstärkte Temperaturerhöhung und Wasserverdunstung in den Tropen. Angesichts dieses Sachverhalts wäre es nicht zu verantworten, die Wettersituation nicht als warnenden Vorboten aufzufassen und auf eine Zufälligkeit der Ereignisse zu hoffen. Ich meine
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Parl. Staatssekretär Grünersogar, daß es eine Chance für unsere globale Politik sein kann, rechtzeitig auf solche Vorboten zu reagieren.
— Sicher, wenn noch Zeit ist. Niemand von uns weiß das, und niemand hat das so vorausgesehen. Deshalb ist auch kein Anlaß zu gegenseitigen Vorwürfen.Es ist im Lichte des Vorsorgeprinzips nur konsequent, wenn die Bundesregierung der Klimaschutzpolitik höchsten politischen Rang einräumt.
In der Erkenntnis, daß es sich um ein globales Problem handelt, das globale Maßnahmen erfordert, hat die Bundesregierung mit größtem Nachdruck die internationalen Klimaschutzaktivitäten unterstützt und vorangetrieben. So hat der Bundeskanzler bereits auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1988 in Ottawa die Erhaltung der Tropenwälder zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht. Auf dem Pariser Gipfel im Juli vergangenen Jahres hat sich der Bundeskanzler erneut und erfolgreich in diesem Sinne eingesetzt. Etwa ein Drittel des Pariser Gipfelkommuniqués ist dem Schutz des Tropenwaldes, der Verringerung der Schadstoffemissionen und anderen Umweltschutzthemen gewidmet.Die entscheidende Bedeutung der Tropenwälder wie der Wälder schlechthin als Senke für das wichtigste Treibhausgas CO2 ist hier noch einmal zu unterstreichen.Handlungsnotwendigkeit und Handlungsmöglichkeit besteht allerdings in allererster Linie für die Industrieländer. Sie sind gefordert! Denn die Industrieländer sind, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet — das ist die entscheidende Dimension für internationale Verhandlungen; nicht die absolute Menge wird das politisch entscheidende Kriterium für Verhandlungen sein, sondern der Pro-Kopf-Ausstoß —, mit weitem Abstand führend bei den von den Menschen verursachten klimarelevanten Emissionen.Die USA liegen mit ihren spezifischen CO2-Emissionen pro Einwohner und Jahr mit 20 t ganz vorne, nur noch übertroffen von der DDR mit 22,4 t. Die UdSSR hat Emissionen von 13,3 t, die Bundesrepublik Deutschland 11,7 t, Frankreich 7,0 t, während beispielsweise ein Land wie Brasilien, das für den Tropenwald so außerordentlich bedeutsam ist, nur 1,3 t aufweist und die Volksrepublik China 2,4 t an die Atmosphäre abgibt.Bundesminister Töpfer hat auf der großen Klimakonferenz im November 1989 in Noordwijk gefordert, die Industriestaaten sollten als ersten Schritt die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2000 nicht weiter erhöhen und bis zum Jahr 2005 um mindestens 20 % reduzieren. Er ist nachdrücklich dafür eingetreten, daß spätestens bei der UN-Konferenz „Umwelt und Entwicklung" 1992 nicht nur eine völkerrechtlich verbindliche Klimarahmenkonvention, sondern auch konkrete Durchführungsprotokolle insbesondere zu den Bereichen CO2 und Tropenwald unterzeichnet werden. — Es wird entscheidend darauf ankommen, ob es konkrete Durchführungskonventionen in diesem Bereich wirklich geben wird.Da es für CO2 keine Filter gibt, kommt es entscheidend darauf an, die Nutzung von Kohle, Mineralöl und Erdgas so wirkungsvoll wie irgend möglich zu gestalten. Wichtige Bausteine eines solchen CO2-Konzepts sind daher die Erhöhung des Wirkungsgrades von Kohlekraftwerken sowohl durch neue Technik als auch durch Kraft-Wärme-Kopplung, nicht nur national, sondern natürlich auch international.Einen weiteren Baustein bildet die Entwicklung und Nutzung von Energien, bei denen kein CO2 in die Umwelt gelangt, vor allem von erneuerbaren Energien.Wir halten eine Verringerung der CO2-Emissionen um 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005 für realisierbar. Dabei stützen wir uns auf die Untersuchungen für die Enquete-Kommission und auch auf eigene Überlegungen im Umweltministerium vor dem Hintergrund der vom Bundeskanzler geforderten Vorlage der Bundesregierung für ein eigenes CO2-Reduzierungskonzept der Bundesrepublik Deutschland, von dem ich hoffe, daß wir es bald vorlegen können, und was natürlich auch für internationale Verhandlungen wichtig ist. Denn wir müssen in unserem eigenen Bereich als ein hochtechnisiertes und reiches Land deutlich machen, was wir für möglich halten.Der Deutsche Bundestag hat bei den nicht nur für die Zerstörung der Ozonschicht verantwortlichen, sondern auch klimawirksamen Fluorchlorkohlenwasserstoffen klare Entscheidungen getroffen, die weltweit beispielgebend sein können. Wir verdanken diese klaren Entscheidungen nicht zuletzt der Arbeit der Enquete-Kommission. Das möchte ich hier ausdrücklich unterstreichen. Auch vieles, was innerhalb der Regierung in Bewegung gekommen ist, ist auf diese Arbeit der Enquete-Kommission zurückzuführen.Bis auf die medizinisch und technisch nicht ersetzbare Anwendung ist eine allgemeine Verbotsverordnung für FCKW auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestages in Vorbereitung, die eine endgültige Beendigung von Produktion und Verbrauch der FCKW bis 1995 sicherstellen soll.Mit diesem umfassenden und engen Zeitplan liegt die Bundesrepublik Deutschland weltweit an der Spitze. Ökonomische Lenkungsinstrumente in internationaler Abstimmung könnten einen entscheidenden Beitrag zur Reduktion der klimarelevanten Emissionen leisten. Rahmenbedingungen müssen international so verändert werden, daß eine rationelle Energieverwendung rascher und schneller wirtschaftlich gemacht wird, als das heute der Fall ist. Die Technologie ist vielfach vorhanden; aber die Rentabilität der Technologie fehlt.Nur so ist vorsorgender Klimaschutz, meine Damen und Herren, möglich. Heute haben wir sogar die Chance, dies ohne Wohlstandsverluste zu erreichen. Wir müssen Klimaschutz durch Veränderung der Rahmenbedingungen rentabel machen, damit Kreativität und technologischer Fortschritt in den Dienst des Umweltschutzes gestellt werden.
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Parl. Staatssekretär GrünerWer Marktwirtschaftler ist, weiß, welche Wachstumsquellen qualitativer Art aus Strukturveränderungen resultieren können. Wir werden für den Umweltschutz nur dann in Demokratien, die notwendigen Mehrheiten mobilisieren können, wenn wir den marktwirtschaftlichen Weg gehen und die Ordnungsvorschriften so verändern, daß Umweltschutz — in diesem Falle Klimaschutz — auch rentabel gemacht wird.Insofern, meine ich, ist auch der Umbruch in Osteuropa, die Hinwendung zu einem freiheitlichen, marktwirtschaftlichen System, eine große politische Chance für den Umweltschutz und für Gemeinsamkeit in dieser so wichtigen Frage der Vorsorge gegenüber Klimaveränderungen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
Ich darf ganz kurz antworten. Liebe Frau Segall, die Stürme, die hier geherrscht haben, waren keine kleine Sache. Mehr als ein ganzer Jahreseinschlag, fast 40 Millionen Kubikmeter Holz, liegen auf dem Boden.
Herr Staatssekretär Grüner, ich habe nicht gesagt — ich will das klarstellen — , die Bundesregierung habe die jetzigen Stürme verursacht. Aber sie hat zuwenig gegen die Ursachen der Klimaveränderung getan.
Bei dieser Aussage bleibe ich.
Aber ein Punkt ist mir noch so wichtig wie kein anderer: ökologische Sicherheit statt militärischer Sicherheit. Der Weltkirchenrat fordert bei der Christlichen Weltversammlung in Seoul Sicherheit für den Schutz der Natur und vor wirtschaftlicher Not an Stelle der bisherigen militärischen Sicherheit. Wenn man das richtig im Ohr hat und die ganzen Berichte liest — die Bundesregierung ist ja eine christliche und müßte das tun — , kann man dann verantworten, noch zig Milliarden DM für das Militär in jedem Jahr auszugeben, weil angeblich die Sicherheit der Bundesrepublik bedroht ist?
Die heutige ökologische Bedrohung kommt von innen; sie ist selbstgemacht. Unsere Lebensweise, zu der tausend kleine Bequemlichkeiten gehören, erweist sich als Sackgasse für die Sicherheit von Mensch und Umwelt. Das beginnt bei der freien Fahrt mit dem Automobil, gegen dessen treibhausrelevantes CO2 eben kein Katalysator etwas nützt, und es hört auf bei der schnellen Zwischenmahlzeit mit der Wegwerfpackung außen herum.
Diese bequemen Sackgassen aufzubrechen verstößt gegen kurzfristige Wirtschaftsinteressen und ist bei vielen unpopulär. Aber wir erwarten von einer Bundesregierung, die den Schaden vom Volke abzuwenden geschworen hat, konsequentes Handeln in allen klimarelevanten Bereichen.
Wenn schon der klimapolitische Sprecher der CDU/ CSU-Fraktion, Herr Schmidbauer, feststellt, daß jetzt einschneidende Maßnahmen erforderlich seien, dürfen sich seine Parteifreunde Kohl, Töpfer usw. nicht länger radikalen Schritten verschließen, und auch die FDP muß endlich über ihren wirtschaftsliberalen Schatten springen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man an die Opfer der Katastrophe denkt, wenn man daran denkt, welche Schäden die Katastrophe in den Wäldern verursacht hat, dann ist es schon angebracht, erneut nachzudenken und sich über die damit verbundenen Fragen Gedanken zu machen. Aber ich sage erneut, weil wir — da muß ich ganz deutlich denen widersprechen, die hier gesagt haben, es sei noch nichts getan worden — klarmachen müssen, daß über Jahre hinweg diese Probleme von uns nicht nur intensiv von der Forschungsseite her angegangen worden sind — ich denke, der zuständige Minister wird hier noch nachdrücklich sagen, was alles hierzu geleistet worden ist —, sondern daß wir auch weltweit Handlungen initiiert haben: Wir haben nicht zugewartet — ich sage das ganz deutlich — , bis wir Sicherheit haben, ob zwischen anthropogenen Veränderungen der Atmosphäre und der Klimakatastrophe Zusammenhänge bestehen. Wir haben uns sehr ausführlich damit auseinandergesetzt; wir haben mit Klimapaläontologen gesprochen. Frau Segall hat recht: Es hat in der Vergangenheit stärkere Veränderungen in kürzerer Zeit gegeben. Wir wissen das alles. Aber das war ja nicht Ihr Schlußsatz. Sie waren vorhin sehr voreilig, weil Sie das gesagt haben. Trotzdem haben wir unter Vorsorgeaspekten, obgleich die Sicherheit dieser Zusammenhänge nicht bewiesen ist, gehandelt.Jetzt muß ich Ihnen natürlich ein Wort ganz deutlich sagen: Von entscheidender Bedeutung ist, daß wir diesen weltweiten Katastrophen — ich denke an das Ozonloch, an die Klimaproblematik — genauso wie der Problematik der Zerstörung der tropischen Regenwälder natürlich nur beikommen können, wenn wir international und weltweit handeln.Ich will uns gar nicht entschuldigen, aber wenn wir lediglich daran denken würden, unsere Vorreiterrolle bei den 3,6 %, die wir über den Energiebereich beisteuern, anzusetzen, dann würden wir allein in Anbetracht des Zuwachses in anderen Ländern am Energieverbrauch das Problem ja nicht lösen können. Deshalb war es richtig, daß der Kanzler den einzig gangbaren Weg beschritten hat, nämlich dieses Problem zu einem Problem des Weltwirtschaftsgipfels zu machen, den Weltwirtschaftsgipfel zu überzeugen und gemeinsam mit dem Weltwirtschaftsgipfel hier entsprechende Maßnahmen einzuleiten, so daß wir überall in der Welt und nicht nur bei uns ansetzen können.Daß wir als Hochtechnologieland in einer besonderen Position sind, will ich gar nicht bestreiten. Auch der Satz, daß wir im Pro-Kopf-Verbrauch weltweit stark über dem Durchschnitt liegen, ist völlig richtig. Nur, der Punkt ist, wir müssen ganz einfach sagen:
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Dr. Lippold
Wir akzeptieren die Vorreiterrolle, erstens was das Energieeinsparen angeht. Als Hochtechnologieland sind wir besonders gefordert bei dem zweiten Punkt — Herr Staatssekretär Grüner hat es angesprochen —, nämlich bei der Verbesserung der Energieeffizienz. Ich sage auch ganz deutlich — das ist ja ein Punkt, den Sie immer wieder aufgreifen — : Wir tun natürlich etliches — mehr als alle anderen EG-Staaten zusammen — im Bereich der Erforschung der alternativen Energietechnologien, Solarenergie u. a. m. Wir tun hier mehr als alle anderen EG-Staaten zusammen. Das könnten Sie ruhig einmal positiv würdigen, statt immer nur mit kleinlicher Kritik zu hantieren.Ich sage noch einmal: Vorreiterrolle ja, aber Einbindung in ein internationales Konzept. Ich sage natürlich auch — Herr Kollege Schäfer, es ist sicherlich angebracht, einmal zuzuhören — , daß ich dann meine eigenen Interessen, die ich in einigen Bundesländern habe, mit überdenken muß. Ich kann die Rolle der Kohle dann nicht tabuisieren. Herr Schäfer, dann muß ich schon einmal über die Rolle der Kohle, insbesondere der Braunkohle nachdenken. Herr Schäfer, dann muß ich auch einmal mit den eigenen Ministerpräsidenten sprechen und fragen, wie sie dazu stehen.Ich anerkenne, daß der energiepolitische Sprecher der GRÜNEN mittlerweile wenigstens von der Forderung abgerückt ist, in Zukunft mehr Kohle zu verbrauchen, was rein wahlkampftaktisch für das Ruhrgebiet gedacht war. Aber so überzeugend klingt das ja immer noch nicht. Entsprechende Handlungen haben Sie diesen Vorankündigungen in Ihrem Programm noch nicht folgen lassen. Insofern wäre es auch ein Gebot Ihrer Glaubwürdigkeit, nicht nur zu reden, sondern auch entsprechend zu handeln.
Wir müssen auch ganz deutlich sagen — lesen Sie einmal den Appell von amerikanischen Wissenschaftlern an Präsident Bush —, daß die Rolle der Kernenergie neu zu überdenken ist. Sie wissen, daß das nicht einfach mit der linken Hand abgetan werden kann. Wer sich ernsthaft um eine Lösung der Probleme bemüht, muß alle Handlungskonzeptionen mit einbeziehen und darf im vorhinein keine ausschließen. Das tut die Bundesregierung. Sie handelt entschieden. Ich glaube, daß wir sowohl in der Klima-Kommission als auch im Umweltausschuß selbst einen ganz entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Dinge voranzutreiben, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in der EG und weltweit.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Professor Ganseforth.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Bei dem Thema, mit dem wir es hier zu tun haben, ist es sicher richtig, die Sache global zu betrachten. Aber es ist keine verengte Sicht der Dinge, wie Herr Grüner gesagt hat, wenn wir die Bundesregierung an das nationale, lokale Handeln erinnern. Die Erarbeitung internationaler Konventionen darf nicht dazu dienen, die national möglichen Schritte immer noch weiter hinauszuziehen.
Was wir augenblicklich als Klimaanomalien erleben, ist ja nur ein Vorgeschmack dessen, was wir den nachfolgenden Generationen und unseren Kindern hinterlassen und was denen blüht. Da hat Frau Segall ganz recht: Das ist alles noch ziemlich minimal.Um das zu ändern, sind nicht Korrekturen am wirtschaftlichen Fortschritt erforderlich, sondern ein ökologischer Umbau der Industriegesellschaft. Der Ausbau der Kernenergie ist sicher nicht der nötige Umbau, der die Lösung für die Probleme bringt. Nötig ist sofortiges Handeln. Die Betonung liegt auf „sofort" und „Handeln" ,
nicht auf Nachdenken oder Forschen. Auch Nachdenken und Forschen sind richtig und notwendig. Aber da, wo es möglich ist, muß gehandelt werden, und zwar sofort, z. B. bei dem Ausstieg aus der Produktion und Anwendung der FCKW.Die FCKW tragen mit rund 20 % zum Klimaproblem bzw. zum zusätzlichen Treibhauseffekt bei. Die Bundesrepublik ist mit einem erklecklichen Anteil, nämlich mit 10 bis 11 %, an der Weltproduktion beteiligt. Also könnten wir da sofort und schnell etwas machen, was auch etwas bringt.Wann begreift die Bundesregierung endlich, daß sie durch freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie diesen Ausstieg nicht schnell genug erreicht?
Wir haben nur Zeit verloren. Wenn Herr Grüner sagt, daß ein Gesetz in Vorbereitung ist, dann ist das zwei Jahre zu spät. Wir haben zwei Jahre verloren. Die Industrie versucht nach wie vor, diesen Ausstieg hinauszuzögern. Es ist skandalös, daß die FCKW-Produktion in der Bundesrepublik im letzten Jahr noch immer bei rund 100 000 t lag, wie ein Vertreter des VCI erklärt hat —
also kaum eine Reduktion, und wir reden und reden!Am 14. Februar dieses Jahres war in der „Frankfurter Rundschau" folgender Satz des Unternehmers Rudolf Miele zu lesen — ich zitiere — :Bliebe der genannte Verbotstermin bestehen,— da geht es um das Verbot der FCKW, das die Regierung nun endlich will —müßten die deutschen Hersteller von HaushaltsKältegeräten mit einem Umsatz von zwei Milliarden Mark und 10 000 Arbeitsplätzen ihre Produktion auf Dauer einstellen.Dieses Horrorgemälde wird uns immer wieder von der Industrie angeboten. Es ist nicht die Sorge der Bevölkerung, Herr Grüner, wie Sie meinen, sondern es ist die Sorge der Industrie, die zu hören ist, wenn wir endlich aus der FCKW-Produktion aussteigen wollen. Dabei ist das, was Herr Miele gesagt hat, nicht
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Frau GanseforthStand der Technik; denn wir wissen, daß es inzwischen FCWK-freie Ersatzprodukte gibt. Beispielsweise wird der Branchenführer Bosch-Siemens in diesem Sommer mit der Produktion FCKW-freier Kühl- und Gefriergeräte beginnen. Das hat er am 8. Februar mitgeteilt. Es geht also!Daß mir Herr Miele, weil ich das öffentlich gemacht habe, Rufschädigung und leichtfertiges Handeln vorwirft, ist geradezu eine Verkehrung der Tatsachen. Wie lange setzt die Bundesregierung auf freiwillige Vereinbarungen mit dieser Industrie? Auf welche Beweise wartet denn die Bundesregierung noch?Ich möchte — an dieser Stelle nicht zum erstenmal — die Verantwortung der Industriebetriebe ansprechen. Muß erst — jetzt komme ich wieder auf das Klima zurück — der Lange Eugen einem Orkan zum Opfer fallen, oder muß sich der Fahrdienst des Deutschen Bundestages Boote zulegen, bis die Regierung handelt? Ich meine: Nutzen wir die Zeichen der Zeit, und steigen wir aus der FCKW-Produktion aus, und tun wir das, was durch sofortiges Handeln möglich ist!Schönen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gab vorhin einen kleinen Dialog mit Frau Kollegin Schulte, die im Moment nicht bei uns sein kann. Sie sagte zu einem Redner, die Enquete-Kommission sei gut, aber sie sei zu spät gekommen. Es sei im Grunde eine Nachlässigkeit der Bundesregierung, daß Fragen nicht frühzeitig verstanden oder aufgegriffen worden seien.
— Das wird sich im Protokoll feststellen lassen.
Das erste ist, daß wir uns ja alle einig sind, daß die Arbeit der Enquete-Kommission von einem ganz außerordentlichen Wert ist. Daß sie in der Möglichkeit, quer über die Fraktionen und quer über die wissenschaftlichen Disziplinen hinweg Handlungsgrundlagen zu erarbeiten, eine ganz ausgezeichnete Arbeit unter ihrem Vorsitzenden, dem Kollegen Schmidbauer, geleistet hat, ist ebenfalls unbestritten.Ich möchte noch auf das Zweite hinweisen: Wenn ich jetzt einige Bemerkungen über die Forschung mache, dann nicht deshalb, Frau Kollegin Ganseforth, weil Forschung oder auch internationale Konventionen irgendwelche Handlungen verschieben dürfen, sondern weil Forschung notwendig ist, um rechtzeitig solide Handlungsgrundlagen zu schaffen.Da möchte ich auf 1979 zurückgehen. Professor Flohn ist in zwei Reden zitiert worden. 1979 war die Diskussion über die Frage des Treibhauseffektes eineDiskussion unter wenigen Experten. Damals hatte meine Fraktion den Professor Flohn eingeladen. Wir haben stundenlang mit ihm diskutiert. Herr Knabe, wir haben in einem anderen Kreis wenig später darüber diskutiert.
Es ist uns allen damals nicht möglich gewesen, dieses Thema in der öffentlichen Diskussion hochzukriegen. Das lief bei allen Diskussionen, die wir versucht haben, fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Ich bin sehr dankbar, daß die Wissenschaft dieses Thema zunehmend aufgegriffen hat. Das Gutachten der Deutschen Physikalischen Gesellschaft hat, ich glaube, 1986
einen wirklichen Durchbruch gebracht.Das, was wir an Klimaforschung in 1982 vorgefunden haben, war minimal. Wir haben in den Jahren seither die Ausgaben für Klimaforschung versiebenfacht. Wir haben damals ungefähr 14 Millionen DM im Jahr ausgegeben, bei einer breiten Abgrenzung. Wir geben 1990 106 Millionen DM dafür aus. Wir hatten damals wenige Institute. Institute sind neu gegründet worden, haben neue Aufgaben bekommen. Wir haben neue Geräte eingerichtet, am Max-PlanckInstitut in Hamburg einen neuen Cray für die Errechnung der Klimamodelle. Wir haben die interdisziplinäre Zusammenarbeit so aufgebaut, daß jetzt eine Grundlage zur Diskussion gegeben ist. Herr Grüner hat darauf hingewiesen, daß dort, wo die Möglichkeiten hinreichend konkret sind, die Bundesregierung gehandelt hat.
— Der Herr Grüner, habe ich gesagt. Ich sage das mit einem großen kollegialen Respekt vor einem sehr erfahrenen Kollegen, der die Sache schon seit vielen Jahren in unterschiedlichen Funktionen bearbeitet.
Was wir in dieser Zeit aufgebaut haben, ist ein Klimaforschungsprogramm, das international ein sehr erhebliches Gewicht hat. Wenn man in dem Bereich global change die Programme vergleicht — und die Amerikaner haben das gemacht — , dann dürften wir schätzungsweise 250 Millionen DM im Jahr für diesen Bereich aufwenden und haben damit nach den Amerikanern das weltweit zweitgrößte Programm.Ich halte es für richtig, das so aufzubauen. Ich halte es auch für richtig, daß wir die Programme zunehmend international verflechten.Der Herr Kollege Grüner hat darauf hingewiesen, daß und in welcher Weise der Herr Bundeskanzler das zu einem frühen Zeitpunkt zu einem Thema bei dem
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Bundesminister Dr. Riesenhuberdamaligen Weltwirtschaftsgipfel gemacht hat. Ich erinnere mich noch an die ironischen, teils hämischen Kommentare in der Presse, daß der Bundeskanzler ein so exotisches Thema auf den Tisch bringe. Es hat sich gezeigt, daß der Bundeskanzler für die Bundesrepublik Deutschland dieses Thema früher als andere zu einem Thema internationaler und gemeinsamer Verantwortung gemacht hat. Auch dies ist ein Zeichen dafür, daß die Bundesregierung rechtzeitig, früher als andere, prägend und führend dieses Thema in der internationalen Diskussion aufgegriffen hat.
Dies gilt für alle Techniken. Das geht hin bis in Techniken, die heute noch gar nicht diskutiert worden sind. Von den GRÜNEN, die die Frage hier eingebracht haben, ist gelegentlich kritisch über Weltraumtechnik gesprochen worden, auch, wofür ich mich sehr bedanke, positiv. Wenn wir hier darüber sprechen, so gehört in der bemannten Raumfahrt zu Columbus die polare Plattform. In der Sequenz der Satelliten ERS 1, ERS 2 für die Umweltbeobachtung, einschließlich amerikanischer Satelliten, werden wir die Chance haben, langfristig verläßliche Datenreihen für die Klimaforschung zu erhalten, die den Nutzern überhaupt erst weitere Forschungen ermöglichen.
— Natürlich. Ich sage nur eines: Die polare Plattform ist unbemannt. Aber sie ist ein Teil von Columbus. Deshalb muß man es sehr genau nehmen, wenn man das kritisch diskutiert.Meine sehr verehrten Damen und Herren, vom Kollegen Schäfer ist hier darauf hingewiesen worden, daß die Markteinführung der nichtnuklearen Energien bei uns nicht vorangehe. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß der Forschungsminister in seinem Haushalt ein Windenergieprogramm in der Größenordnung 100 MW hat, das auf 200 MW ausgebaut werden soll. Das ist weltweit eines der größten Programme, die es gibt. Wir gehen damit an die äußerste Grenze dessen, was man überhaupt nach ordnungspolitischem Verständnis tun kann.Herr Schäfer, Sie weisen darauf hin, der Forschungsminister gebe fünfmal soviel für Kernenergie aus wie für die Erforschung nichtnuklearer Energie. Die Zahl ist etwas überraschend: Wir geben 300 Millionen DM — ich glaube, es sind 294 Millionen DM — für die Erforschung nichtnuklearer Energien aus, wir geben für Projekte in der Kernenergie plus institutionelle Forschung um die 600 Millionen DM aus. Davon sind ungefähr 330 Millionen DM hier für Projekte. Das Verhältnis 5:1 ist ein Verhältnis, das Sie noch von 1982, von Ihrem letzten Haushalt, in Erinnerung haben. Da waren es nämlich 1,5 Milliarden DM allein in den Projekten der Kernenergie,
und ich spreche noch nicht von den institutionellen Aufwendungen.Es ist fraglich, ob das, was jetzt hier im einzelnen geschieht, schon Vorboten sind. Es gibt Wissenschaftler, die das bejahen, es gibt Wissenschaftler, die dies bezweifeln. Herr Schmidbauer hat dies sehr differenziert dargestellt. Aber es ist allgemeiner Konsens, daß die Zahl der Wissenschaftler in den letzten drei Jahren rapid gewachsen ist, die der Überzeugung sind, daß der Treibhauseffekt kommen wird.
Allerdings begreifen wir die Modelle noch nicht hinreichend. Gerade das, worauf Herr Knabe hingewiesen hat, das Azorenhoch, das Islandtief, entspricht eben genau nicht den Modellen. Deshalb müssen wir hier erst noch begreifen, was geschieht und was die Einwirkungen sind. Ich kann das hier in den letzten Minuten meiner Redezeit leider nicht mehr darlegen.
— Jetzt könnte ich es wirklich ausdifferenzieren, daß wir die Möglichkeiten und die Einflüsse der Wolken noch nicht hinreichend verstanden haben, der Stäube und der Aerosole. Die Modelle geben die tatsächlichen Entwicklungen nicht wieder, und daran arbeiten wir.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte die Strategie, die wir angelegt haben, für richtig. Wir versuchen erstens, ein starkes interdisziplinäres Klimaforschungsprogramm aufzubauen, wir versuchen zweitens, die neuen Techniken so schnell wie möglich in die Märkte zu bringen, und natürlich hat Klaus Lippold recht, wenn er darauf hinweist: Das Problem wird um so schwieriger, bis zur Unlösbarkeit, wenn wir eine der Problemlösungen, einschließlich der Kernenergie, a priori ausschalten würden.Aber daß wir das Thema gleichzeitig ergreifen, in nationaler Verantwortung und weltweit hier voranbringen, ist offenkundig. Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, stellen Sie fest: Wir haben gegenüber 1973 im vergangenen Jahr praktisch nicht mehr Energie verbraucht, und die CO2-Emissionen haben wir in dieser Zeit um 14 % reduziert. Es kann also geschehen. Nur müssen wir, wie wir es auch in der Vergangenheit getan haben, alle Möglichkeiten in einer weltweiten und gemeinsamen Verantwortung nützen, und dazu wird auch hier die Konferenz, die uns auf Einladung der Amerikaner im Vorfeld des Weltwirtschaftsgipfels zusammenführen wird, ihren wesentlichen Beitrag leisten. Nur von gemeinsamem verläßlichem Wissen können gemeinsame dauerhafte und verläßliche Strategien errichtet werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ausdrücklich die Auffassung von Herrn Schmidbauer unterstützen, daß es natürlich ein Problem ist, ein derart komplexes Thema im Rahmen einer Aktuellen Stunde abzuhandeln. Es ist ein Problem, derart komplexe Zusammenhänge in Fünf-Minuten-Beiträgen zu bringen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15487
Müller
— Ja, sicher, so wie sie rüberkommt. Das ist klar. Das ist das Problem unserer Mediengesellschaft, und das streitet niemand ab. Aber das ist ein Grundproblem, und insofern kann ich auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion nur appellieren — ich meine, daß ich da auch im Namen vieler anderer spreche — , daß wir über dieses Thema sehr viel intensiver sprechen müßten, meines Erachtens auch mit etwas mehr Kollegen hier im Hause, denn auch da ist meiner Erfahrung nach in vielen Bereichen leider noch ein relativ großes Nicht-Wissen vorhanden.
Herr Kollege Riesenhuber, ich glaube nicht, daß unser Grundproblem ist, daß wir einen ungeheuer hohen Forschungsbedarf haben. Ich streite die Notwendigkeit nicht ab, aber die Auseinandersetzung, die wir führen müssen, muß sehr viel tiefer gehen. Ich meine, wir stehen vor der Frage, ob wir nicht heute schon, um die Entwicklung der Menschheit nicht in einen Selbstvernichtungsfortschritt zu treiben, von unserem wachstumsorientierten mechanistischen Weltbild Abschied nehmen müssen. Das ist aus meiner Sicht die Grundfrage. Wenn wir die letzten 150 Jahre bewerten, so müssen wir feststellen, daß sich die industriellen Mechanismen im Verhältnis zur Natur wie folgt entwickelt haben.Erstens ist die Entwicklung von einer immer größeren Entgrenzung in der Nutzung von Raum und Zeit gekennzeichnet. Beispielsweise wird die Art, wie wir die Zeit nutzen, ein fundamentales Problem im Verhältnis des Menschen zur Natur. Wir verlieren mit der Art und Weise, wie wir produzieren und leben, jedes Verhältnis zum Rhythmus der Natur. Das ist ein großes Problem.Zweites Problem ist die Grenzenlosigkeit in der Produktion, insbesondere in der Produktion synthetischer Stoffe.Der dritte Punkt, den ich nennen möchte, ist die ungeheure Beschleunigung im Naturverbrauch. Ich weise nur darauf hin, daß es heute Studien gibt, die nachweisen, daß mehr als die Hälfte der Schädigungen, die wir heute an den globalen Ökosystemen feststellen, in den letzten 30 Jahren eingetreten sind — bezogen auf die letzten 300 Jahre. Das heißt: Wir haben eine unglaublich exponentielle Kurve. Und da sind politische Entscheidungen notwendig.Und wir haben als weiteres Problem — für mich vielleicht das dramatischste — : Wenn unser Lebens- und Wirtschaftsstil globalisiert wird — bei einem gleichzeitig nach wie vor hohen Bevölkerungswachstum — , dann wird das dazu führen, daß die Erde ökologisch kollabiert. Das wissen wir heute. Der Standard, den wir in den Industrieländern bei der Nutzung von Rohstoffen und Energie heute haben ist nicht verallgemeinerungsfähig.Insofern glaube ich, daß wir vor allem gefordert sind, politische Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen. Das heißt: Wir müssen trotz unseres Nichtwissens operieren. Ich glaube, das ist eigentlich die Herausforderung für uns: daß wir mit Nichtwissen über exakte Zusammenhänge handeln müssen, um die Zukunft zu sichern. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen. Ich persönlich habe zudem die Befürchtung, daß es eine Illusion ist, alle Naturprozesse wirklich exakt zu ermitteln. Wir werden sie meines Erachtens in vielen Bereichen nur nach Plausibilitätsmaßstäben ermitteln können. Um so mehr ist in erster Linie Politik gefordert.Ich will noch einige Anmerkungen machen. Die erste Anmerkung: Eine Verschiebung des Klimasystems verläuft nicht linear. Wir werden eine Vielzahl von Schwankungen nach oben wie nach unten erleben. Das heißt: Zu glauben, es gibt jetzt die Linearität, daß jedes Jahr mehr Stürme entstehen werden, ist falsch. Das ist nicht der Mechanismus der Natur.
— Nein, es wird nicht linear gehen, es wird in Schwankungen verlaufen. Insofern ist der langfristige Trend entscheidend, und der langfristige Trend spricht eine eindeutige Sprache in Richtung auf Klimaverschiebung.Zweitens. Mit unseren bisherigen Modellen behandeln wir in erster Linie Anreicherungen von Schadstoffen. Wir haben nur wenige Klimamodelle, die die Wechselprozesse — Kollege Schmidbauer hat das auch angesprochen — mitberücksichtigen. Was passiert beispielsweise, wenn die Wassertemperaturen und die Lufttemperaturen völlig unterschiedlich reagieren? Welche Wechselprozesse entstehen daraus? Wir wissen hiervon relativ wenig. Wir müssen also auch sehen, daß wir mit der Schadstoffanreicherung Labilisierungen des ökologischen Zustandes anstoßen, die dazu führen können, daß ökologische Systeme ganz plötzlich, völlig unvorhersehbar zusammenbrechen. Das haben wir übrigens beim Waldsterben ähnlich erlebt.Dritte Anmerkung: Wir können nicht den exakten Kausalbeweis einer Klimakatastrophe abwarten. Das Grundproblem ist: Wenn eine Klimakatastrophe eingetreten ist, ist sie unwiederbringlich und schädigt die Menschheit auf Dauer. Deshalb: Wir können nicht warten, bis der letzte exakte Beweis da ist. Denn der ist zwar nicht die Zerstörung der Natur, aber möglicherweise das Ende des Menschen. Insofern gilt es, nach Maßstäben der Plausibilität zu handeln. Es gilt, trotz Unwissen zu handeln, also zu handeln in Verantwortung.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherigen Diskussionsbeiträge haben gezeigt, daß es einen breiten Konsens gibt. Herr Kollege Knabe, ich sage ja manchmal, Sie — oder Ihre Kollegen von den GRÜNEN — haben wieder Ihre übliche Katastrophenrede gehalten.
— Moment! Bevor Sie schimpfen, warten Sie noch auf
den Nachsatz. Ich möchte Ihnen sagen: Diese Art von
Reden nehme ich bei diesem Thema ausgesprochen
Dr. Friedrich
ernst. Ich würde, bezogen auf die jetzige Situation, von einer drohenden Katastrophe oder von einer krisenhaften Erscheinung in unserer Industriegesellschaft reden. Wir stehen sozusagen an einer Kreuzung des Weges und müssen uns über eine Richtungsentscheidung unterhalten, die von existentieller Bedeutung ist.
Was das angeht, was die Kollegen über den Zusammenhang von Nicht-Winter, Böen in diesem Jahr und Klimaveränderung gesagt haben: Also, ich kann das in letzter Konsequenz persönlich nicht beurteilen, selbst wenn die Frau Kollegin Segall recht hatte, was ich fast nicht glaube. Einigen können wir uns aber wieder insoweit, als sie gesagt hat, die Hinweise reichen eigentlich auch ihr aus, um festzustellen: Es ist dringend geboten, Vorsorgepolitik zu betreiben.
