Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Wir beginnen unsere heutige Plenarsitzung erst jetzt, weil wir heute vormittag in einem Staatsakt die Verdienste von Herbert Wehner, dem verstorbenen langjährigen Fraktionsvorsitzenden der SPD, um unser Volk und unseren demokratischen Staat gewürdigt haben. Ich nehme an, daß alle Verständnis dafür haben.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 11/6279 —
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts. Die Frage 14 des Abgeordneten Hoss wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Probst zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 der Abgeordneten Frau Wollny auf:
Welche Konsequenzen wird die Bundesregierung aus den Ergebnissen einer Studie der Industrie ziehen, wonach bei den bisherigen Konzepten zur Konditionierung und Endlagerung von hochaktiven radioaktiven Abfällen und abgebrannten Brennelementen die Safeguard-Kontrollmöglichkeiten mit einer Fehlerquote von 12 % behaftet sind, und welche Auswirkung wird diese Tatsache auf die Genehmigungsfähigkeit der geplanten Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben haben?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Frau Abgeordnete, Ihre Frage beantworte. ich wie folgt: Für die Pilotkonditionierungsanlage zur Endlagerung abgebrannter Brennelemente ist ein Safeguards-Überwachungskonzept auszuarbeiten. Im Rahmen des Safeguards-Unterstützungsprogramms für die Internationale Atomenergie-Organisation werden gemeinsam mit Euratom und der IAEO entsprechende Untersuchungen angestellt. Ein geschlossenes Safeguards-Konzept für die Pilotkonditionierungsanlage wird bis zu ihrer Inbetriebnahme zur Verfügung stehen. Der Erteilung einer ersten Teilerrichtungsgenehmigung nach dem Atomgesetz steht aus SafeguardsSicht nichts im Wege.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, können Sie mir vielleicht andeutungsweise sagen, mit welchen Mitteln man diese Safeguard-Kontrolle durchführen will, da sich ja die bisherigen Meßvorrichtungen als ungeeignet erwiesen haben?
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, es geht um ein Gutachten, das Sie in Ihrer Frage herangezogen haben, in dem von einer Meßgenauigkeit von 12 % die Rede ist.
— Meßgenauigkeit sagt man da. So ist der Fachausdruck; 12 % Schwankungsbreite in der Genauigkeit.
— Gehe ich recht in der Annahme, daß ich Ihre Frage beantworten soll?
Diese 12 % sind ein Teil des Gesamtkonzepts und nicht das Safeguards-System insgesamt. Das wird ausgearbeitet und hängt mit dem Einschluß, mit der Lagerung, mit der Überwachung und selbstverständlich mit der Messung zusammen.
Ich darf Sie dahin instruieren, daß die Meßgenauigkeit bei der möglichst dichten Einschließung, d. h. bei der Absicherung dieser hochradioaktiven Stoffe zur Biosphäre hin, zwangsläufig abnimmt. Das liegt in der Natur der Sache.
Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Wollny.
Herr Staatssekretär, seitens der Atomkraftwerksbetreiber wird die PKA als Entsorgungsnachweis genannt. Können Sie mir erklären, wieso eine Pilotanlage als Entsorgungsnachweis dienen kann?
14694 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Sie müssen zunächst einmal ein solches Projekt entwickeln. Dazu brauchen Sie eine Pilotanlage. Das ist bei allen Techniken, die eingeführt werden, so.
Nichts dagegen einzuwenden. Aber wieso kann eine solche Pilotanlage als Entsorgungsnachweis dienen?
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Weil sie den Nachweis liefert, daß es funktioniert.
Frau Wollny, es tut mir leid, aber das Kontingent Ihrer Zusatzfragen ist erschöpft. Aber vielleicht hilft Ihnen der Abgeordnete Klejdzinski, der um eine Zusatzfrage gebeten hat.
Herr Präsident, es ist die Frage, ob ich weiterhelfen kann; ich habe nämlich einige Probleme mit dem Verständnis dessen, was der Staatssekretär vorgeschlagen hat: Sie sagten vorhin, daß man, wenn man etwas einschließt, auf Grund des Einschlusses nicht die Meßgenauigkeit hat. Darf ich Sie fragen, ob dann, wenn man vorher feststellt, was man einschließt, die Meßgenauigkeit hinreichend gegeben ist?
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Sie werden immer mit einer Schwankungsbreite der Genauigkeit des Messens zu tun haben. Ich möchte davon ausgehen, daß eine Meßgenauigkeit im bestimmten Umfange eine Voraussetzung ist, aber nur eine im Rahmen eines gesamten Konzepts, das von zwei Seiten her als geeignet erklärt werden muß, nämlich von Euratom und der IAEO.
Herr Staatssekretär, damit ist Ihr Geschäftsbereich schon beendet. Wir bedanken uns.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Uns steht hier der Parlamentarische Staatssekretär Carstens zur Verfügung.
Zunächst einmal rufe ich die Frage 15 des Abgeordneten Dr. Daniels auf:
Welche Begründung gibt es im einzelnen, den Truppenübungsplatz Hohenfels aufrechtzuerhalten, und aus welchen Gründen hatten die US-Streitkräfte ursprünglich vor, den Imppenübungsplatz aufzugeben?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Dr. Daniels, der Truppenübungsplatz Hohenfels ist den amerikanischen Streitkräften auf der Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen für Verteidigungszwecke überlassen. Diese völkerrechtlichen Vereinbarungen geben den amerikanischen Streitkräften einerseits das Recht, den Platz als Truppenübungsplatz zu nutzen, und verpflichten andererseits die Bundesrepublik, den Streitkräften diese Benutzung für die Dauer des militärischen Bedarfs zu gewährleisten.
Die amerikanischen Streitkräfte haben bisher gegenüber der Bundesregierung nicht zu erkennen gegeben, daß ihr Bedarf an dieser Liegenschaft entfallen würde.
Zusatzfrage, Dr. Daniels, bitte sehr.
Nach dem Brief, den der Verteidigungsminister an den Abgeordneten Fellner geschrieben hat, ist der weitere Auf enthalt der amerikanischen Streitkräfte auf Hohenfels darauf zurückzuführen, daß die Bundesregierung weitere finanzielle Mittel für den Ausbau dieses Truppenübungsplatzes zur Verfügung gestellt hat. In welcher Größenordnung liegen denn diese Mittel?
Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen hier im Moment nichts über Mittel bestätigen, da mir dieser Zusammenhang nicht geläufig ist. Ich weiß aber — das möchte ich in Erinnerung zurückrufen — , daß die Amerikaner — aus welchen Gründen auch immer; sie sind mir im Moment nicht bekannt — eben nicht zu erkennen gegeben haben, daß ihr Bedarf an dieser Liegenschaft entfällt. Aber ich will gerne Ihrer Anregung nachgehen und, falls sich dieser Zusammenhang ergeben sollte, schriftlich antworten.
Weitere Zusatzfrage.
Wäre es dann möglich, daß Sie diesen Brief, der an den Abgeordneten Fellner geschickt wurde und in dem diese Dinge bestätigt wurden, auch mir als Abgeordnetem aus der Region zugänglich machen?
Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nichts von einem Brief an den Abgeordneten Fellner, aber ich gehe der Sache nach. Falls es ihn gibt, sehe ich keine Bedenken, daß Ihnen eine Kopie dieses Briefes zur Verfügung gestellt wird. Ich würde mich gegebenenfalls vorher mit dem Kollegen Fellner in Verbindung setzen.
Die Abgeordnete Frau Beer hat um eine Zusatzfrage gebeten.
Herr Staatssekretär, ich muß jetzt leider Flexibilität unterstellen und kann nicht voraussetzen, daß neue Fakten vor einer Woche schon bekannt waren: Ist die Bundesregierung angesichts der Tatsache, daß heute der belgische Verteidigungsminister mit dem Gedanken spielt, 25 000 belgische Soldaten, die hier stationiert sind, abzuziehen, und vor allen Dingen angesichts der Entwicklungen in Osteuropa bereit, vielleicht selber die Initiative zu ergreifen und der US-Regierung bzw. dem zuständigen Ministerium in den USA vorzuschlagen, auf diesen Truppenübungsplatz zu verzichten?
Carstens, Parl. Staatssekretär: Wir werden sicherlich unsere Planungen jeweils den konkreten Gegebenheiten anzupassen haben. Aber hier geht es ganz konkret darum, daß die Amerikaner ihrerseits nicht zu erkennen gegeben haben, daß der Bedarf entfallen könnte. Von daher stellt sich für uns aus heutiger Sicht die Frage nicht konkret.
Ich stelle fest, daß die Frage 16 des Abgeordneten Dr. Lippelt auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet wird. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14695
Vizepräsident CronenbergWir kommen zur Beantwortung der Frage 17 der Abgeordneten Frau Beer:Ist die Bundesregierung bereit, die in der Fragestunde vom 13. Dezember 1989 von mir angesprochenen Vermerke und Reiseberichte vom Juli 1987 aus dem Bundesministerium der Finanzen zu dem U-Boot-Geschäft der Staatsanwaltschaft Kiel zur Verfügung zu stellen, wenn diese sie anfordern sollte?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.Carstens, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Beer, auf Ihre mündliche Anfrage in der Fragestunde vom 13. Dezember 1989 habe ich Ihnen bereits geantwortet, daß Unterlagen der von Ihnen angesprochenen Art zu dem grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Bundesregierung gehören, und habe dann darauf hingewiesen, daß das ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts — Band 67, Seite 139 — betrifft, wonach die Zurückhaltung solcher Unterlagen durch den Gewaltenteilungsgrundsatz geschützt ist.Die Staatsanwaltschaft Kiel ist bisher nicht mit der Bitte an die Bundesregierung herangetreten, entsprechende Unterlagen vorzulegen. Falls die Staatsanwaltschaft ein solches Ersuchen stellen sollte, wird die Bundesregierung darüber entscheiden.
Eine Zusatzfrage? — Bitte schön.
Ist die Bundesregierung, wenn sie die Vermerke und Reiseberichte, die hier in Rede stehen, der Staatsanwaltschaft bisher nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat, der Meinung, daß die dort niedergelegten Erkenntnisse für die Staatsanwaltschaft ohne Bedeutung sind, und erhält die Bundesregierung diese Meinung auch dann aufrecht, wenn ich sie frage, ob ihrer Ansicht nach die Tatsache, daß in den Vermerken z. B. aufgeführt wird, daß bei HDW ein Tarnkonto auf den Namen eines Schiffskapitäns geführt wird, dessen Zweck darin besteht, die geheime Tätigkeit des Ingenieurs Rademann für den Bau von U-Booten für Südafrika zu verschleiern und zu finanzieren, ohne Relevanz für die Staatsanwaltschaft ist?
Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich kann jetzt aus dem Zusammenhang heraus nicht bestätigen oder dementieren, was in Vermerken unseres Hauses steht. Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß derartige Unterlagen zu den eben erwähnten Unterlagen gehören würden, die das Bundesverfassungsgericht entsprechend beschrieben hat, und daß die Staatsanwaltschaft Kiel bislang nicht mit dem Ersuchen an uns herangetreten ist, derartige Unterlagen zu bekommen. Falls ein solches Ersuchen käme, müßten wir es prüfen.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte sehr.
: Ist die Bundesregierung der Meinung, daß auch die Tatsache ohne Belang für die Staatsanwaltschaft ist, daß die Zahlungsaufstellungen der Firma HDW über die Lieferungen von U-BootPlänen nachträglich und eigens für die OFD erstellt wurden und daß bei dem Pariser Treffen vom Januar 1986 zwischen HDW, IKL und Südafrika eine geheime
Fortführung des U-Boot-Geschäfts mit Südafrika vereinbart wurde?
Carstens, Parl. Staatssekretär: In Ihrer vorherigen und in Ihrer jetzigen Frage nehmen Sie Unterstellungen vor und behaupten etwas. Ich kann das nicht bestätigen und insoweit auf Ihre Fragestellung nicht weiter eingehen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Hat die Bundesregierung eine Rechtfertigung dafür, daß das Bundesfinanzministerium als aufsichtsführende Behörde für die Oberfinanzdirektion Kiel, die ein Ermittlungsverfahren gegen HDW wegen des Verdachts der illegalen Lieferung von U-Boot-Plänen nach Südafrika durchführte, der Oberfinanzdirektion Kiel nicht sämtliche Erkenntnisse zur Verfügung gestellt hat, um dieses Verfahren durchführen zu können, und liegt die Erklärung für dieses sonderbare Verhalten der Bundesregierung möglicherweise darin, daß sich die Spitze des Bundesfinanzministeriums in dem Interessenkonflikt befand, sozusagen Ermittler und gleichzeitig Mittäter in der Affäre zu sein?
Carstens, Parl. Staatssekretär: Erstens gibt es kein sonderbares Verhalten der Bundesregierung, und zweitens kann von Mittäterschaft schon überhaupt keine Rede sein. Ich möchte das strengstens zurückweisen und darauf verweisen, daß es zu dieser Frage ja einen Untersuchungsausschuß gibt,
in dem viele Fragen gestellt wurden und viele Antworten gegeben und parlamentarisch überprüft worden sind. In meiner Antwort in der Fragestunde am 13. Dezember habe ich schon einmal darauf hingewiesen, daß es sich bei derartigen Papieren nicht um irgendwelche Fakten handelt, sondern um Vermerke, die Mitarbeiter des Hauses erstellen.
Das hat nichts mit Geheimnistuerei oder sonstigen Dingen zu tun. Falls konkrete Fragen gestellt werden, ob hier oder im Untersuchungsausschuß, werden sie auch konkret beantwortet.
Da mir die Unterlagen über die Debatte vom 13. Dezember nicht zur Verfügung standen, war es für mich etwas schwierig, zu erkennen, ob die Frage des Abgeordneten Gansel einen direkten Bezug zur Ausgangsfrage hatte.
Carstens, Parl. Staatssekretär: Der war nicht gegeben, aber ich habe gerne geantwortet.
Ich weiß also nicht, ob das mit den Vermerken und Reiseberichten zusammenhing.Die Abgeordneten Müller und Reschke haben darum gebeten, daß die Fragen 18, 19 und 20 schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
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14696 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Vizepräsident CronenbergHerr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wimmer zur Verfügung.Ich rufe Frage 21 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski auf:Ausgehend von der Annahme, daß die Friedenssumme der Streitkräfte 1995 = 420 000 aktive Soldaten betragen soll — die ständig übenden 10 000 Reservisten und die 40 000 Soldaten der Verfügungsbereitschaft außer acht lassend — , frage ich die Bundesregierung, nach welchen Kriterien sie die Zahl 420 000 Soldaten Friedensstärke — bei einer 15monatigen Wehrdienstzeit — berechnet hat?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dr. Klejdzinski, die Bundeswehrplanung sieht ab 1996 einen aktiven Friedensumfang von 420 000 Soldaten vor. Diese Planung beruht wesentlich auf der Entscheidung des Gesetzgebers, die gesetzlich vorgesehene Verlängerung des Grundwehrdienstes auf 18 Monate bis 1992 auszusetzen.
Bei einem erwarteten erfolgreichen Abschluß der KSZE-Verhandlungen kann die Verlängerung aufgehoben und die Grundwehrdienstdauer von 15 Monaten über 1992 hinaus beibehalten werden.
Wenn eine solche Vereinbarung vorliegt, wird ferner geprüft und entschieden, in welchem Umfang begrenzte Korrekturen des Personalumfangs bis zu einer Größenordnung von 400 000 aktiven Soldaten möglich und vertretbar sind.
In Verbindung mit der längerfristigen Entwicklung der West-Ost-Beziehungen und den Ergebnissen der angestrebten Folgeverhandlungen nach VKSE I ist zu entscheiden, ob eine weitergehende Verringerung des Friedensumfangs der Bundeswehr erfolgen kann.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich habe nach den Kriterien gefragt, und Sie haben mir gesagt, eines der Kriterien, die Sie meinen oder mir als Kriterium anbieten, ist, daß es per Gesetz beschlossen ist. Ich frage aber, welche Kriterien Sie inhaltlich vorausgesetzt haben. Dann wäre also zu nennen, daß Sie weiterhin davon ausgehen, daß Sie den Anteil der Berufssoldaten erhöhen können, daß Sie weiterhin davon ausgehen, daß die sogenannten Attraktivitätsprogramme funktionieren, daß Sie weiterhin davon ausgehen, daß Sie in Konkurrenz zur Wirtschaft im Grunde genommen den Anteil der Berufs- und Zeitsoldaten erheblich verbessern können.
Meine Frage lautet also insofern: Gehen Sie weiter davon aus, daß dieses Kriterium nach dem jetzigen Stand der Erkenntnisse auch weiterhin gilt?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Zu den von Ihnen angesprochenen Überlegungen zum sogenannten Kernbestand der Streitkräfte, was die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten und der Wehrdienstleistenden betrifft und was die Maßnahmen betrifft, die ergriffen worden sind, um sicherzustellen, daß wir diesen Stand
halten können, hat der Bundesminister der Verteidigung dem Verteidigungsausschuß und dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages umfassende Erklärungen im Zusammenhang mit der Bundeswehrplanung abgegeben. An dem Inhalt der dort abgegebenen Erklärungen, die Ihnen bekannt sind, Herr Kollege Dr. Klejdzinski, hat sich nichts geändert.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski?
Nein.
Frau Abgeordnete Beer, Sie hatten um eine Zusatzfrage gebeten.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich eben auf die Wiener Verhandlungen bezogen. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Wiener Verhandlungen, die ja bereits unter Wien I und II laufen, angesichts der politischen Entwicklungen heute und der bereits vorgenommenen Truppenreduzierungen seitens des Warschauer Paktes, d. h. des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Ungarn und der CSSR, hinterherhinken und daß die Bundesregierung durch eine Senkung der Friedenspräsenzstärke den Wiener Verhandlungen einiges an Schwung geben könnte, und könnten Sie bitte zu Ihren ersten Ausführungen den zeitlichen Rahmen hinzufügen — das war eben sehr undeutlich — und sagen, über welchen Zeitrahmen Sie jeweils sprechen?Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich habe eben, um mit der zweiten Frage zu beginnen, Herr Präsident, deutlich gemacht, daß wir nach einem Abschluß von Wien I — um diesen geht es — , wenn er sich so darstellt, wie wir das heute absehen können, umgehend das Gesetzgebungsverfahren einleiten werden, das dann die Reduzierung der Wehrdienstdauer von 18 Monaten auf 15 Monate zum Inhalt hat.Zum ersten Punkt. Wir haben, was die Verhandlungsfolge in Wien betrifft — die erfolgreiche Politik wäre nicht ohne die Bemühungen der Bundesregierung und der westlichen Allianz zustande gekommen — , begründete Aussicht, daß wir in diesem Jahr zu einem Vertragsabschluß kommen.Die NATO und der Warschauer Pakt gehen koordiniert und konzentriert dieses Verhandlungsergebnis an. Auch darauf beruht unsere Annahme von einem erfolgreichen Abschluß. Wir haben ein zentrales Interesse daran, es zu einem überprüfbaren Prozeß in Europa kommen zu lassen. Das heißt Abkehr von Willkür jeglicher Art. Deswegen legen wir größten Wert darauf, daß die Prozesse, wie sie in Wien in Form von Verhandlungsergebnissen festgelegt werden, überprüfbar und auf Dauer angelegt sind. Überprüfbare und auf Dauer angelegte Prozesse bekomme ich aber nur dann, wenn es sich auch um Verträge handelt, die von beiden Seiten mit der Wirkung von verbindlichen Erklärungen auf lange Zeit angelegt sind. Deswegen haben wir ein Interesse daran, daß wir den Prozeß von Wien so steuern können, daß es nicht nur zu einem guten Ergebnis in diesem Sommer kommt, sondern daß wir über Wien I hinaus auch einen Prozeß im
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14697
Parl. Staatssekretär WimmerZusammenhang mit Wien II initiieren können, der, wenn Wien I erfolgreich ist, weitere Reduzierungsmaßnahmen ohne Einbußen an Sicherheit in Europa möglich macht.Das heißt, die Bundesregierung und die Allianz haben eine Politik im Zusammenhang mit Wien I betrieben, die den Erfolg von Wien I sicherstellen soll und gleichzeitig den Baustein dafür geben soll, daß wir Wien II anstreben können. Das ist die erklärte Politik der Bundesregierung.Ich darf in diesem Zusammenhang vielleicht darauf aufmerksam machen, Frau Kollegin, daß wir uns von einem erfolgreichen Abschluß von Wien I versprechen, daß wir zu politischen Prozessen in Europa kommen, die sich diametral von denen unterscheiden, die in der Vergangenheit leider festzustellen waren.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, Sie stellen das alles so kompliziert dar, daß ich das noch nicht richtig verstanden habe. Die einfache Frage ist doch die, ob denn sichergestellt wird und auch ein Verhandlungsziel ist, daß eine Senkung der konventionellen Stärke im Rahmen dieser KSZE-Abrüstungsverhandlungen in Wien sich nicht nur auf die Präsenz alliierter Truppen in der Bundesrepublik, sondern auch auf die Präsenzpflicht der Bundeswehr auswirkt. Das ist doch die ganz einfache Frage. Würden Sie die beantworten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Diese Frage, verehrter Herr Kollege Dr. Hirsch, hat die Bundesregierung schon seit Jahren präzise beantwortet.
Können Sie mir das hier einfach noch einmal sagen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Aber selbstverständlich. Ich erfülle also gern hier einen auf Ihrer Seite objektiv vorliegenden Erklärungsbedarf.
Wir haben in den zurückliegenden Jahren immer wieder deutlich gemacht, daß wir im Bereich der westlichen Allianz einen Vorschlag unterbreiten konnten, der, was die Stärke in bestimmten Waffenkategorien betrifft, rund 10 % unter den NATO-Kategorien liegt. Das heißt, wir reduzieren im Bereich der Artillerie, wir reduzieren im Bereich der Panzer, und wir reduzieren im Bereich der Flugzeuge und der Hubschrauber. Das sind die allgemeinen und seit Jahren verbindlich erklärten Kriterien der westlichen Allianz. Das bedeutet natürlich auch, daß wir, wenn wir Hauptwaffensysteme reduzieren, inzidenter zu einer Reduzierung von Umfangszahlen kommen, allerdings zunächst in einem relativ begrenzten Umfang, weil unser Hauptaugenmerk natürlich zunächst der Reduzierung der Waffensysteme gilt. In diesem Zusammenhang mache ich darauf aufmerksam, was das für uns bedeutet. Wir beseitigen auf diese Art und Weise die bestehenden Disparitäten zugunsten des Warschauer Pakts. Es gibt — um eine Kategorie zu nennen — rund 54 000 sowjetische Kampfpanzer und rund 24 000 westliche Kampfpanzer in diesem Überprüfungsgebiet. Wenn
wir zu einem Erfolg bei Wien I kommen, bedeutet das, daß beide eine Obergrenze von 20 000 Kampfpanzern — bei den anderen Zahlen ist es ähnlich — einhalten werden. Das bedeutet auch eine Reduzierung von Truppenstärken, allerdings in einem begrenzten Umfang. Was Wien I sicherstellen soll, ist, daß wir in einem weiteren Schritt auch die zentrale Möglichkeit bekommen werden, Truppenstärken umfassender in die Abrüstung einzubeziehen, als es derzeit bei diesem ersten Schritt möglich war.
— Ich glaube, es war sehr präzise die Antwort auf Ihre Frage.
Ich möchte doch den Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch bitten, von weiteren Bewertungen hier Abstand zu nehmen.
Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski auf:
Bezogen auf das Wehrpflichtaufkommen 1995 — und später — nach Abbau der Bugwelle nicht eingezogener Wehrpflichtiger, frage ich die Bundesregierung, um wieviel Soldaten muß die Friedensstärke gesenkt werden, wenn die Wehrpflichtzeit zwölf Monate oder neun Monate beträgt?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Klejdzinski, die Bundeswehrplanung vollzieht sich gemäß dem Kabinettsbeschluß vom 6. Dezember 1989, den der Deutsche Bundestag zustimmend zur Kenntnis genommen hat. Dieser Kabinettsbeschluß enthält auch eine klare Festlegung zur künftigen Dauer des Grundwehrdienstes. Es liegen keine Untersuchungsergebnisse darüber vor, wie sich etwaige Verkürzungen des Grundwehrdienstes auf den Friedensumfang der Streitkräfte insgesamt auswirken würden.
Zusatzfrage.
Herr Präsident, manchmal ist es schwierig, in der Fragestunde nach etwas zu fragen, was die Bundesregierung sonst irgendwo verkündet. Wenn Sie also behaupten, daß gegenwärtig nichts vorliegt, darf ich Sie denn fragen: Können Sie sich daran erinnern, daß es eine Langzeitplanung der Bundeswehr gibt? Können Sie sich daran erinnern, daß bestimmte Computerprogramme vorliegen, die beispielsweise besagen: Bei einem Wehrpflichtigenaufkommen in bestimmter Höhe müssen wir soundso viele Wehrpflichtige einziehen; und wenn wir nicht zusätzliche Wehrpflichtige einziehen können, dann kann der Friedensumfang der Bundeswehr in diesem Punkt nur soundso hoch sein? Wenn ich das erklärenderweise dem Staatssekretär vorhalten kann — —
Ich mache den Abgeordneten Klejdzinski darauf aufmerksam, daß er jetzt hier keine Kurzintervention vornehmen soll, sondern daß wir uns in der Fragestunde befinden. Ich bitte, also entsprechend zu formulieren.
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14698 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Ich will ihn jetzt wirklich fragen, Herr Präsident. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich das nicht so richtig formuliere.
Ich darf Sie also fragen: Ist es richtig, daß eine Begründung für die Verlängerung der Wehrdienstzeit auf 18 Monate war, daß das Wehrpflichtigenaufkommen nicht gegeben ist? Kann ich daraus nicht rückschließend folgern, daß eine ähnliche Berechnung für den Fall angestellt worden ist, daß wir die Wehrdienstzeit auf 9 und 12 Monate senken? Wie viele Wehrpflichtige müßten wir dann mindestens haben, und wie wäre die Differenz zu dem tatsächlichen Aufkommen an Wehrpflichtigen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Klejdzinski, Sie fragen danach, wie Leitungsentscheidungen des Bundesministeriums der Verteidigung gegebenenfalls gestaltet sein können. Ich kann in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, daß wir keine Leitungsentscheidung vorliegen haben, die mit konkreten Zahlen auf diesem Gebiet arbeitet.
Ich kann in diesem Zusammenhang Ihre Überlegungen natürlich gern aufgreifen, Herr Kollege Dr. Klejdzinski. Aus unseren gemeinsamen Beratungen wissen Sie genau so gut wie ich — das weiß jeder, der sich an diesen Beratungen beteiligt hat — , daß wir die Verlängerung der Grundwehrdienstdauer nicht nur in bestimmter Weise begründet, sondern darauf aufmerksam gemacht haben, daß man pro 10 000 Wehrpflichtige — wenn ich das einmal so sagen darf — einen Monat mehr an Grundwehrdienstdauer pro Jahr benötigt. Dieses allgemein vorhandene Wissen können Sie jederzeit auch in die Überlegungen darüber einführen, was es bedeutet, wenn man Wehrdienstdauer reduziert.
Eine weitere Zusatzfrage.
Darf ich Sie, Herr Staatssekretär, fragen: Wie viele Wehrpflichtige würde ich dafür brauchen, um eine Wehrdienstzeit von 9 Monaten zu garantieren?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich bin gern bereit, Ihnen aus dem umfangreichen Material, das wir zur Verfügung haben, auch die präzise Antwort nachzuliefern, ohne daß wir jetzt hier in eine Zahlendiskussion — vielleicht in beiderseitigem Interesse — einsteigen. Diese Information gebe ich Ihnen gerne.
Der Abgeordnete Dr. Hirsch bittet um eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer ersten Antwort gesagt, daß Sie keine exakten Unterlagen darüber vorliegen haben, welche Folgen eintreten, wenn der Gesetzgeber die Wehrdienstpflicht auf 12 Monate verkürzt. Wann können Sie dem Verteidigungsausschuß darüber berichten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, ich lege größten Wert darauf, daß ich präzise zitiert werde, selbst wenn es in der Fragestunde ist. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß wir
keine Leitungsvorlage vorliegen haben, die derartiges zum Inhalt hat.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Kübler.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, darf ich aus Ihrer letzten Antwort, die Sie Herrn Kollegen Klejdzinski gegeben haben, entnehmen, daß Sie vor Ihren Führungsentscheidungen keine Alternativberechnungen und Alternativplanungen vornehmen, um aus diesen Alternativen heraus die richtige Führungsentscheidung zu treffen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, das Bundesministerium der Verteidigung zeichnet sich wie jedes Ministerium in Bonn dadurch aus, daß umfassend Grundlagen für Entscheidungen herangezogen werden.
Herr Dr. Kübler, Sie können gleich stehenbleiben, denn nun rufe ich Ihre Frage 23 auf:
Wie ist die genaue Rechtsbegründung der Bundesregierung für die Ableitung der Geheimhaltung von Militärtransporten der Bundeswehr mit gefährlichen Stoffen auf den Straßen, den Schienen und zu Wasser aus dem verfassungsrechtlichen Verteidigungsauftrag ihrer Streitkräfte gemäß Artikel 87 a Abs. 2 Grundgesetz ?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Der verfassungsrechtliche Verteidigungsauftrag des Art. 87 a des Grundgesetzes verpflichtet die Streitkräfte zum militärischen Schutz der Bundesrepublik Deutschland. Die Streitkräfte erfüllen diesen Auftrag nach pflichtgemäßem Organisationsermessen. Sie handeln im Rahmen des ihnen verfassungsrechtlich zugestandenen Ermessens, wenn sie sicherheitsempfindliche Vorgänge deshalb geheimhalten. Diesen Schutz verdienen auch Militärtransporte mit gefährlichen Stoff en.
Vor allem der Schutz und die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland lagernden chemischen und nuklearen Waffen sind besonders bedeutsam. Die Bundesregierung ist daher verpflichtet, bei einem Transport dieser Waffen alle Vorkehrungen zu treffen, um die Sicherheit der Bevölkerung und den Schutz der Umwelt zu gewährleisten. Sie handelte dieser Verpflichtung zuwider, wenn sie Einzelheiten zu derartigen Transporten bekanntgäbe. Damit ermöglichte sie auch rechtswidrige Störungen und Angriffe und damit Risiken für Bevölkerung und Umwelt.
Eine Zusatzfrage, bitte schön, Herr Dr. Kübler.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, trifft es zu, daß auch die zuständigen deutschen Katastrophenschutzbehörden, deutsche Bahnhöfe, Schiffahrtsbehörden, Autobahnbehörden, deutsche Polizei nicht über gefährliche Militärtransporte informiert werden, und ist zumindest gewährleistet, daß hinter den amerikanischen Transportern dann das amerikanische Rote Kreuz, amerikanische Polizei,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14699
Dr. Kübleramerikanische Katastrophenschutzfahrzeuge und andere Einrichtungen in einer Kolonne herfahren, und ist gewährleistet, daß beispielsweise auf Bahnhöfen — ich male das bewußt einmal so aus — und ebenso in den möglichen Verschiffungshäfen amerikanische Militärpolizei präsent ist?Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, sehen wir uns das vor uns liegende Verfahren in Zusammenhang mit dem Abtransport der chemischen Waffen an, die in der Bundesrepublik Deutschland gelagert sind. Wir haben im Rahmen der Präzisierung des Ablaufes zu jedem Zeitpunkt sichergestellt, daß die Informationen, die notwendigerweise die deutschen zivilen Einrichtungen erreichen mußten — d. h. in der Kooperation mit den Bundesländern und mit deren Einrichtungen —, jedesmal zu dem Zeitpunkt gegeben worden sind, wo sie auch uns in der Summe der Erkenntnisse zur Verfügung standen und wir die Kooperation sicherstellen mußten. Wir werden auch im weiteren Verlauf der Entwicklung das, was vor einem halben Jahr vielleicht noch als ein hohes Maß an Geheimhaltung erschien, gegenüber diesen Einrichtungen und gegebenenfalls auch anderen in dem Maße auflockern können, wie sich eine Planung konkretisiert.Was den Ablauf dieser Planung anbetrifft, werden wir zu jedem Zeitpunkt mit den Bundesländern, die betroffen sind, den anderen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland bzw. auch den Ländereinrichtungen in der Art und Weise kooperieren, daß jeder zu dem Zeitpunkt etwas weiß, wo es für die Beurteilung der Sachlage durch ihn selber erforderlich ist. Auf diesem Gebiet haben wir eine gute und eingefahrene Verwaltungspraxis und Kooperation in der Bundesrepublik Deutschland, die nicht erst unter dieser Bundesregierung gut und eigentlich sehr zufriedenstellend exekutiert worden ist.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die örtlichen Abgeordneten — Sie können sich das vorstellen — werden als mehr oder weniger völlig machtlose Volksvertreter — ich möchte beinahe sagen, in diesem Punkt zu Recht — angesehen, wenn sie ihren eigenen Leuten keine klare Auskunft geben können. Sind Sie der Auffassung, daß diese machtlose Haltung und damit auch jede fehlende Kontrolle gegenüber der Regierung überhaupt noch aufrechterhalten werden kann?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, ich will hier aus meiner Position keine Aussage darüber machen, wie parlamentarische Abläufe möglich sind. Aber ich weise darauf hin, daß wir dem Bundestagsausschuß der Verteidigung bereits zweimal angeboten haben, Informationen über die Umstände und die in der Bundesrepublik Deutschland gelagerten chemischen Waffen zu geben. Wir haben dieses Angebot natürlich ständig aufrechterhalten, und es besteht auch heute.
Wenn der zuständige Fachausschuß dieses Angebot des Bundesministeriums der Verteidigung aufgreift, könnten wir durchaus gemeinsam überlegen, wie wir jene Kollegen einbeziehen können, die lokal und regional vielleicht besonders betroffen sind. Ich glaube, daß wir diese Frage dann sehr kooperativ beantworten können, wenn der zuständige Fachausschuß des Deutschen Bundestages von unserem Angebot Gebrauch macht.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Beer.
Herr Staatssekretär Wimmer, Sie haben eben Ausführungen zu dem Fachausschuß des Deutschen Bundestages gemacht, dem ich angehöre. Zahlreiche Debatten dort und immer wieder auftretende Fragen zum Abtransport der chemischen Waffen haben meines Erachtens deutlich gemacht, daß die Unterrichtung nicht ausreichend ist. Ich brauche hier den Vorwurf der Desinformationskampagne der Bundesregierung sicher nicht zu wiederholen.
Ich möchte zu Ihren Ausführungen zu dem Szenarium etwas fragen, das Sie zur Information und angeblichen Sicherheit der Bevölkerung vorgeben. Bisher ist einzig die Tatsache bekannt, daß für Sommer dieses Jahres bereits eine polizeiliche Ausgangssperre vorgesehen ist, weil zu dem Zeitpunkt der Abtransport der C-Waffen erfolgen soll. Das trägt zu einer Verunsicherung der dort lebenden Bevölkerung bei, die bisher genauso wie die dortige Landesregierung weder von der Bundesregierung noch von der Hardthöhe oder den alliierten Streitkräften Informationen bekommen hat, auf welchem Weg unter welchen Sicherheitsmaßnahmen, von denen die Bevölkerung natürlich betroffen ist, der Abtransport vonstatten gehen soll. Wie vereinbaren Sie das?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir sind nicht in der Lage — nach der Ordnung dieses Landes geht das auch nicht anders — , Entscheidungen der jeweiligen Landesregierung im Zusammenhang mit den dort nachgeordneten Behörden zu kommentieren, auch wenn es die Polizei betrifft. Ich muß entschieden die Überlegung zurückweisen, daß wir die betroffenen Landesregierungen nicht unterrichtet hätten. Genau das Gegenteil haben wir getan. Aber es stellt sich in diesem Lande natürlich jedem die Frage nach der politischen Verantwortung. Die stellt sich auch — wenn ich mir diese Anmerkung erlauben darf — im Rahmen der Partei, der Sie angehören.
Ich rufe nunmehr die Frage 24 des Abgeordneten Dr. Kübler auf:Wie lautet der genaue Inhalt der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den stationierten verbündeten Streitkräften geschlossenen völkerrechtlichen Abkommen , die zur Geheimhaltung von Militärtransporten der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten verbündeten Streitkräfte mit gefährlichen Stoffen auf den Straßen, den Schienen und zu Wasser berechtigen, und beabsichtigt die Bundesregierung, angesichts der demokratischen Entwicklung in den Ostblockstaaten und der Rechtslage in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Überprüfung dieser Abkommen mit dem Ziel herbeizuführen, diese Frage genauso zu regeln, wie sie in den Vereinigten Staaten von Amerika geregelt ist?
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14700 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten verbündeten Streitkräfte sind im gleichen Umfang wie die Bundeswehr zum Schutz ihrer militärischen Geheimnisse berechtigt. Diese Überlegung ergibt sich allgemein aus der Unterstützungsverpflichtung der NATO-Vertragspartner hinsichtlich ihrer Verteidigungsfähigkeit gemäß Art. 3 des Nordatlantikvertrags vom 4. April 1949 sowie insbesondere aus Bestimmungen des NATO-Truppenstatuts vom 18. Juni 1951 und des hierzu abgeschlossenen Zusatzabkommens vom 3. August 1959.Gemäß Art. VII Abs. 11 des NATO-Truppenstatuts in Verbindung mit Art. 29 Abs. 2 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, den Schutz der militärischen Geheimnisse der Stationierungsstreitkräfte innerhalb des Bundesgebiets zu gewährleisten. Dieser Verpflichtung ist sie durch Art. 7 bis 9 des vierten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 11. Juni 1957 nachgekommen. Für eine Änderung dieser Rechtslage besteht kein Anlaß.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß in den USA die Bürger Anspruch darauf haben, zu erfahren — und auch die entsprechende Auskunft bekommen — , wo entsprechende militärische Aktivitäten der US-Streitkräfte in den USA stattfinden, und daß amerikanische Staatsbürger selbst dann Anspruch auf entsprechende Auskünfte hätten, wenn sich Bundeswehreinheiten in den USA entsprechend verhielten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Das, was hier im wesentlichen relevant und zentraler Punkt unserer Überlegungen ist, Herr Kollege Dr. Kübler, ist die Lagerung chemischer und nuklearer Komponenten. Die Bundeswehr hat auf dem Territorium der Vereinigten Staaten nach meinem Wissen derartiges nicht gelagert, so daß es ein sehr theoretischer Fall ist, den Sie angesprochen haben.
Aber im Grundsatz herrscht im NATO-Vertragsgebiet eine einheitliche Rechtslage, d. h. nach den NATO-Statuten sind die Streitkräfte auch anderer Vertragspartner, die auf dem jeweiligen Territorium stationiert sind oder üben, in allen Vertragsgebieten einer ähnlichen, wenn nicht derselben Rechtsordnung unterworfen. Deswegen regelt sich das im NATO-Vertragsgebiet — entgegen dem, was man manchmal in der politischen Diskussion hört — nach einheitlichen Rechtsvorschriften.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zur Frage, wie amerikanische Abgeordnete des Kongresses oder Senatoren in dieser Frage behandelt werden: Trifft es zu, daß auch der betroffene amerikanische Abgeordnete ein Recht auf Auskunft gegenüber der amerikanischen Regierung in diesen Fragen hat?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Wir haben als verbindliche Linie aller Bundesregierungen immer sichergestellt, daß wir keine Auskunft über die Lagerung z. B. nuklearer Waffen geben. Das bezieht sich auch auf die Lagerung chemischer Waffen. Das ist eine verbindliche Linie, die von allen Regierungen beibehalten worden ist. Alles andere, was das Informationsrecht eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages anbetrifft, ist genauso offen, wie wir uns das in Anbetracht unserer verfassungsmäßigen Ordnung auch nur vorstellen können.
Ich bin jetzt nicht in der Lage — und es ist auch nicht meine Aufgabe — , innerstaatliches amerikanisches Recht zu kommentieren, selbst wenn es sich um Informationsmöglichkeiten amerikanischer Abgeordneter handelt. Nur, das ist die verbindliche Linie in der Bundesrepublik Deutschland.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, daß es nicht Ihr Recht und Ihre Pflicht ist, inneramerikanisches Recht zu kommentieren. Darf man Sie aber fragen, ob Sie sich durchaus vorstellen können, daß ein gleichgelagerter Fall in den Vereinigten Staaten, bezogen auf die jeweils gültige Informationspolitik der Regierung gegenüber den Abgeordneten und ausgehend von der Frage des Kollegen Kübler, unterschiedlich behandelt wird, d. h. daß in den Vereinigten Staaten über den gleichen Gegenstand offen informiert wird, während das in der Bundesrepublik geheimgehalten wird?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Diese Verfahrensabläufe sind uns beiden, Herr Kollege Dr. Klejdzinski, hinlänglich bekannt.
Im übrigen, Herr Dr. Klejdzinski, soll Herr Wimmer die Fragen an die Bundesregierung beantworten und dem Hause nicht seine persönlichen Vorstellungen bekanntgeben.
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, könnten Sie uns, auch wenn diese Abläufe hinlänglich bekannt sind, noch einmal sagen, vor wem Sie die Militärtransporte, um die es geht, eigentlich geheimhalten wollen: vor den Staaten des Ostblocks, die zur Zeit ganz andere Sorgen haben, oder vor der eigenen Bevölkerung, die Sie hier gewählt hat?Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hirsch, Ihnen ist vielleicht besser als jedem anderen in diesem Hause bekannt, wie subtil der Schutz der Rechtsordnung und der Güter der Menschen in diesem Lande zu behandeln ist. Das, was Sie erfreulicherweise an die Adresse der Staaten des Warschauer Paktes sagen, wäre nicht zustande gekommen, wenn wir nicht auch unseren Bündnisverpflichtungen und dem besonderen Schutz unserer Rechtsordnung so nachgekommen wären, wie das geschehen ist. Daß Sie das als besonders erfolgreich ansprechen, teile ich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14701
Parl. Staatssekretär WimmerDas wäre ohne unsere Aktivitäten nicht zustande gekommen.
Sie wissen sehr wohl, daß die sicherheitspolitische Situation der zurückliegenden Jahre anders beurteilt werden mußte als das, was wir vielleicht in der Perspektive vor Augen haben. Aber dazu würde es erforderlich sein, Vorschriften in der Rechtsordnung entsprechend zu ändern.
Frau Abgeordnete Vollmer.
Das waren ja nun wieder interessante Ausführungen! Aber da Sie offensichtlich Schwierigkeiten haben, die Fragen zu verstehen, wiederhole ich die Frage von Herrn Hirsch, soweit ich sie verstanden habe. Er hat nämlich gefragt: Wen wollen Sie eigentlich schützen? Die Bevölkerung, oder wollen Sie diese Informationen vor dem Warschauer Pakt geheimhalten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Nicht nur in den zurückliegenden Jahren war es erforderlich, um die eigene Bevölkerung und dieses Land zu schützen, sensitive Informationen vor den Staaten des Warschauer Paktes geheimzuhalten. Das wird sich auf Dauer in wesentlichen Teilen auch nicht ändern.
Frau Beer, bitte schön.
Herr Staatssekretär, auf seiten der Regierungsparteien wurde vor zwei Wochen gesagt, daß die Geheimhaltung notwendig ist — ich komme da auf die Frage des Kollegen Hirsch zu sprechen — , weil man Bedenken hat, daß es terroristische Anschläge geben wird. Darf ich daraus, daß Sie diese Antwort soeben nicht erwähnt haben — vernünftigerweise, möchte ich einmal kommentieren —, schließen, daß Sie diese Rechtfertigung für Politikunfähigkeit der Regierung hier nicht wiederholen wollten und somit als falsch bezeichnen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Eine Antwort auf diese Frage ist aus objektiven Gründen nicht möglich.
Das ist Ihr gutes Recht.
Dann werden wir die Frage 25 des Abgeordneten Dr. Hirsch beantwortet bekommen:
Zu welchem frühestmöglichen Zeitpunkt kann die Bundesregierung nach den betroffenen vertraglichen Vereinbarungen aus dem Projekt Jäger 90 ausscheiden, und ist sie irgendwelche Verpflichtungen eingegangen, die über die sogenannte Entwicklungsphase hinausgehen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Nach den für das Pro-j ekt abgeschlossenen multinationalen Regierungsvereinbarungen ist die Kündigung durch einen Teilnehmerstaat möglich. Die Bedingungen für die jetzt
laufende Entwicklungsphase sind in der Regierungsvereinbarung Nr. 3 in Verbindung mit der allgemeinen Regierungsvereinbarung (MoU Nr. 1) geregelt. Diese Regierungsvereinbarung ist mit der Vorlage des Bundesministers der Finanzen Nr. 40/88 vom 13. April 1988 dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages vorgelegt worden, der sie am 4. Mai 1988 zustimmend zur Kenntnis genommen hat.
Für den Fall eines Ausscheidens sind Konsultationen unter den vier Partnern mit einer Mindestdauer von drei Monaten vor der Kündigung und nach den Konsultationen schriftliche Kündigung mit einer Frist von mindestens drei Monaten vorgesehen. Die Mindestdauer bis zu einem Ausscheiden beträgt somit sechs Monate, gerechnet ab dem Zeitpunkt, zu dem den anderen Teilnehmerstaaten die Absicht der Kündigung mitgeteilt wurde.
Die Bundesregierung ist gemäß den Auflagen des Haushaltsausschusses vom 4. Mai 1988 keine Verpflichtungen eingegangen, die über die Entwicklungsphase hinausgehen.
Zusatzfrage, bitte schön, Dr. Hirsch.
Da ich das von Ihnen dankenswerterweise zitierte Dokument natürlich nicht habe, wollte ich nur zur Sicherheit noch einmal nachfragen, daß also die Bundesregierung jederzeit mit einer Konsultationsfrist von drei Monaten auf weitere drei Monate hin aus dem Projekt Jäger 90 durch Kündigung aussteigen kann.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Das habe ich Ihnen gerade vorgetragen.
Dann der Abgeordnete Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, davon ausgehend, daß wir beide von diesem Dokument ein bißchen kennen: Würden Sie uns bitte darüber aufklären, unabhängig davon, ob wir kündigen, welche finanziellen Verpflichtungen bestehen und was von der Bundesregierung gezahlt werden muß bzw. welche Verpflichtungen anfallen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich sehe mich derzeit außerstande, da es sich um eine komplexe Materie handelt, diese Antwort hier präzise zu geben.
Frau Abgeordnete Vollmer.
Aber aus Ihrer Antwort ist zu entnehmen, daß, wenn die politische Entscheidung fiele, Sie alle Vorbereitungen getroffen haben, daß das sofort gekündigt wird?Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die Überlegung ist die: Wir haben in den vertraglichen Dokumenten die Kriterien festgelegt, nach denen ein Ausstieg möglich ist, und das ist dem Deutschen Bundestag so vorgetragen worden.
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14702 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Frau Abgeordnete Beer, bitte schön.
Herr Staatssekretär, stellt die Bundesregierung, nachdem bekanntlich nicht nur die SPD und die GRÜNEN seit Jahren die Streichung des Jäger 90 fordern, sondern jetzt auch die FDP gleiche Gedanken hegt und, wie ich heute hörte, auch der Herr Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Biehle, durchaus in Erwägung zog, daß es nicht zu diesem Projekt kommt, weil der Regierung die Mehrheit dafür fehlt, die Überlegung an, dem Verteidigungsausschuß, dem von Ihnen angeführten zuständigen Fachgremium des Bundestages, möglichst sofort die Gelegenheit zu geben, dieses Thema zu behandeln, und nicht durch einseitige Maßnahmen des Verteidigungsministers Stoltenberg vorzugreifen und somit die Kontroll- und Entscheidungsfunktion des Parlaments in dieser Sache ein zweites Mal zu Makulatur werden zu lassen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich muß darauf aufmerksam machen, daß jede Tätigkeit des Bundesministeriums der Verteidigung — auch im Zusammenhang mit der Entwicklungsphase — darauf zurückzuführen ist, daß wir einen entsprechenden Parlamentsbeschluß haben. Dieser Beschluß wird nicht zuletzt auch deshalb durchgeführt, und zwar in vollem Umfang, weil sich aus dem Projekt selber und dem Ablauf der Entwicklungsphase überhaupt keine Argumente ergeben, die Entwicklungsphase in diesem Zusammenhang jetzt zu verlassen. Das Programm läuft, soweit wir das wissen, mehr als zufriedenstellend, was die Entwicklung vor allen Dingen der Turbine und andere Managementaufgaben betrifft. Wir hoffen auch, daß wir im Zusammenhang mit der Radarentscheidung und der Radarentwicklung eine ähnlich gute Perspektive haben. Aus dem Programm selber gibt es nach dem, was der Deutsche Bundestag beschlossen hat, und in der Einhaltung seiner Kriterien keinen Anlaß, das Programm zu verlassen.
Im übrigen möchte ich einmal darauf aufmerksam machen, daß der Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage von Herrn Dr. Hirsch nach dem frühestmöglichen Zeitpunkt und den eingegangenen Verpflichtungen nur noch mühselig herstellbar ist. — Herr Abgeordneter Gansel.
Stimmt es, Herr Staatssekretär, daß die Kosten für den Jäger 90 ungefähr so hoch sein werden wie die Kosten für die Herstellung der Währungsunion zwischen beiden deutschen Staaten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann Sie nur darüber unterrichten, daß die von Ihren Parteifreunden in diesem Zusammenhang üblicherweise angegebenen Größenordnungen sowohl für die Entwicklungsphase als auch für eine mögliche Produktionsphase des Jäger 90 völlig aus der Luft gegriffen sind.
Ich rufe Frage 26 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach einer Meldung der Welt vom 16. Januar 1990 „in London" überlegt werde, den deutschen Panzer Leopard nicht zu kaufen, wenn die Bundesregierung aus dem Jäger 90 ausscheidet, und ist die Bundesregierung in dieser Frage erpreßbar?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Nach Kenntnis der Bundesregierung plant Großbritannien die Beschaffung von Kampfpanzern, wobei neben dem Panzer der britischen Firma Vickers und anderen Optionen im Laufe der Marktsichtung auch der Kampfpanzer Leopard 2 als Kandidat betrachtet wird. Der Bundesregierung sind keine Überlegungen der britischen Seite bekannt, die Auswahl des Kampfpanzers mit den deutschen Entscheidungen im EFA-Programm in Verbindung zu bringen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, nachdem das aber in einer ganzen Reihe von Artikeln in der „Welt", die sehr absichtsvoll aufgemacht waren, mit großer Entschiedenheit behauptet worden ist: Hat dann die Bundesregierung nicht vor, solchen die deutsch-britische Freundschaft störenden Behauptungen, wir würden erpreßt, entgegenzutreten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann als Wissensstand der Bundesregierung nur deutlich machen, daß derartige Erkenntnisse uns weder vorliegen noch wir von ähnlichen Überlegungen auch nur Informationen haben.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in einem weiteren Artikel in der „Welt" ist in diesem Zusammenhang auch die Behauptung aufgestellt worden, daß 10 000 Arbeitsplätze gefährdet seien, wenn die Bundesrepublik aus dem Projekt Jäger 90 aussteige. Darf ich fragen, ob denn die Firma Mercedes versucht hat, die Bundesregierung in dieser Weise zu erpressen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich glaube nicht, daß sich die Bundesregierung von wem auch immer erpressen läßt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klejdzinski.
Herr Präsident, ich gehe davon aus, daß meine Frage bezüglich der Radar-Entscheidung, die ich stellen werde, mit dieser Frage insofern etwas zu tun hat, weil ein Zusammenhang unterstellt worden ist. Wenn Sie vorhin gesagt haben, die Entwicklungskosten für den Jäger 90 würden von meinen Parteifreunden zu hoch angesetzt, darf ich Sie dann fragen, ob Sie, wenn Sie das Radar-System Ferranti konkretisieren, mit den 7 Milliarden DM Entwicklungskosten noch auskommen.
Ihre Unterstellung, Herr Abgeordneter Klejdzinski, teile ich nicht.
Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie der Vermutung des Abgeordneten Hirsch entgegengetreten sind, daß die Bundesregierung unter dem Zwang steht, mehr Waffen zu produzieren, damit sie die Freiheit hat, mehr Waffen produzieren zu können?
Herr Staatssekretär.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14703
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß Sie Verständnis haben, Herr Präsident, wenn ich diese Frage nicht beantworte.
Ich gehe auch davon aus, daß der Abgeordnete Gansel nicht unbedingt eine Antwort in dieser Sache haben wollte, sondern mehr eine Feststellung als Unterstellung treffen wollte.
Das kann ich nicht verhindern.
Herr Staatssekretär, wir bedanken uns für Ihre Bemühungen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 27 der Abgeordneten Frau Ganseforth auf:
Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der Frauen, die bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen zum/zur „Arzt/ Ärztin im Praktikum" benachteiligt werden, weil Krankenhäuser bevorzugt junge Männer einstellen, die mit diesem Praktikum ihren Zivildienst ableisten und damit keine Kosten verursachen, weil sie für ihre Tätigkeit keine Vergütung erhalten?
Herr Präsident! Frau Kollegin Ganseforth! Dem Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ist nicht bekannt, daß es Fälle gibt, in denen Krankenhäuser von der Einstellung von Ärztinnen im Praktikum absehen, weil sie über Zivildienstplätze verfügen, auf denen Ärzte im Praktikum eingesetzt werden. Der Deutsche Ärztinnenbund hat auf Anfrage mitgeteilt, daß ihm ebenfalls keine Fälle dieser Art bekannt seien. Zivildienstplätze — hier kommen nur vorübergehend umzuwandelnde Pflegeplätze in Betracht — werden im übrigen generell nach dem Grundsatz der Arbeitsmarktneutralität nur anerkannt, wenn sie nicht an Stelle sonst vorzusehender Stellen geschaffen werden.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Ganseforth, bitte.
Herr Staatssekretär, da mir dieser Fakt, daß Zivildienstleistende von den Krankenhäusern eingestellt werden, um Kosten zu sparen, mit mehreren Beispielen genannt worden ist, möchte ich fragen, ob es tatsächlich möglich wäre, daß ein Krankenhaus damit seinen Aufwand reduziert. Die müssen ja sehen, daß sie möglichst geringe Kosten haben. Es geht um den Arzt im Praktikum, also um den Zivildienst nach dem Studium, nach der Ausbildung.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Wenn Ihnen solche Fälle bekannt sind, wäre ich sehr daran interessiert, daß ich diese Fälle von Ihnen erfahren kann; denn wir können die Anerkennung von Zivildienstplätzen widerrufen, wenn nachgewiesen ist, daß zunächst vorgesehene AiP-Plätze nicht eingerichtet werden, weil das Krankenhaus einen Arzt im Praktikum auf einem Zivildienstplatz beschäftigen möchte. Daß wir dort, wo Arbeitsmarktneutralität besteht, natürlich auch
daran interessiert sind, daß Zivildienstleistende ihre Zeit als Arzt im Praktikum auf einem Pflegeplatz in einem Krankenhaus absolvieren können, das ist eine andere Sache.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Ganseforth.
Habe ich richtig verstanden, daß es theoretisch möglich ist, daß so vorgegangen wird, daß es aber nicht die Absicht der Bundesregierung ist, das so zu handhaben?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Unser Ziel ist, daß keine Pflegeplätze mit dem Ziel der Beschäftigung von Ärzten im Praktikum eingerichtet werden.
Nein, Frau Abgeordnete, ich halte die Frage für beantwortet. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit insbesondere darauf lenken, daß der Herr Staatssekretär Sie gebeten hat, wenn solche Fälle vorliegen, dieselben zu melden, mit der Folge, daß die Genehmigung, Zivildienstleistende dort unterzubringen, entzogen wird. Ich meine, das ist ein genügend deutlicher Hinweis.
— Theoretisch ist es immer möglich, etwas contra le-gem vorzunehmen. Das ist nun einmal bekannt, Frau Abgeordnete.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Dann rufe ich die Frage 28 der Frau Abgeordneten Ganseforth auf:
Was wird die Bundesregierung gegen diese Diskriminierung von Frauen unternehmen?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung kann zwar auf die Entscheidung von Krankenhausträgern über die Einstellung von Ärzten oder Ärztinnen im Praktikum keinen Einfluß nehmen, jedoch kann die Anerkennung von Zivildienstplätzen dann widerrufen werden, wenn ein Verstoß gegen den Grundsatz der Arbeitsmarktneutralität vorliegt. Sollte im Einzelfall ein Verstoß gegen das arbeitsrechtliche Verbot der Benachteiligung von Frauen wegen ihres Geschlechts gegeben sein, wäre die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gegeben.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Ich habe hier die Zahlen aus der Unterrichtung der Bundesregierung über die Tätigkeit als Arzt im Praktikum vorliegen. Das ist teilweise ein sehr dürftiges Zahlenmaterial, weil es sicher sehr schwierig ist, diese Zahlen zu bekommen. Bayern hat danach den größten Frauenanteil bei den Praktikantenplätzen. Insgesamt sind es 1 141 Stellen. Davon sind unter 30 % mit Ärztinnen im Praktikum besetzt. Bei Bremen ist es so ähnlich. Aber das macht in der
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14704 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Frau GanseforthSumme nicht so sehr viel. Was könnte nach Meinung der Bundesregierung die Ursache dieses Ungleichgewichts sein, wenn nicht auch der Punkt Zivildienstplätze dabei eine Rolle spielt?Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Ganseforth, worauf einzelne Zahlen zurückzuführen sind, vermag ich jetzt nicht zu sagen. Aber wenn Sie hier den Bericht anziehen, möche ich in bezug auf die Frage, die Sie mit Recht stellen, nämlich ob es keine geschlechtsspezifische Benachteiligung von Ärztinnen im Praktikum gibt, sagen, daß auf der Seite 19 dieses Berichts dazu Stellung genommen worden ist. Dort heißt es:Die Frage, ob es hinsichtlich des Erfolgs von Vermittlungsbemühungen Unterschiede gibt, je nachdem, ob ein Arzt im Praktikum oder eine Ärztin im Praktikum zu vermitteln ist, ist von der Bundesanstalt für Arbeit verneint worden.Es heißt an einer anderen Stelle, daß auch „die obersten Landesgesundheitsbehörden ... die Frage, ob Frauen besondere Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz als Ärztin im Praktikum zu finden, durchweg verneint bzw. mitgeteilt [haben], daß insoweit keine Erkenntnisse vorlägen". Ein Bundesland ist davon etwas abgewichen. Aber ich denke, daß wir Gelegenheit haben, diesen Bericht im Parlament zu diskutieren. Ich würde aus der Sicht unseres Ministeriums Wert darauf legen, daß wir dann auch die von Ihnen gestellte Frage gemeinsam besprechen.
Weitere Zusatzfragen? — Danke schön.
Dann rufe ich die Frage 29 des Abgeordneten Antretter auf:
Ist die Bundesregierung bereit, angesichts in der DDR fehlender Dauermedikamente , Vorschläge aus der Ärzteschaft und der Standesvertretung aufzugreifen, denen zufolge 50 % der Ärztemuster in die DDR gesandt werden sollen?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Antretter, die Bundesregierung ist grundsätzlich bereit, alle Vorschläge aufzugreifen, die zu einer schnellen Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung in der DDR führen können. Sie hat deshalb auch begrüßt, daß sich pharmazeutische Unternehmen bereit erklärt haben, kostenlos Arzneimittel für Bewohner der DDR zur Verfügung zu stellen, und daß der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie das unterstützt.
Das Deutsche Rote Kreuz ist auf Grund einer Absprache mit der Bundesregierung bereit, die Lieferung solcher Arzneimittel in die DDR durchzuführen. Es hat auch die Lieferung von Arzneimitteln übernommen, die als Teil der zwischen den Gesundheitsbeauftragten der Bundesregierung und der Regierung der DDR vereinbarten Hilfsmaßnahmen aus Bundesmitteln finanziert werden. Grundlage dieser Arzneimittellieferung in die DDR ist eine von einer Expertenkommission der beiden Rotkreuzgesellschaften erstellte Liste über den dringendsten Bedarf in der DDR. Sie enthält in über 100 Positionen sowohl die Bezeichnung der besonders dringlich benötigten Arzneimittel wie auch die erforderliche Menge.
Arzneimittelmuster, die von Ärzten zur Verfügung gestellt würden, wären nach Auffassung des Deutschen Roten Kreuzes und der Bundesärztekammer für eine Einbeziehung in diese Lieferungen wenig geeignet. Denn ihre Abgabe ist durch die 2. Novelle zum Arzneimittelgesetz auf zwei Muster pro Arzt und Jahr begrenzt worden. Die Sammlung und Überprüfung dieser Muster auf Einhaltung der Verfalldauer würde einen erheblichen Aufwand verursachen. Das schließt keineswegs aus, daß im Einzelfall im Rahmen von Krankenhauspartnerschaften oder von Kontakten einzelner Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland mit Kollegen in der DDR auch auf diesem Wege zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung in der DDR beigetragen werden kann.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, davon ausgehend, daß in Ihre Beantwortung meine Frage 30
Sieht sich die Bundesregierung gegebenenfalls in der Lage, im Zusammenwirken mit der Bundesärztekammer diesen Vorschlag schon bald zu realisieren?
einbezogen war, frage ich Sie, ob im Rahmen der Hilfsmaßnahmen, die Sie eben zitiert haben, auch daran gedacht ist, bei der EG und deren die Hilfsmaßnahmen in die anderen sich im Reformprozeß befindlichen Länder koordinierende Abteilung darauf hinzuwirken, daß von seiten der EG ähnlich, wie wir es der DDR gegenüber tun, auch gegenüber den anderen Ländern in Osteuropa verfahren wird, die sich im Reformprozeß befinden.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Antretter, es ist so, daß sich das, was ich Ihnen hier gesagt habe, zunächst auf die Hilfe in die DDR bezieht; dies ist auch der konkrete Gegenstand Ihrer Frage. Aber natürlich ist meine Meinung die, daß man hinsichtlich dessen, was sich hier bei der Hilfe in die DDR als richtig, vernünftig und gut erweist, überlegen muß, ob man dann nicht den gleichen Weg auch geht, wenn die EG in andere Staaten, in andere östliche Nachbarstaaten Hilfe leistet.
Weitere Zusatzfrage.
Können Sie sich vorstellen, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung schon sehr bald — konkret: bis zu welchem Zeitpunkt? — tätig wird?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Ich bin gerne bereit, auch diesen Komplex mit Ihnen noch einmal im einzelnen zu besprechen.
Wir sind ohnehin am Ende der Fragestunde. Aber Ihre Frage 30 war, wie Sie ja selbst gemerkt haben, auch beantwortet. Wenn Sie dazu noch eine Zusatzfrage haben?
— Nicht.Die Fragen 43 und 44 des Abgeordneten Reuter werden vom Fragesteller zurückgezogen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14705
Vizepräsident CronenbergDie restlichen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Dann darf ich die Fragestunde schließen. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen und bedaure, daß Staatssekretär Grüner nicht mehr zur Beantwortung seiner Fragen gekommen ist.Ich habe nun folgendes zu verlesen: Zunächst einmal feiert Herr Kollege Toetemeyer heute seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm von hier aus im Namen des ganzen Hauses sehr herzlich, auch wenn er nicht anwesend ist, wenn ich das richtig sehe.
Meine Damen und Herren, als Nachfolger für den verstorbenen Kollegen Klein hat der Abgeordnete Häuser am 4. Januar 1990 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen und wünsche gute Zusammenarbeit.
Frau Kollegin Würfel legt das Amt als Schriftführerin nieder. Ich danke ihr für die tatkräftige Unterstützung hier im Präsidium. Die Fraktion der FDP schlägt als Nachfolgerin Frau Kollegin Folz-Steinacker vor. Erheben sich hiergegen Widersprüche? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das Haus also damit einverstanden, und Frau Kollegin Folz-Steinacker ist als Schriftführerin gewählt worden.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden, und zwar handelt es sich um die Punkte, die in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt sind:1. Aktuelle Stunde: Situation der Akademie der Wissenschaften in Berlin2. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses — Sammelübersicht 146 zu Petitionen — Drucksache 11/6252 —3. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses — Sammelübersicht 147 zu Petitionen — Drucksache 11/6253 —4. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 40 Titel 681 05 — Einmalige Unterstützung für im Bundesgebiet einschließlich Berlin (West) eintreffende Aus- und Übersiedler — Drucksachen 11/5915, 11/6300 —5. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit dem Titel: „Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR; Voraussetzungen und Möglichkeiten" — Drucksache 11/6301 —6. Aktuelle Stunde: Verhinderung der erneuten Machtübernahme der Roten Khmer in KambodschaDarüber hinaus soll die für Freitag vorgesehene Aktuelle Stunde bereits heute, und zwar als nächster Tagesordnungspunkt, aufgerufen werden.Weiterhin ist vereinbart worden, daß die Tagesordnungspunkte 5 und 8 b abgesetzt werden.Sind Sie, meine Damen und Herren, mit diesen Änderungsvorschlägen einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe dementsprechend nun den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf:Aktuelle StundeVerhinderung der erneuten Machtübernahme der Roten Khmer in KambodschaDiese Aktuelle Stunde ist von der Fraktion DIE GRÜNEN beantragt worden.Ich kann also die Aussprache eröffnen und erteile der Abgeordneten Frau Kelly das Wort.
Liebe Freunde und Freundinnen! Ich bedaure es sehr, daß es heute nicht möglich ist, den von den GRÜNEN und mir eingebrachten Antrag zur Lage in Kambodscha zu diskutieren, daß es statt dessen lediglich möglich ist, dieses bedrückende Thema in einer — verkürzten — Aktuellen Stunde zu behandeln. Die Lage ist bedrückend, weil die Gefahr einer Rückkehr der mörderischen Roten Khmer, deren „Killing Fields" von der Welt nicht vergessen werden dürfen, an die Macht in Kambodscha von Tag zu Tag wächst.Trotz des nun hoffnungsvollen Vorschlags des australischen Außenministers, Kambodscha nach dem Vorbild von Namibia durch die UNO treuhänderisch verwalten zu lassen und gleichzeitig den UNO-Sitz des Landes nicht zu besetzen, bis aus freien Wahlen eine neue Regierung hervorgeht, tun die Roten Khmer nun alles, um in Kambodscha Fuß zu fassen und vollendete Tatsachen zu schaffen.Tausende ihrer Kämpfer sind aus dem benachbarten Thailand nach Kambodscha zurückgekehrt. Erstmals seit fünf Jahren ist auch das Hauptquartier der Roten Khmer wieder nach Kambodscha zurückverlegt worden. Die Kontrolle der Roten Khmer über die Flüchtlingslager im Süden Thailands wurde verschärft. Die Evakuierung kambodschanischer Flüchtlinge aus einem dieser Lager wurde von ihnen verhindert, wie Vertreter der UNO gestern mitteilten. Der Rote-Khmer-Administrator des Lagers Borai hat diese Woche Transportwagen der UNO abgewiesen, mit denen Flüchtlinge ins sichere Lager gebracht werden sollten.Der militärischen Offensive der Roten Khmer ist bereits im Oktober 1989 die Grenzstadt Pailin zum Opfer gefallen. Bei ihrer Einnahme wurden nach Schätzungen internationaler Hilfsgruppen etwa 10 000 Zivilpersonen getötet.Nächstes Angriffsziel der Roten Khmer scheint die bereits umkämpfte zweitgrößte Stadt Kambodschas, Battaambamg, zu sein, deren Eroberung das erklärte Ziel der „Widerstandskoalition" ist. Mit ihrer Einnahme würde ein erneutes Terrorregime der Roten Khmer über Kambodscha in greifbare Nähe rücken.Zur Zeit läuft auch eine Offensive der Roten Khmer gegen die Tempelstadt Angkor.An der militärischen Überlegenheit der Roten Khmer bestehen leider, Herr Schäfer, kaum Zweifel. Nicht nur in der vom Westen unterstützten „Widerstandskoalition" bilden die Roten Khmer das entscheidende militärische Potential, auch den Streitkräften der Hun-Sen-Regierung gegenüber sind sie im Vorteil. Dazu trägt nicht zuletzt der ständige Waf-
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14706 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Frau Kellyfenzufluß über China bei. Leider verweisen die Roten Khmer in jüngster Zeit auch stolz auf Waffen aus bundesdeutscher Produktion, wie z. B. die Panzerabwehrwaffe „Armbrust". Ein Kommandeur der Roten Khmer nennt sie die wichtigste Waffe, die sie jemals erhalten haben — das in einem BBC-Interview, Herr Schäfer.Die Bundesregierung ist an dieser Entwicklung mitschuldig, weil sie jahrelang im Verein mit China und den westlichen Ländern die „Widerstandskoalition" samt Roten Khmer als alleinige legitime Vertretung Kambodschas bei den Vereinten Nationen anerkannt hat. Nicht einmal eine Stimmenthaltung, Herr Schäfer, wie sie von anderen Ländern geübt wurde, kam der Bundesregierung in den Sinn. Nicht einmal eine Stimmenthaltung! Genau das macht die Bundesregierung mitschuldig an der Mitwirkung der RotenKhmer-Mörder — vergleichbar mit anderen Verbrechern wie Hitler und Stalin — an der offiziellen Vertretung Kambodschas.Die Regierungen der Bundesrepublik und der anderen westlichen Länder übergehen taktisch und opportunistisch denkend das unendliche Leiden der Kambodschaner. Sie verschanzen sich hinter dem Vietnam-Trauma der USA und haben die ununterbrochene Aufrüstung der Roten Khmer durch China stillschweigend gebilligt. Nicht einmal nach dem Abzug der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha hat die Bundesregierung ihre Haltung geändert.Auch die UNICEF-Hilfsprogramme für Frauen und Kinder in Kambodscha wurden von der Bundesrepublik bislang mit keinem einzigen Pfennig unterstützt. Statt dessen flossen Millionenbeiträge in die Flüchtlingslager an der thailändischen Grenze, obwohl die meisten von ihnen den Roten Khmer als Nachschubbasis dienen, weshalb selbst die Organisation „Brot für die Welt" davon abgeraten hat, die Nahrungsmittelhilfe für diese Lager fortzusetzen, solange es zu ihnen keinen Zugang von außen gibt.Die bizarren Folgen dieser Politik möchte ich an einem Beispiel wiedergeben. Herr Loda, Leiter des UNICEF-Programms, beschreibt eine UNICEF-Konferenz, die sich im Frühjahr in Bangkok mit dem Schulwesen in der Dritten Welt befassen soll. Dort wird dann als Vertreterin Kambodschas Frau Ponnary auftreten. Das ist die Frau Pol Pots, die als ehemalige Erziehungsministerin die Verantwortung dafür hatte, daß von 20 000 Lehrern 1979 nur noch 5 000 am Leben waren.Die Bundesrepublik muß deshalb wenigstens jetzt mit Nachdruck den Vorschlag der australischen Regierung unterstützen, den UNO-Sitz Kambodschas der „Widerstandskoalition" zu entziehen und erst dann neu zu besetzen, wenn, dem Vorbild Namibias entsprechend, nach allgemeiner Abrüstung unter treuhänderischer UNO-Verwaltung in freien Wahlen eine neue Regierung gebildet und im Amt ist.Sie muß sich dafür einsetzen, daß unter der Verantwortung der Vereinten Nationen baldmöglichst eine internationale Anhörung zu diesem Thema stattfindet.Sie wird aufgefordert, die Ausrüstung der Roten Khmer mit Waffen aus bundesdeutscher Produktion wirksam zu verhindern und darauf hinzuwirken, daß die Nahrungsmittelhilfe des Welternährungsprogramms — entsprechend einer Forderung der Aktion „Brot für die Welt" — für Flüchtlingslager an der thailändischen Grenze, die von Roten Khmer kontrolliert werden, eingestellt wird, solange keine wirksame UNO-Kontrolle verhindert, daß diese Hilfe in erster Linie den Roten Khmer zugute kommt.Als letztes sollte sie das Hilfsprogramm der United Nations International Children's Emergency Fund zur Verbesserung der Lage von Frauen und Kindern endlich großzügig unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle teilen die Sorge, daß die Roten Khmer militärisch obsiegen und wieder die Macht in Kambodscha übernehmen könnten.Für die Vergangenheit und auch für die jetzige Lage tragen viele Verantwortung, zunächst auch diejenigen, die damals — vor 1975 — mit roten Fahnen durch die Straßen gezogen sind und für die „Befreiung" Kampucheas demonstriert haben und nicht sehen wollten, welches Mörder-Regime sie damit unterstützt haben,
und die in Jubel ausgebrochen sind, als Pol Pot schließlich die Macht in Kambodscha übernommen hat.
Allerdings hat auch die internationale Staatengemeinschaft Verantwortung übernommen, jedenfalls einen Teil davon. Es ist nach dem Motto verfahren worden: Der Feind meines Feindes ist mein Freund, auch dann, wenn er Massenmörder ist. Man hat die Konsequenzen daraus vielleicht zu spät gezogen. Aber auch da ist wieder zu sehen, daß man diesem Regime, diesem angeblichen Befreiungsregime, nach 1975 einen Sitz in den Vereinten Nationen übertragen hat und nicht sehen wollte, daß Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind.Verantwortung haben auch diejenigen übernommen, die über Jahre hinweg Waffenlieferungen an die Roten Khmer durchgeführt haben.Aber ich will hinzufügen: Verantwortung für die Entwicklung tragen auch diejenigen, die bis in die jüngere Zeit hinein meinten, Prinz Sihanouk und seine Verbände und diejenigen von Son Sann militärisch unterstützen zu sollen, und nicht sahen oder nicht sehen wollten oder es hingenommen haben, daß damit Hun Sen in seinem Kampf gegen die Roten Khmer geschwächt wurde. Das war, wenn man so will, insofern eine mittelbare Unterstützung Pol Pots.Nun gilt es, Konsequenzen zu ziehen: Natürlich keine Waffenlieferungen mehr an die Roten Khmer, aber — so möchte ich hinzufügen — auch keine Waffenlieferungen mehr an Sihanouk und die Weißen Khmer.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14703
Dr. PingerDas Pol-Pot-Regime darf nicht mehr an die Macht kommen, auch nicht als Übergangsregierung, auch nicht als Koalitionsregierung.
Ich bin froh, daß darüber im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen jetzt Übereinkunft erzielt worden ist. Das ist eine gute Sache.Wir begrüßen es, daß die Vereinten Nationen — wir hoffen, daß die Details der Vereinbarungen bald festgelegt werden können — zu einer vorübergehenden Verwaltung und treuhänderischen Übernahme des Sitzes in den Vereinten Nationen bereit sind.Dann muß es natürlich zu freien Wahlen in Kambodscha kommen. Nach den freien Wahlen muß die dann frei gewählte Regierung unterstützt werden. Überlebenshilfe, Soforthilfe, aber auch eine verstärkte multilaterale und bilaterale Hilfe in der Art einer internationalen Wiedergutmachung für dieses leidgeplagte Volk ist vonnöten.Ich meine, die Voraussetzungen für eine Besserung sind jetzt eher gegeben. Sie sind vor allen Dingen deswegen gegeben, weil sich die Nachbarstaaten Kambodschas auf eine friedliche Regelung verständigt haben. Ich nenne dabei natürlich die Thailänder, aber auch die Vietnamesen. Ich glaube, die Rahmenbedingungen sind verbessert worden. Nun gilt es, meine ich, daß wir unser politisches Gewicht für eine Lösung einbringen. Wir müssen aber auch bereit sein, materielle und finanzielle Hilfe zu leisten.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Soell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier findet auf Antrag der GRÜNEN eine Aktuelle Stunde statt. Das Problem selber ist von einer dauernden Aktualität gewesen. Es hätte gerade auch dem Bundestag sehr gut angestanden, dieses Thema vor über einem Jahrzehnt aufzugreifen, so wie wir es in Sachen Afghanistan als erstes Land in Europa mit einem Hearing gemacht haben. Das ist sicherlich etwas, was jedenfalls die wenigen, die sich damit beschäftigt haben, sehr bedauern.
Wir haben hier ein gutes Beispiel für die selektive Wahrnehmung der Verletzung von Menschenrechten durch Teile der Öffentlichkeit, auch auf seiten der Linken — das muß man hier zugeben — , aber natürlich noch stärker auf seiten der konservativen Regierungen.
Ich freue mich insoweit, daß das, was mein Kollege Dieter Schanz, der sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt, in einer Presseerklärung von Anfang voriger Woche gesagt hat, auch Eingang in den Antrag der GRÜNEN gefunden hat. Angesichts der Gefahr des Vormarsches der Roten Khmer und der Wiedererrichtung ihres totalitären Regimes müßte die internationale Gemeinschaft reagieren. Es ist bitter notwendig, daß wir dieses Thema mit großer Sorgfalt in einer weiteren Debatte diskutieren.
— Natürlich auch in den Ausschüssen.
Ich komme zu einem Thema, das die Kollegin Kelly angesprochen hat. Wenn die Europäische Gemeinschaft zusammen mit den Mitgliedern des Sicherheitsrats — versucht, eine Initiative auf der Basis des australischen Vorschlags zu starten, dann muß man natürlich auch im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit darüber reden, wie das mit dem Waffenexport ist. Wenn dieses System Armbrust tatsächlich unter der Systemführerschaft der Franzosen stand und deswegen der Einfluß der Bundesregierung auf den Export nach dem Muster dieser Verträge gering ist, dann ist dies ein zentrales Thema der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Das kann dann nicht mehr über bilaterale Kooperationsverträge mit Augenzwinkern gemacht werden. Dann muß es dort in den Mittelpunkt gerückt werden.
Übrigens, Frau Kollegin Kelly: Es gibt eine Reihe von Flüchtlingslagern in Thailand. Ich habe selber vor einigen Jahren mehrere dieser Lager besucht. Man konnte in die Lager, die von den Roten Khmer beherrscht sind, gar nicht hinein. Aber jene Lager, die nicht von den Roten Khmer beherrscht werden, sondern von andern Gruppen oder unter gar keiner direkten Herrschaft stehen, sind in der Mehrheit. Es ist völlig richtig, daß die Roten Khmer dort, wo sie die Macht haben, ein Regime ausüben, wie sie es während ihrer Herrschaft in Kambodscha auch getan haben. Dieses Regime verurteilen wir.
Jetzt ist folgendes notwendig. Auf der Basis des australischen Plans muß bis zu freien Wahlen eine Verwaltung der Vereinten Nationen eingerichtet werden. Die Diskussion in den Vereinten Nationen, aber auch in den Gremien der Europäischen Politischen Zusammenarbeit muß vorangebracht werden.
Die bisherigen Vorschläge der Mitglieder des Sicherheitsrats bringen zwar einen Fortschritt, aber sie sind sehr ungenau, offensichtlich auch aus Rücksicht auf China. Sie definieren nicht genau, welche Souveränität der „Oberste Nationale Rat" haben soll.
Wichtig wäre auch — das ist in den Vorschlägen der Fünf nicht enthalten — , daß wir ein Moratorium, eine Einstellung aller Waffenlieferungen nach Kambodscha sofort erreichen und nicht erst dann, wenn eine UN-Kommission den vollständigen Abzug aller fremden Truppen festgestellt hat.
Jedenfalls ist es hohe Zeit, daß die internationale Gemeinschaft ihre schwerwiegenden Versäumnisse in Kambodscha auf diese Weise wiedergutzumachen versucht.
Ich bedanke mich sehr für ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Soell, ich verstehe nicht ganz,
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14708 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Irmergegen wen sich Ihr Vorwurf richtet, daß wir uns in der Vergangenheit mit diesem Thema nicht beschäftigt haben.
Wir würden unter allen Umständen eine Initiative auch Ihrer Fraktion mit tragen, daß wir dieses Thema jetzt ganz gründlich im Ausschuß behandeln und hierüber auch eine Debatte führen. Da gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheit.
— Gut.Wie gesagt: Wir würden es außerordentlich begrüßen, wenn wir uns ab sofort intensiver mit diesem außerordentlich schwerwiegenden und belastenden Thema beschäftigen könnten. Für meine Fraktion hat Kollege Solms zusammen mit dem Kollegen Glos bereits am 11. Januar in einer Presseerklärung auf die Gefahr hingewiesen, daß die Roten Khmer auf kaltem Wege wieder die Macht an sich reißen könnten. Ich stelle hier fest: Pol Pot und die mörderischen Roten Khmer dürfen keine Chance bekommen, mit ihren bluttriefenden Händen Kambodscha erneut in den tödlichen Würgegriff zu nehmen. Ich sehe, daß hier Einigkeit besteht.Die Vereinten Nationen haben ihre Verantwortung in dieser Frage erkannt und angenommen. Es ist dringend notwendig, daß die Vereinten Nationen diese Verantwortung in Kambodscha jetzt auch übernehmen. Es muß unter Regie der Vereinten Nationen ähnlich wie in Namibia freie Wahlen in Kambodscha geben. Bis dahin ist sehr wohl der Vorschlag ernsthaft zu prüfen und in meinen Augen auch anzunehmen, daß die UN für eine Übergangsphase selber die Regierungsgewalt übernimmt, um der Gefahr vorzubeugen, daß durch den Bürgerkrieg, der im Lande tobt, die Roten Khmer erneut an die Macht kommen.Ausdrücklich möchte ich diejenigen Kollegen unterstützen, die gesagt haben, es müsse einen sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen geben. Meine Damen und Herren, was durch Waffenlieferungen aus Industrieländern weltweit an Unheil angerichtet wird, ist nicht zu beschreiben. Wir müssen dieses Thema einmal ganz unabhängig von diesem Zusammenhang generell in Angriff nehmen.Ich meine, daß durch den Abbau des Ost-West-Konfliktes jetzt, in den 90er Jahren, eine vorher nie dagewesene Chance gegeben ist, daß sich die internationale Staatengemeinschaft auf die Lösung der blutigen regionalen Konflikte rings in der Welt konzentriert. Wir sollten diese Chance wirklich nutzen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Osten und Westen ihre Auseinandersetzungen, ihren Kalten Krieg auf dem Rücken von armen Völkern in der Dritten Welt ausgetragen haben, die weiß Gott genügend Probleme hatten, um zusätzlich noch mit dem Ost-West-Konflikt belastet zu werden, wie das jahrelang der Fall war. Diese Zeit ist Gott sei Dank vorbei. Wir sollten die Chance nutzen und eine Initiative von der Bundesregierung aus in der Europäischen Gemeinschaft, in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit starten, um auch in der UNO Übereinkünfte zustande zu bringen: Stopp vonWaffenlieferungen und insbesondere ein Verhaltenskodex der EG-Länder für Waffenlieferungen.Die Rolle der Volksrepublik China muß ebenfalls angesprochen werden. China muß aufhören, die Roten Khmer zu unterstützen.
Nach dem blutigen Massaker vom Frühjahr letzten Jahres kann China nur dann die Chance haben, seine international mit Recht auf dem Nullpunkt stehende Reputation einigermaßen wieder anzuheben, wenn es jetzt in der Rolle, die es in Kambodscha spielt, ein Beispiel dafür setzt, daß es auch anders geht.
Wenn wir die Rolle der Vereinten Nationen in dem von mir eben angedeuteten Sinne stärken, besteht vielleicht eine Hoffnung, daß die Völker Kambodschas nach vielen Jahrzehnten des Elends endlich den Frieden bekommen, den sie verdient haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Staatsminister Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe am 6. Dezember vergangenen Jahres die Kleine Anfrage Ihrer Fraktion, Frau Kelly, beantwortet und dabei vier Punkte als Zielsetzung unserer Kambodscha-Politik herausgestellt: erstens die möglichst rasche Beendigung des Bürgerkriegs durch Verhandlungen, zweitens den Übergang zu einer frei gewählten kambodschanischen Regierung zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Kambodschaner unter internationaler Kontrolle, drittens die Sicherung Kambodschas gegen eine erneute Machtübernahme der Roten Khmer — hier gibt es überhaupt keinen Dissens — und viertens die Beendigung ausländischer Waffenlieferungen.Die Bundesregierung tritt weiterhin für diese Ziele ein und bemüht sich, auch durch humanitäre Hilfe und Zuschüsse zu Projekten keineswegs nur in den Lagern in Thailand — übrigens nur in Lagern, die nicht von den Roten Khmer beherrscht waren — , sondern auch in Kambodscha zu helfen. Ich bin Ihnen dankbar für die Anregung UNICEF; ich werde das auf greif en.Seit Dezember 1989 sind im Kambodscha-Konflikt militärisch und politisch zwei Entwicklungen zu verzeichnen: zum einen die verstärkten Angriffe der Roten Khmer nach dem Abzug der vietnamesischen Truppen, konzentriert vor allem im Westen und Nordwesten des Landes, zum anderen die Wiederbelebung der Bemühungen um eine politische Lösung, die seit der internationalen Kambodscha-Konferenz im August 1989 in Paris stagniert hatten.Die militärische Lage, Frau Kelly, hat sich auch durch die Januar-Offensive der Roten Khmer nach unseren Kenntnissen bisher nicht wesentlich verscho-
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Staatsminister Schäferben. Die Regierungstruppen haben sich bislang, wenn auch mit Verlusten, weitgehend behauptet und den Widerstand an der dauerhaften Besetzung wichtiger Gebiete und Städte bzw. der Unterbrechung von Versorgungslinien gehindert. Die Widerstandsgruppen, insbesondere die Roten Khmer, sind aber tatsächlich in der Lage, aus den von ihnen kontrollierten Randzonen heraus Teile des Landes durch Guerilla-Offensiven und Anschläge zu verunsichern.Der Verhandlungsprozeß ist durch den australischen Außenminister Evans dankenswerterweise wieder angestoßen worden mit dem Vorschlag, die Vereinten Nationen nicht nur mit Überwachungsaufgaben, sondern auch mit der Übergangsadministration und der Durchführung freier Wahlen in Kambodscha zu betrauen.Die Sitzung in Paris am 15. und 16. Januar dieses Jahres mit den Vertretern der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates hat ergeben, daß man sich auf insgesamt 16 Grundsätze für eine umfassende Lösung des Kambodscha-Konflikts geeinigt hat, darunter — dies ist der entscheidende Fortschritt — eine verstärkte Rolle der Vereinten Nationen, d. h. die Durchführung fairer, demokratischer Wahlen unter direkter UN-Administration, die Gewährleistung der inneren Sicherheit während des Übergangsprozesses, die Einsetzung eines Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs zur Leitung der UN-Operation bis zum Amtsantritt einer gewählten kambodschanischen Regierung.Allerdings blieben — das muß man hier ganz klar sagen — zentrale Fragen noch offen, nämlich ob und in welchem Maße die Vereinten Nationen vorübergehend auch Regierungsgewalt in Kambodscha übernehmen sollen, wie der Evans-Plan es vorsieht, bzw. wie eine Übergangsautorität zusammengesetzt sein soll. Es ist umstritten, wie die kambodschanische Souveränität während dieser Übergangszeit wahrgenommen werden kann. Es ist die Frage der Finanzierung der UN-Operation — das ist natürlich ein ganz wichtiger Punkt —
offengeblieben, und offen ist auch die Frage des UN-Sitzes während der Übergangsphase.Übrigens ist, Herr Kollege Pinger, der UN-Sitz seinerzeit nicht der Widerstandskoalition übertragen worden, sondern er wurde der unter vietnamesischer Besetzung installierten neuen Regierung nicht übertragen. Das ist der Punkt. Daß das eine mißliche Entscheidung war, ist uns allen hier klar, und ich selbst habe bei meinen Gesprächen auch immer wieder darauf hingewiesen, daß das keine sehr glückliche Lösung gewesen ist.Es ist bedauerlich, daß — leider muß ich das sagen — in Paris auch keine konkreten Ergebnisse hinsichtlich der Beendigung der ausländischen Waffenlieferungen erzielt werden konnten. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, der ja auch von allen Fraktionen einvernehmlich angesprochen worden ist. Es gibt auch noch Meinungsverschiedenheiten zwischen Hun Sen und der Widerstandskoalition. Die Roten Khmer haben sich bisher noch nicht dazu geäußert, wie sie sich überhaupt verhalten wollen. Hierzu mußman sagen — Herr Kollege Irmer, ich bin für Ihren Hinweis dankbar — , daß hinter den Roten Khmer China steht, auf dessen weitere konstruktive Mitarbeit es bei den Lösungsbemühungen ganz entscheidend ankommen wird. China hat in Paris sein Vierparteienkonzept für eine Übergangsregierung noch nicht aufgegeben. China trägt — das muß man deutlich sagen — für die weitere Entwicklung eine ganz hohe Verantwortung, denn es hat die Roten Khmer bislang unterstützt, und wir müssen China auf diese Verantwortung immer wieder hinweisen.Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates werden sich in Kürze in New York und dann in Paris wieder treffen. Die Bundesregierung hofft, daß dieses Treffen und eine geplante Sitzung der kambodschanischen Parteien mit den ASEAN-Staaten, Frankreich und Australien zu weiteren Fortschritten führen. Ich schließe übrigens nicht aus, daß es auch ein gewisses Interesse daran geben könnte, uns mit in diesen Prozeß hineinzunehmen. Es gibt Hinweise darauf, wenn auch noch keine offiziellen.Die Bundesregierung hat zusammen mit ihren europäischen Partnern am 18. Januar den australischen Vorschlag und die in Paris von den fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern erzielten Fortschritte begrüßt. Sie ist der Ansicht, daß eine starke politische Rolle der Vereinten Nationen einen Weg aus der Sackgasse der vergangenen Monate aufzeigt.Nachdem die vietnamesischen Truppen Kambodscha verlassen haben — und wir haben uns weiß Gott, auch ich in Vietnam selbst, dafür immer wieder eingesetzt —, kommt es jetzt darauf an, daß dieses schwer geprüfte Land auch den inneren Frieden findet. Daher muß jegliche militärische Unterstützung von außen, vor allem die der Roten Khmer, beendet werden, muß eine demokratische Legitimierung für eine kambodschanische Regierung gefunden und muß so bald wie möglich mit dem wirtschaftlichen Aufbau begonnen werden, zu dem wir beitragen wollen.Meine Damen und Herren, die Roten Khmer dürfen keine Chance erhalten, wieder ein Schreckensregime in Kambodscha zu errichten und die erbarmungslose Herrschaft, die sie über ihre Lager ausüben, auf das Land auszudehnen. Daher treten wir dafür ein, daß die Vereinten Nationen, die in Namibia so erfolgreich eine politische Rolle gespielt haben, dies auch in Kambodscha tun. Die Kosten werden — bitte schön, auch das muß man sich klarmachen — deutlich höher sein als in Namibia, und auch wir werden unseren Beitrag leisten müssen.Schon jetzt tragen wir durch die Unterstützung von Nicht-Regierungsorganisationen im humanitären Bereich dazu bei, die Not der kambodschanischen Bevölkerung und die der Insassen solcher Flüchtlingslager, die nicht von den Roten Khmer beherrscht werden, zu lindern.Meine Damen und Herren, es kann übrigens keine Rede davon sein — Frau Kelly, Sie beziehen sich hier auf ein BBC-Interview — , daß die Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt einen Genehmigungsantrag für die von Ihnen genannte Waffe Armbrust erhalten hätte, daß sie sie genehmigt hätte oder jemals
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14710 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Staatsminister Schäfervorhätte, sie zu genehmigen. Das ist einfach nicht der Fall.Inwieweit eine solche Waffe in die Hand der Roten Khmer gekommen sein kann, muß natürlich untersucht werden. Jedenfalls ist es nicht mit Zustimmung oder mit Kenntnis der Bundesregierung geschehen.Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.Ich kann den Tagesordnungspunkt 2 aufrufen: Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und des Wohnungsbaugesetzes für das Saarland— Drucksache 11/6005 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaub) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Volksrepublik Bulgarien über die Schiffahrt auf den Binnenwasserstraßen— Drucksache 11/6034 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Rechtsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 4 vom 25. April 1989 zu der am 17. Oktober 1868 in Mannheim unterzeichneten Revidierten Rheinschiffahrtsakte— Drucksache 11/6035 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften über den Jahresabschluß und den konsolidierten Abschluß von Banken und anderen Finanzinstituten
— Drucksache 11/6275 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
FinanzausschußAusschuß für Wirtschafte) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1988 — Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes —— Drucksache 11/6136 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußInterfraktionell wird Ihnen vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist dies so beschlossen.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 3 sowie die Zusatztagesordnungspunkte 2 bis 4 auf:3. Beratungen ohne Aussprachea) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 135 zu Petitionen— Drucksache 11/5406 —b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDPÄnderung des Berichtszeitraums für die Halbjahresberichte der Bundesregierung über die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft, des Europarates und der Westeuropäischen Union— Drucksachen 11/4241, 11/4877 —Berichterstatter: Abgeordneter Brückc) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Reddemann, Dr. Ahrens, Dr. Abelein, Antretter, Frau Beer, Bindig, Frau Blunck, Böhm (Melsungen), Büchner (Speyer), Bühler (Bruchsal), Eich, Frau Fischer, Dr. Hitschler, Höffkes, Frau Hoffmann (Soltau), Dr. Holtz, Irmer, Kittelmann, Lenzer, Dr. Müller, Niegel, Pfuhl, Dr. Scheer, Schmidt (München), Schmitz (Baesweiler), von Schmude, Dr. Soell, Steiner, Frau Dr. Timm, Dr. Unland, ZiererUnterrichtung des Deutschen Bundestages über den Stand der Unterzeichnung und Ratifizierung europäischer Abkommen und Konventionen durch die Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 11/5180, 11/6074 —Berichterstatter:Abgeordnete Böhm Frau Wieczorek-Zeul
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14711
Vizepräsident Cronenbergd) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung von Strafverfahren— Drucksache 11/6284 —Berichterstatter: Abgeordneter Buschbome) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 27 02 Titel 642 21
— Drucksachen 11/5745, 11/6269 —Berichterstatter:Abgeordnete Nehm KalbHoppeKleinert
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 27 02 Titel 642 21
— Drucksachen 11/5942, 11/6273 —Berichterstatter:Abgeordnete Nehm Dr. NeulingHoppeKleinert
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 05 02 Titel 686 01 — Hilfe für Deutsche im Ausland —— Drucksachen 11/5721, 11/6270 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Rose HoppeDr. StruckFrau Vennegertsh) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 03 — Zuschuß des Bundes an die knappschaftliche Rentenversicherung —— Drucksachen 11/5932, 11/6272 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeZywietzFrau RustZP2 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
— Sammelübersicht 146 zu Petitionen —— Drucksache 11/6252 —ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
— Sammelübersicht 147 zu Petitionen —— Drucksache 11/6253 —ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 40 Titel 681 05 — Einmalige Unterstützung für im Bundesgebiet einschließlich Berlin eintreffende Aus- und Übersiedler —— Drucksachen 11/5915, 11/6300 —Berichterstatter:Abgeordnete Deres KühbacherFrau Seiler-Albring Kleinert
Ich komme zunächst zum Tagesordnungspunkt 3 a.Meine Damen und Herren, vor der Abstimmung teile ich dem Hause mit, daß der Abgeordnete Spilker eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben hat.*)Nun können wir zur Abstimmung kommen. Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, die Ihnen auf Drucksache 11/5406 vorliegt. Es geht um die Sammelübersicht 135. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung gegen die Stimme des Abgeordneten Spilker angenommen worden.Ich rufe nunmehr den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ab, die Ihnen auf Drucksache 11/6252 vorliegt. Es handelt sich um die Sammelübersicht 146. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nunmehr zum Zusatztagesordnungspunkt 3, zur Sammelübersicht 147, und zwar zunächst einmal zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6312. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der sozialdemokratischen Fraktion? — Wer stimmt dagegen? —s) Anlage 214712 Deutscher Bundestag — 11 Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990Vizepräsident CronenbergDann ist dieser Änderungsantrag der SPD mit den übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt worden.Wer nunmehr der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/6253 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN, der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion angenommen worden.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 3 b. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/4877 ab. Es handelt sich um die Änderung des Berichtszeitraums für die Halbjahresberichte der Bundesregierung über die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft, des Europarates und der Westeuropäischen Union.Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden.Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 3 c. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses, die Ihnen auf Drucksache 11/6074 vorliegt, ab. Hierbei handelt es sich um die Unterrichtung des Deutschen Bundestages über den Stand der Unterzeichnung und Ratifizierung europäischer Abkommen und Konventionen durch die Bundesrepublik Deutschland.Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 3 d. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens auf Drucksache 11/6284 ab. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 3 e bis 3 h und zum Zusatztagesordnungspunkt 4. Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben auf den Drucksachen 11/6269, 11/6270, 11/6272, 11/6273 und 11/6300.Wer diesen Beschlußempfehlungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Vorschriften über gemeinsame Anlagen in Wertpapieren
— Drucksache 11/5411 —b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Kapitalverkehrsteuergesetzes— Drucksache 11/4711 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 11/6262 —Berichterstatter:Abgeordnete Uldall Dr. Wieczorekbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/6217 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth Dr. Weng (Gerlingen)Dr. StruckFrau Vennegerts
Hierzu schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Ich darf das als beschlossen feststellen.Wir kommen zur Aussprache. Zunächst hat der Abgeordnete Uldall das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wir beraten heute unter der Überschrift Finanzmarktförderungsgesetz die Abschaffung von drei Steuern und eine Verbesserung der Regelungen für die Investmentbranche.Zusammengenommen ist dieses Finanzmarktförderungsgesetz ein gelungenes Paket zur Stärkung des Finanzplatzes Deutschland. Wir wollen den Kapitalverkehr von belastenden Abgaben befreien, und wir wollen den Investmentfonds zum Nutzen ihrer Anteilsinhaber neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen.Als ein energischer Verfechter von Steuervereinfachungen freue ich mich ganz besonders, daß auf einen Schlag drei Steuern abgeschafft werden können: die Börsenumsatzsteuer, die Gesellschaftsteuer und die Wechselsteuer. Die Börsenumsatzsteuer entfällt zum 1. Januar 1991, die Gesellschaftsteuer zum 1. Januar 1992, und zu diesem Termin entfällt auch die Wechselsteuer. Das Finanzmarktförderungsgesetz ist damit auch ein Bürokratiebeseitigungsgesetz. Denn es fallen nicht nur die Gesetze und die dazu gehörenden Durchführungsverordnungen weg; auch die Kommentare und die Fachliteratur werden überflüssig. Für
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14713
UldallSteuerbeamte und für Steuerberater brauchen weniger Ausbildungsgänge vorgesehen zu werden.
Die Kreditinstitute brauchen auf ihren Abrechnungen beim Kauf und Verkauf von Wertpapieren keine Steuern mehr auszuweisen und brauchen diese nicht mehr mit dem Fiskus abzurechnen. Die Notare müssen bei Kapitalerhöhungen nicht mehr das Finanzamt informieren. Die Postämter brauchen keine Wechselsteuermarken mehr zu verkaufen.
Und in den Finanzabteilungen der Unternehmen braucht kein Lehrling mehr Wechselsteuermarken anzulecken und auf die Wechsel zu kleben.
Die Wechselsteuermarke gehört von jetzt an der Geschichte an.
Bei diesen Steuern handelt es sich um die ältesten Steuern die wir in der Bundesrepublik, ja in Deutschland haben.
Die Wechselsteuer hat ihren Ursprung bereits in den Stempelabgaben des 17. Jahrhunderts. Sie wurde 1822 in Preußen und 1871, also vom Anfang des Deutschen Reiches an, reichsweit eingeführt.
Die Gesellschaftsteuer gab es zuerst um 1850 in einzelnen deutschen Ländern. Ab 1909 gab es sie in Preußen, und ab 1913 ging das Besteuerungsrecht auf das Deutsche Reich über. Die Börsenumsatzsteuer entstand in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auch sie ist also schon über hundert Jahre alt.Diese Steuern fallen jetzt fort. Man sieht, die Regierungskoalition macht ernst mit der Entrümpelung des Finanzwesens von überholten Steuern.Für die Abschaffung der Kapitalverkehrsteuern sind im wesentlichen vier Gründe maßgeblich, die ich kurz anreißen werde. Mein Kollege Grünewald wird das nachher etwas detaillierter darstellen.Erstens. Die Kapitalverkehrsteuern behindern die Mobilität des Finanzkapitals. Sie stellen Störfaktoren für den Wirtschaftsablauf dar. Je weniger der Staat wirtschaftliche sinnvolle Maßnahmen behindert, um so besser entwickelt sich die Volkswirtschaft.Zweitens. Wir wollen Wettbewerbsnachteile, vor allen Dingen gegenüber London, unserem Hauptwettbewerber, abbauen. Dazu muß man wissen, daß Großbritannien die Gesellschaftsteuer gerade abgeschafft hat und daß die Börsenumsatzsteuer für ausländische Anleger praktisch nicht wirksam wird. Gegenüber anderen Finanzplätzen wollen wir unseren Vorsprung halten bzw. einen solchen Vorsprung gewinnen. Deshalb schaffen wir die Börsenumsatzsteuer ab.
Drittens. Der Mangel an Eigenkapital, besonders im mittelständischen Bereich, ist eines unserer wesentlichen wirtschaftspolitischen Probleme. Wir wollen die Kapitalbeschaffung zur Stärkung des Eigenkapitals von Aktiengesellschaften und GmbHs erleichtern. Deshalb schaffen wir die Gesellschaftsteuer ab.Viertens. Beim Wechselgeschäft wollen wir den Bürokratieaufwand für kleine und mittlere Betriebe und die beteiligten Kreditinstitute verringern.
Deshalb schaffen wir die Wechselsteuer ab.
Nun erhebt sich natürlich die Frage: Können wir uns das alles erlauben, oder müßten wir nicht angesichts der großen Aufgaben, die aus der DDR und in Osteuropa auf uns zukommen, gerade diese Steuern weiter einbehalten? Ich meine, daß das nicht notwendig ist. Gerade die Entwicklung in den sozialistischen Ländern in den letzten Monaten hat doch gezeigt, daß der Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben für alle Menschen von Vorteil ist. Unsere Politik, die sich jetzt überall als richtig erweist, darf deswegen nicht auf die Pfade einschwenken, die in Osteuropa gerade zu der Wirtschaftskatastrophe geführt haben.Isoliert betrachtet, d. h. ohne Berücksichtigung der zu erwartenden Belebung des Kapitalmarktes, verzichtet der Bund — denn die Kapitalverkehrsteuern sind ja Bundessteuern — ab 1992 auf etwa 1 600 Millionen DM pro Jahr. Da die Gesellschaftsteuer und die Wechselsteuer die Bemessungsgrundlage der Betriebe schmälern, sind nach deren Wegfall höhere Einnahmen bei der Gewerbesteuer, bei der Einkommensteuer und bei der Körperschaftsteuer zu erwarten. Etwa 400 Millionen DM zusätzliche Einnahmen dürften pro Jahr anfallen, so daß die Abschaffung der Gesellschaft- und Wechselsteuern bei Ländern und Gemeinden sogar zu zusätzlichen Einnahmen führen wird.Bezieht man die Belebung des Kapitalmarktes in die Überlegung ein, ist sogar ein noch höherer Selbstfinanzierungseffekt zu erwarten, so wie wir es jetzt ja bei der Einkommensteuerreform erleben, wo die Steuereinnahmen durch die Steuersenkung in einem höheren Maße belebt werden, als wir es alle miteinander bei den Debatten über die Einkommensteuerreform erwartet hatten.