Da ist wieder der Konsens vorhanden. Da kommt es dann auf die Analyse nicht so sehr an.
Ich will wenig von dem wiederholen, was Kollegen schon gesagt haben, und mich mit dem Teil des Problems befassen, bei dem es darum geht: Was müssen wir für die Zukunft tun?
Herr Kollege Schäfer, dazu haben Sie gesagt, Sie hoffen, daß sich der Kollege Schmidbauer mit einigem in seiner eigenen Fraktion durchsetzt.
Ich sage Ihnen zunächst, daß wir im Bereich FCKW keinerlei Notwendigkeit sehen, ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Frau Kollegin Ganseforth hat gesagt, wir hätten mit der Industrie nicht so lange verhandeln dürfen, sondern gleich Verordnungen machen müssen. Dann hat sie aber erwähnt, daß man erst Ersatzstoffe entwickeln muß. Wir sind mit der Verordnung ziemlich zu dem Zeitpunkt da, wo die Ersatzstoffe entwickelt sind. Zu dem Problem Klimagase würde ich sagen: Die punktuellen Entscheidungen, die wir getroffen haben, reichen nicht aus.
Ich sage nur etwas, was in der vorigen Woche eine Rolle gespielt hat. Beim Bundes-Immissionsschutzgesetz haben wir entschieden, daß auch Dritte Abwärme von bestimmten Anlagen nutzen müssen. Das müssen wir durchsetzen. Das ist eine punktuelle Entscheidung.
Der Bundeskanzler hat weitergehende Aufträge erteilt. Die nächste Koalitionsvereinbarung muß hierzu sehr viel enthalten.
Ich befasse mich jetzt mit der SPD und mit dem, was der Kollege Schäfer und die Kollegen aus dem Umweltausschuß vorschlagen. Herr Kollege Schäfer, ich kann ja schlecht Ihr Tempo sozusagen mit unserem Tempo vergleichen, weil Sie mit den Anträgen immer schneller sind als wir mit den Entscheidungen, die wir finanzieren müssen. Aber ich untersuche einmal, ob bei Ihnen überhaupt die Richtung stimmt. Dazu habe ich in zwei oder drei Punkten erhebliche Bedenken.
Ich hatte zunächst lange Zeit auch im Bundestag den Eindruck, daß die Opposition überzogene Hoffnungen weckt,
was die Möglichkeiten betrifft, regenerative Energien bald einzusetzen. Ich habe Aufsätze von Lafontaine gelesen. Der Mann ist da sehr realistisch und nüchtern. Er sagt nämlich: Wir brauchen für einen längeren Überbrückungszeitraum noch mehr Kohle. Wenn man genau liest, stellt sich heraus: Er will auch die momentanen Atomenergieanlagen durch Kohlekraftwerke ersetzen.
Das begrenzt natürlich die Möglichkeit, CO2 zu reduzieren, weil Sie da zwar durch die moderne WärmeKraft-Koppelung ein Einsparpotential haben, aber gleichzeitig einen Zuwachs haben, weil Sie aus diesem CO2-freien Energieträger aussteigen wollen. Das würde Ihr Einsparpotential begrenzen.
Noch weniger verstehe ich — ich spreche nur noch einen Punkt an; meine Redezeit geht leider zu Ende —, Herr Kollege Schäfer, daß Sie von Ihrem Kanzlerkandidaten in einem Punkt zurückgepfiffen werden, wo ich es nicht für verantwortlich halte.
Ich lese in einem Zeitungsausschnitt vom August 1989: SPD nimmt Kohle von der Ökosteuer aus. Herr Kollege Schäfer, wir sind uns alle einig, daß wir Energieeinsatz verteuern müssen.
Man kann ganz gut darüber streiten. Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob wir diese Verteuerung über höhere Energiesteuern oder über Schadstoffabgaben erreichen. Bloß, worüber man meines Erachtens nicht diskutieren dürfte, ist das, was Ihr Kollege und Kanzlerkandidat Lafontaine fordert, nämlich ausgerechnet einen CO2-intensiven Energieträger aus der Besteuerung herauszunehmen. Herr Kollege Schäfer, ich hoffe, daß Sie sich bei der endgültigen Fassung Ihres Wahlprogramms gegen den Kanzlerkandidaten Lafontaine durchsetzen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema heute ist nicht die Enquete-Kommission, Herr Minister Riesenhuber. Die leistet vorzügliche Arbeit. Das Thema ist das Handlungsfeld Politik. Und hier gibt es enorme Defizite.
Ich beabsichtige überhaupt nicht, hier ein Horrorgemälde zu zeichnen. Aber an die Adresse der großen Verharmloser, die es offenbar auch in diesem Hause gibt, muß ich doch folgendes sagen.
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Frau Dr. HartensteinErstens. Wenn eine Klimakatastrophe eintritt, dann wird dies nicht nur fürchterlich; es wird apokalyptisch. Die Orkane sind nur Vorboten davon.Zweitens. Wir können nicht auf den letzten Beweis warten, denn dann ist die Katastrophe bereits da. Dann sind wir handlungsunfähig.
Obwohl alle Welt dies inzwischen weiß, nimmt die Bundesregierung kaum Notiz davon. Sie hat kein Klimaschutzprogramm. Sie stellt sich immer noch taub, statt praktische Folgerungen zu ziehen.Da fordert die Enquete-Kommission, Herr Vorsitzender, einmütig, daß die Energieeinsparung oberstes Ziel sein müsse. Frau Bundesministerin Hasselfeld verkündet ein forciertes Wohnungsbauprogramm, das übrigens dringend notwendig ist, um die schlimmen Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen, wenn es geht. Aber wo bleibt die Maßgabe, daß diese 300 000 oder 400 000 Gebäude, die in den nächsten drei Jahren erstellt werden sollen, mit Wärmedämmmaßnahmen und Heizanlagen nach neuestem Stand der Technik ausgestattet werden müssen?
Es wäre doch auch keine schlechte Idee, ein zusätzliches Programm für Steuervergünstigungen anzubieten, die auch bei Aus- und Umbauten Anreize schaffen, um Energiesparmaßnahmen durchzuführen. Die Raumheizung verbraucht immerhin 37 % unserer gesamten Energie. Energiesparhäuser, die 50 bis 80 weniger Energie verbrauchen, sind die Bauformen der Zukunft. Das sollte man endlich zur Kenntnis nehmen.Beispiel zwei: Verkehrspolitik im Binnenmarkt. Die Prognosen sagen eine Steigerung des Flugverkehrs um 100 To voraus, eine Steigerung des Straßengüterverkehrs um 50 %. Das alles weiß die Bundesregierung. Sie hat aber keine Vorkehrungen getroffen, um durch ein leistungsfähigeres europäisches Schienenkonzept zu verhindern, daß eine weitere Klimaaufheizung durch Abgasemissionen aus dem Straßenverkehr entsteht.Konrad Lorenz sagt: Der Mensch ist unfähig, Warnungen zu erkennen, wenn er eine gegenteilige Programmierung hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange die verantwortliche Bundesregierung nicht den Mut hat, diese falsche Programmierung zu ändern, solange sie nicht den Mut hat, den Energieverbrauch zu verteuern, um einen ökologiefreundlichen Preismechanismus zu bewirken, solange sie nicht eine klare Kursänderung vollzieht, um wenigstens den Schwerlastfernverkehr von der Straße wegzubringen, bleibt das Gerede von der Umweltvorsorge und der globalen Verantwortung Schall und Rauch,
und die mühsame engagierte Arbeit der Vertreter aller Fraktionen in der Enquete-Kommission sowie der beteiligten Wissenschaftler bleibt vergeblich. Es muß rasch gehandelt werden, wenn noch eine Gefahrenabwehr möglich sein soll. Es muß auf allen Ebenen gehandelt werden. Und — das ist wichtig — : Die Um-kehr muß im Norden beginnen, nämlich bei den Industrieländern.
Das hat drei Gründe: weil wir nachweislich die Hauptverursacher der Klimaaufheizung sind, weil wir heute bereits über das technische Know-how und die finanziellen Mittel verfügen, um umweltfreundliche Produktionen zu realisieren, und weil das Verhalten der Industrieländer entscheidende Auswirkungen auf die Dritte Welt hat. Es ist nun einmal so, daß das westliche Industrialisierungsmodell zum Leitbild geworden ist, auch für die Dritte Welt.In der Dritten Welt wird sich nichts ändern, hat José Lutzenberger gesagt, wenn sich in den Industrieländern nichts ändert. Das heißt, nur wenn wir den Mut haben, eine neue Verkehrspolitik, eine neue Energiepolitik, eine neue Landwirtschaftspolitik aufzubauen, wird sich auch dort etwas ändern.Nehmen wir also Abschied von der Trägheit, verzichten wir auf seichte Ausweichmanöver. Das ist zu spät. Handlungsbedarf besteht jetzt. Die Hypothek, die wir aufgetürmt haben, ist heute schon schwer genug. Die Nachwirkungen treffen erst unsere Kinder und Kindeskinder. Wer heute nicht handelt, versündigt sich an der Nachwelt.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Carstensen .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir bitte, daß nach einer Diskussion, die ein sehr schweres Thema umfaßt hat, auch ich noch einmal in die Niederungen einer Diskussion in der Art einsteige, wie sie bei uns hinter den Deichen, bei denjenigen, die von Sturmfluten betroffen sind, vielleicht geführt wird.Lassen sich mich gleich am Anfang, lieber Herr Minister Stoltenberg — er ist im Moment gerade einmal draußen — ganz herzlich
— er weiß es — , für die Möglichkeiten danken, die uns die Bundeswehr bei der Katastrophenbekämpfung geboten hat.
— Lieber Herr Schäfer, für mich ist das wirklich ein ernstes Thema, wenn man hinter den Deichen wohnt und wenn man die Wassermassen vor dem Haus hat. Vielleicht sollten Sie das einmal erleben. Vielleicht wären Sie dann auch in der Lage, weniger den Kehlkopf als den Oberkopf zu benutzen. — Ich möchte mich bei den Soldaten ganz herzlich bedanken, die bei uns beim Küstenschutz und insbesondere bei der Katastrophenhilfe notwendig sind.Ich weiß nicht, ob die Stürme, wie das vorhin gesagt worden ist, Ausdruck einer — wie heißt das? — „Klimaanomalie" sind. Aber ich weiß, daß die Diskussion
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Carstensen
auch hier natürlich ein bißchen eigenartig geführt wird. Ich staune manchmal über einige Veröffentlichungen. Eine habe ich gerade vor mir. Sie ist von einem offensichtlich von manchen sehr anerkannten Wissenschaftler — so wird er wenigstens beschrieben — , der unter der Überschrift „Orkanserie eher Zufall" schreibt: „Nein, die Orkanserien und die hohen Wintertemperaturen wurden auch in den letzten 100 Jahren hin und wieder beobachtet." —
— Schönen Dank. Ich wartete auf diesen Zwischenruf. Es ist ein Zitat aus der „Zeitung am Sonntag" der SPD, die bei uns im Wahlkampf im Moment verteilt wird.
Der „anerkannte" Wissenschaftler ist der Umweltminister des Landes Schleswig-Holstein, der Berndt Heydemann heißt.Ich sehe, liebe Frau Kollegin Hartenstein, das Problem aber eher wie Sie, wenn es Sie beruhigt, aber ich sehe natürlich auch, daß die Schwierigkeiten, die in der Politik des Landes Schleswig-Holstein liegen— ich nenne den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie — natürlich etwas sind, was auch diskutiert werden muß.
— Die wollen schon, und sie sehen die Tatsache nicht, daß mit dem sofortigen Ausstieg, was Klima und die Atmosphäre angeht, einiges an Belastungen beigetragen wird.Ich habe gerade, Frau Garbe, Ihren Pressespiegel gelesen — ich hatte ihn eben gefunden, als ich Schriftführer war; ich bedanke mich bei der GRÜNEN-Fraktion noch einmal dafür — , in dem ein Interview aus der „taz" enthalten ist. Aber erzählen Sie in meinem Wahlkreis bloß nicht, was ich alles für fürchterliche Zeitschriften lese. Es geht um ein Interview mit Herrn Meyer-Abich, der unter der Überschrift „Ich halte den Sofortausstieg für unverantwortlich" seine Auffassung begründet hat. Ich glaube, hier muß in der Diskussion sicherlich noch einiges nicht in Blöcken, aber sauber und ordentlich aufgearbeitet werden, damit wir uns hier nicht in einer Parteipolitik verzetteln, die diesem Thema nicht angemessen ist.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß eines sagen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich weiß, daß bei uns die Sturmfluten steigen. Ich weiß, daß die Wasserstände bei uns in den letzten Jahrhunderten um 25 cm pro Jahrhundert und in den letzten 50 Jahren wohl schon um 30 cm gestiegen sind. Ich weiß, daß das eine Gefahr auch für die nordfriesische Küste, für die Dittmarscher Küste und für die ostfriesischen Küsten ist. Ich weiß auch, daß auf uns sicherlich einiges zukommt, wenn es darum geht, die Generalküstenschutzpläne, deren Gültigkeit demnächst abläuft, zu ergänzen und wieder auf den neuesten Stand zu bringen.Ich halte es für unsinnig, wenn Kollege Opel davon spricht, daß Küstenschutz eine nationale Aufgabe sei. Küstenschutz ist eine Aufgabe der Länder, die sie bisher auch phantastisch wahrgenommen haben. Ich wäre sehr dankbar, wenn das auch so bliebe. Es wäre eine Katastrophe, wenn der Küstenschutz in die Hände Bonns überginge. Ich kann mich zwar hier auf meine Regierung sehr verlassen, aber es muß vor Ort entschieden werden, wie Küstenschutz gemacht wird. Wir hier in Bonn müssen natürlich dafür sorgen, daß die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt werden. Ich bin froh, daß es die Übereinkunft zwischen den Parteien gibt, daß diejenigen, die die Erfordernisse im Küstenschutz erkennen, hier auch Unterstützung zusagen.Meine Damen und Herren, ich bin auch froh, liebe Frau Garbe, daß ich auf Nordstrand inzwischen hinter einem sicheren Deich wohne, dessen Verstärkung und Vordeichung insbesondere durch die GRÜNEN und viele Umweltverbände bekämpft worden ist. Wenn man die Stürme 1962, 1976 und in anderen Jahren erlebt hat und wenn man bei diesem Sturm erlebt hat, daß die Familie das Gefühl hat, hinter den Deichen etwas sicherer zu wohnen, dann ist man froh darüber, daß man seinerzeit diese Küstenschutzmaßnahmen gegen diesen erheblichen Widerstand durchgeführt hat.
Frau Dr. Segall ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe vorhin ein bißchen weiter ausgeholt, davon ausgehend, daß ich noch eine zweite Redemöglichkeit haben werde, so ähnlich wie Herr Knabe, wie das ja auch bei kleinen Fraktionen so üblich ist. Obwohl es hier inzwischen ein paar Unstimmigkeiten gegeben hat, nehme ich doch gern die Gelegenheit wahr, nochmals zu sprechen, um auf das Wesentliche zurückzukommen.Eines ist ganz sicherlich klar, nämlich daß von den Emissionen, wie wir sie ständig und immer mehr produzieren, ganz sicherlich Gefahren ausgehen. Dabei müssen wir uns über folgendes im klaren sein: Hier entsteht eine Summierung oder auch Potenzierung dadurch, daß ein Bevölkerungswachstum mit einem steigenden Lebensstandard zusammentrifft. Es sind also zwei Gründe. Es ist nicht nur ein sinnloses Verbrennen von fossilen Brennstoffen; auch der sich aus dem steigenden Bevölkerungswachstum ergebende Nahrungsmittelbedarf hat hier Folgen. Wir haben es nicht nur mit CO2-Emissionen zu tun, sondern wir haben es auch mit Methan-Emissionen, N2O-Emissionen zu tun. Beide sind eine Folge intensiver, verstärkter Landwirtschaft. Wir selbst sind auch Emittenten von allen möglichen Spurengasen. Insofern sollte man das Thema ein bißchen weiter fassen.Wenn man das dann zusammennimmt, dann allerdings ergibt sich eine Zeitbombe für das nächste Jahrhundert, die nicht von schlechten Eltern ist.Dazu möchte ich allerdings noch folgendes sagen: Wenn unser Planet Erde ein Felsbrocken wäre, wäre die Vorhersage relativ einfach. Dann könnte man sagen: Die Spurengashülle wird dichter, dann wird es wärmer; ergo passiert das und das. — Wir haben aber einen Planeten, der Wasserflächen hat, der eine Biomasse hat und bei dem wir nicht genau Bescheid dar-
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Frau Dr. Segallüber wissen, wie die Reaktionen, die Rückkopplungsmechanismen sind.Weil aber im Grunde damit zu rechnen ist, daß es dann, wenn der Spurengasgürtel dichter wird, wärmer wird, sollten wir etwas tun. In dem Sinne werden wir etwas tun.Wir haben die Maßnahmen im Hinblick auf die FCKW als einer Art der Spurengase bereits so in Angriff genommen, daß wir absehen können, wann es damit völlig vorbei ist. Die Enquete-Kommission wird die nötigen Vorschläge vorlegen, damit wir beim Energiesparen, beim Einsparen speziell fossiler Brennstoffe mit den nötigen Schritten weiterkommen. Dazu wird es sicherlich noch harte Debatten in der Enquete-Kommission geben; das denke ich nach den Debatten gestern und heute über Tropenwald und dergleichen. Ich glaube aber, daß wir doch Vorschläge machen können, die zumindest für Anfang des nächsten Jahrhunderts Reduktionsmöglichkeiten aufzeigen, die auch verkraftbar sind.Bevor diese Maßnahmen nun greifen, bin ich notfalls auch bereit, darüber zu debattieren, ob man die Menschheit über einen höheren Preis zum Energiesparen zwingt.
Insofern ist auch das kein Tabuthema für uns.Was die Waldschäden angeht, so bin ich gebeten worden, doch noch einmal zu fragen, ob sich nicht der Verteidigungsminister dazu entschließen könnte, beim Aufräumen nach den Waldschäden die Bundeswehr einzusetzen.
Ganz interessant fand ich, daß in Hessen versucht wird zu klären, ob nicht aus der DDR Arbeiter kommen können, die uns in den hessischen Wäldern helfen und die als Gegenleistung dann das Holz erhalten. Bei uns liegt das Holz herum. Auch hinter meiner Wohnung ist ein Viertel des Waldes weg, und dort muß dringend aufgeräumt werden. In der DDR fehlt das Holz. Wir sollten sehen, ob wir da zu irgendwelchen Kooperationsmöglichkeiten kommen. — Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Dr. Segall, es ist vielleicht ganz gut, wenn Sie zu dem letzten Thema nachlesen, was in der gestrigen Fragestunde gesagt worden ist. Dort hat es auch positive Antworten gegeben. — Ich beende die Aktuelle Stunde.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen jetzt noch eine Mitteilung machen. Der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Begleitgesetzes Auswärtiger Dienst auf Drucksache 11/6543 soll nicht, wie in der gestrigen Sitzung beschlossen, zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß, sondern an den Innenausschuß überwiesen werden. Ansonsten soll es bei den genannten Ausschußüberweisungen bleiben. Ich glaube, daß Sie damit einverstanden sind. — Das stelle ich fest. Damit ist die Überweisung so, also anders als gestern, beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Zwischenberichts des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksachen 11/50, 11/6141 —
Berichterstatter: Abgeordnete Bohl Gansel
Seiler-Albring
Eid
Meine Damen und Herren, die Vereinbarung im Ältestenrat lautet, daß für die Beratung zwei Stunden vorgesehen sind. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Beginnen soll Herr Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem wir uns soeben mit den Orkanschäden beschäftigen durften,
haben wir uns jetzt mit einer mehr als Flaute zu bezeichnenden politischen Angelegenheit zu befassen. Es geht um einen politisch arg abgenagten Knochen,
ein Relikt aus der Wahlkampfzeit 1986/87, die sogenannte U-Boot-Blaupausen-Affäre,
ein Uraltthema. Aber Sie nörgeln ja in dieser Weise ganz besonders, so daß wir uns nun damit befassen müssen.
Uns liegt heute der Zwischenbericht vor. Die Arbeit zweier Untersuchungsausschüsse zu diesem Thema hat folgendes ergeben:Erstens. Zwei Unternehmen haben Vorgespräche im Bereich der Bundesregierung geführt mit dem Ziel, U-Boot-Blaupausen nach Südafrika zu exportieren.Zweitens. Die Unternehmen haben keinen entsprechenden Antrag gestellt.
Drittens. Die Bundesregierung hat niemals die Genehmigung für solche U-Boot-Blaupausen-Lieferungen erteilt.
Viertens. Die Bundesregierung hat nach Kenntnis dieser Lieferungen die Einleitung eines Ermittlungs-
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Bohlverfahrens durch die dafür zuständige Oberfinanzdirektion Kiel veranlaßt.Fünftens. Die Oberfinanzdirektion hat entsprechend der Rechtslage das Verfahren in engem Zusammenwirken mit der Staatsanwaltschaft Kiel nach gründlicher Prüfung eingestellt.
Die Betonung dieses letzten Punktes ist besonders wichtig, weil die Opposition im Rahmen ihrer Kampagne der Staatsanwaltschaft immer wieder Untätigkeit vorgeworfen hat, was einfach nicht stimmt.
Die Staatsanwaltschaft war mit den Vorgängen beschäftigt. Sie hat nur von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, wie Sie es gern gewünscht hätten, abgesehen. Sie hat jetzt seit Dezember ermittelt, und sie wird uns als Untersuchungsausschuß sicherlich an ihren Erkenntnissen teilhaben lassen. Wir als Koalition haben schon einen entsprechenden Antrag im Ausschuß gestellt.
Im übrigen setzt ein solches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines ungenehmigten Exports gedanklich aber gerade voraus, daß keine Genehmigung erteilt wurde.
Insofern sind alle Oppositionsspekulationen bezüglich der Bundesregierung juristisch abwegige Hirngespinste.Der Zwischenbericht dokumentiert in eindrucksvoller Weise, welche Vielzahl von Beweismitteln der Untersuchungsausschuß hat ausschöpfen können. Dazu gehören z. B. 4 000 Blatt Behördenakten, aber auch rund 160 Dokumente aus dem Unternehmungsbereich. Der Untersuchungsausschuß hat rund 50 Stunden Anhörungen durchgeführt. Darüber hinaus standen dem Ausschuß Protokolle von Anhörungen aus der vergangenen Legislaturperiode zur Verfügung. Insgesamt 27 Personen sind durch diesen Untersuchungsausschuß gehört worden.Der rund 500 Seiten starke Zwischenbericht ist auch deshalb so eindrucksvoll, weil er beweist: Die Opposition sah sich auf Grund der bisherigen Arbeit sehr wohl in der Lage, den Sachverhalt darzustellen, die Fragen des Untersuchungsausschusses zu beantworten und vor allem den festgestellten Sachverhalt zu bewerten.Deshalb möchte ich an dieser Stelle dem Vorsitzenden unseres Untersuchungsausschusses, dem Kollegen Eylmann, aber vor allen Dingen auch dem Ausschußsekretariat ausdrücklich für die mühevolle Arbeit im Untersuchungsausschuß und die Erstellung des Zwischenberichtes namens meiner Fraktion herzlich Dank sagen.Meine Damen und Herren, zur Vermeidung von Mißverständnissen möchte ich aber schon jetzt darauf hinweisen, daß der von der Opposition zu verantwortende Teil des Zwischenberichtes nach meiner festen Überzeugung nicht seriös ist.
Das beginnt zum einen damit, daß Sie die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses zu einem erheblichen Teil nicht auswerten, sondern sich z. B. allein auf irgendwelche Zeitungsartikel stützen. Die Unseriosität der Oppositionsarbeit kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Darstellung des Sachverhalts tendenziös gleich mit Bewertungen relativiert wird. Sie garnieren Ihren Bericht ständig mit, wie ich finde, absurden Angriffen auf Beamte. Sie scheuen auch nicht davor zurück, Tatsachen Schlichtweg zu verdrehen. So behaupten Sie z. B. — das ist nur ein Punkt — auf Seite 71 rechts oben, erst am 9. Dezember 1986 habe die Oberfinanzdirektion Kiel förmlich ein Ermittlungsverfahren gegen HDW eröffnet. Sie wollen also damit den Eindruck erwecken, als habe es erst einer öffentlichen Diskussion bedurft, damit ein Verfahren eingeleitet wird. Tatsächlich erging der Beschluß aber schon am 4. November, also lange vor dem öffentlichen Bekanntwerden.Es gibt viele Beispiele, wo nach meiner Sicht der Dinge eine Manipulation des Sachverhalts vorgenommen wird.
Dazu gehört auch das Märchen, daß für die Ermittlungen seit 1985 nicht die Oberfinanzdirektion, sondern die Staatsanwaltschaft zuständig gewesen wäre.Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Ich will das an dieser Stelle nicht tun. Ich glaube aber, man sollte doch noch einmal mit Nachdruck darauf hinweisen, daß ein ganz entscheidender Punkt der hier von mir einmal angesprochen werden muß, ist, daß das Verhalten der Opposition in einem hohen Maße parlamentsschädlich und auch rechtsstaatsfeindlich war.
Es ist doch so: Weil der Opposition die Tatsachen nicht passen, führt sie einen beispiellosen Kampf gegen Verfahrensvorschriften. Sie scheut sich auch nicht, rechtsstaatliche Grundsätze in Frage zu stellen.Meine Damen und Herren, Sie beschimpfen die Oberfinanzdirektion. Sie beschimpfen die Staatsanwaltschaft. Sie beschimpfen die Koalition. Sie beschimpfen die Bundesregierung.
Sie tun dies alles nur, weil wir die von Ihnen erhobenen Vorwürfe zurückweisen und dafür gute Gründe anführen können.Alle diese Institutionen fühlen sich dem Rechtsstaat verpflichtet. Was machen Sie? Sie wollen Politik betreiben: Sie wollen kriminalisieren. Das ist der Punkt, auf den es hier ankommt. Sie wollen schlicht und einfach die Verfolgung aus politischen Motiven.
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BohlDas ist ein Skandal, der heute bei dieser Debatte einmal mit Nachdruck genannt werden muß.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht ohne Grund hat ein Staatsanwalt bei unseren Anhörungen darauf hingewiesen, daß es in der Bundesrepublik sehr wohl den Tatbestand der „Verfolgung Unschuldiger" gibt. Das ist eine Straftat. Deshalb geht es Ihnen zu einem Großteil schon nicht mehr um eine vernünftige Aufklärung, sondern um einen Wahlkampf auf relativ niedrigem Niveau.Der „Politisch-Parlamentarische Pressedienst" der SPD berichtete in seiner Ausgabe vom 9. Februar dieses Jahres über eine Äußerung des Verfassungsrechtlers Professor Meyer. Professor Meyer ist bekanntermaßen Ihr Rechtsvertreter. Er hat Herrn Lappas, die Neue Heimat und dergleichen vertreten. Nun berichtet dieser Herr Professor Meyer gemäß „ppp", daß Untersuchungsausschüsse einen außerordentlich billigen Wahlkampf garantierten. Meine Damen und Herren, genau das tun Sie doch. Sie wollen also nach dem Rezept von Herrn Professor Meyer die Arbeit des Untersuchungsausschusses für politische Zwecke, für billigen Wahlkampf benutzen. Das ist eine Sache, die wir nicht billigen können und wogegen wir uns ganz entschieden wehren.
Wenn Sie nun, meine Damen und Herren von der Opposition, weder auf unserer parlamentarischen Bühne noch in dem von der Justiz zu beachtenden Bereich den gewünschten Erfolg erzielen, bedienen Sie sich nun eines, wie ich finde, unseriösen Mittels. Sie mißbrauchen den berechtigten Kampf der Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedstaaten gegen das Unrechtsystem der Apartheid in Südafrika für Ihre Oppositionszwecke gegen die Bundesregierung.
Wird nicht vorsätzlich die Unwissenheit dieser Staaten über den tatsächlichen Sachverhalt ausgenutzt, um ihnen, diesen Staaten, Dinge vorzugaukeln, die sie betroffen machen müßten, wenn sie zuträfen? Was ist das eigentlich für eine Methode, solch eine Oppositionspolitik ins Ausland zu verlegen und insbesondere die afrikanischen Staaten in diese Kampagne mit einzuspannen?
Ich muß Ihnen sagen, ich halte das für sehr, sehr schäbig!Wenn mir auch manchmal der § 100a des Strafgesetzbuches durch den Kopf geht, so rufe ich doch nicht nach dem Staatsanwalt. Aber sollte es nicht eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages unwürdig sein, jahrelang im Ausland Wühlarbeit gegen die Bundesregierung dieses Staates zu betreiben? Führt man in der UNO eine Resolution herbei, um damit bei uns Oppositionspolitik zu betreiben?
Ich finde, das ist des Selbstverständnisses eines freigewählten Abgeordneten dieses Hauses wirklich nicht würdig.Weil die UN-Resolution vom 21. November 1989 in ihrem Wortlaut nicht so zustande gekommen ist, wie Sie es gern hätten, so bemüht man sich, durch Verfälschung dessen, was die UN-Vollversammlung tatsächlich beschlossen hat, den gewünschten Schaden herbeizureden. In dieser Resolution ist eben gerade das nicht verurteilt worden, was Sie öffentlich erklären, und Sie sagen nun, durch diese Resolution sei erheblicher Schaden für die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland eingetreten,
und Sie werden nicht müde, diese angebliche Störung zu propagieren. Nur wenn hier jemand stört, dann stören Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wer die UNO-Resolution gelesen hat, weiß, daß weder die Bundesrepublik Deutschland noch die Bundesregierung verurteilt worden sind. Beide sind in dieser Resolution nicht verurteilt worden, und ich vermag nicht zu erkennen, warum eine solche Resolution die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich beeinträchtigen sollte. Diese UNO-Resolution ist ein Stück Politik, dem rechtliche Würdigung nicht zukommt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Vorgeschichte gehört übrigens auch die Veranstaltung am 27. April 1989 hier in Bonn der World Campain against Military and Nuclear Collaboration with South Africa, wo ja Sie, Frau Eid und Herr Gansel, eingeladen waren.
Dort wurde bekanntlich beklagt, daß die Nachbarn Südafrikas in der U-Boot-Blaupausen-Affäre nicht genügend protestiert hätten — mangels Interesse —, und die GRÜNEN und die SPD wurden um Mithilfe gebeten.Ich will diesem traurigen Kapitel parlamentarischer Oppositionstätigkeit noch folgende rechtliche Überlegung anfügen,
schon deshalb, weil wir das einmal parlamentarisch behandelt haben. Sollte bei dieser Geschichte irgendwann einmal eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich festgestellt werden, so wird man zwangs-
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15494 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Bohlläufig fragen müssen, wer die Urheber dieser Tatsache sind,
die Unternehmen, die Teile nach Südafrika geliefert haben, oder die, die mit gezielter Wühlarbeit im Ausland vorsätzlich auf diese Störung hingearbeitet haben. Wie man es auch juristisch beurteilen mag, das unfaire Verhalten der Oppositionspolitiker wird nicht unbeachtet bleiben können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, weil Sie aber so gern auf diese UNO-Resolution vom November vergangenen Jahres verweisen, möchte ich die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses doch noch einmal auf den Verlauf der 16. Sondersitzung der Generalversammlung vom 12. bis 14. Dezember 1989 zum Thema Apartheid und ihre destruktiven Folgen für das südliche Afrika lenken. Ich habe mir erlaubt, auch die Bundesregierung zu befragen. Das Erstaunliche ist, daß es in der Anwort wie folgt heißt:Der sogenannte Blaupausenvorgang spielte bei der Sondergeneralversammlung keine Rolle. Zwar gab es im Plenum kritische Äußerungen gegenüber Israel und den USA, der sogenannte Blaupausenvorgang wurde dagegen von keinem der insgesamt 119 Vertreter der Teilnehmerstaaten erwähnt.Ich finde, das ist eine bemerkenswerte Feststellung, die Sie vielleicht zumindest auch einmal zur Kenntnis nehmen sollten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, schlimm ist aber auch — das will ich hinzufügen — , daß Sie durch Ihre Tätigkeit das parlamentarische Kontrollinstrument des Untersuchungsausschusses, wie ich finde, in Mißkredit gebracht haben.
Sie haben sich als unfähig erwiesen, dieses Instrument so zu handhaben, wie es von der Verfassung vorgesehen ist. Sie haben sich vom Amtsgericht Bonn bescheinigen lassen müssen, daß der von Ihnen auf Grund Ihres Minderheitenrechts zu verantwortende Untersuchungsauftrag verfassungswidrig ist. In Ihrer Gier, politisch Schlagzeilen zu machen, haben Sie sich über alle Bedenken, die ich hier geäußert habe, hinweggesetzt und einen verfassungswidrigen Auftrag beschlossen. Die Arbeit im Untersuchungsausschuß war dadurch gekennzeichnet, daß wir dort permanent gegen Ihre unzulässigen Anträge kämpfen mußten.Da es Ihnen offensichtlich darum ging, die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses bis in den Wahlkampf 1990 hineinzuziehen, haben Sie auch das Instrument der Verfassungsklage zur Verzögerung benutzt. Denn die neulich erfolgte Korrektur des Untersuchungsauftrages hätten Sie ja schon vor einem Jahr haben können. Wir hatten die Punkte, denen Sie jetzt unter dem Druck des Bundesverfassungsgerichtes zustimmen mußten, damals schon genannt: Beseitigung der Verfassungswidrigkeit, Wegfall der Vorverurteilungen und Beschränkung des Untersuchungsauftrages auf den staatlichen Bereich.Sie haben also durch Ihre Arbeit dem Ansehen des parlamentarischen Kontrollinstruments Untersuchungsausschuß schweren Schaden zugefügt. Zuerst haben Sie den Deutschen Bundestag mit Ihrem verfassungswidrigen Untersuchungsauftrag mißbraucht. Dann haben Sie in raffinierter Weise die Reparatur des Untersuchungsauftrages verhindert und schließlich das Bundesverfassungsgericht vorübergehend eingespannt, um Zeit zu gewinnen. Über ein Jahr haben Sie die Arbeit im U-Boot-Untersuchungsausschuß damit blockiert.All dies beweist eindeutig, daß es Ihnen nie um eine seriöse Untersuchung mit dem Ziel ging, einen politisch relevanten Sachverhalt zu klären und zu bewerten. Es ging Ihnen schlicht und einfach um Klamauk. Zu diesem Szenarium gehörte auch, daß Sie ständig von Blockade schreien, selbst wenn Sie diejenigen sind, die Untersuchung blockieren. Unseriöser geht es beim besten Willen nicht.Im Zwischenbericht kann man nachlesen, wie die SPD das Beschlagnahmeverfahren des Ausschusses über Monate verzögert hat, eine sehr eindrucksvolle Darstellung! Sie sind damit, verehrter Herr Gansel, zum richtigen Blockade- Gansel geworden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie meinen, die parlamentarische Untersuchung müßte tatsächlich weitergeführt werden, so wird es allerhöchste Zeit, daß Sie einmal präzise darlegen, welche Sachverhalte nach Ihrer Überzeugung und Auffassung überhaupt noch aufzuklären sind und welche Fragen an welche Zeugen zu richten sind. Allein die Behauptung, dieser oder jener Zeuge könnte vielleicht noch irgend etwas zum Untersuchungsauftrag beisteuern, reicht angesichts des Standes der Untersuchung, den wir jetzt — das weist der Zwischenbericht aus — erreicht haben, für eine Fortsetzung allein nicht aus. Wir erwarten, daß Sie endlich zur seriösen Arbeit finden und sich im Ausschuß bezüglich der Zeugen,
deren Vernehmung aus Ihrer Sicht noch erforderlich sein mag, klar zu den Fragen bekennen, die diesen Zeugen aus Ihrer Sicht gestellt werden müssen.