Fazit: Die Abschaffung der Kapitalverkehrsteuern wird zu einem weiteren Aufschwung des Finanzplatzes Deutschland führen, ohne die Einnahmen des Staates wesentlich zu verringern.Ich komme nun zum zweiten, nicht weniger wichtigen Teil des Finanzmarktförderungsgesetzes. Die Änderung des Kapitalanlagegesellschaften-Gesetzes, ursprünglich einmal als ein eigenes Investment-Richtlinie-Gesetz vorgesehen, werden zu weitreichenden Veränderungen der Rahmenbedingungen für die deutschen Investmentunternehmen führen. Sie werden insbesondere eine erhebliche Ausweitung der Anlagegrenzen für klassische Wertpapierfonds und
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Uldallauch für Grundstückinvestmentfonds zur Folge haben. Außerdem ist die Entwicklung neuer Fondsprodukte zu erwarten. Außer den klassischen Anlageformen, Aktien, Renten, Grundstücke, werden die Investmentfonds in Zukunft ihre Mittel auch am Markt für Schuldscheine, an Options- und Terminmärkten des In- und Auslandes und in beschränktem Maße auch am Geldmarkt im Inland anlegen können. Diese Entwicklung entspricht dem Sinn und Zweck der Investmentidee, denn gerade die Beachtung des Prinzips der Risikostreuung ist der wesentliche Punkt für die Schaffung von Investmentfonds gewesen.Über diese schon im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene Verbesserung hinaus wurden im Laufe der Beratungen des Finanzausschusses noch weitere Verbesserungen eingebaut.
Erstens. Der Erwerb von Grundstücken, Erbbaurechten und anderen grundstücksgleichen Rechten wird in anderen Mitgliedsländern der EG in gleicher Weise wie im Inland erlaubt.Zweitens. Die Anlagegrenze für Options- und Finanztermingeschäfte wird von 10 % auf 20 % angehoben. Werden diese Geschäfte durch ein Gegengeschäft geschlossen, so sind beide Geschäfte auf diese Anlagegrenze anzurechnen, eine Regelung, die vor allem der Risikominderung dient.In einer Entschließung, die der Finanzausschuß vorgeschlagen hat, wird die Bundesregierung aufgefordert, in der nächsten Legislaturperiode das Thema Geldmarktfonds erneut aufzugreifen. Nach einer Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen des Finanzplatzes Deutschland könnten Geldmarktfonds zum 1. Januar 1993 zugelassen werden.
Im Finanzausschuß dürfte nach meiner Einschätzung ohnehin schon zum heutigen Zeitpunkt eine Mehrheit für die Geldmarktfonds vorhanden gewesen sein.
Widerstand kam von der Deutschen Bundesbank. Um einen Konflikt mit der Bundesbank zu vermeiden, die um die Wirksamkeit der Mindestreservenpolitik fürchtet
— sowie von den Sozialdemokraten; das ist richtig —, haben wir von einer sofortigen Einführung der Geldmarktfonds abgesehen. Herr Kollege, Sie sehen wie kooperativ wir uns auch gegenüber der Opposition im Finanzausschuß verhalten.Die Investmentfonds eröffnen Millionen von Anlegern den Zugang zu neuen Finanzinstrumenten. Die Bedeutung der Fonds als Kapitalsammelstelle wird deswegen in den nächsten Jahren noch weiter steigen.Lassen Sie mich deswegen abschließend feststellen: Das Gesetz setzt die seit Jahren betriebene Politik fort, die Marktwirtschaft in der Bundesrepublik konsequent auszubauen. Nie wurde so deutlich wie gerade in den vergangenen Wochen, daß dies der richtigeWeg zum Wohle aller Menschen in der Volkswirtschaft ist.
Unsere Volkswirtschaft, unsere Finanzpolitik, unsere Wirtschaftspolitik sind auf dem richtigen Weg. Wir werden diese Politik konsequent fortsetzen, nicht nur in dieser Legislaturperiode, sondern auch über 1991 hinaus.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wieczorek.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollten wir heute nur ein Investment-Richtlinie-Gesetz verabschieden. Statt dessen muten Sie uns einen Mischling zu, einen Gesetzesbastard,
der dann den Titel „Finanzmarktförderungsgesetz" trägt. Damit geben Sie zwar die ursprüngliche Absicht an, aber in Wirklichkeit wird die Realität dieses Gesetzes verschleiert.
Der in den Amtsstuben der Bundesregierung ursprünglich entworfene Gesetzestext hätte auch die Anerkennung und Zustimmung der Opposition verdient. Das von den Fachbeamten entworfene Investment-Richtlinie-Gesetz, mit dem nicht nur eine EG-Richtlinie umgesetzt wird, sondern zugleich sinnvolle Maßnahmen zur Stärkung des Finanzmarktes Deutschland zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Investmentfonds vorgeschlagen werden, wird seiner Aufgabe insbesondere auch bei den Offenlegungspflichten der Kapitalanlagegesellschaften durchaus gerecht.Leider ist festzustellen, daß dieser Gesetzentwurf in den Händen dieser Koalition mißbraucht wird.
Es wurde nämlich maßlos und sinnlos draufgesattelt. In Hektik und Ankündigungspanik — ich darf an die diversen Äußerungen des Kollegen Waigel erinnern —
wurden Steuerbeschlüsse gefaßt, um schnell noch den Beifall der Begünstigten zu finden, bevor der Wahlkampf beginnt. Dieser Eindruck ist sehr deutlich.Dabei werden gute parlamentarische Sitten wie Ausschußberatungen und Anhörungen zur Farce gemacht. — Herr Kollege Uldall, Ihre Absicht, mit uns angenehm umzugehen, ist ja ersprießlich. Nur, wir haben es dabei nicht erlebt.Zum Inhalt des Investment-Richtlinie-Gesetzes hatte der Finanzausschuß eine gründliche Anhörung veranstaltet. Zu der in Nacht-und-Nebelaktion buchstäblich am Morgen nachgeschobenen Aufhebung
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Dr. Wieczorekvon drei Steuern wurde kein einziger Sachverständiger gehört.
Die Aufhebung dieser drei Steuern mit einem Volumen von über 1,6 Milliarden DM wurde im Finanzausschuß ohne gründliche Diskussion mit Ihrer Verfahrenshoheit beschlossen, obwohl wir als SPD ausführlichen Beratungsbedarf angemeldet hatten und obwohl auch kein zeitlicher Druck von den Inkraftsetzungsdaten her besteht. Auf Betreiben der SPD-Fraktion war das Bundesfinanzministerium gebeten worden, ganz konkrete Fragen zur Aufhebung der Kapitalverkehrsteuern zu beantworten.
Herr Abgeordneter Wieczorek, Sie sind bereit, eine Frage zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Grünewald.
Herr Kollege Wieczorek, würden Sie mir zustimmen, daß wir mit der Abschaffung der Börsenumsatzsteuer einem ausdrücklichen Wunsch Ihres Kollegen, des Regierenden Oberbürgermeisters von Frankfurt, Herrn Hauff, entsprochen haben
— entschuldigen Sie bitte — und daß wir seinen Vorstellungen, die Börsenumsatzsteuer zeitlich noch früher abzuschaffen, leider nicht entsprechen konnten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich freue mich, daß Sie meine geliebte Stadt Frankfurt — —
Herr Abgeordneter Grünewald, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Usancen des Hauses beachteten. Ich kann mir zwar vorstellen, daß Sie die Antwort kennen, aber nichtsdestoweniger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Antwort kennt er noch nicht; denn ich wäre schon dafür, Frankfurt in den Grenzen von 1866 wieder zur selbständigen Stadt zu machen. Das wäre eine interessante Frage. Es war ja damals Ausland gegenüber Preußen.
Der andere Punkt: Da muß ich Sie ein bißchen enttäuschen. Nachdem wir mit dem Kollegen Hauff über das gesprochen haben, was sich die SPD dazu denkt, teilt er unsere Meinung dazu. Ich habe das von ihm auch schriftlich. Sie sind also nicht ganz auf dem neuesten Stand.
Auf Betreiben der SPD-Fraktion war das Bundesfinanzministerium gebeten worden, ganz konkrete Fragen zur Aufhebung der Kapitalverkehrsteuern zu beantworten. Mit dem vom Finanzministerium übermittelten Material sind diese Fragen nicht oder nur
zum Teil beantwortet worden. Das bedeutet, daß wir heute die Abschaffung von drei Steuern beschließen, ohne daß vorher mit ausreichend fundiertem Material darüber beraten werden konnte, ob ein solcher Kahlschlag zur Stärkung des Finanzplatzes Bundesrepublik Deutschland überhaupt erforderlich ist, ja viel schlimmer: ohne zu beraten, ob nicht durch einen solch undifferenzierten Kahlschlag eine optimale Stärkung des Finanzplatzes Deutschland sogar verhindert wird, indem der Hebel Steuerrecht für die notwendige Neuordnung des Wertpapierhandels und der Börsenstruktur entwertet wird.
In der Bundesrepublik werden 50 % der Aktiengeschäfte, 80 % der Rentengeschäfte außerbörslich abgewickelt. Auch diese außerbörslichen Umsätze unterliegen der Börsenumsatzsteuer. Insofern hat diese Steuer einen irreführenden Namen. Wenn man nun die Börsen in ihrer Preisfindungsfunktion durch höhere Markttransparenz und Anlegersicherheit stärken will, so liegt es doch nahe, die Börsenumsatzsteuer hin zu einer Nichtbörsenumsatzsteuer zu entwickeln, d. h. die Börsenumsatzsteuer für Börsenumsätze zu reduzieren oder aufzuheben — je nachdem, wie es in den Einzelbereichen aus Wettbewerbsgründen tatsächlich notwendig sein kann — , die nicht über die Börse abgewickelten Wertpapierumsätze aber weiterhin steuerlich zu belasten. Hier sehen Sie auch, daß wir einen anderen Ansatz haben, den der Kollege Hauff sehr gut übernehmen kann.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß einer Delegation unseres Finanzausschusses — Sie waren auch dabei —
bei der International Stock Exchange in London die interessante Mitteilung gemacht wurde, daß die Halbierung der Sätze der der Börsenumsatzsteuer vergleichbaren Steuer in London zu einem erheblichen Steuermehraufkommen geführt hat. Ich betone aber: Halbierung und nicht Abschaffung. Dieses Beispiel beweist, daß es für eine Abwägung des Fiskalinteresses einerseits und der Interessen der an Wertpapiergeschäften Beteiligten andererseits eines Vergleiches der tatsächlichen Transaktionskosten in ihren einzelnen Elementen bedarf.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Uldall? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Uldall.
Herr Kollege, erinnere ich mich falsch, daß bei einem anderen Besuch des Finanzausschusses bei einer Börse, nämlich der Frankfurter Börse, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD Frau Matthäus-Maier, die damals ja noch Mitglied unseres Ausschusses war, zumindest — ich sage einmal — den Eindruck bei den Gesprächspartnern von der Börse erweckte, als wären auch die Sozialdemokraten für die Abschaffung der Börsenumsatzsteuer?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Uldall, wenn Sie mir zuhören, werden Sie feststellen, daß wir kein Verteidiger der bestehenden Börsenumsatzsteuer sind, daß wir nur sagen: Es hätte geprüft werden müssen, in welchen Bereichen sie tatsächlich geändert, eventuell
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14716 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Dr. Wieczoreksogar teilweise ganz abgeschafft werden müßte und wo sie bestehenbleiben könnte. Das haben Sie nicht getan. Sie haben das radikal alles abgeschafft. Das ist genau nicht die Differenzierung, die wir vornehmen. Sie haben gar nicht den Versuch gemacht, sich mit uns in diesem Punkt zu einigen. Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen machen muß.Die SPD hatte daher auch beim Bundesfinanzministerium um einen internationalen Vergleich der tatsächlichen Transaktionskosten sowohl im Massengeschäft als auch für typisierte Großgeschäfte im Wertpapierbereich gebeten, um Klarheit zu schaffen, inwieweit die Kapitalverkehrsteuern die tatsächlichen Kosten beeinträchtigen und inwieweit, Kollege Uldall — das ist ein wichtiger Punkt — , eventuell nur neue Kalkulationsspielräume für Transaktionskosten bei den Anbietern solcher Dienstleistungen durch den Wegfall der Steuer neu entstehen können. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Da haben wir einen Unterschied.Das Bundesfinanzministerium ist uns diesen Vergleich leider weitgehend schuldig geblieben. Dennoch sind der vom Bundesfinanzministerium übersandten Übersicht einige interessante Erkenntnisse zu entnehmen:Erstens. Im Prinzip kennen fast alle Staaten irgendwelche Abgaben auf Vorgänge im Kapitalverkehr. Lediglich in den USA gibt es keine Bundeskapitalverkehrsteuern; der Bund greift also nicht zu. In Europa verzichten auf diese Steuer Luxemburg, Portugal, Spanien, Griechenland und bisher Italien. Das sind nicht unsere Hauptkonkurrenzländer in dem Bereich. Italien hat im übrigen gerade angekündigt, daß es eine solche Steuer einführen will. Ich halte das fest. In den USA gibt es dazu im Senat übrigens auch Diskussionen.Zweitens. Manche Länder haben ihre Börsenumsatzsteuer so gestaltet, daß sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Börsen- und Bankplätze zu Lasten ihrer ausländischen Wettbewerber bevorzugen. Ein typisches Beispiel ist Großbritannien. Vorgänge, bei denen die Steuerpflichtigen nicht ausweichen können, werden teilweise recht hoch besteuert, höher als bei uns, wohingegen Transaktionen, bei denen die eigene Börse in Konkurrenz zu anderen Ländern steht, faktisch frei bleiben.Abgesehen von der Frage der Sinnhaftigkeit einer solchen „beggar my neighbor"-Politik im Steuerbereich für die internationale Zusammenarbeit — hier eine Anmerkung: gäbe es bereits die Dienstleistungsrichtlinien des GATT, wäre das ein klassischer Fall für das GATT — bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten: Es gab und es gibt aus Wettbewerbsgründen gerade auch bei Betrachtung der stets angeführten Plätze London und Paris keinen Grund für die totale — ich betone: die totale — Abschaffung der Börsenumsatzsteuer.
Über Veränderungen hätten Sie mit uns reden können. Das haben Sie nicht gemacht.Drittens. Die Börsenumsatzsteuer muß auch nicht aus Gründen der EG-Hamonisierung beseitigt wer-den. Großbritannien hat grundsätzlich die Notwendigkeit von Maßnahmen in diesem Bereich bestritten. Alle anderen Staaten, in denen Börsenumsatzsteuer erhoben wird, sagen aus Haushaltsgründen, daß sie das nicht machen wollen. So gut ist unser Haushalt auch nicht, daß wir spielend auf dieses Geld verzichten könnten.
Viertens. Die Gesellschaftsteuer, die die Koalition ebenfalls abschaffen will, wird sogar in allen EG-Staaten erhoben. Nur Großbritannien hat sie neulich abgeschafft. Eine Aufhebung dieser Steuer ist nach EG-Recht zwar zulässig, aber nicht vorgeschrieben. Es mag aus anderen Gründen diskussionswürdig sein, ob diese Steuer sinnvoll ist. Mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit der Kapitalmärkte, der vorgegebenen Zielsetzung des heutigen Gesetzes, hat das aber gar nichts zu tun.
Herr Kollege, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Herr Kollege Wieczorek, da Sie so auf die internationale Konkurrenzfähigkeit und die daraus fließende Notwendigkeit der Abschaffung oder Beibehaltung einer Steuer abstellen: Darf ich Sie darauf hinweisen, daß nicht nur England eine Gesellschaftsteuer nicht kennt, sondern auch die USA und Japan, und daß damit alle drei Hauptkonkurrenzländer, mit denen wir auf dem Kapitalmarkt in Wettbewerb stehen, diese Steuer nicht kennen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die Gesellschaftsteuer hat mit dem Kapitalmarkt verdammt wenig zu tun.
Wohl aber mit den Vorgängen des Fließens des Kapitalmarktes, Herr Kollege, wie Sie wissen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber, Herr Kollege, dann hätten wir jetzt aus diesem Bereich eigentlich einen Fluß nach London erleben müssen. Damit hat das nichts zu tun. Wir stehen im Wettbewerb in der EG. Über diese Steuer könnten wir diskutieren, wenn es um die Eigenkapitalausstattung statt Fremdkapitalausstattung der Unternehmen ginge. Nur, darum geht es Ihnen hier nicht. Es geht um den Wettbewerb bei den Kapitalmärkten. Da besteht der innere Zusammenhang, den Sie sehen, überhaupt nicht.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte. Vizepräsidentin Renger: Bitte schön.
Könnten Sie, Herr Kollege, es aus systematischen Gründen überhaupt für möglich halten, daß man die Kapitalverkehrsteuer Börsenumsatzsteuer abschafft, aber die Gesellschaftsteuer beibehält oder umgekehrt, wo diese Dinge im Grunde doch einen systematisch inneren Zusammenhang haben?
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diesen systematischen Zusammenhang sehe ich an dieser Stelle nicht.
— Ich kenne die Lehrbücher. Deswegen teile ich Ihre Ansicht trotzdem nicht. Wenn Sie nämlich Umsatzbesteuerung mit einer solchen Steuer vergleichen, dann werden Sie feststellen, daß Sie auf ganz verschiedenen Steuergebieten sind. Aber wir machen hier kein Kolloquium dazu. Wir können das gerne privatissime machen. Es erstaunt mich immer wieder, daß man Ihnen das anbieten muß.
— Es ist immerhin gut, wenn sich die Koalition die Lehrbücher einmal anguckt.Fünftens. Die Wechselsteuer wird, was die EG-Staaten anbelangt, in Belgien, Dänemark, Italien, Portugal, Spanien und in der Bundesrepublik erhoben. Ein Richtlinienvorschlag der Kommission ist nicht zu erwarten. Auch hier gilt das Wettbewerbsargument also nicht. Hilfsweise wird zwar angeführt — der Kollege Glos hat das getan — , der Wechsel als Finanzinstrument der Klein- und Mittelstandsunternehmen werde entlastet und dies sei das Äquivalent für die Entlastung der Großanleger und Großanbieter von Finanzdienstleistungen, die sie mit diesem Gesetz vornehmen. Nur frage ich dann: Wo ist das Äquivalent für andere Bevölkerungsgruppen, z. B. für die Arbeitnehmer?Ich frage aber auch — das haben Sie, glaube ich, nicht ganz bedacht — , ob nicht mit diesem Argument klammheimlich neue Großfinanzierungsinstrumente auf der Basis des Wechselrechtes möglich gemacht werden sollen, womit der Finanzierungsvorteil der Großunternehmen erst recht noch wachsen würde. Ich empfehle Ihnen, da die Zukunft gut zu beobachten.Ich sage noch etwas zur Wechselsteuer. Auch über die Wechselsteuer kann man reden; aber nicht in dem Zusammenhang, den Sie hier hergestellt haben, nämlich Kapitalmarkt Deutschland. Damit hat das nichts zu tun.Allein diese fünf Punkte zeigen, wie unvertretbar die von der Koalition beschlossene Abschaffung der Kapitalverkehrsteuern im Hauruck-Verfahren ist. Mit dem Argument, daß damit der Finanzplatz Deutschland gestärkt werde, läßt sich die Beseitigung der Kapitalverkehrsteuern jedenfalls so nicht rechtfertigen. Wenn Ihnen, meine Damen und Herren, an der Stärkung des Finanzplatzes Deutschland gelegen ist, dann kümmern Sie sich doch erst einmal um eine befriedigende Insider-Regelung, um eine funktionierende Börsenaufsicht und um Ordnung in dem Chaos von Präsenzbörsen und Computerbörsen. Hier gibt es echten Handlungsbedarf, und Sie sehen tatenlos zu.Die Insider-Regelung auf gesetzlicher Basis haben Sie erst abgelehnt. Jetzt, wo der Druck von den ausländischen Anlegern nach den vielen Insider-Skandalen weltweit zugenommen hat, wollen Sie vorgeblich zwar eine Regelung. Mit scheint aber, Sie warten ab, bis die Branche selbst Ihnen das Zauberrezept nach dem Motto „Wasch mich, aber mach mich nicht naß"zum gesetzestechnischen Vollzug vorlegt. Klare Vorgaben, um endlich Anlegerschutz zu sichern, aber geben Sie nicht.Gleiches gilt für die Börsenaufsicht. Erst seitdem die privatrechtliche Vereinigung des Herrn von Rosen durch eine Abstimmungspanne — eine peinliche freilich, möglicherweise auch sehr kostspielige — darauf aufmerksam gemacht hat, daß die deutschen Börsen keine echte hoheitliche Vertretung im internationalen Rahmen haben, wird für diesen Bereich nachgedacht. Dabei müßte jedem klar sein, daß Computerbörsen und neue Handelsformen und Börsenprodukte nach einer neuen börsenaufsichtsrechtlichen Struktur verlangen. Wer zudem den Bürokratismus der staatlichen Aufsicht in den USA, also den der SEC, aber auch den vielleicht noch größeren Bürokratismus der privat organisierten Aufsicht in London kennt, hätte längst mit breiten Diskussionen anfangen müssen, um in dieser für das Vertrauen der Anleger, gerade auch der internationalen Anleger, wichtigen Frage zu Ergebnissen zu kommen.Eine bundesweite Rahmenregelung, ein Bundesaufsichtsamt, liegt auf der Hand, aber diese muß der föderativen Struktur gerecht werden. Bisher kommt aber von Ihrer Seite da nichts. Statt dessen warten Sie ab, bis die Großbanken, oder besser: bis die eine Großbank das Börsenwesen nach ihrem Gusto neu geordnet hat, obwohl die Aufsicht, auch die des Landes Hessen, gar nicht mithalten kann, trotz der hohen Qualität der allerdings zu wenigen Mitarbeiter dieses Referats im hessischen Wirtschaftsministerium. Praktisch kontrollieren die zu Kontrollierenden in diesem System sich selbst. Ich versichere Ihnen, das ist zusammen mit der freiwilligen Insider-Regelung ein wesentlicherer Nachteil für die deutschen Börsen als das, was Sie jetzt als Steuergeschenk undifferenziert über den Tisch reichen.Zu diesem Problemkreis gehört auch die Frage des Zugangs zu den Börsen. Wenn Sie sich um den Wettbewerb verdient machen wollen, sollten Sie den gegenwärtigen inoffiziellen, aber wirksamen „closed shop " aufbrechen.
— Herr Kollege, es ist äußerst qualifiziert, daß Sie, wenn ich über die Börsenstruktur rede, dann solche Bemerkungen machen. Das erklärt ein bißchen Ihr Lehrbuchwissen. Vielleicht sollten Sie doch einmal Lehrbücher über Börsen, Märkte und ähnliches lesen. Ich kann Ihnen hier einmal ein paar Titel nennen.Wer den Finanzplatz Deutschland wirklich stärken will, muß sich der Strukturen annehmen, die es verursacht haben, daß die Börsen in der Bundesrepublik ihre Funktion nicht so wahrnehmen, wie sie es in anderen Kapitalmärkten tun. Wer glaubt, dies sei im wesentlichen und allein eine Frage des Ob und Wie der Besteuerung von Börsenumsätzen, täuscht sich, aber auch das geneigte Publikum täuscht er. Das sachkundige Publikum — das kann ich Ihnen versichern — wird dagegen auf weitere, tatsächlichere Reformtaten warten.
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Dr. WieczorekSo folgen Sie denn auch nicht der Vernunft, sondern der Forderung der Lobby, wenn Sie den Kapitalanlegern, oder besser: den Banken, die die Abwicklung der Geschäfte betreiben, ein Steuergeschenk in Höhe von 1,6 Milliarden DM machen. Sie setzen damit ohne Not Ihre Politik zugunsten der Betuchten fort. Es ist für die Koalition bezeichnend, daß in derselben Sitzung unseres Finanzausschusses, in der dieses Steuergeschenk für die kleine Zahl von Begünstigten erfolgt ist, der Antrag der SPD-Fraktion auf Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages von der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt wurde.
Für die Beseitigung des Weihnachtsgeldskandals ist angeblich kein Geld vorhanden, für diese Spielereien ist aber Geld vorhanden.
— Dies ist ein spielerischer Umgang mit Steuern, Herr Kollege, weil Sie es nicht seriös gemacht haben, sondern ganz schnell der Lobby gefolgt sind, statt zu fragen: Was wäre nötig?
Sie wollen es nicht hören, aber ich sage es Ihnen noch dreimal: Dies war ein leichtfertiger Umgang mit Haushaltsmitteln, und zwar ohne zu differenzieren und zu sehen: Was ist nötig und was nicht?Die SPD-Fraktion beantragt, über die Abschaffung der Kapitalverkehrssteuern in zweiter Lesung getrennt abzustimmen. Sie lehnt diesen Teil, den Steuersenkungsteil des Finanzmarktförderungesetzes, ab. Den Investmentteil des Gesetzes beurteilen wir im großen und ganzen positiv. Wir bedauern es aber, daß Sie den Anlegerschutz bei den Ausschußberatungen nicht unerheblich verschlechtert haben. Unseren Antrag, die Grenze für den Abschluß von Optionsgeschäften und für Finanzterminkontrakte bei 10 v. H. des Sondervermögens, wie im Regierungsentwurf ursprünglich vorgesehen, zu belassen, haben Sie leider abgelehnt. Bei den Stillhaltergeschäften hatte der Präsident des Bundesaufsichtsamts für das Kreditwesen im Hearing ein hohes nicht einschätzbares Risiko festgestellt. Trotzdem haben Sie den Antrag der SPD-Fraktion für die Veräußerung von Verkaufsoptionen, also für das Stillhalten in Geld, eine stärkere zusätzliche Beschränkung einzuführen, nicht nur abgelehnt, sondern die im Entwurf enthaltene Regelung noch spekulationsfreudig und -freundlich erweitert.Die vom Finanzausschuß empfohlene Entschließung zu den Geldmarktfonds lehnen wir ab. Wir teilen in diesem Punkt weitgehend die Auffassung der Bundesbank. Die kreditpolitische Einflußnahme der Bundesbank würde durch Geldmarktfonds beeinträchtigt, was nicht im Interesse der Geldwertstabilität liegen kann. Außerdem zeigen Erfahrungen in den USA, daß diese Fonds das volkswirtschaftliche Zinsniveau insgesamt nach oben treiben. Dies hat nämlich nicht nur höhere Zinsen für Anleger, sondern auch für Kreditnehmer zur Folge. Ich sage das für die, die davon begeistert sind. Ich stelle mit Freude fest, Herr Kollege Faltlhauser, in dem Punkt können wir uns vielleicht näherkommen.Ich sage es noch einmal: Diese Fonds treiben das volkswirtschaftliche Zinsniveau insgesamt nach oben und damit die Kreditkosten kleiner und mittlerer, nicht emissionsfähiger Unternehmen, aber auch die der Konsumenten.Wie die Praxis in den Vereinigten Staaten außerdem gezeigt hat, legen Geldmarktfonds ihre Mittel im Performance-Wettbewerb, in ihrem Wettbewerb untereinander, durchaus auch in Papieren minderer Bonität an, so daß eine Zulassung solcher Fonds Gefahren für den Anlegerschutz mit sich bringen könnte. Einen Einlegerschutz gibt es hier nämlich nicht, obwohl die meisten Kunden meinen, es gäbe ihn. Ein böses Erwachen steht da bevor.Zudem ist zu befürchten, daß der Bund — und dieses halte ich auch für ein sehr triftiges Argument; es ist übrigens ein Argument, das Staatssekretär Tietmeyer immer gebraucht hat — , damit überhaupt genügend Material zur Anlage der Gelder auf den Markt kommt, politisch gezwungen wird — und Sie sind ja so freundlich zu den Interessen und Interessenten der Finanzbranche —, sich künftig mit kurzlaufenden, kurzfristigen Papieren zu verschulden. Dies wäre sicherlich eine abzulehnende Verschlechterung der Fristenstruktur der Bundesschuld.Die SPD-Fraktion kann dem Finanzmarktförderungsgesetz daher nicht zustimmen. Da wir aber den Investmentteil des Gesetzes begrüßen, werden wir uns, obwohl wir die totale Abschaffung der Kapitalverkehrsteuern ablehnen, dann bei der dritten Lesung der Stimme enthalten müssen. Wir können nicht zu dem einen Teil ja sagen und dem anderen nein. Das geht nur in der zweiten Lesung. Wir werden uns also in der dritten Lesung enthalten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für Finanzpolitiker ist das heute ein denkwürdiger Tag.
Es ist nämlich das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, daß drei Steuerarten ersatzlos gestrichen werden.
Zumindest als Finanzpolitiker, Herr Kollege Wieczorek, sollten Sie sich über den Steuervereinfachungseffekt freuen, der damit erzielt wird, wenn Sie auch vielleicht in der Sache in dem einen oder anderen Punkt anderer Meinung sind. Ich meine also, das ist ein wichtiger Tag. Der Finanzminister verzichtet auf eine große Summe Einnahmen zugunsten der Praxis, des Finanzplatzes, der Wirtschaft.
Die Abschaffung der Börsenumsatzsteuer wird den Finanzplatz der Bundesrepublik stärken, die Abschaffung der Gesellschaftsteuer wird die Eigenkapitalbildung in der Bundesrepublik verbessern, und die Ab-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14719
Dr. Solmsschaffung der Wechselsteuer war seit langem überfällig, weil sie eine äußerst verwaltungsaufwendige Steuer ist, ohne einen großen Steuerertrag zu erzielen. Zumindest die Abschaffung der Börsenumsatzsteuer ist also ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Finanzmarkt- und Kapitalmarktbedingungen in der Bundesrepublik. Der nächste Schritt folgt bereits morgen mit der Öffnung der Terminbörse in Frankfurt. Dieses alles zusammen wird dazu führen, daß der Finanzplatz Deutschland — dabei handelt es sich in Wirklichkeit um den Finanzplatz Frankfurt — im internationalen Wettbewerb gestärkt wird und daß wir die Chance haben, daß aus Frankfurt der große zentrale kontinentale Finanzplatz in Europa wird.
Diese positive Entwicklung darf jedoch nicht durch unüberlegte und voreilige Spekulationen über eine mögliche Verlagerung des Finanzplatzes und der Deutschen Bundesbank von Frankfurt nach Berlin gestört werden. Ich glaube, Überlegungen in dieser Hinsicht sind voreilig und können die Entwicklung in Frankfurt behindern. Es besteht keine Veranlassung, den Ausbau Frankfurts zu einem europäischen und interkontinentalen Finanzplatz zu stoppen.Die Deutsche Bundesbank wird ihren Aufgaben auch in Frankfurt gerecht werden können, wenn es einmal zu einer Hauptstadt Berlin kommen sollte. Schließlich hat es bisher den Finanzplatz Frankfurt nicht gestört, daß die Regierungshauptstadt Bonn heißt und nicht Frankfurt, genausowenig wie es als hinderlich empfunden wird, daß der amerikanische Finanzplatz New York und nicht Washington ist. Die Deutsche Bundesbank sieht das selbst so, wenn sie betont, daß sich ihre Unabhängigkeit schließlich nicht an ihrem Sitz dokumentiere, sondern an den ihr zur Verfügung stehenden währungs- und geldpolitischen Instrumenten.Die in Frankfurt gewachsene Finanzplatzstruktur muß erhalten bleiben. Darüber hinaus müssen die dort tätigen Institute Klarheit haben, natürlich auch die Arbeitnehmer; denn in Frankfurt sind nahezu 50 000 Menschen im Bereich der finanzwirtschaftlichen Dienstleistungen beschäftigt. Diese brauchen eine ungestörte Entwicklung, damit es in Zukunft noch mehr Arbeitnehmer sind, die dort Beschäftigung finden.Im Gegenteil: Es sollte alles darauf gesetzt werden, daß Frankfurt den Zuschlag für den Sitz der europäischen Zentralbank erhält. In dieser Meinung stimme ich, glaube ich, mit dem Oberbürgermeister von Frankfurt voll überein. Denn jedenfalls öffentlich hat er sich immer entsprechend geäußert. Was er intern in SPD-Fachzirkeln sagt, ist eine andere Sache.
— Aber die Börsenumsatzsteuer ist natürlich ein wichtiges Element in dieser Politik. Der Vergleich mit London, Herr Kollege Wieczorek, zieht nicht, da die Umsätze, die Ausländer in London tätigen, von der dortigen Stamp Duty befreit sind.In einem Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom vergangenen Wochenende wird behauptet, die Investmentfonds-Gesellschaften aus der Bundesrepublik Deutschland dürften sich wegen fehlender gesetzlicher Regelungen nicht am Handel an der Terminbörse beteiligen. Die Branche rechne damit, daß die Fonds auf keinen Fall vor Anfang 1991 mit Optionen und Futures handeln dürften. Das, meine Damen und Herren, ist Unsinn. Mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs zum Investment-RichtlinieGesetz werden die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Teilnahme der Kapitalanlagegesellschaften an der Deutschen Terminbörse geschaffen. Der Finanzausschuß hat das Gesetzgebungsvorhaben bereits Anfang Dezember des vergangenen Jahres abgeschlossen. Für eine Verunsicherung der Investmentbranche besteht also keinerlei Veranlassung. Heute wird das Gesetz in dritter Lesung in diesem Hause verabschiedet.
Das Gesetz legt eindeutig fest, welche Geschäfte die Kapitalanlagegesellschaften tätigen dürfen und in welchem Umfang sie sich an Wertpapier- und Devisenoptionsgeschäften, an Devisenkurssicherungsgeschäften, Finanzterminkontrakten und Optionen auf Finanzterminkontrakte beteiligen können. Im parlamentarischen Verfahren haben wir den Umfang der zulässigen Geschäfte gegenüber dem sehr vorsichtigen Regierungsentwurf verbessert. Auf die Einzelheiten möchte ich hier nicht hinweisen. Denn sie sind wohl nur für die Spezialisten von größerem Interesse.Ich will auf den Punkt Geldmarktfonds eingehen. Herr Kollege Wieczorek, Sie sollten eigentlich zufrieden sein, daß wir den Bedenken der Bundesbank, aber auch den von Ihnen im „Handelsblatt" geäußerten Bedenken gefolgt sind und zunächst, obwohl wir anderer Meinung waren, auf die Einführung von Geldmarktfonds verzichtet haben. Ich denke, daß wir diese Diskussion aber weiter betreiben müssen, weil im Rahmen des einheitlichen europäischen Marktes gleiche Bedingungen an allen Plätzen in Europa geschaffen werden müssen.Es ist erfreulich, daß sich der Bundesfinanzminister vorgenommen hat, eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen des Finanzplaztes Bundesrepublik Deutschland zu erarbeiten, um weitere Deregulierungsschritte für die kommende Legislaturperiode vorzubereiten. Ich muß auch darauf hinweisen, daß die große Börsenrechtsreform noch nicht stattgefunden hat. Sie liegt vor uns. Dort werden die wichtigen Fragen, die Sie, Herr Wieczorek, angesprochen haben — beispielsweise die Frage der Insider-Kontrolle, der Börsenaufsicht, die Frage der länderweisen Überwachung der Börsen, die Frage eines eventuell zu schaffenden Aufsichtsamtes — geprüft und entschieden werden müssen. Ich glaube allerdings, daß es heute zu früh ist, darüber zu entscheiden. Ich hoffe, daß es dann auf dem Markt zu einer Klärung der im Moment sehr unterschiedlichen Meinungen und Prozesse gekommen ist. Denn gegenwärtig versucht der eine den anderen über den Tisch zu ziehen und die Bedingungen nach seinen Interessen und nach seinen Gewinnmöglichkeiten zu gestalten. Das dürfen wir auf Dauer nicht
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Dr. Solmszulassen. Damit müssen wir uns in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen.Dazu sind wir bereit. Aber das darf nicht heißen, daß der grundsätzliche Prozeß der Deregulierung beendet oder in die andere Richtung verkehrt werden dürfte.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hüser — ohne „Dr. ". Aber das kommt vielleicht noch.
Das hätte ich vielleicht einmal gern, Frau Präsidentin, aber da muß ich mich noch etwas gedulden.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir die Debatte so anhöre und hier in den Saal gucke, hätte ich vielleicht einen interessanten Vorschlag für die Parlamentsreform: daß wir solche Sachen abschließend im Ausschuß beraten. Dann könnten wir uns diese Insider-Debatte ersparen.
Denn es sind ja wirklich fast nur Finanzausschuß-Mitglieder hier.Der vorliegende Gesetzentwurf zur Finanzmarktförderung erfüllt den Banken einen Herzenswunsch: die Abschaffung der Kapitalverkehrsteuern. Wir wissen ja alle, daß die Banken in den vergangenen Jahren keine Gelegenheit ausgelassen haben, um die angebliche „Finanzrepression", die von dieser Steuer ausgehe, anzuprangern und ihre Abschaffung zu fordern.Interessant sind die vom Finanzministerium vorgelegten Steuerausfallschätzungen. Während in den letzten Jahren ein Gesetz nach dem anderen hier verabschiedet worden ist, um die Börsenumsätze zu steigern, geht die Bundesregierung anscheinend davon aus, daß diese Umsatzzahlen in den nächsten Jahren sinken werden, und erwartet dementsprechend, daß die Börsenumsatzsteuereinnahmen 1991 unter den Einnahmen von 1989 liegen würden. Dementsprechend wird dann natürlich auch der finanzielle Verlust an Steuereinnahmen durch die Abschaffung der Kapitalverkehrsteuern systematisch unterschätzt.
1989 war eine erhebliche Steigerung der Einnahmen aus der Börsenumsatzsteuer gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Es ist deshalb plausibel, anzunehmen, daß die realen Einnahmeverluste um einige hundert Millionen über dem von der Bundesregierung erwarteten Betrag von 800 Millionen DM liegen werden. In der Beschlußempfehlung des Finanzausschusses ist sogar von nur 775 Millionen DM die Rede. Ganz offensichtlich soll die finanzielle Bedeutung der Börsenumsatzsteuer heruntergespielt werden, um sie als Bagatellsteuer darzustellen und die öffentliche Akzeptanz für eine Abschaffung dadurch zu erhöhen. Dies ist eine unlautere Methode.
In den vorliegenden Gesetzentwürfen wird immer wieder betont, daß es um die Stärkung des Finanzplatzes Deutschland und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit gehe.Wenn davon gesprochen werden kann, daß die bundesdeutschen Banken nicht hinreichend wettbewerbsfähig sind, so liegt das, denke ich, in erster Linie daran, daß es in der bundesdeutschen Landschaft keinen Wettbewerb im Bankenbereich gibt. Vor allem im Wertpapiergeschäft dominieren die Großbanken das Geschäft. Sie haben große Vorteile bei der Beschaffung von Insider-Informationen über die börsennotierten Aktiengesellschaften. Die Börsenmakler beschwerten sich auf der Anhörung des Finanzausschusses zur Terminbörse lautstark darüber, daß die Großbanken die interessanten Großaufträge durch unfaire Verhaltensweisen unter sich verteilen.Ähnliche Beschwerden waren vor kurzem auch im „Handelsblatt" von einer Expertin aus Großbritannien zu hören, die als Analystin für eine Investmentbank in London arbeitet. Gewinnzahlen bundesdeutscher Konzerne seien den Großbanken systematisch früher zugänglich als den sogenannten Outsidern, die die Angaben über außerordentliche Erträge und Aufwendungen erst mit erheblicher Zeitverzögerung durch die DVFA, die Deutsche Vereinigung für Finanzanalysten und Anlageberatung, bekommen.Kurz gesagt: Die Macht der Banken und die Dominanz der Großbanken sind eigentlich das Hauptproblem, das durch grundlegende Reformen angegangen werden muß. Wir haben hierzu einen Antrag vorgelegt und werden auch auf der noch bevorstehenden Anhörung im Wirtschaftsausschuß darauf drängen, daß die Macht der Banken in alle Finanzmarktbereiche hinein beleuchtet und nicht nur als „Sonderproblem", wie jetzt im jüngsten Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, in eine Ecke gestellt wird.Immerhin scheint zumindest Herrn Lambsdorff klar zu sein, daß die Dominanz weniger Banken und nicht etwa die Börsenumsatzsteuer den eigentlichen Mißstand darstellt. Allerdings sind den verbal-radikalen Äußerungen bisher leider noch keine Taten gefolgt.Das Investment-Richtlinie-Gesetz, das hier auch zur Beratung und zur Verabschiedung ansteht, zielt darauf ab, die Palette der zulässigen Papiere bei der Zusammenstellung von Kapitalfonds zu erweitern. In Zukunft können Kapitalanlagegesellschaften — von denen die größten übrigens auch wieder den Großbanken gehören — auch Optionen und andere Terminpapiere in die Portfolios der Publikums- und Spezialfonds aufnehmen.Ob die Sicherheit der Fonds durch diese neuen Möglichkeiten steigt oder sinkt, mag einmal dahingestellt sein. Klar ist jedoch, denke ich, daß die Beurteilung dieser Fragen äußerst schwierig ist und viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl erfordert. Die Anhörung im Finanzausschuß hat deutlich gemacht, daß der Bundestag von den Banken zum Popanz gemacht wird.Der Sachverstand für diese Spezialfragen konzentriert sich bei den Banken, und die Aufsichtsbehörden fühlen sich hier schlicht überfordert. Unsere Forderung ist deshalb die sofortige Einrichtung einer staat-
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Hüserlichen Finanzmarktaufsicht, ähnlich wie die der SEC, der Securities Exchange Commission, in den USA. Jeder internationale Finanzplatz verfügt über eine solche Behörde. Es ist lächerlich, ausgerechnet in der Bundesrepublik darauf zu verzichten und auf das „Selbstverwaltungsrecht" der Banken und auf ihr „Verantwortungsgefühl" zu setzen. Dies hat, denke ich, in den letzten Jahren eigentlich immer zu Nachteilen für Kunden geführt.Immerhin geht es auch um Vermögensanlagen von Stiftungen, von Betriebskrankenkassen, von Fonds zur privaten und kollektiven Alterssicherung, von Geldern von gemeinnützigen Vereinen und nicht zuletzt von individuellen Lebensersparnissen. Viele der Betroffenen haben nicht die Möglichkeit, selbst nachzuprüfen, ob ihre Gelder verantwortungsvoll verwaltet werden. Sie sind deshalb darauf angewiesen, daß es eine von den Banken unabhängige Instanz gibt, die über die Anlagestrategien wacht und auch flexibel reagieren kann, wenn sich herausstellt, daß die Sicherheit nicht gewährleistet ist.Zusammenfassend kann ich feststellen, daß wir die Abschaffung der Börsenumsatzsteuer bzw. der Kapitalverkehrsteuern ablehnen. Wir fordern die Einrichtung einer staatlichen Börsenaufsicht. Sachverhalte, wie sie hier im vorliegenden Investment-RichtlinieGesetz geregelt werden, sollten dann von dieser unabhängigen Aufsicht geprüft und überwacht werden.
Meine Damen und Herren, daß Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Grünewald.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Unterwegs der Beratungen des sogenannten InvestmentRichtlinie-Gesetzes haben die Koalitionsfraktionen den ersatzlosen Fortfall der Kapitalverkehrsteuern beschlossen. Wir haben eben erst gehört, daß Sie von der SPD sich enthalten wollen. Sie wollen also bei uns Trittbrett fahren, um den sonst zu erwartenden Ärger mit Herrn Hauff in erträglichen Grenzen zu halten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Grünewald, würden Sie mir zubilligen, daß ich ausdrücklich gesagt habe, daß wir in der zweiten Lesung ablehnen und uns lediglich beim Gesamtgesetz enthalten, weil wir dem Teil, der eigentlich heute nur zur Debatte stehen sollte, dem Investment-Richtlinie-Gesetz, nämlich zustimmen.
Ja, dem stimme ich gerne zu. Aber das ändert nichts an meiner Feststellung des Trittbrettfahrens.
— Sie sind sonst ein so intelligenter und liebenswerter Kollege. Ich glaube, Sie haben das schon verstanden.Also: Die beabsichtigte Abschaffung der Steuern auf den Kapitalverkehr ist ein weiterer richtiger Schritt auf dem Wege einer umfassenden Reform der Unternehmensbesteuerung,
wie sie die Bundesregierung für die nächste Legislaturperiode — sozusagen als vierte Stufe der großen Steuerreform — angekündigt hat.
Eine solche Reform ist auch dringend notwendig zum Erhalt und zur Neuschaffung von Arbeitsplätzen im Bankgewerbe. Sie, Herr Solms, haben gerade von allein 50 000 Arbeitsplätzen in Frankfurt gesprochen. Denn — und das wird immer verkannt — eine Reform der Unternehmensbesteuerung ist im Kern doch nichts anderes als eine Reform der Besteuerung von Arbeitsplätzen.Die Kapitalverkehrsteuern sind in hohem Maße ineffizient. Gemessen an ihrem fiskalischen Nutzen sind ihre Nachteile für Wettbewerb, Wachstum und Arbeitsplätze besonders groß. Mittel- und langfristig ist deshalb zu erwarten, daß ein Autokonsolidierungseffekt eintreten wird und die vom Finanzministerium errechneten Steuerausfälle geringer sein werden, sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit — nach den Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben — sogar in Steuermehreinnahmen umkehren werden. Deswegen müssen wir Ihre Bemerkung von dem leichtfertigen Umgang mit Steuergeldern energisch zurückweisen.Die Bundesregierung hatte diese Maßnahmen bereits seit geraumer Zeit angekündigt, so daß das keineswegs etwas Neues ist, wie da eben gesagt wurde, aber richtigerweise von den Fortschritten bei der Haushaltskonsolidierung abhängig gemacht. Die von Bundesfinanzminister Theo Waigel vor wenigen Tagen vorgelegten Abschlußzahlen für den Bundeshaushalt 1989 weisen die Nettoneuverschuldung mit 19,2 Milliarden DM aus. Dies ist die niedrigste Nettokreditaufnahme seit 15 Jahren. Der Zeitpunkt zum stufenweisen Abbau der in Rede stehenden Bundessteuern ist damit auch unter haushaltspolitischen Aspekten richtig gewählt.Die Kreditwirtschaft beklagt seit Jahren, daß die Börsenumsatzsteuer erhebliche Umsätze an ausländische Finanzplätze ohne Börsenumsatzsteuer oder mit niedrigeren Steuersätzen als im Inland bzw. mit Sonderregelungen für Wertpapiere in ausländischer Währung abdrängt. Auch ist zu besorgen, daß bei einem weiteren Festhalten an der Börsenumsatzsteuer, vom Bundesbankpräsidenten übrigens als „Förderprämie" für andere ausländische Finanzplätze kritisiert, die bereits nach Luxemburg oder London verlagerten Umsätze nur sehr schwer zu repatriieren sein werden.Durch den zukünftigen Verzicht des Bundes auf die Börsenumsatzsteuer wird der deutsche Kapitalmarkt von einer für die ganze Volkswirtschaft schädlichen Fessel befreit. Die Politik setzt so ein Signal, das die
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14722 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Dr. Grünewaldgemeinsamen Bemühungen unterstreicht, den Finanzplatz Bundesrepublik international konkurrenzfähiger und attraktiver zu machen.Mit der Aufhebung der Gesellschaftsteuer soll ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert beseitigt werden, als es für Gewinne der Kapitalgesellschaften überhaupt noch keine Einkommen- oder Körperschaftsteuer gab. Diese Steuer steht im Widerspruch zu dem wirtschaftspolitischen Ziel, die Risiko- bzw. Eigenkapitalausstattung der deutschen Wirtschaft zu verbessern und hierdurch günstige Voraussetzungen für ein angemessenes Wirtschaftswachstum zu schaffen. Denn dieses wichtige Anliegen wird — das ist übrigens auch die Meinung des Bundesrates — durch die Gesellschaftsteuer konterkariert. Die beabsichtigte Aufhebung wird darüber hinaus den nicht unerheblichen Verwaltungsaufwand vermindern und nachhaltig zur Steuervereinfachung beitragen.Die Aufhebung der Wechselsteuer schließlich wird gleichfalls ganz erhebliche Verwaltungsvereinfachungen bringen. Ihre Einbeziehung in die Empfehlungen des Finanzausschusses geht auf Anregungen der Wirtschaft zurück. Der DIHT hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, daß der Wechsel beachtliches Gewicht bei der Lager- und Absatzfinanzierung habe und bemängelt, daß dieses Finanzierungsinstrument durch die bestehende „Bagatellsteuer" behindert werde. Die Abschaffung der Wechselsteuer wird primär im mittelständischen Bereich die Finanzierungsmöglichkeiten verbessern. Damit kann der Wechsel als Kreditmittel insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen wieder eine besondere Bedeutung gewinnen.Mit dem Finanzmarktförderungsgesetz ist ein weiteres wichtiges Etappenziel auf dem Wege der Verbesserung von Niveau und Struktur der Besteuerung deutscher Unternehmen und damit deutscher Arbeitsplätze erreicht. In einem in diesen Tagen veröffentlichten Bulletin einer namhaften deutschen Bank wird der Bundesregierung unter Hinweis auf die Vorstellungen von Jean Baptiste Colbert, Finanzminister unter Ludwig XIV., über die Einhebung der Steuern bescheinigt, daß sie mit ihrer Steuerpolitik in den 80er Jahren zufrieden sein könne. Nach Colberts Verständnis von der Steuererhebung ist „die Gans so zu rupfen, daß man möglichst viele Federn mit möglichst wenig Gezische bekommt".Mit meiner Fraktion bin ich überzeugt, daß dieses hier und heute zu verabschiedende Gesetz den richtigen Vorstellungen Colberts vollinhaltlich entspricht.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Voss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Finanzmarktförderungsgesetz wird das Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften und das Auslandinvestment-Gesetz novelliert sowie die Börsenumsatzsteuer, die Gesellschaftsteuer und die Wechselsteuer abgeschafft. Dies soll die Leistungsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland verbessern.Herr Kollege Wieczorek, wir sind im Gegensatz zu Ihnen der Meinung, daß das eine adäquate Maßnahme und kein leichtfertiger Umgang mit Steuergeldern ist.
Die internationale Entwicklung der Finanzmärkte zeichnet sich durch einen weltumspannenden Wertpapierhandel aus. Das Kapital fließt ungebunden zu den besten Anlageplätzen. Moderne Computersysteme ermöglichen es, die zahlreichen Finanzinnovationen zu nutzen. Aussichten und Erwartungen zum europäischen Binnenmarkt tragen zu einem verstärkten Wettbewerb zwischen den Finanzplätzen bei.Der Bundesgesetzgeber hat auf diese gestiegenen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Finanzmärkte bereits mit zwei Novellierungen des Börsengesetzes reagiert. Sie bilden die Rahmenbedingungen für weitgehende Veränderungen des deutschen Börsenwesens. Die Eröffnung der Deutschen Terminbörse in Frankfurt wird dadurch in dieser Woche möglich.Darüber hinaus wird diskutiert, automatisierte Handelssysteme, die in Konkurrenz zu den herkömmlichen Präsenzbörsen treten würden, einzuführen. Der vorliegende Gesetzentwurf verbessert die Investment- und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen. Auch dies wird die Attraktivität des Finanzplatzes Deutschland stärken.Mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften und des Auslandinvestment-Gesetzes wird in Umsetzung einer EG-Richtlinie über gemeinsame Anlagen in Wertpapieren ein einheitlicher Schutzstandard für Anlagen in Wertpapierfonds sichergestellt. Die in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ansässigen Investmentgesellschaften werden zukünftig Anteile an Wertpapiervermögen grenzüberschreitend in allen EG-Ländern vertreiben können, wobei das Herkunftsland für die Aufsicht zuständig ist. Die nach der Richtlinie zulässigen Anlagemöglichkeiten sollen den deutschen Kapitalanlagegesellschaften im verstärkten Wettbewerb des europäischen Binnenmarkts eine gute Ausgangsposition geben. Für die deutschen Wertpapierfonds ergibt sich eine beträchtliche Ausweitung der Anlagemöglichkeiten. Der Erwerb von Schuldscheindarlehen, ausländischen Wertpapieren aus Neuemissionen und in bestimmtem Umfang von Geldmarktpapieren wird zugelassen.Außerdem wird es für die Fondsvermögen möglich, Optionsgeschäfte und Finanzterminkontrakte abzuschließen. Dies eröffnet auch kleineren Anlegern den indirekten Zugang zu diesen neuen Finanzinstrumenten.
Gleichzeitig sind für die deutschen Wertpapierfonds damit Absicherungsmöglichkeiten gegen Kursverluste eröffnet. Für die Deutsche Terminbörse können hieraus zusätzliche Impulse erwartet werden.Im Gesetzgebungsverfahren ist intensiv erörtert worden, auch Geldmarktfonds zuzulassen. Geld- und kapitalmarktpolitische Bedenken insbesondere der Deutschen Bundesbank haben im Ergebnis dazu bei-
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Parl. Staatssekretär Dr. Vossgetragen, diesen Schritt jetzt nicht zu vollziehen. Im Rahmen einer Gesamtanalyse des Finanzplatzes Deutschland soll in der kommenden Legislaturperiode geprüft werden, ob Geldmarktfonds zum 1. Januar 1993 eingeführt werden können. Wettbewerbsnachteile entstehen den deutschen Kapitalanlagegesellschaften bis dahin nicht — das haben die Kollegen hier bereits ausgeführt — , da schon der vorliegende Gesetzentwurf den Wertpapierfonds einen hohen Anteil von Geldmarktpapieren gestattet.Hervorzuheben ist ferner, daß mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Börsenumsatzsteuer, die Gesellschaftsteuer und die Wechselsteuer abgeschafft werden. Damit setzen die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung ein deutliches Zeichen für den Finanzplatz Deutschland. Zugleich leisten sie hiermit einen maßgeblichen Beitrag zur Steuervereinfachung und zur Bekämpfung der vielgeschmähten Normenflut, meine Damen und Herren.
Die Börsenumsatzsteuer ist aus dem Reichsstempelgesetz des Jahres 1881 hervorgegangen. Sie wird nur noch dieses Jahr den Handel mit Schuldverschreibungen und Dividendenwerten in der Bundesrepublik Deutschland belasten. Damit wird einer Tendenz zur Verlagerung des Handels mit Wertpapieren ins Ausland, wo es vielfach entweder' keine Börsenumsatzsteuer gibt oder zum Teil umfangreiche Befreiungstatbestände für diese Steuer eingeführt sind, entgegengewirkt.Die Gesellschaftsteuer besteht seit 1922, ist also fast 70 Jahre alt. Sie belastet die Zuführung von Kapital an Kapitalgesellschaften aller Rechtsformen. Ihr Wegfall ab Januar 1992 wird die Eigenkapitalausstattung deutscher Kapitalgesellschaften deutlich verbessern helfen. Die hohen Fremdfinanzierungsquoten deutscher Unternehmen dürften zurückgehen. Insbesondere mittelständische Betriebe sollen auf diese Weise gestärkt werden.
— Das haben wir ja schon häufiger erlebt, Herr Kollege; das ist richtig.Die Wurzeln der Wechselsteuer reichen bis ins 17. Jahrhundert. Sie hat wegen ihrer besonderen Art der Erhebung durch das Aufkleben von Wechselsteuermarken hohen Verwaltungsaufwand zur Folge, der in keinem rechten Verhältnis mehr zum Steueraufkommen steht. Durch sie wird zudem einseitig eine bestimmte Form der Kreditaufnahme belastet. Ihr Wegfall ab Januar 1992 begünstigt vorrangig die mittelständische Wirtschaft, die sich in besonderem Maße auch heute noch des Inlandswechsels als Finanzierungsinstruments bedient.Mit der Abschaffung aller drei Steuern werden rund 100 Gesetzesparagraphen und eine etwa gleich große Zahl von Verwaltungsregelungen überflüssig.
Das ist kein kleiner Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung, meine Damen und Herren.
Zahlreiche langwierige Rechtsstreitigkeiten, insbesondere im Bereich der Gesellschaftsteuer, können künftig vermieden werden. Die Bundesländer werden mittelfristig in einem schwierigen Sonderbereich der Besteuerung entlastet. Nach Ablauf einer Übergangszeit können voraussichtlich über 300 Mitarbeiter der Landesfinanzverwaltungen mit anderen Aufgaben betraut werden.
Wir sind sicher, daß sie in diesen anderen Aufgaben besser eingesetzt sind.Die Entlastungseffekte für Kreditinstitute und Wirtschaftsunternehmen sind eher noch höher zu veranschlagen.Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, bei Würdigung aller dieser Gründe dem Gesetzentwurf in der von den Ausschüssen vorgeschlagenen Fassung zuzustimmen.Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b.Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6262 unter Nr. 1, den Entwurf eines InvestmentRichtlinie-Gesetzes und den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Kapitalverkehrsteuergesetzes zu einem Gesetzentwurf zu verbinden und diesen mit der Bezeichnung „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Finanzmärkte —Finanzmarktförderungsgesetz" in der Ausschußfassung anzunehmen.Die Fraktion der SPD verlangt getrennte Abstimmung; dem folgen wir hiermit: Ich rufe die Art. 1 bis 3 auf. Wer den Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Gegenstimme sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen.Ich rufe Art. 4 auf. Wer für den Art. 4 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Artikel ist mit Mehrheit angenommen.Ich rufe Art. 5 auf. Wer stimmt dafür? — Gegenstimmen? — Bei einer Gegenstimme ist der Art. 5 mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe Art. 6 Abs. 1 auf. Wer stimmt für die Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Gegenstimme ist der Art. 6 Abs. 1 angenommen.Ich rufe Art. 6 Abs. 2 auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Er ist mit Mehrheit angenommen.
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Vizepräsidentin RengerEs ist noch über Einleitung und Überschrift abzustimmen. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einleitung und Überschrift sind mit den Stimmen der Koalition angenommen. — Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD und einer Gegenstimme der GRÜNEN ist der Gesetzentwurf mit Mehrheit angenommen.Meine Damen und Herren, es ist noch über eine weitere Beschlußempfehlung des Finanzausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6262 unter Nr. 2 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt dafür? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Meine Damen und Herren, der Tagesordnungspunkt 5 wurde abgesetzt.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 26. Oktober 1979 fiber den physischen Schutz von Kernmaterial— Drucksache 11/3990 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 11/6218 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Friedrich SchützFrau Dr. SegallFrau Wollny
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als zehn Jahre nach Abschluß der Verhandlungen stimmen wir heute dem Übereinkommen über den physischen Schutz von Kernmaterial zu. Vielleicht kann uns der Herr Staatssekretär nachher erklären, weshalb es eine solche zeitliche Verzögerung gab. Ich will mich mit diesem Aspekt nicht näher befassen, weil wir im Grunde genommen davon ausgehen können, daß die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, zumindest was den physischen Schutz von Kernmaterial betrifft, in Ordnung sind.
— Herr Kollege Reuter, Sie haben das doch im Untersuchungsausschuß länger mit untersucht. — Wir haben national längst ein integriertes Sicherungs- und Schutzkonzept entwickelt, das bauliche, sonstige technische, personelle und organisatorische Maßnahmen miteinander verbindet.Grundlage ist noch heute ein Beschluß der Innenministerkonferenz aus dem Jahre 1977. — Herr Kollege Reuter, wenn Sie nachher an dem Beschluß etwas auszusetzen haben, teilen Sie es einmal den SPD-Innenministern mit. —
Nach diesem Beschluß muß der Betreiber einer Anlage schon mit Hilfe von technischen Barrieren sicherstellen, daß Täter so lange aufgehalten werden, bis die Polizei vor Ort eintrifft. Die neue Vereinbarung sieht bei bestimmtem Material zwar auch Wachdienste vor, die wir schon längst haben; ich möchte aber betonen, daß wir uns auf diese Wachdienste nicht verlassen, also auf sie keinen Kredit nehmen. Gegen den Innentäter gibt es weitere Maßnahmen, die bisher voll und ganz im gewünschten Sinne gewirkt haben. Das Bundeskriminalamt hat uns im Untersuchungsausschuß mitgeteilt, daß kein einziger Fall eines Diebstahls oder einer Abzweigung bekannt wurde.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine abschrekkende Wirkung hat auch die Spaltstoffflußkontrolle der internationalen Organisationen. Trotzdem kann man nicht oft genug betonen, daß physische Sicherheit einerseits und Safeguards andererseits — auf deutsch: Spaltstoffflußkontrolle — zwei ganz verschiedene Dinge sind. Nur weil diese Dinge miteinander vermischt werden, weil sie nicht auseinandergehalten werden, kommt man immer wieder zu Fehlschlüssen.Weil die nachträgliche Kontrolle durch die internationalen Organisationen z. B. mit Meßproblemen zu tun hat, kommt man bei diesen Organisationen — die Frau Kollegin Wollny weiß das auch — etwa zu der Feststellung, daß nur mit einer 80 %igen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, daß eine Menge— etwa 8 kg Plutonium — nicht abhanden gekommen ist. Daraus wird oft fälschlicherweise der Schluß gezogen, daß mit einer 20 %igen Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Menge von spaltbarem Material abhanden gekommen ist. Dies ist deshalb falsch, weil die Wahrscheinlichkeitsrechnung bei den Safeguards nur die Probleme beim Kontrollieren, vor allem beim Messen, berücksichtigt, in keiner Weise aber den vorbeugenden Schutz, den sogenannten physischen Schutz, der die Abzweigungen von Material verhindern muß.Nach nochmaliger Durchsicht der Vernehmungsprotokolle des 2. Untersuchungsausschusses stelle ich fest, daß die Vermutung, daß bisher nichts passiert ist, auch dadurch bestätigt wird, daß die Sachverständigen mit einigen Märchen aufgeräumt haben, die eine Zeitlang durch einige Zeitschriften, aber auch durch einige Informationsdienste gegeistert sind, so mit dem Märchen, wonach der „Bombenstoff" kiloweise in europäischen Hotels angeboten wird. Das Bundeskriminalamt hat uns mitgeteilt: Es wurde sehr vielen angeblichen Fällen im Inland und 16 Fällen im Ausland nachgegangen; aufgedeckt wurde aber nicht eine Szene atomarer Schieber, sondern entdeckt wurden
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14725
Dr. Friedrichschlicht und einfach Betrüger, die sich sozusagen in der gleichen Situation befinden wie ich: Wir haben kein spaltbares Material, aber wir möchten Geld. Bloß verhalten die sich ein bißchen anders als ich.Meine Damen und Herren, wir haben uns vorsorglich auch für den Nachsorgefall vorbereitet. Wenn die bisherigen Kontrollen nicht funktionieren, gibt es ähnlich wie bei den Amerikanern die Organisation NEST auch bei uns eine Organisation, die mit entsprechendem Sachverstand, mit Beratern und mit technischen Geräten ausgestattet ist, um abhanden gekommenes Material wieder aufzuspüren, zu identifizieren und sicherzustellen.Diese Ausführungen zu einem Aspekt der Nutzung der Kernenergie möchte ich mit einigen generellen Bemerkungen schließen. Diejenigen, die die Schlampereien mit schwach radioaktiven Abfällen durch Firmen in Hanau und in Belgien zu einem Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag hochstilisiert und hochgeschrieben haben, haben sich ja ganz schön blamiert.
— Ja, und auch der Herr Hauff, der vor allem von konkreten Beweisen geredet hat. Statt daß die Presse da jetzt etwas vorsichtiger geworden ist, haben wir— ich glaube, in der letzten Woche — im „Spiegel" neue Meldungen über einen sogenannten Atomskandal im Zusammenhang mit Transporten gelesen. Wir haben inzwischen einen Bericht der Bundesregierung, und ich habe den Eindruck, daß es sich hier um einen besonders schlecht recherchierten Artikel handelt.Meine Damen und Herren, ich kann nur hoffen, daß die SPD und einige, die für sie die Büchsen spannen, auch einige der sogenannten kritischen Wissenschaftler, die aktuellsten Probleme in Sachen Kernenergie, nämlich die Sicherheit der russischen Anlagen auch, aber nicht nur in der DDR, zum Anlaß nehmen, die wirkliche Dimension unserer Probleme in der Bundesrepublik Deutschland realistischer einzuschätzen.Ich habe gestern mit Erstaunen festgestellt, daß Minister Töpfer, als er über seinen ersten Informationsbesuch in der DDR berichtet hat, von Kollegen der SPD wie von einem Staatsanwalt vorgeführt wurde. Man hat den Eindruck gehabt, der Kollege Töpfer wird hier als Beschuldigter in bezug auf Sicherheitsprobleme in der DDR vernommen.Ich bitte Sie herzlich, sich bei diesem wirklich ernsten Problem konstruktiver als in der Vergangenheit in Sachen Kernenergie zu verhalten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Gesetzentwurf der Bundesregierung, der das internationale Übereinkommen über den physischen Schutzvon Kernmaterial vom 26. Oktober 1979 zur Grundlage hat.Die SPD-Fraktion bedauert, daß es sich bei diesen Vereinbarungen lediglich um einen Mindeststandard für Sicherungsmaßnahmen bei Lagerung und Transport von Kernbrennstoffen handelt.Herr Kollege Dr. Friedrich, ich frage mich, in welchen Unterlagen und Protokollen Sie nachgelesen haben, wenn Sie zu einer Bewertung' kommen wie vorhin.Darüber hinaus muß es für alle Fraktionen dieses Hauses unbefriedigend sein, daß die Bundesregierung dem Parlament diesen Gesetzentwurf erst ein Jahrzehnt nach dem Abschluß des Übereinkommens vorgelegt hat. Hierbei ist es für mich unerheblich, wer diese Verzögerung zu verantworten hat. Jedenfalls ist uns bis heute leider keine zufriedenstellende Erklärung hierfür geliefert worden.Wie öfter, meine Damen und Herren, bei internationalen Vereinbarungen handelt es sich auch bei diesem Abkommen nur um die Festschreibung des kleinsten gemeinsamen Nenners, auf den sich die beteiligten Staaten geeinigt haben. Es müßte eine Selbstverständlichkeit sein, daß bei der Lagerung von Kernmaterial Bewachungsmaßnahmen durchgeführt werden und daß Nukleartransporte durch Begleitpersonal geschützt werden. Wir bemängeln, daß nähere Ausführungen zu Art und Umfang der Schutzmaßnahmen von dem Übereinkommen nicht getroffen werden.Auf einen anderen Punkt möchte ich besonders hinweisen. Alle Transporte von Plutonium und Uran 235, deren Gewicht 15 g nicht überschreitet, unterliegen nach dem Abkommen keinen Sicherungsmaßnahmen. Wenn man bedenkt, daß schon geringste Mengen Plutonium im Falle der Inhalation eine tödliche Wirkung haben können, ist das Fehlen einer Regelung für Mengen unter 15 g völlig unverständlich.Meine Damen und Herren, trotz dieser von mir vorgetragenen Bedenken werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen, weil das Übereinkommen in anderen Staaten Grundlage für eine Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen sein kann und weil es für den Fall der Entwendung von Kernmaterial verbindliche Regeln für die internationale Zusammenarbeit festlegt.Vor einer Überbewertung des Abkommens sollten wir uns allerdings hüten. Die Mängel und Schwachstellen beim physischen Schutz von Kernmaterial in der Bundesrepublik Deutschland werden entgegen Ihren Ausführungen, Herr Dr. Friedrich, durch diese Vereinbarung nicht beseitigt.Auch hat sich die ursprüngliche Erklärung der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag, den Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen könne bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts nachgekommen werden, als unrichtig erwiesen. Nachträglich räumt die Bundesregierung nun ein, daß diese Aussage unzutreffend ist und daß noch einige Änderungen des Strafgesetzbuches erforderlich sind, die wir heute mit beschließen sollen. Wenngleich es sich bei diesen Strafrechtsänderungen lediglich um Nebenpunkte handelt, zeigt dieser Vorgang dennoch die
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14726 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Reuterschlampige Vorbereitung des Gesetzentwurfes durch die Bundesregierung.Auf Grund meiner Erfahrungen im 2. Untersuchungsausschuß muß ich feststellen, daß sachliche Verbesserungen des physischen Schutzes in der Bundesrepublik mit diesen hier vorgelegten Regelungen nicht verbunden sind. Der Atomskandal-Untersuchungsausschuß hat die in diesem Bereich bei uns bestehenden Mängel deutlich aufgezeigt. Sowohl die Bundesregierung als auch die Koalitionsfraktionen, Herr Kollege Dr. Friedrich, sind aufgefordert, mit uns gemeinsam aus diesen Erkenntnissen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und sich nicht, wie Sie es machen, hier hinzustellen und alles, was hier existiert, gesundzubeten.Im Atomskandal-Untersuchungsausschuß hat sich gezeigt, welches immense Gefahrenpotential der tägliche Transport von Kernmaterial über Straßen und Schienen für unsere Bevölkerung mit sich bringen kann. Über 1 800 Kernbrennstofftransporte finden nach Auskunft der Sachverständigen jährlich statt, und nicht einmal die zulässige Höchstmenge für die Beförderung von Plutonium ist festgelegt. Die Experten sind sich einig, daß die Beförderungsvorgänge besondere Schwachstellen im Kernbrennstoffkreislauf sind. Neben den Risiken von Transportunfällen, die zu katastrophalen Folgen führen können, geht es vor allem um die Gefahr des Nuklearterrorismus. Befürchtungen dieser Art haben ja auch zu dem Übereinkommen geführt, das von der Entwendung von Kernmaterial oder der glaubhaften Androhung einer solchen Tat spricht. Das Risiko derartiger Aktionen ist bei uns lange Zeit verdrängt und verharmlost worden und wird heute noch, wie wir soeben von Herrn Dr. Friedrich gehört haben, heruntergespielt.Die Fakten belegen, daß bei uns noch immer zahlreiche Nukleartransporte ohne Begleitung durch Polizeikräfte erfolgen. Immer wieder wird bekannt, daß betroffene Behörden über die Durchführung von Nukleartransporten nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht informiert worden sind. Mehrmals wurde festgestellt, daß das Beförderungspersonal in leichtfertiger Weise gegen Sicherheitsbestimmungen verstoßen hat, so im Fall des Lastzugs, wo man das Transportgut ganz allein stehengelassen und im Wald Entsorgungsmaßnahmen selber durchgeführt hat. Es zeigt sich immer mehr, daß all die Umstrukturierungsmaßnahmen in der Nuklearwirtschaft, die der Bundesumweltminister initiiert hat, an der grundsätzlichen Problematik nichts ändern. Wer meint, durch die Schaffung neuer Firmen Unregelmäßigkeiten und menschliche Unzulänglichkeiten ausschließen zu können, macht es sich zu einfach.Die im Atomuntersuchungsausschuß angehörten Sachverständigen haben konkrete Vorschläge für die Verbesserung von Sicherheitsmaßnahmen bei Nukleartransporten gemacht. Ich nenne hier nur die Stichworte zentrale Transportleitstelle und Konvoi-Transporte mit ständiger polizeilicher Begleitung. Wir erwarten natürlich, daß diese Überlegungen von dem zuständigen Minister aufgegriffen werden.Trotz aller Ankündigungen, die Umweltminister Töpfer bereits im Jahr 1988 als Beruhigungspillen ausgegeben hat, existiert bis heute bei uns kein nationales Bilanzierungs- und Informationssystem für Kernbrennstoffe. Dies hat sich im Atomuntersuchungsausschuß als eines der größten Defizite erwiesen.Es interessiert den Bundestag, wann dieses Informationssystem endlich aufgebaut sein wird und welche konkreten Schritte der Bundesumweltminister bislang eingeleitet hat. In der Transnuklear-Affäre konnte jedenfalls über längere Zeit hin niemand verbindlich sagen, ob irgendwo in der Bundesrepublik spaltbares Material fehlte. Die großen Unsicherheiten und die panikartigen Reaktionen des hessischen Ministerpräsidenten Wallmann und seines Umweltministers Weimar resultieren auch aus diesen Informationsdefiziten.Heute scheint dies alles vergessen zu sein. Es ist wieder Ruhe eingekehrt, jedenfalls so lange, bis erneut etwas passiert. Und so frage ich den Bundesumweltminister ganz konkret: Wie lange brauchen Sie im Falle einer Drohung mit angeblich entwendetem waffenfähigem Spaltmaterial, bis Sie sagen können, ob in einer deutschen kerntechnischen Anlage tatsächlich Kernmaterial beiseite geschafft worden ist? Wie lange brauchen Sie, um festzustellen, ob es sich tatsächlich um eine ernsthafte Drohung oder nur um eine vorgespielte, eine fiktive Drohung handelt?Wir müssen auch kritisieren, daß ein wirkungsvolles Nachsorgesystem für den Fall einer nuklearen Erpressung oder des Verschwindens von Kernmaterial bislang nicht aufgebaut ist. Es sind noch nicht einmal Meßgeräte vorhanden, um bei einem aufgefundenen Behälter zerstörungsfrei festzustellen, ob er explosives Spaltmaterial enthält. Die Bevölkerung wartet weiter darauf, daß der Bundesumweltminister ein schlüssiges Konzept für die Behandlung derartiger Fälle vorlegt.Ich will sehr kritisch noch anmerken, daß das Streben nach lückenloser Sicherheit in den Atomstaat führt. Ob es um die Bewaffnung des Begleitpersonals von Transporten, den Objektschutz für kerntechnische Anlagen oder die Zuverlässigkeitsüberprüfung des Personals geht — schärfere Sicherheitsmaßnahmen sind untrennbar mit immer mehr Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte verbunden. Mit der Schaffung des Atomstaats ist die Nutzung der Kernenergie zu teuer erkauft. Bei allem berechtigten Sicherheitsbedürfnis dürfen wir nicht zulassen, daß der Schutz kerntechnischer Einrichtungen die von der Verfassung garantierten Freiheiten aushöhlt.Neben den technischen Risiken der Kernenergienutzung, den Gefahren eines möglichen Mißbrauchs zu militärischen Zwecken und der völlig offenen Entsorgungsfrage, die wir den uns nachfolgenden Generationen aufbürden, liegt hier ein weiterer Grund dafür, die Nutzung der Kernenergie so bald wie möglich zu beenden. Auf Dauer müssen wir uns auf sozialverträgliche Energiesysteme verständigen.Schönen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Segall.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14727
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Bundesrepublik Deutschland hat das hier zu beratende Übereinkommen bereits am 13. Juni 1980 unterzeichnet, und es ist auch bereits seit 1987 durch die Ratifizierung anderer Länder längst in Kraft. Mit diesem Übereinkommen wollen wir eine internationale Zusammenarbeit zum Schutz von Kernmaterial, insbesondere bei internationalen Nukleartransporten, erreichen. Eine absolute Sicherheit, lieber Herr Reuter, werden wir ganz sicherlich nie erreichen, aber wir bemühen uns immer weiter darum, daß es besser wird.
Innerhalb des Übereinkommens lassen sich drei Themenschwerpunkte unterscheiden: Der erste Punkt bezieht sich auf die Festlegung von Schutzanforderungen beim internationalen Transport von Kernmaterial. Nach dem Übereinkommen werden den Vertragsstaaten Schutzpflichten bei Kernmaterialtransporten, soweit diese Transporte innerhalb ihrer Hoheitsgebiete oder mittels eines in ihrer Hoheitsgewalt stehenden Beförderungsmittels durchgeführt werden, auferlegt. Soweit der Transport von Kernmaterial im Geltungsbereich unseres Atomgesetzes stattfindet, bedarf es einer atomrechtlichen Beförderungsgenehmigung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt oder durch die Landesbehörden. Voraussetzung für eine Genehmigung ist der Nachweis, daß das Kernmaterial gegen Störmaßnahmen geschützt ist.
Neben diesen Bestimmungen werden die Vertragsstaaten verpflichtet, eine Transportgenehmigung nur dann zu erteilen, wenn sie Zusicherungen erhalten haben, daß das Kernmaterial während des gesamten internationalen Transports in dem vereinbarten Umfang geschützt wird. Diese Verpflichtung soll sicherstellen, daß das Kernmaterial auch während des Transports durch Nichtvertragsstaaten ausreichend geschützt ist.
Der zweite Punkt des Übereinkommens liegt in den Bestimmungen zur internationalen Zusammenarbeit im Falle der Entwendung oder der Drohung mit einer Entwendung von Kernmaterial. Zur Erleichterung der Kooperation zwischen den Vertragspartnern soll jeder Unterzeichnerstaat eine zentrale Behörde und Verbindungsstelle bestimmen, die bei Entwendung von Kernmaterial als Koordinierungsstelle und als Ansprechpartner für das Ausland fungiert. Die vorgesehene Übertragung dieser Aufgabe an den Bundesumweltminister findet die Zustimmung der FDP.
Als dritter Punkt wird in dem Übereinkommen die nationale und internationale Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit Kernmaterial geregelt. Durch die nachträgliche Einfügung der Art. 1 a und 1 b in den Gesetzentwurf werden die bisherigen strafrechtlichen Lücken zur Umsetzung des Übereinkommens geschlossen.
Mit dieser „Rechtslückenschließung" wurde den juristischen Bedenken bei der Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen Rechnung getragen. Nach diesen strafrechtlichen Anpassungen können wir nun also die Verpflichtungen zum physischen Schutz von Kernmaterial auf der Grundlage unseres derzeit geltenden Rechts erfüllen. Wir sind
uns völlig darüber einig, Herr Reuter, daß das nur strafrechtliche und andere Rechtsmaßnahmen sind.
Unbestreitbar ist, daß bei der Nutzung der Kernenergie durch unsachgemäße Behandlung sowie durch Mißbrauch Gefahren auftreten können. Eine international abgestimmte und einheitliche Behandlung dieser Probleme ist deswegen geboten. Das Übereinkommen zum physischen Schutz von Kernmaterial ist eine begrüßenswerte internationale Vereinbarung, um Mensch und Umwelt vor verantwortungslosem Umgang mit Kernmaterial zu schützen, wieder mit der Einschränkung: soweit das über Gesetze möglich ist.
Aber dies ist auch deshalb so wichtig, weil die Kernenergie noch auf einige Zeit ihren Beitrag zur Lösung jener Umweltprobleme, die durch den Einsatz fossiler Brennstoffe entstehen, leisten muß. Da haben wir ganz sicherlich einen ganz großen Dissens zwischen Ihnen und den Koalitionspartnern.
Dem nun vorliegenden Vertragsentwurf stimmen wir zu, um die Voraussetzungen für die Ratifizierung des Übereinkommens zu erfüllen, die wir gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft vollziehen werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Wollny.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit undenkbaren Zeiten wußten die Menschen, in deren Heimat Uran im Boden lag, daß es sich um Stoffe handelt, vor denen man sich schützen mußte, weil sie geeignet sind, das Ende der Menschheit herbeizuführen. Sie erklärten die entsprechenden Gegenden zu Tabuzonen und Heiligtümern und hielten sich von ihnen fern.Wir nun halten uns für so überlegen, daß wir glauben, die Geister zähmen zu können, und holen das Uran aus dem Boden, der die einzige Möglichkeit bietet, die Menschen und die Umwelt halbwegs zu schützen.Als Ableger der Bombenproduktion entstand das Programm „Atoms for Peace", dem wir all die atomaren Produktionsstätten bis hin zu den Bergen von strahlendem Abfall verdanken, der heute der Menschheit weit mehr Bedrohung als Nutzen bringt. Profitinteressen, die dazu führen, die jeweils billigste Produktionsmöglichkeit zu nutzen, haben zu einer internationalen Arbeitsteilung und zu einem ständig zunehmenden Nukleartourismus geführt.Machen Sie sich einmal die Mühe, die verschlungenen Wege zu erforschen, die zwischen der Urangewinnung und dem Atommüll liegen. Sie werden schnell erkennen, wieviel Möglichkeiten des Verschwindens und Entwendens von Nuklearmaterial sich daraus ergeben.Nun gibt es zwar eine internationale Spaltstoffkontrolle. Wegen der Ungenauigkeit der Meßmethoden verständigt sich die IAEO jedoch auf Akzeptanzwerte.
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14728 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Frau WollnyEine Meßungenauigkeit von 2 % gilt z. B. bei der WAA als akzeptabel. Das sind aber bei einem Durchsatz von 400 t etwa 100 kg Plutonium pro Jahr. Bei der in Gorleben geplanten Pilotkonditionierungsanlage hat eine Industriestudie gerade eine Meßungenauigkeit von 12 % festgestellt.Wie wir heute von der Regierung gehört haben, ist das jedoch kein Hinderungsgrund sowohl für die Regierung als auch, wie ich annehme, für die Mehrheit des Parlaments, einer solchen Selbstbedienungsanlage die Genehmigung zu erteilen. Daß es für diesen Bereich einen blühenden Schwarzmarkt gibt, ist bekannt, auch wenn Herr Dr. Friedrich sagt, das stimme nicht. Da sind wir ganz sicher völlig anderer Meinung.Die Folgen, die sich daraus ergeben, wenn solche Materialien in die Hände von Terroristen gelangen, sind unübersehbar. Die internationale Task Force on Prevention of Nuclear Terrorism hat sich damit befaßt und ist zu erschreckenden Ergebnissen gekommen. Wie wenig Sie, meine Damen und Herren, diese Probleme jedoch interessieren, hat sich gezeigt, als diese Studie 1987 hier in Bonn vorgestellt wurde. Obgleich alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu dieser Präsentation eingeladen waren, war außer mir und, ich glaube, einem einsamen Vertreter der SPD kein Mensch da. Niemand war daran interessiert.Heute sollen wir nun über den physischen Schutz eben dieser Materialien hier zu einem Gesetz entscheiden. Ich sage Ihnen, es gibt kein Gesetz — und würde es die Todesstrafe androhen — , das einen ernsthaften, hundertprozentigen Schutz gewährleisten kann.
Der wäre aber nötig, wollte man den Umgang mit Nuklearmaterial rechtfertigen, bei dem übrigens nicht das Material, sondern die Menschheit, deren Leben und Gesundheit durch dieses Material ständig bedroht ist, zu schützen wäre.Wir werden uns, da wir das Gesetz trotzdem für notwendig halten, der Stimme enthalten, weil es nach unserer Meinung nicht in der Lage ist, seinen Zweck zu erfüllen.
Das Wort hat Herr Staatssekretär Grüner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier ist schon ausreichend zum Inhalt des Gesetzes Stellung genommen worden, so daß ich mich auf ganz wenige Bemerkungen beschränken will.
Der physische Schutz von Kernmaterial durch eine verbesserte internationale Zusammenarbeit insbesondere bei grenzüberschreitenden Transporten wird vom Hohen Haus uneingeschränkt als wichtig und notwendig angesehen. Es ist von Bedeutung, daß es mit diesem Abkommen möglich ist, die Schutzanforderungen beim internationalen Transport von Kernmaterial gemeinsam festzulegen, und daß für den Fall der Entwendung oder der Drohnung mit einer Entwendung von Kernmaterial eine Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit statuiert wird.
Ich stelle fest, daß die Sprecher aller Fraktionen diesem Gesetz in seinem Grundinhalt zustimmen. Ich bedanke mich dafür und weise darauf hin, daß die Ratifizierung dieses Gesetzes von erheblicher internationaler Bedeutung ist.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wüppesahl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß Herr Grüner dieses Übereinkommen schnell von der Platte haben möchte, ist nur allzu verständlich. Einige der Argumente für diese These hat die Kollegin Wollny deutlich gemacht, wobei mich dann natürlich gewundert hat — das hat auch diesen Debattenbeitrag provoziert —, weshalb sich die grüne Fraktion nur der Stimme enthalten will.Ein Übereinkommen zum Schutz von Kernbrennstoffen ist schon fast sarkastisch. Wenn, dann „vor" Kernbrennstoffen. Das will ich Ihnen nur mit einem Beispiel belegen. Wenn ein Brennelementetransport vom AKW Geesthacht-Krümmel nach La Hague durchgeführt wird, bekommt die Begleitmannschaft, auch wenn sie nur im nächsten Waggon sitzt, allein durch die Begleitung des Transportes ihre Jahresdosis — nach dem Strahlenschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland — ab.Welche Farce es ist, Kernbrennstoffe schützen oder auch nur einen Schutz vor Kernbrennstoffen gewährleisten zu wollen, ist durch die Studie im Übermaß belegt worden, auf die sich Frau Wollny bezogen hat. Das ganze Problem ist aber noch viel trivialer. Gerade in diesen Tagen — Sie wissen, ich komme aus Geesthacht — wurden auf den Eisenbahngleisen, auf denen diese Brennelementetransporte ständig mit 40 t stattfinden — vor vier Tagen ging der letzte Transport von Krümmel ab —, große Mängel festgestellt; z. B. konnten Schrauben aus den Eisenbahnschwellen herausgezogen werden. Andere Bolzen ragten 2 cm, 3 cm heraus.Über solche Trivialitäten kann bereits eine Katastrophe ausgelöst werden. Und wir unterhalten uns mit pathetischen und großen Worten über ein internationales Abkommen — was das für einen Fortschritt ausmachen würde — , während wir gleichzeitig einer Illusion nachhängen, wenn wir nur ein gewisses Maß an Sicherheit garantieren wollten. Die gibt es nicht.Ich bin mir sicher: Fast an jedem Standort von Atomanlagen wäre es möglich, solche Fakten zu beschaffen. Dieses Trivialbeispiel aus meiner Heimatstadt offenbart, wie weit dieses Gesetzeswerk von der Realität und von der tatsächlichen Gefährdung entfernt ist.Die Public-Relation-Philosophie der Atomindustrie bricht spätestens an diesem Punkt — Transport von Brennelementen — vollkommen zusammen. Wir haben jetzt 1 800 Transporte pro Jahr in der Bundesrepublik. Wir werden Mitte der 90er Jahre nach den augenblicklichen Plänen weit über 5 000 Transporte
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14729
Wüppesahldieser Art haben. Daran wird dieses Übereinkommen nichts ändern. Das nährt höchstens noch die Illusion bei den Menschen, die sich nicht intensiver mit der Problematik befassen, daß es vielleicht doch irgendwie eine Form von Schutz gibt.Es gibt tatsächlich nur einen Schutz, und das ist die möglichst schnelle Stillegung von Atomanlagen und die Reduzierung der Atomtransporte auf die Überführung der notwendigen Teile in ein Endlager.Ich werde gegen dieses Übereinkommen stimmen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen vom 26. Oktober 1979 über den physischen Schutz von Kernmaterial, Drucksachen 11/3990 und 11/6218. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist gegen eine Stimme und bei zwei Enthaltungen mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Zukünftige Bildungspolitik — Bildung 2000" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 9. Dezember 1987
— Drucksachen 11/1448, 11/5349 —Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. Kein Widerspruch. — So beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik — Bildung 2000" hat dem Deutschen Bundestag im September 1989 ihren Zwischenbericht vorgelegt. Der Bericht beschränkt sich im wesentlichen auf eine Darstellung der bis dahin geleisteten Arbeit. Er ist ein Tätigkeitsbericht.Er enthält eine Reihe von Auswertungen von Verbändeanhörungen und Expertengesprächen. Empfehlungen gibt er bewußt noch nicht, weil dies beim Stand der Arbeit noch nicht möglich erschien. Das mag diejenigen enttäuschen, die schon vom Zwischenbericht Signale zum Aufbruch zu neuen Ufern erwartet hatten.Vertreterinnen und Vertreter der Oppositionsfraktionen haben im Anhang einige bildungspolitische Problemzonen beschrieben, deren Bearbeitung durch die Kommission ihnen besonders erforderlich erscheint. Diese Beiträge seien von mir ausdrücklich zur Lektüre empfohlen.In der dem Kommissionsvorsitzenden gebotenen Zurückhaltung möchte ich heute feststellen, daß konkretere Aussagen durchaus möglich gewesen wären, wenn die Koalition schon in einer früheren Phase zu inhaltlichen Diskussionen bereit gewesen wäre.Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat in der Einsetzungsdebatte formuliert, sie wolle mit der von ihr beantragten Enquete-Kommission an die Bildungsreformtradition der späten 60er und beginnenden 70er Jahre anknüpfen. Zur Erinnerung: Damals wurden durch Grundgesetzänderung zusätzliche Zuständigkeiten des Bundes in der Bildungspolitik geschaffen, wurden das Arbeitsförderungsgesetz und das Berufsbildungsgesetz verabschiedet. Damals stand in Willy Brandts erster Regierungserklärung die Bildungspolitik an der Spitze der inneren Reformen. 1973 gab es sogar einen zwischen Bund und Ländern abgestimmten Bildungsgesamtplan.Im Zwischenbericht distanziert sich das Mehrheitsvotum vorsichtig von einer gemeinsamen Bildungsreformtradition. Ein gemeinsames Anknüpfen an die erste Phase der Bildungsreform ist in der Kommission damit eher unwahrscheinlich geworden. Die SPD-Fraktion ist dennoch der Meinung, daß wir an diese Reformphase anknüpfen und gleichzeitig — angesichts der wachsenden Problematik — eine neue Phase der Bildungsreform einleiten sollten.Eine Enquete-Kommission, die sich mit Anforderungen aus der Zukunft an das Bildungssystem beschäftigt, steht vor der Schwierigkeit, die Zukunft, d. h. die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung, konkreter bestimmen zu müssen. Zukunft darf nichts Vorgegebenes sein; sie muß von den Menschen vielmehr gestaltet werden. Gleichzeitig gibt es jedoch erkennbare Trends und Strukturveränderungen, die auf die Zukunft einwirken.Im Einsetzungsbeschluß sind die wichtigsten neuen Herausforderungen an das Bildungssystem genannt: die Gleichstellung der Geschlechter, die technologisch bedingten Veränderungen in der Arbeitswelt und in der freien Zeit, die zunehmende Umweltzerstörung, die Verdichtung der internationalen Beziehungen und die wachsende Abhängigkeit der Völker und der Länder auf diesem Globus. Wir sind der Meinung, daß das Bildungssystem einen Beitrag dazu leisten kann, gesellschaftliche Trends nicht einfach fortzuschreiben, sondern Umdenken und Verändern zu fördern.Nun gibt es zwischen den politischen Parteien wahrscheinlich unterschiedliche Zukunftsbilder und entsprechend unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob und inwieweit das Bildungssystem und die Inhalte verändert werden müssen. Ich will für meine Fraktion hier noch einmal festhalten, welches Zu-
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Kuhlweinkunftsbild unser Berliner Grundsatzprogramm beschreibt, das wir gerade verabschiedet haben.Wir wollen gemeinsam Gefahren abwehren, Risiken mindern und eine neue, bessere Ordnung erreichen. Unsere Ziele sind eine demokratische Gemeinschaft der Völker, Gewaltfreiheit, gerechtere Verteilung, eine ökologisch und sozial gerechte Gesellschaft, menschenwürdige Arbeit für alle, Mitbestimmung und Selbstbestimmung in der Arbeit, Gleichheit und Solidarität zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen sowie gleichberechtigte Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungen.Wir werden unsere Vorschläge zur Veränderung des Bildungswesens an den genannten Zielen unseres Grundsatzprogramms messen. Wir werden bei der Umsetzung dieser Ziele zu einem erweiterten Bildungsverständnis kommen müssen. Neben dem emanzipatorischen Kern der Humboldtschen Bildung muß Bildung auch die Qualifikation für Arbeit und Beruf, aber auch für Politik und Kultur umfassen.
Dazu kommt eine weitere Dimension, die auf die Bewältigung von sozialen und ökonomischen Problemlagen abzielt. Bildung muß stärker denn je den Erwerb der Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung für sich und andere sowie für die Umwelt und die Hinführung zu entsprechendem problemlösenden Handeln umfassen. Bildung muß sich künftig in allen Bereichen also auch als Zukunftswerkstatt verstehen.Bildungspolitik ist lange Zeit nur als abhängige Variable anderer Politikbereiche gesehen worden. Sie muß wieder eigenständig werden. Bildungspolitik schafft die Voraussetzungen für die Gestaltung auch der anderen Politikbereiche und hängt zugleich von diesen ab. Sie muß wieder von politischen und ökonomischen Konjunkturen unabhängig gemacht werden.
Wir brauchen eine Verstetigung der Bildungsausgaben, wobei wir berücksichtigen müssen, daß die Bildungsexpansion ihre Grenzen noch lange nicht erreicht hat, weil immer mehr Menschen immer mehr Bildung wollen, weil sie diese auf dem Arbeitsmarkt auch brauchen und weil die Lösung der sozialen und ökologischen Probleme mehr Bildung erfordert. Wenn wir mehr Stetigkeit wollen, brauchen wir die Wiederaufnahme der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern.
— Ich freue mich über Ihre Zustimmung, Frau HammBrücher. — Wir müssen dafür sorgen, daß künftige Bildungsgesamtpläne auch finanzpolitisch ein höheres Maß an Verbindlichkeit erhalten.
Wenn wir auf die Bildungsplaner gehört hätten, wärenwir von den 1,5 Millionen Studierenden an unserenHochschulen weniger überrascht worden; die sind nämlich präzise vorhergesagt worden.Ich will im folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige bildungspolitische Problemzonen darstellen und Lösungsvorschläge meiner Fraktion einbringen. Das von vielen Seiten hochgelobte duale System der Berufsausbildung in der Bundesrepublik droht in den nächsten zehn Jahren an Bedeutung zu verlieren, da sich bei schrumpfenden Jahrgangsstärken immer mehr junge Menschen für eine Hochschulausbildung entscheiden.
Hier macht sich bemerkbar, daß entscheidende Reformen des dualen Systems in den 70er Jahren am Widerstand der Wirtschaft gescheitert sind. Ich erinnere an den ersten Anlauf von Helmut Rohde zu einer grundlegenden Berufsbildungsreform, der 1975 im Bundesrat steckengeblieben ist.Wenn das duale System als wichtiger Teil des Ausbildungssystems der Bundesrepublik Bestand haben soll — ich bin dafür — , dann muß es modernisiert und damit attraktiver gemacht werden. Dazu gehören eine Reform des Berufsbildungsgesetzes, die Fortsetzung der Reform der Ausbildungsordnungen, qualifizierte Angebote für junge Frauen, der Ausbau der Teilzeitberufsschule mit einem eigenständigen Bildungsauftrag
und einer ausreichenden Zahl von qualifizierten Berufsschullehrern. Dazu gehört vor allem aber auch mehr Durchlässigkeit zwischen den Berufsbildungssystemen und dem tertiären Bereich, damit die Berufsausbildung nicht zur Sackgasse wird. Dazu gehört auch, daß sich das duale System noch intensiver als bisher um die im Bildungssystem bisher Benachteiligten kümmert.Zweiter Bereich. Die Hochschulen haben viele Jahre lang den Studentenberg untertunneln müssen. 1,5 Millionen Studenten und Studentinnen studieren heute auf knapp 800 000 Studienplätzen. Die Zahl der Personalstellen hat seit 1975 kaum zugenommen. Der wissenschaftliche Nachwuchs ist nicht gesichert, wenn bei den Hochschullehrern die starken Jahrgänge Mitte der 90er Jahre in Pension gehen. Gleichzeitig stellen wir einen Bedeutungsverlust der Hochschulen fest, was den gesellschaftlichen Diskurs und die Fähigkeit zu Problemlösungen angeht. Ein Teil der Forschungskapazitäten ist aus den Hochschulen ausgewandert, ein Teil des notwendigen Diskurses spielt sich anderswo ab.Statt vieler Sonderprogramme brauchen wir endlich ein Strukturprogramm von Bund und Ländern für den Ausbau und Umbau unserer Hochschulen.
Wir brauchen künftig mindestens 1 Million Studienplätze, und da sind die zu erwartenden Gaststudenten aus der DDR noch gar nicht eingerechnet. Wir brauchen eine Beschäftigungsbrücke für den wissenschaftlichen Nachwuchs, neue Instrumente der Frauenförderung, eine verstärkte Förderung der hochschuleigenen Forschung, Kooperationsgebote für
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14731
KuhlweinFachhochschulen und Universitäten und eine neue Aufgabenteilung zwischen den Hochschularten. Wir brauchen mehr Interdisziplinarität an den Hochschulen, die sich an Projekten aus der Welt außerhalb der Hochschulen bewähren sollte. Wir brauchen einen Ausbau des Fernstudiums, vielleicht auch durch die Gründung einer zweiten Fernuniversität, vielleicht im Süden, Herr Oswald. Hier könnten wir durchaus aus Erfahrungen der EG-Partnerstaaten und der DDR dazulernen.Dritter Bereich: die Weiterbildung. Sie ist bei uns heute noch weit davon entfernt, vierte Säule des Bildungssystems zu sein. Es gibt weder chancengleichen Zugang für alle noch Transparenz, noch überall anerkannte Zertifikate. Die Weiterbildung leidet darunter, daß politische, berufliche und allgemeinbildende Inhalte institutionell und nach der Kompetenz von Bund und Ländern noch immer fein säuberlich getrennt werden. Eigentlich wäre eine neue Gemeinschaftsaufgabe Weiterbildung im Grundgesetz wünschenswert.
Aber da ich weiß, daß Mehrheiten dafür schwer zu gewinnen sind,
sollte der Bund wenigstens für den Bereich, für den er selbst zuständig ist, das notwendige Mindestmaß an Ordnung herstellen. Dazu gehören etwa Regelungen für die Freistellung, für die Zertifizierung, für die Finanzierung, für die regionale Zusammenarbeit und für die Mitbestimmung im Bereich der betrieblichen Weiterbildung.Wenn es schon keine Gemeinschaftsaufgabe gibt, sollten wir wenigstens durch eine Verwaltungsvereinbarung nach Art. 91 d Grundgesetz für die Förderung einen gemeinsamen Rahmen mit den Ländern schaffen. Wenn es dem Bund mit der Weiterbildung ernst ist, sollte er in einer solchen Verwaltungsvereinbarung über das AFG hinaus auch finanzielle Verantwortung übernehmen.
Die Probleme von Frauen im Bildungssystem, die sich anschließend auch auf dem Arbeitsmarkt auswirken, haben wir in der Kommission bisher noch nicht abschließend erörtert, aber in vielen Anhörungen zu Gehör bekommen.Wir müssen dafür sorgen, daß Frauen und Männer auf ein Leben vorbereitet werden, in dem Erwerbsarbeit und Familienarbeit zwischen den Geschlechtern gleichmäßig aufgeteilt werden. Dies bedeutet für die berufliche Bildung die Erschließung aller Berufe für beide Geschlechter, gegebenenfalls auch durch Quotierung,
für die Hochschulausbildung die faktische Öffnung von technisch-naturwissenschaftlichen Studiengängen für Frauen, für den wissenschaftlichen Nachwuchs eine besondere Frauenförderung auch durch gegebenenfalls differenzierte Quotierung
und für die Weiterbildung grundlegende Veränderungen des Arbeitsförderungsgesetzes und der betrieblichen Personalplanung.In der Ausbildungsförderung wird die geltende elternabhängige Förderung mit unzureichenden Freibeträgen und Bedarfssätzen immer weniger der Tatsache gerecht, daß junge Menschen materielle Unabhängigkeit brauchen, um ihr Leben selbst gestalten zu können. Wir wollen kurzfristig eine Wiedereinführung der Schülerförderung, mittelfristig eine Erhöhung der Freibeträge und der Bedarfssätze. Aber auf Dauer müssen wir zu einer elternunabhängigen Förderung kommen,
die jungen Menschen von einem bestimmten Alter an für Zeiten der Erstausbildung den Lebensunterhalt sichert. Dies scheint mir im übrigen auch familienpolitisch geboten zu sein.Zum Schluß, meine Damen und Herren, aber nicht zuletzt, einige Bemerkungen zur bildungspolitischen Seite der Entwicklung, die uns in diesen Tagen am meisten bewegt. Der Einsetzungsbeschluß hat die Frage nach dem bildungspolitischen Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten noch nicht stellen können. Die Kommission ist sich einig, daß wir uns dennoch mit diesem Thema beschäftigen dürfen und sollten. Konzepte für Sofortmaßnahmen müssen andere vorlegen. Wir wollen wenigstens die Fragen auflisten, die in den nächsten Jahren in einem Prozeß der Angleichung der Bildungssysteme, der Inhalte und der Methoden im Bildungsbereich zu beantworten sind. Dazu gehören Übergangsstrategien genauso wie die Rolle der bundesdeutschen Hochschulen, der betrieblichen Berufsausbildung und der Weiterbildung in diesem Prozeß.Wir wollen dafür auch noch eingehende Gespräche mit denjenigen in der DDR führen, die dort in den nächsten Jahren das Bildungssystem umkrempeln wollen. Meine Fraktion behält sich vor, die Frage nach der Annäherung der Bildungssysteme in der nächsten Legislaturperiode durch eine besondere Enquete-Kommission klären zu lassen.Meine Damen und Herren, ich sehe hierin unbeschadet der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten im Bildungsbereich durchaus eine Aufgabe des Bundes in Wahrnehmung der gesamtstaatlichen Verantwortung. Ich kann auch keine Kritik daran üben, Herr Kollege Oswald, wenn der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft mit seinem Kollegen aus der DDR gemeinsame Projekte erörtert.
Er sollte dann allerdings zügiger auch das Parlament darüber informieren, was er dort beredet und macht.
— Wir hätten das vielleicht schon gestern haben können. Das sage ich an die Adresse der Fraktion, die im Augenblick den Bildungsminister stellt.Die deutsch-deutsche Bildungspolitik kann von den Erfahrungen im EG-Binnenmarkt profitieren. Hier stehen wir allerdings vor dem Problem, daß es zwischen notwendigen zentralen Regelungen zur Siche-
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Kuhlweinrung der Freizügigkeit und einer gemeinsamen europäischen Kultur auf der einen und der Erhaltung der Vielfalt förderungswürdiger und erhaltenswerter Regionalkulturen auf der anderen Seite ein erhebliches Spannungsverhältnis gibt. Wir müssen Lösungen finden, wie die Stimme der Bundesrepublik bei bildungspolitischen Entscheidungen in der EG wirksamer als bisher eingebracht werden kann, ohne die berechtigten bildungspolitischen Ansprüche und Interessen der Länder zu beeinträchtigen.Wir sollten deshalb, meine Damen und Herren, die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung als Drehscheibe für die Willensbildung in Sachen Europa in der Bundesrepublik machen.
Nur so können wir erreichen, daß die Bundesrepublik offensiv Beiträge der Bildungspolitik zur Schaffung Europas formuliert.Wir werden am Ende der Kommissionsarbeit auch Vorschläge machen müssen, welche Institutionen eine neue Phase der Bildungsreform entwickeln und vorantreiben sollen. Ich sage für meine Fraktion: Wir würden gern die BLK mit einer Strategie zur Annäherung der Bildungssysteme von Bundesrepublik und DDR mit der Europakoordination und mit der Aufstellung eines neuen Bildungsgesamtplans beauftragen. Um ein Stück parlamentarische Initiative und Kontrolle im Bildungsbereich zurückzugewinnen, sollte die BLK eine parlamentarische Kommission mit Vertreterinnen und Vertretern aus Bund und Ländern erhalten. Wir werden uns darüber hinaus für die Schaffung eines von Regierungen unabhängigen neuen Bildungsrates einsetzen, der in Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik und unter Mitwirkung der Betroffenen Grundsatzfragen der Bildungspolitik bearbeitet und Regierungen und Parlamenten entsprechende Vorschläge macht.