Ich weiß, daß eine solche Festlegung für Sie nicht nur ein Politikum ist, sondern vor allem intensive Arbeit bedeuten würde. Aber diese Erledigung der Arbeit erwarten wir von der Opposition. Andernfalls müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob und in welchem Umfang Art. 44 des Grundgesetzes noch eine Fortsetzung der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses zuläßt.Natürlich kann man sich ständig neue Fragen ausdenken, so z. B. die, welche Rolle der Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel gespielt hat, als es um die Entschärfung des § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes ging. Dieses Kapitel ließe sich ausweiten, und ich könnte Ihnen noch weitere Fragen präsentieren.Ich kann deshalb der SPD nur empfehlen, sehr gründlich darüber nachzudenken, ob für die von ihr
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Bohlgewünschte Fortsetzung des Untersuchungsverfahrens überhaupt noch die Voraussetzungen, nämlich das öffentliche Interesse, gegeben sind. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich die SPD in aktueller Oppositionsnot befindet und deshalb eine Klamotte aus dem Wahlkampf von 1986 vom dunklen Meeresgrunde hervorholt, um sie dem Wähler im Bundestagswahlkampf 1990, scheinbar vom Schlick befreit, erneut zu präsentieren.Wir werden uns jedenfalls diesen Bestrebungen entschieden widersetzen. Wir appellieren mit Nachdruck an Sie, zu einer intensiven, seriösen und abschließenden Arbeit des Ausschusses zurückzukehren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bohl, ich dachte, Sie würden im Bundestag über die Tatsachen berichten. Sie haben Ihre Zeit dazu genutzt, sich mit der Opposition auseinanderzusetzen, statt in Ihrem Beitrag zu sagen, was aufzuklären ist, was bereits erledigt ist und was nicht erledigt worden ist.Ihr Wort vom Kriminalisieren muß ich scharf zurückweisen. Im übrigen bin ich nicht bereit, auf Ihre Methode einzugehen, daß nicht diejenigen schuldig sind, die illegal Waffen oder Blaupausen für Waffen verkauft haben,
sondern diejenigen, die die Untersuchung vornehmen. Das möchte ich in aller Deutlichkeit zurückweisen.
— Keine Zwischenfrage.Nun wollen wir uns kurz mit den Tatsachen beschäftigen, mit dem, was klar ist und was nicht klar ist. Am 4. November 1977 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 418 verabschiedet. Diese Resolution verbietet die Lieferung von Waffen, dazugehörigem Material und Lizenzen für die Herstellung von Waffen oder Waffenteilen an Südafrika. Sie ist ganz klar und eindeutig die Rechtsgrundlage, von der wir auszugehen haben. Die Bundesregierung hat dieser Resolution nicht nur zugestimmt, sondern sie hat damals als Mitglied des Weltsicherheitsrates auch aktiv daran mitgewirkt, daß sie zustande gekommen ist.
Während Ihrer Regierungszeit hat die SPD im Juli 1983 eine Große Anfrage gestellt. Darauf hat die Bundesregierung wie folgt geantwortet:Die Bundesregierung hat bereits mehrfach auf entsprechende parlamentarische Anfragen hin festgestellt, daß sie sich strikt an das gegen Südafrika verhängte Embargo des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 4. November 1977 hält, .. .
Das ist die Rechtslage, das ist die Ausgangsbasis.Nach den Angaben der Oberfinanzdirektion in Kiel, die Ihnen so am Herzen liegt, haben die Firmen HDW und IKL zwischen dem 10. Oktober 1984 und dem 19. Juni 1985 folgende Unterlagen nach Südafrika geliefert — Sie haben leider in Ihrer Berichterstattung vergessen, das deutlich zu sagen — : Bauunterlagen, Orderdokumente, Berechungen für Festigkeit, Gewicht, Masse, Zeichnungen und Stücklisten für Bauvorrichtungen und Werkzeuge, Terminpläne für die Produktionsplanung und über 4 700 Werkstattzeichnungen mit Stücklisten. Eine Riesenlieferung ist erfolgt. All das ist ja nicht unbekannt gewesen; darauf komme ich gleich zu sprechen.Wir wissen, daß für die Lieferungen 42,6 Millionen DM von Südafrika gezahlt worden sind. Auch das ist unbestritten, auch das haben Sie vergessen zu sagen. Wir wissen auch, daß Provisionen gezahlt worden sind. Es ist eine der Aufgaben des Untersuchungsausschusses, noch festzustellen, in welcher Höhe und an welche Personen in diesem Zusammenhang Provisionen gezahlt worden sind.
Die Lieferung der Unterlagen — das ist einer der Höhepunkte — erfolgte durch Diplomatengepäck. Rechtswidrige Vorgänge über Diplomatengepäck!Die Inanspruchnahme des Diplomatengepäcks für einen nach internationalem Recht und auch nach unserem Recht rechtswidrigen Vorgang hat zu keiner Zeit zur Ausweisung eines Diplomaten der südafrikanischen Republik aus der Bundesrepublik geführt. Das heißt, wir müssen annehmen, daß die Bundesregierung Anlaß gehabt hat, in dieser Angelegenheit so vorsichtig vorzugehen. Wenn jemand so etwas macht, schmeißt man ihn hinaus. Das ist allgemein üblich.
Welche Vorwürfe sind heute schon klar und eindeutig? Erstens. Der Bundeskanzler hätte niemals dem damaligen Präsidenten Südafrikas die wohlwollende oder überhaupt die Prüfung seines Verlangens nach deutschen U-Booten oder U-Boot-Plänen zusagen dürfen.
Der Bundeskanzler hätte wissen müssen, daß er klar und eindeutig hätte feststellen müssen, daß das nach der Resolution 418, der die Bundesrepublik zugestimmt hat, überhaupt nicht in Frage kommt. Es hätte eine klare Absage von der ersten Minute an erteilt werden müssen.
Das ist versäumt worden.
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15496 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
WischnewskiZweitens. Der damalige Bundesfinanzminister, Herr Stoltenberg, war am 28. Oktober 1983 — am 28. Oktober 1983! — von dem Aufsichtsratsvorsitzenden der HDW über die Möglichkeiten und Absichten der beiden Firmen HDW und IKL informiert worden.
Er wäre verpflichtet gewesen, mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung gestanden hätten und haben, das Projekt schon im Entstehen zu verhindern.
Drittens. Statt dessen hat der Chef des Kanzleramtes, Staatssekretär Professor Schreckenberger, am 31. Juli 1984 durch ein Telefongespräch mit HDW und ein Telefongespräch mit IKL grünes Licht für die Lieferung der Pläne für U-Boote an Südafrika gegeben.
Die entsprechenden Dokumente darüber liegen in den Unterlagen vor.Jetzt sage ich Ihnen etwas, Herr Bohl: Sie haben die Gegenüberstellung von Staatssekretär Schreckenberger mit den beiden Telefonierern verhindert. Das war Ihre Aufgabe im Untersuchungsausschuß.
Die Aufzeichnungen der Firmen liegen den Unterlagen bei. Der damalige Staatssekretär Schreckenberger hat damit rechtswidrig gehandelt. Er hat der Bundesrepublik erheblichen Schaden zugefügt. Er hätte aus diesem Grunde aus seinem Amt entlassen werden müssen.
Viertens. Als die Lieferungen bekannt waren — das ist ja immerhin schon eine ganze Weile her — , hat die Bundesregierung nicht die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, was ihre Aufgabe gewesen wäre, um von der Bundesrepublik Schaden abzulenken.
Vielmehr ist die Oberfinanzdirektion damit beauftragt worden, obwohl aus unserer Sicht ganz klar und eindeutig die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft gegeben war.Fünftens — ich beschäftige mich nicht mit Ihnen, sondern mit der Sache, aber in dieser Frage muß ich ein Wort zum Untersuchungsausschuß sagen — : Verehrter Herr Kollege Bohl und verehrte Kollegen der CDU/CSU, wir hätten dies längst erledigt haben können, wenn Sie z. B. nicht wie heute vormittag Ihre Kraft darauf verwandt hätten, in erster Linie die Arbeit des Ausschusses zu behindern.
Ich bedauere es zutiefst, daß heute vormittag nicht die Öffentlichkeit dabei war,
um einmal feststellen zu können, daß Ihre Aufgabeausschließlich darin besteht, zu verhindern, daß die notwendigen Zeugen gehört werden.
Im Interesse der Sache mache ich den Vorschlag, daß wir uns jetzt bald auf eine Zeugenliste einigen und uns darum bemühen — wie es unsere Aufgabe ist — , diesen Auftrag auf anständige Art und Weise zu Ende zu bringen. Dies ist nicht, wie Sie meinen, ein Instrumentarium, um die Opposition zu beschimpfen. Wir haben etwas aufzuklären, was der Bundesrepublik in erheblichem Maße Schaden zugefügt hat.
Ich habe Tatsachen genannt, über die völlige Einigkeit besteht.
— Sie wollten ja keine weitere Klarheit haben; denn Sie haben die Gegenüberstellung von Staatssekretär Schreckenberger mit den beiden Telefonierern verhindert.
— Wie das gelaufen ist, wissen wir in der Zwischenzeit.Lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen machen. Darüber, daß außenpolitischer Schaden entstanden ist, gibt es gar keinen Streit. Ich kann Ihnen den Text der Resolution gerne vorlesen: „Insbesondere wurden zwei in der Bundesrepublik Deutschland ansässige Unternehmen wegen der Lieferung von Blaupausen für die Herstellung von U-Booten und anderem einschlägigen Militärgerät erwähnt ... die Regierung der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, ihren Verpflichtungen aus der UNO-Resolution 421 nachzukommen, indem sie die besagten Unternehmen strafrechtlich zur Verantwortung zieht."Dies ist der Schaden, der der Bundesrepublik entstanden ist. Ich spreche gar nicht über die einzelnen Dinge, z. B. über die Rede von Präsident Kaunda, die es vorher gegeben hat.
Das zweite: Jetzt beschäftigt sich erneut die Staatsanwaltschaft mit dieser Frage. Einige Fragen sind geklärt; andere Fragen bedürfen noch der Klärung. Illegaler Waffenexport ist kein Kavaliersdelikt.
Die Aufgabe des Untersuchungsausschusses besteht auch darin, strengste Maßstäbe anzulegen, damit jetzt, da wir erfreulicherweise die Chance haben, in der Periode der Abrüstung zu leben, nicht einige meinen, sie könnten unserem Lande durch illegalen Waffenexport weiteren Schaden zufügen. Dafür sind die strengsten Maßstäbe notwendig, die überhaupt möglich sind.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15497
Wischnewski Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim besten Willen ist mir nicht ersichtlich, warum wir uns heute zwei Stunden über den Zwischenbericht des 1. Untersuchungsausschusses — U-Boote — im Plenum unterhalten müssen,
um schließlich — entsprechend der Beschlußvorlage — den Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Diese zweistündige Plenardebatte ist eigentlich überflüssig.
Sie ist genauso überflüssig wie die gesamte Neuauflage des U-Boot-Untersuchungsausschusses nach der ersten Veranstaltung im Jahre 1986 und 1987. Das, was politisch aufzuklären war — der Verantwortungsbereich der Bundesregierung —, lag schon auf Grund der öffentlichen Äußerungen, insbesondere des verstorbenen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, der Darlegung von vier Bundesministern vor den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages, einer Aktuellen Stunde am 3. Dezember 1986 sowie den schriftlichen Antworten der Bundesregierung auf offene Fragen von Mitgliedern der SPD-Fraktion Ende 1986 offen zutage.Spätestens nach Durchführung der Beweisaufnahme im 4. Untersuchungsausschuß der 10. Wahlperiode im Januar und Februar 1987 konnten folgende Feststellungen getroffen werden. Einzelne Bundesminister, Bundesbeamte, auch der Bundeskanzler selbst waren mit der Frage der Lieferung von U-Boot-Blaupausen nach Südafrika im Vorfeld eines förmlichen Genehmigungsverfahrens verschiedentlich befaßt.
Insbesondere Franz Josef Strauß hatte sich für das Geschäft im Interesse der Werftindustrie ausgesprochen.
Nach interner Prüfung im Bundeskanzleramt und nach zwei Gesprächen zwischen Bundeskanzler Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher wurde den beiden betroffenen Firmen unmißverständlich und klar die Ablehnung des Geschäfts mitgeteilt. Nach Befassung des damaligen Bundeswirtschaftsministers Martin Bangemann wurden die notwendigen Maßnahmen zur Einleitung von Verfahren bei der Oberfinanzdirektion Kiel unternommen.
Dies stand bereits in dem Berichtsentwurf der beiden Koalitionsberichterstatter Klaus Beckmann und Fritz Bohl im 4. Untersuchungsausschuß der voraufgegangenen Legislaturperiode. Es steht nunmehr wiederum in dem Zwischenbericht, den der Untersuchungsausschuß beschlossen hat.Seit 1963 — das ist Tatsache — hat die Bundesregierung Lieferungen von Waffen und Rüstungsgütern nach Südafrika nicht mehr genehmigt. Dem entspricht es, daß es auch für den Export der U-Boot-Blaupausen kein förmliches Genehmigungsverfahren gegeben hat. Dem entspricht es auch, daß den beiden Unternehmen bereits im Vorfeld eindeutig erklärt worden ist, daß es keine Genehmigungen für den Export der U-Boot-Blaupausen geben werde, auch nicht im Wege eines irgendwie gearteten Augenzwinkerns.Der beste Beweis dafür sind die uns vorliegenden Firmenakten. Über Herrn Stoltenberg ist darin zu lesen, daß es bereits 1983 für das Südafrika-Geschäft eine „ziemlich klare Absage gegeben" hat.
Über Herrn Genscher ist zu lesen, daß er in einem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden von HDW am 12. Oktober 1984 zu dem Südafrika-Geschäft „Nein" erklärt hat. Ein weiteres Gespräch mit Herrn Genscher nur wenige Tage später ist, wie dokumentiert ist, „im Moment nicht erfolgreich" verlaufen.Aus den Firmenakten ergibt sich weiter, daß die Vertreter der Unternehmen immer wieder nach Bonn gefahren sind und Kontakt zur Bundesregierung, insbesondere zum Bundeskanzleramt gesucht haben, weil sie eben das nicht hatten, was sie so gerne gehabt hätten, nämlich eine förmliche Genehmigung für das Geschäft oder aber wenigstens das von ihnen so genannte grüne Licht. Anders sind auch die folgenden Maßnahmen, insbesondere die Einleitung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens durch die Bundesregierung bereits im Jahre 1985, nicht zu erklären.Wenn so getan wird, als wäre das Geschäft mit Wissen und Wollen der Bundesregierung eingeleitet und durchgeführt worden, so stellt das die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf. Weder die Bundesregierung noch der Bundeskanzler noch einzelne Bundesminister noch Beamte von Bundesministerien oder des Bundeskanzleramts haben gewußt, daß genehmigungspflichtige Lieferungen von den Firmen ausgeführt worden sind. An diesen Fakten kann eigentlich nur vorbei, wer böswillig ist und den politischen Gegner mit Unterstellungen diskreditieren will.
Wenn ich mir den Sinn und Zweck der heutigen Plenardebatte aus SPD-Sicht und aus Sicht der GRÜNEN angucke, gibt die Debattenzeit von zwei Stunden ebenfalls keinen Sinn.
Der Ausschuß hat im April des Jahres 1989 einvernehmlich die Erstellung des Zwischenberichts beschlossen, nachdem die SPD-Fraktion angekündigt hatte, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anzurufen. Nunmehr haben sich alle Fraktionen in der letzten Woche geeinigt, den Hinweis des Bundesverfassungsgerichts nach einer parlamentarischen Lösung aufzugreifen und gemeinsam einen Änderungs-
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Richterantrag zum Untersuchungsauftrag zu beschließen, der wenigstens für die Zukunft die ordnungsgemäße Erledigung der Beweisaufnahme verspricht. Hätte sich die SPD bereits im Jahre 1989 verfassungstreu verhalten —
wie sie es nach dem Hinweis des Bundesverfassungsgerichts getan hat — und die verfassungsrechtlichen Bedenken an dem von ihr zu verantwortenden Untersuchungsauftrag beseitigt, anstatt immer wieder zu versuchen, dem Untersuchungsauftrag neue Themen aufzusatteln, hätte es des Zwischenberichts nicht bedurft.Nunmehr soll nach dem Willen von SPD und GRÜNEN die Beweisaufnahme alsbald fortgesetzt werden. Damit entziehen SPD und GRÜNE ihren eigenen Zwischenberichten mit ihren abweichenden Auffassungen selbst den Boden.Die abweichenden Meinungen von SPD und GRÜNEN in ihrem Zwischenbericht sind ein besonderes Kapitel für sich. Angeblich ist noch so unheimlich viel Beweisaufnahme erforderlich, um die politischen Hintergründe des Geschäfts auszuleuchten. Statt dessen besteht in Wahrheit der Zwischenbericht zum weitaus überwiegenden Teil aus bindenden Feststellungen, auch bei SPD und GRÜNEN. Von den 487 Seiten des Zwischenberichts sind mehr als 300 Seiten Anlagen. Von dem reinen Textteil nimmt die SPD 77 Seiten für sich in Anspruch, die GRÜNEN noch einmal zusätzlich 42.Der geringste Teil dieser Texte sind Fragestellungen. Im wesentlichen beschäftigen sich diese Texte mit dem Sachverhalt, betrachten ihn mit einer roten, einer grünen oder einer gemeinsamen rot-grünen Brille, bewerten die solchermaßen bunt eingefärbten Sachverhalte nach politischem Gusto, bekräftigen unbekümmert frühere Vorverurteilungen, fügen neue hinzu und üben sich in der Verbiegung von Sachverhalten, indem dem festgestellten Sachverhalt immer wieder neue Unterstellungen hinzugefügt werden.Ich will ein paar Einzelheiten aus dem abweichenden Zwischenbericht der SPD-Fraktion besonders erwähnen. Angeblich wird nur das vorläufige Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme zusammenfassend dargestellt. Alsdann folgt ein Antwortenkatalog zu einzelnen Fragen des Untersuchungsauftrags, die mit schöner Regelmäßigkeit abschließend beantwortet werden. Nur mit Mühe hat es die SPD geschafft, in diese Antworten noch einige angeblich offene Unterfragen einzubauen. Da heißt es dann u. a., daß sich aus den vorliegenden Akten starke Indizien dafür ergäben, daß dem Bundesaußenminister die sogenannte Nohse-Notiz „Argumente IK 93" vorgelegen habe. Angeschlossen wird die Behauptung, eine Vernehmung des Bundesaußenministers habe insofern noch nicht durchgeführt werden können.
Das Gegenteil ist der Fall. In den vorliegenden Akten des 4. Untersuchungsausschusses der 10. Wahlperiode ist genau zu diesem Punkt eine klare Aussage des Bundesaußenministers enthalten.Es geht dann weiter, daß angeblich der Beweis nicht habe erbracht werden können, daß auch Bundeskanzler Dr. Kohl die Nohse-Notiz erhalten habe. Ich frage mich, wie diese Unterstellung durch die Vernehmung von Zeugen aus dem Bereich der Firmen bewiesen werden soll.
Nicht einmal Herr Gansel selbst behauptet unmittelbare Kontakte von Bundeskanzler Kohl zu den Firmenrepräsentanten.An diesen beiden Beispielen wird klar, warum und woran der Untersuchungsausschuß ganz besonders gelitten hat. Das, was SPD und GRÜNEN, insbesondere Herrn Gansel, politisch in den Kram paßt, wird einfach unterstellt, auch wenn das Gegenteil erwiesen ist. Paßt der Opposition, insbesondere Herrn Gansel, ein ganz bestimmtes Beweisergebnis nicht, wird es nicht zur Kenntnis genommen.Die Strategie von SPD und GRÜNEN zielt sowieso auf etwas ganz anderes. Es geht nicht um Sachaufklärung und um Festlegung der politischen Verantwortung. Es geht nur darum, die Bundesregierung, den Bundeskanzler und einzelne Bundesminister in Geruch und Verruf zu bringen,
durch immer neue Strafanzeigen und deren Veröffentlichung das Ansehen der Bundesregierung, speziell des Bundeskanzlers und seiner Mitarbeiter, zu dezimieren und sich dabei selbst als Saubermann hinzustellen.Dieser Saubermann fährt zu den Vereinten Nationen nach New York und verkündet eine Version des U-Boot-Geschäfts, die mit den Tatsachen nicht vereinbar ist. Wesentliche Teile des damaligen Untersuchungsergebnisses, die die Bundesregierung entlasten, hat Herr Gansel vor den Vereinten Nationen verschwiegen. So hat er behauptet, die Untersuchungen unseres Untersuchungsausschusses seien von der Regierungsmehrheit behindert worden. Nur mangelnde Einsichtsfähigkeit kann der Grund dafür sein, daß Herr Gansel nie und nimmer begreifen wird, daß der von ihm ausformulierte und von ihm zu verantwortende ursprüngliche Untersuchungsauftrag der Grund war, warum der Untersuchungsausschuß so schnell an seine rechtlichen Grenzen gestoßen ist.Es ist weiterhin unglaublich, daß Herr Gansel behauptet hat, die Erklärungen des bundesdeutschen ständigen Vertreters bei den Vereinten Nationen gegenüber dortigen Ausschüssen seien unvollständig und unrichtig.Es ist unerhört, wenn Herr Gansel vor den Vereinten Nationen die Schlußfolgerung äußert, daß die Bundesregierung den Versuch einer Rechtsverletzung zugelassen habe.
Es ist schlicht unwahr, der Bundesregierung bei den Vereinten Nationen vorzuhalten, sie habe keine effektiven Schritte unternommen, das U-Boot-Geschäft rückgängig zu machen oder aber weiteren Know-
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Richterhow-Transfer zu verhindern. So wird mit der Wahrheit Schindluder getrieben. Und das wird vollbracht durch einen unserer Kollegen, nur um unsere außenpolitischen Beziehungen zu beschädigen, um innenpolitisch ein durchsichtiges Spiel zu treiben, ohne Rücksicht auf das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen.Der wahre Zweck dieser Veranstaltung von Herrn Gansel vor den Vereinten Nationen war doch nur, das von rechtschaffenen Staatsanwälten bei der Staatsanwaltschaft Kiel betriebene Strafverfahren zu beeinflussen und dem in Vergessenheit geratenen Untersuchungsausschuß „U-Boote" wieder mehr Öffentlichkeit zu verleihen. Das ist ein offensichtlicher Mißbrauch der parlamentarischen Möglichkeiten zu eigenständigen Kontakten zu den Vereinten Nationen.Durch die Anschwärzung der Bundesregierung bei den Vereinten Nationen sollte ein bislang fehlendes Tatbestandsmerkmal für eine strafrechtliche Verfolgung von Organen und Mitarbeitern der beiden in Betracht kommenden Firmen nach Außenwirtschaftsrecht herbeigeführt, besser: herbeigeredet werden, nämlich eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland. Dies war zuvor von sachverständigen Beamten des Auswärtigen Amtes gegenüber der Staatsanwaltschaft Kiel immer wieder verneint worden.
Ich frage mich, wie es strafrechtlich angehen soll, den in Kiel beschuldigten Unternehmensangehörigen eine Beeinträchtigung der außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Last zu legen die von einem Mitglied des Deutschen Bundestages erst herbeigeredet worden ist. Für mich ist das Verhalten von Herrn Gansel bei den Vereinten Nationen politische Brandstiftung.
Wir werden diesen unglaublichen Vorgang aufklären. Insbesondere auf die zeugenschaftliche Aussage von Herrn Gansel unter Wahrheitspflicht sind wir sehr gespannt.Ich will zur Bewertung des gesamten Vorgangs, insbesondere auch für die weitere Ausschußarbeit, für meine Fraktion folgendes erklären. Erstens. Die Südafrika-Politik der FDP ist wie die der Bundesregierung eindeutig. Wir treten ein für Menschenrechte, gegen Apartheid, für ein friedliches Zusammenleben der Völker auch in dieser Region.
Wir treten deswegen auch für die strikte Einhaltung des von der Bundesrepublik Deutschland selbst als damaligem Mitglied des Sicherheitsrats mit initiierten und mitgetragenen Waffenembargos gegen Südafrika ein.
Die notwendigen rechtlichen innerstaatlichen Maßnahmen waren damals im wesentlichen bereits von der Bundesregierung getroffen worden. Speziell ist noch der § 45 Abs. 3 der Außenwirtschaftsverordnung erlassen worden. Nur kann niemand daran vorbei, daß sich keine Regierung dieser Welt, insbesondere keine eines liberalen Rechtsstaats, gegen Rechtsverletzungen und Kriminalität schützen kann.
Die Neuregelungen des Kriegswaffenkontrollrechts und des Außenwirtschaftsrechts, die von der Bundesregierung in die Wege geleitet worden sind, haben andere Anlässe als den U-Boot-Blaupausen-Export.Zweitens. Politisch bleibt festzuhalten, daß die Firmen alles, zumindest aber sehr viel versucht haben, um die Bundesregierung zu einer förmlichen Genehmigung oder augenzwinkernden Billigung des Vertrages zu veranlassen. Dies ist den Unternehmen jedoch nicht gelungen.
Drittens. Zu der Frage der strafrechtlichen Ahndung oder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Beurteilung des Vorfalls durch die Firmen möchte ich mich — anders als die SPD — nicht äußern. Dem gesamten deutschen Parlament und allen seinen Fraktionen und Mitgliedern stünde es eigentlich gut an, solche Art Vorverurteilung, wie sie die SPD zuletzt noch in ihrem Zwischenbericht betrieben hat, nicht mitzumachen. Das ist nur ein Teil des unverantwortlichen Versuchs von SPD und GRÜNEN, durch Rufschädigung Politik zu machen.Viertens. Keiner soll darüber im unklaren sein, daß wir nicht nur die bisher bekanntgewordene Teillieferung von Blaupausen genauso wie die Bundesregierung politisch kritisieren und ablehnen. Insbesondere wenn mehr geliefert worden wäre, als das nach den bisherigen Ermittlungen der Oberfinanzdirektion und der Staatsanwaltschaft der Fall zu sein scheint, gilt dieses politische Verdikt. Es wäre wirklich schlimm und unerträglich, wenn tatsächlich eines Tages U-Boote mit deutschem Design unter südafrikanischer Flagge um das Kap führen. Bislang haben wir dazu trotz der vielfältigen Verdächtigungen von SPD und GRÜNEN keine hinreichenden Anhaltspunkte. Nur bedarf es keines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, solche Dinge aufzuklären. Solche Untersuchungen und Ermittlungen sind in den Händen der zuständigen Behörden viel besser aufgehoben.Fünftens. Die Bundesregierung hat schließlich alles getan, um für eine sorgfältige Aufklärung und eine sachgerechte Ahndung der Vorfälle zu sorgen.
Die maßgeblichen Überlegungen über eine bußgeldrechtliche Ahndung sind von der Oberfinanzdirektion nach bestem Wissen und Gewissen angestellt worden. Die Fragen, die SPD und GRÜNE heute aufwerfen, nämlich die nach der ordnungsgemäßen Durchführung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens der Ober-
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15500 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Richterfinanzdirektion Kiel, können wir in aller Ruhe klären. Auch hier verfahren SPD und GRÜNE nach dem Motto: Haben sich die bisherigen Vorwürfe nicht bestätigen lassen, muß flugs ein neuer her. Nunmehr wird behauptet, es gebe Absprachen, die Unternehmen im Fall der Aufdeckung des Geschäfts straffrei zu lassen.
Nur: Gegenüber den Staatsanwaltschaften der Länder hat die Bundesregierung kein Weisungsrecht.Die Oberfinanzdirektion Kiel hat nach langen Ermittlungen und nach bestem Wissen und Gewissen entschieden.
Der Oberfinanzdirektion war bekannt, daß SPD und GRÜNE aus politischen Gründen lieber ein anderes Ergebnis gehabt hätten. Dies hat die Oberfinanzdirektion zum Glück nicht an einer aus ihrer Sicht richtigen Rechtsanwendung gehindert.Die Oberfinanzdirektion hatte dabei immer engen Kontakt mit der Staatsanwaltschaft Kiel.
Wenn diese auf Grund der wahrheitswidrigen Anschuldigungen von Herrn Gansel vor den Vereinten Nationen einen hinreichenden Tatverdacht bejaht und in der Sache ermittelt, so soll dies geschehen.Sechstens. Die Vorwürfe an die Bundesregierung, eine Strafverfolgung gehindert zu haben, sind aus der Luft gegriffen. Die Bundesregierung kann sich doch nicht zum Büttel von SPD und GRÜNEN machen, die aus politischen Gründen mit Strafanzeigen hausieren gehen und dann darüber bittere Tränen weinen, wenn die Bundesregierung notwendige Ermächtigungen für eine Strafverfolgung aus besserer Erkenntnis nicht erteilt. In der Sache geht es einmal um die Frage der Erteilung der Ermächtigung für eine Strafverfolgung wegen Geheimnisverrats durch den Bundeswirtschaftsminister.Die Erteilung der Strafverfolgungsermächtigung hat der Gesetzgeber ausdrücklich staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen vorgeschaltet.
Es geht also nicht um die Durchbrechung des Legalitätsgrundsatzes, vielmehr schließt die Einhaltung des Legalitätsprinzips die vorherige Einholung der Strafverfolgungsermächtigung ein. Die Strafverfolgungsbehörden sind an die Entscheidung der Behörde gebunden. Und diese Behörde kann eben das voraussichtliche Ermittlungsergebnis, das bisherige Verhalten der Ermittlungsbehörden mit dem Nutzen und Schaden eines förmlichen Strafverfahrens abwägen.Was war der Entscheidung des Bundeswirtschaftsministers vorausgegangen? Zunächst hatte die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht verneint. Nach Einführung eines neuen Generalstaatsanwaltes durch die neue Landesregierung und Entlassung des früheren unter peinlichen Umständen hat die Staatsanwaltschaft ihre Meinung geändert, ohne sonst ersichtliche Gründe.
Dann hat sich der Bundesminister für Wirtschaft im wesentlichen davon leiten lassen, daß nach Feststellungen verläßlicher Beamter aus dem Bundesverteidigungsministerium und seinem eigenen Ministerium Anhaltspunkte für die Lieferung von „geheim" eingestuften Unterlagen nicht vorlagen, daß unter diesen Umständen mit einer strafrechtlichen Ahndung nach Durchführung eines Ermittlungs- und Strafverfahrens nicht zu rechnen war und deswegen den Gefahren für eine Beeinträchtigung der Kooperationsfähigkeit der deutschen Werftindustrie eben ein besonderes Gewicht zukam.Und was das Geheimschutzabkommen mit Indien betrifft: Sinn und Zweck dieses Geheimschutzabkommens kann es doch nicht sein, HDW auf alle Zukunft hin den Verkauf und den Bau des von IKL und ihm entwickelten U-Bootes unmöglich zu machen. Das Geheimschutzabkommen mit Indien verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, spezielle geheimhaltungsbedürftige indische Interessen zu schützen, und die Inder, entsprechende deutsche Interessen zu schützen. All dies wäre in sogenannten klassifizierten Lieferungsunterlagen enthalten gewesen.
Daß solche an die Südafrikaner ausgefolgt worden wären, haben die auch vom Untersuchungsausschuß vernommenen Beamten nicht bestätigt.Der andere Teil des Vorwurfs, die Bundesregierung habe strafrechtliche Ermittlungen verhindert, bezieht sich auf die gutachtlichen Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes über den Umfang einer Beeinträchtigung der außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland. Das wesentliche dazu ist bereits gesagt.Hier geht es um Äußerungen von sachverständigen Beamten des Auswärtigen Amtes. Diese können sich bei ihren sachverständigen Äußerungen nicht an dem Gutdünken von SPD und GRÜNEN orientieren, sondern haben nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen. Bislang hat niemand darlegen können, daß die sachverständigen Äußerungen aus dem Auswärtigen Amt in irgendeiner Weise unzutreffend wären.
Siebtens. Alles in allem sind wir gespannt, welche Beweise SPD und GRÜNE nunmehr erheben wollen, nachdem für sie die wesentlichen Erkenntnisse schon feststehen. Insbesondere scheint mir keine der aufgeworfenen Fragen überhaupt noch bedeutsam zu sein, um aus dem Vorgang die Konsequenz zu ziehen, die SPD und GRÜNE schon jetzt für erforderlich halten. SPD und GRÜNEN geht es tatsächlich darum, auf dem
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15501
RichterForum des Untersuchungsausschusses Politiker vorzuführen.Jede zeugenschaftliche Vernehmung vor einem Untersuchungsausschuß schadet dem betroffenen Zeugen nach dem Grundsatz, daß immer etwas hängenbleibt. Damit komme ich zu dem zurück, was schon 1986 zur Beurteilung des Begehrens der SPD auf Durchführung dieses Untersuchungsausschusses richtig war und was nunmehr auch für 1990 gilt: Hier wird nichts anderes als billiges Wahlkampfspektakel vorgeführt. Die bisherigen Erfahrungen, allein schon die letzten drei Jahre in dem U-Boot-Untersuchungsausschuß, lassen insofern das Schlimmste befürchten.
Das Wort hat Frau Eid.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Lange Zeit sah es so aus, als würde diese Debatte gar nicht stattfinden. Die Idee zur Abfassung von Zwischenberichten des U-Boot-Untersuchungsausschusses stammte zwar ursprünglich von der CDU. Als GRÜNE und die SPD dies auch gut fanden, bekam der Obmann der CDU/CSU kalte Füße. Denn er wollte einen Zwischenbericht, um die Arbeit des Ausschusses in der Öffentlichkeit als beendet darstellen zu können. Die Zwischenberichte sollten die Endberichte sein.Daß dieser Traum spätestens nach der Verurteilung der Bundesrepublik durch die Vereinten Nationen ausgeträumt war, dürfte allen Beobachtern klar sein. Mit List und Tücke verstand die CDU es, die Beratung der Zwischenberichte im Untersuchungsausschuß hinauszuzögern. Sie sollten erst nach Beendigung der UNO-Vollversammlung beraten werden. Denn schon früh war klar, daß eine Verurteilung der Bundesrepublik durch die UNO wegen des illegalen U-Boot-Handels mit Südafrika in den Bereich des Möglichen gerückt war.Lassen Sie mich an dieser Stelle eine Bemerkung zu dem Antrag von CDU/CSU und FDP machen, mich — und die Kollegen Gansel und Stobbe — vor dem Untersuchungsausschuß als Zeugin vernehmen zu wollen. Ich betrachte es nicht nur als mein Recht, sondern geradezu als meine Pflicht, die UNO bei der Überwachung der Einhaltung des völkerrechtlich bindenden UN-Waffenembargos gegenüber dem Apartheidregime in Südafrika zu unterstützen.
Daß die CDU zu einem solch albernen Mittel greifen muß, beweist, daß der Regierung das Wasser bis zum Halse steht. Sie, Herr Bohl, haben wohl immer noch nicht begriffen, daß der U-Boot-Skandal eine der gravierendsten Verletzungen des völkerrechtsbindenden UNO-Rüstungsembargos darstellt. Trotzdem freue ich mich, Herr Bohl, über die zusätzliche Möglichkeit, Ihnen auch als Zeugin vor dem U-Boot-Untersuchungsausschuß das UNO-Rüstungsembargo noch einmal erläutern zu können.
— Ah, der ist gar nicht mehr hier.
Der Obmann der CDU wollte mit obskuren Winkelzügen — so z. B. mit der Verbannung der Zwischenberichte von GRÜNEN und SPD in den Geschäftsordnungsausschuß wegen angeblicher Unzulässigkeit unseres Sondervotums — lediglich erreichen, daß durch die Publizierung der Berichte nicht zusätzliches Feuer in den bei der UNO entstandenen Brand gelegt wurde. Wenn die UNO die Berichte, vor allem den von Herrn Bohl, in die Debatte hätte mit einbeziehen können, wäre die Verurteilung möglicherweise noch deutlicher ausgefallen. Im Bohl-Bericht stehen nämlich die unhaltbaren Feststellungen, daß sich die Bundesregierung keinerlei Verfehlungen habe zuschulden kommen lassen, daß sie jederzeit korrekt und richtig gehandelt habe und daß kein weiterer Aufklärungsbedarf bestehe — weder in politischer noch in juristischer Hinsicht.Darüber hinaus lehnt der Bericht es ab, irgendwelche gesetzgeberischen Konsequenzen daraus zu ziehen, daß die Oberfinanzdirektion Kiel den Export von 95 % — das sind diese mehr als 4 000 erwähnten Pläne— der für den Bau eines U-Bootes benötigten Blaupausen nach Südafrika für völlig legal erklärt hatte.
Der Bericht der Regierungsfraktionen hätte bei der UNO zwangsläufig den Eindruck erweckt, als habe die Bundesregierung den Bruch des bindenden Rüstungsembargos durch HDW und IKL nicht nur gebilligt oder geduldet, sondern als wollte sie Embargo-Brüche auch für die Zukunft bewußt nicht verhindern.
Im Dezember wurden dann endlich alle Berichte vom Ausschuß verabschiedet; erst heute werden sie debattiert. Das war zwar wieder eine Verzögerung, aber in den letzten drei Monaten hat sich aus unserer Sicht so viel Positives beim U-Boot-Skandal ereignet, daß wir heute immerhin wesentlich kenntnisreicher diskutieren können als zu einem früheren Zeitpunkt.
In der Vorbemerkung zum abweichenden Bericht meiner Fraktion haben wir ausdrücklich vermerkt, daß es sich nicht um einen Abschlußbericht handelt, da noch ein erheblicher Aufklärungsbedarf besteht.— Unser Bericht stammt vom 6. Oktober 1989. — Die Entwicklung des letzten halben Jahres hat uns in dieser Einschätzung in einer Weise bestätigt, die selbst wir kaum für möglich gehalten hätten. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Kiel mit Hochdruck.
Die von uns seit Jahren geforderten Hausdurchsuchungen finden jetzt fast monatlich statt. Die von uns seit Jahren festgestellte erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland wurde jetzt auch von der Staatsanwaltschaft fest-
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Frau Eidgestellt. Die von uns immer erhobenen Zweifel an der Korrektheit der Ermittlungen der Oberfinanzdirektion Kiel sind durch Veröffentlichungen in der „taz" und in der „Zeit" bestätigt worden. Bundesverteidigungsminister Stoltenberg ist in den Verdacht der Strafvereitelung im Amt geraten, und er hat diesen Verdacht bislang nicht entkräften können.
Schließlich ermittelt die indische Regierung wegen der Zahlung von insgesamt 23 Millionen Dollar durch HDW an indische Staatsbedienstete. Vorgestern wurde der entsprechende Bericht des indischen Bundeskriminalamts dem Gericht vorgelegt.Sie sehen, meine Herren und Damen, innerhalb weniger Monate ist die Bundesregierung beim U-Boot-Skandal in eine wenig beneidenswerte Lage gekommen. „Die Geschichte", würde der Bundeskanzler sagen, holt die Schuldigen halt doch gelegentlich ein. Und sagen Sie nicht, meine Fraktion hätte Sie nicht seit Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt. Wir haben Ihnen immer wieder und eindringlich geraten, alles auf den Tisch zu legen, die Wahrheit zu erklären und die Verantwortung zu übernehmen. Sie jedoch wollten lieber weiter vertuschen, Sie wollten, aus welchen Gründen auch immer, ein illegales Rüstungsgeschäft im geheimen fortsetzen, und Sie wollten, daß die Schuldigen straffrei ausgehen.Sehen wir uns jetzt im einzelnen an, was aus dieser Vertuschungsstrategie geworden ist. Ich möchte Ihnen diejenigen Bundesminister vorstellen, die am U-Boot-Skandal beteiligt sind.Da ist in erster Linie Verteidigungsminister Stoltenberg. Er hat zugelassen oder sogar befohlen, daß die ihm unterstellte OFD Kiel unvollständig, ungenügend und fehlerhaft ermittelt. Er hat es geduldet, daß die OFD Belastungsmaterial unterdrückt hatte, daß bei HDW ein Tarnkonto für den in Südafrika am U-Boot-Bau beteiligten Gerd Rademann geführt wird.
Dies tauchte nicht im Bericht auf, geschweige denn daß die OFD dieser Spur ernsthaft nachgegangen wäre. Hinweise auf dubiose Zahlungsvorgänge wurden, einem Bericht des „Spiegel" zufolge, ebenfalls ignoriert.Wenn Herr Stoltenberg der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt gemacht wird, dann besteht dieser Verdacht zu Recht. Ich gehe sogar noch weiter: Auch zwei Wochen, nachdem dieser Verdacht auf Grund des Auftauchens geheimer Vermerke aus dem BMF zum ersten Mal erhoben worden war, hat Minister Stoltenberg nichts zur Aufklärung beigetragen. Zwar läßt er bis in jede Zeitungsredaktion hinein Dementis streuen. Aber den Verdacht hat er nicht zerstreuen können. Im Gegenteil: Wer die Dementis aufmerksam liest, wird einen einfachen Trick feststellen, Herr Kollege. Stoltenberg hat nie dementiert, daß er über den Inhalt der brisanten Vermerke informiert war. Er hat lediglich dementiert, daß ihm die Vermerke vorgelegen hätten.Das Verteidigungs- und das Finanzministerium haben ferner erklärt — und Herr Stoltenberg hat diese Erklärungen übernommen — , daß der „Leitungsebene des Ministeriums und damit dem Minister" die Vermerke unbekannt gewesen seien. Ich sage in aller Deutlichkeit: Dieses Dementi ist falsch. Natürlich war die Leitungsebene des Ministeriums damals über die Vermerke informiert worden. Aus Presseveröffentlichungen und durch eine Erklärung von Herrn Bohl gegenüber dpa ist bereits bekannt, daß der zuständige Abteilungsleiter, Ministerialdirektor Dr. Schmutzer, die Vermerke kannte. Und Dr. Schmutzer soll hierüber nicht mit Staatssekretär Dr. Obert gesprochen haben? Das kann doch wohl nicht sein. Hat der Abteilungsleiter die folgenschwere Entscheidung zur Einstellung des OFD-Verfahrens etwa alleine getroffen?Ein grundsätzliches Problem bei den Dementis ist ungeklärt. Was wird im BMF unter „Leitungsebene" verstanden?
Ich glaube, diese Frage haben wir zu klären. Ich glaube dem Minister deshalb nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß Herr Stoltenberg über den Inhalt des Papiers vom Juli 1987 nicht informiert war, wo doch gerade im April davor der U-Boot-Untersuchungsausschuß wieder neu eingesetzt worden war.Es gibt deshalb nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Minister ist unfähig, sein Ministerium zu leiten, oder er sagt nicht die Wahrheit.
In beiden Fällen muß er die Verantwortung für die damaligen skandalösen Vorgänge im Bundesfinanzministerium übernehmen, und das bald.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Börnsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Eid, Sie haben mit Ihrer Rede eigentlich meinen Eindruck bestätigt, daß es sich hier um einen konstruierten Skandal handelt,
der einige Monate vor der Bundestagswahl noch eine neue Blütezeit erleben soll.
Ich finde, das tut der Sache keinen vernünftigen Dienst.Als Ergebnis der Beweisaufnahme stelle ich für meine Fraktion fest:Erstens. Es hat von der Bundesregierung keine Zusagen für eine Billigung des U-Boot-Blaupausen-Geschäfts gegeben.
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Börnsen
Zweitens. Eine von den Unternehmen angestrebte Genehmigung des Geschäftes ist nicht erteilt worden.Drittens. Es ist bei der Entgegennahme von Informationen außerhalb irgendwelcher formeller Verfahren geblieben.Viertens. Eine Ermunterung für die Exportfirmen zu rechtswidrigem Handeln auf eigene Faust durch scheinbares Wohlwollen ist nicht erfolgt.Fünftens. Es ist von der Bundesregierung gegenüber den Repräsentanten der Firmen wiederholt auf die Aussichtslosigkeit von Anträgen für die Erteilung von Genehmigungen hingewiesen worden.Zu diesem Gesamtsachverhalt heißt es im Bericht der Sozialdemokraten in der Vorbemerkung unter Punkt 2 a auf Seite 63 der Drucksache 11/6141:Nach § 5 AWG bedarf die Lieferung von Konstruktionsunterlagen für den Unterseebootsbau der Genehmigung.Wörtlich heißt es weiter:Eine solche ist im vorliegenden Fall weder beantragt, noch gewährt worden.Das trifft zu; die Regierung hat nicht gehandelt. Diese Feststellung gilt auch für die Erteilung von Lizenzen und Patenten, wofür bei Südafrikageschäften eine Genehmigung eingeholt werden muß. Die Sozialdemokraten vermerken dazu in ihrem Bericht:Auch eine solche Genehmigung ist weder beantragt noch erteilt worden . . .Das trifft zu. Die Regierung hat sich rechtmäßig verhalten.Nach strenger Auslegung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Verordnung ist bei der erfolgten unvollständigen Teillieferung die Schwelle der Genehmigungsbedürftigkeit nicht erreicht worden. Die tatsächlich erfolgten Lieferungen sind weder von der UN-Sicherheitsresolution 418 noch vom deutschen Außenwirtschaftsgesetz erfaßt.
Ich gehe davon aus, daß bei der anstehenden Novellierung des Außenwirtschaftsgesetzes diese Lücke vollständig geschlossen wird. Es gilt, im gemeinsamen Interesse die Grauzonen des Waffenexports zu verhindert. Auch Umwegexporte über Drittländer gehören meiner Meinung nach dazu.Die Lieferung von Blaupausen und Plänen erfolgte ohne Wissen der Bundesregierung. Man erhoffte zwar „grünes Licht", es hat aber keines gegeben. Ich bleibe dabei: Wir haben es hier mit einem konstruierten Skandal zu tun.Eine Prüfung ihrer Wünsche konnten IKL und HDW angesichts der Formulierung des § 45 Abs. 3 der Außenwirtschaftsverordnung erwarten, da für bestimmte Exporte nach Südafrika keine Verbote, sondern Genehmigungsvorbehalte eingesetzt sind.Die Änderung der Außenwirtschaftsverordnung erfolgte im Jahre 1977 unter Verantwortung von Bundeskanzler Helmut Schmidt in voller Kenntnis der UN-Resolution. Für Wirtschaftsminister und Kanzleramt bestand also seit 1977 nach nationalem Recht sehr wohl die Aufforderung zur Prüfung. Daß dabei beide aufs Glatteis geraten sind, haben die Untersuchungen hinlänglich belegen können.Diese weitere Lücke gilt es zu schließen. Die Außenwirtschaftsverordnung muß mit dem UN-Embargo gegenüber Südafrika deckungsgleich sein.Die Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Werftindustrie und dem Zuliefergewerbe sowie die Schaffung neuer Märkte haben bei allen Regierungen bei Waffenexporten eine zentrale Rolle gespielt.
Während dies im U-Boot-Fall jedoch eindeutig theoretische Überlegungen blieben, da bereits im Vorfeld den Exportplänen eine Absage erteilt wurde, kam es in der Zeit von 1974 bis 1981 nach Angaben der Fachzeitschrift „Wehrtechnik" zur Lieferung von insgesamt 18 U-Booten bzw. ihrer vollständigen Konstruktionsunterlagen u. a. nach Peru, Kolumbien, Israel, Chile und Indonesien
und — was besonders verwerflich ist — auch an die Militärjunten von Chile und Argentinien.
— Ich komme gleich dazu. Das hören Sie nicht gern, Herr Gansel, aber diesen Kriegsschiff-Exportboom der 70er Jahre erwähne ich deshalb, weil der Untersuchungsbericht der Sozialdemokraten wie jener der GRÜNEN die unausgesprochene Behauptung enthält, daß die Regierung Kohl/Genscher mit Beginn ihrer Tätigkeit zur Förderung und Ausweitung des Waffenhandels verstärkt beigetragen habe. Diese Behauptung enthalten beide Berichte.Diese These ist eindeutig falsch. Waffenexporte blühten in den 70er Jahren, wie das Stockholmer Friedensinstitut ermittelte. 92 Kriegsschiffe wurden in diesem Zeitraum gebaut, genausoviel wie in den knapp 20 Jahren zuvor. 1984 wurden für 552 Millionen DM schwere Waffen in die Dritte Welt und in Krisengebiete verkauft, 1985 für 217 Millionen DM. Da das Verfahren zur Genehmigung von der Produktion bis zum Verkauf von Waffen ca. drei Jahre dauert, wird klar, daß die Wende zu restriktiverem Waffenexport das Jahr 1982 darstellt. Keine Steigerung hat eingesetzt, sondern eine Reduzierung um fast 60 %. Die 70er Jahre waren die Konjunkturjahre für Waffenexporte. Wer wollte denn eigentlich vier U-Boote an den Iran liefern?
Wer hat denn bereits die Genehmigung für den Export von Leo 2 nach Saudi-Arabien gegeben? Diese Regierung nicht! Die Regierung Kohl/Genscher ist es gewesen, die das Leo-2-Geschäft verhindert hat. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher sind es gewesen, die den Export von U-Booten für den Iran rückgängig gemacht haben; das muß man ganz deutlich sagen.
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Börnsen
Diese Fakten werden auch durch Studie des Friedensforschers und SPD-Mitglieds Eckehart Ehrenberg bestätigt, der unter anderem folgende Beispiele für genehmigten fragwürdigen Waffenhandel im siebenten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erwähnt: die Abgabe von U-Booten an Argentinien Ende 1977, die gleichfalls seit diesem Jahr gelieferten 500 Lkw mit Allradantrieb an die Armee von Südafrika, die Genehmigung für den Bau einer kompletten Fabrik zur Herstellung deutscher Maschinengewehre in Saudi-Arabien, wobei dieses Geschäft am Ende noch platzte.Die Sünden dieser Epoche sollen nicht die Waffengeschäfte der 80er Jahre beschönigen und verniedlichen. Dieser Export in Spannungsgebiete auch über NATO-Verträge durch Drittländer bleibt problematisch und fragwürdig.
Daher war es auch geboten und nötig, daß Gerhard Stoltenberg als damaliger Bundesfinanzminister nach Bekanntwerden der Blaupausenpost für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sorgte.
Beauftragt wurde die rechtlich dafür zuständige OFD, deren Recherchen in einer Pressemitteilung der SPD von Herrn Gansel als gründlich und ordentlich klassifiziert wurden. Ich spreche von Ihrer Pressemitteilung. In diesen Tagen wird nun öffentlich gegen Gerhard Stoltenberg eine schlimme Kampagne inszeniert, obwohl gerade er rechtsstaatlich gehandelt hat. Die Ankündigung dazu gab es bereits in der Debatte am 4. Februar vor zwei Jahren durch die Sprecherin der GRÜNEN, nachzulesen im Protokoll. Nun, wo die Bundestagswahl aktuell wird, personalisiert man die U-Boot-Thematik durch eine unanständige Verleumdungsoffensive gegen Dr. Stoltenberg.
Sie wollen ihn für Vermerke zur Rechenschaft ziehen, die ihm gar nicht vorgelegen haben. Fair wäre es von den betroffenen Presseagenturen gewesen, daß Herrn Stoltenberg vor Veröffentlichung der einseitigen Beschuldigung die Chance zu einer Erläuterung gegeben worden wäre.Abgesehen davon, dieser U-Boot-Ausschuß sitzt auf dem Trockenen.
Ich erinnere daran, daß bereits im Januar 1987 der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof entschieden hatte, mangels eines hinreichenden Anfangsverdachts
ein in seiner Zuständigkeit liegendes Strafverfahren nicht einzuleiten. Ich erinnere daran, daß im Sommer 1987 die Staatsanwaltschaft Kiel zu dem Ergebnis gekommen ist, daß keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine in ihrer Zuständigkeit zu verfolgende strafbare Handlung vorliegen.
Ich erinnere daran, daß die Oberfinanzdirektion Kiel — nach Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft in Kiel — auch einen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz der Bundesrepublik Deutschland verneint hat und daß die Staatsanwaltschaft Kiel am 9. Mai 1988 erklärt hat, keinen Anlaß für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu haben. Und auch die jetzt erfolgten Untersuchungen haben wohl mehr den Charakter einer Pflichtübung.Das Gesamtergebnis läßt sich dahin zusammenfassen, daß es keinen Verstoß gegen die UN-Resolution 418 vom 4. November 1977 gegeben hat. Das Waffenembargo gegen Südafrika ist von dieser Bundesregierung nicht verletzt worden. Etwas anderes ist das Verhalten der Firmen, die Fingerspitzengefühl wirklich haben vermissen lassen.
Es ist an der Zeit, einen Schlußstrich zu ziehen, auch wenn Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein in diesen Tagen einen Rachefeldzug gegen HDW angekündigt haben, wie in meiner Heimatzeitung zu lesen war, weil diese Firma nicht bereit gewesen ist, der Landesregierung zu gehorchen und die Flensburger Werft zu übernehmen.Es ist an der Zeit, zu gesetzlichen Konsequenzen im Außenwirtschaftsrecht zu kommen. Es ist an der Zeit, ein Untersuchungsausschußgesetz zu konzipieren, das sowohl der Minderheit als auch der Mehrheit klarere Kompetenzen zuweist. Es ist an der Zeit, gemeinsam daran zu denken, daß unsere auswärtigen Beziehungen durch die anhaltende U-Boot-Diskussion ständig belastet werden.
Es ist an der Zeit, mit den Verleumdungen unseres Staates, unserer Regierung und der betroffenen Unternehmen aufzuhören, Frau Eid, weil hierbei alle in Mißkredit gebracht werden, insbesondere die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Kiel und Lübeck.Es ist an der Zeit, daß der Oppositionsführer Dr. Vogel endlich seiner staatspolitischen Verantwortung gerecht wird und einen Fraktionskollegen zurückpfeift, der diesen Kontrollausschuß — das, muß ich sagen, ist mein Eindruck — zum Selbstzweck und zur Selbstdarstellung diskreditiert, ohne Rücksicht auf Steuergelder zu nehmen.
Herr Vogel kann sich dabei auf Björn Engholm berufen, der bereits vor sieben Monaten öffentlich erklärt hat — unwiderrufen — , er glaube, der Untersuchungsausschuß in Bonn habe alles getan, was jetzt möglich sei, und alles schon zutage gefördert.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15505
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hiller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige Dinge in diesem Beitrag waren durchaus positiv, insbesondere, wenn man das im Vergleich zum Kollegen Bohl sieht, der in der Tat zur Sache überhaupt nichts gesagt hat.
Das gibt mir eine ganz geringe Hoffnung darauf, daß die Mehrheitsfraktion in der Arbeit des Untersuchungsausschusses lernfähig ist.In Ziffer 4 des Untersuchungsauftrags für diesen Ausschuß hatte die SPD-Fraktion die Frage aufgeworfen, was Bundeskanzler Kohl und andere Mitglieder der Bundesregierung, Mitarbeiter von Bundesministerien und anderer staatlicher Stellen des Bundes getan oder unterlassen haben, um die Umstände der Lieferung von U-Boot-Plänen an Südafrika unverzüglich und vollständig aufzuklären und den Schaden für die deutsche Wirtschaft zu begrenzen. Heute wissen wir: Von der Bundesregierung und von den sie tragenden Fraktionen ist nichts getan worden. Infolge der Verschleppungs- und Verzögerungstaktik bei der Aufklärung des Exports der U-Boot-Pläne nach Südafrika ist ein schwerer und kaum wiedergutzumachender Vertrauensverlust für die deutsche Wirtschaft eingetreten — und dies mit all seinen schweren Folgen für die Werftindustrie als Schlüsselindustrie des Nordens.Aufgabe der mühsamen Arbeit des Ausschusses war und ist: Vor allem die Arbeitnehmer müssen vor den Folgen der Verfehlungen einiger Spitzenmanager geschützt werden, denen die schnelle Mark im heißen Rüstungsgeschäft unter Umgehung des nationalen und internationalen Rechts mehr am Herzen liegt als eine Umstellung auf zivile Produktion. Dies hatte mein Kollege Gansel bereits 1986 an dieser Stelle hervorgehoben.Dagegen hat Bundeskanzler Kohl andere Überlegungen gehabt. Zitat von Seite 87 des Berichts: Der Bundeskanzler hat seine Überlegung, vollständige U-Boote zu liefern, damit begründet, es habe der notleidenden Werftindustrie geholfen werden sollen. — Diese Politik war falsch, dilettantisch und unverantwortlich, insbesondere gegenüber den Arbeitnehmern in Lübeck und in Kiel, von denen auch der Kollege Börnsen gesprochen hat.Wir wollen Arbeitsplätze schützen, an denen zum zivilen Nutzen und für die militärische Notwendigkeit unserer eigenen Sicherheit gearbeitet werden kann.Dagegen hat das Management der beiden Lieferfirmen HDW und IKL das eigene Interesse vor das der Firmenmitarbeiter gesetzt. Dies soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden. 1982 schloß HDW mit Indien ein Geschäft über die Lieferung von U-Booten ab, bei dem es zunächst um ein Auftragsvolumen von ungefähr 800 Millionen DM ging. Dies wurde entsprechend modifiziert. — Heute wissen wir aus den Akten, daß für Indien bestimmte Konstruktionspläne ebenfalls an Südafrika geliefert wurden, wobei für Südafrika besondere Modifikationen eingebaut wurden. Diese Modifikationen für Südafrika betreffen einen größeren Aktionsradius sowie Abschußvorrichtungen für Kurzstreckenraketen. Als die damalige indische Regierung davon erfuhr, daß diese Pläne auch an Südafrika gingen, nahm sie Abstand vom Kauf weiterer U-Boote, obwohl dies ursprünglich vertraglich vorgesehen war. Statt dessen orderte sie diese Boote in der Sowjetunion.Die SPD-Fraktion hatte seinerzeit prinzipelle Bedenken gegen dieses Rüstungsexportgeschäft mit Indien angemeldet. Aber, meine Damen und Herren, dieses Geschäft war rechtmäßig, entsprach den Richtlinien und Gesetzen, die in der Bundesrepublik Deutschland für den Export von Rüstungsgütern gelten, und war mit den erforderlichen Genehmigungen ausgestattet.1987 platzte ein weiteres Geschäft mit Australien, das nach dem SPD-Entwurf zur Reform des Kriegswaffenkontrollgesetzes, das CDU/CSU und FDP gestern abend abgelehnt haben, hätte genehmigt werden können, ohne daß es zu außenpolitischen Verwicklungen gekommen wäre. Deshalb finde ich es besonders infam, wenn mein Kollege Börnsen aus dem schönen Bönstrup in der Öffentlichkeit behauptet, die Arbeit dieses Untersuchungsausschusses sei die Ursache für das geplatzte Australien-Geschäft.
Tatsache ist, daß seit Oktober 1987 ein vertraulicher Bericht des Rechnungsprüfungsausschusses im Deutschen Bundestag zu der Frage vorliegt, aus welchen Gründen das U-Boot-Geschäft mit Australien nicht zustande kam. Hieraus ergibt sich eindeutig, daß es wegen schwerwiegender Fehler und Versäumnisse des Managements von HDW gescheitert ist. Diesen Bericht kann Herr Börnsen — der nun leider nicht mehr hier ist — in der Geheimschutzstelle des Bundestages einsehen.
Wir wissen auch, meine Damen und Herren, daß gerade Australien die schärfsten Bestimmungen in der Politik des Exports nach Südafrika hat. Deshalb kann man davon ausgehen, daß diese finanziellen Verwicklungen, die Gespräche mit Südafrika, sicherlich keine Werbung für dieses Geschäft gewesen sind, sondern letztlich den Arbeitnehmern damals in einer schwierigen Situation in Norddeutschland extrem geschadet haben.Man muß dazu sagen — dieses Management befindet sich ja heute noch im Amte — , daß einem an höherer Stelle nichts passieren kann, wenn man eine Leiche im Keller hat. Die einseitige Fixierung von HDW auf den Kriegsschiffbau hat die Modernisierung der Werft verhindert und die Arbeitsplätze gefährdet. Hätten sich die Pläne des Managements durchgesetzt, sich nur noch auf Kriegsschiffbau zu konzentrieren, dann würde es heute in Kiel gar keine Werftarbeitsplätze geben, wenn die Rüstungskonversion endlich mehr Raum in dieser Geschichte einnehmen würde.Meine Damen und Herren, das nur zu der heute nicht so hochgekommenen Diskussion, bei der es heißt, wir würden durch die Aufklärungsarbeit Arbeitsplätze verhindern. Das Gegenteil ist letztlich der
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Hiller
Fall. Die Fakten müssen auf den Tisch, damit die Arbeitsplätze gesichert werden.Sie verwechseln immer Ursache und Wirkung. Die Ursache der Fehlentwicklung liegt doch nicht in der Aufklärungstätigkeit, sondern sie liegt in dem Mißmanagement und in den Fehlern der Firmen und der Bundesregierung und in nichts anderem.
Und, Herr Bohl, sie liegt in der von Ihnen seit Jahren betriebenen Verschleppungstaktik im Ausschuß.
Ich kann der Öffentlichkeit nur empfehlen, diesen Bericht einmal zu studieren, damit sie sich ein Bild davon machen kann, was sich die Mehrheit hier leistet.
— Wenn Sie dem widersprechen, dann kann ich nur sagen: Gerade von Liberalen, die den liberalen Rechtsstaat immer so hoch halten, habe ich etwas anderes erwartet.
Meine Damen und Herren, seit etwa eineinhalb Jahren gehöre ich diesem Ausschuß an. Nur in der ersten Sitzung, an der ich teilgenommen habe, wurde tatsächlich etwas zur Aufklärung getan. Das muß man sich wirklich mal reinziehen, daß Sie es eineinhalb Jahre geschafft haben, hier jegliche Aufklärungsarbeit, Zeugenvernehmung systematisch zu verhindern. Ich finde das peinlich.
Ich hätte mir nicht geträumt, als ich in den Ausschuß kam, daß so etwas in einem deutschen Parlament vorkommen kann.
Sie haben nicht nur Schaden verursacht — wovon ich schon gesprochen habe —,
sondern Sie haben auch — das füge ich hinzu — der deutschen Demokratie und dem Verständnis der Öffentlichkeit von einem Untersuchungsausschuß erheblichen Schaden zugefügt. Sie werden sich noch wundern. Ich fordere Sie auf, die Ausführungen, die Sie an diesem Pult immer gemacht haben, auf den neuesten Stand zu bringen. Früher war bei Ihnen in der Sache mehr vorhanden. Das meiste ist schon weg. Heute haben Sie es nur mit Beschimpfungen gemacht. Sonst ist nichts übriggeblieben.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat auch durch ihre Dickbräsigkeit und Hartleibigkeit bei der Aufklärung der Affäre um die Umstände desBlaupausendeals mit Südafrika das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in den Schmutz gezogen. Das war nicht Herr Gansel, sondern das sind letztlich Sie mit Ihren tragenden Parteien. Sie haben der norddeutschen Schiffbauindustrie schweren Schaden zugefügt. Als Lübecker kann ich es nur bedauern; denn Kollege Börnsen hat davon gesprochen, daß mein Wahlkreis, die Hansestadt Lübeck, durch diese Affäre, durch Ihr Verhalten, über Jahre hinweg in den Dreck gezogen wurde.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Verehrte Damen und Herren! Es war von den Regierungsfraktionen heute nicht anders zu erwarten: Sie sehen beim U-Boot-Skandal keinen weiteren Aufklärungsbedarf. Die Auseinandersetzung um den U-Boot-Ausschuß vor allem im nächsten halben Jahr verspricht also, spannend zu werden. Nicht etwa, daß ich glaube, daß die Blockadepolitik der Regierungsparteien in dem Ausschuß selber aufhören wird. Aber je mehr Widersprüche und offene Fragen aber die Presse und das Fernsehen in den kommenden Tagen und Wochen formulieren werden, desto heftiger wird das Bohlsche Dementi, wie auch heute, werden. Je mehr der Bundeskanzler ins Gerede kommen wird, um so lauter wird der treue Friedrich Bohl behaupten, der Bundeskanzler sei doch gar nicht im Gerede.Wenn es neue Enthüllungen über die Rolle des Bundesaußenministers geben wird, wird Frau Seiler-Albring munter weiter erklären, das seien keine Enthüllungen, der Außenminister habe ja immer nein zu dem illegalen Südafrikageschäft gesagt.
Was wird das für ein schöner Eiertanz werden und wieviel Porzellan werden Sie, Herr Bohl und Frau Seiler-Albring, noch zerdeppern! Wie ärgerlich ist es für Sie beide, daß trotz all Ihrer Bemühungen durch die Arbeit in der Öffentlichkeit und verschiedener Journalisten, die inzwischen zum Teil die Arbeit des Untersuchungsausschusses übernommen hab en, die weiße Weste der Minister immer mehr Flecken bekommen wird!Nach den heutigen Reden füge ich hinzu: Wie wohltuend wird es sein, wenn Sie dann Woche um Woche von Ihren vollmundigen Erklärungen, die Sie auch heute wieder abgegeben haben, herunterkommen und scheibchenweise immer mehr die Wahrheit eingestehen müssen; denn bereits heute ist doch völlig klar, daß der Mehrheitsbericht zum U-Boot-Ausschuß, den Sie abgegeben haben, nicht einmal das Papier wert ist, auf dem er steht.
Sie werden ihn sehr bald korrigieren müssen, und zwar an entscheidenden Punkten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15507
Frau BeerIch sage Ihnen, Herr Bohl: Eine Kriegswaffenexportmafia — dieses Wort benutze ich bewußt — kann sich auf Dauer nicht dem Empören der Öffentlichkeit entziehen. Das werden Sie nicht schaffen. Das wird auch das „Nordlicht", Herr Stoltenberg, nicht schaffen, wenn er sich so wie in dieser Debatte als Schlußlicht erweist und nicht einmal den Mut hat, in die Oppositionsdebatten hineinzugehen und sich dann auch noch die Antwort geben zu lassen. Er versucht damit zum zweiten, Herrn Genscher zu kopieren, der in einem mindestens genauso verächtlichen Skandal, nämlich beim C-Waffen-Export nach Libyen, die gleiche Taktik angewandt hat. Genauso ist es mit dem Dementieren von Telexen, die direkt auf den Schreibtisch der Minister flattern; sie sind angeblich nie gesehen worden.Zur Rolle des Bundeskanzlers. Noch nie ist Helmut Kohl zu dem Brief, den sein verstorbener Freund Strauß geschrieben hat, befragt worden. Sie haben das verhindert. Dieser Brief wirft nach wie vor diverse Fragen auf und birgt sehr viel Sprengstoff in sich,
beweist er doch, daß der Bundeskanzler vor dem U-Boot-Untersuchungsausschuß vorsätzlich die Unwahrheit gesagt hat,
als er von den GRÜNEN gefragt wurde, wann er zum erstenmal von dem berüchtigten Vertragsabschluß zwischen Südafrika und den Firmen gehört habe. Wir haben einen Bundeskanzler, der Mitglieder dieses Parlamentes belogen hat.
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.Offen ist die Frage nach den Gründen. Diese werden wir untersuchen. War Helmut Kohl noch wesentlich stärker am illegalen U-Boot-Geschäft beteiligt, und dies vielleicht mehr als bisher bekannt? Das würde erklären, warum er das große Risiko einer Falschaussage auf sich nahm, obwohl ihm die Erfahrungen beim Flick-Skandal zu Beginn seiner Vernehmung noch lebhaft in Erinnerung waren.Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher werden der Frage in den nächsten Wochen nicht ausweichen können, warum sie bisher verschwiegen haben, daß sie sich bereits am 1. Juni 1983 zusammen mit Strauß mit dem U-Boot-Geschäft beschäftigt haben.Auch das weitere Geheimnis der Minister Schäuble und Waigel werden wir versuchen noch in diesem Ausschuß zu klären. Mitten während der Hochphase des illegalen U-Boot-Geschäftes haben der ehemalige Landesgruppenchef und der neu ins Amt gekommene Chef des Kanzleramtes mit den Firmenvertretern Nohse, Hansen-Wester und Zoglmann in Bonn ein Treffen abgehalten. Auch dieses Treffen vom 11. Dezember 1984 werden wir im Ausschuß klären, auch wenn Ihnen das nicht paßt, Herr Bohl. Wir werden es nicht hinnehmen — keine einzige Sitzung länger —, daß Sie diesen Ausschuß behindern, und einen Zeugen wie Minister Stoltenberg, der sich immer mehr in Widersprüche verstrickt, vorladen und vernehmen.Wenn Sie die UNO noch so sehr angreifen, dann wird uns das nicht hindern, hier zu zeigen, daß Sie zu den übelsten Mitteln greifen müssen, weil Ihnen das kalte Wasser tatsächlich bis über dem Kragen steht.Ich hoffe, daß wir die Punkte, die wir heute angerissen haben, im Abschlußbericht noch schriftlich niederlegen werden, und das mit den Ergebnissen und den politischen Konsequenzen, die diese Bundesregierung daraus zu ziehen hat.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Gansel.
Ich dachte, Herr Präsident, daß Minister Stoltenberg vielleicht etwas dazu sagen wollte.
Aber ich will die Chance nutzen, daß er in dieser Debatte anwesend ist. Ich finde es gut, Herr Minister, daß Sie diese Debatte über den Zwischenbericht des U-Boot-Untersuchungsausschusses so wichtig nehmen. Ich respektiere auch, daß das vielleicht Ausdruck dessen ist, was sich vor dem Parlament gehört.Ich will deshalb die Chance nutzen, gleich zur Sache zu kommen. Ich will keine lange Zwischenbilanz der bisherigen Untersuchungen ziehen, sondern hier das tun, was wir auch im Untersuchungsausschuß machen müssen, nämlich Aufklärung. Ich will diese Chance hier nutzen, Herr Minister, daß Sie hier sind. Vielleicht antworten Sie noch, und vielleicht erleichtert das die nächste Vernehmung, die uns ja mit Ihnen bevorsteht.Sie, Herr Stoltenberg, haben in diesen Tagen ausgerechnet durch den Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums erklären lassen, die gegen Sie in der Presse erhobenen Vorwürfe seien haltos. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums zu dieser Affäre — das fällt unter das Stichwort Korrektheit; denn eigentlich kann über die Aktenlage des Bundesfinanzministeriums nur der Sprecher des Bundesfinanzministeriums etwas sagen.Aber wie dem auch sei, wir sind schon der Meinung, daß Sie persönlich zu der Sache Stellung nehmen sollten. Wir meinen auch, daß das in Ihrem Interesse liegt. Wir haben deshalb heute im Untersuchungsausschuß Ihren Fraktionsfreunden angeboten, daß Sie schon in der nächsten Woche vor dem Untersuchungsausschuß vernommen werden und Erklärungen abgeben können. Dieses Angebot ist abgelehnt worden.Wir haben dann noch einen Antrag gestellt, und auch der ist abgelehnt worden. Wir haben dann weitere Anträge gestellt, Sie als Zeuge im Untersuchungsausschuß zu laden. Beschlossen sind Sie als Zeuge schon, Herr Minister. Nur Ihre Ladung ist von Herrn Bohl aus terminlichen Gründen abgelehnt wor-
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15508 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Ganselden. Nun haben Sie Zeit. Nutzen wir die Chance hier!