Meine Damen und Herren, das alles ist noch nicht das ausformulierte Votum der SPD in der Enquete-Kommission. Aber es mag der Mehrheit einige Anhaltspunkte geben, wohin wir mit dem Schlußbericht gehen wollen. Wir haben noch fünf Monate Arbeit vor uns. Das ist nicht sehr viel Zeit. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß wir in einigen zentralen Fragen der zukünftigen Bildungspolitik doch noch Übereinstimmung erzielen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Graf von Waldburg-Zeil.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kuhlwein, Sie haben hier große Entwürfe vorgelegt, aber nicht vom bescheidenen Zwischenbericht gesprochen, der heute zu behandeln ist. Die Kommission befand sich ein bißchen in der Situation eines HalsNasen-Ohren-Arztes,
zu dem jemand kommt und sagt: Wie halte ich mich fit für das Jahr 2000? Dieser Hals-Nasen-Ohren-Arzt tut sich etwas leichter. Denn es wird ihm niemand verübeln, wenn er auch etwas von anderen Organen erzählt. Uns dagegen verübelt man das, weil wir uns ganz streng an die Kompetenzen des Bundes halten müssen. Diese Kompetenzen sind leider klein.Dem Zwischenbericht merkt man dieses Dilemma an. Im Kapitel, das vom Selbstverständnis der Kommission handelt, ist es nicht gelungen, eine Linie historischer Kontinuität gemeinsam zu beschreiben. Die Mehrheit knüpft bei der Kulturhoheit der Länder an und verfolgt von ihr aus die Reformdiskussion, während die Minderheit in aufsteigender Linie die Bildungsreform bis zum Bildungsgesamtplan begleitet, die Unterbrechung des Höhenfluges zur Ölkrisenzeit mit dem Scheitern der Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes registriert und von der Enquete-Kommission die Fortsetzung der Evolution erwartet. Das sind graduelle Unterschiede in der Beurteilung dessen, was die Kommission zu leisten vermag.Versöhnlich ist zwar, daß Hermann Höcherls Zitat:Jeder von uns soll sagen können, er arbeite, damit das Universum in ihm und durch ihn sich um eine Stufe erhebe,sowohl die lange Fassung der Minderheit als auch die kürzere der Mehrheit beschließt.
Im Zwischenbericht allerdings kann sich das Universum nicht um eine Stufe erheben. Daran trägt nicht bremsendes Verhalten der Mehrheit die Schuld, wie in manchen Reden draußen angedeutet, Herr Kuhlwein. Es ist ungefähr so, daß der Zwischenbericht als nüchterner Arbeitsbericht des HNO-Arztes Bund, der sich mit einem gesamtinternistischen Problem befassen soll, überhaupt nur dadurch zustande kommen konnte, daß man sich auf Arbeitsschritte beschränkte, z. B. die Erwerbsarbeit als Ausgangspunkt wählte, und dann die getanen Schritte nüchtern verzeichnet.Wenn ich dennoch versuche, einige erste Erkenntnisse aus dem Zwischenbericht zu ziehen, dann in dem Sinne, daß schon der Anfang der Arbeit dieser Kommission einen Wandel zu mehr Nüchternheit und Realitätssinn signalisiert. Folgende Punkte möchte ich gerne herausgreifen.Erstens: Grenzen der Prognose. Das Kapitel über Möglichkeiten und Grenzen der Vorhersage langfristig wirksamer Faktoren, die für die zukünftige Bildungspolitik des Bundes bedeutsam sind, übernimmt die Aussage der meisten Experten als eigene Auffassung:Die Enquete-Kommission ist sich bei ihrem Vorgehen der Unsicherheit prognostischer Aussagenbewußt und geht davon aus, daß gesellschaftliche
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Graf von Waldburg-ZeilEntwicklungen nur in beschränktem Umfang vorhersehbar sind.Diese Unsicherheit beginnt bei der Bevölkerungsdynamik. Selbst die Daten, die wir im Zwischenbericht noch für relativ sicher gehalten hatten, etwa bei der Beurteilung von Wanderungsbewegungen, sind im letzten Jahr restlos über den Haufen geworfen worden.Als noch viel schwieriger bezeichnet der Bericht, Voraussetzungen für die Struktur des Arbeitsmarktes richtig abzuschätzen. Zitat:Eine verläßliche mittel- oder gar langfristige Vorausschau auf den künftigen Arbeitskräfte- und Qualifikationsbedarf gibt es nicht und wird es nach dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse auch nicht geben können.Auf solch schwankendem Grunde ist es schwierig, Auswirkungen auf den Bildungsbereich abzuschätzen.Ein besonders aktuelles Beispiel: Um die künftige Zahl der Studierenden zu ermitteln, muß in der heutigen Situation in Betracht gezogen werden, daß in der DDR nur 10 bis 12 % eines Altersjahrgangs studieren durften, während die Studierfähigkeit bei uns von mehr als 30 % eines Altersjahrgangs ausgenutzt wird. Wie hoch steigt die Zahl der Studierenden an, wenn sich diese Differenz ausgleicht?Fazit: Prognose kann sich nur in breiten Korridoren bewegen. Innerhalb dieser Bandbreiten muß das Bildungssystem flexibel sein.Zweitens: Grenzen der Steuerbarkeit. Thema einer Expertenanhörung war die „Zukunft, auf die das Bildungswesen vorbereitet sein und selbst mit vorbereiten sollte" am 16. Juni 1988. In der Tradition der Bildungsreform stand neben der Prognose der Szenarien, auf die sich das Bildungswesen vorzubereiten hatte, immer die Idee einer erwünschten Zukunft, die das Bildungswesen selbst mit vorbereiten sollte.Man analysierte Bildungsverhalten, entdeckte Defizite und lenkte um. Man änderte Bewußtsein, man betrieb Bildungswerbung, Lenkung von Bildungsströmen, Ausschöpfung von Begabungsreserven.Die Erfolge der quantitativen Bildungsexpansion sind erheblich. Der im Anhang des Zwischenberichtes abgedruckte Namensbeitrag von Professor Klemm über den Prozeß der Bildungsexpansion und den Wandel der Bildungsbeteiligung gibt trotz der Entdeckung von Benachteiligungsresten, die es zu beseitigen gelte, darüber beredte Auskunft.Ein Ergebnis dieses Prozesses ist aber dies: daß Bürger heute tatsächlich freie Bildungsentscheidungen treffen. In einem Jahr entscheiden sich weitaus die meisten derer, die studienberechtigt sind, dazu, diese Berechtigung auch wahrzunehmen. In einem anderen Jahr sinkt die Aufnahme des Studiums durch Studienberechtigte abrupt ab. Man wählt nach dem Studium eine Ausbildung. Wieder einige Jahre später steigen die inzwischen Doppeltqualifizierten wieder in ein Studium ein.In der Kommission ist heute eine — ich meine, ich kann sagen: gemeinsame — Tendenz deutlich — essteht auch so im Zwischenbericht —, den Willen des mündigen, sich bildenden Bürgers zu akzeptieren — eine erneute Anforderung an die Flexibilität des Bildungswesens, eine Absage an den leitenden, lenkenden, bevormundenden Staat. Ich glaube, dies ist in der heutigen Situation besonders aktuell.Drittens: Grenzen der Erstbildung. Der geheiligte Grundsatz „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" gerät ins Wanken. Die Anhörung zum Thema „Strukturwandel in Arbeit und Beruf und sein Verhältnis zu Bildung und Ausbildung unter besonderer Berücksichtigung des Flexibilitätsaspektes" oder die Verbände-Anhörung zum Arbeitsschwerpunkt „Berufliche Erstausbildung und Erwerbsarbeit" oder die Anhörung zum Thema „Weiterbildung — lebenslanges Lernen" sowie die dazu vergebenen Gutachten weisen in die Richtung, daß der Weiterbildung in Zukunft eine zumindest ebenso wichtige Funktion zukommt wie der Erstausbildung.
Der gestern erst andiskutierte Aspekt des Einsatzes neuer Medien im Lernprozeß und die dazugehörigen Gutachten unterstreichen, daß die Erstausbildung dafür sorgen muß, daß der Mensch Herr der Maschine bleibt und mit ihr umgehen kann, wie stark sie sich selbst bei dem rasanten Fortschritt der Technik auch verändert. Ihr eigentlicher Einsatzort — der der neuen Medien — ist die berufliche Weiterbildung.Viertens: Reformoasen. Kein Wunder bei solch bescheidener werdender Betrachtung, daß ein Journalist in der Pressekonferenz, in der wir die Ergebnisse des Zwischenberichtes vorgestellt haben, ziemlich entgeistert gefragt hat, wo denn die bildungspolitische Botschaft bleibe. Natürlich gibt es eine solche Botschaft: Das Gutachten von Dr. Lowe aus Paris bescheinigt dem deutschen Bildungswesen eine ausgezeichnete Gesundheit, die es zu pflegen gelte. Als Patient wäre mir dies Urteil lieber als die Diagnose „Bildungskatastrophe". Als Demokraten ist mir die freie Bildungsentscheidung des Bürgers lieber als planende Lenkung. Als Feind selektiv zugeteilter Lebenschancen schließlich ist mir die Ausgleichsmöglichkeit im Leben lieber als die Zuweisung von Lebenschancen ausschließlich durch die Schule, siehe Beispiel Japan. Dennoch gibt es natürlich Reformoasen. Was wäre eine Kommission auch, die sich in der Kontinuität der Bildungsreform sieht, ohne aufzuarbeitende Benachteiligungen.Ein beherrschender Punkt in dieser Kommission war die Gleichstellung der Geschlechter. Dieses Thema wird bis zum Ende, sollte das Ziel je erreicht werden, zentrales Thema bleiben. Meine persönliche Ansicht aber möchte ich nicht verhehlen, daß auch dieses Thema nicht unter dem alten Schema „wie verändern wir?" bedacht und behandelt werden sollte, sondern daß man versuchen sollte, bestehende Defizite auszugleichen. Den Wünschen von Frauen muß Rechnung getragen werden.
Ich selbst habe eine Tochter, die fünf Kinder aufzieht; das ist ein Full-Time-Job. Eine andere steht als
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Graf von Waldburg-ZeilKrankenschwester im Operationssaal. Sie hat keine Familie. Ein Sohn von mir ist verheiratet. Beide wollen berufstätig sein. Das ist natürlich keine Statistik, aber es sind Optionen, wie sie in der Realität vorkommen. Ich meine, daß diese Optionen und die Änderungsmöglichkeiten dieser Optionen vom Bildungswesen gesehen werden müssen und das Bildungswesen darauf flexibel reagieren muß. Es muß auf die Wünsche der Frauen reagieren und soll diese Wünsche nicht lenken.Eine Sorge wird die Kommission begleiten: Der Trend zu immer höherer Qualifizierung, die lebenslang andauert, kann zwar ungeahnte Prozentzahlen erreichen, und dies ist positiv. Aber es bleibt ein Rest, der nicht mehr mitkommt — und dieser wird größer, je höher die Qualifikationen der anderen sind. Über deren Schicksal muß nachgedacht werden, zumal an der Schwelle zwischen Bildungswesen und Arbeitsmarkt.Schließlich das Thema der wachsenden Migration und ihrer bildungspolitischen Probleme. Wer gibt das Ziel vor? — Integration? Binationale Bildung? Multikulturelle Bildung? Rückkehroption? Ist nicht auch hier die Frage nach der Situation des einzelnen der Ausgangspunkt: Wer will endgültig hierbleiben — Integration — , wer vorübergehend — binationale Bildung — , wer nur kurzfristig? Für letzteren Fall wäre das System der Auslandsschule eigentlich das geeignete. Wir müssen also nach den Optionen fragen, um darauf bildungspolitische Antworten geben zu können. Aber dieses Thema führt sehr schnell zu dem Grat, wie für uns in der Kommission ständig erkennbar wurde, wo man die Grenze der Bundeskompetenz hin zu den Landeskompetenzen überschreitet.Abschließend deshalb nur ein kurzer Hinweis darauf, daß sich in der Frage der Bildungskompetenz selbst ein schwieriges Problem auftut: das der europäischen Dimension. Zu dem angesprochenen Thema der Wanderarbeiter gibt es eine detaillierte EG-Richtlinie, die Ziele ausweist — z. B. neben der Nichtdiskriminierung die Offenhaltung der Rückkehroption, die Pflege der Muttersprache — , die bisher reine Ländersache waren. Wie soll im Prozeß der Vollendung des europäischen Binnenmarktes ein Bildungsföderalismus gestützt werden, den andere europäische Staaten nicht kennen, den Richterrecht und Kommissionsentscheidungen ständig übertreten und der dann gerade dadurch in Gefahr gerät, daß der Bund aus Rücksicht auf die Länder nicht rechtzeitig reagiert und diese dann europäisch überfahren werden?Mein Kollege Oswald wird nachher den Aspekt des Föderalismus sowie die eigentlichen Felder der Bundeskompetenz für berufliche Bildung und Weiterbildung noch ansprechen. Mir lag daran, trotz trockenem Zwischenbericht und vielleicht einiger enttäuschter Reformistenhoffnungen darzutun, daß unser Bildungswesen aus seiner Vielfalt heraus fähig ist, auch bei gestiegener Prognoseunsicherheit beweglich zu reagieren, daß es sich einem gestiegenen bildungspolitischen Selbstbewußtsein gegenüber erlauben kann, freiheitlich zu bleiben und auf Lenkung zu verzichten, daß es Umschichtungen zwischen Erst- und Weiterbildung im Wettbewerb bewältigen kann und daß es fähig sein wird, auf alte und neue Problememöglicher Chancenungleichheit zu reagieren. Es ist keine Katastrophe, wenn es keine Bildungskatastrophe gibt.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hillerich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der 25. Sitzung unserer Kommission haben wir unseren Zwischenbericht verabschiedet; nach unserer 37. Sitzung debattieren wir ihn nun endlich. In einem Plauderstündchen am Kamin wäre einiges über die Freuden und Leiden während seines Entstehungsprozesses zu erzählen, aber ich will hier in diesem Hohen Hause nur zwei Vorbemerkungen dazu machen.Erste Vorbemerkung. Meine Skepsis im Hinblick auf das Ziel von Eckart Kuhlwein, mit dieser EnqueteKommission zu einem neuen bildungspolitischen Konsens zu kommen, hat sich bewahrheitet. Zwischen unterschiedlichen bildungspolitischen Positionen kann ein Grundkonsens nur durch sorgfältige Problemanalyse und gründliche inhaltliche Diskussion erzielt werden. Eine gründliche inhaltliche Diskussion hatten wir bisher kaum. Wenn es dennoch dazu kam, dann doch eher in der Form eines Schlagabtauschs einschließlich des meines Erachtens ziemlich lächerlichen und langweiligen Bekenntniszwangs zum dualen System. Für die weitere Arbeit am Schlußbericht bedeutet dies, die Gestaltung der Kontroverse nüchtern und für die interessierte Öffentlichkeit nachvollziehbar anzugehen und entscheidbare bildungspolitische Alternativen gegeneinanderzustellen.Meine zweite Vorbemerkung gilt der Gestalt des Zwischenberichts. Wären da nicht die blauen Seiten mit den Namensbeiträgen, deren Inhalt vor allem von der CDU/CSU häufig als unpassend, weil Bewertungen vorwegnehmend, kritisiert wird,
so würde der Zwischenbericht eines seiner wenigenAttraktivitätsmomente einbüßen. Das wurde mir jedenfalls von vielen Leserinnen und Lesern bestätigt.Ich habe mich in den blauen Seiten zu dem Thema Berufsbildung für sogenannte Benachteiligte und zu dem Thema ökologische Bildung und Qualifikation unter der Maßgabe einer qualifzierten Berufsbildung für alle geäußert. In beiden Themen sehe ich die zentralen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen für heutige und künftige Berufsbildung. Außerdem hat mich unsere gestrige Sitzung darin bestärkt, heute auch die technologischen Umwälzungen der Industriegesellschaft, wie es im Einsetzungsbeschluß unserer Kommission heißt, als Herausforderung für die Berufsbildung anzusprechen.Es gibt eine bildungs- und sozialpolitische Verantwortung denen gegenüber, die in Schule und Erstausbildung dem gesellschaftlich gestiegenen Leistungstempo nicht oder noch nicht folgen können und konnten. Wir alle wissen, daß ihre Chancen auf einkommenssichernde Beschäftigung und damit auf Teilhabe an einem einigermaßen befriedigenden Leben in un-
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Frau Hillerichserer Gesellschaft bei fehlender oder unvollständiger beruflicher Qualifizierung enorm sinken. Wer dies ernst nimmt, muß zu der Schlußfolgerung kommen, daß eine sozial verantwortliche Bildungspolitik vorausschauend und auch nachträglich für die Sicherstellung einer qualifzierten Berufsausbildung für alle in die Pflicht zu nehmen ist, weil das duale, über den Markt vermittelte Berufsbildungssystem dies nicht leistet und weil mit den steigenden intellektuellen Anforderungen durch die Neuordnung der Berufe auch die Schattenseite der Diskriminierung Lernschwächerer wächst.Allein zur Bewältigung der Hypothek von 1,5 Millionen jungen Menschen ohne Ausbildung in den 80er Jahren, aber auch, damit es nicht zusätzlich zu weiteren, heute schon absehbaren 1 bis 1,5 Millionen Jugendlichen ohne Ausbildung in den 90er Jahren kommt, sind neben einem verstärkten Einsatz personeller und finanzieller Ressourcen auch neue Strukturen im Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern nötig, um ein quantitativ und qualitativ ausreichendes Angebot an beruflicher Ausbildung zu ermöglichen. Mit beruflicher Ausbildung meine ich — als Gebot der Chancengleichheit — immer noch, daß eine solche Ausbildung mit dem Facharbeiterbrief oder einem vergleichbaren Abschluß abschließen sollte.
Für die Berufsbildungspolitik ergibt sich auf Grund der bisherigen Erfahrungen mit der ja vielfach — im Sinne der erreichten Abschlüsse — durchaus erfolgreichen Berufsausbildung benachteiligter, lernbeeinträchtigter Jugendlicher zudem ein wichtiger und notwendiger innovativer Impuls: die Humanisierung der Ausbildung durch sozialpädagogische Anreicherung und das Ziel der persönlichen Stabilisierung der Jugendlichen. Meine These ist, daß dieser Impuls der gesamten Berufsausbildung zugute kommen soll.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Dringlichkeit der ökologischen Wende unserer Arbeits-, Wirtschafts- und Lebensweise bedarf es eigentlich keiner Belege. Der Hinweis darauf, daß die deutsch-deutsche Entwicklung die Bundesrepublik auch mit dem selbstverschuldeten Giftmüllinfarkt unaufschiebbar konfrontiert, weil das Terrain der DDR nicht mehr als Müllkippe zur Verfügung steht, mag genügen.
Im Zwischenbericht habe ich darauf hingewiesen, daß der subjektive Beitrag aller beruflich arbeitenden Menschen für die ökologische Umgestaltung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Entsprechend hoch ist auch die bildungspolitische Verantwortung aller an beruflicher Aus- und Weiterbildung Beteiligten, das Lernen umweltgerechten Arbeitens zu fördern. Diese Verantwortung ernst zu nehmen erfordert, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die schon vorhandenen Ansätze zum Umweltschutz in der beruflichen Ausbildung zu einem Konzept handlungsorientierter ökologischer Bildung und Qualifikation auszuweiten, das nicht beim Gehorsamsmodell, dem Einhalten von Ge- und Verboten, stehenbleiben darf. Vielmehr müssen neben dem ökologisch relevanten Fachwissen die subjektiven Momente ökologischer Handlungskompetenz gestärkt werden, nämlich das Umweltbewußtsein als konkret anschauliche Sensibilisierung und als ethische Haltung, das Interesse und die Verantwortung für die jeweils konkreten Arbeitsvollzüge und ihre Ergebnisse und auf der Ebene der Handlungskompetenz Autonomie und Eigeninitiative, soziale Konflikt- und Gestaltungsfähigkeiten, um sich im beruflichen Alltag gegenüber und mit Kollegen, vielfach gegen die unmittelbaren Vorgaben ökonomischer Rationalität, für die Ökologie in der Arbeit und in den Arbeitsbedingungen stark zu machen. Hier wird deutlich, wie sehr die Ökologie mit der Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungen und der Arbeitsbeziehungen verbunden ist.
Hier wird die Bildungspolitik ihrer Schlüsselrolle nur dann gerecht, wenn sie auf allen Ebenen und in allen Bereichen der beruflichen Bildung das Eigenrecht der Ökologie gegenüber der Ökonomie, gegenüber engen, kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen sichert. Diese weit über das Jahr 2000 hinausweisende Aufgabe wird allerdings nur dann dem Schicksal des Sisyphus entgehen, wenn mit der ökologischen Wende auch in allen anderen Politikbereichen Ernst gemacht wird, insbesondere in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und der Forschungs- und Technologiepolitik. Die Umweltpolitik will ich nicht extra ansprechen.Bei der Debatte über die Bedeutung des technischen Wandels für die Berufsbildung interessiert mich am meisten, inwieweit die Berufsbildung von Technikdeterminismus befreit werden kann. Die gesellschaftlichen Impulse zur Veränderung der Berufsbildung waren und sind bisher technikdeterminiert. Denn die Anstöße zur Neuordnung der Metall- und Elektroberufe waren die Veränderungen und das Veränderungstempo bei den Arbeitsvollzügen und der Arbeitsorganisation durch den Einsatz neuer Techniken. Die für die Bildung relevanteste Neuerung besteht in den damit geforderten Schlüsselqualifikationen wie Selbständigkeit, Prozeß- und Planungsdenken, Verantwortung und Teamfähigkeit. Bildungsrelevant sind sie deshalb, weil es sich hierbei um personengebundene Kompetenzen handelt, die der Gestaltungs- und Lernfähigkeit und der Autonomie der Subjekte als Erfordernis der Berufsarbeit selber neue Entwicklungschancen geben. Da zudem die weitere Entwicklung des technischen Wandels und die künftige Gestalt des Strukturwandels in der industriellen Arbeit prinzipiell offen sei, komme der Bildungspolitik eine Schlüsselrolle für die weitere Gestaltung des Technikeinsatzes und des Strukturwandels zu. Wenn die soziale und partizipative Gestaltung von Arbeit und Technik am Arbeitsplatz zur Leitidee der beruflichen Bildung würde, die durch Demokratisierung und Flexibilisierung der Berufsbildung umzusetzen wäre, dann könne zugleich der technikdeterministische Ansatz in der Berufsbildung vom partizipativen und sozialen Gestaltungsansatz abgelöst werden, so Dr. Heidegger aus Bremen, einer der von uns zu Rate gezogenen Experten.So weit — so gut, eine schlüssige Utopie. Es fragt sich nur, welches die Bedingungen sind, damit Bil-
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Frau Hillerichdungspolitik diese Schlüsselrolle und die notwendige Gestaltungsmacht erhält. Wird es hierzu einen Konsens in der Enquete-Kommission geben? Ich bin mehr als skeptisch. Hier zeigt sich auch die Verbindung zwischen Bildung, technischer Entwicklung und Demokratie. Diese Verbindung wird ihre Wirkung in Richtung einer den Menschen gemäßen Gestaltung und Begrenzung der technischen Entwicklung aber nur entfalten können, wenn der Komplex ökonomischer und machtpolitischer Interessen sowie sozialer und kultureller Tatbestände, der die technische Entwicklung umgibt und bestimmt, in diesen Prozeß grundlegend einbezogen wird. Wie schwer sich Politik und Gesellschaft bei uns damit tun, kann man am Verlauf und an den kümmerlichen Ergebnissen— auch hier in diesem Hohen Hause — der Auseinandersetzung um die Technikfolgenabschätzung und -bewertung ablesen.
— In der Tat: Das war kümmerlich.Das soll uns aber dennoch nicht davon abbringen, die für die Bildungspolitik angesprochene Schlüsselrolle und Gestaltungsmacht zu reklamieren, was ich hiermit abschließend nochmals getan haben wollte.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kuhlwein, vielleicht hätte sich eine Enquete-Kommission zur Bildungspolitik bei den alten Griechen unter dem Vorsitz des Demokrit leicht darauf einigen können, daß — wie dieser sagte — die Aussichten der Gebildeten stärker seien als der Reichtum derer, die nichts lernen. Sie wäre ihm sicher auch darin gefolgt, daß weder Kunst noch Wissenschaft etwas Erreichbares ist, wenn man nicht lernt, daß sich das Lernen die edlen Dinge nur durch Mühen erarbeitet, die fortgesetzte Mühe durch Gewöhnung aber immer leichter wird. — Das gilt auch für Zwischenberichte und Kommissionen.
Für die Verhandlungen wäre leitend gewesen, daß, wer sich in Widerrede ergeht und viel schwatzt, unbegabt zum Lernen dessen ist, was not tut. Was gesetzliche Konkretisierungen betrifft, hätte man bedacht, daß das Gesetz das Leben der Menschen wohl gestalten will, dieses aber nur kann, wenn sie — so Demokrit — selbst wollen, daß es ihnen wohl ergehe.Aber, meine Damen und Herren, wir leben in anderen Zeiten. So umfaßt der Einsetzungsbeschluß der Kommission neben der Bildungspolitik des Bundes auch, wie wir hörten, gesellschafts-, arbeitsmarkt- und finanzpolitische Voraussetzungen und Folgerungen. Der bildungspolitische Bereich allein gliedert sich und die Arbeit der Kommission in die Komplexe der betrieblich-beruflichen Ausbildung, der Hochschule und der Weiterbildung mit zahlreichen Übergängen, Vernetzungen, mit einer Fülle jeweils innererDifferenzierungen und stellt das alles außerdem in zeitlich und räumlich, langfristig und international weitgespannte gegenwärtige oder zu erwartende Zusammenhänge.Wenn auch der in die Länderkompetenz fallende Schulbereich ganz fehlt, aber doch seine Bezüge zu jedem der übrigen Felder hat und — wenigstens heimlich, Herr Oswald — mitzudenken ist,
so beschleicht einen in einer schwachen Stunde vor der Komplexität des Themas — ich gebe es zu — und vor den anwachsenden Papierbergen die Frage, ob man denn dem Auftrag gewachsen sei, weil sich ja die Vorgabe der Geschäftsordnung, daß Enquete-Kommissionen der Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe dienen sollen, eigentlich schon auf jeden der genannten Bereiche beziehen könnte.Zu bedenken ist auch, daß die Kommission nicht abgeschottet oder im luftleeren Raum tätig ist. In der Wissenschaft, in Verbänden und Organisationen — wir nehmen einen Ausschnitt davon wahr — und in den politischen Parteien vollziehen sich parallele Entwicklungen, Feststellungen, Positionsbestimmungen.So hat sich meine Partei in dem Zeitraum, den der Zwischenbericht umfaßt, intensiv unseren Themen gewidmet: im September 1988 auf einem bildungspolitischen Kongreß, der in Foren und im Plenum mit über 500 Sachverständigen und Interessenten aus allen gesellschaftlichen Bereichen Schul-, Hochschul-, Berufsbildungs- und Weiterbildungspolitik diskutierte. Ich kann das jetzt nicht in der Form des Katalogs von Herrn Kuhlwein darstellen.Unser Bundesparteitag im Oktober 1988 widmete sich der Konkretisierung liberaler Standpunkte in einem neuen bildungspolitischen Programm. Der Bundeshauptausschuß unserer Partei faßte im Februar 1989 Beschlüsse zum Hochschulbau, zur Hochschulforschung, zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und zur individuellen Ausbildungsförderung.Der Parteitag im Mai 1989 beschäftigte sich mit der Umsetzung des Programms im Hinblick auf strukturelle Verbesserungen und Perspektiven im Hochschulbereich, in der beruflichen Bildung und Weiterbildung.
— Das alles wird Schritt für Schritt, vernünftig und seriös in die Tat umgesetzt, lieber Ernst Kastning.
Daß sich Bezüge zwischen der Arbeit in der Kommission und der politischen Positionsbestimmung ergeben, ist — auch wenn sich meine Partei in diesen zwei Jahren besonders intensiv mit Bildungspolitik beschäftigt hat — für alle Parteien klar, und daß mindestens die Abgeordneten in der Kommission die daraus entstehenden Zielvorstellungen — auch ohne Schere im Kopf — nicht einfach überspringen können
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Neuhausenund werden, ebenso. Herr Kuhlwein und Frau Hillerich haben das ganz deutlich gemacht.Deswegen war es meine Meinung, daß die Untersuchung dessen, was ist, werden wird, kann oder sollte, welche Positionen Experten, Verbände und Institutionen dazu vertreten, nicht vorschnell in das Raster vorausschaubar unterschiedlicher politischer Empfehlungen — fertiger Antworten, wie sie Herr Kuhlwein im Zwischenbericht genannt hat — zu pressen sei, wenn dem in früheren Debatten — ich nehme das nach wie vor ernst — beschworenen Konsens der Ernsthaftigkeit des Bemühens gedient werden sollte.Deswegen halte ich es nach wie vor gegen alle Kritik für sinnvoll, daß dieser Zwischenbericht jetzt als Tätigkeitsbericht, als Materialsammlung vorliegt. Es ist jedem unbenommen, seine Schlußfolgerungen und Bestätigungen aus dem Pro und Kontra der Anhörungen und Stellungnahmen zu ziehen und sie in die folgende inhaltliche Auswertung einzubringen, so wie sich für mich, Frau Hillerich, z. B. aus dem, was schon erarbeitet wurde, keine grundsätzliche Alternative zum dualen System der beruflichen Bildung ergibt.
Herr Kuhlwein hat soeben einen kompletten Katalog vorgelegt, der weit über die bisherige Arbeit der Kommission hinausgeht.Meine Hoffnung war also, daß der Konsens möglichst weit in die Bestandsaufnahme und Voraussicht und bis zu der ernsthaften Suche nach auch gemeinsamen Empfehlungen reiche, was doch, wie wir alle wissen und oft vermissen, dem Stellenwert der Bildungspolitik gegenüber anderen Politikbereichen, insbesondere Haushalts- und Finanzpolitik, nur dienlich wäre.Ich kann jetzt nicht auf alle Themenfelder der 201 Seiten des Zwischenberichts eingehen.
Sie reichen ja von der bereits angeschnittenen großen Frage, auf welche Zukunft das Bildungswesen vorbereitet sein und selbst mit vorbereiten sollte, über Fragen nach der voraussichtlichen demographischen Entwicklung, nach der Bildungs- und Erwerbsbeteiligung und nach dem künftigen Verhältnis von Erstausbildung und Weiterbildung bis zu den Perspektiven der Hochschulentwicklung und zur europäischen Integration, und sie sind — es wurde gesagt — ebenso wie die eingeholten Fremdgutachten inhaltlich noch nicht voll ausdiskutiert. Das gilt auch für die Bildungsbeteiligung von Frauen, für die ökologischen Fragen und für den nicht nur Europa betreffenden Komplex der internationalen Zusammenhänge. Da habe ich in dem Namensbeitrag von Herrn Kuhlwein wirklich mit Achtung und Interesse die Auflistung von Fragen gelesen, die ja nicht alle sofort und ad hoc beantwortet werden können.Wenn ich jetzt ganz kurz und exemplarisch den Komplex der Weiterbildung anspreche, so eben aus Zeitgründen und weil wir uns hier im Vorfeld von Grundsatzentscheidungen und in einer Diskussionbefinden, die — vielleicht plakativ — durch die folgenden Schlagworte zu bezeichnen ist: Pluralismus und Eigeninitiative hier, staatliche Gestaltung mit der Gefahr der Reglementierung und Bürokratisierung dort. Zwischen diesen beiden Polen gibt es eine Skala unterschiedlicher Wertungen und Lösungsvorschläge. Was heißt staatliche Verantwortung? Zur Sicherung der Pluralität der Träger und der Angebote Rahmenbedingungen schaffen, die diese Pluralität für ein umfassendes Angebot, für eine gleichberechtigte Teilhabe aller, für einen fairen Wettbewerb, für Qualität und Verwertbarkeit der Weiterbildung sichern, oder eine gesetzliche Gestaltungskompetenz, die zwar Ländern und gesellschaftlichen Gruppen Mitplanungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten geben soll, wobei aber von Trägern und Nutzern, von Angebot und Nachfrage, von individuellen Bedürfnissen und kreativen Antworten weniger die Rede ist?
Ich gebe zu, das ist eine etwas verkürzte Darstellung. Aber ich gehe im Interesse möglicher Annäherungen nicht so weit, die eine Vorstellung als gängelnde Planungs- und Reglementierungswut entlarven zu wollen, wie ich mich ja auch wehren müßte, wenn der von mir favorisierten Vorstellung eine sozial kalte Marktwillkür unterstellt würde.Meine Damen und Herren, das hört sich sehr allgemein an, aber von den Grundsatzfragen hängen zahlreiche Detailpunkte an. Ein Stichwort scheinbar vom Rande: Was ist Weiterbildungsstatistik? Soll sie die Grundlage für staatliche Selektion und Durchforstung des Angebots sein oder einer größeren Überschaubarkeit und Vergleichbarkeit im Interesse von Trägern und Nutzern dienen? Wie ist die Integration von beruflicher, allgemeiner und politischer Weiterbildung zu denken? Im Kopf der Individuen — so Professor Edding in einer Anhörung — , durch eine stärkere inhaltliche Integration oder — problematischer — organisatorisch verzahnt? Wie verhält sich die Forderung nach einer stärkeren Zertifizierung von Weiterbildung zu der Sorge, daß der Segen des lebenslangen Lernens in den Fluch lebenslänglichen Lernens, in eine lebenslange Angst um Kompetenz umschlage? Ich betone das, weil ich es war, der auf den Begriff des lebenslangen Lernens im Einsetzungsbeschluß und in unseren Gesprächen darüber besonderen Wert gelegt habe.
— Nein, nein, das war überhaupt kein Fehler!Frau Hillerich sagte in der Einsetzungsdebatte, die Kommission müsse sich darüber klarwerden, daß staatliches Handeln im Bildungswesen nicht zu einer weiteren Verrechtlichung und Reglementierung führen dürfe. Wie richtig! Allerdings scheint mir das, was ich höre, was Weiterbildung betrifft, z. B. der verführerische Chamäleon-Begriff von der „öffentlichen Verantwortung", dann doch wieder in eine andere Richtung zu zeigen. Auch dezentrale Formen schützen nicht vor dem Umschlagen von Verantwortung in gängelnde Kontrolle. Was die Finanzfrage angeht, so wird sie leicht zur Freiheitsfalle. Man sollte sich von Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten ge-
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Neuhausensellschaftlicher Gruppen — sprich: Großorganisationen — nicht täuschen lassen.
— Wenn Sie Fragen haben: In der Enquete-Kommission sitzen wir Stunden um Stunden zusammen.Wie überhaupt in der Bildungspolitik kann es hier nicht um die Zuteilung von Chancen gehen; es muß um ihre Öffnung und ihr Offenhalten und darum gehen, daß zu ihrer Wahrnehmung ermuntert und diese ermöglicht wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte sehr, Herr Kastning.
Da ich nicht in der Enquete-Kommission sitze, Herr Kollege Neuhausen, greife ich den Zwischenruf von Herrn Kuhlwein auf und frage Sie: Wie finden Sie denn das Berufsbildungsgesetz, das in einer Zeit entstanden ist, zu der Sie — wahrscheinlich — oder zumindest Ihre Partei mitgewirkt haben?
Herr Kollege, wir können jetzt nicht in eine Detaildiskussion eintreten.
Auch dazu stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Wir haben oft Gelegenheit, das intensiv zu besprechen.
— Das könnte man ja auch durch Abstimmung erfragen.
Meine Damen und Herren, auch eine nur fragmentarische Beschäftigung mit der Weiterbildung wäre aber unvollständig, wenn nicht eine weitere Parallelität zur Arbeit der Kommission einfach exemplarisch erwähnt würde. Die konzertierte Aktion Weiterbildung, von Jürgen Möllemann ins Leben gerufen, hat kürzlich ebenfalls eine Zwischenbilanz vorgelegt. Es ist ganz sicher: Dem, der von neuen Systemen und Gesamtkonzeptionen schwärmt, mag sie nicht genügen. Wem es aber um den Dialog über Erfahrungen und Herausforderungen,
über Empfehlungen, Projekte und Handreichungen geht, um Beratung, um Erweiterung und Verfeinerung des Angebots, um seine Nutzbarmachung gerade auch für Benachteiligte, um Abstimmung und Zusammenarbeit, der wird die Ergebnisse und die weiteren Vorhaben doch auch zumindest zur Kenntnis nehmen müssen.
Dieses Beispiel zeigt, daß die Kommission weder das Jahr 2000, Graf Waldburg, noch die Zukunft insgesamt sozusagen als Monopol für sich in Anspruch nehmen kann.
Zu Recht erwähnt Herr Kuhlwein im Vorwort zum Zwischenbericht, daß jede politische Entscheidung den Anspruch erhebe, die richtige langfristige Perspektive zu zeigen, und mit Sicherheit auch mittel-
und langfristige Auswirkungen habe. Er sagt das so oder so; das lasse ich jetzt einmal weg.
Das trifft nicht nur für die programmatische Arbeit der Parteien zu, sondern in ganz besonderem Maße für die Initiativen des Ministers für Bildung und Wissenschaft, Herr Dr. Lammert, zur Weiterbildung wie auch zu den Perspektiven der beruflichen Bildung und der Hochschule.
Im Ernst, meine Damen und Herren: Diese Bemerkungen sollen Wert und Bedeutung der Kommissionsarbeit — Sie haben das sicher gemerkt — nicht schmälern. Sie sollen vielmehr dazu beitragen, daß diese Arbeit, die gerade auch durch gegensätzliche Positionen und Zielvorstellungen, durch unterschiedliche Erfahrungen, durch Untersuchungen und Erkenntnisse mir jedenfalls — da schließe ich die Namensbeiträge durchaus ein — interessante Daten und Gesichtspunkte eröffnet hat, zu vernünftigen Ergebnissen kommt, daß wir uns auch des Umfeldes unserer Arbeit und der Relativität von Prognosen, Zukunftsprojektionen und Annahmen bewußt bleiben, wie es ja die nicht nur demographischen Folgen des Zustroms von Aus- und Übersiedlern in der jüngsten Zeit, die deutsch-deutschen Veränderungen oder die Entwicklungen zur europäischen Einigung zeigen.
Ich glaube nicht, daß seriöse und realistische Beobachter unserer Bemühungen zugespitzte Patentrezepte von uns erwarten, sondern sie erwarten, daß wir unseren Teil dazu tun, die Voraussetzungen für das zu klären, zu sichern und zu verbessern, was Liberale das Bürgerrecht auf Bildung nennen. Denn nur so, glaube ich, kann die Arbeit der Kommission perspektivisch und auch für die Bewältigung der jetzt und künftig je aktuellen unmittelbaren politischen Notwendigkeiten eine wichtige, vor allem aber nützliche, d. h. nutzbare, Hilfestellung leisten.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Götte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir lange überlegt, ob ich hier Nestbeschmutzung betreiben und öffentlich zugeben soll, daß die Enquete-Kommission schon seit einiger Zeit auf der Stelle tritt und trotz laufender Sitzungen nicht richtig vorankommt. Schließlich habe ich ja zu denjenigen gehört, die diese Enquete-Kommission unbedingt wollten und sie verteidigt haben.In einer Zeit rasanter politischer, technischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen — so dachten wir — brauchen wir dringend neue Orientierungshilfen für die Bildungspolitik des Bundes. Was hat Zukunft? Was ist überholt? Was muß der einzelne wissen und können, um sich künftig zurechtzufinden? Was erfordert der Umweltschutz? Welche Berufspläne haben Jugendliche, und welchen Bedarf meldet die Wirtschaft an? Wird der Zustrom zu den
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Frau Dr. GötteHochschulen zu- oder abnehmen? Wieviel Fremdsprachenkenntnisse sind nach der Öffnung des europäischen Marktes notwendig?Die Antworten auf diese und unzählige andere Fragen wollte sich der Deutsche Bundestag einstimmig etwas kosten lassen. Neben der Berufung von Experten und einem Sekretariat wurden erhebliche Summen für wissenschaftliche Gutachten bereitgestellt. Darüber hinaus wurde eine große Zahl von Sachverständigen zu zahlreichen Anhörungen geladen. Das ist ein Aufwand, gegenüber dem der inzwischen vorgelegte Zwischenbericht eher bescheiden aussieht, meine ich.Ob wir es schaffen werden, das in wissenschaftlichen Gutachten und Anhörungsprotokollen schlummernde Fachwissen der Nation in den noch verbleibenden Monaten so auszuwerten, daß auf alle Fragen eine schlüssige Antwort im Schlußbericht gegeben werden kann, erscheint von Woche zu Woche fragwürdiger.Woran liegt das?Daß es für die Kommission schwierig ist, mit dem derzeitigen politischen Tempo Schritt zu halten, kann man ihr nicht vorwerfen. Gerade erst haben wir uns über die Bevölkerungsstruktur des Jahres 2000 sachkundig gemacht, da setzt sich ein Strom von Übersiedlern und Aussiedlern in Bewegung und macht unsere Berechnungen hinfällig. Gerade erst haben wir die Prognosen über die künftigen Belegungen der Universitäten zur Kenntnis genommen, da wird auch schon alles durch die große Zahl der Studenten und Studierwilligen aus der DDR wieder in Frage gestellt.Aber das ist es nicht allein, was die Arbeit der Kornmission in Frage stellt, sondern die Unlust, die fast an Verweigerung grenzende Haltung der CDU/CSU-FDP-Mehrheit in der Kommission.
— Es mag sein, daß Sie das anders sehen. Aber es muß doch erlaubt sein, hier einen Eindruck wiederzugeben, der keineswegs nur mein Eindruck ist.Man hat oft das Gefühl: Die Mehrheit der Kommission verschwendet viel mehr Energie darauf, daß etwas nicht geschieht, als darauf, daß etwas geschieht.
Daß wir unsere Kompetenzen nicht überschreiten und am Ende Fragen stellen, die nur die Länder stellen dürfen; das die vorgesehene Gliederung nicht eingehalten wird; daß ein Papier zu viele sozialdemokratische oder grüne Positionen enthalten könnte; daß eine persönliche Meinung zum Vorschein kommen könnte; daß die derzeitige Bildungspolitik des Bundes kritisiert werden könnte; oder daß zuviel aus der bildungsreformerischen Vergangenheit lebendig werden könnte; und und und — das scheint die Koalitionsabgeordneten viel mehr zu beschäftigen als die Frage, wie wir inhaltlich vorankommen.
Mit dem Schreiben hält sich die Koalition bisher auffallend zurück. Sie haben doch heute in Ihren Reden gezeigt, daß Sie das durchaus können. Warum also bringen Sie keine Papiere ein? 60 Seiten Kommentor im Anhang des Zwischenberichts von der Opposition stehen null Seiten Kommentar von der Koalition gegenüber.Insgesamt ergibt sich für mich das merkwürdige Bild, daß sich die Experten, die wir angehört haben, in ihren Aussagen oft viel mehr einig sind als die Mitglieder der Kommission beim Zuhören und Verarbeiten.
Das stellte sich schon sehr früh heraus, als wir uns nicht einmal auf einen gemeinsamem Text über Bildungsreformtraditionen des Bundes einigen konnten. Die SPD wollte an eine gemeinsame Geschichte der Bildungsreform der 60er Jahre anknüpfen, wo bekanntlich der Deutsche Bildungsrat einstimmig Empfehlungen auf den Weg gebracht hatte.
Dies scheint den Vertretern der CDU/CSU und der FDP heute fast peinlich zu sein. Sie konnten sich nicht für die Idee erwärmen, im Zwischenbericht zunächst einmal Rückschau auf das zu halten, was einmal Konsens war. Ergebnis — auch Sie haben es in Ihren Reden gesagt —: Gleich zu Anfang gibt es zwei Parallelkapitel, nämlich einen Mehrheitstext von CDU/CSU und FDP, in dem lediglich aufgeführt wird, welche Institutionen an bildungspolitischen Entscheidungen des Bundes und der Länder maßgeblich beteiligt waren, und einen rot-grünen Minderheitstext, der beschreibt, was die gemeinsamen Ziele der Bildungsreform waren und wie die Bereitschaft zur effizienten Umsetzung dieser Reformen später nachließ.Die Hoffnungen der SPD, es könne erneut eine gemeinsame bildungspolitische Offensive in Gang gesetzt werden, werden so von Woche zu Woche schmäler.Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß sich mit oder ohne Enquete-Kommission das Bildungswesen der Gegenwart in der unmittelbaren Zukunft grundlegend verändern wird.
Die Fage ist nur, ob wir korrigierend oder kommentierend oder jammernd hinter diesen Entwicklungen herhecheln oder ob wir vorbereitend und steuernd mitwirken wollen.
Wenn wir von Planung reden, Graf von WaldburgZeil, meine ich natürlich nicht, daß wir auf die Bio-
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Frau Dr. Göttegraphien der einzelnen Menschen einwirken wollen; sondern wenn wir Planung sagen, dann meinen wir die Bereitstellung von Angeboten und Möglichkeiten für jedermann, auch für die, die einen kleineren Geldbeutel haben.
In großer Einmütigkeit — das ist das Paradoxe an diesem Zwischenbericht: wir sind uns nicht einig beim Zuhören, aber die Experten waren sich einig in der Darstellung — haben uns alle angehörten Vertreter aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen versichert, daß in Zukunft mehr und breitere Qualifikationen für möglichst viele erforderlich seien, ganz besonders für die, die glauben, sie hätten schon ausgelernt.Ebenso große Einstimmigkeit gibt es bei den Experten in der Meinung, daß über die Verteilung von Bildungszeiten innerhalb von Lebensläufen ganz neu nachgedacht werden müsse.
Es sollte meiner Meinung nach deshalb auch unter SPD-Politikern nicht gleich als Hochverrat geahndet werden, wenn über eine mögliche Verkürzung der Schulzeit nachgedacht wird, zugunsten von Ganztagsunterricht und zugunsten lebenslanger Weiterbildung.
Mit unterschiedlichen Begründungen und aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus kamen nahezu alle Angehörten zum gleichen Ergebnis: Neue Schlüsselqualifikationen sind gefragt; statt additiv aufgesetztem Wissen wird ein integriertes Konzept von Fachkenntnissen, verbunden mit personalen und sozialen Kompetenzen, verlangt. Handlungskompetenz, verstanden als Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, Solidarität, Kommunikations- und Kritikfähigkeit werden als Lernziele gleichberechtigt neben Sachwissen, Abstraktionsfähigkeit, Sprachkenntnisse und Kreativität gestellt.Vertreter der Wirtschaft begründen das mit dem Abbau der Taylorisierung der Arbeit und den immer kürzer werdenden Innovationszeiten neuer Produkte. Die Umweltschützer begründen das mit dem Hinweis auf drohende Selbstzerstörung. Die Soziologen begründen dies mit den gewachsenen Ansprüchen der Jugendlichen auf Sinnerfüllung und Selbstverwirklichung in Arbeit und Beruf. Die Europaplaner weisen auf den wachsenden Qualifikationsdruck und die dadurch gegebene Konkurrenzsituation hin. Und die Humanisten träumen immer noch von einer Schule, die auch für das Privatleben vorbereitet.Sie alle kommen also aus ganz unterschiedlichen Motiven zum selben Ergebnis. Darin liegt eine Chance, die etwas mit den Chancen zu tun hat, die wir in den 60er Jahren hatten.
Denn die Humanisten allein oder die Umweltschützerallein oder die Wirtschaft allein haben es nie geschafft, Bildungspolitik wirklich voranzubringen, aberwenn alle — meinetwegen aus ganz unterschiedlichen Motiven — dieselben Ziele anstreben, dann steckt darin eine Möglichkeit, eine Macht, die wir unbedingt nutzen, die wir aufgreifen sollten, aus der wir etwas zu machen verpflichtet sind.
Alle sind sich einig: Die Zeiten, in denen ein Heer von Knopfdrückern und Fließbandarbeitern gebraucht wurde, sind vorbei. Es wird immer schwieriger werden, Arbeitsplätze für Ungelernte zu finden, zumal die Unterversorgung mit Arbeitsplätzen — auch das haben wir in dieser Kommission gelernt — selbst unter optimalen Voraussetzungen, also bei 3 % Wirtschaftswachstum, nach Meinung der angehörten Experten bis zum Jahr 2000 nicht beseitigt werden kann.Einigkeit bestand unter den Experten auch darüber, daß die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen und ihre vielfältige Diskriminierung am Arbeitsplatz nicht von selbst abgebaut wird. Ohne Druck und — ich füge als Sozialdemokratin hinzu — ohne Gleichstellungsgesetz wird sich da gar nichts ändern.
Wir sind auf dem Weg zu einer multikulturellen Gesellschaft, oder wir sind es vielleicht schon. Der Anteil der Ausländer wird nach Hochrechnung der Experten bis zum Jahr 2000 auf 12 % ansteigen. 1980 waren es 7 %. Die Öffnung des Europäischen Binnenmarkts wird die Kontakte zum Ausland erheblich vertiefen und erweitern. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf Inhalte von Schule, Berufsausbildung, Hochschule und Weiterbildung sein.Die Weiterbildung — meine Vorredner haben es erwähnt — wird einen völlig neuen Stellenwert nicht nur in der Biographie des einzelnen Menschen, sondern auch in der Planung von Politik und Wirtschaft erhalten. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf das Finanzvolumen der Bildungspolitik auch des Bundes und auf das Arbeitsrecht bleiben.
Alle diese Herausforderungen verlangen von der Bildungspolitik neue Antworten. Der Bund kann sich da nicht mit dem Hinweis auf Länderkompetenzen heraushalten.
Wir, das Parlament, das einstimmig die Einsetzung dieser Enquete-Kommission beschlossen hat, sollten uns an diesen neuen Weichenstellungen aktiv beteiligen und dem Ministerium sagen, wo es langgeht, und nicht umgekehrt, Herr Neuhausen.
Was die Enquete-Kommission bisher an Daten und Fakten gesammelt hat, kann für die ganze Nation nützlich sein, auch für die Parlamente und Kultusminister der Länder. Nur müssen wir gemeinsam bereit sein, diesen Schatz zu heben, auch wenn das eine oder andere bildungspolitische Gebäude dadurch ins Wanken gerät oder gar durch ein neues Gebäude ersetzt werden muß.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14741
Frau Dr. GötteIch wünsche uns, daß wir den Mut und vor allem auch die Zeit haben, dies bis zum Ende der Legislaturperiode zu tun.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Oswald.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Götte, es wäre unseriös, Empfehlungen zu geben, wo die Sachdiskussion erst noch bevorsteht und eine Kommission noch nicht zu Schlußfolgerungen gekommen ist. Alles andere, als einen Tätigkeitsbericht zu diesem Zeitpunkt zu verabschieden, wäre falsch gewesen. Deswegen kann von Verschleppung überhaupt keine Rede sein.
In den vergangenen Jahren — meine Vorredner haben darauf hingewiesen — ist viel Arbeit geleistet worden. Eine Fülle von Gutachten zu wichtigen bildungspolitischen Fragen ist erstellt worden. Öffentliche Expertenanhörungen zu ausgewählten Bereichen wurden durchgeführt. Vorhandene Literatur, Statistiken, Studien wurden aufgearbeitet und ausgewertet. Über all dies gibt der Zwischenbericht Aufschluß, der nach dem Willen der Kommission ein Tätigkeitsbericht sein sollte.