Für mich ist die entscheidende Frage noch immer, warum sich die Bundesregierung überhaupt auf das Rüstungsgeschäft mit Südafrika eingelassen hat, und ich suche da wirklich nach Gründen. Hat es da eine Rolle gespielt, daß zwei Vermittler, der ehemalige FDP- und CSU-Abgeordnete Zoglmann, der im Bundeskanzleramt ein- und ausging und enge Beziehungen zu Franz Josef Strauß hatte, und ein südafrikanischer Agent für das Geschäft Provision erhalten sollten, die je nach Umfang der vorgesehenen Lieferungen, die zwischen 60 Millionen und 1,7 Milliarden DM betragen sollten, man höre und staune: 5 bis 140 Millionen DM betragen sollte?Warum hat die Bundesregierung eigentlich alles getan, um Ermittlungen durch die zuständige Staatsanwaltschaft zu verhindern, und dadurch den Firmenmanagern objektiv den Eindruck vermittelt, es könne ihnen nichts passieren? Gibt es tatsächlich eine Zusicherung der Bundesregierung an die Rüstungsfirmen für — ich zitiere — „Rückendeckung für den Fall, daß sich Schwierigkeiten ergeben" ? Eine solche Rückendeckung war jedenfalls in der Regieanweisung, „Argumente IK 97" betitelt, enthalten, die Sie, Herr Minister Stoltenberg, von einem Firmenmanager im Oktober 1983 zur Kenntnis erhielten. Wurde diese Rückendeckung versprochen und tatsächlich gewährt, von wem, wer wußte davon, warum und zu wessen Nutzen?Als Ihnen, Herr Stoltenberg, in einer Vernehmung des Untersuchungsausschusses vorgehalten wurde, daß die Firmen in einer Geheimsprache miteinander kommunizierten, „Cover-Stories" für das Rüstungsgeschäft vereinbart hatten, mit doppelten Pässen arbeiten wollten, da war Ihre kurze Bewertung — ich zitiere — :Das sind ungewöhnliche Methoden, die zeigen, daß die Absicht bestand, ein nicht genehmigtes Geschäft im Dunkeln abzuwickeln.— nicht nur die Methoden waren ungewöhnlich; ungewöhnlich ist, daß in dieses Geschäft der Bundeskanzler, der Außenminister, der Verteidigungsminister, mehrere Staatssekretäre und der Bundesfinanzminister selbst verwickelt waren und verwickelt sind. Sie alle waren von dem Vorhaben der Firmen informiert, unter Verletzung geltenden Rechts mit Südafrika zusammen U-Boote zu bauen.
Mit Ausnahme des Bundeskanzlers und des bayerischen Ministerpräsidenten waren sie auch alle durch Amt- und Dienststellung in unterschiedlicher Weise verpflichtet, an der Aufklärung möglicher Gesetzesverstöße mitzuwirken. Die praktische Möglichkeit, „für den Fall, daß sich Schwierigkeiten ergeben," Rückendeckung zu gewähren, war durchaus vorhanden, wenn auch nur wiederum unter Verletzung von Gesetz und Verfassung.Objektiv ergeben sich in einer solchen Situation auch dann unvermeidliche Interessenkonflikte, wenn sich die Betroffenen um größte Korrektheit bemühen. Herr Stoltenberg, Sie stehen im Ruf der Korrektheit. Sie haben diesen Ruf in der U-Boot-Affäre restlos und endgültig verspielt.Als am 26. November 1986 durch einen Pressebericht der „Kieler Nachrichten" die U-Boot-Affäre in Umrissen bekannt wurde, zeigte sich der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel überrascht. — Ich hoffe, Herr Stoltenberg, daß Sie wenigstens bei diesem Namen aufhorchen. —
Die Landesregierung, so Barschel, sei über das anhängige Ermittlungsverfahren bei der OFD Kiel nicht informiert worden, obwohl sie zusammen mit dem bundeseigenen Salzgitter-Konzern Anteilseigner der HDW sei.Als in der Aktuellen Stunde des Bundestages zwei Tage später der SPD-Fraktionsvorsitzende Vogel mit einem Zwischenruf auf die scheinbare — ich sage bewußt: scheinbare — Unkenntnis des schleswig-holsteinischen Anteilseigners hinwies, versuchte Bundesfinanzminister Stoltenberg ihn zu belehren — Originalton — :Natürlich haben sich die beteiligten Beamten, wie es das Gesetz vorsieht, in einem schwebenden Verfahren an die Vertraulichkeit zu halten. Das ist Ihnen als Justizminister doch keine fremde Kategorie.Eine Woche später erklärte Herr Stoltenberg dem Haushaltsausschuß des Bundestages, der Aufsichtsrat der HDW und der Miteigentümer, das Land Schleswig-Holstein, sei nicht informiert worden, weil es — ich zitiere Sie, Herr Stoltenberg —nach meiner Überzeugung notwendig war, jeden Anschein des Verdachts politischer Einwirkungen auf das rechtsstaatlich gebotene Verfahren der Oberfinanzdirektion zu vermeiden. Erst nach dem Abschlußbericht der OFD ist eine zuverlässige Unterrichtung der Organe der HDW .. . möglich .. .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
nach Rücksprache und mit Zustimmung Minister Stoltenbergs.
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GanselSie haben diese Aussage Ihres Staatssekretärs später vor dem Untersuchungsausschuß bestätigt.
Herr Stoltenberg, Sie befanden sich in Ihrer Zuständigkeit für die Bundesbeteiligung und für die Oberfinanzdirektion in einem zusätzlichen Interessenkonflikt. Aus rechtsstaatlichen Gründen war Ihnen auf Grund Ihrer Funktion als ermittelnde Behörde eine Vorabinformation eines möglicherweise von einem Ermittlungsverfahren betroffenen Unternehmens verboten. Aber die normale Reaktion eines Firmeneigentümers wäre wahrscheinlich gewesen, durch Anweisung in seiner Firma Ordnung zu schaffen, wenn er erfährt, daß sie in eine krumme Geschichte verwickelt ist.So war denn auch in der Bundespressekonferenz Ende November 1986 danach gefragt worden, ob vielleicht der Vertreter des Bundesfinanzministeriums im Aufsichtsrat von Salzgitter eine Weisung bekommen habe, das Rüstungsgeschäft aufzuklären oder seine Fortführung zu verhindern. Der damalige Chef des Bundeskanzleramts, Bundesminister Schäuble, antwortete dem Journalisten auf die Frage, ob dem Vertreter des Bundesfinanzministeriums bei Salzgitter eine Weisung erteilt sei — Schäuble Originalton —:Aber ich bitte Sie! Wenn eine solche Weisung ... erteilt worden wäre, dann müßte sich derjenige, der eine solche Weisung erteilt hätte, möglicherweise den Vorwurf der Begünstigung einhandeln,
denn man kann ja, wenn sie denjenigen, gegen den sich ein vielleicht einzuleitendes Verfahren richtet, vorher informieren, möglicherweise den Erfolg des Verfahrens beeinträchtigen. Dies nennt man in der Sprache unseres Strafgesetzbuches Begünstigung, möglicherweise sogar Beihilfe.So Bundesminister Schäuble.Als im Juli 1987 ein Oberregierungsrat aus dem Bundesfinanzministerium die Oberfinanzdirektion Kiel besuchte und im Gespräch mit dem OFD-Präsidenten Hansen zu klären versuchte, warum im Rahmen der Ermittlungen gegen HDW nur die Betriebsprüfer und nicht, was richtiger gewesen wäre, die Zollfahndung eingesetzt worden sei, gab OFD-Präsident Hansen seiner Verwunderung darüber Ausdruck — ich zitiere aus dem Vermerk des Beamten —,daß Staatssekretär Tietmeyer HDW vor Prüfungsbeginn durch die OFD davon unterrichtet haben soll, daß demnächst die OFD bei HDW prüfen werde.Der Beamte kommt in seinem Reisebericht, der dem Untersuchungsausschuß vom BMF vorenthalten wurde und erst jetzt durch eine Indiskretion bekanntgeworden ist, zu dem Schluß — ich zitiere wieder —:Wenn das richtig ist, sind natürlich tatsächlicheErmittlungshandlungen auch durch Fahndungsmaßnahmen sehr gefährdet, weil dann eventuellbelastendes Material rechtzeitig beseitigt werden kann.Das ist eine bemerkenswerte Schlußfolgerung.Bemerkenswert ist auch, daß der Mann, den Staatssekretär Tietmeyer vor der Aufnahme von Ermittlungen gegen das zu beaufsichtigende Unternehmen in so zuvorkommender Weise unterrichtete, selbst in den zu ermittelnden Vorgang involviert war. Pieper hatte Herrn Stoltenberg nämlich im Oktober 1983, wie mein Kollege Hans-Jürgen Wischnewski schon erwähnt hat, „absprachegemäß" — so heißt es in dem Brief, der übrigens als „persönlich vertraulich" klassifiziert war — davon informiert, daß die Salzgitter-Tochter HDW und das IKL gemeinsam beabsichtigten, Fertigungsunterlagen der U-Boote — ich zitiere wieder —, „die bei HDW nach IKL-Zeichnungen für Indien im Bau sind", nach Südafrika zu verkaufen. In Kenntnis des Umstandes, daß eine legale Abwicklung dieses Geschäfts ausgeschlossen war, hatte Herr Pieper dem „sehr geehrten Herrn Minister" auch mitgeteilt — ich zitiere wieder — : „Die Unterlagen gehen als Mikrofilm im Diplomatengepäck über die Grenze", und man wolle die Aufbauten der U-Boote verändern, „um deutsches Design zu vermeiden"Es ist richtig, daß mit diesem Brief kein Antrag gestellt oder auch nur in Aussicht gestellt worden ist. Es ist auch richtig, daß die Bundesregierung nie die nach dem Außenwirtschaftsgesetz formal notwendige schriftliche Genehmigung erteilt hat, die bei rechtlich zulässigen Exporten notwendig gewesen wäre.Aber darum geht es in der Affäre nicht. Diese Affäre ist dadurch bestimmt, daß man, ohne einen Antrag zu stellen und eine Genehmigung zu bekommen, sozusagen mit grünem Licht, mit politischer Rückendekkung ein illegales Geschäft machen wollte.
Genau dieses, Herr Minister Stoltenberg, müssen Sie in dem Brief von Herrn Pieper erkannt haben.
Sie können mir nicht erklären, daß es Ihnen da an Scharfsinn gefehlt hat.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Untersuchungsgegenstandes unseres Ausschusses, daß die von Herrn Stoltenberg weisungsabhängige Oberfinanzdirektion Kiel gegen den Korrespondenzpartner Pieper nie ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat. Er ist noch nicht einmal als Zeuge gehört worden. Seine Vernehmung als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuß scheiterte daran, daß man ihm ein Auskunftsverweigerungsrecht zubilligte, weil er sich sonst der Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde. Das wurde pikanterweise damit begründet, Herr Pieper habe — ich zitiere — „in ähnlicher Weise wie ein Vorstandsmitglied von HDW gehandelt" .Herr Stoltenberg, Ihnen waren bei Ihrer Befragung im Haushaltsausschuß der Brief von Herrn Pieper und die „Argumente IK 97 " erinnerungsmäßig nicht prä-
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Ganselsent. Erst nachdem sie im Büro von Herrn Staatssekretär Tietmeyer angefunden wurden — zufällig, wie Herr Tietmeyer sagte; er wußte nicht, woher das plötzlich kam — , da hat man sich erinnert. Herr Tietmeyer meinte an Hand einer Notiz nachweisen zu können, er habe dem HDW-Aufsichtsratsvorsitzenden in Ihrem Auftrag, Herr Stoltenberg, als Antwort auf jenen Brief Weihnachten 1983 mitgeteilt, der Minister rate dringend, die Finger davon zu lassen. Merkwürdig erscheint als Folge davon, daß sich Herr Pieper nicht an diesen Rat gehalten hat und sich, auch nachdem das Geschäft gelaufen und bekanntgeworden war, weiterhin Ihres Vertrauens erfreuen konnte.Bemerkenswert ist, daß sich dieses Dokument, dieser Brief, erst im Laufe der Arbeit des Untersuchungsausschusses schließlich in vier verschiedenen Ministerien angefunden hat. — Also, da war vieles ungewöhnlich.Ungewöhnlich ist auch,
daß, nachdem die Oberfinanzdirektion Kiel dabei war, das Verfahren in Abstimmung mit dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Bundesfinanzministerium einzustellen, und sie noch einmal von jenem Beamten aus dem Bundesfinanzministerium besucht wurde, dieser in seinem Reisebericht für das Ministerium festhielt — ich zitiere —.Für eine Einstellung des Verfahrens zum jetzigen Zeitpunkt ohne vorherige Einschaltung der Staatsanwaltschaft ist m. E. auf keinen Fall Raum, schon um sich nicht dem Vorwurf der Strafvereitelung im Amt ausgesetzt zu sehen.Begünstigung, Beihilfe zum Vergehen gegen das Außenwirtschaftsgesetz, Strafvereitelung im Amt — es ist schon erstaunlich, wie aus der Bundesregierung selbst der Staatsanwaltschaft die Stichworte gegeben werden.Jetzt, Herr Minister, haben Sie das Wort. Wenn Sie es ergreifen, haben Sie es so gewählt, daß Ihnen niemand mehr entgegnen kann. Mit dieser Methode werden Sie auf die Dauer nicht durchkommen. Sie werden im Untersuchungsausschuß noch einmal vernommen werden. Herr Stoltenberg, auf die Dauer gibt es für Sie nur eine Alternative: Entweder treten Sie vor, oder Sie treten zurück.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben, glaube ich, gerade einmal mehr erlebt — mancher Kollege kann sich das jetzt vielleicht besser vorstellen — , wie hier die SPD und der Kollege Gansel arbeiten: mit Verdrehungen, Halbwahrheiten, Verdächtigungen und vor allen Dingen mit jeder Menge Schmutz. Ich muß ganz ehrlich sagen: Ich halte es für unerträglich, wie hier politisch agiert wird.
Nach dem Zitat von Herrn Gansel heißt es:Die damalige Bundesregierung hat das IKL hierzu mündlich aufgefordert und Rückendekkung zugesichert für den Fall, daß sich Schwierigkeiten ergeben würden.Meine Damen und Herren, „damalige Bundesregierung " bezieht sich aber auf die Bundesregierung der 70er Jahre, auf die SPD-geführte Bundesregierung.
So werden die Dinge hier verdreht!Dann sagen Sie, Herr Gansel, Herr Bundesminister Stoltenberg habe im Hinblick auf die Unterrichtung des Herrn Pieper eine falsche Aussage gemacht. Ich kann Ihnen nur entgegnen, daß bereits in der Sitzung des Haushaltsausschusses am 3. Dezember 1986 Herr Minister Stoltenberg ausweislich des vorliegenden Protokolls gesagt hat — jetzt zitiere ich einmal; ich weiß nicht, ob das zulässig ist oder nicht; ich darf das einmal unterstellen — :Aber ich will dem Gesagten noch hinzufügen, daß mit meiner Zustimmung — ich kann Ihnen den Termin jetzt nicht genau sagen — der zuständige Staatssekretär Tietmeyer, jetzt für die Beteiligungen zuständig, den Aufsichtsratsvorsitzenden, Herrn Pieper, darüber unterrichtet hat, daß ein Ermittlungsverfahren bei der OFD läuft, in das möglicherweise auch der Vorstand von HDW informiert worden sei.
Das ist wahrscheinlich sprachlich jetzt nicht ganz korrekt. Aber der Sinn ist, daß Herr Stoltenberg offenkundig schon am 3. Dezember hier eindeutig gesagt hat, was Sache ist.
— Nun hören Sie doch endlich auf, hier Ihren kleinkarierten Privatkrieg auszutragen. Das ist doch dem Hohen Hause gar nicht angemessen. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis!
— Herr Duve, es kommt nicht auf den Kehlkopf an, sondern auf den Kopf. Und jetzt lassen Sie mich das bitte ausführen.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen ein Weiteres sagen: Es ist ganz offenkundig, daß Sie nicht bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Untersuchungsausschuß staatliche Gewalt ausübt und daß wir uns bei unserer Aufklärungsarbeit daran zu orientieren haben, was Recht und Gesetz sagen. Da können Sie nicht, weil es Ihnen in den Kopf paßt, schlicht und
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Bohleinfach einmal Zeugen vorladen, sie ausquetschen oder auch zwangsweise vorführen.
Das ist nun einmal weder Ihr noch unser Recht.Wir haben vielmehr ein justizförmliches Verfahren für diese Dinge.
Wir leben in einem Rechtsstaat. Wenn jemand z. B. die Aussage verweigern will und einen berechtigten Grund dafür hat, dann kann er die Aussage verweigern.Sie müssen beispielsweise zur Kenntnis nehmen, daß dann Gegenüberstellungen, verehrter Herr Wischnewski, einfach nicht zulässig sind. Wenn Sie uns vorwerfen, wir würden keine Gegenüberstellungen vornehmen, wissen Sie es entweder nicht besser — das will ich Ihnen einmal zugute halten — oder, wenn Sie es wissen, würde ich es für schäbig halten. Wir können solche Gegenüberstellungen dann gar nicht vornehmen, und Sie dürfen es uns auch nicht vorwerfen.Nun lassen Sie das doch endlich einmal: Stellen Sie sich doch nicht in den Dienst von Herrn Gansel, der seinen Kleinkrieg hier austrägt. Dafür sollten Sie sich im Grunde genommen selbst viel zu schade sein. Das ist die Wahrheit!
Nun geht es ja in einem Zug weiter. Sie stellen sich hierhin und sagen: Bei dem Telefonat im Juli hat Herr Schreckenberger grünes Licht gegeben. So wurde es hier vorhin schlankweg behauptet. Ich muß aber zur Kenntnis nehmen, wenn ich in den Akten weiterblättere, daß in den Protokollen HDW selbst zu einer Vorstandssitzung ein halbes Jahr später schreibt: Grünes Licht aus Bonn ist noch nicht da. Punkt, Ende.
Also sagt die Firma selbst: Grünes Licht ist noch nicht da. Aber Sie stellen sich locker vom Hocker hin und sagen: Im Juli hat Schreckenberger grünes Licht gegeben. Nach dem eigenen Vortrag der Firma ist das gar nicht der Fall.
Also, was soll das, Herr Wischnewski? Halten Sie sich doch bitte schlicht und einfach einmal an die Wahrheit!
Der nächste Punkt — und ich muß sagen, es ist ja unglaublich — : Sie gehen durch die Lande und fragen: Warum hat Herr Stoltenberg damals als Finanzminister nicht seine Eigentümerposition hier endlich einmal ins Spiel gebracht und sich um die Dinge gekümmert?
Jetzt informiert Herr Stoltenberg Herrn Pieper. Das ist der Aufsichtsratsvorsitzende. Falls Sie das deutsche Gesellschaftsrecht nicht kennen sollten, sollten Sie sich vielleicht einmal ein kleines Repetitorium zulegen. Herr Pieper ist Aufsichtsratsvorsitzender. Er gehört also nicht zur Geschäftsführung von HDW. Gegen Herrn Pieper hat ja kein Ermittlungsverfahren stattgefunden; gegen ihn ist gar keines eingeleitet gewesen. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender. Das Ermittlungsverfahren richtete sich gegen HDW und die Vorstandsmitglieder, und das ist etwas ganz anderes.Also, was soll die ganze Aufregung und die Unterstellung, Herr Stoltenberg wollte sozusagen einen Verdächtigen vorab warnen? Das ist doch absurd, lächerlich und ehrenrührig. Das sollten Sie zurücknehmen, Herr Wischnewski. Das ist doch unglaublich!
Weil das alles so ist, müssen Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen, daß der Knochen abgenagt ist. Ich kann es ja nun auch nicht ändern. Er ist schlicht und einfach abgenagt. Sie können noch lange daran nagen; Sie können daran lutschen und sich die Zähne ausbeißen. Das ist völlig egal. Aber Sie werden aus dieser Sache nichts mehr herausholen. Sie können nun einmal aus einer Fischsuppe kein Aquarium mehr machen. Diesen Sachverhalt haben wir hier festzustellen. Die Sache ist zu Ende!
— Ich möchte jetzt auch keine Zwischenfrage von Herrn Gansel zulassen, weil er uns und mich mit seiner Art häufig genug — auch im Ausschuß — traktiert und ärgert. Ich muß auch sagen: Das ist wieder so richtig typisch; er ist nicht bereit, auch einmal einen Fehler zuzugeben und das zurückzunehmen, was hier an falschen Dingen vorgetragen worden ist.
Langer Rede kurzer Sinn: Ich bleibe dabei, was Sie mit diesem Untersuchungsausschuß machen, ist wirklich schon ein stolzes —, Entschuldigung, ein tolles Stück.
— Na ja, wenn das Ihre ganze Freude ist, bitte, dann lachen Sie jetzt mal.
— Gut, danke.
Es ist wirklich ein tolles Stück: Erst formulieren Sieeinen verfassungswidrigen Untersuchungsauftrag.
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15512 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
BohlDann sind Sie gar nicht in der Lage, in irgendeiner Form eine Reparatur vorzunehmen. Dann müssen Sie vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Das Verfahren zieht sich ein Jahr hin. Sie sind zu keiner Einsicht in der Lage und nicht bereit, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Sie haben nicht die Möglichkeiten — die wir Ihnen gegeben haben —, die Akten der Unternehmen beizuziehen, genutzt. Auch diesen Weg wollten Sie nicht gehen. All das war bei Ihnen nicht drin, und zwar nur deshalb, weil Sie die Arbeit ständig verzögern und behindern wollen.
Das ist das ganze Kalkül, um das es Ihnen gegangen ist. Jetzt wollen Sie die Dinge herumdrehen. In New York gehen Sie von Botschaft zu Botschaft, pilgern dort umher und sagen anschließend, wir hätten einen außenpolitischen Schaden herbeigeführt. Es ist doch abenteuerlich, was Sie sich hier erlauben. Das muß hier heute einmal auf den Tisch des Hauses. Nun hören Sie endlich mit dieser üblen Schmutzkampagne auf!
Das Wort hat für zwei Minuten Herr Abgeordneter Gansel.
Nach der neuen Geschäftsordnung, die wir erproben, hat der vorhergehende Redner selbstverständlich die Möglichkeit, darauf noch zu antworten. — Bitte sehr.
Herr Präsident! Ich finde, was man ausräumen kann, sollte man ausräumen. Ich war soeben in der Tat überrascht über das, was Sie, Herr Bohl, aus der Sitzung des Haushaltsausschusses vom 3. Dezember 1986 zitiert haben. Ich habe mich gefragt: Du kennst die ganzen Akten, wie kannst du das übersehen haben? Ich habe noch einmal rasch nachgelesen. Ich darf die Stelle jetzt vorlesen.
Herr Stoltenberg war gefragt worden, was man von seiten des BMF gemacht habe, um bei HDW sozusagen Ordnung zu schaffen. Ich sage das einmal ins Unreine; ich zitiere jetzt nicht wörtlich. Die Antwort von Herrn Stoltenberg ist:
Ich will dem Gesagten noch hinzufügen, daß mit meiner Zustimmung — ich kann Ihnen den Termin jetzt nicht genau sagen — der zuständige Staatssekretär Tietmeyer, jetzt für die Beteiligungen zuständig, den Aufsichtsratsvorsitzenden, Herrn Pieper, darüber unterrichtet hat, daß ein Ermittlungsverfahren bei der OFD läuft, in das möglicherweise auch der Vorstand von HDW informiert worden sei. Ich muß mich nach einer solchen Mitteilung darauf verlassen, daß jetzt in den Organen der Gesellschaft vom Aufsichtsratsvorsitzenden die erforderlichen Schritte ergriffen werden.
Ich hätte, wenn ich diese Stelle im Kopf gehabt hätte, sorgfältiger formuliert, aber der Unterschied, Herr Stoltenberg, ist durchaus brisant, denn am 3. Dezember haben Sie davon berichtet, daß Herr Pieper davon informiert worden sei, als das Ermittlungsverfahren schon lief; aber später hat Herr Tietmeyer gesagt —
und Sie haben das bestätigt —, daß Herr Pieper informiert worden ist, bevor das Ermittlungsverfahren eröffnet worden ist. Dies ist allerdings ein erheblicher Unterschied,
der die Sache für Sie, Herr Bohl, nicht leichter, sondern schwieriger macht.
— Entschuldigung, das ist ein erhebeblicher Unterschied. Das wissen Sie doch selbst.
Ich schließe die Aussprache. Die Abgeordneten Hoyer, Richter, Börnsen und Bohl haben nach § 31 unserer Geschäftsordnung eine Erklärung zu Protokoll gegeben.*)Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des 1. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 11/6141. Wer dieser Beschlußempfehlung — es handelt sich um Kenntnisnahme — zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen.— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
— Wer hat sich enthalten?
— Dann bitte ich, ins Protokoll aufzunehmen: eine Enthaltung.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Duve, Dr. Penner, Bernrath, Dr. Böhme , Conradi, Egert, Dr. Götte, Hämmerle, Müller (Düsseldorf), Odendahl, Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Sielaff, Dr. Soell, Toetemeyer, Wartenberg (Berlin), Weiler, Weisskirchen (Wiesloch), Weyel, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDStändige Gemeinsame Kulturkonferenz — Drucksache 11/6265 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innnenausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche BeziehungenAusschuß für Bildung und WissenschaftMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.s) Anlagen 5 bis 8
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser dramatischen Phase zwischen den beiden deutschen Staaten diskutieren wir zum erstenmal darüber, was denn aus der Kulturpolitik in der DDR und mit der DDR wird. Lassen Sie mich eine etwas nachdenkliche Vorbemerkung machen.
Die Überwindung der deutschen Teilung hat eine merkwürdige Folge. Angesichts der greifbaren Möglichkeit, die äußere staatliche Einheit zu erreichen, fühlen sich in der DDR gerade im Kulturbereich viele Menschen innerlich zerrissen. Wir müssen aufpassen, daß das Ende der Teilung der Nation dort nicht zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft führt. Gerade die mutigen Menschen, die für die demokratische Öffnung gekämpft hatten, fühlen einen solchen Zwiespalt. Ich zitiere Jens Reich vom Neuen Forum, der vor kurzem in der „Zeit" gesagt hat: Im Grunde sind alle Menschen bei uns gespalten zwischen dem Einsatz für das Neue und der Sehnsucht nach dem Bewahrenswerten.
Die Menschen in der DDR brauchen die Chance einer offenen Diskussion. Dafür brauchen sie Zeit, in der sie sich nicht unter dem Druck der Ereignisse aufreiben, sondern in der sie das Neue, aber auch das Vorhandene prüfen können. Sie brauchen Zeit, aber auch Behutsamkeit.
— Wahrscheinlich ist das für die durch Herrn Carstensen erweiterte Fraktion der Liberalen kein wichtiger Gegenstand; aber ich werde trotzdem fortfahren.
In der DDR muß sich die zivile Gesellschaft nach 57 Jahren ohne Demokratie erst herausbilden.
— Ich finde es außerordentlich interessant, daß erstens über das Thema der Kultur — ich will das auch zu den jungen Gästen hier sagen — und dessen, was daraus in der DDR künftig wird, zu so später Abendstunde debattiert wird und daß zweitens eine ganze Fraktion in dieser Form mit dem Redner umgeht.
Kultur und politische Kultur — das war der Sinn meiner Vorbemerkung — gehören in der Demokratie, in der offenen Gesellschaft zusammen. Sie sind Sache der Menschen, nicht der Verwaltungen. Das heißt zivile Gesellschaft, ein Begriff, der in der letzten Zeit in der DDR sehr oft angewandt wird.
Am nächsten Sonntag wäre Robert Havemann 80 Jahre alt geworden. Ich möchte auch für das Protokoll hier an ihn erinnern, weil er mutig versucht hat, Grundlagen zu schaffen, um die Freiheit wiederzugewinnen, eine ungelenkte und unzensierte Kultur wiederzubeleben, aber auch das Gewebe einer öffentlichen politischen Kultur wieder neu zu knüpfen.Ich möchte auch hier im Deutschen Bundestag an die vielen Künstler und Schriftsteller erinnern, die Opfer der von der SED zentralistisch gelenkten Kulturpolitik geworden waren. Ich will nur einige nennen: Erich Loest, Walter Kempowski, Jürgen Fuchs, Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Freya Klier und viele andere, die aus ihrem Beruf, aus ihrem Verband und aus ihrer Heimat ausgewiesen worden sind.In der Haushaltsdebatte am 30. November habe ich auf die frühe Idee aufmerksam gemacht, einen Fonds für die kulturpolitische Hilfe für die DDR einzurichten. Der Antrag meiner Fraktion, den wir hier heute vorlegen, enthält erste Vorschläge, diesen Gedanken umzusetzen. Unabhängig von der Form und der Dauer des Einigungsprozesses können wir in der Kulturpolitik sofort erste gemeinsame Schritte tun, die helfen, die Chancen des Aufbruchs zu einem neuen kulturellen Leben zu fördern und den Risiken zu begegnen. Wir Sozialdemokraten erhoffen uns eine fruchtbare Diskussion mit den anderen Parteien, um rasch zu guten Lösungen zu kommen. Insofern ist dieser Antrag — ich habe mit einigen Kollegen vorher sprechen können — ein Diskussionsangebot.Trotzdem ist Eile geboten. Ein Teil der Kulturwelt der DDR, viele Künstler, Schriftsteller und Leute, die in kulturellen Einrichtungen arbeiten, sind in einer
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DuveArt Angstlähmung befangen, die zunächst erschreckt, die aber bei genauerem Hinsehen eigentlich niemanden überraschen kann. Nach einer zensierten, zentralistischen, ideologisch defomierten Kulturepoche weiß niemand, was morgen sein wird. Und mangelnder Kontakt, häufig auch ideologische Dunkelbrillen, lassen falsche Bilder von der Kulturpolitik in der Bundesrepublik entstehen. Umgekehrt wissen wir wenig von den oft im Verborgenen blühenden vielfältigen Kulturen der DDR.Vor zehn Tagen hat der Runde Tisch ausführlich über Kulturpolitik debattiert. Es liegen auch eine Reihe von Stellungnahmen der verschiedenen Gruppen vor. Aus der Situation und der Diskussion in der DDR wird deutlich, um was es hier geht und worum ich die Kolleginnen und Kollegen von den anderen Fraktionen sehr herzlich bitten möchte — vielleicht haben wir Konsens darin —:Erstens. Die Kulturwelt der DDR, die Menschen, die sich dort im kulturellen Bereich engagieren, brauchen Zeit, um prüfen und entscheiden zu können, was bleiben soll, was bleiben kann und wer künftig der Träger sein soll.Zweitens. Diese Zeit kostet Geld, weil schon bald viele kulturelle Einrichtungen in der DDR ihre Mitarbeiter nicht länger werden bezahlen können und auch aus anderen Gründen bedroht sind. Ich denke nur an manche Museen. Um die Zeit nutzen und das Geld richtig einsetzen zu können, brauchen wir alle bessere Informationen über die Lage der Kulturpolitik in der DDR. Da sind viele Fragen offen.Bei Besuchen in der DDR in der letzten und der vorletzten Woche habe ich bemerkt, wie viele Fragen bei den Leuten selber noch offen sind und wie wenig sie eigentlich über ihre kulturpolitischen Einrichtungen und die Fakten Bescheid wissen. Wie viele der gerühmten Kulturhäuser gibt es wirklich? Da gibt es ganz unterschiedliche Aussagen.Es gibt in der DDR einen Kulturgroschen, eine sehr gute Einrichtung. Derzeit werden 5 Pfennig auf alle Eintrittskarten erhoben. Das ist ein Betrag von 100 Millionen im Jahr. Von diesem Geld speist sich der Kulturfonds, aus dem sehr viel finanziert wird. Wer soll künftig der Träger dieser Einrichtung sein? Soll der Kulturgroschen nur noch in Sachsen oder in allen fünf Ländern erhoben werden? Wird es dafür einen Staatsvertrag geben? Alle diese Fragen sind natürlich noch nicht geklärt. Das wäre auch zuviel verlangt. Aber sie werden auch noch nicht in der gebührenden Sachlichkeit diskutiert. Ihre Lösung braucht Zeit, und sie braucht die öffentliche Debatte in der DDR. Darum einige Vorschläge, diese Zeit zu gewinnen:Möglichst bald tritt eine gemeinsame Kultur- und Medienkonferenz staatlicher, aber auch nichtstaatlicher Einrichtungen, der großen Kulturorganisationen, zusammen — es entstehen in der DDR derzeit auch neue — , in der Vertreter der Kultur- und Medienverbände neben Vertretern der öffentlichen Hand sitzen. Der Kulturfonds dieser Konferenz wird — das ist das Kernstück unseres Antrages — aus dem Bundeshaushalt und, wenn möglich, aus Länderhaushalten gespeist.Dieser Fonds soll befristete Überbrückungshilfen — befristete Überbrückungshilfen! — für wichtige bestehende Kultureinrichtungen der DDR gewähren, für einen befristeten Zeitraum den Kommunen der DDR als künftigen Trägern vieler Einrichtungen Finanzierungshilfen anbieten und, wo dies gefragt ist, Grundkapital für künftige Stiftungen bereithalten, sowie Starthilfen — das scheint mir sehr wichtig — für neue private oder genossenschaftliche Kulturbetriebe geben.Ich will heute abend wegen der knappen Zeit nicht noch das ganze Thema der Künstlersozialversicherung und der Lage der Menschen in den Kulturbetrieben ansprechen. Auch da werden wir bald zu Regelungen kommen. Aber wir können das nicht übers Knie brechen.Morgen vormittag wird sich die gemeinsame Kulturkonferenz in Berlin zum erstenmal wieder zusammensetzen. Frau Minister Eva Rühmkorf und Frau Wilms werden daran teilnehmen. Ich hoffe sehr, daß auch dort auf kulturpolitischem Felde Konsens zwischen den Ländern und dem Bund erkennbar sein wird. Viel kann da morgen nicht passieren, aber dort können vielleicht schon ein paar Leitgedanken kommen, denn auf der Basis des bisherigen Kulturabkommens kann es ja nicht weitergehen. Da geht es um Projekte, um Veranstaltungsprojekte. Aber wir sind in einer völlig neuen Lage. Länder, Bund, DDR-Regierung, Volkskammer und vielleicht die künftigen Länder der DDR sollten möglichst rasch zu solchen grundsätzlichen Leitgedanken kommen.Ich will als mögliche Leitgedanken kurz skizzieren: Kultur als Pflichtaufgabe der öffentlichen Hand entspricht der gemeinsamen Kulturtradition in Mitteleuropa und wird bei uns gar nicht in Frage gestellt. Da gibt es manche Diskussion in der DDR, als würde das hier alles ganz anders aussehen, als hätten wir hier nur Broadway-Theater. Im Gegenteil, fast 80 % der Theater bei uns werden mit öffentlichen Mitteln getragen.Die Rückkehr zu einer dezentralen Kulturverwaltung durch Städte, Gemeinden und Länder ist ein wichtiger Konsensfaktor, der absolut notwendig ist. Der Zentralismus muß also aufgegeben werden. Aber natürlich wird es eine ganze Reihe von zentralen DDR-Einrichtungen geben: Museen, vor allen Dingen Ausbildungsstätten, die hochinteressant sind. Werden die fünf Länder staatsvertraglich damit umgehen, so daß die fünf einen Korpus bilden, der das trägt? Könnte man sich vorstellen, daß andere diesem Staatsvertrag beitreten? Kann oder soll der Bund sich aus Finanzgründen beteiligen? Das sind Fragen, die wir diskutieren müssen.Drittens. Kulturförderung schließt privates Sponsorentum natürlich nicht aus. Ich glaube, wenn ich die Kollegen vom Runden Tisch richtig verstanden habe, daß auch da Konsens besteht.Aber die bisherigen kulturpolitischen Einrichtungen der DDR, auch ihre kulturpolitischen Vorkehrungen — ich denke auch wieder an den Kulturpfennig — sollen nicht jetzt sofort ad acta gelegt werden. Man muß über sie diskutieren können. Keinen kulturellen Kahlschlag, das haben die Vertreter des Runden Tisches gesagt. Ich denke, wir sollten der neuen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15515
DuveRegierung und den künftigen Ländern der DDR bei diesem Bemühen helfen, diesen kulturellen Kahlschlag zu vermeiden.Meine Damen und Herren, Sie erinnern sich: Vor vielen Jahren hat Willy Brandt versucht, eine Kulturstiftung auf nationaler Ebene zu verwirklichen, die an verschiedenen und vielen Dingen — Herr Hirsch, Sie erinnern sich — gescheitert ist, am Berlin-Status, der sich jetzt ändern wird, am Widerstand auch der Länder. Da ist nun eine ganz anders geartete kleine Länderstiftung entstanden. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, um gemeinsam eine solche Stiftung ins Leben zu rufen, deren erste Aufgabe es wäre, dem bedrohten Kulturreichtum der Menschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg und Brandenburg zu helfen. Ich denke, das wäre eine schöne erste Aufgabe, und dann kann man sehen, wie lebendig eine solche Stiftung wird.Ich danke für Ihre nun doch wunderbare, liebenswürdige Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Probleme, die mit der innerdeutschen Entwicklung auf uns alle zugekommen sind, können nicht als alltägliche Routinearbeiten erledigt werden.
Dazu sind sie zu neu, zu umfassend und in vieler Hinsicht — vor allem für einzelne Betroffene — zu existentiell. Daher können wir nur jedem dankbar sein, der Anstöße zum Überdenken bisheriger Positionen gibt und Beiträge leistet, die vielleicht zu praktikablen Lösungen führen. Deshalb, Herr Kollege Duve, begrüßen wir auch, daß Sie zu diesem Thema einen Antrag vorgelegt haben, wobei ich in der Bewertung zwischem dem, was Sie sich an Aufgaben vorgenommen haben, und dem Weg über eine gemeinsame Kulturkonferenz unterscheide.
Wenn wir über den Kulturbereich reden und an die wachsende Vereinigung beider Teile Deutschlands denken, haben wir einerseits zu berücksichtigen, daß es insbesondere den Künstlern aus der DDR — wie übrigens auch denen in anderen Ostblockländern — zu verdanken ist, daß sie mit ihrer in diesen Ländern gewachsenen persönlichen Autorität die friedlichen Revolutionen zur Demokratie unterstützt und schließlich zum Erfolg geführt haben.
Andererseits machen die Vertreter der DDR bei vielen Gelegenheiten immer wieder geltend, daß sie zu den verschiedenen Bereichen, die sie auch im Falle einer umfassenden Neuordnung nicht aufgeben möchten, insbesondere den Bereich der Kultur zählen. Es dürfte daher auch eine Frage des Umgangs mit den Menschen, mit der Würde der Menschen im anderen Teil Deutschlands sein, wie wir uns zu den von ihnen aufgebauten kulturellen Einrichtungen und Strukturen stellen. Und da gibt es Ängste, da gibt es Fragen, die die Sicherung der eigenen Existenz angehen, wie jetzt in vielen anderen Bereichen in unserem Lande, nach dem Motto: Wie geht es weiter?
Bei all diesen Überlegungen, insbesondere bei den strukturellen Überlegungen, sollten wir die Grundprinzipien des kulturellen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland selbst natürlich nicht vergessen, die von dem Verzicht auf jedwede staatliche Einflußnahme auf die Kunst und von der Freiheit von jeder organisatorischen Bevormundung gekennzeichnet sind. Diese Freiheit ist die Basis unseres kulturellen Lebens, das die Bundesrepublik im internationalen Vergleich auszeichnet und das sie gerade auch für die Künstler aus der DDR attraktiv macht. Deshalb, Herr Kollege Duve, wurde bisher ja auch davon abgesehen, eine das ganze Kulturleben der Bundesrepublik Deutschland umfassende, erfassende oder gar noch steuernde Einrichtung zu schaffen.
Im übrigen ist Kultur in einem großen Umfang Ländersache. Dabei stellt sich die Frage, ob es denn nicht sinnvoller ist, Einrichtungen zu schaffen, die der Gliederung in Länder entsprechen, in elf plus weitere Länder, oder ob es wirklich sinnvoller ist, ein überregionales Gremium einzurichten, das eben doch mehr einen zentralen Charakter hat. Insofern stelle ich die Frage, ob Ihr Vorschlag, eine Ständige Gemeinsame Kulturkonferenz beider deutscher Staaten auf Gesamtebene einzurichten, dem Gedanken entspricht, der bisher für die Kultur in der Bundesrepublik Deutschland grundlegend war.
Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege, sind Sie bereit — ich muß das jetzt in Frageform formulieren — , entgegenzunehmen, daß diese Einrichtung von uns im Dezember diskutiert wurde, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Geschwindigkeit dieses Prozesses nicht erkennbar war? Sie haben natürlich völlig recht, daß es nach wie vor bei der Struktur bleiben muß, die wir hier in der Bundesrepublik haben. Aber stimmen Sie mir darin zu, daß jetzt bei der Finanzierung bestimmter Dinge eine Eile geboten ist — deshalb würde ich das Wort „ständig" jetzt auch wegnehmen — , die durch eine lange Diskussion von elf oder gar 16 Ländern nicht eingehalten werden kann? Die Geschwindigkeit ist da zu groß, und deshalb gerade der Versuch, hier etwas anderes, Befristetes zu schaffen.
Darüber werden wir im Innenausschuß zu reden haben. Ich darf nur sagen, daß ich, bezogen auf die Möglichkeiten eines solchen Gremiums, aus heutiger Sicht Bedenken habe.
Viel entscheidender ist ja auch der Vorschlag der Finanzierung in Ihrem Konzept, der Vorschlag der Einrichtung eines Fonds. Hier stellen sich natürlich viele Fragen: Wie wird der Fonds finanziert? Ich nehme einmal an, aus Steuermitteln. Soll es eine Stiftung sein? Wer kontrolliert den Fonds? Wie stellen wir sicher, daß darüber hinaus, wenn es eben eine ge-
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Neumann
meinsame Konferenz ist, die über diesen Fonds verfügt, natürlich auch noch eine parlamentarische Anbindung gegeben ist, um die Kontrolle dieser Gelder zu gewährleisten?
Wir sind der Auffassung, daß die einzelnen Kulturorganisationen bei uns selbst — ob es der Deutsche Musikrat, ob es der Bundesverband Bildender Künstler, ob es als Dachverband der Kulturrat ist — die geeigneten Gremien sind, über die gemeinsamen Fragen — zumindest im vorpolitischen Raum — zu beraten, weil sie die Probleme ihrer Partner viel besser kennen als jedwede andere Einrichtung.
Ihr Parteifreund und Kultusminister Schwier hat sich ebenfalls mit diesem Vorgang befaßt. Er hat einmal einen ähnlichen Vorschlag gemacht. Inzwischen sagt er: Ich rücke ab von dem Vorschlag, gemeinsame Kulturkommissionen ins Leben zu rufen. Er sagt weiter: Jede Form des Zentralisierens sei ein Instrument der Lenkung und somit immer etwas wie eine Zensur. Die Selbständigkeit der Kultur drohe dabei eingeschränkt zu werden. Er spricht davon, daß er im Augenblick eine solche Einrichtung nicht für sinnvoll halte. Ich schließe mich dem an.
Was in dem Antrag der SPD hinsichtlich der Aufgaben enthalten ist, die zu lösen sind und die in den nächsten Monaten im Mittelpunkt stehen müssen, wird von uns geteilt. Weil dies so ist, ist es wichtig, daß etwas passiert. Im Rahmen des Nachtragshaushalts sind ja immerhin 6 Millionen DM für den Bereich Kultur vorgesehen. Dies kann nur ein erster Schritt sein. Im Prinzip ist dies zuwenig. Es gibt die verschiedensten Bereiche wie auch die Fonds, die wir bei uns haben, deren finanzielle Ausstattung verbessert werden muß, weil es vielfältige Aufgaben zusätzlich wahrzunehmen gilt.
Weil dies alles so ist, sind wir der Auffassung, daß es sinnvoll wäre, diesen Antrag an den zuständigen Innenausschuß zu überweisen, um dann in Ruhe darüber nachzudenken, welche Gremien wir neu zu schaffen haben, ob wir welche zu schaffen haben und — was viel wichtiger ist — welche Aufgaben im Hinblick auf die Wiedervereinigung zu lösen sind.
In diesem Sinn vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kottwitz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das gemeinsame kulturelle Erbe, die Sprache und die formellen wie informellen Formen des gegenseitigen Austauschs von Kunst und Künstlern waren auch bei Bestehen der Mauer seit jeher das verbindende Element zwischen den beiden deutschen Staaten.Daher ist der auf beiden Seiten immer wieder formulierte Begriff einer gemeinsamen deutschen Kulturnation aussagekräftiger im Hinblick auf die Identität und durch größere politische Übereinstimmung gekennzeichnet als die krampfhaften Kapriolen einer offiziellen Wiedervereinigungspolitik, die wir von Regierungsseite zur Zeit erleben.Es gilt, die grenzüberschreitende und kommunikative Funktion der Kunst im Auge zu behalten, wenn wir die kulturpolitischen Möglichkeiten für eine verstärkte Zusammenarbeit und Hilfe für den Ausbau einer kulturellen Infrastruktur in der DDR hier zur Diskussion stellen.Ich meine, daß die Ziele einer hier von der SPD geforderten Kulturkonferenz grundsätzlich zu unterstützen sind, wenn es um konkrete finanzielle Hilfe im kulturellen Bereich in Form von Stipendien, Starthilfen, Sanierungsmaßnahmen etc. geht. Besondere Aufmerksamkeit sollten wir jedoch darauf verwenden, wie das Verhältnis von zentraler und dezentraler Kulturarbeit zu gestalten ist. Geht es doch hierbei um das Verhältnis von institutionalisierter und freier künstlerischer und kultureller Arbeit, das auch bei uns keineswegs zufriedenstellend geklärt ist.
Es hätte also beispielsweise wenig Sinn, die verstaubten Staatstheaterstrukturen mit aller Macht am Leben zu erhalten, wenn das Mißverhältnis zwischen effizienter künstlerischer Arbeit und einem auf geblasenen Apparat schon hier bei uns so offenkundig geworden ist.Wenn sich eine Gemeinsame Kulturkonferenz die Freiheit und die Selbstbestimmung der Künstler zu ihrem zentralen Anliegen macht, werden wir uns auch selbst fragen müssen, ob sich unsere kulturpolitischen Strukturen und Modelle wirklich als so tragfähig erwiesen haben, daß wir sie der DDR bei ihrem kulturellen Wiederaufbau einfach anbieten könnten.
Der Deutsche Kulturrat hat auf dieses Problem in seiner Presseinformation vom 28. Februar 1990 bereits mit den Worten hingewiesen:... daß manche Form zentraler Kulturförderung und kulturpolitischer Kompetenzen, wie sie bisher in der DDR bestanden, gerade unter demokratischen Bedingungen weiterhin sinnvoll und modellhaft auch für einen wie immer gearteten Zusammenschluß beider deutscher Staaten sein könnte.Auch der Vorschlag, eine Kulturklausel in der Verfassung zu verankern, gefällt uns sehr, denn das würde die Verantwortung des Staates für Kunst und Kultur als Verfassungsgrundsatz festlegen. Es könnten aber beispielsweise Kategorien wie „Kulturhoheit" von uns nicht einfach übernommen werden, da hierdurch gerade die besondere Qualität der regionalen Kulturarbeit in ihrer subversiven Funktion gegenüber einem zentralistischen Apparat einem westlichen Konkurrenzmechanismus auf dem freien Markt geopfert würde. Ein Traum wäre es, daß die kulturell gewachsenen Regionen in Deutschland mehr Bedeutung erlangen als willkürlich festgelegte Länderstrukturen. Das würde uns auch auf unserem Weg zum Europa der Regionen ein Stück vorwärtsbringen.Was gilt es also zu bewahren, und was gilt es zu verändern? Mit dieser Frage ist nicht nur eine wie immer geartete Kulturkonferenz angesprochen, sondern hiermit sind auch die Kulturschaffenden selbst gefordert, darüber zu bestimmen, wie sie ihre Arbeit
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Frau Kottwitzinnerhalb und außerhalb der Institutionen gestalten wollen. Wir sollten ihnen hierbei nicht mit fertigen Modellen, sondern mit einem Höchstmaß an Unterstützung für den eigenständigen Aufbau einer dezentralen und gleichwohl staatlich geförderten Kultur zur Seite stehen, die sich nicht scheut, auch die Entbürokratisierung großer Kulturapparate in Angriff zu nehmen.Ich komme zum Schluß. Möglicherweise gibt es bei diesem anstehenden Prozeß auch für uns eine Menge zu lernen.Danke.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die letzte Frage, die hier eben gestellt wurde, kann man sicherlich bejahen, auch dann, wenn man sich an die deutschlandpolitische Debatte erinnert, die wir heute früh erlebt haben und die mich doch mit einiger Sorge erfüllt hat, weil darin weniger zu spüren war vom gemeinsamen Erbe, von gemeinsamer Tradition, gemeinsamer Zukunft als vielmehr von einem gemeinsamen Wahlkampf, der in der DDR geführt wird, in den wir nicht ganz unfreiwillig hineingezogen worden sind und der das politische Denken in starkem Maße beherrscht.
Es ist sicherlich ganz angebracht und notwendig, über dieses Thema nachzudenken, aber nicht nur darüber nachzudenken, sondern auch etwas zu tun für das, was diese gesamtdeutsche Wirklichkeit darstellen soll, die in Teilen besteht: in einem gemeinsamen Wahlkampf, in der Reisefreiheit, in der Medienfreiheit und in viel zuwenig kultureller Gemeinsamkeit.
Wir folgen also den Grundgedanken Ihres Antrags. Unsere Fragen knüpfen mehr an die Instrumente als an das Ziel an. Es geht nämlich um die Frage, was man ohne viel Zeitverzug und ohne viel bürokratischen Aufwand tun kann, damit es wirksam wird.
Nun wird ja morgen in Berlin eine deutsch-deutsche Kulturkommission gegründet, die Auslandsstipendien vermitteln soll, Starthilfen geben kann, gemeinsame Veranstaltungen initiieren kann. Natürlich muß jeden mit großer Sorge der Zustand erfüllen, in dem sich die Städte befinden, die Kulturdenkmäler in der DDR. Das kann jeder beurteilen, der in den letzten Tagen in der DDR gewesen ist. Ich war in der letzten Woche in Halle und in Magdeburg. Es ist wirklich schrecklich zu sehen, was und wieviel dort zerfällt und unwiederbringlich verlorengeht, wenn man nicht etwas tut, um es zu bewahren.
Nun habe ich hier eine Pressemitteilung von Frau Wilms anläßlich der Gründung der deutsch-deutschen Kulturkommission in Ost-Berlin. Sie sagt sehr schön und schlicht etwas zu den besorgten Fragen, welches unsere Rolle sein könnte und müßte, was wir lernen können. Sie schreibt hier — ich zitiere das — :
In den letzten Wochen häufen sich besorgte Stimmen, und es erreichen uns täglich Notrufe aus der
DDR. Unersetzbare Kulturgüter werden im Westen verkauft, Sammlungen von Büchern, Filmen und Fotos verkommen, Denkmale zerbrechen, Innenstädte stürzen zusammen, Theater und Orchester verlieren Künstler, Maler und Schriftsteller sehen sich vor dem sozialen Ruin, Akademien und Kunstschulen sind von der Schließung bedroht ... Wir können mit Sicherheit nicht allen helfen, aber wir können mitwirken, die Probleme fachgerecht zu gewichten und dort Hilfe zu vermitteln, wo sie am dringendsten geboten ist.
Genau das ist es, was wirklich jenseits aller theoretischen und akademischen Fragen nötig ist. Darum denken wir, daß ein erster praktischer Schritt für uns alle eigentlich darin bestehen könnte, bei der heute begonnenen Beratung des Nachtragshaushalts dafür zu sorgen, daß für die hier angesprochenenen kulturellen Notwendigkeiten im Nachtragshaushalt nicht nur der lächerliche Betrag stehenbleibt, den man dort zur Zeit findet. Vielmehr müssen wir gemeinsam bei unseren Haushältern die Überzeugung erwecken und durchsetzen, daß hier ein Betrag eingesetzt werden muß, der der tatsächlichen Dramatik der gegenwärtigen Situation entspricht. Wenn Ihr Antrag bewirkt, daß wir das gemeinsam beschließen, dann hat er wirklich einen Sinn gehabt.
Mit dieser Maßgabe und dieser Hoffnung wollen wir der Überweisung des Antrags zustimmen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands hat für alle Lebensbereiche Fragen ausgelöst, für die wir Lösungen finden müssen und für die Lösungsvorschläge auch schon entwickelt wurden. Die Kultur bleibt davon nicht ausgenommen, und das ist auch gut so. Die Fragen ergeben sich aus der Größenordnung der erforderlichen Mittel, aus der Ungleichartigkeit der hier und dort gewachsenen Strukturen, aber auch aus der noch mangelnden Kenntnis der jeweiligen Verhältnisse.Es wird deshalb eine der wichtigsten Aufgaben der morgen, am 9. März, in Ost-Berlin zu ihrer ersten Sitzung zusammenkommenden gemeinsamen Kulturkommission sein, eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Verhältnisse in den einzelnen Kunst- und Kultursparten der DDR durchzuführen und Vorschläge dafür zu entwickeln, welche Maßnahmen auf dieser Grundlage mit welchen Prioritäten und Zielsetzungen ergriffen werden sollen. Dabei werden wir den künstlerischen und kulturellen Sachverstand einbeziehen.Unabhängig davon hat die Bundesregierung erste Schritte getan. So sind in den dem Deutschen Bundestag zur Beratung vorliegenden Nachtragshaushalt in dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern für kulturelle Vorhaben im Zusammenhang mit der innerdeutschen Entwicklung 6 Millionen DM eingestellt worden. Aus diesen Mitteln sollen z. B. Kon-
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Parl. Staatssekretär Sprangertakte und Begegnungen im kulturellen Bereich gefördert, Kulturgut gesichert, erste Hilfen geleistet und besondere, an die wiedergewonnene Freizügigkeit anknüpfende Maßnahmen kultureller Institutionen ermöglicht werden. Für Starthilfen für wünschenswerte neue kulturelle Vorhaben stehen Mittel des ERP-Programms und, wenn der Nachtragshaushalt verabschiedet wird, Eigenkapitalhilfen für die Existenzgründung und für die Sicherung schon vorhandener Unternehmen beim Bundesminister für Wirtschaft zur Verfügung. An diesen Programmen können auch Betriebe der Kulturwirtschaft und Künstler teilhaben.Für die Erhaltung schätzenswerter Baudenkmäler und von Zeugnissen der Industriekultur liegen Vorschläge vor, die wir sorgfältig prüfen. Auf diesem sehr dringlichen Feld bietet bereits das Städtebauförderungsprogramm des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau erste Möglichkeiten.Unter Berücksichtigung all dieser Umstände muß ich dann auch die Frage stellen, ob wir wirklich ein so überwölbendes Gebilde in Gestalt dieser Kulturkonferenz brauchen, wenn die darin vertretenen Organisationen selbst die notwendigen Kontakte herstellen, den ihnen bekannten Künstlern und Institutionen Rat und Hilfe unmittelbar zukommen lassen und Fragen gemeinsamen Interesses direkt miteinander besprechen können. Ich weiß aus den Ländern, aus den Gemeinden, den Verbänden und auch dem Geschäftsbereich des BMI: Diese Kontakte und Gemeinsamkeiten zwischen Künstlern, Vertretern der kulturellen Institutionen, Repräsentanten von Kulturverbänden gibt es bereits, und zwar zahlreich und intensiv.Im übrigen läuft die Kulturkonferenz Gefahr, einen Grad von Zentralisierung zu verkörpern, von dem man sich in der DDR mit gutem Grund gerade zu lösen versucht und der mit Sicherheit — es ist vorhin schon erwähnt worden — auch auf Vorbehalte unserer Länder stoßen könnte.Weitere Fragen ergeben sich: Ist die Gemeinsame Kulturkonferenz für die meisten Aufgaben, die ihr konkret obliegen sollen, wirklich geeignet? Wie anders als mit dem bewährten — was insoweit besonders wichtig ist — fachlich kompetenten Strukturen könnten z. B. im Bereich des Denkmalschutzes wirksame Maßnahmen ergriffen werden? Worauf gründet sich der Verdacht eines drohenden Massenausverkaufs von Kulturgut der DDR, dem die vorgeschlagene Kulturkonferenz entgegenwirken soll, und wie könnte sie das tun?Meine Damen und Herren, nach all dem scheint mir die von der Fraktion der SPD vorgeschlagene Ständige Gemeinsame Kulturkonferenz nicht ganz überzeugend zu sein. Ich halte es darum für geboten, daß den kritischen Fragen, die sich zu dem Vorhaben stellen, in den Ausschußberatungen gründlich nachgegangen wird. Ich glaube, daß sich in diesen Beratungen dann auch Lösungsmöglichkeiten ergeben, die dem Ziel, das mit dem Antrag sicherlich auch verbunden ist, dienlich sein werden.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Der Herr Abgeordnete Duve hat noch zwei Minuten gut. Sie haben das Wort. Bitte!
Herr Kollege Hirsch, ich danke Ihnen sehr dafür, daß Sie das so positiv aufgegriffen haben. Es war wirklich die Absicht, hier auch das Thema Finanzierung hineinzubekommen. Wir wissen immer noch nicht ganz genau, wie lange der Einigungsprozeß materiell laufen wird. Wir wissen auch nicht, wie lange er rechtlich laufen wird. Deshalb glaube ich eben, daß wir mit den bisherigen Instrumenten schnelle Hilfen so leicht nicht geben können. Das deutsch-deutsche Kulturabkommen reicht dafür überhaupt nicht.
Zweitens glaube ich nicht, daß es ausgerechnet das Innenministerium, das bei uns bestimmte Fonds unterhält, sein könnte, das sozusagen in einer schnellen Regelungsform alle diese Aufgaben behandelt. Aber nach meiner Meinung können alle mittun. Allein die Museumsinsel in Berliln, deren Erhaltung eine Weltaufgabe ist — wir denken an die UNESCO —, ist in einer Weise bedroht, daß man unter 500 Millionen DM für ihre Stabilisierung nicht wegkommt.
Die Größenordnungen sind also so gigantisch, daß wir alles in Gang setzen müssen: das, was Herr Spranger gesagt hat, aber eben auch ein Instrumentarium, das schnell greift und das vor allem staatsfern ist, so daß öffentliche Gelder — ähnlich wie die Kulturfonds, die ja eingerichtet worden sind — durch die Künstlerverbände selbst mit verwaltet werden und die DDR oder die Länder der DDR nicht das Gefühl haben, der Geber entscheide über alles allein. Deshalb auch die paritätische Konstruktion. Über die Form im einzelnen und über die Benennung können wir noch diskutieren. Der Begriff „Konferenz" ist inzwischen vielleicht ein bißchen überholt. Ich möchte aber doch noch einmal die Nationalstiftung erwähnen.
Frau Kollegin, die Grenzen der Länder, die wir in der Bundesrepublik haben, sind nicht künstlich gezogen. Das ist genau das, was diese Länder ausmacht: Sie sind wirklich Ausdruck der deutschen Geschichte; das reicht ziemlich weit zurück. Wir haben zwar ein paar künstliche Grenzziehungen — denken wir etwa an Napoleons Westfalen — , aber manche Länder sind eben noch viel älter. Das wollte ich nur noch gern gesagt haben.
Ich danke für die zustimmende Aufmerksamkeit, was dieses Vorhaben angeht.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage auf Drucksache 11/6265 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an die Ausschüsse für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, für innerdeutsche Beziehungen und für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist dann so beschlossen.
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Vizepräsidentin RengerIch rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:a) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den DatenschutzElfter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes
— Drucksache 11/3932 —b) Unterrichtung durch die BundesregierungZwölfter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes
— Drucksache 11/6458 —Im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist dann so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Blens. Bitte schön!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegt nun wiederum nicht nur ein Bericht, sondern uns liegen gleich zwei Berichte zur Beratung vor, bevor wir den vorhergehenden Bericht im Ausschuß beraten haben. Der Datenschutzbeauftragte ist in diesem Punkt ja auch nicht zufrieden mit uns, wie er ausdrücklich geschrieben hat. Er ist eben schneller als der Innenausschuß; aber dafür gibt es natürlich auch Gründe.Wir haben den letzten Bericht, den wir im Innenausschuß in der Berichterstatterrunde beraten haben, außerordentlich intensiv behandelt. Wenn ich mich recht erinnere, dann hat es zehn Sitzungen unter den Berichterstattern gegeben, und der Ausschuß hat sich in mehreren Sitzungen mit dem Bericht befaßt. Ich meine, das Ergebnis, das dann herausgekommen ist, kann sich sehen lassen.Die intensive Beratung im Parlament — im Ausschuß — lohnt sich. Wir haben zwar keine Entscheidungskompetenz, wenn die Fachverwaltung auf der einen Seite und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz auf der anderen Seite unterschiedlicher Meinung darüber sind, ob der Umgang mit personenbezogenen Daten rechtmäßig oder rechtswidrig ist; aber wir können den gesunden Menschenverstand in die Auseinandersetzung einbringen. Es hat sich erwiesen, daß das durchaus wertvoll ist; denn jeder neigt dazu — das ist eine ganz menschliche Eigenschaft —, das, was er tut, für ganz besonders wichtig zu halten, vielleicht auch ein bißchen zu übertreiben. Das gilt für die Fachverwaltung, die dann über der angeblichen Wichtigkeit ihrer Fachfragen den Datenschutz etwas zurückstellt; das gilt aber natürlich auch sehr leicht für den Datenschützer, der vor lauter Datenschutz vielleicht die Notwendigkeiten der Fachverwaltung etwas übersieht. Dann ist es gut, wenn die Parlamentarier mit gesundem Menschenverstand versuchen, eine Mittellösung zu finden, was immer wieder geschehen ist.Der zweite Grund dafür, daß wir mit der Beratung nicht ganz Schritt gehalten haben, ist der, daß der Datenschutz zur Zeit in der Gesetzgebung, aber auch im Bereich der Exekutive Hochkonjunktur hat. Es gibt kaum noch ein allgemeines Gesetz, in dem nicht auch Fragen des Datenschutzes tangiert werden und von uns dann mit zu beraten sind. Ich erinnere nur daran, daß wir zur Zeit die Ausländergesetze beraten und daß dabei natürlich auch Datenschutz eine Rolle spielt. Hinzu kommt das Schengener Abkommen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, oder der Informationsaustausch mit der DDR, der nun plötzlich, unerwartet ganz aktuell geworden ist. Dazu kommen die speziellen Gesetze, die wir wegen des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts verabschieden müssen.Ich meine, wir sollten auf Grund der bisherigen Erfahrungen mit langwierigen Beratungen der Datenschutzberichte im Innenausschuß überlegen — ich nehme an, das fände auch Ihre Zustimmung, Herr Einwag — , ob der Bericht des Datenschutzbeauftragten nicht jedes Jahr, sondern alle zwei Jahre abgegeben werden sollte. Dann wären Ihre Berichtstätigkeit und unsere Beratungstätigkeit sicherlich besser zu koordinieren.
— Das glaube ich, Herr Such. Aber Sie werden sich auch damit abfinden können.
Meine Damen und Herren, trotz Rückstands in der parlamentarischen Beratung haben die Tätigkeitsberichte natürlich erhebliche Bedeutung für den Datenschutz. Sie führen dazu, daß aufgedeckte Schwachstellen von der Exekutive aus eigener Einsicht auch ohne parlamentarische Nachhilfe beseitigt werden. Die Existenz des Bundesdatenschutzbeauftragten und die Tatsache, daß er regelmäßig Bericht erstattet, und zwar öffentlich, haben in den Behörden offensichtlich eine abschreckende Wirkung; denn niemand möchte gern als Datensünder öffentlich an den Pranger gestellt werden. Deshalb macht sich in den Behörden vorauseilender datenschutzrechtlicher Gehorsam breit.Deshalb kann auch der Datenschutzbeauftragte in seinem Bericht feststellen — ich zitiere — , das Datenschutzbewußtsein habe bei den öffentlichen Stellen zugenommen. Im Zwölften Bericht wird der Verwaltung ein deutlich sichtbares Streben nach Gewährleistung eines guten Datenschutzstandards attestiert.Allerdings muß ich dazusagen: Noch viel besser schneidet die Politik ab; denn dazu heißt es im Zwölften Bericht — ich zitiere das wörtlich, weil es wichtig ist — : „Erfreulich ist vor allem die hohe Akzeptanz des Datenschutzes im Bereich der Politik, insbesondere bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages. "
Herr Einwag, wir nehmen das natürlich sehr dankbar zur Kenntnis. Sollte es so kommen — was ich erwarte — , daß der Datenschutzbeauftragte nicht mehr vom Bundesinnenminister bestellt, sondern gewählt
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Dr. Blenswird, dann wird sich das sicherlich im Wahlergebnis hier im Bundestag niederschlagen.Meine Damen und Herren, dafür, daß schon die bloße Existenz des Datenschutzbeauftragten und seines öffentlichen Berichts ohne Zutun des Parlaments zur Durchsetzung des Datenschutzes gegenüber Behörden führen kann, liefert der Zwölfte Bericht anschauliche Beispiele. Ich nenne zwei. Der jahrelange unzulässige automatisierte Abruf von Fahrerlaubnisdaten aus dem Verkehrszentralregister durch das Bundeskriminalamt ist auf Grund der Kritik des Datenschutzbeauftragten bereits eingestellt worden. Ein zweites Beispiel. Auch der Verteidigungsminister hat die beanstandeten Datenspeicherungen für Aufgaben der psychologischen Verteidigung beim Streitkräfteamt aufgegeben und die angelegten Dateien bereits vernichtet.Im übrigen zeigt die Stellungnahme der Bundesregierung vom 17. August 1989 zum Elften Tätigkeitsbericht, daß die Exekutive in sehr vielen Fällen die Forderungen des Datenschutzbeauftragten erfüllt hat, bevor sich das Parlament überhaupt damit beschäftigt hat.Natürlich gilt das nicht für alle Beanstandungen und Vorschläge des Datenschutzbeauftragten. Zu nennen sind hier beispielhaft die im Zwölften Bericht erfolgte Beanstandung der Gewährung des Online-Zugriffs durch die Berliner Polizei auf den Datenbestand „Zollrechtliche Überwachung" und die Speicherung und Aufbewahrung der vollständigen Telefonverbindungsdaten in dem im Aufbau befindlichen ISDN-Netz der Bundespost. Hier gibt es zwischen der Post auf der einen Seite und dem Datenschutzbeauftragten auf der anderen Seite unterschiedliche Ansichten darüber, ob das im Interesse des Betriebs, insbesondere hinsichtlich der Mißbrauchsverhinderung und der Abrechnung, erforderlich und deshalb datenschutzrechtlich zulässig ist oder nicht. Diese Frage stellt sich in gleicher Weise bei dem Funktelefonnetz, unabhängig davon, ob es um das B-, C- oder das zukünftige D-Netz der Post geht. Wir werden uns gerade im Hinblick auf den rasanten Ausbau der technischen Dienste mit diesen Problemen intensiv beschäftigen und nach endgültigen Lösungen suchen müssen, nachdem es bereits in vielen früheren Berichten zu diesen Problemen immer wieder Beanstandungen und Vorschläge des Datenschutzbeauftragten gegeben hat.Ein Letztes, meine Damen und Herren. Der Datenschutzbeauftragte hat in beiden Berichten auf die Dringlichkeit neuer datenschutzrechtlicher Gesetze hingewiesen. Diese Dringlichkeit besteht; sie wird von uns auch nicht bestritten, nachdem das Bundesverfassungsgericht schon vor vielen Jahren, im Volkszählungsurteil, die Notwendigkeit erklärt hat. Die Regierung hat entsprechende Gesetzentwürfe zum Datenschutzgesetz, für ein neues Verfassungsschutzgesetz, für das MAD-Gesetz und für ein Gesetz über den Bundesnachrichtendienst vorgelegt. Der Innenausschuß hat sehr umfangreich Sachverständige dazu angehört. Diese haben viele Anregungen gegeben. Es hat zahlreiche Änderungsvorschläge des Bundesrates gegeben. Es hat intensive Beratungen innerhalb der Koalition gegeben. Ich bin guter Hoffnung, daß wir inKürze — ich hoffe, schon in der kommenden Woche — den anderen Fraktionen des Hauses die Ergebnisse unserer Beratungen mitteilen können. Ich bin sicher, daß wir dann sehr schnell zu einer zügigen Beratung kommen. Unser Ziel ist es, noch in dieser Wahlperiode diese wichtigen Gesetze zu verabschieden.Die Koalition hat dann bewiesen, daß sie ihre wichtigen Aufgaben in der Innenpolitik, die sie sich zu Beginn der Wahlperiode gestellt hat — nicht nur das Ausländerrecht, nicht nur das Asylverfahren, sondern auch die Aufgaben im Bereich des Datenschutzes sind hier zu nennen — erfüllt hat. Wir sind froh, daß wir heute mit Sicherheit davon ausgehen können, daß wir diese Aufgaben zu aller Zufriedenheit erfüllen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Blens hat darauf hingewiesen, daß wir den Zehnten Datenschutzbericht in den Ausschüssen noch nicht beraten haben und den Elften Bericht noch nicht einmal überwiesen haben. Jetzt steht der Zwölfte Bericht an, und die Legislaturperiode geht zu Ende. Das heißt, wahrscheinlich wird sich das Parlament erst in der nächsten Legislaturperiode mit vier oder fünf Datenschutzberichten gleichzeitig beschäftigen.Das ist ein unhaltbarer Zustand.
Ich muß auch gerade in Richtung auf die Koalitionsfraktionen sagen, daß es nicht geht, daß die Beratung mit dem Hinweis zurückgestellt wird, daß man andere wichtige Dinge zu tun habe. Das geht deswegen nicht, weil der Datenschutzbeauftragte zu Recht darauf hinweist, daß seine Monita und Empfehlungen — wenn er sich mit der Bundesregierung nicht einigt — erst dann an Wirkungen gewinnen, wenn sich die Berichterstatter oder der Ausschuß mit den Themen beschäftigen. Dies hat allein schon die Wirkung auf die Verwaltung, daß sie dann eher bereit ist, sich mit dem Datenschutzbeauftragen zu einigen. Es geht nicht an, daß diese Monita über Jahre hinweg von uns nicht bearbeitet werden und damit sozusagen auch der Einigungsprozeß zwischen der Verwaltung und dem Datenschutzbeauftragten nicht in Gang kommt.