Auch wenn im Bericht, dem Charakter eines Zwischenberichts entsprechend, auf Wertungen und Schlußfolgerungen bewußt verzichtet wurde, lohnt es sich, diese Debatte zu führen. Ich glaube, auch eine kursorische Bilanz ist notwendig.Lassen Sie mich mit einem Blick zurück beginnen. Im Vorfeld der Einsetzung der Enquete-Kommission gab es von seiten der Länder erhebliche Befürchtungen, der Bundestag werde durch die Einsetzung dieser Kommission die originären Zuständigkeiten der Länder in der Bildungspolitik verletzen. Bei den Abgeordneten der Koalition herrschte zunächst Skepsis, ob angesichts der vielen Institutionen und Organisationen, die den Bereich der Bildungspolitik untersuchen, von der Kultusministerkonferenz, der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung bis zum Bundesinstitut für Berufsbildung — um nur einige zu nennen — überhaupt noch Bedarf für eine solche Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages besteht. Dennoch verständigten sich alle Parteien auf die Einsetzung dieser Kommission, allerdings im Gegensatz zu den ursprünglich von Ihnen, der SPD und den GRÜNEN, vorgelegten Entwürfen in unzweideutiger Beschränkung des Untersuchungsauftrags auf die bildungspolitischen Kompetenzen des Bundes.Ich glaube, heute können wir mit noch größerer Überzeugung und Entschiedenheit sagen, daß dies eine weise Entscheidung war,
weise, weil sie die Kulturhoheit der Länder — Sie haben sicher Verständnis, daß dies für mich als Bayern ein besonderes Gewicht hat — unangetastet läßt; weise aber auch deswegen, weil angesichts der Fülle von Beratungsbedarf allein der originäre Bereich der bildungspolitischen Zuständigkeiten des Bundes kaum angemessen bewältigt werden kann. Wir haben dies heute schon gehört. Frau Kollegin Götte, Sie haben hierzu auch ein ehrliches Wort gesprochen.Lassen Sie mich an dieser Stelle auch die Frage stellen: Haben sich die Arbeit und der Aufwand eigentlich gelohnt? Läßt sich Bildung überhaupt planen? Gerade angesichts der aktuellen Umwälzungen, die wir zur Zeit in Deutschland in dramatischer und bewegender Weise erleben, mag man geneigt sein, diese Frage zu verneinen. Relativieren diese Umwälzungen doch nahezu alle Perspektiven, Erwartungen, wie wir sie noch vor wenigen Monaten als gültig angesehen haben.Dennoch, die zweifellos vorhandene Relativität jeglicher Planung ist auch von der Kommission durchaus gesehen worden. Im Zwischenbericht — ich zitiere — lesen wir:Die Enquete-Kommission ist sich bei ihrem Vorgehen der Unsicherheit prognostischer Aussagen bewußt und geht davon aus, daß gesellschaftliche Entwicklungen nur in beschränktem Umfang voraussehbar sind.Ich gestehe, daß auch ich Hoffnungen hatte, daß durch diese Kommission die Bildungspolitik verstärkter ins Bewußtsein der Öffentlichkeit tritt.
Bis jetzt jedenfalls ist das noch nicht erkennbar gelungen.Meine Damen und Herren, Bildungspolitik ist eine wesentliche Grundlage für das, was wir politisch als Zukunftssicherung bezeichnen. Die Qualität von Bildung und Ausbildung entscheidet maßgeblich über die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zukunft jedes einzelnen Bürgers in unserer Gesellschaft.Fest steht aber auch, daß angesichts der gerade angesprochenen gewaltigen Veränderungen in Ost und West Bildung für jeden einzelnen nach seiner individuellen Neigung und Begabung wichtiger und drängender ist als eh und je.Hier für die Bildungspolitik eine richtige Linie zu finden, d. h. eine vernünftige Synthese zwischen dem Bildungsanspruch des einzelnen und einer am gesellschaftlichen Bedarf orientierten berufs- und anwendungsbezogenen Wissensvermittlung, bedarf des Konsenses mit den maßgeblichen Gruppierungen unserer Gesellschaft und bedarf auch der Prognosen künftiger Trends und Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft.Nach meiner Einschätzung hat die Arbeit der vergangenen Jahre in der Kommission auch sehr deutlich gemacht, daß die heute erforderlichen bildungspolitischen Anstrengungen aller nicht in einer Wiederauflage der sogenannten Bildungsreform der 70er Jahre liegen können. Ganz ohne Zweifel haben wir nach Jahren intensiver Auseinandersetzungen in der Bildungspolitik eine neue Phase erreicht. In kaum einem
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14742 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Oswaldanderen Bereich wurde so lange so viel ideologisiert, polarisiert, phantasiert und demagogisiert wie in Fragen von Bildung und Erziehung.
Wesentliches trat in den Hintergrund, Ideologisches in den Vordergrund.Zu einer realistischen Bildungspolitik, wie ich sie vertrete, gehört aber auch der Zusammenhang zwischen Bildung und Beruf, Bildung und Beschäftigung. Je spezifischer die beruflichen Anforderungen, desto notwendiger wird dieser Zusammenhang. Mit fortschreitender Arbeitsteilung gewann die allgemeine Bildung an Interesse, weil sie einem Bedürfnis nach Einheit, Ganzheit, humaner Lebenserfüllung entgegenzukommen schien.Ich möchte nicht mißverstanden werden: Bildung darf sich ganz sicher nicht nur am ökonomischen Bedarf orientieren.
Bildung ist stets auf den ganzen Menschen gerichtet. Diesen ganzheitlichen Ansatz verfehlt sie aber letztlich gerade dann, wenn sie die Erfordernisse und Möglichkeiten des Arbeitsmarktes außer acht läßt. Denn wenn hochmotivierte junge Menschen, die ihr Studium oder ihre Berufsausbildung beendet haben, statt des gewünschten Eintritts ins Berufs- und Arbeitsleben entweder erst einmal der Umleitung mit der Aufschrift Umschulung zu folgen haben oder gar längerfristig arbeitslos werden, werden Enttäuschungen und Frustrationen ausgelöst, die die jungen Menschen beträchtlich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung schädigen können.
Der junge Mensch will erleben, daß er in einer Gesellschaft, in einer Arbeits- und Wirtschaftswelt gebraucht wird. Das ist eine ganz entscheidende Lebenserfahrung, und das eben zu Beginn seines beruflichen Lebens.Das Ziel einer verantwortungsvollen, einer verantwortungsbewußten Bildungspolitik muß deshalb in einem vielseitig gegliederten System der Ausbildung liegen, das für jedermann nach seinen jeweiligen Neigungen und Begabungen den richtigen Weg anbietet. So wie wir in der Arbeits- und Wirtschaftswelt, in Beruf und Gesellschaft die große Vielfalt haben, so bedarf es auch in der Bildungspolitik einer Vielzahl der Bildungsangebote. Alle verantwortlichen Bildungsentscheidungen sind nur in einem Bildungssystem der differenzierten Wege und gleichwertigen Abschlüsse möglich.Wir brauchen alle Formen von Arbeit in einer Gesellschaft. Wie hat es kürzlich der Vorsitzende des Juniorenkreises Handwerk in Düsseldorf ausgedrückt? Ich zitiere:Die Zeit ist nicht mehr fern, in der bei einem Wasserrohrbruch genügend qualifizierte Akademikerden steigenden Wasserstand in ihrem Wohnzimmer berechnen können, aber kaum jemand da ist, der imstande wäre, den Schaden zu beheben.
Sie haben uns, Herr Kollege Kuhlwein, auch einen Vorwurf bezüglich einiger Inhalte gemacht.Frau Kollegin Hillerich, ich will Ihnen sagen: Ich habe den Anhang quergelesen. Auf Seite 175 der Drucksache ist folgendes wiedergegeben, was Frau Professor Dr. Lisop gesagt hat und was ich zitieren möchte:Schließlich: Hat, wer eine Kfz-Ausbildung mit Auszeichnung durchlaufen hat, damit etwas begriffen und sich zu eigen machen können, was die sinnvolle oder unsinnige Benutzung des Autos betrifft? Ist er kompetent geworden, an der Verhinderung weiterer Verwüstung der Städte und weiterer Zerstörung von natürlichem Lebensraum mitzuwirken oder auch nur sich dafür zu interessieren?Ich sage das ganz persönlich: Ich will einen Kfz-Handwerker, der mein Auto repariert, und nicht einen, der mit mir nur über Verkehrspolitik und Umweltfragen diskutiert. Ich sage das ganz deutlich.
Das Ausbildungssystem muß aber auch ein offenes System in dem Sinne sein, daß die Ausbildungsstränge vielfältig untereinander verknüpft sind und somit weitgehend die Möglichkeiten bestehen, von einem Strang in den anderen überzuwechseln. Nur dann kann sich der junge Mensch für den Bildungsweg entscheiden, der seinen Neigungen und Fähigkeiten am besten entspricht, ohne befürchten zu müssen, daß ihm durch die Wahl z. B. einer beruflichen Ausbildung fernere Bildungswege verschlossen sind oder diese in einer Sackgasse enden. Nur so ist auch gewährleistet, daß jedermann eine qualitativ hochwertige Ausbildung erhält, die ihm sowohl zur persönlichen Erfüllung wie auch zum beruflichen Erfolg verhilft.Die jungen Menschen, die heute eine Berufsausbildung beginnen, werden nach deren Beendigung keinen deutschen, sondern einen europäischen Arbeitsmarkt vorfinden. Gerade für diese europäische Herausforderung müssen wir durch bestmögliche Qualität von Bildung und Ausbildung gerüstet sein. Qualitätsbewahrung und Qualitätssteigerung, nicht aber die Nivellierung auf dem untersten Niveau müssen deshalb die Devise für die Zukunft sein.Dies schließt nicht aus, daß wir in manchen Punkten von unseren europäischen Nachbarn auch lernen können. Eines darf der Binnenmarkt nicht bringen: Es geht nicht um eine „Europäisierung" der nationalen Bildungssysteme, es geht um ihre zunehmende Europafähigkeit.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Penner?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14743
Selbstverständlich.
Herr Kollege Oswald, ich weiß es nicht, aber das Bundestagshandbuch weist es auf: Sie haben den höchst ehrenwerten Beruf des Einzelhandelskaufmanns erlernt. Warum haben Sie dann anschließend noch studiert?
Lieber Herr Kollege Penner, es würde jetzt zu weit gehen, bei einer solchen Debatte den jeweiligen persönlichen Werdegang im einzelnen darzulegen.
— Nein, das ist keine Grundsatzfrage.
— Nein. Ich habe damals weitergemacht, weil ich neben meinen Wünschen der wirtschaftlichen Betätigung auch noch andere Berufsziele hatte. Ich glaube, das ist doch etwas Legitimes.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Sie sind sehr liebenswürdig. Würden Sie sich denn als Produkt einer völlig verfehlten Bildungspolitik bezeichnen?
Nein, ich möchte sogar so weit gehen, zu sagen, daß ich die Tatsache, daß jedermann im Anschluß an Abschlüsse die Möglichkeit hat, ein Studium zu beginnen oder den beruflichen Werdegang einzuschlagen, für eine gute Errungenschaft in diesem Lande halte.
— Nein, die Frage der Durchlässigkeit, nämlich von einem Bildungsgang in einen anderen wechseln zu können, ist eine große bildungspolitische Errungenschaft.
— Ich habe nur noch zwei Minuten. Sie haben anschließend Redezeit, habe ich gehört, Frau Kollegin Hamm-Brücher. Deswegen darf ich meine Gedanken jetzt zu Ende führen.
Ich bin davon überzeugt, daß das gute deutsche Bildungswesen auf diese europäische Herausforderung vorbereitet ist. Zu unserem vielfältigen, breitgefächerten, begabungsorientierten Schulsystem gehört auch das duale Berufsausbildungssystem, auf das wir nicht verzichten wollen. Herr Kollege Kuhlwein, Sie haben ganz persönlich ja noch den Zusatz gemacht, daß Sie sich dazu bekennen.
Ich meine, das duale Berufsausbildungssystem ist unser Exportschlager. Diese Ausbildung ist unsere Qualität. Ich meine, sie ist eine ganz wesentliche Grundlage.
Meine Damen und Herren, in unserer gesamten Gesellschaft wird in den kommenden Jahrzehnten eine höhere Flexibilität und Mobilität notwendig sein. Nur Flexibilität und Mobilität in der Berufsorientierung und der Weiterbildungsbereitschaft werden die Voraussetzung sein, um die Herausforderungen zu bewältigen. Das Tempo des technischen Fortschritts verlangt von allen Beschäftigten die ständige Bereitschaft, durch Weiterbildung die einmal erworbenen Qualifikationen und Kenntnisse den technologischen Veränderungen anzupassen. Gelernt wird aber nicht nur in der Schule. Lernen am Arbeitsplatz wird in der Zukunft nach meiner Auffassung mehr Bedeutung bekommen als je zuvor.
Es ist in der Kürze der Zeit nicht möglich, weitere Punkte anzusprechen.
Ich will den langjährigen Chef der Robert-BoschGmbH, Hans Merkle, zitieren, der 1983 bei der Westdeutschen Rektorenkonferenz gesagt hat:
Nicht derjenige wird mit den Lebensproblemen der Zukunft am besten fertig, der das meiste Wissen hat, sondern derjenige, der am besten gelernt hat, wie man mit dem Wissen fertig wird.
Dieser Satz gefällt mir sehr gut. Zu diesem Fertigwerden mit diesem Wissen aber verhelfe ein Bildungskanon, „in dem Fähigkeiten einen höheren Rang haben als Kenntnisse, in dem Eigenschaften wichtiger sind als Fähigkeiten, in dem der Generalist mehr gilt als der Spezialist, in dem Charakter vor Wissen steht" .
Meine Damen und Herren, auch wenn ich glaube, daß diese Kommission nicht zu grundlegend neuen Erkenntnissen kommen wird, so hoffe ich dennoch, daß die umfangreiche Arbeit, auch wenn vielleicht manches zu breit angelegt wurde — da kann man nur sagen: Wer, der nebenbei noch etwas anderes zu tun hat, soll dies eigentlich alles lesen? Alle versuchen es ganz sicher — , dennoch ihren Niederschlag auch in der interessierten Öffentlichkeit finden wird und daß der Bereich von Bildung und Wissenschaft auch parlamentarisch ein Stückchen aufgewertet wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir erlaubt, mich zu Wort zu melden, und freundlicherweise noch ein bißchen Redezeit dazu bekommen, weil ich der reformerischen Meinung bin, es wäre sehr nützlich, wenn bei solchen Debatten auch einmal Parlamentarier etwas sagen, die selber nicht in der Kommission tätig sind, und einfach zuhören, sich so einen Bericht auch einmal ansehen. Wir können dadurch auch wieder mehr Interesse aneinander und an der jeweiligen
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14744 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Frau Dr. Hamm-BrücherArbeit, die sich immer expertischer ausprägt, bekommen. Das ist der eine Grund.
Ich würde mir bei vielen Debatten wünschen, daß einmal eine Runde eingelegt wird, in der eben auch unbefangenere Leute einmal ihre Eindrücke schildern, und das wollte ich jetzt tun.Ich bin von dieser Debatte tief beeindruckt. Ich möchte allen, die sich den mühsamen Exerzitien dieser Kommissionsarbeit unterziehen, im Namen derer, die hier anderes zu tun haben, wirklich einmal ganz, ganz herzlich danken. Hier ist auch in der Debatte wirklich ein Bemühen spürbar geworden — es kommt überhaupt nicht darauf an, ob im einzelnen alle einig sind; das wäre wirklich sehr langweilig — , das Bemühen, darüber nachzudenken: Welche bildungspolitischen Aufgaben stehen vor uns? Daß das eine Menge sind und daß das sehr schwierige sind, ist doch aus jedem Debattenbeitrag so deutlich geworden, daß ich finde, schon deshalb hat sich diese Enquete-Kommission gelohnt. Ich habe nur den einen Wunsch: daß Sie noch fertig werden, daß nicht wie die Parlamentsreform auch die Bildungsreform einfach so im Leeren endet. Das fände ich schade.Ich bin wohl die letzte Hinterbliebene aus der ersten Phase der großen Bildungsreform, zu der am Anfang auch in einem großen Einvernehmen aufgebrochen worden war. Ich denke an die 100. KMK-Sitzung. Das war der große bildungspolitische Aufbruch der Länder, dem sich dann der Bund mit der Erweiterung des Grundgesetzes um Art. 91 b angeschlossen hat. Wir waren auch in den 70er Jahren bei dem Bildungsgesamtplan noch weitgehend einer Meinung. Die beklagte Ideologisierung ist, so muß ich einmal sagen, Herr Kollege Oswald, überwiegend daher gekommen, daß man versucht hat, das parteipolitisch sehr zu besetzen, und zwar manchmal leider auf allen Seiten.
Es war heute das Schöne, das wirklich Gute — daß man noch so kleine Nachhutgefechte geführt hat, gehört dazu —, daß im Prinzip weitgehend Übereinstimmung besteht.Dafür sind Sie, Herr Oswald, ein Beispiel; das muß ich Ihnen wirklich einmal sagen. Sie haben gesagt, Sie wollen einen Kfz-Schlosser haben, der mit Ihnen nicht über Zusammenhänge von Autos und Abgasen und Umweltverschmutzung diskutiert. Aber Sie sind das lebendige Beispiel dafür, daß Ihnen das am Ende nicht genügt hat, indem Sie einen weiteren Bildungsweg beschritten haben.
Was Sie selber für sich geleistet haben, sollten Sie jedem Kfz-Schlosser und auch jedem anderen zugestehen.
Das halte ich wirklich für eine schöne Sache.Ich sage Ihnen: Was in unserem gesamten Bildungssystem, vom Kindergarten über die Schule, dieHochschule, die Weiterbildung und das duale System, am allermeisten fehlt, ist die Erziehung des Menschen zur Verantwortung.
Das brauchen sie nämlich für alles. Wenn ich sehe, wie unsere 45-Minuten-Unterrichtsstunden abgehaspelt werden, wenn ich sehe, wie in den Universitäten die Vorlesungen heruntergemacht werden: Das Prinzip Verantwortung für jeden Bürger, der sich in diesen komplizierten Verhältnissen zurechtfinden kann, kann er an allem lernen; das kann er am Schuh-Abputzen, das kann er an der Ökologie und der Rücksicht im Verkehr lernen. Er muß es lernen, meine Damen und Herren. Das wird vernachlässigt. In unserem gesamten Bildungssystem wird eben dieses vernachlässigt, weil wir dafür keine Freiräume haben. Darum bin ich, je älter ich werde, ein desto größerer Gegener des staatlichen Schulmonopols, durch das alles und jedes reglementiert wird. Ich bin der Meinung, daß Lehrer und Schulen nicht genügend Verantwortung im Rahmen der Schule haben. Da sind wir ja nun besonders verbunden, Graf Waldburg-Zeil.
Auch die Lehrer haben nicht genügend Verantwortung. Auch die Erzieher zeigen nicht genügend Verantwortung für alles, was sie tun. Das wird deutlich, wenn sie nicht imstande sind, einen Schulausflug zu machen, weil irgend etwas mit der Versicherung nicht in Ordnung ist. Das wird deutlich, wenn ein Schulhof am Nachmittag nicht geöffnet werden kann. Wie viele Schulhöfe könnten Kinderspielplätze werden? All das gehört doch zu einem offenen Schulsystem.
Machen Sie also ihre Arbeit fertig! Es ist vorzüglich, was Sie uns hier heute vorgeführt haben. Vergessen Sie nicht, daß man Bildung wirklich nicht nur um der Bildung und der Lebenschancen willen braucht — das ist alles sehr wichtig — , sondern daß Verantwortung das Elixier einer Weltgemeinschaft, einer Menschheitsgemeinschaft, ist, die überleben will und überleben muß.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Lammert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung teilt mit den Fraktionen des Deutschen Bundestages und schon gar mit deren Bildungspolitikern die Überzeugung, daß der Bildung und der Wissenschaft für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft ein hoher, in der breiten Öffentlichkeit nach wie vor eher unterschätzter Stellenwert zukommt. Wir werden die ökonomischen und die ökologischen Probleme, die technischen und die kulturellen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, ganz sicher nur bewältigen können, wenn wir in den Bereichen Bildung und Wissenschaft, Ausbildung und Forschung die notwendigen Qualifikationen dafür schaffen. Dies gilt erst recht auf dem Hintergrund der zusätzlichen und zum
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Parl. Staatssekretär Dr. LammertTeil ganz neuen Fragestellungen und Perspektiven, die mit der jüngsten europäischen und deutschen Entwicklung verbunden sind.Auch was die im Kommissionsbericht beschriebenen Aufgaben und Handlungsfelder betrifft, besteht ganz offensichtlich ein hohes Maß an Übereinstimmung, wie eine große Zahl von Aktivitäten der Bundesregierung belegt, die in diesen Feldern längst in Form von Modellversuchen, neuen Arbeitsschwerpunkten und Planungen ergriffen worden sind.
Meine Damen und Herren, mir steht selbstverständlich ein Urteil über diese Debatte nicht zu. Aber ich will meinen persönlichen Eindruck nicht unterschlagen, daß sie wesentlich aufschlußreicher ausgefallen ist als der Bericht, auf den sie sich bezieht,
weil sie viel politischer war, als es der Bericht aus einer Reihe von Gründen offensichtlich sein konnte,
und auch Überlegungen und Perspektiven verdeutlicht hat, die jedenfalls noch nicht Bestandteil des Berichts der Kommission sein konnten, die ja angekündigt hat, daß die konkreten Schlußfolgerungen für eine künftige Wissenschafts- und Bildungspolitik im Schlußbericht deutlich gemacht werden sollen.
Deswegen kann eine inhaltliche Würdigung des Kommissionsberichts nicht in Frage kommen. Eine politische Beurteilung der Debattenbeiträge wäre so aus der Hüfte geschossen ganz sicher etwas arg voreilig. Ich möchte mich deswegen nur mit ein paar wenigen ersten Anmerkungen zu einigen der Überlegungen, die hier gerade vorgetragen worden sind, an der Debatte beteiligen.Ich bin, Frau Kollegin Götte, mit Ihnen sehr einer Meinung, daß das unvoreingenommene Nachdenken über eine möglicherweise eben doch nötige Verkürzung von Schulzeiten und Studienzeiten nicht den Vorwurf des Hochverrats rechtfertigt.
Wenn überhaupt, würde man sich den Verdacht des Verrats an den Bildungschancen künftiger Generationen wohl doch allemal eher einhandeln, wenn man womöglich in ein und derselben Debatte zunächst von den fundamentalen Veränderungen unserer Gesellschaft und den neuen Herausforderungen redete und im zweiten Teil den Status quo der Bildungsinstitutionen mit sämtlichen damit verbundenen Denkgewohnheiten unter Denkmalschutz stellen wollte.
Die Bundesregierung steht allerdings mit erheblicher Zurückhaltung der Überlegung gegenüber, die der Kollege Kuhlwein in dieser Debatte im Hinblick auf eine mögliche grundgesetzliche Verankerung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe Weiterbildung angeregt hat. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrung, die wir mit Bildungsurlaubsgesetzen bisher in den Ländern machen konnten, die solche Gesetze verabschiedet haben, geben jedenfalls keinen überzeugenden Anlaß, damit die Zweckmäßigkeit gesetzlicher Bildungsansprüche durch ein Bundesgesetz begründen zu wollen.Nun kann man ganz sicher, Herr Kollege Kuhlwein, über Ziele nachdenken wie das von Ihnen in dieser Debatte formulierte, eine prinzipiell elternunabhängige Förderung von Schülern und Studenten anzustreben. Ich würde Sie nur herzlich bitten, diese dann im Zusammenhang mit einem anderen Postulat weiterzuverfolgen, das Sie mit großer Zustimmung meinerseits in Ihrem Beitrag vorgetragen haben, daß nämlich bildungspolitische Pläne stärker als bisher finanzpolitische Verbindlichkeit gewinnen müssen. Ich wäre schon dankbar, wenn in den weiteren Beratungen der Kommission und vielleicht auch in Ihrem persönlichen Beitrag bei der Diskussion über den Schlußbericht deutlich werden könnte, was denn eine solche Priorität für eine prinzipiell elternunabhängige Förderung von Schülern und Studenten für andere bildungspolitische Ziele unter dem Gesichtspunkt verfügbarer Finanzvolumina und der sich daraus ergebenden Konkurrenzsituation bedeutet. Jedenfalls sollten wir den bequemen Eindruck vermeiden, als könne man alles gleichzeitig und vor allen Dingen alles kostenlos haben.Drittens. Frau Kollegin Hillerich, Sie haben einmal mehr Zweifel am dualen Bildungssystem in der Bundesrepublik vorgetragen. Solche Zweifel sind selbstverständlich erlaubt. Mir fällt auf, daß wir auf dem Hintergrund der Europäisierung des Arbeitsmarktes, von dem auch in dieser Debatte zu Recht immer wieder die Rede war, in den letzten Monaten in verstärktem Umfang ausländische Delegationen in der Bundesrepublik zu Besuch haben, die sich mit den besonderen Institutionen und Regelungen unseres Bildungssystems befassen wollen, die aber zum überwiegenden Teil nicht an unserem Hochschulsystem, sondern an unserem System der dualen Berufsausbildung interessiert sind, weil zumindest sie offensichtlich den Eindruck haben, daß hier eine Überlegenheit des deutschen Bildungssystems gegenüber anderen besteht,
weniger dagegen im Bereich des Hochschulsystems.
Das ist eine Einschätzung, die ich persönlich übrigens ausdrücklich teile.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung verfolgt die Arbeit dieser Kommission nicht nur mit Interesse, sondern auch mit großer Sympathie. Ich will bei dieser Gelegenheit für das sehr ehrgeizige Ziel, in nur noch ganz wenigen Monaten zu einem mit konkreten Empfehlungen versehenen Schlußbericht zu kommen, ausdrücklich die Bereitschaft des Ministeriums zur konstruktiven Mitarbeit anbieten. Wir hoffen sehr, daß der Schlußbericht möglichst viele möglichst
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Parl. Staatssekretär Dr. Lammertkonkrete Empfehlungen enthalten wird, die, wenn sie schon nicht allesamt im Konsens zustande gekommen sein mögen, doch zumindest so ausfallen sollten, daß sie den weiteren Streit lohnen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik" zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Such, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Tätigkeit des Verfassungsschutzes — Drucksachen 11/4662, 11/5982 —
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/6304 und 11/6308 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für jede Fraktion ein Beitrag von je zehn Minuten vorgesehen. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Such.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung belegt wieder einmal die Uferlosigkeit der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden. Trotz wohlgesetzter Formulierungen bleibt folgender Befund: Politisch oppositionelle Organisationen, Medien und auch Einzelpersonen wie Rechtsanwälte werden als Träger „extremistischer Bestrebungen" oder auch zur Gewinnung entsprechender Anhaltspunkte überwacht. Letzteres setzt logischerweise ein sehr weit gefächertes, schleppnetzartiges Verdachtsraster voraus. Falls eine politisch gewünschte Überwachung mit dem Verhalten des Prüfungsobjekts gar nicht zu rechtfertigen ist, lautet die wohlfeile Erklärung, man habe die „Möglichkeit" extremistischer Beeinflussungsversuche überprüfen wollen.
Diesem Schema folgt die Arbeit des Verfassungsschutzes nun schon seit 40 Jahren. Die Amtstätigkeit, der Personalstamm, die Ausgaben sind beständig ausgeweitet worden. Als Kind des Kalten Krieges stand die Konzentration auf die politische Opposition von links stets im Vordergrund.
Diese Legitimation der Ämter ist nach den dramatischen Umwälzungen in Osteuropa in Gefahr. Die DKP plus Umfeld als langjährige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme liegt brach.
In der CSSR und in der DDR haben die Menschen den Verfassungsschutz, genannt Stasi, abgeschafft. Sie haben ihn nicht nur abgeschafft, sondern sich auch dagegen gewehrt, eine neue Institution — vielleicht nach dem Muster des hiesigen Verfassungsschutzes — einzurichten.
Wer glaubt, Vergleiche der hiesigen Verfassungsschutzbehörden und Geheimdienste mit dem Stasi der DDR seien unzulässig, dem kann ich nur sagen: Hierzulande wurde schon beim Aufbau des Verfassungsschutzes klar gesagt, daß dieser eigentlich nicht die Verfassung, sondern die Staatssicherheit zu schützen habe und — Zitat Schröder/Kiesinger — „daß wir eines Tages getrost zu diesem Namen" — Staatssicherheit — „zurückkehren können".
Angesichts der langen Kette von Verfassungsschutzskandalen drängt sich diese Konsequenz zwar zugegebenermaßen auf, wir würden aber gern eine andere, noch näherliegende Konsequenz ziehen und — wie in dem Ihnen vorliegenden Entschließungsentwurf beantragt — den Verfassungsschutz ganz abschaffen.
Das gleiche soll gelten für den Verfassungsschutz im militärischen Bereich, den MAD, sowie den BND, der ja bekanntlich nicht nur im Ausland spioniert.
Wer in Anbetracht der Entwicklungen in der DDR und der Verfassungsschutzskandale sowie der Wirkungslosigkeit dieser Behörden bloße kosmetische Reformen vorschlägt, ignoriert die Tatsache, daß der Verfassungsschutz nicht nur ein ungeeignetes Organ zum Schutz der Verfassung, sondern ein staatsgefährdender Sicherheitsdienst ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher?
Wenn die Zeit angehalten wird, ja.
Bitte schön.
Herr Kollege, wenn man etwas abschaffen will, muß man immer sagen, was man dann will.
Deshalb möchte ich Sie einmal fragen: Stellen Sie es sich denn so vor, daß es wirklich überhaupt nicht nötig ist, auch nicht in einer sehr freiheitlichen Demokratie, politischer Strömungen, die angetreten sind, eben diese freiheitliche Demokratie abzuschaffen, irgend-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14747
Frau Dr. Hamm-Brücherwie Herr zu werden? Also, bitte, wenn Sie abschaffen wollen, was dann?
Frau Kollegin Hamm-Brücher, wenn Sie meinen weiteren Ausführungen zuhören, dann werden Sie feststellen, wie ich mir Verfassungsschutz vorstelle und wodurch die Verfassung zu schützen ist; jedenfalls nicht durch Behörden, durch den administrativen Verfassungsschutz.Unsere Verfassung — und jetzt komme ich dem schon nahe — wird nicht durch behördliche Schnüffelei, sondern durch verfassungstreue Politiker und Politikerinnen, freie und kritische Medien und nicht zuletzt mündige Bürgerinnen und Bürger geschützt.
Insbesondere die Medien spielen da eine erhebliche Rolle.In diesem Zusammenhang ist es besonders bemerkenswert, daß es den Verfassungsschutzbehörden bisher nicht gelungen ist, auch nur politische Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und richtig zu deuten.
Weder das Erstarken des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik noch die demokratischen Entwicklungen im Osten wurden auch nur ansatzweise prognostiziert.Betrachtet man die Verfassungsschutzskandale der letzten 40 Jahre, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß die Behörden zu einem Großteil damit beschäftigt waren, ihre eigenen Pannen und Skandale geheimzuhalten. Daß diese Verfassungsschutzskandale ausschließlich durch kritische Medien aufgedeckt wurden, zeigt die Unkontrollierbarkeit und Demokratiefeindlichkeit dieser Institutionen.
Sichtet man die Presseerzeugnisse, die sich seit 1950 mit dem Verfassungsschutz beschäftigt haben, so stellt man fest, daß hier Fehlentwicklungen, Auswüchse und Machtmißbrauch dokumentiert werden. Selten jedoch wird der Verfassungsschutz grundsätzlich in Frage gestellt. Die öffentliche Kontrolle einer Institution wird dort, wo diese im Geheimen agiert, besonders erschwert. Zum einen wird das Öffentliche zu einer internen Angelegenheit staatlicher Instanzen, zum anderen wird die Freiheitssphäre des einzelnen eingeschränkt. In diesem Sinne wirkt der Verfassungsschutz doppelt kontrollierend: indem er unter Vorgabe eines öffentlichen Interesses den Bürger und die Bürgerin kontrolliert und sich gleichzeitig zum Schutz seiner geheimen Arbeit gegen die Bürger und Bürgerinnen abschirmt. In dem Maße, wie der Verfassungsschutz immer mehr gesellschaftliche Sektoren seiner beobachtenden Tätigkeit unterwirft, wächst der Bereich des potentiell Geheimen.Der Verfassungsschutz steht somit im ständigen Widerspruch zu einem politischen System, das seine konstituierenden Prinzipien in demokratischer Partizipation und Transparenz sieht. Das Verhältnis vonadministrativem Verfassungsschutz und demokratisch verfaßter Gesellschaft verweist daher auf ein Dilemma, das sich nur mit der Abschaffung des Verfassungsschutzes lösen läßt. Mit anderen Worten: Administrativer Verfassungsschutz ist einer offenen, demokratischen Gesellschaft nicht zuzumuten und steht ihr feindlich gegenüber.
Lassen Sie mich zum Schluß einige wesentliche Skandale der Verfassungsschutzbehörden aufzählen — ich mache es stichwortartig — : Operation Vulkan, 1953; Landesamt für Verfassungsschutz Berlin observiert Politiker und Politikerinnen aus dem Abgeordnetenhaus; Affäre Otto John; Verfassungsschutz observiert Arbeitslosenvereinigungen; V-Mann-Skandal des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit Verträgen; Adventsfeierlichkeiten im Kölner Lokal „Hamburg Ahoi" ; Zusammenarbeit bei der Legendenbildung mit Wirtschaftsunternehmen; Eingriff in die Pressefreiheit; Telefonabhöraffäre ; nationalsozialistische Personalpolitik des Kölner Amtes — hierzu ein Zitat aus dem „Spiegel" Nr. 38 von 1968, Seite 21 — :
— Das ist lange her, ja. —Unter den rund 800 Kölner Verfassungsschützern sind Leute, die den ganzen Tag zwar nicht mit dem Grundgesetz, wohl aber mit der SS-Blutgruppentätowierung unter dem Arm herumlaufen.Verfassungsschutz observiert Anti-Atom-Veranstaltung der SPD; Verfassungsschutz überprüft Leistungsdateien der AOK Flensburg; SDS-Überwachung an der Uni Gießen; Berliner Verfassungsschutz überprüft Mitgliedsanträge der Parteien; falsche Verfassungsschutz-Information über geplante SDS-Aktionen; Posthandwerker weigert sich, für Verfassungsschutz Leitungen zu schalten, er wird entlassen; Verfassungsschutzerkenntnisse für parteiinterne Auseinandersetzungen; Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herrmann Schrubbers, war Staatsanwalt im Dritten Reich; Chile und das Bundesamt für Verfassungsschutz; Mord am Verfassungsschutzinformanten Krüger.Und so geht es weiter mit der Affäre Guillaume; Überprüfung von Wehrpflichtigen; Weitergabe von Verfassungsschutzmaterial an Dritte; Abhörfall Klaus Traube; Verfassungsschutz schnüffelt in Bibliotheken; Celler Loch; Verfassungsschutzmaterial an Parteifreund weitergegeben; Zusammenarbeit von BGS und Verfassungsschutz; Verfassungsschutz überwacht Schüler und Schülerinnen in Bayern, BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz; Lauschangriff in Hamburg; Betriebswahlenüberprüfung durch den Verfassungsschutz; Weitergabe von Verfassungsschutzmaterial an Betriebe ; Verfassungsschutz nimmt Einblick in die Personalakten des Bundesamtes für Zivildienst; Überprüfung von Laienrichter in Berlin; Bundesamt für Verfassungsschutz überprüft Ordensempfänger; Verfassungsschutz-V-Mann Klaus Tröger wird als einer der aktivsten Gewalttäter bei Demonstrationen identifiziert; Affäre Tiedge; Bundesamt für
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14748 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
SuchVerfassungsschutz observiert Landesamt für Verfassungsschutz usw.Meine Redezeit ist leider zu Ende.
Ich könnte diese Aufzählungen stundenlang fortsetzen, und ich glaube, daß das allein Grund genug sein muß, diese Ämter endgültig abzuschaffen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als die GRÜNEN im hessischen Landtag die Abschaffung des Verfassungsschutzes verlangten, nannte ihr Sprecher Kuhnert den Verfassungsschutz eine „menschenzerstörende Spitzelbehörde",
die in der Tradition der Gestapo stehe. Als wir in der vorigen Woche, also vor sieben Tagen, am 18. Januar, Ihren Antrag zum Thema Terrorismus diskutierten, rief der GRÜNEN-Abgeordnete Weiss laut Protokoll in meine Rede, der Verfassungsschutz sei eine Behörde, die — so wörtlich — „Dreck am Stekken" habe
und die — so sagte er weiter — „dem Staatssicherheitsdienst in der DDR entspricht" .
In Ihrem heutigen Antrag — das klang soeben auch in Ihren Worten an — setzen Sie den Verfassungsschutz bei uns mit dem Staatssicherheitsdienst — Stasi oder Nasi — wieder auf eine Stufe.
Wissen Sie eigentlich, Herr Such, welche Verbrechen auf das Konto des Stasi gehen? Permanente brutale Menschenrechtsverletzungen, grausame Folter, jahrelange Isolationshaft, unendliches Leid für einzelne und für Familien bis hin zur Verantwortung für den Tod von Menschen. D a s ist wahrlich vergleichbar mit den Verfolgungsinstrumenten der Gestapo. Und diese Schergen der kommunistischen Diktatur nennen Sie in einem Atemzug mit unseren Verfassungsschutzbeamten, mit Beamten, die einen Auftrag erfüllen, den wir, die frei gewählten Parlamente, und den unsere Verfassung, unser Grundgesetz ihnen erteilt haben; Beamten, die sich für jede Rechtsverletzung vor unseren Gerichten verantworten müssen. Es ist empörend und ungeheuerlich, wie Sie das Ansehen dieser Beamten in den Schmutz ziehen. Sie sollten sich schämen für solche Äußerungen.
Meine Damen und Herren, ich nenne noch einige weitere aufschlußreiche Zahlen zur Demonstration des Unterschiedes zwischen diesem Staat hier im Westen und jener Diktatur im Osten. Auf je 100 000 Einwohner kommen in der Bundesrepublik bei Bund und Ländern 20 Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes. In der DDR kommen auf 100 000 Einwohner 1 213 Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Das sind mehr als 60mal soviel. Bei uns kommen 90 Rechsanwälte auf 100 000 Einwohner. In der DDR sind es ganze vier. Damit die DDR auf unser quantitatives Niveau bei den Mitarbeitern eines neuen Dienstes käme, müßte sie einen Abbau von 194 000 auf 3 200 Mitarbeiter vornehmen. Auch das, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, zeigt, wie unwissend viele aus Ihren Reihen daherreden.
Meine Damen und Herren, wir von der CDU/CSU haben wiederholt die Unwahrheit von Behauptungen, die Sie über den Verfassungsschutz aufgestellt haben, öffentlich dokumentiert.
Auch in Ihrer Großen Anfrage arbeiten Sie erneut z. B. mit der wahrheitswidrigen Unterstellung, daß die „taz" „Beobachtungsobjekt" des Verfassungsschutzes sei und die Mitarbeit dort gezielte Aktionen des Verfassungsschutzes, auch unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, ausgelöst habe. Obwohl das in offiziellen Anfragen bereits in der Vergangenheit von der Regierung zurückgewiesen worden ist, haben Sie erneut diese Behauptung aufgestellt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, wenn das nicht auf meine Zeit angerechnet wird.
Nein, das wird nicht angerechnet.
Herr Abgeordneter, trifft es zu, daß Mitarbeiter der „taz" durch den Verfassungsschutz beobachtet worden sind?
Das ist nicht die Frage.
Bitte beantworten Sie meine Frage, ob Mitarbeiter der Redaktion „die tageszeitung" in Berlin durch den Verfassungsschutz beobachtet wurden?
Unabhängig davon, welche Funktion jemand einnimmt, mißt und beurteilt sich die Frage der Maßnahmen des Verfassungsschutzes allein nach dem Recht. Es kann natürlich sein, daß dort Persönlichkeiten tätig sind, die durch ihr Verhal-
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Dr. Olderogten den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Aktivität begründet haben.
Aber Sie können deshalb doch nicht sagen, daß die Zeitung und alle, die bei dieser Zeitung sind, systematisch überwacht werden.
Das ist Ihre Behauptung, und diese Behauptung ist falsch, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, zur Grundsatzfrage des Verfassungsschutzes: Extremisten von links und rechts haben die wehrlose Weimarer Republik zerstört und so Hitler möglich gemacht. Die Antwort des Grundgesetzes war die wehrhafte Demokratie, zu der auch der Verfassungsschutz gehört. Er hat nach meinem Urteil wesentlich zur Stabilität unseres demokratischen Staates beigetragen:
von der rechtsstaatlichen Mitwirkung am Verbot der neonazistischen SRP in den Anfangsjahren der Bundesrepublik bis zur Aufdeckung fest geplanter terroristischer Anschläge auf Flugzeuge, die vermutlich mit Hunderten von Toten ausgegangen wären.Herr Such, ich kann so schnell Ihre Liste, die Sie hier vorgetragen haben, nicht überprüfen. Aber solange ich Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission bin und aus meinen Erfahrungen in dem Untersuchungsausschuß zur Spionage in der vorigen Legislaturperiode kann ich Ihre Behauptungen zum Verfassungsschutz überhaupt nicht bestätigen. Ich habe aus diesen Informationen, die ich habe sammeln können, die Überzeugung gewonnen, daß der Verfassungsschutz Vertrauen verdient und Vertrauen haben sollte. Ich möchte im Namen der CDU/CSU-Fraktion allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verfassungsschutzes für ihre wichtige und schwierige Arbeit danken.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, bitte. Vizepräsident Stücklen: Bitte schön, Herr Such.
Herr Kollege, sind Sie der Auffassung, daß nach den freien Wahlen im Mai in der DDR ein Verfassungsschutz nach unserem Muster aufgebaut werden sollte?
Darüber haben die Verantwortlichen in der DDR zu entscheiden. Aber wenn sie nach dem Muster des Verfassungsschutzes bei uns eine solche Entscheidung träfen — also einen solchen Verfassungsschutz aufbauten —, dann hätte ich dagegen keine Bedenken.
Für mich ist völlig klar, daß natürlich aus der veränderten Situation im Ostblock Konsequenzen gezogen werden müssen; Konsequenzen bei uns, in der Schwerpunktbildung, in der Organisation und möglicherweise auch durch eine Verringerung der Zahl der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Zum Beispiel werden kommunistische Organisationen, die bisher von den finanziellen Zuweisungen aus der DDR gelebt haben, bei uns nicht mehr die Bedeutung haben. Die Spionage aus der DDR wird nicht mehr ihre bisherige Bedeutung haben. Aber darüber, Herr Such, werden wir auf Grund der Entwicklung erst nach dem 6. Mai mehr wissen und dazu Voten abgeben können.Eine Beseitigung des Verfassungsschutzes bei uns, der doch vielfältige Aufgaben auch in der Abwehr des Terrorismus und der Spionage anderer Länder hat, ist in unseren Augen unsinnig und steht für uns überhaupt nicht zur Diskussion.Nun haben die Sozialdemokraten einen Antrag vorgelegt, um die Kontrolle der Geheimdienste zu verbessern. Herr Emmerlich, es hat leider ein Problem gegeben: Ich habe eben erst erfahren, daß dieser Antrag doch existiert. Es tut mir sehr leid, daß ich im einzelnen dazu nichts sagen kann.Ich möchte nur erklären: Sie wissen aus der PKK, daß wir für Vorschläge aufgeschlossen sind, die Kontrolle des Verfassungsschutzes zu verbessern. Darüber müssen wir unvoreingenommen miteinander reden. Wir werden neue Vorschläge aufgeschlossen prüfen. Ich denke, Sie bewerten das genauso wie ich: Es ist ein erster Schritt — vielleicht ein kleiner, aber ein erster Schritt — , daß wir jetzt mehr Mitarbeiter in der Geschäftsstelle für die PKK haben.Aber angesichts der Behauptungen, die gerade von den GRÜNEN immer wieder aufgestellt werden, möchte ich sagen: Wir sollten auch deutlich machen, daß es heute schon in einem weit größeren Umfang Kontrollen gibt, als es viele bei uns wahrhaben wollen. Natürlich müßte man an erster Stelle die Parlamentarischen Kontrollkommissionen, die G-10-Kommissionen, die G-10-Gremien nennen. Eine Kontrolle gibt es auch durch das föderative System, durch die gesetzlich geregelte Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes vom Bund und den Ländern, durch das gemeinsame Informationssystem, so daß z. B. die SPD-geführte Landesregierung in Kiel weiß, was beim Bundesamt in Köln im wesentlichen abläuft und auch umgekehrt.
— Das kommt auch noch, lieber Herr Penner. — Weiterhin ist zu nennen — ich greife das auf — : die Kontrolle durch die Haushaltsausschüsse der Parlamente, die vielleicht effektiver ist, als mancher vermutet. Man müßte vor allem auch die Dienst- und Fachaufsicht der Regierungen nennen, die in jeder Hinsicht Weisungs- und Kontrollbefugnis haben. Man müßte die Datenschutzbeauftragten nennen und — ganz wichtig für uns — eine zum Verfassungsschutz besonders kritisch — was verständlich ist — eingestellte Presse.
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Dr. OlderogEin Wort zu den Republikanern. Die rechtsradikalen Republikaner sind für die demokratischen Parteien eine Herausforderung. Ob sie nach den vom Bundesverfassungsgericht am Grundgesetz entwikkelten Kriterien den tatsächlichen Verdacht begründen, extremistisch zu sein, ist vom Bundesamt für Verfassungsschutz noch nicht entschieden worden.
— Nein, warum denn nicht? — Es gab dazu doch, im bisherigen Stadium, keine rechtliche Grundlage. Sie verstehen das System überhaupt nicht, Herr Such. Noch sind die Republikaner nicht „Beobachtungsobjekt".
Das ist wieder einmal typisch, wie Sie daherreden. Sie verstehen das System nicht und stellen in der Öffentlichkeit falsche, herabsetzende Behauptungen über die Bundesregierung und den Verfassungsschutz auf.Die Behauptungen in der Öffentlichkeit, daß das bereits entschieden worden sei, sind falsch. Aber was immer das Ergebnis sein mag: Unsere Demokratie ist heute stark genug, sich erfolgreich allein geistig mit Extremisten auseinanderzusetzen, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir dank des Verfassungsschutzes objektive, rechtsstaatlich einwandfreie Informationen zur Verfügung haben.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Emmerlich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die dramatischen Veränderungen in den Staaten, die wir in der Vergangenheit als unsere potentiellen Gegner betrachtet haben, machen es notwendig, unser klassisches Feindbild zu revidieren und den neuen Realitäten auch bei der Formulierung der Aufträge für die Nachrichtendienste Rechnung zu tragen.
Diesen Notwendigkeiten einer kritischen Bestandsaufnahme wird die Bundesregierung in ihrer Antwort nicht gerecht. Sie begnügt sich mit Aussagen von gestern und vorgestern, die nach Perestroika und Glasnost wie verstaubte Ladenhüter erscheinen.
Mit Bewunderung und Dankbarkeit haben wir alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Demokratisierung in Polen, in Ungarn und in der Tschechoslowakei begleitet.
Wir können infolgedessen davon ausgehen, daß von diesen Ländern keine militärische Bedrohung ausgeht und daß sie keine Gefahr für unsere äußere und innere Sicherheit darstellen.Das muß Konsequenzen für die Aktivitäten unserer Nachrichtendienste hinsichtlich dieser Länder haben. Eine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs im Rahmen der sogenannten strategischen Kontrolle nach dem G-10-Gesetz z. B. dürfte nicht länger erforderlich sein. Auch die Notwendigkeit, sich mit nachrichtendienstlichen Mitteln Erkenntnisse über diese Länder zu verschaffen, ist nicht erkennbar. Im Zuge der Demokratisierung ist die Transparenz des politischen und gesellschaftlichen Prozesses in diesen Ländern so groß geworden, daß wir uns ohne nachrichtendienstliche Mittel über Ziele, Hintergründe und den vermutlichen weiteren Fortgang der Entwicklung ein hinlänglich zutreffendes Bild machen können. Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich ferner davon aus, daß die Ausspähung von Staatsgeheimnissen der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig von diesen eben genannten Ländern nicht mehr betrieben wird und daß also hinsichtlich dieser Länder auch keine besonderen Bemühungen zur Spionageabwehr vonnöten sind.
Auch bei der Sowjetunion ist durch Glasnost und Perestroika ein tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Prozeß der Umwandlung mit dem Ziel der Demokratisierung, der Rechtsstaatlichkeit und des gesellschaftlichen und politischen Pluralismus in Gang gekommen. Parallel dazu gibt es eine Hinwendung zum europäischen Denken und eine Politik der Abrüstung, der Friedenssicherung, der internationalen Zusammenarbeit und der Vertrauensbildung. Dieser Prozeß hat zu einer Transparenz der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung geführt, die die Notwendigkeit des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel zur Informationsbeschaffung jedenfalls ganz erheblich verringert hat. Es ist unverkennbar, daß eine Überprüfung der bisherigen Bedrohungsanalysen auch in bezug auf die Sowjetunion vonnöten ist.Die friedliche demokratische Revolution in der DDR hat schon jetzt zu einer neuen Situation geführt, die gravierende Auswirkungen auf die nachrichtendienstliche Lage hat. Eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft und noch mehr ein deutscher Staatenbund schließen es aus, daß sich die beiden deutschen Staaten als potentielle Gegner gegenüberstehen und sich wechselseitig mit nachrichtendienstlichen Aktivitäten überziehen.
Im Interesse der Notwendigkeit verstärkter Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten gilt es schon jetzt, die bisherige Praxis gegeneinander gerichteter nachrichtendienstlicher Operationen zu überprüfen, dieselben von uns aus unverzüglich auf das unerläßliche Minimum zu reduzieren und auch insoweit vertragliche Vereinbarungen anzustreben. Eine Notwendigkeit zur nachrichtendienstlichen Auslandsaufklärung in der DDR ist, sofern überhaupt, nur noch auf wenigen Feldern gegeben.Der politische und moralische Bankrott der SED hat bereits zu einer weitgehenden faktischen Selbstauflösung der DKP geführt. Das hat zur Folge, daß jeden-
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Dr. Emmerlichfalls nunmehr von der DKP nicht länger eine ernst zu nehmende Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgeht
und daß infolgedessen ihre Überwachung durch die Verfassungsschutzbehörden überflüssig erscheint, jedenfalls aber auf ein Mindestmaß zurückgeführt werden kann.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nicht ersichtlich, daß auf Grund der neuen Verhältnisse beim Verfassungsschutz und bei den anderen Diensten freiwerdende Ressourcen für andere Aufgaben der Dienste benötigt werden.
Anderslautenden Bemerkungen und Hinweisen sollte mit äußerster Skepsis begegnet werden. Das Gebot der Stunde lautet nicht: Der Verfassungsschutz muß allen Veränderungen zum Trotz unangetastet bleiben.
Richtig ist es vielmehr, überflüssige und nicht mehr notwendige Aktivitäten einzustellen und vorhandene Überkapazitäten zu beseitigen.
Gerade das Geschehen in der DDR, aber auch in anderen Ländern des Warschauer Paktes und nicht zuletzt in der Sowjetunion selbst machen aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr deutlich, geradezu überdeutlich, welch kostbares Gut die persönliche und die politische Freiheit ist, wie unverzichtbar Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind.Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nie etwas endgültig Errungenes, auch nicht in einer Demokratie. Sie müssen daher wegen ihrer steten Gefährdung bewahrt, geschützt und auch verteidigt werden. Wir Demokraten dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn politische Extremisten die Freiheit, die Demokratie und den Rechtsstaat angreifen, beschädigen und beseitigen wollen. Wir müssen die Verteidigung der Demokratie zu unserer eigenen Sache machen. Wir müssen zum Kampf für die Demokratie fähig und auch bereit sein.Die Frage bleibt, mit welchen Mitteln dieser Kampf geführt werden soll. Es besteht für mich kein Zweifel daran, daß das entscheidende Mittel in diesem Kampf die politische und die geistige Auseinandersetzung ist und daß das Ergebnis dieses Kampfes in erster Linie davon abhängt, wie viele Menschen bereit sind, sich dieser politischen und geistigen Auseinandersetzung zu stellen.
Meine Damen und Herren, im Kampf um Freiheit und Demokratie ist nicht jedes Mittel heilig, im Gegenteil: Dieser Kampf darf nur mit demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Mitteln geführt werden, und er darf seinerseits nicht zu einer Beschädigung, zu einer Verminderung der Freiheitsrechte,der demokratischen Rechte und der Rechtsstaatlichkeit führen.Vor diesem Hintergrund muß geprüft und entschieden werden, welche Hilfe im Kampf für die Bewahrung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine Behörde bieten kann, deren Aufgabe es ist, auch mit den Mitteln eines Geheimdienstes diejenigen zu beobachten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, daß sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung beeinträchtigen wollen.Bei der Beantwortung dieser Frage, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht die Erfahrungen außer acht lassen, die wir in den letzten 40 Jahren mit dem Verfassungsschutz gemacht haben. Wir dürfen die Augen auch nicht vor Fehlleistungen, Wildwuchs und Fehlentwicklungen, zu denen es zweifellos gekommen ist, verschließen.Wir müssen aber auch, lieber Herr Such, fragen, ob bei der Verfolgung und Verhinderung von Spionage, von Hochverrat und anderen Staatsschutzdelikten, insonderheit von terroristischen Aktivitäten auf den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel völlig verzichtet werden kann.
Weiter müssen wir fragen, ob es richtig war und richtig bleibt, der Polizei keine nachrichtendienstlichen Mittel zu geben und andererseits denjenigen, die nachrichtendienstliche Mittel anwenden, keine exekutiven Befugnisse einzuräumen, kurzum: ob wir also die Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten nach wie vor wollen.
Ich bitte diejenigen, die aus Gründen, die ich zu verstehen glaube und die ich auch nachvollziehen kann, die Auflösung des Verfassungsschutzes für richtig halten, zu bedenken, ob das nicht die Gefahr heraufbeschwört, daß die Polizei nachrichtendienstliche Mittel erhält und daß wieder eine Kumulation der ohnehin schon tief eingreifenden polizeilichen Exekutivbefugnisse mit den Mitteln und Methoden von geheimen Nachrichtendiensten heraufbeschworen wird.Wir sind der Auffassung, daß das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden darf und daß die Aufgabenkritik und die Befugnisbeschreibung nüchtern, sachlich und in der Arbeitsatmosphäre der dafür zuständigen Ausschüsse durchgeführt werden muß.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Such, ich wünsche Ihnen, daß Sie, wenn Sie es schon nicht wissen, wenigstens ein Gefühl dafür bewahrt haben, daß man den Stasi natürlich nicht mit dem Verfassungsschutz verglei-
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Dr. Hirschchen kann. Das ist einfach abwegig. Der Verfassungsschutz hat keine exekutiven Befugnisse; er ist nicht bis an die Zähne bewaffnet; er hat keinen flächendekkenden Beobachtungsauftrag; und vor allem, er wird nicht gegen, sondern für die Erhaltung demokratischer Grundrechte eingesetzt.
Wir halten ihn für erforderlich, nämlich zur Abwehr von Spionage, die unverändert, auch zur gegenwärtigen Zeit, aus der DDR in der Bundesrepublik fortgesetzt wird, zur Beobachtung von Extremisten von rechts und von links, für die Mitarbeit bei der Bekämpfung extremistischer Gruppen oder terroristischer Aktionen und für die Mitarbeit bei der Geheimschutzprüfung.Die ersatzlose Beendigung dieser Aufgaben ist offenkundig und bedauerlicherweise nicht möglich. Ihre Übertragung auf die Polizei würde genau jene politische Polizei schaffen, die wir eben nicht haben, die wir nicht haben wollen,
die wir abgeschafft haben und die es mit uns auch in Zukunft nicht geben wird.
Das ist meine Antwort auf die Bemerkung von Herrn Emmerlich, daß natürlich die Abschaffung dazu führen würde, daß wir eine politische Polizei bekämen.
Wir sind allerdings der Überzeugung, daß es im Interesse sowohl der Bürger wie des Verfassungsschutzes eine gesetzliche Neuregelung geben muß.
Wir verhandeln mit unserem Koalitionspartner darüber
— auch mit Ihnen! — und hoffen Ihnen die Ergebnisse in Kürze vorlegen zu können.Der Verfassungsschutz hat nach Größe und Handlungsmöglichkeiten einen Umfang erreicht, den sich bei seiner Gründung mitten im kalten Krieg niemand hätte vorstellen können.
Allein im Bund stehen ihm jährlich über 200 Millionen DM und 2 500 hauptamtliche Mitarbeiter zur Verfügung,
zu denen — Sie haben recht! — der Verfassungsschutz der Bundesländer hinzugerechnet werdenmuß. Einschließlich der Sicherheitsüberprüfungenschätzen wir die Zahl der gespeicherten Personendatensätze auf über 1,5 Millionen.
Gespeichert und in den Akten sind auch Daten von Kindern und sogenannten sonstigen Personen,
gegen die selber überhaupt nichts vorliegt. Auskunftsrechte der Bürger bestehen außer nach dem Volkszählungsurteil nicht. Die Kontrollen des Datenschutzbeauftragten stoßen auf Grenzen. Und die Parlamentarische Kontrollkommission — das wissen einige hier im Raum — hat ungenügende Kontrollmöglichkeiten.
Das ist auf Dauer nicht hinnehmbar. In einem demokratischen Staat muß die Ausübung öffentlicher Gewalt so offen wie möglich sein.
— Wenn Sie einen Augenblick zuhörten oder eine Frage stellten, ginge es wenigstens nicht von meiner Redezeit ab, wenn Sie uns hier angehen. — In einem demokratischen Staat muß die Ausübung öffentlicher Gewalt so offen wie möglich sein, und jede öffentliche Gewalt muß wirksamer parlamentarischer Kontrolle unterliegen.
Es liegt im eigenen Interesse des Verfassungsschutzes und seiner Mitarbeiter, daß sie aus der Atmosphäre des Geheimnisvollen, des allgegenwärtigen Großen Bruders endlich herausgeholt werden, weil sie sonst mehr Angst als Bürgersinn erzeugen.
Es liegt in ihrem eigenen Interesse, daß ihre Tätigkeit auf den notwendigen Kern zurückgeführt wird. Alle Beteiligten, auch wir selber, müssen wieder begreifen, daß unsere Sicherheit nicht vom Verfassungsschutz, sondern von der Verfassungstreue der Bürger abhängt,
von ihrer Bereitschaft, die Verfassung zu schützen, und von der Verfassung, in der sie sich befinden. Der Verfassungsschutz ist ein Hilfsorgan und nicht die Hauptperson in dieser Sache. Der Bürger, der nicht selber bereit ist, seine Freiheiten zu verteidigen, wird sie verlieren, auch wenn der Verfassungsschutz eine immer größere Behörde und ein immer schöneres Dienstgebäude bekommt.
Ich will hier offen sagen, daß wir z. B. über eine Datei wie ADOS schockiert sind.
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Dr. HirschEs geht nicht an, daß rund 40 000 Menschen auf 35 Jahre mit ihren Anschriften und Arbeitgebern der letzten zehn Jahre auf Vorrat gespeichert werden, ohne daß gegen irgendeinen dieser Leute etwas Konkretes vorliegt und ohne daß sie sich ausdrücklich damit einverstanden erklärt haben.
Wenn eine solche Vorratsverdatung zulässig wäre, könnte man mit demselben Argument die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik in die Speicher des Verfassungsschutzes einstellen.
Diese Datei muß gelöscht werden. Es ist geradezu eine Nagelprobe für den Innenminister, ob er politisch merkt, daß man so nicht vorgehen kann, wie immer man die Rechtslage beurteilt.
Es ist auch eine Frage des Fingerspitzengefühls, ob man auf eine Anfrage des Kollegen Lüder tatsächlich mitteilt, daß sich bisher nur 6 % der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes mit linksextremistischen Bestrebungen befassen. Die Antwort von Herrn Neusel mag sehr geschickt formuliert sein, aber sie ist irreführend. Solche vermeintlichen Schlauheiten schaden in Wirklichkeit dem Verfassungsschutz. Sie erwecken den Eindruck, daß etwas verborgen werden soll, und es sind letzten Endes die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes selbst, die darunter zu leiden haben.Wir verfolgen folgende Ziele:Erstens. Die Aufgabenstellung des Verfassungsschutzes muß überprüft und begrenzt werden.
Seine Aufgaben, seine Befugnisse, seine Tätigkeiten sind von denen der Polizei exakt zu trennen.
Zweitens. Auch der Verfassungsschutz muß sowohl bei der Datenverarbeitung wie bei sonstiger Aktenführung den Schutz der Privatheit des Bürgers respektieren. Er muß grundsätzlich verpflichtet sein, Auskünfte zu erteilen. Die heimliche Informationsbeschaffung muß an enge Regeln gebunden werden. Wir wollen keine Wanzen in Wohnungen, „Lauschangriffe" genannt.
Wir wollen, daß ein Belauschter auf jeden Fall nachträglich informiert werden muß, sobald das möglich ist. Übrigens ist auch die sogenannte strategische Briefkontrolle des Bundesnachrichtendienstes ein Anachronismus, der abgeschafft werden sollte.
Drittens. Minderjährige, zumindest Kinder unter 16 Jahren, gehören weder in Dateien noch in Akten des Verfassungsschutzes.
Die Übermittlung von Daten Minderjähriger ins Ausland kommt nicht in Betracht, abgesehen natürlich von der reinen Strafverfolgung.
Viertens. Die Datenverarbeitung des Verfassungsschutzes, also seine Dateien, seine Verbindungen, müssen an die politische Verantwortung des Innenministers geknüpft werden.
Dem Bürger müssen eindeutige Auskunftsrechte gegeben werden, und der Verfassungsschutz muß verpflichtet werden, regelmäßig bestimmte Strukturdaten zu veröffentlichen, wie seine Haushaltsmittel, die Zahl der Mitarbeiter, die Zahl der gespeicherten Personen, die Zahl der überwachten Telefonanschlüsse usw. Es ist interessant, daß nicht nur Präsident Boeden, sondern auch Vertreter von Landesämtern sagen: Wir sind dazu bereit, warum sollten wir das nicht tun, es stört unsere Aufgaben nicht, im Gegenteil, es schafft eine breitere Vertrauensbasis für den Bürger. Wir sollten das, was wir in den Anhörungen dazu gehört haben, umsetzen.Fünftens. Der Verfassungsschutz darf nicht zu einer „Informationskrake" werden, die von jeder öffentlichen Stelle ohne jede Begründung jede beliebige Auskunft bekommen kann.
Er ist keine Ersatzpolizei, die von den lästigen Regeln der Strafprozeßordnung befreit ist, und er darf sich darum auch nicht unter Berufung auf die sogenannte Amtshilfe polizeiliche Handlungsmöglichkeiten verschaffen.
— Nein, so muß es nicht sein.
Sechstens. Es muß sowohl die politische Kontrolle wie auch die politische Verantwortlichkeit für Tätigkeiten des Verfassungsschutzes und natürlich des Militärischen Abwehrdienstes innerhalb der Bundesrepublik wesentlich verstärkt werden.Es bleibt dabei, daß Stasi und Verfassungsschutz nicht miteinander verglichen werden können, aber mit der abstrakten Wiederholung der Formel allein ist es nicht getan. Die Entwicklungen in der DDR sind gleichzeitig eine Chance und ein Anruf auch an uns, unser Haus zu überprüfen, die Verkrustungen zu erkennen, die bei uns selbst entstanden sind, uns von Gängelungen zu befreien, die vielleicht in einem Kalten Krieg hingenommen werden müssen, und sie sind eine Chance, zu der schlichten Erkenntnis zurückzukehren, daß die Sicherheit und die Verfassung eines Staates nicht von Überwachung und Kontrolle abhängt, die er über seine Bürger ausüben kann, sondern umgekehrt, daß sie von der freien Bereitschaft des Bürgers abhängt, seine Verfassung zu schützen und sie zu verteidigen.
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14754 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Dr. HirschIn diesem Sinn werden wir uns mit diesen Anträgen im Ausschuß befassen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär des Innern, Herrn Spranger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat die Große Anfrage der GRÜNEN bereits im Dezember letzten Jahres beantwortet. Sie hat dabei die Kriterien für die Sammlung, Nutzung und Weitergabe von Informationen über Organisationen und Personen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie den Umfang seiner Sammeltätigkeit, insbesondere im Bereich des politischen Extremismus, dargelegt.
Die Antwort macht deutlich, daß sich die Beobachtungstätigkeit des BW in geordneten und kontrollierten rechtsstaatlichen Bahnen bewegt. Der Verfassungsschutz erfüllt einen klaren, gesetzlich definierten Auftrag. Die ebenfalls durch Gesetz festgelegte Begrenzung seiner Befugnisse und die Orientierung an den Wertmaßstäben des Rechtsstaates unterscheiden ihn unverwechselbar von den Geheimdiensten totalitärer Regime mit ihrer unbegrenzten Machtfülle. Es ist daher ganz verfehlt, von einer rechtlichen Grauzone zu reden, die es zu beseitigen gelte. Der Verfassungsschutz war und ist eine gesetzesunterworfene Behörde seit seiner Gründung vor fast 40 Jahren, Herr Dr. Emmerlich.
Ziel der Arbeit des Verfassungsschutzes ist es, der Regierung ein möglichst klares Bild über die Lage im Bereich der inneren Sicherheit zu geben, damit sie Gefahren für unsere freiheitliche, demokratische Grundordnung frühzeitig erkennt und ihnen mit angemessenen Mitteln begegnen kann. Die sachlichen Analysen und Auswertungsergebnisse des Verfassungsschutzes sind hierbei wertvolle Entscheidungshilfen.
Zwar ist auch wichtig, die Auseinandersetzung mit den Gegnern der Demokratie auf politischem Wege zu führen,
allein reicht diese Methode zum Schutz eines offenen Staatswesens nicht aus.
Wohin der Weg führen kann, wenn ein freiheitlicher Staat seinen Gegnern das Feld überläßt, das hat das Schicksal der Weimarer Republik gezeigt.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat aus dieser Erfahrung entsprechende Konsequenzen gezogen. Es hat sich bewußt für die Errichtung einer wehrhaften Demokratie entschieden. Um sich wehren zu können, braucht unser Staat einen funktionsfähigen Verfassungsschutz. Herr Dr. Hirsch, wenn Sie diese Ableitungen noch abgewartet hätten, wäre vielleicht die Erregung überflüssig gewesen.
Dies sage ich auch an die Adresse all derer gerichtet, die glauben, den Verfassungsschutz beseitigen zu können. Die Diskussion hierüber wird seit langem kontrovers geführt. Da Träger der Bestrebungen und Tätigkeiten, die der Verfassungsschutz zu beobachten hat, letztlich immer Menschen, also einzelne Personen oder Personengruppen sind, muß die Informationssammlung des Verfassungsschutzes zwangsläufig die Handlungen dieser Personen berühren. In dem Spannungsverhältnis des Verfassungsschutzes zu der Freiheit des Individuums liegt eine der Hauptschwierigkeiten seiner Tätigkeit. Die Rolle des Verfassungsschutzes im demokratischen Rechtsstaat bedarf daher ständiger Verdeutlichung. Es muß immer wieder klargestellt werden,
daß er sich nicht in Grauzonen des Rechts bewegt, sondern seine Aufgabe nur im Rahmen und mit den Mitteln des Rechtes erfüllt und erfüllen darf, seine Tätigkeit einer vielfältigen Kontrolle insbesondere auch in den zuständigen parlamentarischen Gremien unterliegt und seine Tätigkeit deshalb Verständnis und Vertrauen verdient.
Ich darf in diesem Zusammenhang auf eine Frage eingehen, die auch von Herrn Abgeordneten Dr. Emmerlich angeschnitten worden ist, nämlich inwieweit sich in diesen Wochen und Monaten die uns alle bewegenden politischen Veränderungen in Deutschland und Osteuropa auf die Tätigkeit des Verfassungsschutzes hierzulande auswirken werden. Der Wandel im Erscheinungsbild des politischen Extremismus wird auch Auswirkungen auf die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz haben. Derzeit wird geprüft, ob und welche konzeptionellen und organisatorischen Folgerungen aus den Verlagerungen im Bereich des Extremismus zu ziehen sind. Es wäre aber mit Sicherheit übereilt und auch verfehlt, schon jetzt Personal- oder Sachentscheidungen zu treffen.
Politisch geradezu naiv wäre es aber zu glauben, auf die Institution des Verfassungsschutzes könne man in Zukunft verzichten. Wir dürfen doch nicht übersehen, daß sich durch die Annäherung von Ost und West die Situation z. B. im Bereich des Rechtsextremismus überhaupt nicht verändert hat.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Dr. Hirsch, bitte.
Herr Kollege Spranger, Herr Lüder hat auf Grund dieser Frage eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und daraufhin die Antwort bekommen, daß nur 6 % der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes mit linksextremistischen Bestrebungen in der Bundesrepublik befaßt seien. Wenn das so wäre, könnte es ja in der Tat kaum personelle Verän-
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Dr. Hirschderungen geben. Wollen Sie diese Behauptung hier wiederholen?
Ich habe keinen Anlaß, die Antwort des Herrn Staatsseketärs Neusel in irgendeiner Form in Frage zu stellen. Im übrigen, die Dimensionen dessen, was auch künftig Aufgabe des Verfassungsschutzes sein wird, werde ich, wenn Sie kurz warten, in den weiteren Ausführungen noch kurz skizzieren.
Ich erwähnte den Bereich des Rechtsextremismus. Auf dem Gebiet des Linksextremismus können wir feststellen, daß derzeit immerhin noch rund 30 000 Personen in kommunistischen Gruppen organisiert sind. Die DKP-Führung kämpft für die Erneuerung der Partei auf marxistisch-leninistischer Grundlage. Diejenigen Kommunisten, die der Partei enttäuscht den Rücken kehren, tun das in der Regel nicht, weil sie sich nunmehr zur freiheitlichen Demokratie bekennen würden. Eine Reihe von ihnen orientieren sich neu, schließen sich zu neuen Gruppierungen zusammen oder suchen Anschluß bei Gruppierungen der Neuen Linken. Nur etwa 40 % der dem Linksextremismus zuzurechnenden Beobachtungsobjekte der Verfassungsschutzbehörden sind orthodox-kommunistisch.
Die rund 15 000 Marxisten-Leninisten, Anarchisten und militanten Autonomen der „Neuen Linken" sind von der Krise der orthodox-kommunistischen Parteien nicht betroffen. Ihre verfassungsfeindlichen Aktivitäten halten unvermindert an. Darüber hinaus versuchen sie jetzt, die Felder zu besetzen, auf denen zuvor orthodoxe Kommunisten dominierten. Einige dieser Linksextremisten knüpfen bereits Kontakte zu politischen Gruppen in der DDR und werben dort für ihre Ziele.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, was helfen uns denn eigentlich diese Daten in der politischen Auseinandersetzung weiter?
Es geht ja jetzt nicht allein um die Frage der politischen Auseinandersetzung, sondern um den Aufgabenbereich des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
— Nein, Sie haben die Realitäten offensichtlich immer verkannt. Auch heute in Ihrer Rede haben Sie deutlich gemacht, daß Sie sie erneut völlig verkennen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? — Bitte.
Dann will ich die Frage anders stellen: Was besagen denn diese Daten im Hinblick auf die von Ihnen erwähnte Aufgabe des Verfassungsschutzes?
Auf Grund dieser Daten ergibt sich, wie notwendig es weiterhin ist, daß der Verfassungsschutz
dem Auftrag aus § 3 des entsprechenden Gesetzes nachkommt, und daß sich die Tatsachen nicht so verändert haben, daß man sagen könnte, § 3 geht an der Realität vorbei. Im übrigen, Herr Dr. Penner, werde ich noch auf zwei andere Gebiete eingehen, die das zusätzlich begründen. Ich komme gleich zu einem dieser Gebiete, Herr Kollege Penner.
Das Bestreben und der Einsatz sowohl der DDR als auch der osteuropäischen Staaten zur Ausspähung unseres Landes und der anderen westlichen Staaten haben durch die in den dortigen Staaten begonnenen inneren Reformen keineswegs ihr Ende genommen.
Lieber Kollege Dr. Emmerlich, die von Ihnen in dieser Richtung zum Ausdruck gebrachte Hoffnung ist leider völlig unbegründet. Mag auch die Repression im Inneren dort teilweise abgebaut worden sein, so genießt die Auslandsaufklärung doch nach wie vor einen ganz hohen Stellenwert. Die maßgeblichen Leute der Regierungen machen daraus auch gar keinen Hehl. Führende Würdenträger und Veteranen des Spionagedienstes berufen sich stolz auf ihre Verdienste, auch auf ihre aktuellen Verdienste. Überläufer aus den dortigen Nachrichtendiensten wissen zu berichten, daß die Ausspähung unverdrossen und ungebrochen massiv weiterbetrieben wird.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch? — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie beschreiben ja strafbare Handlungen. Wo ist denn bei Ihnen in diesem Bereich die Abgrenzung zwischen der Tätigkeit der Polizei und des Verfassungsschutzes?
Das Kriterium ist bei dieser Tätigkeit nicht allein die strafbare Handlung. Das ist Sache der Polizei. Nur, Sie wissen auch, daß im Vorfeld von strafbaren Handlungen die Befugnis des Verfassungsschutzes besteht, tätig zu werden. Das tut er und kommt zu diesen Erkenntnissen, die weiterhin seine Aktivitäten erforderlich machen. Herr Kollege Hirsch, ich hoffe, ich habe das einigermaßen deutlich gemacht. Ihre Sachkunde ist so, daß Sie das nur bestätigen können.Unsere Spionageabwehr hat ihre Gegner keineswegs verloren.Auch die Bedrohung durch den einheimischen und den internationalen Terrorismus und die Umtriebe von extremistischen Ausländergruppen, die den westeuropäischen Raum erfassen, sind von den Veränderungen in Osteuropa völlig unberührt geblieben. Sie bleiben eine bedeutende Herausforderung für unser Land und fordern weiterhin große Anstrengungen der Sicherheitsbehörden, um ihnen begegnen zu können. Wir sollten also die weitere Entwicklung abwarten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat auf Verschiebungen im Extremismusbereich stets reagiert und sich entsprechend eingestellt. Es wird das
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14756 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Parl. Staatssekretär SprangerGeschehen sorgfältig beobachten und die notwendigen Folgerungen ziehen.
— Ich bin zwar am Ende, aber — —
Herr Staatssekretär, lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu?
Bitte sehr.
Bitte, Herr Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, ich hoffe nicht, daß Sie am Ende sind.
Mit meinen Ausführungen.
Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe: Wollen Sie im Ernst die Behauptung aufstellen, daß durch die Veränderungen in Polen, in Ungarn und in der Tschechoslowakei in bezug auf die Sicherheitslage im Verhältnis zu diesen Ländern keine qualitativ neue Situation entstanden ist?
Sie müssen, glaube ich, die Entwicklung im politischen Sektor von der Tätigkeit der Organe trennen, mit denen sich unsere Spionageabwehr seit vielen Jahrzehnten auseinanderzusetzen hat. Die Herausforderungen durch diese Organe — ich sagte es — sind weitestgehend ungebrochen.
— Weil nicht sein kann, was nicht sein darf — das ist ein bekannter Ausspruch.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, es nimmt mir niemand übel, daß ich im Gegensatz zu meinen Vorrednern nicht ablese, sondern frei formuliere und mir die Freiheit erlaube, auf das in dieser Debatte Gesagte direkt einzugehen. Vielleicht gewinnen wir dadurch ein bißchen an Lebendigkeit.Ich denke, Herr Olderog, daß wir hier immer noch ein paar kalte Krieger, jedenfalls was die Geisteshaltung angeht, im Saale haben. Ich war über die Art und Weise doch einigermaßen überrascht, wie stark Sie sich in Replik auf den Beitrag des Kollegen Such auf den Vergleich mit der Stasi kapriziert haben.
Wieso reiten Sie darauf so herum, auch auf den Reps? Was soll das? Das ist in der Tat weit unter Ihrem intellektuellen Niveau und unter den politisch-argumentativen Möglichkeiten, die ich sonst von Ihnen kenne.Warum haben Sie sich nicht wie Herr Emmerlich bemüht, den Kern dieser Auseinandersetzung — er hat es in zwei Fragen formuliert, die auch im Ausschuß sehr spannend zu diskutieren sein werden — herauszuarbeiten? Diese Kernpunkte sind tatsächlich: Was bleibt an sachlichen Notwendigkeiten? Was ist im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen Polizei und Verfassungsschutz notwendigerweise vielleicht doch einem Verfassungsschutz zu überlassen? So eine Herangehensweise empfände ich aus Ihrer Logik — Herr Hirsch hat sich für die FDP-Fraktion tatsächlich in diese Richtung bewegt — als schlüssig, aber nicht mehr diese Kalte-Krieger-Mentalität, die wir soeben auch vom Staatssekretär vorgeführt bekommen haben.An Herrn Emmerlich stelle ich trotzdem folgende Frage: Wollen Sie mit der Argumentation, die Sie hier geführt haben, für die Beibehaltung eines rechtsstaatlichen Verfassungsschutzes — darauf laufen Ihre Aussagen hinaus — der DDR-Bevölkerung allen Ernstes empfehlen, drüben wieder einen Verfassungsschutz, einen institutionalisierten Verfassungsschutz, zu installieren? Sie haben nämlich die Notwendigkeit eines solchen, teilweise sogar sehr plausibel klingend, begründet.
— Ich bezweifle das, Herr Penner.Der Verfassungsschutz drüben wird von der Bevölkerung zur Zeit in einer so vorbildlichen Art und Weise wahrgenommen, wie wir es als ideal — auch seitens der GRÜNEN — beschrieben haben. Wenn Sie eine funktionierende Presse, Meinungsfreiheit und solche mündigen Bürger haben, von denen viele in diesem Saal immer ausgehen, dann geht das auch.
Das wir im Bereich Terrorismus oder auch in bestimmten anderen Feldern administrative Möglichkeiten brauchen, ist doch völlig unstrittig — aber doch bitte nicht mit dem Verfassungsschutz.Ich möchte auch diejenigen fragen, die ständig für den Verfassungsschutz sprechen: Welche Erfolge haben Sie aus den letzten vierzig Jahren denn tatsächlich anzubieten? Die Litanei der Skandale und Mißerfolge hat Herr Such nicht einmal annähernd abschließend aufzählen können.
Sind Ihre Erfolge die Berufsverbote gewesen, daß die sogenannten Extremisten nicht in den öffentlichen Dienst gelangen konnten? Das hat das Klima in der Bundesrepublik vergiftet, das hat den Terrorismus sogar ein Stück weit mit katalysiert, den wir aus der RAF-Szene kennen.
Sind das die Erfolge des Verfassungsschutzes? Ich würde Sie wirklich einmal bitten, positiv zu beschreiben, was Sie aus den Erfahrungen der vier Jahrzehnte in die Diskussion als Erfolg einbringen können, um
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14757
WüppesahlIhre augenblicklichen Formulierungen für die Beibehaltung aufrechtzuerhalten.
— Ich glaube nicht, daß der Verfassungsschutz dafür notwendig ist.Warum ziehen Sie nicht z. B. einen Vergleich — es geht hier um Bürger- und Freiheitsrechte — zu der Personalausstattung der Landesbeauftragten und des Bundesbeauftragten für den Datenschutz? Was gibt es da für eine Diskrepanz! Die schützen wirklich unsere Verfassung. Die schaffen es nur nicht, vorn und hinten schaffen sie es nicht; das wissen wir alle, jedenfalls aus dem Innenausschuß. Im Gegensatz dazu wird so eine Einrichtung wie der Verfassungsschutz weit überproportional bedient.Ich möchte Ihnen nur ein Beispiel nennen, warum ich bei dem Zugeständnis sachlicher Notwendigkeiten für bestimmte administrative Instrumente in der augenblicklichen Situation für die Abschaffung bin. Sie wissen, daß Berlin mehr oder weniger eine Überoder Oberregierung durch die Alliierten hat. Wir wissen auch, welchen Zugriff die Alliierten auf die Daten des Berliner Verfassungsschutzes haben. Wir wissen ferner, daß der Berliner Verfassungsschutz natürlich Zugriff auf die bundesweiten Daten in Köln, aber auch in anderen Landesämtern hat. Ich nenne Ihnen jetzt ein konkretes Beispiel aus dieser Konstellation heraus. Die erste Schlußfolgerung ist schon klar: Die Alliierten verfügen praktisch über alle relevanten Informationen, die in der Bundesrepublik einschließlich West-Berlin bei den Verfassungsschutzämtern vorhanden sind. Denken Sie bitte an den letzten Skandal in Berlin — der Verfassungsschutz ist da schon ein institutionalisierter Skandal — , daß umfangreiche Akten über die AL vernichtet werden mußten. Sie glauben doch bitte nicht, daß diese Akten bei den Alliierten vernichtet worden sind. Die liegen noch in Washington und in anderen Hauptstädten. Für mich stellt sich daraus z. B. die Frage, wann sich der Verfassungsschutz bei uns wieder so weit gefestigt haben wird und in Ruhe gelassen wird — Herr Olderog und Herr Spranger bilden praktisch den politischen Flankenschutz dafür — , daß Sie die Daten, die in WestBerlin vernichtet worden sind, irgendwann zurückfordern und auch bekommen. Das macht nicht nur mir Angst, der ich durch meine Tätigkeit hier schon sehr viele Detailinformationen habe, das macht unheimlich vielen Menschen draußen Angst. Wie wollen Sie angesichts solcher Tatsachen Ihr Plädoyer für einen Verfassungsschutz der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigen? Solche Fakten gibt es fast unzählig viele.Ich komme zum Schluß. Die Ausschußberatungen werden, wenn ich Herrn Hirschs Ausführungen Glauben schenken darf, in der Tat sehr spannend werden und auch Veränderungen, zumindest schrittweise, in die von den GRÜNEN angestrebte Richtung herbeiführen können.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/6304 und 11/6308. Es ist beantragt worden, diese Entschließungsanträge zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß und den Verteidigungsausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Rock und der Fraktion DIE GRÜNEN
Nichttätigwerden der Bundesregierung bei der Abwendung von Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung, Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft 85/203 EWG
— Drucksache 11/5210 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Knabe, Brauer, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Maßnahmen gegen Luftverschmutzung und Gesundheitsgefährdung durch photochemischen Smog
— Drucksachen 11/2872, 11/5143 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schmidbauer Frau Dr. Hartenstein
Dr. Knabe
Zu Tagesordnungspunkt 9 b liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6307 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß eine Redezeit von 5 Minuten für jede Fraktion eingehalten werden soll. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Rock.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute abend stehen hier zwei Anträge der GRÜNEN zur Debatte, die die gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Verkehrsabgasen zum Inhalt haben bzw. die notwendige Abwendung von Gesundheitsgefahren eben aus diesen Verkehrsabgasen. Aber genau das ist ein Thema, das von der Mehrheit hier nicht gerne diskutiert wird, wo von der Mehrheit hier von vornherein Zusammenhänge bestritten, gesundheitsschädliche Auswirkungen verniedlicht oder individualisiert werden, so als sei es jedermanns, jederfraus ganz persönliches Schicksal, wenn die tägliche Portion Schadstoff nicht klaglos und ohne Komplikationen verarbeitet werden kann.
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14758 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Frau RockDa mutet es schon ausgesprochen zynisch an, wenn Bundesumweltminister Töpfer die Atemluft lediglich außerhalb der Ballungsgebiete bei normalen Wetterlagen für den gesunden Erwachsenen für unbedenklich hält. Was machen denn da die kranken Erwachsenen? Was machen die Kinder? Was rät der Bundesumweltminister den Kindern mit Atemwegserkrankungen, die an verkehrsbelasteten Straßen in einem Ballungsgebiet leben? Sollen die vorübergehend darauf verzichten zu atmen, oder wollen Sie demnächst gemeinsam mit dem Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit eine Richtlinie erarbeiten, die bereits Kleinkindern den Gebrauch von Sauerstoffmasken und Sauerstoffgeräten nahelegt und beibringt?Da halten wir es für wesentlich einfacher und sinnvoller, die vorliegende EG-Richtlinie aus der Schublade zu befreien, in der sie seit fünf Jahren schlummert.
Mir ist es absolut rätselhaft, warum sie seit so langer Zeit ein Schubladendasein fristet. Die Bundesregierung und insbesondere der Bundesumweltminister versuchen doch stets den Eindruck zu erwecken, als gebe es nichts, aber auch rein gar nichts, was in Sachen Umweltschutz auf Initiative der EG in der Bundesrepublik noch verbessert werden könnte. Wenn von den anderen europäischen Mitgliedstaaten der zarte Hinweis kommt, daß das eine oder andere vielleicht doch noch regelungsbedürfig sei, wie z. B. die Einführung eines Tempolimits, dann wird stets versucht, den Eindruck des Klassenprimus in Sachen Umweltschutz zu erwecken, der den anderen sagt, wo es langgeht.Zu diesem Vorreiterimage der BRD paßt es nun überhaupt nicht, Richtlinien mit wesentlichem, für Umwelt und Bevölkerung schützenden Inhalt unverarbeitet zu lassen, auf ein Erledigen durch Vergessen zu setzen. Diese Herangehensweise ist nicht nur unverständlich, sie ist unverantwortlich.
Dabei ist der Inhalt dieser Richtlinie klar und bedarf keinerlei Interpretation. Sie besagt eindeutig, daß Luftschadstoffmessungen vorzunehmen sind, und zwar im gesamten Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates. Es besteht gar kein Zweifel, offenbar auch nicht bei Ihnen, daß die dort festgelegten EG-Grenzwerte in den Ballungsgebieten ständig ebenso überschritten werden wie sie außerhalb dieser Gebiete zumindest teilweise überschritten werden.Wenn Sie diese Richtlinie umsetzen wollten, dann müßten Sie auch die Forderung nach Reduzierung der gemessenen Stickoxidkonzentrationen erfüllen. Genau da scheint mir der Grund zu suchen, warum Sie versuchen, diese Richtlinie zu vergessen. Dann müßten Sie nämlich eingestehen, daß Ihre bisherigen Ansätze zur Minderung der Stickoxidbelastung in der Luft gescheitert sind. Sie müßten darangehen, sich von einigen heiligen Kühen zu verabschieden. Sie müßten bereit sein, eine ehrliche Bilanz zu ziehen. Dabei würden Sie feststellen, daß im Bereich der Emissionen aus Verkehrsabgasen ein ganz erhebliches Handlungsdefizit besteht.Sie haben in den vergangenen Jahren stets auf einen technischen Lösungsansatz gesetzt. Sie haben versucht, EG-Europa auf den Katalysator einzuschwören. Und Sie sind damit gescheitert, und zwar in mehrfacher Hinsicht gescheitert. Bei der Katalysator-Lösung erreichen Sie nur eine Besserung im Pkw-Bereich und auch das noch viel zu spät.
Den Bereich der Emissionen aus dem Lkw-Verkehr lassen Sie völlig unberücksichtigt, wohlwissend, daß es hier in Zukunft ganz gewaltige Zuwächse geben wird. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 30 % Zunahme und 100 % Zunahme. Da haben Sie noch nicht einmal im Ansatz Lösungen aufgezeigt. Da gehen Sie ganz still vor der Lobby des Industrie- und Handelstages in die Knie.Aber darüber hinaus — und das zeigt der zweite zu behandelnde Antrag — habe ich den Eindruck, daß Sie mit Ihren Reaktionen Jahre hinter dem Stand der Wissenschaft herhinken. So warnen eben jene Wissenschaftler seit Jahren vor den extrem hohen Ozonwerten während der Sommermonate, dem sogenannten Sommersmog. Die Emissionen des Autoverkehrs tragen nach Angaben der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Emissionsschutz dazu etwa zu 90 bei. Bei starker Sonneneinstrahlung entstehen aus Stickoxid- und Kohlenwasserstoffemissionen sogenannte Photooxidantien, insbesondere Ozon. Es sind wiederum die Ballungsgebiete, in denen im vergangenen Jahr Ozonkonzentrationen festgestellt wurden, die den maximalen Immissionswert der VDI-Kommission „Reinhaltung der Luft" weit übersteigen. Dieses Ozon ist ebenso gesundheitsschädlich wie die Stickoxide. Das Ozon ist darüber hinaus maßgeblich an der Erwärmung unserer unteren Erdatmosphäre, dem sogenannten Treibhauseffekt, beteiligt.Das alles ist seit langem bekannt. Und was passiert? Nichts passiert.
Sie handeln einfach nicht, sondern Sie setzen nach wie vor auf eine Erledigung durch Vergessen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Rock, es nützt nichts, zu lamentieren. Wir haben gehandelt.
Hier haben Sie einige Dinge verschlafen oder einfach nicht mitbekommen, oder Sie waren nicht im Umweltausschuß oder haben die Debatten über Umweltpolitik hier im Plenum eben nicht mitbekommen. Ich will Ihnen das sehr gerne sagen.Unstrittig ist, daß der sogenannte Sommersmog, also 03, das Ozon, zu Hustenreiz, Reizungen von Rachen und Hals und darüber hinaus natürlich auch zur Reduzierung der Leistungsfähigkeit der Lungenfunk-
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Schmidbauertion führen kann. Beschleunigt werden Waldschäden. Das ist alles unstrittig. Sie haben auch recht, wenn Sie darauf hinweisen, daß das troposphärische Ozon zusätzlich am Treibhauseffekt mit etwa 8 % beteiligt ist. Das ist bekannt. Darüber streiten wir nicht mehr.Diese mehrfachen Umweltbelastungen erfordern die Ausschöpfungen aller denkbaren und möglichen Maßnahmen.
— Ich komme darauf.Ozon wird nicht unmittelbar durch menschliches Handeln verursacht. Eine unmittelbare Möglichkeit, Ozon zu reduzieren, besteht nicht. Wir müssen an den Vorläufersubstanzen ansetzen. Hauptemittenten sind Kraftfahrzeuge, die Kohlenwasserstoffe und Stickoxide emittieren. Zu nennen sind auch, was Kohlenwasserstoffe angeht, die Verwendung von Farben, Lacken und Lösungsmitteln sowie die Großfeuerungsanlagen hinsichtlich der Stickoxide.Ich sage das deshalb, damit deutlich wird, daß die Forderung der GRÜNEN, schnellstmöglich Grenzwerte für sämtliche Photooxidantien festzulegen und das Bundes-Immissionsschutzgesetz entsprechend zu ändern sowie eine Musterverordnung für den Sommersmog zu erarbeiten — dafür liegt ein Antrag vor —, natürlich falsch ist und nicht wirken könnte. Bereits vor geraumer Zeit ist der Länderausschuß für Emissionsschutz zu dem Ergebnis gekommen, daß die Festlegung eines Immissionsgrenzwertes für Ozon nicht empfohlen werden kann. Derartige Regelungen würden bei der Überschreitung eines Immissionswertes leerlaufen, da Ozon nicht emittiert, sondern erst aus Vorläufersubstanzen gebildet wird. Wenn Sie sich einmal die Situation in dem Ballungszentrum Mailand oder in unseren Ballungszentren und die in London ansehen, dann merken Sie, was die EG-Richtlinie wirklich wert ist, wenn Sie sich dort das entsprechende politische Konzept des Handelns vorstellen. Der Länderausschuß für Emissionsschutz hat sich auch gegen eine Verordnung über Maßnahmen bei erhöhter Belastung entsprechend dem Vorbild der Wintersmog-Verordnung der Länder ausgesprochen, da eine kurzfristige Senkung der Belastung durch Ozon hierdurch nicht erreicht werden kann.
Konsequenterweise haben die Koalitionsfraktionen in ihrem Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, mit den Ländern zusammen eine bundeseinheitliche Vorgehensweise bei erhöhten Ozonkonzentrationen durchzusetzen, auf die Festlegung einer bestimmten Ozonkonzentration zu drängen, bei deren Überschreiten die Öffentlichkeit entsprechend informiert wird, Verhaltensmaßnahmen empfohlen werden und vor allen Dingen alle geeigneten Maßnahmen schnellstmöglich zu ergreifen und zu intensivieren sind, um die Emission der Vorläufersubstanzen des Ozons systematisch zu verringern, über unsere bisherigen Maßnahmen im Bereich der Luftreinhaltung hinaus. Ich nenne sie. Die Großfeuerungsanlagen-Verordnung greift: NOX-Reduzierung. Die TA Luft greift: entsprechende Reduzierung der Vorläufersubstanzen. Die Einführung des schadstoffarmen Autos greift: Reduzierung der Vorläufersubstanzen.
Ich nenne die Verordnung zur Begrenzung der Emission von leichtflüchtigen Halogenkohlenwasserstoffen, die Verordnung über Feuerungsanlagen. All dies zeigt deutlich, daß wir genau dort ansetzen, wo wir ansetzen müssen, nämlich den Photooxidationsprozeß als solchen zu reduzieren, Ozon dadurch überhaupt nicht erst entstehen zu lassen.
Das ist natürlich das einzige Mittel. Wie wollen Sie anders ansetzen als an der Quelle dieser Vorläufersubstanzen?
Ich hatte Ihnen ein paar Beispiele aufgeführt.Ich will auch zu den Punkten noch einiges sagen, was wir zusätzlich machen werden: Da geht es nämlich darum, das schadstoffarme Auto durch flankierende Maßnahmen auf europäischer Ebene weiterzubringen. Weiter geht es um die Fortschreibung des „Standes der Technik" bei Nutzfahrzeugen. Völlig richtig, daß wir eine Zunahme im Lkw-Bereich haben und daß dort eine — —
— Ja, Sie lesen halt die Papiere nicht bzw. nehmen an diesen Debatten überhaupt nicht teil. Sonst wüßten Sie, daß wir in der EG — das ist wohl unstrittig — der dynamische Motor der Umweltpolitik in dieser Europäischen Gemeinschaft sind.
Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen! Sie müssen einmal bei allem Lamentieren klar sehen, daß diese Bundesrepublik Deutschland im Bereich des Umweltschutzes weltweit — weltweit! — ein wichtiger Motor ist und natürlich auch innerhalb der EG zum eigentlichen Motor in diesem Bereich geworden ist. —
Weiterhin ist es natürlich wichtig, daß wir den spezifischen Kraftstoffverbrauch bei Pkw reduzieren. Auch dies wird erneut angegangen.Und der wichtigste Punkt scheint mir zu sein, daß wir im Energiebereich die Energieeinsparung realisieren. Denn Energieeinsparung heißt, weniger Schadstoffe zu emittieren. Dies sind die richtigen Antworten auf diese Fragen.
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14760 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Schmidbauer— Ich würde es gern zulassen, wenn es mir noch gestattet ist.
Nur, Sie sind schon über die Zeit, Herr Kollege.
Wir haben aus diesem Grund — letzter Satz — auch die Große Anfrage „Umwelt und Auto" eingebracht. Die Antwort der Bundesregierung wird für uns ebenfalls eine weitere Grundlage für weitere Maßnahmen sein. Sie können sicher sein, daß EG-Anträge bei uns nicht schlummern, sondern weitergehend umgesetzt werden, im nationalen und internationalen Bereich.
Sie sind zu dieser zukünftigen Diskussion über diesen Problembereich herzlich eingeladen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kübler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im bevorstehenden Sommer würden wir uns sicherlich sehr auf Schönwetterperioden freuen. Aber wir müssen wohl auch davon ausgehen, daß wir wieder, wie das so heißt, den Sommersmog bekommen werden. Und abgewandelt gesagt: Dieser Sommer kommt bestimmt, aber auch der Smogsommer kommt bestimmt.
Es ist gut, daß wir einigermaßen darin übereinstimmen, wie problematisch die Wirkungen sind. Ich glaube, es wird manchmal vielleicht doch — trotz allem — zu oberflächlich darüber hinweggegangen, was diese Smogsituation für Kinder, für Alte, aber auch für im mittleren Lebensabschnitt Stehende, die an bestimmten Krankheiten leiden, bedeutet, was sie für Waldsterben bedeutet, was sie für den Treibhauseffekt bedeutet. Und ich betone, daß diese dreifache Negativwirkung in der Tat ernst genommen werden muß.
Herr Schmidbauer ist jetzt leider nicht da, aber Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner ist da. Beide arbeiten ja sicherlich gut zusammen, und er sagt dies dann auch weiter: Ich glaube, Herr Staatssekretär Grüner, das, was Herr Schmidbauer gesagt hat, war in der Tat eine sehr, sehr verharmlosende Äußerung. Zu bestreiten, daß wir hier an einem wirklich zentralen Problem sind und bis jetzt in der Tat zuwenig gemacht worden ist, ist unangebracht. Ich habe mir sagen lassen, daß dieses Problem seit 1952 — sicherlich nicht so wie heute — wissenschaftlich bekannt war und damit auch politisch hätte bekannt sein können.
Es ist auch richtig, daß die Vorläuferstoffe des Ozons, die Stickoxide und die Kohlenwasserstoffe, drastisch reduziert werden müssen. Aber es ist nicht richtig, daß man dies nicht auch über Grenzwertfestlegungen machen kann. Deshalb ist, so glaube ich, die Beschlußempfehlung, die ja dem Antrag der CDU im Umweltausschuß entspricht — ich darf das einmal mit Verlaub sagen, aber ich sage dies in der Tat weder wahltaktisch noch polemisch; wir sind hier ja fast unter uns — , schon schwach. Dieser Antrag trifft auch
niemanden, und damit betrifft er auch keinen. Er widerspricht sogar den Worten, die Herr Schmidbauer hier gebraucht hat.
Und ich bin auch nicht ganz sicher, Herr Grüner, inwieweit bei Ihnen die Verkehrspolitiker letztlich doch das Sagen und die Umweltpolitiker, mit denen man sicherlich ganz gut auskommt, immer das Nachsehen haben. Ich glaube, daß es deshalb zwingend notwendig ist, hier ganz massiv bei der Verkehrspolitik anzusetzen. Sie ist in der Tat der Hauptverursacher. Wir haben in unserem Antrag ganz konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, so z. B. zum Tempolimit
— vielleicht wird die Behandlung des Tempolimits etwas unpolemischer, wenn man es in diesem Zusammenhang sagt — und zu Abgasgrenzwerten für Lkw. Ich bringe hier auch einmal den Gedanken ein, daß wir nicht umhin kommen werden, ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Begrenzung des Energieverbrauchs für bestimmte Hubräume zu treffen.
Es ist sicherlich auch richtig, Grenzwerte als Sofortmaßnahme festzulegen und auch Verhaltensmaßnahmen für die Bevölkerung festzulegen. Aber entscheidend ist — und dies muß auch die Botschaft sein, die wir in einer solchen Debatte überbringen wollen und müssen — , daß in der Tat an die Hauptursachen herangegangen werden muß. Man kann auch auf die EG schauen, aber es geht darum, daß wir diese Dinge in unserem Bereich tun.
Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen. Wenn ich richtig unterrichtet bin, Herr Schmidbauer, hat die CDU wohl beantragt, den Tagesordnungspunkt 9 a an den Umweltausschuß zu überweisen. Wir stimmen dem zu in der Hoffnung, daß der Umweltausschuß vielleicht etwas konsequenter ist, als wenn der Verkehrsausschuß federführend wäre.
Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, das Beste an den Anträgen und an dem Entschließungsantrag ist die Tatsache, daß auch Verkehrspolitiker und andere Abgeordnete auf das Phänomen Smogozon und die Ursachen hingewiesen worden sind. Ich gebe ganz offen zu: Ich habe das vorher gar nicht gewußt. Ich habe mich mit dem photochemischen Smog zum erstenmal beschäftigt. In der letzten Debatte, in der wir darüber gesprochen haben— es ist ja nicht das erste Mal — , hat aus meiner Fraktion der Kollege Baum als umweltpolitischer Sprecher als erster gesprochen. Diesmal ist es der verkehrspolitische Sprecher. Ich finde die Debatte insofern völlig richtig.Nur, die Vorwürfe, die gegen die Bundesregierung erhoben werden, gehen natürlich völlig fehl.
— Sie gehen deshalb fehl, weil die Bundesregierung ihrer Verpflichtung, den sachlichen Inhalt der betreffenden Empfehlungen und Richtlinien umzusetzen, ja dadurch nachgekommen ist, daß sie diese Werte in
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Griesder TA Luft umgesetzt hat. Das ist doch das Entscheidende. Es geht ja nicht darum, Beschlüsse zu fassen, sondern darum, diese umzusetzen.
Und es geht auch darum, verehrte Kollegin Rock, daß die GRÜNEN hier einen Antrag auf Umsetzung einer Richtlinie stellen, und sie 14 Tage später einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Immissionsschutzgesetzes einreichen. Da haben sie längst vergessen, welchen Antrag sie eingereicht haben. Also kümmert euch vielleicht einmal selber darum, wer bei euch Verkehrs- und wer Umweltschutzpolitik macht. So geht es am Ende natürlich auch nicht.
Im übrigen ist das Bundes-Immissionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage völlig ausreichend, um die notwendigen Maßnahmen aus den Erkenntnissen zu ziehen. Und der Kollege Kübler hat es ja gesagt: Seit 1952 weiß man überhaupt erst — seitdem gibt es Ursachenforschung — , wie das entsteht, wie sich das entwickelt. Das Immissionsschutzgesetz ist daher im Grunde ausreichend und wird durch die Novellierung, die die Bundesregierung vor hat, es auch in Zukunft sein, um die notwendigen Handlungsanweisungen, z. B. Luftreinhaltepläne, zu entwickeln. Das ist natürlich nicht Sache des Bundestages, sondern es ist Sache der Länder. In einigen seid ihr ja mitbeteiligt, da könnt ihr ja auch einmal dafür sorgen, daß das dann auch geschieht.Ich denke schon, daß es notwendig ist — ich sage das wirklich ernsthaft — , regional — es ist nämlich ein lokales, regionales Problem — Meßstationen, Forschungsvorhaben aufzubauen. Die örtlichen Behörden — ob Landesregierung, ob Straßenbaubehörden oder lokale Behörden, wie auch immer — haben dann die Möglichkeit, das Recht und die Pflicht, das dann auch umzusetzen. Das ist eine ganz wichtige Sache, nur, im Grunde wissen wir alle zu wenig darüber.Es muß doch nachdenklich stimmen, daß z. B. die Meßwerte in Ballungszentren wie dem Rhein-Mainoder dem Ruhrgebiet plötzlich viel niedriger als in ländlichen Gebieten sind. Das kann man ja nicht einfach so abtun, sondern man muß sich fragen: Wie kommt das? Wie, wann, wo und mit welchem geeigneten Mittel muß ich reagieren? Das wissen wir doch gar nicht. Also muß ich das erforschen. Mit Beschlüssen und Entschließungen des Bundestages ist überhaupt noch nichts geschehen. Ich bin schon der Meinung, daß die Auswirkungen des photochemischen Smogs in der gleichen Weise behandelt werden müssen wie andere Smog-Entscheidungen. Die Behörden sollten dann die Möglichkeit haben, den Verkehr einzuschränken oder gar zu verbieten.Da meine Redezeit wegrast, will ich nicht wiederholen, was ich schon in der damaligen Diskussion zu den einfachen Methoden gesagt habe, die die GRÜNENimmer vorschlagen. Mit Tempolimits und sonstigen Einschränkungen ist es überhaupt nicht getan.