Ich glaube, wir müssen wirklich selbstkritisch sehen — das gilt besonders für die Koalitionsfraktionen —, daß wir an dieser Stelle eine Änderung vornehmen müssen. Im Sinne des Datenschutzes geht dies so nicht weiter.Herr Blens, Sie haben darauf hingewiesen, daß der Datenschutzbeauftragte auch gelobt habe, daß er inzwischen eine durchaus große Akzeptanz bei Politikern fände. Gleichzeitig hat er aber auch darauf hingewiesen — sehr explizit im Fall Herrhausen — , daß der Datenschutzbeauftragte immer wieder als Prügelknabe benutzt würde, wenn es insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich zu einer verschärften Si-
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Wartenberg
tuation kommt, die Regierung offensichtlich nicht in der Lage ist, beispielsweise durch Handlungen oder Gesetze, die öffentliche Meinung zu beruhigen, oder beispielsweise bei Terroristenanschlägen nicht in der Lage ist, Aufklärung und Strafverfolgung, aus welchen Gründen auch immer erfolgreich zum Zuge kommen zu lassen. Dann wird immer suggeriert, Datenschutz sei Täterschutz. Man müsse den Datenschutz ein bißchen vermindern, dann würde man mit Aufklärung und Strafverfolgung sehr viel leichter vorankommen. Es ist interessant, daß der Datenschutzbeauftragte dies in seinem Bericht sehr vorsichtig — explizit am Fall Herrhausen — moniert hat. Es war ja von konservativer Seite der Datenschutzbeauftragte oder der Datenschutz an sich als Prügelknabe benutzt worden, um andere Defizite zum kompensieren. Ich glaube, mit solchen Nebenkriegsschauplätzen kann man vielleicht vordergründig Politik machen; aber der Sache dient es wohl auf keinen Fall.Meine Damen und Herren, der Zwölfte Bericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz steht ohne Frage in der Kontinuität der anderen Berichte, wenn man sich übergreifende Themen anguckt: Probleme, die nicht erledigt worden sind, Probleme, die fortbestehen.Ich möchte aber über den Bericht hinaus einige Dinge anmerken, weil ich meine, daß die Einzelpunkte, die in dem Bericht stehen, teilweise schon bei der Pressekonferenz, die bei der Vorstellung des Berichts gegeben worden ist, der Öffentlichkeit dargestellt wurden.Es ist wohl unübersehbar, daß sich das traditionelle Datenschutzkonzept in einer Krise befindet. Immer deutlicher wird, daß es durch gesetzliche Regelungen nicht erreicht wird, mit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie Schritt zu halten. Immer mehr fallen normative Anforderungen und Bearbeitungsrealität auseinander, und die gesetzlichen Bestimmungen sind häufig nicht mehr als Vorschriften, die zwar viel mit einer historisch wichtigen Phase der Informations- und Kommunikationstechnologie, aber kaum noch etwas mit ihrem gegenwärtigen Stand zu tun haben.Gerade das jetzt in den Ausschüssen befindliche neue Datenschutzgesetz wird diesen neuen Anforderungen auch nicht gerecht. Die Koalition hat versprochen, es noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden; aber eigentlich ist dieses Gesetz und ist auch die Kritik an diesem Gesetz letzten Endes in den traditionellen Konzeptionen befangen.Unter dem Aspekt, daß sich Personalcomputer nun vollends in der Verwaltung durchsetzen, daß Fernkopierer den traditionellen Briefwechsel ablösen und die ISDN-Anlagen die herkömmlichen Telefonsysteme in sehr schneller Folge ersetzen werden, wird deutlich, vor welchen Herausforderungen sich der Datenschutz befindet. Die neuen technischen Entwicklungen machen die Grenzen des bislang praktizierten Datenschutzkonzeptes immer offenkundiger. Die traditionellen Kontrollansätze haben sich an einer erwarteten Zentralisierung der automatischen Datenverarbeitung orientiert; in Wirklichkeit stellt sich heraus, daß die dezentrale Verarbeitungsform inzwischen eindeutig dominiert. In einer unüberschaubaren Zahl vonPersonalcomputern werden Daten verarbeitet, die kaum noch mit den Kontrollinstrumenten zu erfassen sind.Hinzu kommt die Frage, die insbesondere auch der hessische Datenschutzbeauftragte in seinem letzten Bericht anspricht, ob ein verfeinertes Gesetz überhaupt noch den Anforderungen entspricht, ein international angelegtes Kommunikationsnetz zu kontrollieren. Unter dem Aspekt der Internationalisierung kann man realistisch kaum davon ausgehen, daß die speichernde Stelle noch Maßnahmen für einen den Datenschutzanforderungen entsprechenden Ablauf des Verarbeitungsprozesses treffen wird.Die relative Ohnmacht gegenüber der technischen Entwicklung führt häufig zu einer Vorstellung von sehr radikalen Lösungen der Kontrollmöglichkeiten, die aber selten realistisch sind. So hat sich beispielsweise der Datenschutzbeauftragte des kanadischen Bundesstaates Ontario dafür ausgesprochen, keine personenbezogenen Daten über Fernkopierer zu übermitteln. Die Verwendung von Fernkopierern soll so lange für unzulässig erklärt werden, solange personenbezogene Angaben auf dem Spiel stehen. Der hessische Datenschutzbeauftragte weist darauf hin, daß dies, genaugenommen, jedoch eher ein Verzweiflungsakt als ein wirklicher Ausweg ist.Wenn der Datenschutz überhaupt eine Chance haben soll, dann muß er in die Technikgestaltung eingreifen. Dabei geht es nicht um Sicherheitsmaßnahmen; es geht vielmehr darum, den Datenschutz unmittelbar in die technische Infrastruktur aufzunehmen. Der Datenschutz muß zu den selbstverständlichen Konstruktionsvorgab en und Zulassungsvoraussetzungen der Informations- und Kommunikationstechnologie gehören. Nur der zum integralen Bestandteil der Hard- und Software gewordene Datenschutz kann die immer offener zu Tage tretende Defizite der herkömmlichen Verarbeitungsregelung kompensieren. Ich glaube, daß das ein sehr wichtiger Punkt ist, wenn wir nicht weiterhin Gesetze und Regelungen beschließen wollen, die letzten Endes nicht greifen.Ich will trotzdem einige Punkte ansprechen, die sich natürlich im traditionellen Denken und im traditionellen Konzept bewegen, weil es nicht anders möglich ist. Der Datenschutzbeauftragte, der auf Grund eines traditionellen Gesetzes arbeitet, muß dies auch tun.Wir wissen, daß die Bundesregierung — und damit auch die Koalition — viele Gesetze liegengelassen hat. Es ist versprochen worden, daß das Datenschutzgesetz und einige andere Gesetze noch in dieser Legislaturperiode kommen. Trotzdem wird ein großer Berg an Gesetzen liegenbleiben, die auf Grund des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts nötig sind, so daß diese Anforderungen nicht umgesetzt werden. Ich denke, eine neue Bundesregierung wird in der nächsten Legislaturperiode dort einen ganz schönen Berg an unerfreulichen und unerledigten Gesetzen vorfinden. Dies wäre aber an sich noch kein Problem, wenn man nicht davon ausgehen müßte, daß der Bürger einen Anspruch darauf hat, daß alle Bereiche, die der Gesetzgeber zu regeln hat, gemäß dem Bundesverfassungsgerichtsurteil auch unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten umgesetzt werden. Dies ist eben nicht gemacht worden. Da der
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Wartenberg
Übergangsbonus mit dieser Legislaturperiode ausläuft, wird es wohl zu erheblichen Schwierigkeiten kommen.Wir sehen jedenfalls mit Erwartung dem entgegen, was die Bundesregierung und die Koalition in den wenigen Monaten noch schaffen wollen. Wichtig wäre es jedenfalls, daß ein novelliertes Datenschutzgesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet würde.
Ich möchte mich auf einige Schwerpunkte konzentrieren, die insbesondere für die weitere Arbeit eines offensiven Datenschutzes oder, besser gesagt, im Sinne des Informationsschutzgedankens zu beachten sind. Dabei spielt eine ganz wesentliche Rolle die zunehmende Europäisierung. Wir haben uns in dieser Legislaturperiode sehr intensiv mit dem Schengener Abkommen beschäftigt. Gerade dieses Abkommen hat deutlich gemacht, daß häufig genug verstärkter Informationsaustausch und stärkere Zusammenarbeit der Behörden sowie stärkere Kontrollen an den Außengrenzen angebliche Sicherheitsdefizite kompensieren sollen. Dies heißt aber gleichzeitig, daß dem Datenschutz in diesem europäischen Verbund eine größere Bedeutung zukommen müßte.Am Beispiel des Schengener Abkommens zeigt sich, in welche schwierige Situation wir kommen, wenn wir ein Datenübertragungsverbundsystem haben, dem zwei Länder angeschlossen sind, die entweder gar kein oder ein unzureichendes Datenschutzgesetz haben. Die Bundesregierung, aber auch die Vertragsstaaten waren erst sehr spät bereit, Datenschutzgrundsätze überhaupt in die Verhandlungen einzubeziehen. Dabei muß sich auch die Bundesregierung darüber im klaren sein: Je später man sich bereit findet, die Notwendigkeit von grenzüberschreitendem Datenaustausch und darin einzubeziehenden Datenvorschriften vorzusehen, desto schwieriger wird es später werden, eine wirklich überzeugende Regelung zu finden.So hat sich eine Situation ergeben, daß nicht die Datenschutzgrundsätze konsequent beachtet wurden und ein gemeinsames Regelungssystem entwickelt wurde, sondern man begnügte sich weitgehend mit Vorbehaltsklauseln zugunsten der Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts. Dies gilt nicht nur für den Schengener Vertrag, sondern insbesondere für die EG.Wir hatten ja vor einiger Zeit im Ausschuß eine Debatte über den Entwurf einer Verordnung des Rates über die Ermittlung von unter die Geheimhaltungspflicht fallenden Statistiken, wobei alle Fraktionen im Ausschuß, aber auch die Bundesregierung, der Meinung waren, daß es unzureichend sei, was auf EG-Ebene beschlossen wird. Im Ausschuß haben wir alle zusammen beschlossen, daß dort mehr geschehen muß. Aber das ist natürlich relativ bedeutungslos. Es gibt der Bundesregierung vielleicht eine psychologische Stütze. Tatsächlich ist es aber so, daß ein großer Teil unseres datenschutzrechtlichen Niveaus auf EG-Ebene nicht aufrechterhalten werden kann.Ein weiterer Punkt, den ich kurz ansprechen möchte, ist die stürmische technische Entwicklung imBereich der Telekommunikation. Der Zwölfte Tätigkeitsbericht des Bundsbeauftragten für den Datenschutz beschäfigt sich allein auf mehr als zehn Seiten kritisch mit dem Verantwortungsbereich des Ministers für Post und Telekommunikation. Besonders zu beachten ist der Schutz von Daten, die bei der Benutzung des Telefonnetzes anfallen, schon deshalb, weil praktisch alle Bürgerinnen und Bürger sowohl privat wie im Arbeitsleben von einem möglichen Mißbrauch betroffen sein können. Selbst bei zuverlässigem Schutz der Nachrichteninhalte können die Verbindungsdaten, das heißt Informationen, wer mit wem zu welchem Zeitpunkt welchen Dienst benutzt hat, sehr sensibel sein.Der Bundesbeauftragte weist überzeugend nach, daß mit dem Übergang von der analogen zur digitalen Übertragungstechnik das Gefährdungspotential für personenbezogene Daten in der Telekommunikation drastisch zunimmt. Wenn der Bundesbeauftragte, der erkennbar um abgewogene, zurückhaltende und maßvolle Formulierung bemüht ist, feststellt, daß das Schreckgespenst des gläsernen Menschen möglich wird, ist wohl gründlicher Handlungsbedarf im Parlament unabweisbar.Ich möchte hier auf die Möglichkeiten, die sich in den neuen digitalen Telefonnetzen und Übertragungsnetzen ergeben, kurz hinweisen. Die generelle Speicherung des vollständigen Verbindungsdatensatzes über das Ende der Verbindung hinaus als Gebührendatensatz ist auf Sicht geeignet, das Kommunikationsverhalten der Telefonierenden wesentlich zu verändern, da die Beteiligten stets damit rechnen müssen, daß ihnen die näheren Umstände eines Telefonats vorgehalten werden können. Nach der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts kann daher die Vollspeicherung nur durch eine Entscheidung des Gesetzgebers selbst eingeführt werden. Eine Rechtsverordnung, wie wir sie jetzt haben, ist nicht ausreichend.Die Vollspeicherung greift in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Bürgers ein. Im Volkszählungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß eine solche Beschränkung nur wegen eines überwiegend allgemeinen Interesses zulässig ist. Ob das Interesse an der Überprüfbarkeit der Fernmelderechnung im Streitfall dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung überwiegt, erscheint fraglich. Es ist daher zweifelhaft, ob die Vollspeicherung überhaupt verfassungsgemäß zu regeln ist.Die europaweite Verfügbarkeit des ISDN wird dazu führen, daß personenbezogene Daten in Mitgliedstaaten übermittelt und dort gespeichert werden, die zum Teil überhaupt keine Datenschutzregelungen haben. Da die Entscheidung über das Euro-ISDN bereits getroffen worden ist, steht zu befürchten, daß Datenschutzregelungen, falls überhaupt, nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu erreichen sein werden.Diese Technik des ISDN wird uns auch in anderen Bereichen große Schwierigkeiten machen, etwa durch die Tatsache, daß die Anzeige der Rufnummer des Anrufers beim Angerufenen zunehmend möglich sein wird. Dies wird auch das Verhalten von Menschen, die andere Menschen anrufen, relativ stark verän-
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dern. Das spielt übrigens dort eine sehr große Rolle, wo die Anonymität des Anrufenden von ursprünglicher Bedeutung ist, etwa bei der Telefonseelsorge, AIDS- und Drogenberatung. Es gibt eine ganze Menge Bereiche, wo die Anonymität von großer Bedeutung ist. Dies ist nur ein Beispiel, das die Veränderungen der Datenübertragung und der Vernetzung im neuen ISDN-System deutlich macht. Dabei sind wir dort erst am Anfang. Aber es besteht die Planung, diese Technologie in den Jahren bis 1993 nicht nur in der Industrie, sondern auch bei dem normalen Bürger sehr rasch einzuführen.Der Bundesbeauftragte kritisiert zu Recht, daß der Minister für Post und Telekommunikation schon seit vielen Jahren die Digitalisierung der Fernmeldenetze betreibt, inzwischen sogar in vielen Bereichen eingeführt hat, ohne vorbeugend, technisch und rechtlich das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu gewährleisten.Trotz jahrelanger Kritik des Bundesbeauftragten für Datenschutz und entsprechender Initiativen der SPD blieb Schwarz-Schilling bis heute untätig und ließ auch die Beratungen zum Poststrukturgesetz im letzten Jahr ungenutzt verstreichen, zukunftssichere Regelungen zu treffen. Im Gegenteil, er brach eine Zusage an das Parlament, daß es eine Vorratspeicherung von Verbindungsdaten nicht geben werde. Ich meine, daß diese Frage im Parlament noch einmal aufgerollt werden muß, auch im Innenausschuß, der federführend für den Datenschutz ist.Es gibt weitere Schwierigkeiten, die zunehmend etwa mit der Aufstellung von Telefax-Geräten in Behörden eintreten. Telefax-Geräte werden jetzt in Meldebehörden häufig an einem zentralen Ort aufgestellt. Sensible Daten werden nicht mehr in Eilbriefen, sondern mit Telefax gesendet. Andere Beamte oder dort Tätige und zum Teil sogar Besucher können die Übertragung per Telefax zufällig in dem Raum mitbekommen. Das ist wohl ein Rückschritt im Datenschutz, der einmalig ist. Dieser Punkt ist nicht im Datenschutzbericht des Bundesbeauftragten angesprochen worden, aber in Datenschutzberichten der Landesbeauftragten, weil dieses Problem in örtlichen Verwaltungen von relativ großer Bedeutung ist. Auch damit werden wir uns wohl zu beschäftigen haben.Ich meine, der Zwölfte Bericht macht deutlich, daß die Tätigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz in den zwölf Jahren seines Bestehens erheblich angewachsen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 die besondere Bedeutung einer unabhängigen Datenschutzkontrolle für den Datenschutz betont.Insbesondere hat auch die Wahrnehmung von Beratungsaufgaben des Bundesbeauftragten in Umsetzung des Volkszählungsurteils einen erheblichen Raum eingenommen. Die personelle Ausstattung der Dienststelle des Bundesbeauftragten für den Datenschutz hat damit in keiner Weise Schritt gehalten. Es hat im letzten Haushaltsjahr leichte Verbesserungen gegeben. Aber ich denke: Wer eine wirksame Kontrolle des Datenschutzes erreichen will, muß eine Behörde so ausstatten, daß die Kontrolle auch wahrgenommen werden kann. Nicht nur die Problematik der stürmischen technologischen Entwicklungen, die das traditionelle Datenschutzkonzept zum Teil ad absurdum führt, muß von uns neu bedacht werden, sondern mit dieser technischen Entwicklung gleichzeitig auch die personelle Ausstattung des Datenschutzbeauftragten.Wir danken dem Datenschutzbeauftragten für seinen umfangreichen Bericht, der es wert wäre, daß sich das Parlament viel Zeit nähme, sich damit auseinanderzusetzen. Aber ich bin da nicht so sehr guter Hoffnung. Ich hoffe zumindest, daß das, was jetzt vorgestellt worden ist, eine öffentliche Wirkung hat.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den mir zugestandenen acht Minuten muß ich mich auf wenige grundsätzliche Bemerkungen beschränken.Die Datenschutzberichte sind gut. Wenn man sie zusammen mit den Berichten der Landesbeauftragten liest, stellt man fest, daß sie eine richtige Anatomie des Staates ergeben. Dann merkt man, daß die Datenverarbeitung nicht nur irgend etwas der großen Verwaltung ist, sondern wieweit sie in das tägliche Leben eingreift.Ich wünschte, daß wir ähnlich intensive Berichte über die Datenverarbeitung in der gewerblichen Wirtschaft hätten, weil sie dann nämlich deutlich machen würden, in welchem Umfang nicht nur personelle Entscheidungen, sondern auch unternehmerische Entscheidungen in Betrieben und Unternehmen von der Anwendung der Datenverarbeitung berührt sind. Beispiel: Telefon, ISDN, wodurch in der Tat auf drei Monate hinaus jedes Telefongespräch mit Partner registriert und festgehalten werden kann. Ich möchte einmal wissen, ob die Leute das wollen, ob sie darüber glücklich sind, ob sie zustimmen würden. In der Tat werden wir darüber reden müssen.Im übrigen werden hier viele Leute, die sonst das Gefühl haben, daß Datenschutz nur eine Sache von wenigen esotherischen, feinfühligen Abgeordneten sei, die sonst mangelhaft beschäftigt sind, merken, wie tief das in das tägliche Leben eindringt.Die Sensibilität des Bürgers ist gewachsen. Sie ist mit den Möglichkeiten des Staates gewachsen, tatsächliche Überwachungsmechanismen einzurichten und zu betreiben. Diese Mechanismen sind, wenn sie nicht kontrolliert und eingegrenzt werden, eine Gefahr für die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte. Die Mißachtung der Privatsphäre und das Registrieren mißliebiger, aber nicht rechtswidriger Handlungen, wie das nun in Österreich, in der Schweiz und in Frankreich offenkundig geworden ist, ist an sich ein Kennzeichen totalitärer Staaten.Gleichzeitig muß der Staat verstehen, daß die Entfremdung zwischen Bürger und Staat wachsen kann und wachsen wird, wenn seine Arbeitsweise undurchsichtig wird, wenn der Bürger den Eindruck bekommen muß, daß solche Überwachungssysteme heimlich
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Dr. Hirschtatsächlich schon errichtet seien und betrieben würden.Dieser Gefahr für beide, für Bürger und Staat, kann nur durch größere Durchsichtigkeit und größere Offenheit begegnet werden. Das muß leider erst in einem mühsamen Prozeß in die Hirne derjenigen hineingepaukt werden, die immer noch glauben, daß die Kontrolle der Datenverarbeitung darauf abziele, den Staat zu schwächen. Der von Herrn Wartenberg schon genannte Satz, daß Datenschutz Täterschutz sei, ist vollkommener Schwachsinn, weil man ihn auf die ganze Rechtsordnung münzen könnte. Dann wäre die Strafprozeßordnung Täterschutz; die Verfassung wäre Täterschutz; die bürgerlichen Freiheiten wären Täterschutz.
Nein, sie sind Schutz vor Übermacht, Schutz des möglicherweise Unschuldigen, Schutz der Privatheit und Schutz der Grundrechte. Unsere Rechtsordnung folgt der schlichten Erkenntnis, daß innere Sicherheit nur bei innerem Frieden gewährleistet werden kann und daß zu diesem inneren Frieden auch die öffentliche Kontrolle der öffentlichen Macht gehört und ebenso der Schutz der Privatheit des Bürgers. Das hat das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts in wirklich klassischer Weise formuliert.Der Übergangsbonus geht nach diesen sechs Jahren zu Ende. Wir begrüßen das. Denn in der Tat werden die Gerichte mutige Entscheidungen treffen. Ich bin sehr froh, sagen zu können, daß wir — ich denke — in der nächsten Woche als Koalition Anträge mit den Folgerungen vorlegen werden, die wir aus der Anhörung gezogen haben, die wir ja schon Mitte des vergangenen Jahres zu den von Ihnen angemahnten Gesetzen gemeinsam gemacht haben. Anträge von Ihnen habe ich dazu nicht gesehen. Das sage ich, wenn wir uns schon gegenseitig vorhalten wollen, wer nicht tätig wird.
Mich ödet diese gegenseitige Vorwerferei ehrlich an.
— Ja, nur muß ich mich dagegen wehren. Wir sind ja die ganze Zeit als Faulpelze an den Pranger gestellt worden. Dann muß ich einmal sagen — da wende ich mich auch an Sie, verehrter Herr Such — : Der Innenausschuß ist ja wirklich arbeitsintensiv bis zum „geht nicht mehr". Aber wenn aus jedem kleinen Problemchen eine Affäre gemacht wird, über die stundenlang geredet wird, dann kann man nicht fertig werden. Dann muß man eben entweder Wichtiges von Unwichtigem trennen, oder man muß länger tagen. Ich biete Ihnen an, daß wir jede kommende sitzungsfreie Woche durchtagen, bis alles durchberaten ist. Das können wir alles machen; ich biete Ihnen das an. Wir werden Ihnen also die Anträge vorlegen, und dann werden wir sehen.Große Sorgen bereitet mir die Ungleichheit der Datenschutzgesetzgebung in den einzelnen europäischen Ländern. In der DDR gibt es gar keine Datenschutzgesetze, und in Belgien gibt es ebenfalls keine. Ich sage voraus, daß diese Ungleichheit die notwendige Zusammenarbeit immer mehr beeinträchtigen wird. Wir müssen auch an das Europäische Parlament appellieren, über die Europäische Datenschutzkonvention hinauszugehen und dafür zu sorgen, daß das nicht nur Papier bleibt, sondern in den nationalen Gesetzgebungen auch umgesetzt wird.Die letzte Bemerkung. Wenn ich die Berichte lese, dann bestaune ich immer wieder, mit wie wenigen technischen und personellen Mitteln der Datenschutzbeauftragte diese Arbeit bewältigt. Seine Ausstattung steht in einem beklagenswerten Gegensatz zum Umfang der geplanten neuen Bundesoberbehörde zur Sicherung des Datenverkehrs, zu deutsch: in einem Gegensatz zum Umfang der bisherigen Dechiffrierstelle des Bundesnachrichtendienstes, die ihre segensreiche Tätigkeit nun der gewerblichen Wirtschaft widmen soll. Wir sind der Meinung, daß diese Dienststelle und ihre hervorragenden Fachleute auch für Aufträge des Bundesdatenschutzbeauftragten zur Verfügung stehen müssen. Wir werden entsprechende Anträge stellen.Wir sichern dem Datenschutzbeauftragten, der gleichzeitig auch unser Arm und unser Ohr ist, massive Unterstützung zu, nicht nur weil er in seiner Tätigkeit unser Organ ist, sondern weil seine Tätigkeit dem Schutz der bürgerlichen Freiheiten dient, die ohne ihn nicht mehr gesichert werden können. Das muß sich auch bei den Haushaltsberatungen in einer ausreichenden personellen und sachlichen Ausstattung der Behörde widerspiegeln.Vielen Dank.
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— Das zeigt nur, daß Sie über diese Gespräche und Vereinbarungen überhaupt nicht informiert sind, sonst könnten Sie solche Zwischenrufe nicht machen.
Die aktuelle gesamtdeutsche Entwicklung darf aber den Blick nicht darauf verstellen, daß der europäische Einigungsprozeß gerade für die Wirtschaft große datenschutzrechtliche Probleme bringen kann. Einige Staaten der Europäischen Gemeinschaft, wie z. B. die Bundesrepublik Deutschland, haben sehr stringente Datenschutzgesetze. Bei anderen Staaten ist der Datenschutz überhaupt nicht gesetzlich geregelt. Dieser Zustand ist außerordentlich unbefriedigend.Auch die Datenschutzkonvention des Europarates hilft hier — zumindest derzeit — nur partiell weiter; denn einerseits haben nicht alle EG-Staaten die Konvention ratifiziert, andererseits haben nicht alle Vertragsstaaten die von der Konvention zur Grundbedingung gemachte nationale Datenschutzgesetzgebung, die die Konventionsgrundsätze umsetzt.Aber auch der Umstand, daß für die Organe der EG selbst kein Datenschutzrecht existiert, wird in dem Maße zunehmend Probleme schaffen, in dem dort zentral mit personenbezogenen Daten aus den Mitgliedstaaten umgegangen wird. Eine solche Entwicklung ist zur Zeit im Bereich der Statistiken zu beobachten.Einen Handlungsbedarf im europäischen Rahmen hat der Bundesbeauftragte wiederholt besonders hinsichtlich der Privatwirtschaft reklamiert. Allerdings fehlt bisher eine hinreichende Konkretisierung der tatsächlichen Problemfälle. Es ist daher erforderlich, zunächst den Sachverhalt dahingehend aufzuklären, welche Konstellationen im grenzüberschreitenden Datenverkehr existieren, die mit dem bestehenden Regelwerk, das auch vertraglicher Art sein kann, nicht zu lösen sind und daher EG-rechtlicher Regelungen bedürfen.Zu diesem Zweck hat der Bundesminister des Innern einen Gesprächskreis mit den obersten Datenschutzaufsichtsbehörden für den nichtöffentlichen Bereich ins Leben gerufen, in den auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz mit einbezogen ist. Dieser Gesprächskreis ermöglicht es, die Erfahrungen der Aufsichtsbehörden aus der Kontrollpraxis für die Entscheidung darüber nutzbar zu machen, welche Initiativen bei der EG ergriffen werden sollen.Dabei wird dann auch der Wirtschaft Gelegenheit zu geben sein, Problemfelder aus ihrer Sicht in die Diskussion einzubringen. Das ist besonders wichtig im Hinblick darauf, ob ohne EG-einheitliche Normen unterschiedliches nationales Datenschutzrecht geeignet ist, die Wettbewerbssituation innerhalb der Gemeinschaft zu verzerren. Bereits bei der ersten Zusammenkunft hat sich ergeben, daß sich besonders im Bereich der Wirtschaftsauskunfteien schon heute erste praktische Schwierigkeiten abzeichnen.Diese Initiative des Bundesministers des Innern mit Blickrichtung auf die EG wird dadurch ergänzt, daß auch weiterhin im Rahmen des Europarates konstruktiv an der Weiterentwicklung des Datenschutzrechtes gearbeitet wird. Auch im Bereich des Datenschutzrechtes wird der Europarat eine große eigenständige Bedeutung erhalten. Das resultiert bereits aus der weit über den Rahmen der EG hinausgehenden Zusammensetzung. Auch haben einige Ostblockstaaten — ich nenne hier insbesondere die Sowjetunion — ihr Interesse an einer Mitarbeit im Europarat signalisiert.Es besteht daher die begründete Hoffnung, daß in absehbarer Zeit auch über die EG hinaus ein an der Konvention des Europarates orientierter gemeinsamer datenschutzrechtlicher Mindeststandard vorhanden sein wird, der einen Datenfluß über die Grenzen im Rahmen des Erforderlichen ermöglicht, bei voller Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 11/3932 und 11/6458 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Kein Widerspruch. So beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1990— Drucksache 11/6535 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenHaushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO30 Minuten werden vorgeschlagen. — Das Haus ist damit einverstanden.Ich eröffne die Aussprache.Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Vogt. Bitte schön.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die demokratischen Umwälzungen in der DDR geben uns nicht nur die einmalige Chance, die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit zu schaffen, sie verlangen von uns auch eine erhöhte Verantwortung. Wirtschaftsunion, Währungsunion, Sozialunion, das gehört zusammen. All das sind notwendige Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit, die rasch verwirklicht werden müssen, wenn sie wirklich helfen und unseren Landsleuten in der DDR eine neue Perspektive vermitteln sollen.
Unter diesen Umständen, meine Damen und Herren, ist es gut zu wissen, daß sich nicht nur die deutsche Wirtschaft, sondern auch die Rentenversicherung in einer soliden Verfassung befindet, 1989 waren die Einnahmen der Rentenversicherung um 3,1 Milliarden DM höher als die Ausgaben. Damit hat die Rentenversicherung seit 1985 im fünften aufeinander folgenden Jahr Überschüsse erzielt. Die Schwankungsreserve konnte im letzten Jahr auf 25,8 Milliarden DM aufgebaut werden, was zwei Monatsausgaben entspricht. Auch wenn dadurch die letztes Jahr gemeinsam beschlossene Rentenreform 1992 nicht nachträglich überflüssig wird, so verschafft uns das jetzt erreichte Rücklagenniveau doch eine beruhigende Sicherheit. Nach der aktuellen Einschätzung kann damit der derzeitige Beitragssatz von 18,7 % bis Mitte der 90er Jahre gehalten werden.
Auch die im Entwurf eines Rentenanpassungsgesetzes 1990 vorgesehene Rentenanhebung ist solide finanzierbar. Mit 3,3 % entspricht dieser Anpassungssatz der Ende letzten Jahres geschätzten Entwicklung der Bruttoarbeitsentgelte 1989. Nach den jetzt vorliegenden Daten des Statistischen Bundesamtes über die Entgeltentwicklung des Jahres 1989 ist dieser Anpassungssatz um 0,2 Prozentpunkte auf 3,1 % herabzusetzen. Andererseits ist erstmals seit sechs Jahren der durchschnittliche Beitragssatz zur Krankenversicherung der Rentner von 12,9 % auf 12,8 % gesunken, so daß die Renten mit 3,16 °A° effektiv höher steigen, als es der Bruttoanpassung entspricht.
Dies ist eindeutig ein Erfolg des Gesundheits-Reformgesetzes, der jetzt auch den Rentnern zugute kommt. Auch 1991 wird der Beitragssatz zur Krankenversicherung der Rentner noch weiter sinken, da große Krankenkassen, wie Sie wissen, Beitragssatzsenkungen um 0,6 Prozentpunkte angekündigt haben. Das heißt, auch 1991 kommen die Rentner in den Genuß der Entwicklung, die durch das GesundheitsReformgesetz ermöglicht worden ist.
Die diesjährige Rentenanpassung, meine Damen und Herren, ist die 32. seit der Rentenreform 1957. Sie steht damit in einer langjährigen Tradition regelmäßiger Anpassungen, die seit 1957 zu einem Anstieg der Renten auf das 6,6fache geführt haben. Dieser Anstieg lag sogar noch über dem Anstieg der verfügbaren Löhne, der seit 1957 das 6, 1fache erreicht hatte.
Die jährliche Rentenanpassung ist aber nicht nur eine Garantie dafür, daß die Rentner an der allgemeinen Einkommensentwicklung beteiligt sind, sie ist zugleich eine Garantie dafür, daß den Rentnern die Preise nicht davonlaufen. Die Kaufkraft der Renten liegt heute rund 6 bis 7 %, über dem Niveau des Jahres 1985.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, den Gesetzentwurf zur Rentenanpassung 1990, so wie die Bundesregierung ihn vorgelegt hat, zu beschließen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyenn.
Meine Damen und Herren! Wir werden sicherlich der Aufforderung des Herrn Parlamentarischen Staatssekretärs nachkommen, denn eine Rentenanpassung um 3,1 %, erstmals seit langen Jahren nicht belastet mit einem dagegenzurechnenden Abzug beim Krankenversicherungsbeitrag, ist schon eine vernünftige Sache. Ich will dennoch feststellen — das finde ich für uns alle gut — , daß erstmals seit 1982 nicht die unüberhörbare Sorge um die künftige finanzielle Entwicklung der Renten mitgeteilt werden muß. Durch den Rentenkompromiß ist erreicht worden, daß nach Jahren der Flickschusterei endlich Verläßlichkeit in die Alterssicherung zurückgekehrt ist, und diese Verläßlichkeit heißt, daß das Haus der Rentenversicherung für die nächsten 20 Jahre in Ordnung sein wird.Die Kürzung des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner ist allerdings kein Anlaß zu Lobeshymnen. Herr Staatssekretär Vogt, Sie sprechen hier von einer Entlastung von 0,05 % , und das macht gerade 50 Pfennig pro 1 000 DM Rente aus. Da dies zurückzuführen ist auf erhebliche zusätzliche Belastungen gerade der Rentner, durch erhöhte Selbstbeteiligung bei Arznei- und Heilmitteln, beim Zahnersatz, auf die Verringerung des Sterbegeldes, auf den Wegfall der Fahrkostenerstattung, muß ich dagegen sagen: Viele Rentnerhaushalte sind durch das GRG stärker belastet, als es die Rentenanpassung ausmacht. Das spricht nicht gegen die Rentenanpassung, aber das spricht entschieden gegen das Gesundheits-Reformgesetz.
— Ob Sie das glauben oder nicht, ist eine andere Frage. Aber fragen Sie die Rentner, die krank sind und häufiger zum Arzt gehen müssen.
Die mit dem Rentenkonsens des vergangenen Jahres gewonnene solide Grundlage unseres Alterssicherungssystems kann nur bewahrt werden, wenn es möglichst bald gelingt, die Rentenversicherung an die neue Situation anzupassen, die aus dem Zusammenwachsen beider deutscher Staaten entstanden ist. Hier haben Sie, hier hat die Bundesregierung bisher wenig zustande gebracht.
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HeyennNach unserer Auffassung müßte eine Neuregelung der rentenrechtlichen Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepublik einige wichtige Punkte berücksichtigen. Das rentenrechtliche Übersiedlerproblem ist nur zu lösen, wenn die Bundesrepublik mit ihrer Finanzkraft entscheidend zur Verbesserung der Versorgung der Rentner in der DDR beiträgt. Dazu müssen die Rentensysteme beider Staaten schrittweise vereinheitlicht werden. Dabei geht es nicht um den sozialversicherungsrechtlichen „Anschluß " der DDR, sondern um eine optimale Kombination von Elementen aus den Rentensystemen beider Staaten.
— Ich danke, Herr Dreßler.
Besonders wichtig ist es natürlich, daß die DDR ein dynamisches und lohnbezogenes Versicherungssystem erhält, daß aber wichtige Elemente wie Mindestrente und die umfassende Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, auch der Selbständigen, erhalten bleiben und längerfristig auf die Bundesrepublik übertragen werden.