Die Zahlen zeigen ja, daß ein Tempolimit überhaupt nichts bringt
— ich kann Ihnen die Zahlen nennen, die heute auf dem Verkehrssicherheitstag in Goslar zu hören waren — , und zwar weder im Hinblick auf die Verkehrssicherheit noch im Hinblick auf die Verminderung von Emissionen.
— Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich wiederhole, was ich damals gesagt habe. Wir müssen beim Auto ansetzen.
— Nein, der Fahrer pustet das nicht in die Luft. Wir müssen vielmehr beim Auto ansetzen. Wir müssen die Technik benutzen, um das Auto schadstoffarm zu machen. Wenn Sie heute sehen, daß z. B. nahezu 100 % der neu zugelassenen Fahrzeuge schadstoffgemindert sind, daß mehr als ein Drittel Drei-WegeKatalysatoren hat, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Was wir noch tun müssen, ist etwas ganz Einfaches: Wir müssen alle einbeziehen, nicht nur die Trabis, sondern auch die viel größere Zahl der Lkw bei uns. Da muß wirklich eingegriffen werden. Dann geht das. Beim Fahrer brauchen Sie nicht einzugreifen.
— Das haben wir überhaupt nicht abgelehnt, sondern wir haben es gefordert. Ich fordere das hier erneut. Nur so bekommen wir diese Dinge in den Griff.Ich finde die Diskussion nützlich, weil sie uns auf die besondere Gefährdung durch photochemischen Smog hingewiesen hat. Wir müssen Gegenmaßnahmen realistisch erwägen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herr Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich unterstreiche, was Herr Kollege Gries hier nachdrücklich ins Gedächtnis gerufen hat, nämlich daß die Bundesregierung die EG-Richtlinien umgesetzt hat, d. h. daß der dort vorgeschriebene höchste zulässige Wert von 200 Mikrogramm, der das Maß für eine Belastung unter näher bestimmten Vorausset-
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14762 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Parl. Staatssekretär Grünerzungen festlegt, bei uns durch die TA Luft festgeschrieben ist.
— Es geht darum: Wenn ein solcher Immissionswert überschritten wird, müssen Maßnahmen ergriffen werden.In diesem Zusammenhang muß man mit großem Nachdruck noch einmal sagen, daß wir hier in der Bundesrepublik auch die entsprechenden Meßstationen haben, daß unsere Politik bei den Kraftfahrzeugen, gerade bei den Personenwagen, außerordentlich erfolgreich ist und daß ein Wagen mit geregeltem Katalysator 90 % der Stickoxide absorbiert. Deshalb muß entscheidend dafür gesorgt werden, daß diese Politik möglichst rasch umgesetzt wird.Es wäre sehr wünschenswert, wenn alle betroffenen Städte und Gemeinden in der Bevölkerung auch für die von uns jetzt angebotenen Umrüstmaßnahmen werben würden. 5 Millionen Kraftfahrzeuge könnten nachträglich mindestens mit einem ungeregelten Katalysator ausgestattet werden. Dafür geben wir einen Zuschuß. Die Fachleute meinen, es wäre ein großer Erfolg, wenn 1 Million Kraftfahrer von dieser Möglichkeit Gebrauch machten. Man muß sich vergegenwärtigen, daß ein solches Angebot noch nicht einmal ausreicht, alle, die es könnten, zu veranlassen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, obwohl ein solcher Beitrag außerordentlich bedeutsam wäre.Die Aufstellung von Luftreinhalteplänen obliegt den Bundesländern, da die Kentnnisse über die örtlichen Verhältnisse hier maßgebend sind. Eine weitere Verbesserung des gebietsbezogenen Immissionsschutzes wird die gerade beratene Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes bringen.Waren gebietsbezogene Verkehrsbeschränkungen zur Abwehr schädlicher Umwelteinwirkungen bisher nur bei Smogwetterlagen möglich, so werden die Länder nunmehr die Möglichkeit erhalten, in von ihnen festzulegenden Gebieten auf regionaler oder lokaler Ebene den Verkehr immer dann zu verbieten oder einzuschränken, wenn dies zur Abwehr schädlicher Umwelteinwirkungen erforderlich ist.
Diese Möglichkeit wird ihnen jetzt durch die Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eingeräumt. Damit steht insgesamt ein ausreichendes rechtliches Instrumentarium zur Abwehr von Gefahren, die durch Stickstoffdioxid als Folge des Straßenverkehrs hervorgerufen werden, zur Verfügung.Ich möchte darauf verzichten, die Erfolge unserer Luftreinhaltepolitik hier noch einmal im Detail darzustellen. Aber es ist überhaupt keine Frage, daß die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind, die Rieseninvestitionen etwa im Rahmen der Großfeuerungsanlagen-Verordnung, zu einer deutlichen Verbesserung der Luftsituation führen werden
und das wir auch bei den Stickoxiden — wenn auch nicht so rasch, wie uns das erwünscht erscheint — erfolgreich sein werden. Es ist richtig gesagt worden, daß in diesem Bereich das Hauptproblem der Straßenverkehr ist. Immerhin ist sein Anteil an den gesamten NOX-Emissionen etwa 53 %.Bezüglich der Information der Öffentlichkeit bei erhöhten Ozonkonzentrationen hat Bundesminister Töpfer in der Diskussion dieses Themas letztes Jahr seine Auffassung deutlich gemacht,
daß ein Wert von 120 Mikrogramm schon zu einer Information der Öffentlichkeit führen sollte. Über diese Fragen wird in dem zuständigen Ausschuß der Länder beraten. Ich bin zuversichtlich, daß es Empfehlungen geben wird, so daß, wenn eine solche Situation eintritt, die Bevölkerung eine Information hat und sich gegen etwaige schädliche Auswirkungen schützen kann.
— Das ist durchaus möglich. Darüber gibt es überhaupt keinen Streit. Ich meine, daß das, was in der Schweiz praktiziert worden ist, durchaus auch für uns ein Maßstab sein kann und daß die Maßnahmen, die wir hier eingeleitet haben, weit über den Photosmog hinaus eine außerordentlich gute und positive Wirkung auf die Umwelt haben werden. Daß wir nicht alles erreicht haben, daß wir bei den Lastwagen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft nicht soweit gekommen sind, wie wir gerne kommen wollten, sei zugestanden.
Aber wir sind auf gutem Wege. Ich meine, daß das in einer solchen Debatte auch deutlich ausgesprochen werden kann. Es besteht kein Anlaß, etwa in der Bevölkerung Angst und Schrecken mit dem Thema Photosmog auszulösen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende dieser Debatte. Ich schließe sie damit.Interfraktionell ist vereinbart worden, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5210 — anders als in der Tagesordnung vorgesehen — zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist diese Überweisung so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 9 b, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6307. Wer für diesen Änderungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Bei einer Enthaltung ist dieser Änderungsantrag abgelehnt worden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990 14763
Vizepräsident WestphalWir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 11/5143. Der Ausschuß empfiehlt zunächst auf Drucksache 11/5143 unter Nr. I die Annahme einer Entschließung. Wer für diese Entschließung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit, wie wir sie eben hatten, angenommen worden.Der Ausschuß empfiehlt weiter unter Nr. II, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2872 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf — es ist der letzte heute abend — :Erste Beratung des von den Abgeordneten Tillmann, Fischer , Jung (Limburg), Dr. Jobst, Börnsen (Bönstrup), Haungs, Bohlsen, Rauen, Frau Karwatzki, Bühler (Bruchsal), Oswald, Rossmanith, Dr. Faltlhauser und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gries, Kohn, Richter, Zywietz, Timm, Nolting, Dr. Solms, Dr. Weng (Gerlingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes— Drucksache 11/6261 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußHaushaltsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Tillmann.
Herr Präsident! Meine Ramen und Herren! Darf ich zunächst eine Vorbemerkung machen: Das Plenum gleicht heute abend eher einer gut besuchten Mitgliederversammlung der parlamentarischen Gruppe „Luftfahrt" . Ich begrüße die hier anwesenden Mitglieder, und ich freue mich als Vorsitzender, daß ich mit dieser Bemerkung Gelegenheit hatte, die Existenz dieser verdienstvollen Vereinigung von Parlamentariern für das Plenarprotokoll zu dokumentieren.
— Herr Kollege Becker, Sie können noch Mitglied werden.Schon mehrfach in dieser Legislaturperiode hat sich der Deutsche Bundestag mit Problemen der Flugsicherung intensiv befaßt. In der Aktuellen Stundevom Juni 1988 über Verspätungen im Luftverkehr habe ich darauf hingewiesen, daß das Prokrustesbett des öffentlichen Dienstrechts für die Bewältigung von Aufgaben der Hochtechnologie, wie wir sie bei der Flugsicherung haben, nicht mehr passe. Bundesverkehrsminister Warnke hat schon damals für die Bundesregierung zugesagt, eine leistungsgerechte Struktur für die Flugsicherung zu schaffen.Heute stehen wir mit der ersten Lesung des Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes kurz vor dem Ziel, für die Flugsicherung eine leistungsgerechte und fortschrittliche Struktur zu schaffen, die den Ansprüchen des enorm wachsenden Luftverkehrs entspricht.Ich habe bei früherer Gelegenheit auch schon angemerkt, daß die Bundesanstalt far Flugsicherung bei ihrer jetzigen Organisationsform personell wie technisch den steigenden Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Dies führt nicht nur zu Kapazitätsengpässen und damit zu Mehrkosten für die Luftraumnutzer und zur Verärgerung bei den Passagieren, sondern vor allem zu Beeinträchtigung der Sicherheit, wie der kürzliche Fast-Zusammenstoß von zwei Verkehrsmaschinen im Luftraum Frankfurt wieder einmal drastisch bewiesen hat.Die Probleme liegen allerdings nicht bei den Mitarbeitern der BFS. Im Gegenteil: Meine Fraktion bescheinigt ihnen ausdrücklich ein hohes Maß an Engagement und Pflichtbewußtsein. Daß es unter den gegebenen Umständen mit dem Luftverkehr überhaupt noch so reibungslos verläuft, ist dem besonderen Einsatz der Bediensteten der Bundesanstalt für Flugsicherung zu verdanken. Ich benutze gern die Gelegenheit, dies ausdrücklich und dankbar anzuerkennen.
Nein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Probleme liegen im System. Mit der staatlichen Organisation der Flugsicherungsdienste ist der außergewöhnliche Anspruch an Flexibilität und Leistungsfähigkeit, der heute gefordert ist, nicht mehr zu erfüllen. Das starre öffentliche Dienstrecht und das öffentliche Beschaffungswesen mit seiner Bindung an das jährliche Budget verhindern politisch, rechtlich und auch praktisch perfekte Flugsicherungsdienstleistungen.Nur mit der durch das heute eingebrachte Gesetz vorgesehenen Umwandlung der BFS in eine unternehmerische Organisation, in eine GmbH mit voller Eigenwirtschaftlichkeit, die zu 100 % im Eigentum des Bundes steht, werden die weiter ansteigenden Anforderungen an ein funktionsfähiges Flugsicherungssystem der Zukunft zu erfüllen sein.Ich sprach von der Eigenwirtschaftlichkeit. Mit der Einführung der Flugsicherungsgebühren auch für An- und Abflug ist die Kostendeckung weitgehend gesichert. Was nun allerdings die Kosten angeht, die durch die Nachversicherung der aus dem Bundesdienst ausscheidenden Beamten entstehen, so sind diese selbstverständlich, soweit ein Rechtsanspruch besteht, aus dem Bundeshaushalt zu erbringen. Dafür sind ja auch bereits in der Vergangenheit im Rahmen der Flugsicherungsgebühren Einnahmen in etwa glei-
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Tillmanncher Höhe erzielt worden. Die Differenz zwischen den weiteren Versorgungsanwartschaften und diesen Nachversicherungskosten muß unserer Auffassung nach allerdings durch das neue Flugsicherungsunternehmen finanziert werden. Das ist nur konsequent, wenn das Prinzip der Eigenwirtschaftlichkeit des Unternehmens ernst gemeint ist.Wir sind uns darüber im klaren, daß mit der privatwirtschaftlichen Organisationsform mit weit höherer Leistung auch höhere Kosten auf die Luftraumnutzer zukommen können. Diese höheren Kosten stehen aber in überhaupt keinem Verhältnis zu den Aufwendungen, die bisher schon durch Behinderungen, Verspätungen, das Fliegen von Warteschleifen usw. entstanden sind
und die weiter steigen werden, wenn die Strukturreform der Flugsicherung nicht in der von uns beabsichtigten Form durchgeführt wird.Meine Fraktion vertritt im übrigen die Auffassung, daß die Übertragung der Dienstleistungsaufgaben der Bundesanstalt für Flugsicherung auf die privatrechtliche GmbH verfassungsgemäß ist, Herr Kollege Gries,
und daß es einer Änderung des Grundgesetzes nicht bedarf. Wir unterstützen die in den Gutachten der Professoren Ossenbühl und Luther gemachten Aussagen, und auch der Bundesminister des Innern ist der Meinung, daß verfassungsrechtliche Bedenken überwindbar sind, wenn nach der Einschätzung des Bundesministers für Verkehr die effiziente Erledigung der Aufgabe „Flugsicherung " jetzt nicht mehr gewährleistet ist; und diese Gewährleistung ist eben nach Auffassung der Koalitionsfraktionen und auch der SPD-Fraktion ohne Privatisierung nicht gegeben.Herr Kollege Daubertshäuser, meine Fraktion geht davon aus, daß der Konsens zwischen den drei Fraktionen auch bei der Beratung dieses Gesetzes erhalten bleibt, auch wenn die SPD-Fraktion den Entwurf nicht ausdrücklich mit eingebracht hat. Angesichts der Wichtigkeit und auch der Schwierigkeit der vor uns liegenden Aufgaben ist die Zusammenarbeit nur ein Gebot der Vernunft. Über noch umstrittene Detailfragen, Herr Kollege Ibrügger, etwa im Bereich der zivilmilitärischen Zusammenarbeit, wird man sich im Verlaufe der Beratungen sicher verständigen können.
Auch vom jetzigen Entwurf abweichende plausible Vorgaben des noch nicht eingebrachten Regierungsentwurfs werden möglichst zu berücksichtigen sein.
— Herr Kollege Gries, ich habe ja ausdrücklich gesagt: Plausible Vorgaben werden möglichst zu berücksichtigen sein,
und was plausibel ist, entscheidet das Parlament.
— Ja, eben. Jedenfalls ist es unsere feste Absicht, dieses Gesetz noch bis zum Ende der Legislaturperiode zu verabschieden.
Nun zur zivil-militärischen Problematik: Meine Fraktion will mit diesem Gesetz die Strukturreform der zivilen Flugsicherung. Wir beabsichtigen damit— jedenfalls zunächst — nicht auch eine Neuorganisation in der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Die bisherige Form der zivil-militärischen Zusammenarbeit wird mit der Verabschiedung dieses Gesetzes eigentlich nicht berührt.
— Herr Kollege Daubertshäuser, wir glauben allerdings auch nicht, daß dieses Gesetzgebungsvorhaben dazu benutzt werden kann, das Nebeneinander einer zivilen und einer militärischen Flugsicherung zusätzlich gesetzlich zu verfestigen.
Es muß im Gegenteil eine weitere Verbesserung der Koordination und eine Optimierung der Zusammenarbeit zwischen ziviler und militärischer Seite angestrebt werden, um den ohnehin knappen Luftraum so gut wie möglich zu nutzen.
— Herr Kollege Opel, das wollen wir einmal der zukünftigen Entwicklung überlassen. Wir werden jedenfalls darauf zu achten haben, daß die Flutlotsen eben nicht weglaufen, sondern daß sie ihre Aufgabe erfüllen können.
Wir sind uns darüber klar, daß auch mit diesem entscheidenden Fortschritt im Bereich der Flugsicherung in der Bundesrepublik Deutschland die in Europa bestehenden großen Probleme nicht bewältigt sind. Weiterhin muß daran gearbeitet werden, in ganz Europa ein einheitliches Flugsicherungssystem zu schaffen, das die anachronistischen Zustände mit heute 22 unterschiedlichen, nicht miteinander verkoppelten Flugsicherungssystemen beseitigt.Aber unsere Strukturreform heute blockiert ja keineswegs eine große europäische Lösung, sondern sie ist ein Baustein eines zukünftigen europäischen einheitlichen Flugverkehrskontrolldienstes.
Wir werden uns, wenn wir diese Hausaufgaben hier gemacht haben, mit der Frage der europäischen Flugsicherung dann sehr intensiv zu beschäftigen haben.
— Vielleicht könnte man darüber nachdenken, Herr Kollege Opel.Abschließend, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich noch auf einen nicht ganz unwichtigen Nebenaspekt dieses Gesetzgebungsvorhabens hinweisen. Immer wieder wird in Politikersonntagsreden von der Notwendigkeit der
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TillmannEntbürokratisierung und der Beseitigung überflüssiger gesetzlicher Vorschriften und Verordnungen gesprochen.
Wir leisten diesmal mit der Verabschiedung dieses Gesetzes einen wichtigen Beitrag zur Glaubwürdigkeit dessen, was in Sonntagsreden verkündet wird. Wir leisten einen glaubwürdigen Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung.Das Gesetz über die Bundesanstalt für Flugsicherung wird überflüssig und wird aufgehoben. Lassen Sie mich das so sagen: Welcher Parlamentarier könnte nicht stolz darauf sein, auch einmal ein Gesetz abgeschafft zu haben, statt wieder ein neues beschlossen zu haben.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Ibrügger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ihrer Lageschilderung, Herr Kollege Tillmann, will ich mich gerne für die SPD-Fraktion anschließen, vor allem im Dank an das Personal bei der Bundesanstalt für Flugsicherung. Ich füge ausdrücklich auch den Dank an unsere Soldaten beim Amt für Flugsicherung der Bundeswehr hinzu.
Wir sind am Anfang einer Gesetzesberatung. Deswegen erlauben Sie mir, an die Entwurfsbearbeitung des ersten deutschen Luftverkehrsgesetzes zu erinnern. In der 13. Legislaturperiode, des Reichstages wurde in der ersten Session 1912/1914 vom Stellvertreter des Reichskanzlers im Namen seiner Majestät des Kaisers der Entwurf eines Luftverkehrsgesetzes vorgelegt. Offensichtlich müssen einige bis auf den heutigen Tag noch etwas von dem gespürt haben, was unsere Kollegen damals gesagt haben. Ich will Ihnen das nicht vorenthalten.In der Begründung heißt es:Seit einer Reihe von Jahren haben sich die Luftfahrzeuge den Verkehr im Reiche der Luft erobert. Nachdem die technischen Schwierigkeiten in der Hauptsache gelöst sind, hat die Luftfahrt eine von Jahr zu Jahr steigende Bedeutung erlangt .. .Die Entwicklung sei überraschend schnell vorwärts gegangen.Vieles hat sich verändert. Inzwischen sitzen ein Bundesminister, der Staatssekretär und die Mitarbeiter auf der Regierungsbank. Früher saßen da der Kaiserliche Geheime Oberregierungsrat — Ministerialdirektoren kannte man damals noch nicht — , der Kaiserliche Geheime Legationsrat und der Königlich Preußische Wirkliche Geheime Oberbaurat Dr.-Ing. Zimmermann, der mit an der Beratung teilzunehmen hatte.Manches hat sich im Parlamentarischen Alltag auch 75 Jahre später wohl nicht verändert. Ich erinnere andie Debatte im Reichstag. Der Kollege Landsberg sagte:Meine Herren, kühne Männer, denen der Fortschritt der Menschheit höher gestanden hat als die Erhaltung des eigenen Lebens, haben den uralten Traum der Menschen, gleich den Vögeln im Luftraum zu schweben, verwirklicht, und nun kommt der Gesetzgeber und geht daran, die Reihe der Gesetze um eines zu vermehren, das die Formen und Bedingungen des Luftverkehrs regeln und die Menschen gegen die Gefahren dieses Verkehrs sichern soll. Ich tadle den Gesetzgeber nicht deswegen, weil er hinter dem Techniker herhinkt. Das ist nun einmal die Aufgabe des Gesetzgebers, den Bedürfnissen nachzugehen; er soll nicht Gesetze auf Vorrat machen, sondern sie erst dann schaffen, wenn ein Bedürfnis für sie entstanden ist.... Ich tadle sie— die Regierungen —... wegen eines gewissen Mangels an Phantasie, den sie bei der Schaffung der einzelnen Bestimmungen bewiesen haben
Wir werden mal im Ausschuß beginnen, über solche Bestimmungen zu reden, über die ich hier keine weiteren Ausführungen machen kann.Damals sagte der Kollege Landsberg angesichts der tausend Freiballonführer, die es damals gab, und der 700 deutschen Flugzeugführerscheine, die bis damals ausgestellt worden waren:Die Materien schreien förmlich nach internationaler Regelung, und der Herr Ministerialdirektor hat mich mit seinen Worten nicht davon überzeugt, daß erst eine nationale Regelung dieser Materie erfolgen mußte, bevor Raum wurde für eine internationale.Sehr wahr! Und das schon im Jahr 1914!Ein anderer Punkt. Der Kollege Oertel wies in dieser Debatte am 12. März 1914 mit besonderer Befriedigung darauf hin, für seine Parteifreunde — in diesem Fall vom Zentrum — seien bei diesem Gesetz die Sicherheit des Landes und die Verteidigung des Landes der Hauptgesichtspunkt. Er fügte hinzu: „Die Gesichtspunkte der Landesverteidigung und Landessicherheit stehen so voran, daß alle anderen sich ihnen unterordnen müssen."Damit bin ich beim „Spiegel" dieser Woche und einer Meldung mit der Überschrift „Soldaten im Tower?". Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Uns geht es nicht darum, Fluglotsen, die eine militärische Ausbildung hinter sich haben, im Tower zu verhindern. Uns kommt es darauf an, daß dabei der Begriff „zivilmilitärisch" keine Rolle mehr spielt, sondern daß wir Fluglotsen gewinnen, die die Luftverkehrskontrolle so effizient, wirtschaftlich und zügig wie möglich abwickeln, unabhängig davon, ob sie einen militärischen Rock, einen Anzug oder einen Pullover tragen; das ist völlig gleichgültig.Hier allerdings, Herr Kollege Tillmann, sage ich ausdrücklich: Das, was von der Hardthöhe inzwischen als Ergänzung bekannt wurde, nämlich die flächendeckende militärische Flugsicherung einführen zu wollen, ist für uns eine Bedingung, der wir nicht zu-
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Ibrüggerstimmen werden. Im Gegenteil. Wir hoffen und bauen darauf, auch in den Ausschußberatungen nachzuweisen, daß es für die bestmögliche Erfüllung der Aufgaben in der Luftverteidigung und für die Erfüllung der Aufträge, die unsere militärischen Piloten wahrzunehmen haben, nicht zwingend darauf ankommt, eine eigenständige militärische Flugsicherung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil, wir brauchen diese qualifizierten Lotsen so schnell wie möglich zur Abwicklung des gesamten Luftverkehrs. In Zukunft muß jeweils nach der spezifischen Anforderung eines zivilen Flugzeugs oder einer „Phantom" oder eines „Tornados" jeder nach seinem spezifischen Einsatz die bestmögliche Regelung durch die Luftverkehrskontrolle bekommen. Dies ist für alle Beteiligten erheblich wirtschaftlicher, als zu Feiertags- und Nachtzeiten oder zu Silvester oder Weihnachten Militärlotsen in ihren Stellungen sitzen zu lassen, die keine Aufgabe wegen fehlenden Luftverkehrs wahrzunehmen haben.
Deswegen gilt ganz ausdrücklich schon für diese Gesetzesberatung — das ist unsere Bitte an die Kollegen der CDU/CSU und der FDP — , gleichzeitig für die Aufgabenstellung der Luftverteidigung und Flugsicherung die entscheidenden Vorkehrungen in dieser Gesetzgebung zu treffen. Mein Kollege Opel, General der Luftwaffe, z. Zt. a. D., wird darauf gleich noch eingehen. Auf diese Weise sollte es gelingen, qualifiziertes Personal so schnell wie möglich für die weiterhin wachsenden Aufgaben im überdurchschnittlich steigenden Luftverkehr Europas freizustellen. Damit werden wir auch den Aufgaben gerecht, die wir im Deutschen Bundestag gemeinschaftlich im Mai 1989 beschlossen haben.Aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion sind folgende Bedingungen für eine Verabschiedung noch in dieser Wahlperiode unverzichtbar:Zum ersten, daß wir nicht nur das Luftverkehrsgesetz beraten, sondern gleichzeitig die Rechtsverordnungen mit dem Ziel überprüfen, Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Regelmäßigkeit des Luftverkehrs zu verbessern, dem Umweltschutz zu dienen und die internationale Zusammenarbeit auf diesem Feld wirksam zu verbessern.Uns geht es um die strikte Einhaltung des Prinzips der Flugsicherung aus einer Hand für den zivilen und militärischen Luftverkehr zur Erhöhung eines flexiblen, wirtschaftlichen und Wartezeiten abbauenden Flugverkehrs.Wir bitten darum, lieber Kollege Tillmann, bei der Beratung der GmbH-Lösung auch unserer Forderung nachzugehen, daß gleichzeitig Alternativen überprüft werden. Keiner weiß, ob eine GmbH-Lösung auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten — Sie haben Ihre Haltung dazu klar dargelegt — auf Dauer, wenn Einspruch erhoben werden sollte, tragfähig ist. Wir fordern daher, daß gleichzeitig die Prüfung erfolgt, ob diese Flugsicherungs-GmbH auch als Teil eines Eurocontrol-Regionaldienstes Bundesrepublik Deutschland aufgebaut werden kann,
als Baustein einer künftigen europäischen Flugsicherung, wie immer wir sie bezeichnen. Auch bei den Kostenüberlegungen sollte mit berücksichtigt werden, welche europäische Flugsicherungsorganisation auf die Dauer gesehen, auch unter Einbeziehung der fundamentalen Veränderungen, die wir in Osteuropa erleben und die uns manche Chancen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit eröffnen, dies am besten gewährleisten kann. Wir sollten das im Detail untersuchen und überprüfen.Dies gilt auch für die einheitliche Ausbildung von Lotsen durch Eurocontrol oder durch eine Einbeziehung beispielsweise der Schule, der BFS in Langen. Auf diese Weise können wir Vorkehrungen dafür treffen, daß wir auch im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft dafür sorgen, daß Fluglotsen im gesamten Raum der Europäischen Gemeinschaft eingesetzt werden können.Zur Abwehr von Gefahren im Luftraum ist eine sofortige Änderung der Luftraumgliederung mit dem Ziel möglichst kurzer und effizienter Flugwege vorzunehmen. Diese Umstrukturierung hat sich an den Erfordernissen des Luftverkehrs zu orientieren und historisch gewachsene Strukturen unberücksichtigt zu lassen. Das gilt z. B. auch für durchgehende Beschränkungsgebiete um Flughäfen. Ich erinnere an gefährliche Begegnungen, die wir in letzter Zeit hatten. Hier ist unabhängig auch von der laufenden Gesetzgebung die Arbeit der Bundesregierung gefordert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind dabei, diesen Gesetzentwurf den Ausschüssen zur Beratung zu überweisen.Ich will hier abschließend für die SPD-Fraktion erklären: Wir werden alles mittragen, um einen sicheren, effizienten und wirtschaftlichen Luftverkehr in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus im gesamten europäischen Luftraum zu sichern. Wir sind allerdings davon überzeugt, daß jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Lösung gekommen ist, die die Zweigleisigkeit in der Flugsicherung der Bundesrepublik Deutschland vermeidet. Wir wollen die einheitliche und zukunftsorientierte Lösung in der Flugsicherung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gehört sicher zu den angenehmen Erlebnissen in diesem Hause, daß wir über einen Gesetzentwurf reden, der zwar nur von zwei Fraktionen unterzeichnet ist, von dem ich aber weiß, daß er — gerade auch nach den Ausführungen des Kollegen Ibrügger — im wesentlichen auch von der großen Oppositionspartei mitgetragen wird. Ich finde das der Sache angemessen.
Es gehört auch zu den positiven politischen Erlebnissen, die man auch mal haben kann. Ich finde auch die Formulierungen, die er zu den etwas kritischen Problemen des Gesetzentwurfs gefunden hat — dabei
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Grieslasse ich die Randprobleme unberücksichtigt — so, daß ich glaube, daß wir am Ende einen sehr vernünftigen, vor allem im Interesse der Betroffenen wichtigen Kompromiß finden werden.Wir haben gerade in diesen Tagen wieder erlebt, wie schwierig das Problem ist, daß wir das hier also nicht im theoretischen Raum diskutieren. Es geht nicht nur um die Starts und Landungen, wozu hier in meinem Konzept steht, es sei nach wie vor ein Lotteriespiel, ob und wann gestartet und gelandet wird. Es geht auch um die Gefährdungen im Luftraum, um den Ärger für die Passagiere, für die Unternehmer selber, für die Flughäfen, aber auch um das, was wir jetzt in Frankfurt wieder mit dem near miss erlebt haben.Ich habe an den Verkehrsminister geschrieben und ihn gebeten — ich habe gesehen, daß das auch von anderer Seite schon aufgenommen worden ist — , daß wir uns über die Ursachen dieses wirklich nicht ungefährlichen Beinahezusammenstoßes über Frankfurt im Verkehrsauschuß unterhalten müssen. Da muß ein Bericht kommen; so geht das nicht weiter. Wir müssen uns fragen: Ist das wirklich nur menschliches Versagen — das können Sie nie ganz ausschließen — , oder gibt es hier auch technische Mängel, was ich auch nicht beurteilen kann. Was ist denn eigentlich mit dieser technischen Warnanlage gegen Zusammenstöße? Funktioniert die? Wenn sie funktioniert, wieso haben die nicht alle? Müssen wir das vorschreiben? Ich habe also eine Fülle von Fragen in dem Zusammenhang, und ich bin sicher, daß wir einen detaillierten Bericht des Verkehrsministers bekommen werden.Aber wir sehen natürlich auch die neuere Entwicklung, die uns hinsichtlich des Luftraums Mut machen kann. Wir müssen den Luftraum neu ordnen.
Die Entwicklung in Osteuropa, in Deutschland insgesamt gibt mir Mut, auch Optimismus, insbesondere wenn ich sehe, daß die DDR ein Angebot gemacht hat, eine neue Straße einzurichten, die nicht nur im ganz lebenswichtigen Korridor nach Berlin läuft, sondern dann über Erfurt, Leipzig nach Ost-Berlin führen kann. Dann müssen wir nicht mehr diese unsinnigen Umwege etwa über die CSSR fliegen. Wir könnten so auch Anschluß an internationale Luftverkehrsstraßen bekommen. Das würde uns wesentlich entlasten. Ich bin der Meinung, die ADIZ müßte fallen. Sie ist völlig unsinnig, blockiert den Luftraum.
Ich denke, daß wir hier auf einem guten Weg sind.Ich wiederhole meine Forderung von neulich, daß wir zu einem Luftverkehrsabkommen kommen. Ich wäre sehr dankbar, Herr Minister — ich glaube, Sie sind in derselben Weise tätig —, wenn wir versuchten, ein Luftverkehrsabkommen mit der DDR zu bekommen, und nicht darauf warteten — wie ich erst heute gelesen habe —, daß die EG sich jetzt zum Sprecher macht. Erst einmal machen wir unsere eigenen Sachen. Das halte ich für wichtig.Ich appelliere an die Alliierten, die noch immer ihre nicht verständliche Abschottung z. B. gegenüber der Lufthansa betreiben. Sie sollten nicht die Monopolherrschaft ihrer eigenen, nationalen Luftverkehrsunternehmen fördern,
sondern sollten mit uns gemeinsam denken.Wir werden alles tun müssen, um Verkehre zu verlagern. Wir haben gestern die Anhörung zum Transrapid gehabt. Ich will das alles nicht wiederholen. Wir werden natürlich versuchen, Verkehr auf Schiene zu bringen. Aber jeder von uns weiß, daß wir den Flugverkehr über mittlere und lange Strecken nicht abschaffen können, wollen, daß wir ihn brauchen. Er ist auch ein wesentlicher Faktor des Wirtschaftsstandortes Bundesrepublik. Es bedeutet z. B. auch für die DDR einen ganz unglaublich wichtigen Fortschritt, wenn sie in das internationale Luftverkehrsnetz mit eingebunden wird. Wir sollten uns mit bemühen, daß das so geschehen kann.Ich sage für die FDP ganz eindeutig: Wir sind nicht gegen den Flugverkehr, sondern wir fördern ihn. Wir wollen ihn erleichtern, wir wollen ihn leichter, schneller und sicherer machen. Was wir heute in dem Gesetzentwurf haben, ist ein Teil dessen, ihn sicherer zu machen, effizienter zu machen. Wir wollen ein neues Flugsicherungssystem auf den Weg bringen, das mit den Schwierigkeiten der Vergangenheit, der behördlichen Struktur, leichter fertig werden kann. Darum haben CDU/CSU und FDP diesen Gesetzentwurf eingebracht. Aber ich weiß — das wurde ja beim Kollegen Ibrügger deutlich —, daß Sie das im wesentlichen mittragen. Wir haben es im Vorfeld genug besprochen. Ich bin der Überzeugung, wir bekommen am Ende schon ein ganz vernünftiges Ergebnis.Wir werden darauf achten müssen, daß wir nicht über die Rechtsprobleme stolpern. Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob hierzu das Grundgesetz geändert werden muß. Ich sage ganz deutlich — auch wenn das einem Justizminister meiner Partei nicht unbedingt ins Stammbuch geschrieben werden muß — : Ich bin der Meinung, das geht auch so.
Der Bund wird alleiniger Gesellschafter dieser privatrechtlichen GmbH sein. Er wird alle Durchgriffsrechte haben. Wir können also auch eine private Rechtsform wählen.Wenn diese Meinung nicht geteilt wird, dann werden wir den anderen Weg einer Grundgesetzänderung gehen. Da geht meine Bitte an die Opposition, dann sachlich zu entscheiden und zu sagen: „Okay, wenn es denn so ist, wenn die Juristen das so entscheiden — was wir in der Sache wollen, wissen wir —, dann soll es gemacht werden. " Ob man das tun muß, ist eine andere Frage.
Wir werden dafür sorgen müssen — ich will das ganz deutlich sagen — , daß die Mitarbeiter der jetzigen Flugsicherung keine Nachteile erleiden.
Es gibt da große Probleme im sozialen Bereich. Da gibtes nicht nur Superleistungsfähige, da gibt es auch
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Griesschon Ältere. Es gehört zur Pflicht des Gesetzgebers und des Dienstherrn, dafür zu sorgen, daß es keine Nachteile gibt, daß bei der Altersversicherung wie auch bei der Sicherung des Arbeitsplatzes ein gleitender Übergang erfolgt.Von dem Problem der zivilen und militärischen Fluglotsen hat Ferdi Tillmann hier gesprochen. Auch ich bin der Meinung, daß wir diesen Gesetzentwurf nicht überfrachten sollten. Ich erinnere an die Beschlußfassung des Bundestages. Wir haben gesagt, erstrebenswert sei eine Unit of control, daß wir am Ende eine einheitliche zivil-militärische Flugsicherung haben, wie das in Amerika völlig selbstverständlich ist, in der Schweiz auch sehr gut funktioniert. Ich setze mich sehr dafür ein, habe aber Verständnis, daß unsere Kollegen von der Verteidigungspolitik und andere das ein bißchen anders sehen.Ich sage das jetzt einmal zu uns. Wir sind hier ja nur noch Verkehrspolitiker.
— Fast.
— Und Interessierte. Wir sollten das mit Geduld angehen. Wir machen jetzt erst einmal den Durchbruch. Wir organisieren die Flugsicherung neu, machen sie effizient, bringen sie in eine neue rechtliche Gestalt; und dann sehen wir weiter, wie sich das bewährt. Dann gehen wir Schritt für Schritt vor.
Ich habe aus den Ausführungen des Kollegen Ibrügger für die SPD-Fraktion den Eindruck gehabt, daß wir uns auf diesem Wege wohl im Ziel einig und uns durchaus nahe sind, das Ziel in kleinen Schritten anzustreben und zu erreichen. Insofern ist es, auch wenn nur noch Fach- und persönlich Interessierte anwesend sind, ein beglückendes Erlebnis, ein solches Gesetz— das ist fast ein Reformwerk — auf den Weg zu bringen.Vielen Dank.
Ich muß zwischendurch zumindest dem Eindruck entgegentreten, als säßen hier nur Fachpolitiker. Ich bin keiner, Herr Gries. Und wenn ich noch hinzufügen dürfte, was ich nicht darf: Ich bin anderer Meinung. Aber das kann ich jetzt nicht tun.
Jetzt hat Herr Opel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist offenbar durch Nebenabsprachen zumindest zum Teil schon überholt. Aber er hat insofern auch ein Gutes. Er spricht sich nämlich für die zuverlässige und flüssige Abwicklung des Luftverkehrs aus und fordert dafür maximale Flexibilität ein. Was könnte besser sein als maximale Flexibilität?Daneben — so wird in der Begründung des Gesetzentwurfs behauptet — hätten sich Klarstellungen zuAusnahmebefugnissen der Bundeswehr ergeben. Letzteres kann nur formal, aber nicht inhaltlich gemeint sein; denn klare politische Aussagen über die Zukunft der militärischen Flugsicherung bietet der Gesetzentwurf eben nicht an — noch nicht.Richtig ist in der Begründung des Gesetzentwurfs der Satz, daß die Regelung der Flugplankoordinierung deren Anwendung und Ausgestaltung festlege. Damit ist ganz offensichtlich, daß die Möglichkeit zur optimalen Flugplankoordinierung der Schlüssel schlechthin zu einer erfolgreichen und vor allem zu einer sicheren Durchführung des Luftverkehrs ist.Doch mit hehren Grundsätzen allein läßt sich bekanntlich noch keine praktische Politik machen. Wenn man über Flugsicherung redet, sollte man sich in möglichst vielen Ländern die Praxis vor Ort ansehen. Nach wie vor ist bei uns eine Zweigleisigkeit von ziviler und militärischer Flugsicherung geplant. Das bedeutet einerseits erheblichen Mehraufwand und andererseits zusätzliche Koordinierungsschwierigkeiten, die vermeidbar sind.
Außerdem hat sich die Notwendigkeit erwiesen, den Flugverkehr in geringer Höhe ebenfalls in die Flugsicherungsbetrachtungen einzubeziehen und für Flüge in niedrigen Flughöhen zumindest vorab koordinierte Flugpläne vorzulegen und im Rechner auf Kollisionsgefahren überprüfen zu lassen, da in diesen Höhen die Radarerfassung äußerst lückenhaft ist. Der Unfall von Wiesmoor beweist das.Zudem ist es wichtig, daß bei einer Neuregelung die Techniker nicht vergessen werden dürfen. Wir dürfen also nicht nur an die Fluglotsen selbst denken.
Zudem klagen die militärischen Fluglotsen seit Jahren zu Recht über ihre Benachteiligungen bei Dienstgestaltung und Einkommenssituation. Wenn die Bundesregierung die beamteten Fluglotsen schon in die Privatwirtschaft entläßt, dann wäre es doch nur sinnvoll, auch die militärischen Flugsicherer an dieser Möglichkeit teilhaben zu lassen und den militärischen und zivilen Flugsicherungsauftrag gemeinsam durchzuführen.Für mich besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß sich daraus für die militärische Luftfahrt keinerlei Nachteile ergäben. Schließlich ist das Militär auch in anderen Bereichen vollkommen von zivilen Firmen abhängig. Aber ein wichtiger Grundsatz kommt hiermit auch zur Geltung, nämlich derjenige, daß es keine Zweiteilung der Behandlung der Fluglotsen geben darf, die im Prinzip die gleiche Arbeit machen.Ich muß zur Klarstellung noch einmal deutlich machen, daß ich nicht von der Luftverteidigung spreche. Ich spreche nur von der Flugsicherung. Diese Unterscheidung ist in der öffentlichen Diskussion vielfach nicht gemacht worden. Wir müssen sie im Parlament sehr sorgfältig treffen.Es gibt in der Tat Doppelarbeit. Es gibt gelegentlich eine geringe Auslastung. Es gibt auch erhebliche Engpässe. Das heißt, daß wir eine Konzentration des Flugsicherungspersonals im Interesse einer wirtschaftlichen Regelung der Flugsicherung insgesamt
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Opelbenötigen. Wir müssen die vorhandenen personellen und materiellen Ressourcen durch diese Konzentration sinnvoll einsetzen.Nun kann der Einwand kommen, daß die Flugsicherung auf den militärischen Flugplätzen von militärischem Personal durchgeführt werden müsse. Auch dieses Argument überzeugt nicht; denn schließlich besteht beispielsweise der gesamte Wehrgeophysikalische Dienst der Bundeswehr ausschließlich aus zivilen Mitarbeitern. Jede Flugvorbereitung ist auf die Meteorologen des wehrgeophysikalischen Dienstes angewiesen. Klagen darüber, daß dies keine Militärs seien, sind mir zumindest bisher nie untergekommen.Dabei gibt es voraussehbar ein weiteres Problem: Der Abrüstungsprozeß in Europa wird rascher voranschreiten, als manche dies noch heute wahrhaben wollen. Dieses Faktum bedeutet aber gleichzeitig, daß der militärische Flugverkehr in Europa deutlich abnehmen wird. Er wird nicht zunehmen.
Natürlich hat dies auch Auswirkungen auf die militärische Flugsicherung. Damit würde die Zweiteilung der Flugsicherung inhaltlich noch problematischer, als sie ohnehin schon ist.Man darf auch nicht übersehen, daß mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die soziale Schere zwischen der zivilen und der militärischen Flugsicherung noch weiter geöffnet würde. Obwohl die Tätigkeit von militärischen und zivilen Fluglotsen durchaus vergleichbar ist, bestehen erhebliche soziale, finanzielle und auch andere Unterschiede wie beispielsweise im medizinischen Bereich. Dies kann vom Gesetzgeber nicht einfach hingenommen werden.Der Luftraum selber ist im Prinzip unteilbar.
Dies bedeutet, daß die Flugsicherung für den gesamten geschlossenen Luftraum einheitlich durchgeführt werden muß.
Scheinbar ist es so, daß die künstliche Unterteilung des Luftraumes nutzerfreundlich ist. Aber tatsächlich ist dies ein Nachteil für die Sicherheit des Luftverkehrs; und das wollen wir alle nicht.Nun möchte ich Ihnen einige Fakten nennen, die bei der Beratung des Gesetzes sicherlich zu berücksichtigen sind. Im Jahre 1989, im letzten Jahr, gab es in der Bundesrepublik Deutschland 9 % mehr zivil kontrollierte Flugbewegungen als im Vorjahr. Bei den zivilen Flugsicherungsbehörden in der Bundesrepublik gingen bereits über 100 Anfragen von militärischen Fluglotsen ein, ob sie denn für den Fall, daß es die GmbH-Lösung gäbe, von der privaten Gesellschaft übernommen werden würden. Das sind fast 10 % aller militärischen Fluglotsen.Hier möchte ich einmal eine Bemerkung machen: Wenn denn die militärischen Fluglotsen übernommen werden könnten, würde das für den Verteidigungsminister möglicherweise eine wunderschöne Entlastung bringen; denn genau die Stellen, die die Fluglotsen im Moment besetzen, braucht er für den militärfachlichen Dienst und möglicherweise auch für die Portepeeunteroffiziere. Hier fehlen über 3 000 Stellen.Das Einkommen eines militärischen Fluglotsen beläuft sich im Durchschnitt auf gut 4 000 DM brutto im Monat, das eines zivilen Lotsen auf gut 5 000 DM im Monat. Das Einkommen der zivilen Lotsen bei Eurocontrol beträgt dagegen mehr als das Doppelte. Auch die Einkommen von Fluglotsen in anderen europäischen Ländern bewegen sich in der letztgenannten Größenordnung. Man muß also damit rechnen, daß die zivilen Fluglotsen von der neuen GmbH ein Gehalt erwarten, das mit dem bei Eurocontrol zumindest vergleichbar ist. Das wissen wir alle hier, nur, man muß es einmal aussprechen.Dies bedeutet, daß das ohnehin vorhandene erhebliche Gefälle zwischen militärischen Fluglotsen und zivilen Fluglotsen noch größer wird. Das heißt nicht weniger, als daß die Flucht aus der militärischen Flugsicherung programmiert ist, wenn der Gesetzentwurf so oder so ähnlich verabschiedet wird, wie er uns vorliegt.Die Lösung kann nur darin gesehen werden, daß die militärische Flugsicherung von der zivilen Flugsicherung mit übernommen wird. Dies bedeutet, Herr Kollege Tillmann — Sie haben darauf hingewiesen —, daß das öffentliche Dienstrecht selbst bei bestem Wollen jeder Bundesregierung die Flexibilität, die hier gefordert ist, einfach nicht hergibt.
Auch eine Aufteilung in militärische Fluglotsen an Militärflughäfen und überregionale zivile Fluglotsen überzeugt nicht, da die praktische Erfahrung der Arbeit am Flugplatz auch in die Flugsicherungszentralen Eingang finden muß; das ist quasi die Vorübung dazu. Unser gemeinsames Ziel muß es ohnehin sein, die europäische Flugsicherungseinrichtung Eurocontrol so rasch wie möglich überallhin einheitlich zu übernehmen. Die militärischen Erfordernisse, die es unbestreitbar gibt, müssen vertraglich geregelt werden. Dies bedeutet, daß dies auch von vornherein bedacht werden muß.Aber sehen Sie doch bitte eines noch: Wenn es wirklich so ist, daß Deutschland zusammenwächst, wenn die DDR zu uns kommt, müssen wir auch für mögliche Regelungen im später geeinten Deutschland vorausdenken. Dies bedeutet, daß wir die Regelungen dort, die primär militärisch ausgerichtet sind, in unsere Überlegungen einbringen müssen. Für mich bedeutet dies, daß das Personal der militärischen Flugsicherung, das die Gleichstellung bezüglich der Besoldung mit der zivilen Flugsicherung selbst fordert, diese ihre gerechtfertigte Forderung von uns erfüllt bekommt. Für jeden, der sich mit diesen Fragen nur einigermaßen befaßt hat, ist klar, daß dies nur geht, wenn man zivile und militärische Flugsicherung zusammenführt. Natürlich habe ich dann kein so starkes Direktionsrecht des Inspekteurs mehr. Dies bedeutet aber nicht, daß militärische Luftfahrzeuge unsicherer fliegen würden. Dies bedeutet auch nicht, daß wir für den Spannungs- oder Verteidigungsfall nicht andere Regelungen vorsorglich treffen können, wie
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14770 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1990
Opelwir sie für die ganze Republik im Dienstleistungsbereich auch getroffen haben.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Einbringung dieses Initiativgesetzes aus der Mitte des Bundestages unterstreichen die Koalitionsfraktionen den festen Willen, die gesetzlichen Grundlagen für die Privatisierung der Organisation der Flugsicherung noch in dieser Legislaturperiode zu schaffen. Ich sehe darin auch eine Fortsetzung der großen Unterstützung, die mir vom Parlament bei meinen Bemühungen um eine wirksame und dauerhafte Lösung bisher zuteil geworden ist. Ich höre auch mit Befriedigung aus dem Kreise der sozialdemokratischen Fraktion, daß eine grundsätzliche Zustimmung jedenfalls zu dem Grundgedanken des Gesetzentwurfs vorhanden ist.
Die Probleme, die es gibt — einige davon sind angesprochen worden — werden Sie in der Ausschußberatung sicher vertieft diskutieren, vor allem auch die der zivil-militärischen Flugsicherung, bei der man durchaus dieser oder jener Meinung sein kann.
Die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ist angesprochen worden. Ich bin fest davon überzeugt, daß das Gesetz verfassungsgemäß gemacht werden kann. Das sage ich auch nach sechseinhalb Jahren im Amt des Innenministers und Verfassungsministers. Ich habe mir diese Aufgabe nicht leichtgemacht, und mein Nachfolger im Amt hat diese Auffassung nach einer intensiven Diskussion gebilligt. Es ist nur noch das Justizministerium, das hier Bedenken hat. Ich hoffe, wir können diese Bedenken überwinden. Es wird daher nicht notwendig sein, eine Grundgesetzänderung vorzunehmen.
Ein paar Stichworte, die gefallen sind, möchte ich schnell aufgreifen, nämlich Luftverkehrsabkommen mit der DDR, Probleme der Vorbehaltsrechte der Alliierten, ADIZ und EG. Wir kümmern uns, Herr Kollege Gries, um alle diese Probleme. Aber Sie wissen, das ist nicht Sache des Verkehrsministers allein. Für diese Fragen ist das Bundeskanzleramt federführend. Aber wir haben die nötigen Unterlagen und unsere Auffassung unzweideutig dargelegt. Wir sind sicher, daß die entsprechenden Verhandlungen auf allen Ebenen ehestens stattfinden werden. Ganz sicher warten wir nicht auf die Europäische Gemeinschaft, sondern wir regeln das, was wir hier zu regeln haben, selbst.
Selbstverständlich ist auch, daß ich, sobald ich die technische Vorbereitung dazu geschaffen habe, einen Bericht über den Flugzwischenfall, der sich vor wenigen Tagen ereignet hat, im Verkehrsausschuß geben werde. Nach allem, was bis jetzt bekannt ist, muß von
einem menschlichen Fehler ausgegangen werden, daß nämlich die verordnete Flughöhe nicht eingehalten, sondern wesentlich unterschritten worden ist. Aber das soll keine Vorausfestlegung sein.
Ich wäre Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, äußerst dankbar, wenn Sie den Gesetzentwurf, der noch in dieser Periode verabschiedet werden müßte, auch wirklich auf den Weg bringen könnten.
Wir haben im letzten Jahr trotz der, wie richtig gesagt wurde, um 9 % gestiegenen Zahl der kontrollierten Flugbewegungen im großen und ganzen keine besonderen Schwierigkeiten gehabt, keine, die sich gegenüber dem Jahr 1988 wesentlich verstärkt hätten. Das ist der Zusammenarbeit und der Leistung vieler zu verdanken. Das dürfte auch im laufenden Jahr 1990 so sein. Es kann davon ausgegangen werden, daß sich Regierung und Parlament redlich bemühen, die Dinge auf den Weg zu bringen. Wir haben das lange genug und oft genug angekündigt. Wir müssen unser Wort halten.
Wir dürfen diejenigen, die darauf vertrauen, nicht enttäuschen. Obwohl die Regelungsmechanismen für das Verhältnis von Fluglotsen alter Art und neuer Art ab einem bestimmten Alter und den sonstigen Beschäftigten noch viele Fragen beinhalten, die nicht einfach zu lösen sein werden, werden und müssen wir zu einer befriedigenden Regelung kommen. Ich danke Ihnen jetzt schon für Ihre hier dargetane Mitarbeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/6261 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Haushaltsausschuß soll entgegen dem Ausdruck in der Tagesordnung aber lediglich mitberatend beteiligt werden. — Meine Damen und Herren, ich habe vorhin erklärt, ich sei kein Fachpolitiker. Aber ich war einmal Haushälter. Deswegen gestatten Sie mir, daß ich den Kopf schüttele. Ich darf das zwar nicht, aber ich tue es.
Sind Sie einverstanden, daß so entschieden werden soll, wie hier vorgeschlagen worden ist? — Kein Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. Januar 1990, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.