Das Fremdrentengesetz muß mit Wirkung für künftige Übersiedler auslaufen. Soweit die Bundesrepublik zur Rentenfinanzierung in der DDR beitragen muß, ist dies Sache des Staates, nicht der Beitragszahler. Es wäre überlegenswert, ob — zusätzlich zu den bisherigen Regelungen über den Bundeszuschuß —die Leistungen aus den in der DDR entrichteten Beiträgen ganz oder teilweise aus Steuermitteln zu erstatten sind.Gestatten Sie mir noch eine persönliche Anmerkung anläßlich der aktuellen Diskussion. Ich bezweifle, daß die Einführung des Exportprinzips, d. h. die Zahlung in der DDR erworbener Rententeile aus der DDR in die Bundesrepublik, eine dauerhafte Lösung darstellen kann. Denn dies führt wegen der relativ geringen Rentenansprüche in der DDR hier überwiegend zum Bezug ergänzender Sozialhilfe oder zur Zahlung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung, wenn Sozialdemokraten sie denn einführen können. Ein wenig weiter führt der Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung, nach diesem Exportprinzip zu verfahren, aber zusätzlich einen Kaufkraftausgleich zu zahlen.Aber ich meine, daß es in dieser Situation bedenkenswert wäre — weil es sich doch nur um Übergangsregelungen handeln kann — , die Gleichbehandlung fortzusetzen. Wenn in der DDR ein der Bundesrepublik adäquates Lohn- und damit auch Rentenniveau erreicht sein wird, kann niemand die DDR-Beiträge, auch wenn sie niedriger waren als die Beiträge in der Bundesrepublik, anders behandeln als die hier geleisteten Beiträge. Zum Ausgleich dieser niedrigeren Beiträge in der DDR sind im übrigen höhere Betriebsabgaben in der DDR gezahlt worden, die wiederum zur Kürzung des Lohnniveaus geführt haben. Wenn also Löhne und Renten in der DDR in Stufen das westdeutsche Niveau erreichen, muß man fragen, ob es richtig ist, die Ansprüche der Übersiedler aus der Rentenversicherung in der Bundesrepublik für eine Übergangszeit nach dem Exportprinzip abzusenken. Ich habe die Hoffnung, daß wir in den kommendenBeratungen hier zu gemeinsamen Ergebnissen kommen werden.Wichtiger wäre es für mich, das Notaufnahmeverfahren abzuschaffen und die Zusatzleistungen für Übersiedler zu streichen. Und noch wichtiger wäre es, mit einem eindeutigen Eintreten für eine kräftige Anhebung der Renten in der DDR, mit einem eindeutigen Eintreten für eine sofortige Einführung von Umschulungs-und Fortbildungsmaßnahmen in der DDR den Bürgern dort Hoffnung zum Bleiben zu geben. Hier vermisse ich in der Tat sehr viel von seiten der Bundesregierung. Sie ist hier passiv, um nicht zu sagen: untätig.Vielen Dank fürs Zuhören.
Sehr gut, Herr Kollege! Ich meinte die Kürze der Zeit. Das andere zu bewerten steht mir nicht zu.
Frau Abgeordnete Walz, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen!Meine Herren! Zum 1. Juli werden die Renten um 3,16 % erhöht. Damit profitieren Rentner von der guten wirtschaftlichen Entwicklung, die wir derzeit in der Bundesrepublik haben. Dabei kommt den Rentnern auch der Rückgang der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung zugute — ein Erfolg dieses Reformwerks.Die Dynamisierung der Renten ist zugleich Ausdruck unserer Verantwortung gegenüber der älteren Generation und der Bereitschaft, sie an dem, was die Aktiven schaffen, teilhaben zu lassen. Die Dynamisierung ist ein deutliches Plus unseres Systems gegenüber dem bisherigen Mindestrentensystem der DDR.Der 9. November ist in der deutschen Geschichte ein besonderes Datum, erst recht der 9. November 1989. Am Vormittag dieses Tages haben wir nämlich mit breiter Mehrheit in diesem Hause unsere beitrags- und leistungsfinanzierte Rentenversicherung für die Zukunft wetterfest gemacht, sie an die absehbaren demographischen Entwicklungen angepaßt und zugleich Korrekturen an kritischen Punkten des Fremdrentenrechts vorgenommen. Am gleichen Tag wurde die Mauer geöffnet und dadurch die Entwicklung zur deutschen Einheit eingeleitet.Den Tagen des Jubels — und wir alle haben gejubelt und sogar Tränen in den Augen gehabt — sind nun die Tage der Ernüchterung, ja die Tage des bangen Fragens gefolgt. Viele Ängste sind sicher überzogen. Nüchternheit ist aber notwendig. Denn das, was uns der „real existierende Sozialismus" hinterlassen hat, ist in der Tat ernüchternd: eine marode Wirtschaft, ein unzureichendes soziales Sicherungssystem, ein mangelhaftes Gesundheitswesen, eine ruinierte Umwelt und eine Verschwendung natürlicher Ressourcen.Von der erfolgreichen Bewältigung der gewaltigen Aufgaben, die vor uns liegen, werden aber nicht nur die Deutschen in der DDR, sondern auch wir profitieren. Deshalb sagen wir unseren Bürgern: Die hohe Zahl von Aus- und Übersiedlern ist keine Belastung
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Frau Walzfür die Rentenversicherung. Bei der günstigen Altersstruktur der Aussiedler wird unsere Rentenversicherung eher entlastet; und dies kommt Rentnern und Beitragszahlern zugute. Bei den Übersiedlern wird es hoffentlich bald gleichgültig sein, wo sie ihre Beiträge gezahlt haben.Von der zu erwartenden positiven wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR werden auch wir durch mehr Beschäftigung und damit mehr Beiträge für die Rentenversicherung profitieren.Diese auf uns zukommenden Aufgaben müssen von der Gesamtheit der Steuerzahler getragen werden.Das bisherige Fremdenrentenrecht, das unter ganz anderen Voraussetzungen konzipiert wurde, ist mit Realisierung der Wirtschaftsreform und der Währungsunion nicht mehr zeitgerecht. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig. An seine Stelle müssen neue Regelungen treten, die ohne größere Schwierigkeiten den Übergang zu einem gesamtdeutschen Alterssicherungssystem erlauben und auch für Aus- und Übersiedler gelten.Den Bürgern in der DDR müssen wir sagen: Die notwendigen Wirtschaftsreformen und die Währungsunion werden von einer Sozialunion begleitet sein. Das ist für die Koalition, ist für die FDP keine Frage.Ein gegliedertes Alterssicherungssystem ist auch in der DDR geboten. Die Renten müssen im Verhältnis 1:1 umgestellt werden.Wie die besonderen Zusatzversorgungssysteme — Rentenzuschläge, die zum Teil nicht auf Beiträgen beruhen — künftig behandelt werden, bedarf jedoch einer besonderen Prüfung.Das neue Rentenversicherungsrecht in der DDR, meine Damen und Herren, kann nur beitrags- und leistungsbezogen sein, eine Dynamisierung entsprechend der Lohnentwicklung vorsehen und — wie bei uns — künftig weitgehend durch Beiträge finanziert werden. Die bisherige Einheitssozialversicherung ist aufzulösen und zunächst in Kranken- und Rentenversicherung aufzugliedern. Notwendig ist auch die Einführung der Selbstverwaltung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Für verfehlt, lieber Herr Kollege, halten wir jedoch die Überlegung der SPD, das DDR-Mindestrentensystem bei uns unter dem alten Stichwort der sozialen Grundsicherung hoffähig machen zu wollen;
denn dies ist weder systemgerecht noch zu bezahlen. Liebe Kollegen, das haben auch Ihre Finanzpolitiker längst so gesehen.Wir Freien Demokraten werden auch weiterhin für ein gegliedertes Alterssicherungssystem in einem einheitlichen Deutschland eintreten.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Regierung verweist in zweifacher Hinsicht auf Versäumnisse der Rentenreform, die am 9. November letzten Jahres hier in dritter Lesung von allen Parteien mit Ausnahme der GRÜNEN gebilligt wurde.
Das erste Versäumnis betrifft die Höhe der Anpassung. 3,2 % sind vorgesehen. Tatsache ist jedoch, daß die Geldentwertung bereits knapp 3 % beträgt. An realer Rentenerhöhung werden also allenfalls lumpige 0,2, 0,3 % übrig bleiben. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß durch die vermieterfreundliche Wohnungspolitik der Regierung die Mieten überdurchschnittlich ansteigen. Für sehr viele Rentnerinnen und Rentner wird diese Rentenanpassung also ein geringeres Alterseinkommen als im vergangenen Jahr bedeuten.
Der Herr Staatssekretär mag sagen, daß die Rentenkasse gut gefüllt ist; wir reden über die Rentner, wie es für diese in Mark und Pfennig aussieht.
Der Gesetzentwurf weist außerdem darauf hin, daß die Renten mit 3,2 % in demselben Maße steigen wie die Bruttolöhne 1989. Soweit das zutrifft, zeigt das einmal mehr, daß die gegenwärtige Konjunktur zwar die Unternehmergewinne satt ansteigen läßt, die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung und in der Folge auch die Renten aber zurückbleiben.
Damit bin ich bei einem weiteren Punkt: Wir haben in der Auseinandersetzung um die Rentenreform immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß die Finanzierung dieser Reform auf der Absenkung des Nettorentenniveaus bis 1992 basiert. Gerade Sie von der SPD, die Sie unbedingt Ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen und an der Reform mitstricken mußten, wollten davon nichts hören.
Was lesen wir nunmehr auf Seite 6 der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs, Kollege Dreßler? Dort heißt es — Zitat — : „Das Nettorentenniveau wird insbesondere als Auswirkung der Steuerreform im kommenden Jahr etwas sinken. " Also genau das, was wir immer behauptet haben, wird kein halbes Jahr später offiziell zugegeben. Und bis 1992 wird das Nettorentenniveau weiter absinken, wie vorgesehen.
Wir sind darüber weiß Gott nicht glücklich, daß wir recht behalten haben, aber damit bestätigt sich: Diese Rentenreform ist zu Lasten der Rentnerinnen und Rentner gegangen.
Damit kommen wir zu einem weiteren grundlegenden Versäumnis der Reform, das nunmehr unübersehbar wird. Wir GRÜNEN haben bekanntlich als Hauptforderung die Einführung einer Mindestsicherung in der Rente vertreten. Die Regierungsparteien waren von Anfang an dagegen; die SPD war anfangs noch theoretisch dafür. Jetzt hat sie unter dem wohltätigen Einfluß von Oskar Lafontaine auch verbal davon Abschied genommen.
Hoss
Was folgt aber daraus angesichts der gegenwärtigen Entwicklung? Mittlerweile wachsen die beiden deutschen Staaten, was damals noch nicht absehbar war, immer mehr zusammen. Das Zusammenwachsen mit der DDR bedeutet aber auch ein Zusammenwachsen der Sozialsysteme. In der DDR wird eine Mindestrente von 330 Mark gezahlt. Das ist zwar nicht viel, aber keine Rentnerin und kein Rentner ist damit auf die Sozialfürsorge, wie man das in der DDR nennt, angewiesen — im Gegensatz zu Hunderttausenden alter Menschen in der Bundesrepublik als Rentenempfänger.
Was soll jetzt aus dieser Mindestrente werden? Sind Sie für Ihre Abschaffung, womit sich alle Ängste von drüben vor einem Sozialraub bestätigen würden? Wenn sie aber nicht abgeschafft wird: Wie wollen Sie den Rentnerinnen und Rentnern erklären, daß drüben weiterhin eine Mindestrente gewährt wird, hier aber nicht?
Oder als letzte Frage: Wenn das Fremdrentenrecht künftig für DDR-Bürgerinnen und -Burger nicht mehr gilt: Was soll mit den Rentnerinnen und Rentnern werden, die dann aus der DDR in die Bundesrepublik ziehen? Bislang erhalten sie auf Grund des Fremdrentengesetzes ein ordentliches Alterseinkommen — aber dann? Sollen sie dann vielleicht neben ihrer DDR-Rente ergänzende Sozialhilfe bei uns beantragen? Wollen Sie ihnen das allen Ernstes zumuten? Soll das die Zukunft der von Ihnen angestrebten deutschen Einheit für die Rentnerinnen und Rentner sein? Ein Einigungsprozeß, wie er gerade in aller Eile über die Bühne gezogen werden soll, kommt an der Einführung einer Grundsicherung auch in unserer gesetzlichen Rentenversicherung nicht vorbei. Daran werden sich Herr Blüm und auch der Genosse Lafontaine letzten Endes nicht vorbeimogeln können.
Damit bin ich am Schluß. Natürlich sind wir nicht gegen die vorgesehene Rentenerhöhung, aber so wie es aussieht, werden wir dem Gesetz zur Rentenerhöhung angesichts der geschilderten Umstände nicht zustimmen, sondern werden uns der Stimme enthalten.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Herr Abgeordneter Höpfinger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Monaten haben wir das Rentenreformgesetz in diesem Hohen Haus beschlossen. Das Reformwerk ist ein voller Erfolg. Es sichert das Fundament der Rentenversicherung, stärkt das Vertrauen des Versicherten in die Versicherung und reicht weit in das nächste Jahrhundert. Daß die Rentensicherheit einen hohen Stellenwert hat, beweist die Tatsache, daß dieses Rentenreformwerk von CDU, CSU, FDP und SPD gemeinsam erarbeitet wurde und eine gemeinsame Zielsetzung in der Sache gefunden wurde.
Das Rentensystem der DDR wurde angesprochen. Da möchte ich zunächst einmal sagen, Kollege Hoss, und wer sonst noch davon schwärmt, daß die DDR-Mindestrente für uns nun wirklich keine sozialpolitische Errungenschaft ist.
— Ja, ja, Sie sprechen nur die Höhe an.
Wir haben lange genug darüber diskutiert. Dies als Errungenschaft zu bezeichnen, gleich wer es sagt und hervorhebt, damit können wir uns nicht einig erklären.Anders ist es, was die Wirtschafts- und Währungsunion anbelangt. Da sind wir auch der Meinung, eine Sozialunion ist dazu erforderlich. Die Sorge der DDR-Rentnerinnen und -Rentner erfordert nach dem 18. März konkretes Handeln; das ist jedem bekannt.
Ich darf nur darauf verweisen, was der Herr Bundeskanzler in dieser Angelegenheit in seiner Regierungserklärung am 15. Februar dieses Jahres gesagt hat. Dort heißt es:Es ist unser selbstverständliches Ziel, auch der Rentnergeneration in der DDR, die den Aufbau nach dem Krieg bewältigt und die Hauptlast der sozialistischen Mißwirtschaft zu tragen hatte, den Lebensabend zu sichern.Ich glaube, das ist eine konkrete Aussage. Es werden sich also auch im Bereich der Rentenfragen Wege zeigen, wie die Systeme zusammenwachsen.
Wir wollen nicht verkennen: Es gibt Sorgen auch bei unseren Rentnern. Die Briefe, die Diskussionen und die Gespräche beweisen es. Ängste sind meines Erachtens auch hier unbegründet. Zunächst einmal muß man sagen: Zahlenmäßig ist das Verhältnis jung/ alt in der DDR günstiger als bei uns. Konkreter noch möchte ich sagen: Wenn in der DDR die Soziale Marktwirtschaft konsequent angewandt wird, steigert dies den Wohlstand bei Arbeitnehmern und bei den Rentnern. Das ist auch bei uns der Fall. Warum haben wir volle Rentenkassen? Sicher einmal vom Rentenreformwerk her, aber zum anderen, weil die Wirtschaft floriert. Deshalb haben wir noch Geld in der Kasse.
Wenn also der Rentenversicherung in der DDR geholfen werden muß, so kann man unseren Rentnern sagen, dafür wird bei uns keine Rente gekürzt und keine Rente geringer angepaßt, sondern dies bleibt in der herkömmlichen und gewohnten Art und Weise.Die Rentenanpassungen 1990 und auch 1991 — das haben wir gehört — erfolgen noch nach dem alten Recht. Der Anpassungssatz wurde schon genannt: 3,1 %, also etwas geringer, als zunächst im Gesetzentwurf vorgesehen. Die Preissteigerungsrate wurde ebenfalls genannt: 3 %.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990 15531
HöpfingerIch möchte auch noch einmal sagen, daß das Gesundheits-Reformgesetz hier natürlich positive Wirkungen hat. Ich erwähne das auch deshalb, weil ich glaube, daß die jetzige Absenkung von 2,9 To auf 2,8 % Krankenversicherungsbeitrag im Schnitt noch nicht alles ist. Wer heute die Presse verfolgt hat und hört, daß bei den Kassen ein Überschuß von mehr als 9 Milliarden DM vorhanden ist, der kann doch damit rechnen, daß im Laufe dieses Jahres noch eine Absenkung des Krankenversicherungsbeitrages erfolgt, was wiederum ein Vorteil für die Rentner ist.
Herr Kollege Hoss, weil Sie gesagt haben, aus dieser Rentenanpassung komme nicht viel heraus, sage ich Ihnen: Wir sollten doch nicht verkennen, daß der Kaufkraftzuwachs von 1986 und 1988 bei den Renten 6 bis '7 % über dem Niveau von 1985 liegt.Also, meine Damen und Herren: Wenn wir alle die positiven Dinge sehen, dann merken wir: Auch diese Rentenanpassung ist positiv für unsere Rentner.Lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen: Wir sollten nicht verkennen, welch bedeutsamer Bereich die Rentenversicherung ist — das sollten wir auch immer wieder hervorheben — , und zwar sozialpolitisch, gesellschaftspolitisch und natürlich auch wirtschaftspolitisch. Ein Bereich, der 204 Milliarden DM im Jahr ausgibt, bewirtschaftet, ist auch ein wirtschaftlicher Faktor.Wir sollten lobend hervorheben: Diese Rentenversicherung liegt in den Händen der Selbstverwaltung, und darum gilt es, am Schluß meiner Rede ein Wort zu dieser Selbstverwaltung zu sagen.Ich bin sicher: Wir werden im Ausschuß die Rentenanpassung 1990 zügig beraten, damit die Rentner dann auch rechtzeitig zu ihrer Rentenerhöhung kommen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 11/6535 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Kein Widerspruch. Das ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Anwendung der Begriffe „bio-", „biologisch", „öko-" und „ökologisch" zur Kennzeichnung von Lebensmitteln im Handel
— Drucksache 11/1039 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 11/6598 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/6610 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schmitz Diller
Kleinert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu fünf Minuten Dauer für jede Fraktion vorgesehen. Widerspruch? — Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Saibold.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Freunde und Freundinnen! Bereits 1987 haben wir GRÜNEN den Gesetzentwurf zur Kennzeichnung ökologisch erzeugter Lebensmittel eingebracht. An der Ausgangslage hat sich seit damals nichts geändert. Betrügereien und Etikettenschwindel mit den verkaufsträchtigen Bezeichnungen „Bio" , „Öko", oder „Natur" kommen leider immer wieder vor. Die gewinnsüchtige Falschdeklaration schadet gleichermaßen den Verbrauchern und Verbraucherinnen sowie den Landwirten. Sie schadet den Verbraucherinnen, weil sie nicht die qualitativ hochwertigen und umweltfreundlich produzierten Lebensmittel bekommen, die sie erwarten, und sie schadet den ökologisch wirtschaftenden Bauern und Bäuerinnen durch unlauteren Wettbewerb.
Bei der öffentlichen Anhörung im Januar 1988 und bei der ersten Beratung unseres Gesetzentwurfs wurde diese Problematik von allen Fraktionen erkannt und die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung bejaht. Das ist ja auch kaum verwunderlich; denn wer stellt sich schon gern offen gegen die Unterbindung von Irreführung
und die Beseitigung von Rechtsunsicherheit? Bei verbalen Zugeständnissen blieb es dann aber auch.
Zwar sprach sich Frau Martiny von der SPD in der ersten Beratung völlig zu Recht dagegen aus, eine Kennzeichnungsregelung auf die EG-Ebene zu verweisen, und bezeichnete die EG in diesem Zusammenhang als einen großen Verschiebebahnhof,
letztlich schloß sich die SPD der Verzögerungsstrategie der Koalitionsfraktionen aber an, die offenbar kein Interesse an einer sauberen Kennzeichnungsregelung haben.
So lagen die Beratungen sage und schreibe fast zwei Jahre auf Eis mit der Begründung, man wolle einer erwarteten EG-Richtlinie zur Bio-Kennzeichnung nicht vorgreifen.
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15532 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 200. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. März 1990
Frau SaiboldDabei ist man aber sonst bei weitem nicht so zurückhaltend. Ich erinnere nur an die Aufdeckung des Wurmbefalls bei Fischen im Herbst 1987.
Damals reagierten weite Teile der Verbraucherschaft mit Kaufverzicht, und die Fischbetriebe und der Fischeinzelhandel klagten über Umsatzeinbußen von bis zu 80 %. Der darauf folgende Aufschrei der Fischindustrie zeigte schnelle Wirkung. So wurden nicht nur vom Landwirtschaftsminister im Handumdrehen 2,7 Millionen DM lockergemacht, um eine gezielte Imagewerbung für die angeschlagene Fischwirtschaft zu unterstützen, sondern es wurde auch schnell eine Nematodenverordnung vorgelegt, obwohl eine EG-einheitliche Regelung in Vorbereitung war.Ein zweites Beispiel ist das Kartellgesetz. Auch die seit Jahren laufenden EG-Verhandlungen und die erwartete EG-weite Regelung zur Fusionskontrolle waren kein Hinderungsgrund, noch Ende letzten Jahres das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf nationaler Ebene zu novellieren.Bei der Biokennzeichnung jedoch sah die Bundesregierung bislang keine Notwendigkeit, von sich aus aktiv zu werden. Die Interessen der Ökobauern, der Biokostläden und der Verbraucherinnen werden ignoriert. Deren Lobby ist offensichtlich zu klein.Leider werden durch die seit den letzten Jahren fehlenden rechtlichen Regelungen auch die Absatzchancen unserer Bauern zum Teil beträchtlich geschmälert; denn der Markt wird mittlerweile teilweise von Importware nicht überprüfbaren Ursprungs und zweifelhafter Qualität beherrscht. Wo bleibt hier der häufig bekundete Wille der Bundesregierung, durch nationale Standards aktiven Einfluß auf zukünftige EG-weite Regelungen zu nehmen? Handlungsbedarf besteht nicht zuletzt deshalb, weil laut Ausschußbericht derzeit überhaupt nicht absehbar ist, wann denn mit einer EG-Regelung zu rechnen ist.
Wie aus Brüssel ferner zu hören ist, betätigt sich genau die Bundesregierung dort als Bremser für die Verabschiedung einer vernünftigen Regelung.
Nach Ansicht der Grünen ist eine europaweite Regelung der Biokennzeichnung natürlich wünschenswert, gerade auch im Hinblick auf den grenzüberschreitenden Handel. Wir lehnen jedoch Regelungen ab, die sich nicht eindeutig an den Richtlinien des ökologischen Landbaus orientieren, sondern die Grenzen zum integrierten Landbau verwischen und damit den grauen Markt legalisieren. Unabdingbar ist ebenfalls, daß tierische Produkte ebenso wie verarbeitete Lebensmittel von den Richtlinien zur Biokennzeichnung erfaßt werden.Mit der Ablehnung des Gesetzentwurfs der GRÜNEN, mit der ja gleich zu rechnen ist, wird eine Chance vertan, auf nationaler Ebene fundierte Kennzeichnungsrichtlinien zu erlassen, die Signalwirkung für Europa hätten.
Es wird die Chance vertan, positive Impulse zu geben für entsprechende europäische Vorgaben, um den Begriffswirrwarr um die Ökolebensmittel endgültig zu beheben. In Frankreich und in Österreich sind ökologisch erzeugte Lebensmittel längst geschützt. Es gab und gibt keinen vernünftigen Grund, in der Bundesrepublik weiterhin in Tatenlosigkeit zu verharren. Mit Ihrer Ablehnung verraten Sie die Interessen von Bauern, Verbrauchern und der Natur.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Carstensen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An sich hatte ich vor, heute abend zu später Stunde alle persönlich zu begrüßen. Aber es sind doch mehr, als ich gedacht hatte.Liebe Frau Kollegin Saibold, ich greife das gern auf, was Sie gesagt haben, nämlich daß eine Chance vertan werde. Eine Chance vertan haben Sie, nämlich die Chance, daß wir uns alle gemeinsam an Hand Ihres Antrags auch über die EG-Vorlagen unterhalten. Das bedauere ich sehr. Ihre Taktik hat dazu geführt — wir haben Ihnen gestern im Ausschuß vorgeschlagen, dies nicht weiter zu vollziehen — , daß wir diesen Antrag heute sicherlich ablehnen werden, und zwar aus bestimmten Gründen.Sie haben, so glaube ich, selbst nicht gewußt, was sachlich richtig ist. Sie haben eine gewisse Arbeitsteilung gehabt. Frau Saibold hat gedacht, Herr Kreuzeder hat gelenkt, und Frau Flinner hat an der Geschichte gearbeitet.Diese Taktik, die Sie im Ausschuß demonstriert und hier im Plenum fortgeführt haben, indem Sie einen Antrag nach § 62 der Geschäftsordnung gestellt haben mit dem Ziel, eine Untätigkeit des Ausschusses anzumahnen, hat dazu geführt, daß wir im Moment nicht das bekommen können, was wir alle wollen, und zwar in einer Art, in der wir das gern gemeinsam gemacht hätten.Dem Ausschuß ist sicherlich kein Vorwurf zu machen. Wir haben gemeinsam beraten, wir haben gemeinsam über diese Punkte diskutiert, und wir hätten— nachdem am 1. Januar die EG die Kommissionsdrucksache vorgelegt hat — auch gern gemeinsam über das, was die EG vorgelegt hat, hier diskutiert. Leider waren wir durch Ihre taktischen Maßnahmen dazu gezwungen, das seinerzeit im Ausschuß abzulehnen.
— Wissen Sie, das war Ihre Taktik. Gestatten Sie mir bitte, daß ich das hier auch einmal ganz deutlich sage.
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Carstensen
Warum soll das denn nicht gesagt werden? Wir haben Ihnen gestern die Brücke gebaut und haben Ihnen gesagt: Wir sind bereit, mit Ihnen gemeinsam die EG-Vorlage mit Ihren Vorlagen zu bearbeiten und darüber zu diskutieren. Sie haben dies nicht angenommen.Es wird von uns überhaupt nicht bezweifelt, daß im Sinne des Verbraucherschutzes und auch im Sinne des Schutzes der Produzenten eine entsprechende Kennzeichnung landwirtschaftlicher Produkte notwendig ist. Bei dieser Kennzeichnung und auch bei der Definition der sogenannten Bioprodukte besteht Handlungsbedarf. Gestatten Sie uns aber auch den Hinweis, daß wir die Problembeschreibung und die Maßnahmen der GRÜNEN, die in diesem Antrag aufgeführt sind, überhaupt nicht akzeptieren können. Es stimmt einfach nicht.
— Nicht in allen Fällen, Frau Kollegin Weyel.
Es stimmt nicht, wenn die GRÜNEN behaupten, durch die konventionelle Landwirtschaft würde sich die Nahrungsmittelqualität verschlechtert haben. Das Gegenteil ist der Fall.
Noch nie, meine Damen und Herren, sind in der deutschen Landwirtschaft so viele und so qualitativ hochwertige Nahrungsmittel produziert worden wie heute.
Noch nie ist dem Verbraucher ein solch umfangreiches und gesundes Sortiment an Nahrungsmitteln angeboten worden wie heute.
Trotzdem ist es notwendig, denjenigen Verbrauchern, die Nahrungsmittel aus „biologischem" , „ökologischem" oder „naturbelassenem" Anbau kaufen wollen, eine Sicherheit zu geben, das zu erwerben, was sie kaufen wollen.Ebenso ist es notwendig, den Anbauern dieser Produkte Vorgaben zu machen, an denen sich der Anbau und die Erzeugung zu orientieren haben. Dies dient zusammen mit einer vernünftigen Kontrolle dieser Anbaumethoden — die Kontrolle in Ihrem Antrag ist auch nicht vernünftig — der Existenzsicherung derjenigen Bauern, die diesen Weg der Produktion und der Vermarktung gehen wollen.Allerdings — darüber sind wir uns einig — hilft hier kein nationaler Alleingang.
Ich darf vielleicht auch einmal sagen: Die GRÜNEN hatten zugestimmt. Das ist das Bedauerliche dabei. Sie haben im Verlauf der gesamten Diskussion zugestimmt, ihren Gesetzentwurf in der Beratung bis zur entsprechenden Vorlage von EG-Richtlinien zurückzustellen. Das ist heute nicht der Fall. Wir werden Ihren Antrag deswegen ablehnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weyel.
Wir sind uns eigentlich alle darüber einig, daß es auf diesem Gebiet einer Regelung bedarf und daß ein Gesetz erfolgen sollte, um in diese Sache endlich eine Ordnung zu bekommen.Das Problem ist, daß der vorliegende Gesetzentwurf dem, was wir uns darunter vorstellen, natürlich nicht entspricht. Das hängt auch damit zusammen, daß er im Ausschuß aus den Gründen, die Herr Carstensen eben schon dargestellt hat, nicht gründlich beraten werden konnte.Ich möchte jetzt nur noch einige Gesichtspunkte hinzufügen, die man vielleicht bei einem Gesetzentwurf beachten sollte, wobei ich der Bundesregierung nicht zutraue, noch in dieser Periode einen vernünftigen Entwurf einzubringen. Ich könnte mir aber vorstellen, daß sich in einem neuen Bundestag eine neue Bundesregierung dazu aufrafft.Mein erster Vorschlag wäre, auf Bezeichnungen wie „biologisch" oder „natürlich" zu verzichten; denn selbstverständlich wachsen auch im konventionellen Anbau die Pflanzen natürlich und biologisch. Wie sonst? Man sollte also auf „ökologisch" und „öko-" abstellen.Es gibt dabei drei Bereiche, die man beachten muß. Das eine ist der Anbau. Dazu gehört auch die Tierhaltung. Dies ist der erste Bereich, der uns im Bereich der Landwirtschaft besonders angeht.Mindestens genauso wichtig aber ist die Verarbeitung.Ein dritter Punkt, der auch in dem GRÜNEN-Gesetzentwurf überhaupt nicht vorkommt, ist die Überprüfung auf Schadstoffe. Auch wenn jemand die Regeln des ökologischen Anbaus angewandt hat, der Anbau aber z. B. von Schadenstoffbelastungen aus der Luft betroffen ist, dann kann er nicht als besonders gesundheitsfördernd angesehen werden. Deswegen muß dieser dritte Teil mit in ein Gesetz hinein.Wir haben festgestellt, daß die zu erwartende EG-Richtlinie — jedenfalls das, was wir bisher davon gesehen haben — in der Strenge eigentlich nicht dem entspricht, was wir uns unter einem entsprechenden Gesetz vorstellen. Auf der anderen Seite wissen wir, welche Schwierigkeiten wir immer bei nationalem und EG-Recht haben. Deswegen könnte ich mir vorstellen, daß man z. B. so etwas wie Öko-Handelsklassen einführt, also die Handelsklasse I nach strengem deutschen nationalen Recht, die Handelsklasse Öko II nach EG-Recht und die dritte, die zwar etwas schadstoffärmer ist, aber den sonstigen Richtlinien nicht genügt. Das ist nur ein Vorschlag. Wir sind ja nicht dabei, den Gesetzentwurf wirklich abschließend zu beraten.Ein letztes Wort: Alle Anhörungen, die wir gemacht haben — und wir hatten eine Anhörung im Agrarausschuß; es war sogar schon die zweite, denn wir hatten eine in der vorigen Legislaturperiode — wie auch die Anhörungen, die wir von unserer Verbraucherarbeitsgruppe aus veranstaltet haben, haben immer ergeben, daß das Problem der Kontrolle bisher nicht ordentlich in den Griff zu kriegen ist. Bei den derzeitigen Ketten, die mit einem Markennamen arbeiten, wird die Kontrolle von der Organisation selbst durchgeführt. Bei einigen scheint das sehr rigoros vor sich zu gehen und
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Frau Weyelgut zu sein; bei anderen ist es offensichtlich nicht ganz deutlich, und das wird eine staatliche Aufsichtsbehörde wahrscheinlich nicht leisten können. Da haben wir noch Probleme. Vielleicht — auch dies ist eine Anregung — sollte sich die staatliche Kontrolle auf die Kontrolle der Kontrolleure beziehen.Dies sind, wie gesagt, ein paar Überlegungen, die man dazu machen kann; aber dem Gesetz in der derzeitigen Form können wir aus den eben dargelegten Gründen natürlich nicht zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Paintner.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich kann die Aufregung der Fraktion DIE GRÜNEN überhaupt nicht verstehen! Die Bundesregierung hat getan, was der Deutsche Bundestag ihr auferlegt hat. Es ist doch ein demokratischer Beschluß des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom Anfang des Jahres 1988 gewesen, mit dem wir das Bundeslandwirtschaftsministerium aufgefordert haben, in Brüssel auf einen beschleunigten Fortgang bei der Erarbeitung einer Verordnung zur Kennzeichnung alternativ erzeugter Agrarprodukte zu drängen.
Diesen Beschluß haben wir uns doch nicht aus den Fingern gesogen. Wir waren uns darüber im klaren, daß eine EG-einheitliche Regelung angestrebt werden müßte, um in diesem Bereich unnötige Wettbewerbsverzerrungen für die Landwirte zu vermeiden, die nach dieser Produktionsmethode Bio-Erzeugnisse herstellen.
In Brüssel fanden daraufhin einige Arbeitstagungen statt. Es wurde deutlich, daß die Regelungsschwierigkeiten erheblich sind. Sie sind nämlich in Übereinstimmung zu bringen zu vielen anderen Vorschriften im Bereich der Lebensmittelkennzeichnung und der verschiedenen Marktordnungen.
Nun hat die Bundesregierung kürzlich auf eine entsprechende Frage der Frau Kollegin Saibold mitgeteilt, daß die EG-Kommission einen Verordnungsvorschlag über den biologischen Landbau und die Kennzeichnung dieser Produkte Anfang Dezember letzten Jahres vorgelegt hat. Die Bundesregierung sollte allerdings alsbald über ihr Prüfungsergebnis des Kommissionsvorschlages berichten.
In diesem Bericht der Bundesregierung sollte auch der zweite Teil unseres Ausschußbeschlusses enthalten sein, in dem wir um Prüfung gebeten hatten, inwieweit die Bundesrepublik Deutschland Regelungen für die Kennzeichnung von Lebensmitteln im Biobereich vorbereiten kann, um eine möglichst schnelle Umsetzung der bevorstehenden EG-Verordnung zu ermöglichen. All dies wollen wir abwarten. Deshalb lehnt meine Fraktion den von den GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf ab.
Für die weiteren Beratungen erwartet meine Fraktion, daß die Kennzeichnungspflicht ein Schwergewicht auf die Produktionsmethode und nicht auf das Produkt legt, wie wir es bereits aus dem alternativen Anbau mit biologisch-organischer oder biologisch-dynamischer Wirtschaftsweise unter Verwendung von Gütezeichen wie „Bioland" oder „Demeter" kennen. Diese Vereinigungen sind auch auf Grund ihrer guten Organisation in der Lage die dringend notwendige Kontrolle der Betriebe durchzuführen. Die Betriebe bekommen dort Betriebsnummern und müssen sich streng an die vorgeschriebenen Produktionsmethoden halten. Dies ist der richtige Weg, um Verbrauchertäuschungen vorzubeugen.
Deshalb lehnt die FDP-Fraktion auch die Forderung der GRÜNEN in ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf ab, einen staatlichen Apparat einzurichten, der viel Geld kostet und die notwendigen Kontrollen gar nicht leisten kann.
Eine verstärkte Verbraucheraufklärung im Bereich der Bio-Produkte sollte also durch die Verbände und die Wirtschaft selbst erfolgen. Eine staatliche Sonderregelung in diesem Bereich stieße nicht nur auf große Schwierigkeiten, ich halte sie auch für überflüssig. In allen Warenbereichen gilt der Grundsatz, daß die Wirtschaft — die Produzenten, der Handel — für ihre Produkte und deren Eigenschaften einzutreten hat. Dies sollte unverändert auch für den Bereich der BioProdukte gelten.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Biokennzeichnungsgesetzes für Lebensmittel.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6598 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1039. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen.
Ich rufe die §§ 1 bis 14, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften — entgegen der Ausschußempfehlung — zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist der Ausschußempfehlung mit Mehrheit entsprochen und der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Damit sind wir auch am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. März 1990, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.